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English Pages 1010 [1012] Year 2006
Springer-Lehrbuch
Wolfgang Piper
Innere Medizin Mit 620 Abbildungen und 117 Tabellen
123
Prof. Dr. med. Wolfgang Piper Ärztlicher Direktor i. R. der Rehabilitationsklinik Königstuhl der Deutschen Rentenversicherung in Heidelberg-Kohlhof Wilckensstr. 43 69120 Heidelberg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN-10 3-540-33725-3 ISBN-13 978-3-540-33725-6 Springer Medizin Verlag Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag springer.com © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2007 Printed in Italy Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit geprüft werden. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und MarkenschutzGesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Planung: Peter Bergmann, Heidelberg Projektmanagement: Axel Treiber, Heidelberg Fachlektorat: Dipl. Med.-Päd. Ingrid Fritz, Bad Füssing Umschlaggestaltung & Design: deblik Berlin SPIN 11514534 Satz und Digitalisierung der Abbildungen: Fotosatz-Service Köhler GmbH, Würzburg Druck- und Bindearbeiten: Printer Trento Gedruckt auf säurefreiem Papier
15/2117 AT – 5 4 3 2 1 0
V
Vorwort Mit der vorliegenden Darstellung der Inneren Medizin möchte ich den Studierenden eine instruktive Zusammenfassung des Lehrstoffes an die Hand geben. Auch Assistenten in der Weiterbildung und Ärzten mag das Buch als Informationsquelle dienen. An die einzelnen Kapitel wird der Leser mit einer Einleitung zur Physiologie herangeführt, um das Verständnis von Pathophysiologie und klinischen Fakten zu erleichtern. Der Text ist knappgehalten und in den 10 Kapiteln mit Zwischenübersichten einheitlich gegliedert. Auf gleiche Weise habe ich schon den kurzen »Basistext Innere Medizin« verfasst, der 1974 im selben Verlag erschien und weite Verbreitung gefunden hat. Bei der Abfassung des Buches habe ich mich auf die internationale Literatur gestützt und auf die Erfahrungen, die ich an den Universitätskliniken Kiel, Berlin und Heidelberg noch vor der Aufteilung der Inneren Medizin in selbstständige Einzeldisziplinen sammeln konnte. Hinzu kam eine 23jährige Tätigkeit als Ärztlicher Direktor einer großen Rehabilitationsklinik für innere, insbesondere Herz- und Kreislauferkrankungen in Heidelberg. Wissenschaftlich prägend war für mich ein zweijähriges Volontariat am Max-Planck-Institut für Biochemie, das sich damals noch in Tübingen befand. Während meiner jahrelangen Lehrtätigkeit an der Universität Heidelberg hatte ich reichlich Gelegenheit, mich im theoretischen und praktischen Unterricht für Studenten zu betätigen. Dabei konnte ich feststellen, wie wichtig theoretische Vorkenntnisse für den Erfolg der praktischen Unterweisung sind. Zum Gelingen des Buches haben viele Helfer beigetragen, denen ich an dieser Stelle nochmals meinen herzlichen Dank abstatten möchte. Ich nenne sie in chronologischer Reihenfolge: Frau Dr. Anne Böhme, jetzt Berlin, hat mich in einem frühen Stadium der Niederschrift mit Korrekturen und Ratschlägen unterstützt. Herr Prof. Dr. Karl Huth, Frankfurt, hat das Rohmanuskript des Buches gelesen und neben diversen Korrekturen einen zustimmenden Kommentar abgegeben. Meine Tochter, Frau Privatdozentin Dr. Cornelia Piper, Oberärztin an der Kardiologischen Klinik im Herz- und Diabeteszentrum NRW in Bad Oeynhausen, hat das kardiologische Kapitel korrigiert, aktualisiert und mit zahlreichen wichtigen Abbildungen ergänzt. Sie hat außerdem viel organisatorische Arbeit geleistet und die Schlusskorrektur des gesamten Buches durchgeführt. Herr Prof. Dr. Dieter Horstkotte, der Klinikchef meiner Tochter, hat das Buchprojekt wohlwollend unterstützt und als Experte den Abschnitt »Infektiöse Endokarditiden« überarbeitet. Die Mitarbeiter des Zentrums in Bad Oeynhausen Frau Dr. Eva Wilke, Dr. Christoph Lange, Dr. Hermann Esdorn und Dr. Oliver Lindner sowie der Fotograf Armin Kühn haben für das kardiologische bzw. endokrinologische Kapitel eindrucksvolle Abbildungen geliefert. Herr Prof. Dr. Felix Herth, Chefarzt der Abteilung Innere Medizin-Pneumologie der Thoraxklinik der Universität Heidelberg, hat zum pneumologischen Kapitel Korrekturen, Ergänzungen und zahlreiche Abbildungen beigetragen. Herr Prof. Dr. Holger Jend, Zentrum für Radiologie, Klinikum Bremen-Ost, hat mir gestattet, eine Anzahl instruktiver Lungenbilder aus seiner großen Sammlung »Lunge im Netz« (www.jend.de) zu verwenden. Frau Prof. Dr. Kathrin Ivens, Oberärztin an der Klinik für Nephrologie der Universität Düsseldorf, hat mir für das nephrologische Kapitel wichtige Ratschläge gegeben. Herr Dr. S. Schneider, ATOS-Klinik Heidelberg, hat zu diesem Kapitel Abbildungen beigetragen. Herr Prof. Thomas Frieling, Direktor der Medizinischen Klinik II, Klinikum Krefeld, hat im gastroenterologischen Kapitel wichtige Korrekturen und Ergänzungen vorgenommen und das meiste Bildmaterial zur Verfügung gestellt. Herr Dr. Dieter Lüdecke, Leiter des Bereichs Hypophysenchirurgie an der neurochirurgischen Klinik, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, hat das endokrinologische Kapitel einer kritischen Durchsicht unterzogen und den Abschnitt Hypophysenadenome ergänzt. Außerdem stammt aus seiner Sammlung eine Anzahl sehr informativer Abbildungen. Herr Prof. Dr. Ulrich Beil, Medizinische Klinik II am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf hat das endokrinologische Kapitel geprüft und mit einigen Korrekturen versehen. Im privaten Bereich danke ich meiner lieben Frau und meinen Kindern für die Geduld, mit der sie meine häufige, durch die Arbeit am Buch bedingte Abwesenheit ertragen haben. Frau Dipl. Med.-Päd. Ingrid Fritz habe ich vielmals für die ausgezeichnete Arbeit zu danken, die sie als Lektorin bei der Druckvorbereitung des Manuskripts geleistet hat. Ihr Verdienst sind die optimale Anordnung des Textes und die Einfügung der didaktischen Elemente. Den Mitarbeitern des Springer Verlages, die an der Herstellung meines Buches mitgewirkt haben, namentlich meinem Projektmanager, Herrn Axel Treiber, gilt mein herzlicher Dank für ihr großartiges Engagement und ihre tatkräftige Unterstützung. Besonders danken möchte ich der Verlagsleitung dafür, dass sie keinen Aufwand gescheut hat, um das Buch in hervorragender Ausstattung herauszubringen. Heidelberg im November 2006 Wolfgang Piper
Der neue Piper
Farbiges Leitsystem führt durch die Sektionen
2
Übersichten zum Kapitelinhalt
250
Kapitel 2 · Krankheiten der Atmungsorgane
2.7
Erkrankungen von Pleura, Mediastinum und Zwerchfell
Initialphase (2 Monate)
täglich Isoniazid (5 mg/kg, max. 300 mg) plus Rifampin (10 mg/kg, max. 600 mg) plus Pyrazinamid (15–30 mg/kg, max. 2 g)
Dauerbehandlung (weitere 2 Monate)
2-mal wöchentlich Isoniazid (15 mg/kg, max. 900 mg) plus Rifampin (10 mg/kg, max. 600 mg)
Gesamtdauer der Behandlung
4 Monate
Erkrankungen von Pleura, Mediastinum und Zwerchfell Pneumothorax Pleuritis Pleuraempyem Pleuraerguss Pleuratumoren 4 primäre Pleuratumoren 4 metastatische Pleuratumoren Mediastinitis Mediastinaltumoren Lage- und Funktionsanomalien des Zwerchfells
Ätiologie. Spontanpneumothorax: Umfasst alle nicht durch äußere Ge-
Hervorhebungen der wichtigsten Schlüsselbegriffe erleichtern das Lernen
. Tabelle 2.10. Therapieschema im gewöhnlichen Fall einer Tuberkulose
walteinwirkung entstehenden Fälle von Pneumothorax: 4 Idiopathische Form: Ursache unklar. Überwiegend bei jungen Erwachsenen zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr. Es platzen kleinste Bläschen, meistens in der Lungenspitze. Keine organische Pleura- oder Lungenkrankheit. Neigung zu Rezidiven. 4 Symptomatische Formen: Ruptur der Pleurablätter bei Asthma, Emphysem, Bronchialkarzinom, Lungenmetastasen, Ösophaguskarzinom, Staphylokokkenabszessen, Tuberkulose, Alveolitis, Sarkoidose, Pneumokoniosen, MarfanSyndrom, EhIers-Danlos-Syndrom u.a. Lungenaffektionen. Traumatischer Pneumothorax: Entsteht durch äußere Gewalt-
einwirkung bei verschiedenen Anlässen: 4 Unfall: durch perforierende Brustkorb- und Lungenverletzungen und stumpfe Traumen mit Rippenbrüchen 4 iatrogen bedingt: Brustkorberöffnung, Thorakoskopie, perkutane und transbronchiale Lungenbiopsie, Subklaviapunktion, Pleurapunktion, Pleuradrainage, kardiale Reanimation, transdiaphragmale Leberbiopsien 4 Barotrauma: Überdruckbeatmung. Pathogenese und Pathophysiologie. Jedes Öffnen des Pleura-
spalts nach innen oder außen bewirkt, dass die Lunge mit ihrer elastischen Retraktionskraft Luft in den Pleuraraum ansaugt und dabei an Volumen verliert, bis sie völlig kollabiert ist. Je nach dem Grad des Pneumothorax wird der physiologische Unterdruck im Pleuraraum teilweise oder ganz aufgehoben. Durch die elastischen Zugkräfte der nicht betroffenen Lunge verlagert sich das Mediastinum nach der gesunden Seite. Beim Ventilpneumothorax wird inspiratorisch Luft in den Pleuraraum angesaugt und nicht wieder abgegeben. Steigt der Luftdruck im Pneumothorax über den athmosphärischen Druck, werden das Mediastinum mit seinen Gefäßen und die gesunde Lunge komprimiert. Ein solcher
Wichtig: Zentrale Informationen auf einen Blick
Spannungspneumothorax führt zu einer akut bedrohlichen Abnahme des Herzschlagvolumens und der Lungenfunktion. Bedrohlich ist auch die selten vorkommende Einblutung in den geöffneten Pleuraraum. Sie kann zum hämorrhagischen Schock führen. Klinik. Beim Spontanpneumothorax oft plötzlicher stechender Schmerz. Schweres Heben oder ein Hustenanfall können vorausgehen. Ruhedyspnoe und Tachykardie nur in schweren Fällen und bei vorbestehender Lungenkrankheit. Beim Spannungspneumothorax progrediente Dyspnoe, Tachykardie, Schweißausbruch, Hautblässe, große Unruhe und Angst, schließlich Kollaps. Auf der betroffenen Seite Klopfschall hypersonor, Atemgeräusch abgeschwächt oder aufgehoben. Keine physikalischen Zeichen bei kleinem Pneumothorax. Diagnostik. Durch Röntgenuntersuchung der Lunge (. Abb. 2.47). Abgrenzung der kollabierten Lunge vom luftgefüllten Pleuraraum, dem die Lungenzeichnung fehlt. Bei der Durchleuchtung kann Mediastinalflattern sichtbar werden. Therapie und Verlauf. Spannungspneumothorax ! Das ist eine Notfallsituation, die eine sofortige Punktion (auch ohne Röntgenuntersuchung) mit dicker Kanüle erfordert.
Nach der Punktion Pleuradrainage, evtl. chirurgische Versorgung. Spontanpneumothorax: Besonders bei der idiopathischen Form ist mit rascher Schließung im kollabierten Zustand der Lunge zu rechnen. Wenn die Luftansammlung nicht breiter als ein Querfinger ist und der intrapleurale Druck nicht über 5 cm Wassersäule, kann die Spontanresorption abgewartet werden, die wenige Wochen benötigt. Bei größerem Pneumothorax oder intrapleuralem Druck über 5 cm Wassersäule ist eine Pleurasaugdrainage anzulegen. Entfaltet sich die Lunge innerhalb von 8 Tagen nicht, muss chirurgisch eingegriffen werden. > Wegen der Hyperkalzämiegefahr ist auf ausreichend Sonnenschutz zu achten.
Cave: Vorsicht! Bei falschem Vorgehen Gefahr für den Patienten
Inhaltliche Struktur: Klare Gliederung durch alle Kapitel
Tabellen: Kurze Übersicht der wichtigsten Fakten
Navigation: Kapitel und Seitenzahlen für die schnelle Orientierung
250 2.7 · Erkrankungen der Pleura, Mediastinum und Zwerchfell
2
. Tabelle 2.11. Ursachen einer Pleuritis Trockene (fibrinöse) Pleuritis
5 5 5 5 5
Exsudative Pleuritis
5 Pleuritis exsudativa tuberculosa: am häufigsten in der Generalisationsphase nach der Primärinfektion, seltener durch hämatogene Aussaat aus reaktivierten Herde 5 Pleuritis bei Pneumonien: übergreifende Entzündung 5 Pleuritis bei Lungeninfarkt: bei größeren Infarkten, oft mit bluthaltigem Exsudat 5 Autoimmunpleuritis: Bei Kollagenosen und Postkardiotomie-Syndrom, bisweilen deren Frühmanifestation. 5 rheumatische Pleuritis: bei akutem rheumatischen Fieber oder bei der rheumatoiden Arthritis (steril) 5 Pleuritis bei Panarteriitis nodosa: Ausdruck einer pleuranahen Vaskulitis 5 Pleuritis carcinomatosa: Metastatisch oder von einem Lungenherd übergreifend (. Abb. 2.48)
Begleitpleuritis bei schwerer Bronchitis Bronchiektaseneiterung Pneumonien und Lungenabszess ferner bei Lungeninfarkt und Tuberkulose fibrinöse Pleuritis bei Infektion mit Coxsackie-B-Virus (Bornholm-Krankheit oder epidemische Pleurodynie), die mittels Komplementbindungsreaktion zu diagnostizieren ist
2.7.2 Pleuritis Definition. Entzündung der Pleura, die ohne Exsudatbildung (Pleuritis sicca) oder mit Exsudatbildung (Pleuritis exsudativa) einhergehen kann. Ätiologie und Pathogenese. Es kann sich um bakterielle und
nichtbakterielle Entzündungen handeln. Der Entzündungsprozess kann von den benachbarten Organen (Lunge, Zwerchfell, Mediastinum, Ösophagus, Brustwand) auf die Pleura übergreifen oder von der Pleura ausgehen. Die wichtigsten Ursachen sind in . Tab. 2.11 aufgeführt. Klinik. Pleuraschmerz: Scharfe, oft heftige Bruststiche, bei der Atem-
bewegung auftretend oder an Intensität eindeutig zunehmend. Sowohl bei trockener wie bei beginnender exsudativer Entzündung. Pleurareiben: In-und exspiratorisches Reibegeräusch bei der Auskultation deutlich wahrzunehmen. Bei trockener und beginnender exsudativer Pleuritis.
. Abb. 2.48. 64-jährige Frau mit therapiertem Mammakarzinom. Nach 5 Jahren Ausbildung eines Pleuraergusses. Thorakoskopisch Nachweis einer Lymphangiosis carcinomatosa
Klopfschalldämpfung und Aufhebung des Atemgeräusches:
Nur bei exsudativer Pleuritis mit etwas stärkerer Ergussbildung. Diagnostik. Röntgenuntersuchung: Nachweis der Exsudation und narbiger
Restzustände bzw. nachfolgender Pleuraschwarten. Feststellung primärer Lungenerkrankungen. Zusätzliche Klärung durch Computertomographie. Sonographie: Erlaubt den Nachweis kleiner, im Röntgenbild nicht eindeutig zu erfassender Ergussmengen. Pleurapunktion: Gewinnung des Exsudats zur chemischen, mikroskopischen, zytologischen und bakteriellen Untersuchung. Abgrenzung gegen Transsudate (Stauungsergüsse):
Verweise auf Tabellen und Abbildungen zur Quervernetzung der Information
4 Exsudat: Spez. Gewicht >1016, Proteingehalt >3 g/dl, Leukozyten >103/mm3 4 Transsudat: Die für Exsudat genannten Grenzwerte werden unterschritten. Thorakoskopie und Pleurabiopsie: In vielen Fällen für die Klärung der Diagnose entscheidend (Tuberkulose, Tumor). Therapie. Behandlung der Grundkrankheit. Bei stärkerer Beeinträchtigung der Atmung können mehrmalige Entlastungspunktionen oder eine Drainage erforderlich werden. Bei ausgedehnter Schwartenbildung chirurgische Dekortikation.
Zahlreiche farbige Abbildungen veranschaulichen komplexe Sachverhalte
IX
Inhaltsverzeichnis 1 1.1
Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems . . . . Mechanismen der Kreislaufregulation . . . . . .
1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.1.5
Intrinsisc-Regulation . . . . . Nervale Regulation . . . . . . Hormonale Regulation . . . . Physikalische Mechanismen Gesamtregulation . . . . . . . Kreislaufschock . . . . . . . . Pathophysiologie . . . . . . . Klinik . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . .
1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3
1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4 1.3.5
1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.4.4 1.4.5 1.4.6 1.4.7 1.4.8
1.5 1.5.1 1.5.2 1.5.3 1.5.4 1.5.5 1.5.6 1.5.7
1.6 1.6.1 1.6.2 1.6.3 1.6.4
1.7 1.7.1 1.7.2 1.7.3 1.7.4 1.7.5
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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.8
Grundlagen und Methoden der kardiologischen Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.8.1 1.8.2 1.8.3
Kardialer Zyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auskultation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Perkussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 5 5 5 8 10 10 11 11 12 13 14 14 14 15 17 18 19 19 21 21 23 25 25 26 30 33 33 35 40 43 44 44 46 51 51 53 54 56 59 59 60 60 60 61 61 61 62 65
1.8.4 1.8.5 1.8.6 1.8.7 1.8.8 1.8.9 1.8.10 1.8.11 1.8.12
1.9 1.9.1 1.9.2 1.9.3 1.9.4 1.9.5 1.9.6
1.10 1.10.1 1.10.2 1.10.3 1.10.4 1.10.5 1.10.6 1.10.7 1.10.8 1.10.9
1.11 1.11.1 1.11.2 1.11.3 1.11.4
1.12 1.12.1 1.12.2 1.12.3 1.12.4 1.12.5 1.12.6 1.12.7 1.12.8 1.12.9
1.13 1.13.1 1.13.2 1.13.3 1.13.4 1.13.5 1.13.6
Palpation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Röntgenuntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elektrokardiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Invasive elektrophysiologische Untersuchungen . . Echokardiographie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nuklearmedizinische Methoden . . . . . . . . . . . . Herzkatherisierung und Angiokardiographie . . . . Computertomographie . . . . . . . . . . . . . . . . . Magnetresonanztomographie (MRT) . . . . . . . . . Herzinsuffizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Normalwerte und Determinanten der Herzleistung Pathogenese der Herzinsuffizienz . . . . . . . . . . . Klinische Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Apparative Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Laboruntersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rhythmusstörungen des Herzens . . . . . . . . . Normale Reizbildung und Erregungsleitung . . . . Elektrophysiologische Mechanismen der Arrhythmien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik von Herzrhythmusstörungen . . . . . . Therapeutische Maßnahmen bei Herzrhythmusstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einteilung von Herzrhythmusstörungen . . . . . . . Supraventrikuläre Reizbildungsstörungen . . . . . Präexzitationssyndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . Ventrikuläre Reizbildungsstörungen . . . . . . . . . Erregungsleitungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . Entzündliche Herzkrankheiten . . . . . . . . . . . Rheumatische Karditis . . . . . . . . . . . . . . . . . . Infektiöse Endokarditis . . . . . . . . . . . . . . . . . . Myokarditis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Perikarditis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erworbene Herzklappenfehler . . . . . . . . . . . Mitralstenose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mitralinsuffizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mitralklappenprolapssyndrom . . . . . . . . . . . . . Aortenstenose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aorteninsuffizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trikuspidalstenose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trikuspidalinsuffizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erworbene Pulmonalstenose . . . . . . . . . . . . . . Erworbene Pulmonalinsuffizienz . . . . . . . . . . . Angeborene Herzfehler . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorhofseptumdefekt (ASD) . . . . . . . . . . . . . . . Ventrikelseptumdefekt (VSD) . . . . . . . . . . . . . . Ductus Botalli apertus . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kongenitale Aortenstenose . . . . . . . . . . . . . . . Aortenisthmusstenose (Koarktation der Aorta) . . .
65 66 66 75 75 81 82 84 84 85 85 87 88 90 90 90 95 95 98 99 99 104 104 111 114 119 122 124 125 129 130 133 133 135 137 138 141 142 143 144 145 145 146 146 148 150 151 151
X
1.13.7 1.13.8 1.13.9 1.13.10 1.13.11 1.13.12 1.13.13
Inhaltsverzeichnis
. . . . . .
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. . . . . .
152 153 154 154 154 155
1.16.1 1.16.2
Kongenitale Pulmonalstenose . . . . . . . . Morbus Fallot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ebstein-Anomalie . . . . . . . . . . . . . . . . Trikuspidalatresie . . . . . . . . . . . . . . . . Gemeinsamer (singulärer) Ventrikel . . . . . Transposition der großen Gefäße . . . . . . Anatomisch korrigierte Transposition der großen Arterien . . . . . . . . . . . . . . . . . Truncus arteriosus communis . . . . . . . . . Kardiomyopathien . . . . . . . . . . . . . . Dilatative Kardiomyopathie (DCM). . . . . . Hypertrophische Kardiomyopathie (HCM) . Restriktive Kardiomyopathie (RCM) . . . . . Koronare Herzkrankheit (KHK) . . . . . . Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angina pectoris . . . . . . . . . . . . . . . . . Stumme Ischämie . . . . . . . . . . . . . . . . Mikrovaskuläre Ischämie (»Syndrom X«) . . Akuter Myokardinfarkt . . . . . . . . . . . . . Pulmonale Herzkrankheiten . . . . . . . . Lungenembolie . . . . . . . . . . . . . . . . . Pulmonale arterielle Hypertonie . . . . . . .
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155 155 155 156 157 158 160 160 161 167 167 168 178 178 181
2 2.1
Krankheiten der Atmungsorgane . . . . . . . . . Störungen der Atmung . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1.1 2.1.2 2.1.3
Funktionen der oberen Luftwege . . . . . . . . . . Funktionen der Lunge . . . . . . . . . . . . . . . . . Regulation der Atmung . . . . . . . . . . . . . . . . Lungenfunktionsprüfungen . . . . . . . . . . . . Ventilation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Atemmechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diffusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Atemgase und pH-Wert im Blut . . . . . . . . . . . Störungen der Atmung . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . Obstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Restriktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verteilungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Diffusionsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Respiratorische Insuffizienz . . . . . . . . . . . . . . Acute respiratory distress syndrome (ARDS) . . . Schlafapnoe-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostische Methoden . . . . . . . . . . . . . . Körperliche Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . Sputumuntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . Radiologische Untesuchungsmethoden . . . . . . Nuklearmedizinische Untersuchungsmethoden . Thoraxsonographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bronchoskopie, Biopsie und Lavage . . . . . . . . . Erkrankungen der Trachea und Bronchien . . Tracheitis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akute Bronchitis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
185 186 187 187 188 189 190 192 193 194 194 196 196 197 198 198 199 199 201 202 204 204 204 206 206 207 207 209 209 209
1.13.14
1.14 1.14.1 1.14.2 1.14.3
1.15 1.15.1 1.15.2 1.15.3 1.15.4 1.15.5
1.16
2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5
2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5 2.3.6 2.3.7 2.3.8
2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4 2.4.5 2.4.6
2.5 2.5.1 2.5.2
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.5.3 2.5.4 2.5.5 2.5.6 2.5.7 2.5.8 2.5.9 2.5.10
2.6 2.6.1 2.6.2 2.6.3 2.6.4 2.6.5 2.6.6 2.6.7 2.6.8 2.6.9 2.6.10 2.6.11
Chronische Bronchitis und Emphysem . . . . . Zystische Fibrose (Mukoviszidose) . . . . . . . . Asthma bronchiale . . . . . . . . . . . . . . . . . Bronchiektasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bronchialkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bronchoalveoläres Karzinom . . . . . . . . . . . Lungenmetastasen . . . . . . . . . . . . . . . . . Semimaligne und benigne Bronchialtumoren Erkrankungen der Lunge . . . . . . . . . . . . Pneumonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interstitielle Lungenkrankheiten . . . . . . . . . Idiopathische Lungenfibrose (UIP: usual interstitial pneumonia) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Iatrogene Lungenfibrosen . . . . . . . . . . . . . Toxische Inhalationsschäden . . . . . . . . . . . Exogen-allergische Alveolitis . . . . . . . . . . . Eosinophile Pneumonien . . . . . . . . . . . . . Goodpasture-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . Pneumokoniosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sarkoidose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tuberkulose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
210 213 215 219 220 224 225 225 226 226 230
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
230 232 233 234 235 236 237 240 243
2.7
Erkrankungen von Pleura, Mediastinum und Zwerchfell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.7.1 2.7.2 2.7.3 2.7.4 2.7.5 2.7.6 2.7.7 2.7.8
Pneumothorax . . . . . . . . . . . Pleuritis . . . . . . . . . . . . . . . . Pleuraempyem . . . . . . . . . . . Pleuraerguss . . . . . . . . . . . . Pleuratumoren . . . . . . . . . . . Mediastinitis . . . . . . . . . . . . Mediastinaltumoren . . . . . . . Lage- und Funktionsanomalien des Zwerchfells . . . . . . . . . . .
3
. . . . . . .
249 249 251 252 252 253 254 254
. . . . . . . . . . . .
255
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
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. . . . . . .
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. . . . . . .
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. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
3.1
Krankheiten der Nieren und ableitenden Harnwege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die normale Nierenfunktion . . . . . . . . . . . . .
3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4
Aufgaben der Nieren . . . . . . . Aufbau des Nephrons . . . . . . . Mechanismus der Harnbildung . Volumen- und Osmoregulation
3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6
3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . Störungen des Wasser- und Salzhaushalts . Ödeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volumenmangel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hyponatriämie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hypernatriämie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hypokaliämie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hyperkaliämie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Störungen des Säure-Basen-Haushalts . . . Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metabolische Azidose . . . . . . . . . . . . . . . . Metabolische Alkalose . . . . . . . . . . . . . . . . Respiratorische Azidose . . . . . . . . . . . . . . . Respiratorische Alkalose . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . .
257 259 259 259 261 264 267 267 269 270 271 271 273 274 274 275 278 279 280
XI Inhaltsverzeichnis
3.4
Störungen der globalen Nierenfunktion . . . .
3.4.1 3.4.2 3.4.3
Akutes Nierenversagen (ANV) . . . . Chronische Niereninsuffizienz . . . Dialyse und Transplantation . . . . . Diagnostische Methoden . . . . . Urinuntersuchung . . . . . . . . . . . Untersuchung der Nierenfunktion . Bildgebende Verfahren . . . . . . . . Nierenbiopsie . . . . . . . . . . . . . .
3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.5.4
3.6 3.6.1 3.6.2
3.7 3.7.1 3.7.2 3.7.3 3.7.4 3.7.5
3.8 3.8.1 3.8.2
3.9 3.9.1 3.9.2 3.9.3
3.10
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . . Glomeruläre Nierenerkrankungen . Nephrotische Syndrome . . . . . . . . . . Glomerulonephritiden . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . Tubulointerstitielle Nierenerkrankungen . Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nephropathien durch exogene Toxine . . . . . Nephropathien durch metabolische Toxine . . Neoplasmatische Nephropathien . . . . . . . . Hereditäre tubuläre Erkrankungen . . . . . . . Ischämische Nephropathien . . . . . . . . . . Akute ischämische Tubulusnekrose . . . . . . . Vaskuläre ischämische Läsionen . . . . . . . . . Infektionen der Harnwege . . . . . . . . . . . Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untere Harnwegsinfektionen . . . . . . . . . . . Obere Harnwegsinfektionen . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.11
Nierensteinerkrankungen (Nephrolithiasis/ Urolithiasis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tumoren der Nieren und der Harnwege . . . . .
3.11.1 3.11.2
Nierenkarzinom (Hypernephrom) . . . . . . . . . . . Karzinome der Harnblase und Ureteren . . . . . . .
4 4.1
Krankheiten der Verdauungsorgane . . . . . . . Gastroenterologische Aspekte der Mundhöhle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.1.5
4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5 4.2.6 4.2.7 4.2.8 4.2.9 4.2.10 4.2.11
4.3 4.3.1
Kauapparat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Speicheldrüsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lippen- und Mundschleimhaut . . . . . . . . Zunge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Halitosis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Speiseröhre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anatomie und Funktionen . . . . . . . . . . . . Untersuchungsmethoden . . . . . . . . . . . . Funktionelle Störungen und Beschwerden . Lageanomalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Motilitätsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . Gastroösophageale Refluxkrankheit (GERD) . Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verätzungen und Traumen . . . . . . . . . . . Ringe und Membranen . . . . . . . . . . . . . . Divertikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ösophaguskarzinom . . . . . . . . . . . . . . . Magen und Zwölffingerdarm . . . . . . . . Funktionen des Magens . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
281 281 284 288 291 291 292 293 294 294 295 299 306 306 306 307 308 309 312 312 312 314 314 315 316 318 323 324 325 327
4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.3.5 4.3.6 4.3.7 4.3.8 4.3.9 4.3.10
4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4 4.4.5 4.4.6 4.4.7 4.4.8 4.4.9 4.4.10 4.4.11 4.4.12
4.5 4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.5.4 4.5.5 4.5.6 4.5.7 4.5.8 4.5.9
4.6 329 329 329 329 330 331 331 331 332 333 334 334 336 339 340 341 342 342 344 344
4.6.1 4.6.2 4.6.3 4.6.4 4.6.5
4.7 4.7.1 4.7.2 4.7.3 4.7.4 4.7.5 4.7.6 4.7.7 4.7.8 4.7.9 4.7.10 4.7.11 4.7.12 4.7.13 4.7.14
Allgemeine Symptomatik . . . . . . . . . . . . . Untersuchungsmethoden . . . . . . . . . . . . . Reizmagen (funktionelle Dyspepsie) . . . . . . Akute Gastritis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chronische Gastritis . . . . . . . . . . . . . . . . . Ménétrier-Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . Peptische Ulzera . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gutartige Magentumoren . . . . . . . . . . . . . Bösartige Magentumoren . . . . . . . . . . . . . Dünndarm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchungsmethoden . . . . . . . . . . . . . Malassimilationssyndrome . . . . . . . . . . . . Einheimische Sprue/Zöliakie . . . . . . . . . . . Tropische Spru . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Laktoseintoleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . Proteinverlierende Enteropathie . . . . . . . . . Bakterienüberwucherung des Dünndarms . . Whipple-Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . Dünndarmdivertikel . . . . . . . . . . . . . . . . Enteritis regionalis (Morbus Crohn) . . . . . . . Dünndarmtumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . Dickdarm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchungsmethoden . . . . . . . . . . . . . Megakolon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kolondivertikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akute Appendizitis . . . . . . . . . . . . . . . . . Colitis ulcerosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kolon- und Rektumpolypen . . . . . . . . . . . . Kolorektales Karzinom . . . . . . . . . . . . . . . Proktologische Erkrankungen . . . . . . . . . . . Passagestörungen des Darms . . . . . . . . . Obstipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Meteorismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reizdarmsyndrom (irritable bowel syndrome) Ileus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diarrhö . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leber und Gallenwege . . . . . . . . . . . . . . Funktionen der Leber . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchungsmethoden . . . . . . . . . . . . . Ikterus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akute Virushepatitiden . . . . . . . . . . . . . . . Chronische Hepatitiden . . . . . . . . . . . . . . Toxische Leberkrankheiten . . . . . . . . . . . . Alkoholische Leberkrankheiten . . . . . . . . . Leberzirrhose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Benigne Lebertumoren . . . . . . . . . . . . . . Maligne Lebertumoren . . . . . . . . . . . . . . . Cholelithiasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akute Cholezystitis . . . . . . . . . . . . . . . . . Chronische Cholezystitis . . . . . . . . . . . . . . Cholangitis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
346 347 348 349 349 350 350 355 356 357 358 360 360 362 363 364 365 365 365 365 366 370 372 372 373 373 374 375 375 377 379 383 386 386 387 387 389 390 391 391 394 395 397 403 407 409 411 418 419 420 423 423 424
XII
Inhaltsverzeichnis
4.8.1 4.8.2 4.8.3 4.8.4 4.8.5 4.8.6
Tumoren der Gallenwege . . . . . Pankreas. . . . . . . . . . . . . . . . Exkretorische Pankreassekretion . Untersuchungsmethoden . . . . . Akute Pankreatitis . . . . . . . . . . Chronische Pankreatitis . . . . . . Pankreaskarzinom . . . . . . . . . . Endokrine Pankreastumoren . . .
. . . . . . . .
425 426 426 427 428 430 432 433
6.1.6 6.1.7 6.1.8
5 5.1
Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten . . Ernährungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.1.13
5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4
Normale Ernährung Unterernährung . . Essstörungen . . . . Fettsucht . . . . . . .
5.2
Störungen des Kohlenhydratstoffwechsels
5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.2.5 5.2.6 5.2.7 5.2.8
5.6.1 5.6.2 5.6.3
Hormone des Glukosestoffwechels . . . . . . Diabetes mellitus . . . . . . . . . . . . . . . . . Typ-1-Diabetes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Typ-2-Diabetes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Komplikationen des Diabetes . . . . . . . . . . Diabetes und Schwangerschaft . . . . . . . . Metabolisches und Insulinresistenzsyndrom Hypoglykämie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Störungen des Fettstoffwechsels . . . . . Plasmalipide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primäre Hyperlipidämien . . . . . . . . . . . . Sekundäre Hyperlipidämien . . . . . . . . . . Therapie der Hyperlipidämien . . . . . . . . . Familiäre Hypolipidämien . . . . . . . . . . . . Lysosomale Speicherkrankheiten . . . . . Allgemeine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glykogenspeicherkrankheiten . . . . . . . . . Galaktosämie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mukopolysaccharidosen (MPS) . . . . . . . . . Lipidosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Störungen des Purinstoffwechsels . . . . Purinabbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hyperurikämie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Enzymdefekte des Purinstoffwechsels . . . . Störungen des Porphyrinstoffwechsels . Struktur der Porphyrine . . . . . . . . . . . . . Hepatische Porphyrien . . . . . . . . . . . . . . Erythropoetische Porphyrien . . . . . . . . . .
435 436 436 441 444 446 450 451 453 454 461 465 469 469 471 473 474 477 480 481 482 484 484 484 486 487 487 490 490 491 492 495 495 495 496 499
6 6.1
Krankheiten des endokrinen Systems . . . . . . Hypophyse und des Hypothalamus . . . . . . .
6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.4 6.1.5
Hormone der Adenohypophyse Kontrolle der Adenohypophyse Hormone der Neurohypophyse Krankheiten des Hypothalamus Hypophysenadenome . . . . . .
4.7.15
4.8
5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4 5.3.5
5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4 5.4.5
5.5 5.5.1 5.5.2 5.5.3 5.5.4
5.6
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.1.9 6.1.10 6.1.11 6.1.12
6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.2.5 6.2.6 6.2.7
6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4 6.3.5 6.3.6 6.3.7 6.3.8 6.3.9 6.3.10
6.4 6.4.1 6.4.2 6.4.3 6.4.4 6.4.5 6.4.6 6.4.7 6.4.8
6.5 6.5.1 6.5.2 6.5.3
7
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
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. . . . .
501 503 503 508 510 511 512
7.1 7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.1.4
Akromegalie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prolaktinome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gonadotropin-sezernierende und hormoninaktive Adenome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ACTH-sezernierende Adenome . . . . . . . . . . TSH-sezernierende Adenome . . . . . . . . . . . . Insuffizienz der Adenohypophyse . . . . . . . . . Unterfunktion der Neurohypophyse (zentraler Diabetes insipidus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überfunktion der Neurohypophyse – Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion . . . . . . . . . . Schilddrüse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schilddrüsenhormone . . . . . . . . . . . . . . . . Schilddrüsendiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . Euthyreote Struma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hypothyreose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hyperthyreose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thyreoiditis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schilddrüsenkarzinome . . . . . . . . . . . . . . . Krankheiten der Nebennierenrinde . . . . . Hormone der Nebennierenrinde und ihre Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktionsdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . Primäre Nebenniereninsuffizienz . . . . . . . . . Sekundäre Nebenniereninsuffizienz . . . . . . . Isolierter Hypoaldosteronismus . . . . . . . . . . Cushing-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärer Aldosteronismus . . . . . . . . . . . . . . Sekundärer Aldosteronismus . . . . . . . . . . . . Kongenitale adrenale Hyperplasie . . . . . . . . . Glukokortikoidtherapie . . . . . . . . . . . . . . . . Krankheiten der männlichen Keimdrüsen . Funktionen der Testes . . . . . . . . . . . . . . . . . Regulation der Testesfunktionen . . . . . . . . . . Klinik des Androgenmangels . . . . . . . . . . . . Primärer Hypogonadismus . . . . . . . . . . . . . Sekundärer Hypogonadismus. . . . . . . . . . . . Diagnostik des Hypogonadismus . . . . . . . . . Therapie des Hypogonadismus . . . . . . . . . . . Hodentumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pluriglanduläre endokrine Syndrome . . . . Multiple endokrine Neoplasien Typ I (MEN-1) . . Multiple endokrine Neoplasien Typ II (MEN-2) . Polyglanduläre Autoimmunsyndrome (PAS). . .
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515 518
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520 521 521 521
. .
523
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525 526 526 529 532 534 537 545 546 550
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
550 556 557 559 560 561 567 568 569 570 572 573 574 574 574 577 579 580 580 581 581 583 584
Krankheiten des Blutes und der blutbildenden Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . Morphologische und physiologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stammzellen der Hämatopoese Stammbaum der Hämatopoese Erythrozyten . . . . . . . . . . . . Granulozyten . . . . . . . . . . . .
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587 589 589 589 591 595
XIII Inhaltsverzeichnis
7.1.5 7.1.6 7.1.7 7.1.8
7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4 7.2.5 7.2.6 7.2.7 7.2.8 7.2.9 7.2.10 7.2.11 7.2.12 7.2.13 7.2.14 7.2.15 7.2.16 7.2.17 7.2.18
7.3 7.3.1 7.3.2 7.3.3
7.4 7.4.1 7.4.2 7.4.3 7.4.4 7.4.5
7.5 7.5.1 7.5.2 7.5.3 7.5.4 7.5.5 7.5.6 7.5.7 7.5.8 7.5.9 7.5.10
7.6 7.6.1 7.6.2 7.6.3 7.6.4 7.6.5 7.6.6 7.6.7
Monozyten und Makrophagen . Lymphozyten und Plasmazellen Thrombozyten (Blutplättchen) . Blutgerinnung und Fibrinolyse .
. . . .
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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krankheiten der roten Blutzellen. . . . . . . . . . Klassifizierung der Anämien . . . . . . . . . . . . . . . Aplastische Anämie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erythroblastische Hypoplasie . . . . . . . . . . . . . . Hyporegeneratorische Anämien . . . . . . . . . . . . Megaloblastäre Anämien . . . . . . . . . . . . . . . . Eisenmangelanämie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thalassämien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anämien bei chronischen Erkrankungen . . . . . . . Sideroblastische Anämien . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Symptomatik der Hämolyse . . . . . . . Hämolytische Anämien durch primäre Membrandefekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Enzymopenische hämolytische Anämien . . . . . . Hämoglobinopathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Traumatische hämolytische Anämien . . . . . . . . Hämolytische Anämien durch exogene Noxen . . . Immunhämolytische Anämien . . . . . . . . . . . . . Hypersplenismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akute Blutungsanämie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krankheiten der weißen Blutzellen . . . . . . . . Leukopenien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Agranulozytose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leukozytosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Myeloische Neoplasien . . . . . . . . . . . . . . . . WHO-Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Myeloproliferative Erkrankungen . . . . . . . . . . . Myelodysplastische/myeloproliferative Krankheiten Myelodysplastische Syndrome . . . . . . . . . . . . . Akute myeloische Leukämien (AML) . . . . . . . . . Lymphoide Neoplasien . . . . . . . . . . . . . . . . Klassifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akute Lymphoblastenleukämie (ALL) . . . . . . . . . Chronische lymphatische B-Zell-Leukämie (CLL) . . Haarzellen-Leukämie (HCL) . . . . . . . . . . . . . . . Non-Hodgkin-Lymphome (NHL) . . . . . . . . . . . . Morbus Hodgkin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Plasmazelluläre Neoplasien . . . . . . . . . . . . . . . Makroglobulinämie Waldenström . . . . . . . . . . . H-Ketten-Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Amyloidosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erkrankungen des hämostatischen Systems . . Normale Hämostase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kongenitale Thrombopenien . . . . . . . . . . . . . . Erworbene Thrombopenien . . . . . . . . . . . . . . . Thrombopathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thrombozytosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hereditäre Koagulationsdefekte . . . . . . . . . . . .
599 601 608 611 616 617 617 618 619 620 623 626 629 630 631
7.6.8 7.6.9 7.6.10 7.6.11 7.6.12 7.6.13 7.6.14
Erworbene Koagulationsdefekte . . . . Hereditäre Thrombophilie . . . . . . . . Erworbene Thrombophilien . . . . . . . Kombinierte Hämostasestörungen . . Antikoagulanzientherapie . . . . . . . . Thrombolysetherapie . . . . . . . . . . . Vaskuläre hämorrhagische Diathesen
. . . . . . .
696 698 700 702 704 708 709
8 8.1
Krankheiten des Immunsystems . . . . . . . . . . Immunität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.1.1 8.1.2
Angeborene Immunität . . . . . Adaptive Immunität . . . . . . . . Allergie . . . . . . . . . . . . . . . Allergische Grundphänomene . Allergiediagnostik . . . . . . . . . Allergische Krankheitszustände
632 634 636 639 639 640 641 642 643 643 644 644 647 647 647 656 657 659 664 664 665 667 669 670 673 675 679 681 682 684 685 685 687 688 690 691 691
8.3
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
711 712 712 715 717 718 721 722 729 729 730 731 731 732 732 734 737 740 742 744 745 745 747 748 749 749
. . . .
755 755
9 9.1
Krankheiten des Bewegungsapparates . . . . . Entzündliche Erkrankungen der Gelenke und der periartikulären Gewebe . . . . . . . . . .
763
9.1.1 9.1.2 9.1.3 9.1.4 9.1.5 9.1.6
Rheumatoide Arthritis (RA) . . . . . . . . . . . . . . Varianten der rheumatoiden Arthritis . . . . . . . . Ankylosierende Spondylitis (Morbus Bechterew). Sekundäre Spondylarthritiden . . . . . . . . . . . . Rheumatisches Fieber. . . . . . . . . . . . . . . . . . Infektiöse Arthritiden . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.2
Degenerative Gelenk-, Wirbelsäulen- und Weichteilerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . .
9.2.1 9.2.2 9.2.3 9.2.4
Arthrose der Extremitätengelenke . . . . . . . . . . . Arthropathien durch Calciumkristallablagerungen Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule . . . Weichteilrheumatismus. . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.3.1 8.3.2 8.3.3 8.3.4
8.4 8.4.1 8.4.2 8.4.3 8.4.4 8.4.5 8.4.6 8.4.7 8.4.8 8.4.9 8.4.10
8.5 8.5.1 8.5.2 8.5.3
. . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
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. . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . .
764 764 772 772 778 781 783 786 786 791 793 797
XIV
9.3 9.3.1 9.3.2 9.3.3 9.3.4 9.3.5 9.3.6 9.3.7 9.3.8 9.3.9 9.3.10 9.3.11
Inhaltsverzeichnis
Krankheiten der Knochen und der Nebenschilddrüsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.4.1 9.4.2 9.4.3
Funktion und Entwicklung des Skelettsystems . . . Calcium- und Phosphatstoffwechsel . . . . . . . . . Primärer Hyperparathyreoidismus . . . . . . . . . . . Sekundärer Hyperparathyreoidismus . . . . . . . . . Hypoparathyreoidismus . . . . . . . . . . . . . . . . . Osteoporose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Osteomalazie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Osteopetrosis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Morbus Paget . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hereditäre Skelett- und Bindegewebeerkrankungen Entzündliche Knochenkrankheiten . . . . . . . . . . Knochentumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Benigne Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maligne Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Skelettmetastasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10 10.1
Infektionskrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . Virusinfektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10.1.1 10.1.2 10.1.3 10.1.4 10.1.5 10.1.6 10.1.7 10.1.8 10.1.9 10.1.10 10.1.11 10.1.12 10.1.13 10.1.14 10.1.15 10.1.16
Masern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Röteln (Rubeolen) . . . . . . . . . . . . . . . Varizellen Herpes zoster . . . . . . . . . . . Infektionen durch Herpes-simplex-Viren . Infektiöse Mononukleose . . . . . . . . . . Zytomegalie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pocken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Virusinfektionen des Respirationstraktes Influenza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mumps . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Virusdysenterie . . . . . . . . . . . . . . . . . Poliomyelitis . . . . . . . . . . . . . . . . . . Coxsackie-Virus-Infektionen . . . . . . . . . ECHO-Virus-Infektionen . . . . . . . . . . . Tollwut (Rabies) . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Arthropoden übertragene virale Zooanthroponosen . . . . . . . . . . . . . . Von Nagetieren übertragene virale Zooanthroponosen . . . . . . . . . . . . . . Infektionen durch Filoviren . . . . . . . . . Bakterielle Infektionen . . . . . . . . . . . Chlamydien-Infektionen . . . . . . . . . . . Rickettsiosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mykoplasma-Infektionen. . . . . . . . . . . Staphylokokkeninfektionen . . . . . . . . . Streptokokkeninfektionen . . . . . . . . . . Diphtherie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Listeriose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tetanus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Botulismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Meningokokkeninfektionen . . . . . . . . . Gonorrhö . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bartonellosen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.4
10.1.17 10.1.18
10.2 10.2.1 10.2.2 10.2.3 10.2.4 10.2.5 10.2.6 10.2.7 10.2.8 10.2.9 10.2.10 10.2.11 10.2.12
798 798 799 801 806 806 809 812 815 816 817 820 821 821 822 823
. . . . . . . . . . . . . . .
825 827 827 828 829 831 832 834 835 835 837 839 840 841 842 843 843
. . . . . .
844
. . . . . . . . . . . . . . .
850 852 852 853 855 858 859 862 865 866 868 869 870 872 874
. . . . . . . . . . . . . . .
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10.2.13 10.2.14 10.2.15 10.2.16 10.2.17 10.2.18 10.2.19 10.2.20 10.2.21 10.2.22 10.2.23 10.2.24 10.2.25 10.2.26
Legionellose . . . . . . . . . . . Pertussis (Keuchhusten) . . . Salmonellosen . . . . . . . . . Shigellose (Bakterienruhr) . . Escherichia-coli-Infektionen . Yersinien-Infektionen . . . . . Cholera . . . . . . . . . . . . . . Campylobacter-Enteritis . . . Brucellosen . . . . . . . . . . . Tularämie. . . . . . . . . . . . . Leptospirose . . . . . . . . . . Lyme-Borreliose . . . . . . . . Rückfallfieber . . . . . . . . . . Syphilis (Lues) . . . . . . . . . .
10.3
Infektionen durch Protozoen
10.3.1 10.3.2 10.3.3 10.3.4 10.3.5 10.3.6 10.3.7 10.3.8 10.3.9 10.3.10
Trypanosomiasis . Leishmaniosen . . Malaria . . . . . . . Toxoplasmose . . Amöbiasis . . . . . Giardiasis . . . . . . Kryptosporidiose . Isosporiasis . . . . Cyclosporiasis . . . Mikrosporidiose .
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10.4
Infektionen durch Helminthen
10.4.1 10.4.2 10.4.3 10.4.4 10.4.5 10.4.6 10.4.7 10.4.8 10.4.9 10.4.10 10.4.11 10.4.12 10.4.13 10.4.14 10.4.15
Schistosomiasis (Bilharziose) . . . Befall mit Leber- und Darmegel . Paragonimiasis . . . . . . . . . . . . Taeniasis . . . . . . . . . . . . . . . . Diphyllobothriose . . . . . . . . . . Hymenolepiasis . . . . . . . . . . . Echinokokkose . . . . . . . . . . . . Askaridiasis . . . . . . . . . . . . . . Enterobiasis . . . . . . . . . . . . . . Trichuriose . . . . . . . . . . . . . . . Ancylostomatidose . . . . . . . . . Strongyloidose . . . . . . . . . . . . Filariasis . . . . . . . . . . . . . . . . Dracunculiasis . . . . . . . . . . . . Trichinellose . . . . . . . . . . . . . Pilzinfektionen . . . . . . . . . . . Primäre Systemmykosen . . . . . . Opportunistische Systemmykosen Pneumozystis-Infektion . . . . . . . Prionenkrankheiten . . . . . . . . . Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Syndrome . . . . . . . . . .
10.5 10.5.1 10.5.2 10.5.3
10.6 10.6.1 10.6.2
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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875 876 877 880 881 882 884 886 886 887 887 888 890 891 894 894 897 898 902 904 905 906 907 907 907 908 908 909 911 911 912 913 913 914 915 916 916 917 917 920 920 921 921 923 925 926 926 927
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 929 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 931 Normalbereiche ausgewählter Laborwerte . . . . . . . . . 1001
1 1
Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
1.1
Mechanismen der Kreislaufregulation
1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.1.5
Intrinsic-Regulation – 5 Nervale Regulation – 5 Hormonale Regulation – 8 Physikalische Mechanismen – 10 Gesamtregulation – 10
1.2
Kreislaufschock – 11
1.2.1 1.2.2 1.2.3
Pathophysiologie Klinik – 12 Therapie – 13
–5
– 11
1.3
Arterielle Hypotonie und Synkopen – 14
1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4 1.3.5
Essenzielle Hypotonie – 14 Sekundäre Hypotonie – 14 Orthostatische Kreislaufstörungen – 15 Synkopen – 17 Episodische Schwächezustände ohne Synkopen
1.4
Arterielle Hypertonie – 19
1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.4.4 1.4.5 1.4.6 1.4.7 1.4.8
Allgemeines – 19 Ätiologische Klassifizierung – 21 Pathogenese – 21 Organschäden durch Hypertonie – 23 Diagnostik – 25 Differenzialdiagnose – 25 Allgemeine Therapie – 26 Spezielle Therapie – 30
1.5
Krankheiten der peripheren Arterien – 33
1.5.1 1.5.2 1.5.3 1.5.4 1.5.5 1.5.6 1.5.7
Klassifizierung – 33 Untersuchungsmethoden – 35 Extremitätenarterien – 40 Viszeralarterien – 43 Krankheiten der Nierenarterien – 44 Aorta – 44 Kopfarterien – 46
– 18
1.6
Krankheiten der Venen – 51
1.6.1 1.6.2 1.6.3 1.6.4
Pathophysiologie – 51 Untersuchungsmethoden Varikosen – 54 Venenthrombosen – 56
1.7
Krankheiten der Lymphgefäße
1.7.1 1.7.2 1.7.3 1.7.4 1.7.5
Funktionen des Lymphgefäßsystems – 59 Pathogenese der Ödeme – 60 Untersuchungsmethoden – 60 Akute Lymphangitis – 60 Lymphödem – 61
1.8
Grundlagen und Methoden der kardiologischen Diagnostik – 61
1.8.1 1.8.2 1.8.3 1.8.4 1.8.5 1.8.6 1.8.7 1.8.8 1.8.9 1.8.10 1.8.11 1.8.12
Kardialer Zyklus – 61 Auskultation – 62 Perkussion – 65 Palpation – 65 Röntgenuntersuchung – 66 Elektrokardiographie – 66 Invasive elektrophysiologische Untersuchungen – 75 Echokardiographie – 75 Nuklearmedizinische Methoden – 81 Herzkatherisierung und Angiokardiographie – 82 Computertomographie – 84 Magnetresonanztomographie (MRT) – 84
1.9
Herzinsuffizienz – 85
1.9.1 1.9.2 1.9.3 1.9.4 1.9.5 1.9.6
Normalwerte und Determinanten der Herzleistung Pathogenese der Herzinsuffizienz – 87 Klinische Diagnostik – 88 Apparative Diagnostik – 90 Laboruntersuchungen – 90 Therapie – 90
1.10
Rhythmusstörungen des Herzens – 95
1.10.1 1.10.2 1.10.3 1.10.4 1.10.5 1.10.6
Normale Reizbildung und Erregungsleitung – 95 Elektrophysiologische Mechanismen der Arrhythmien – 98 Diagnostik von Herzrhythmusstörungen – 99 Therapeutische Maßnahmen bei Herzrhythmusstörungen – 99 Einteilung von Herzrhythmusstörungen – 104 Supraventrikuläre Reizbildungsstörungen – 104
– 53
– 59
– 85
1 1.10.7 1.10.8 1.10.9
Präexzitationssyndrome – 111 Ventrikuläre Reizbildungsstörungen – 114 Erregungsleitungsstörungen – 119
1.11
Entzündliche Herzkrankheiten – 122
1.11.1 1.11.2 1.11.3 1.11.4
Rheumatische Karditis – 124 Infektiöse Endokarditis – 125 Myokarditis – 129 Perikarditis – 130
1.12
Erworbene Herzklappenfehler – 133
1.12.1 1.12.2 1.12.3 1.12.4 1.12.5 1.12.6 1.12.7 1.12.8 1.12.9
Mitralstenose – 133 Mitralinsuffizienz – 135 Mitralklappenprolapssyndrom – 137 Aortenstenose – 138 Aorteninsuffizienz – 141 Trikuspidalstenose – 142 Trikuspidalinsuffizienz – 143 Erworbene Pulmonalstenose – 144 Erworbene Pulmonalinsuffizienz – 145
1.13
Angeborene Herzfehler – 145
1.13.1 1.13.2 1.13.3 1.13.4 1.13.5 1.13.6 1.13.7 1.13.8 1.13.9 1.13.10 1.13.11 1.13.12 1.13.13 1.13.14
Allgemeines – 146 Vorhofseptumdefekt (ASD) – 146 Ventrikelseptumdefekt (VSD) – 148 Ductus Botalli apertus – 150 Kongenitale Aortenstenose – 151 Aortenisthmusstenose (Koarktation der Aorta) – 151 Kongenitale Pulmonalstenose – 152 Morbus Fallot – 153 Ebstein-Anomalie – 154 Trikuspidalatresie – 154 Gemeinsamer (singulärer) Ventrikel – 154 Transposition der großen Gefäße – 155 Anatomisch korrigierte Transposition der großen Arterien Truncus arteriosus communis – 155
1.14
Kardiomyopathien – 155
1.14.1 1.14.2 1.14.3
Dilatative Kardiomyopathie (DCM) – 156 Hypertrophische Kardiomyopathie (HCM) – 157 Restriktive Kardiomyopathie (RCM) – 158
– 155
1.15
Koronare Herzkrankheit (KHK) – 160
1.15.1 1.15.2 1.15.3 1.15.4 1.15.5
Allgemeines – 160 Angina pectoris – 161 Stumme Ischämie – 167 Mikrovaskuläre Ischämie (»Syndrom X«) Akuter Myokardinfarkt – 168
1.16
Pulmonale Herzkrankheiten – 178
1.16.1 1.16.2
Lungenembolie – 178 Pulmonale arterielle Hypertonie
– 181
– 167
5 1.1 · Mechanismen der Kreislaufregulation
Mechanismen der Kreislaufregulation
1.1
Mechanismen der Herz-Kreislauf-Regulation Intrinsic-Regulation Nervale Regulation Hormonale Regulation Physikalische Regulation Gesamtregulationsmechanismen
1.1.1
Intrinsic-Regulation
Definition. Basale Regulationsmechanismen des Kreislaufs, die
von der übergeordneten nervalen und humoralen Steuerung unabhängig sind. Autoregulation der kardialen Pumpleistung Die Pumpleistung des Herzens nimmt mit steigendem venösen Zufluss durch folgende Mechanismen automatisch zu: 4 Frank-Starlin-Mechanismus: Vergrößerung des venösen Angebotes → stärkere diastolische Kammerfüllung unter Zunahme der Faserdehnung → Steigerung der Kontraktionskraft und des Schlagvolumens. 4 Mechanische Steigerung der Herzfrequenz: Stärkere Füllung des rechten Vorhofes → Stimulation des Sinusknotens durch Dehnung → Anstieg der Schlagfrequenz (mit frequenzbedingter Kontraktilitätssteigerung). Autoregulation der Gewebe- und Organdurchblutung Sie passt die Blutversorgung der Organe und Gewebe genau ihrer Stoffwechselaktivität an, verhindert somit Schädigungen durch Über- und Unterperfusion und trägt maßgeblich zur Ökonomie der Herztätigkeit bei. Gesteuert wird der lokale Blutfluss durch schnelle Änderungen des Kontraktionszustandes der Arteriolen, Metarteriolen (Endarteriolen) und präkapillären Sphinkter. Die letzteren werden abwechselnd geschlossen und wieder ganz geöffnet, so dass die Durchblutung von der Zahl der geöffneten Sphinkter abhängt. Die Steuerungsmechanismen sind: 4 Vasokonstriktion: Bei akutem Blutdruckanstieg bewirkt die plötzliche Zunahme des Blutflusses nach der metabolischen Theorie ein zu großes Angebot von O2 und Nährstoffen im Gewebe, das den Tonus der Arteriolen und der präkapillären Sphinkter erhöht. Nach der myogenen Theorie steigt der Tonus dieser Gefäße reflektorisch, wenn eine plötzliche Wanddehnung erfolgt. Zur Vasokonstriktion trägt das vom Gefäßendothel sezernierte Endothelin 1 bei, ein Peptid aus 21 Aminosäuren, für das auch spezifische Rezeptoren existieren. In jedem Fall wird die Gewebeperfusion auch bei größeren Blutdruckausschlägen in normalen Grenzen gehalten. 4 Vasodilatation: Erfolgt durch vasodilatierende Substanzen, die bei Stoffwechselsteigerung bzw. O2-Mangel im Gewebe
vermehrt anfallen: Adenosinphosphat (aus ATP), CO2, Laktat, Histamin, Kalium- und Wasserstoffionen. Das Absinken der O2-Konzentration im Gewebe vermindert auch direkt den Tonus der Arteriolen und öffnet die präkapillären Sphinkter. Das verstärkt einschießende Blut setzt durch Scherstress in den Endothelzellen der Arteriolen und kleinen Arterien Nitroxid (NO) frei, das vasodilatierend auf die stromaufwärts gelegenen intermediären und größeren Arterien wirkt. Das Radikal NO entsteht nach Aktivierung der NO-Synthase aus Arginin, das dabei in Citrullin übergeht. 4 Vaskularisierung: Langfristigen Änderungen der lokalen Durchblutung wird durch Zunahme bzw. Abnahme der Vaskularisierung (Kapillarisierung) begegnet. Es können Umgehungskreisläufe entstehen. Auf die Dauer passt sich der Vaskularisierungsgrad genau der Größe des Stoffwechsels an. Die wichtigsten Induktoren der Angiogenese sind FGFs (fibroblast growth factors), VEGFs (vascular endothelial growth factors) und PDGFs (platelet derived growth factors), die alle von hypoxieinduzierenden Genen gebildet werden und auch bei der Vaskularisierung expandierender Karzinome mitwirken. > Besonderen Regulationsmechanismen unterliegen Gehirn- und Nierenkreislauf. Im Gehirn wirkt CO2 stark vasodilatierend. Die überwiegend nicht nutritiven Zwecken dienende Nierendurchblutung wird durch den juxtaglomerulären Apparat reguliert.
Hormonunabhängige renale Regulation des Blutvolumens Durch das Phänomen der Druckdiurese (pressure diuresis) trägt die Niere zur Kontrolle des Blutvolumens und damit auch des Blutdrucks bei: 4 Reaktion auf Verminderung des Blutvolumens: → Abnahme des Herzzeitvolumens (cardiac output) → Absinken des Blutdrucks → Verminderung der renalen Wasser- und Salzausscheidung (durch Abnahme der glomerulären Filtrationsrate und des peritubulären Kapillardrucks) → Zunahme der extrazellulären Flüssigkeit (Blutplasma + interstitielle Flüssigkeit) → Anstieg des Blutvolumens und des Blutdrucks zur Norm. 4 Reaktion auf Vermehrung des Blutvolumens: → Zunahme des Herzzeitvolumens → autoregulatorische Vasokonstriktion in der zu stark durchbluteten Kreislaufperipherie → Anstieg des Blutdrucks → Zunahme der renalen Wasser- und Salzausscheidung (»pressure-diuresis« durch Erhöhung der glomerulären Filtrationsrate und des peritubulären Kapillardrucks) → Absinken des Blutvolumens und des Blutdrucks zur Norm. Voraussetzung ist eine normale Nierenfunktion. 1.1.2
Nervale Regulation
Definition. Kreislaufregulation durch das autonome Nerven-
system, das den Intrinsic-Mechanismen zum Zweck integrierter
1
6
1
Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
Gesamtregulation übergeordnet ist, schneller reagiert und die Funktionsreserven weiter ausschöpft. Medulläre autonome Zentren der Kreislaufregulation Vasokonstriktorisches Areal des Vasomotorenzentrums. Bilateral, im anterolateralen Bereich der oberen Medulla gelegene Neuronengruppe, die über den Sympathikus spontan und kontinuierlich vasokonstriktorische Impulse aussendet. Diese fortlaufende Stimulation wird als Vasomotorentonus bezeichnet. Von demselben Areal gehen via Sympathikus auch exzitatorische Impulse zum Herzen aus.
reflex vor allem plötzlichen Änderungen des Blutdrucks entgegen und zwar nach beiden Seiten. Auf langfristige Blutdruckerhöhung sprechen die Barorezeptoren nicht an, sondern verändern ihren Stellwert. Mechanischer Druck auf den Karotissinus stimuliert die Barorezeptoren und bewirkt Blutdruckabfall und Bradykardie. Bei einem durch Wandveränderungen (Arterioklerose, Narben, Lymphome) hypersensitiven Karotissinus ist die Reaktion auf den Karotisdruck verstärkt. Durch massiven Blutdruckabfall und extreme Bradykardie kann es zum Ohnmachtsanfall kommen (Karotis-Sinus-Synkope). Venöse Barorezeptoren (low pressure receptors). Dehnungs-
Vasodilatorisches Areal des Vasomotorenzentrums. Bilateral, in
der unteren Hälfte der Medulla, dicht neben dem motorischen Vaguskern gelegene Neuronengruppe. Ihre Fasern ziehen aufwärts in das vasokonstriktorische Areal, hemmen dessen vasokonstriktorische Aktivität und bewirken eine Vasodilatation. Zusätzlich stimulieren sie über den motorischen Vaguskern parasympathische kardioinhibitorische Impulse zum Herzen. Sensorisches Areal. Beiderseits im Tractus solitarius lokalisiert,
verläuft posterolateral in der Medulla oblongata und erstreckt sich bis in den unteren Abschnitt der Pons. Die Neuronen dieses Areals empfangen sensorische Nervensignale vom Vagus und Glossopharyngeus und senden Signale zum vasokonstriktorischen und zum vasodilatorischen Areal aus, die eine reflektorische Kontrolle des Blutdrucks ermöglichen. Supramedulläre Kontrolle des Vasomotorenzentrums Das selbständig arbeitende medulläre Vasomotorenzentrum kann durch Impulse aus höheren Zentren beeinflusst werden: 4 Hypothalamus: Stimulation des vorderen Hypothalamus erhöht den Vagus- oder Parasympathikustonus. Stimulation des hinteren Hypothalamus steigert den Sympathikustonus und setzt den Parasympathikustonus herab. 4 Cortex: Verschiedene Regionen der Hirnrinde (motorische Rinde, vorderer Temporallappen, Hippokampus u.a.) können die hypothalamischen und medullären Zentren stimulierend oder hemmend beeinflussen. Damit werden die vielfältigen emotionalen, psychomotorischen und sensorischen Effekte auf den Kreislauf verständlich. Afferente und direkte Stimulation der medullären Zentren Arterielle Barorezeptoren (high pressure receptors). Dehnungsrezeptoren in der Arterienwand (Karotissinus, Aorta, große Arterien), deren Impulse über den N. vagus und N. glossopharyngeus zum sensorischen Areal (Tractus solitarius) geleitet werden. Von dort gehen dann inhibitorische Impulse zum vasokonstriktorischen Areal des Vasomotorenzentrums und exzitatorische Impulse zum Vaguskern aus. Die permanente Entladungsfrequenz der Rezeptoren steigt bei Blutdruckanstieg und sinkt bei plötzlichem Blutdruckabfall. Auf diese Weise wirkt der Barorezeptor-
rezeptoren in den Vorhöfen und Pulmonalarterien, die einem Blutdruckanstieg bei Zunahme des Blutvolumens entgegenwirken. Wenn bei einem Volumenanstieg der Druck in den Vorhöfen und den Pulmonalarterien zunimmt, senden die Dehnungsrezeptoren vermehrt Impulse zum vasodilatorischen Areal des Vasomotorenzentrums aus, die durch Vasodilatation den Blutdruck senken. Besonders intensiv ist die Dilatation der afferenten Nierenarteriolen, die über eine Steigerung der glomerulären Filtrationsrate die Urinausscheidung steigert. Die atrialen Rezeptoren hemmen bei Druckanstieg reflektorisch den Vagustonus und bewirken dadurch einen Frequenzanstieg des Herzens (Bainbridge-Reflex). Direkte Stimulation des Vasomotorenzentrums Ischämiereaktion des ZNS. Erfolgt bei systolischem Blutdruckabfall unter 50 mmHg oder bei lokaler Durchblutungsstörung der Medulla oblongata: Maximale Stimulation des vasokonstriktorischen Areals des Vasomotorenzentrums mit intensiver generalisierter Vasokonstriktion und extremem Blutdruckanstieg. Cushing-Reaktion. Spezieller Typ der Ischämiereaktion bei Kom-
pression zerebraler Arterien durch überhöhten Liquordruck. Der reflektorische Blutdruckanstieg lässt den Blutdruck wieder über den Liquordruck steigen. Sympathikus Anatomische Gliederung und Überträgerstoffe Vom Sympathikus gehen alle efferenten adrenergen Impulse des autonomen Nervensystems aus. Sie bewirken an den innervierten Endorganen die Freisetzung von Noradrenalin und im Nebennierenmark die Ausschüttung von Adrenalin, das auf dem Blutweg seine Wirkung entfaltet. Die Sympathikusbahn ist in 2 Neurone gegliedert: 4 das pränglionäre Neuron mit dem Zellkörper im Seitenhorn des Rückenmarkgrau und 4 das postganglionäre Neuron mit dem Zellkörper in den paravertebralen oder prävertebralen sympathischen Ganglien. Die präganglionären Sympathikusfasern sind cholinergisch, d. h. sie setzen an der Synapse in den Ganglien als Überträgerstoff Acetylcholin frei.
7 1.1 · Mechanismen der Kreislaufregulation
Adrenerge Rezeptoren. Die Wirkung von Adrenalin und Nor-
Skelettmuskelgefäße. In der Skelettmuskulatur ist der vaso-
adrenalin auf die sympathischen Effektorzellen wird durch den Rezeptortyp bestimmt, den diese Zellen tragen. Es kann eine exzitatorische oder inhibitorische Wirkung sein. Zu unterscheiden sind die Rezeptoren α1, α2, β1, β2 und β3.Vom α1- und α2-Rezeptor konnten je 3 Subtypen geklont werden, die zwar in ihrer Gewebeverteilung, aber nicht in ihren funktionellen Eigenschaften differieren. Ein β3-Rezeptor ist hauptsächlich im Fettgewebe lokalisiert. Seine Bedeutung für die Lipolyse ist ungeklärt. Noradrenalin und Adrenalin wirken auf α1-, α2- und β1-Rezeptoren annähern gleich stark. Auf β2-Rezeptoren, deren Stimulation zur Vasodilatation führt, wirkt Noradrenalin erheblich schwächer als Adrenalin.
konstriktorische Sympathikuseffekt relativ schwach. Hier sind die Gefäßmuskelzellen mit α1- und β2-Rezeptoren besetzt. Bei körperlicher Arbeit erfolgt eine intensive Vasodilatation durch Autoregulation, und den vasodilatatorischen Effekt des vom Nebennierenmark ausgeschütteten Adrenalins auf die α2-Rezeptoren.
Innervation und Wirkung am Kreislaufsystem Periphere Gefäße. Vasokonstriktorische Sympathikusfasern innervieren die mit α1-Rezeptoren ausgestatteten kleinen Arterien, Arteriolen, Venolen und Venen, nicht aber Kapillaren, präkapilläre Sphinkter und Metarteriolen (. Abb. 1.1). Die Konstriktion der Arteriolen und Arterien bewirkt eine Erhöhung des peripheren Gesamtwiderstandes und des Blutdrucks. Durch die Konstriktion der Venolen und Venen wird die Füllungskapazität des Venensystems reduziert. Die Folge ist eine Zunahme des venösen Rückflusses zum Herzen und eine volumeninduzierte Steigerung der Pumpleistung. α2-Rezeptoren sind an den sympathischen Endausbreitungen und in der pontomedullären Region des ZNS lokalisiert. Ihre Stimulation durch Katecholamine hemmt die Freisetzung von Noradrenalin in den vom Sympathikus innervierten Gefäßen und den zentralen Sympathikustonus.
Arterie
Vene
Sympathikus
Herzkranzgefäße. Die epikardialen Gefäße haben überwiegend
α1- und α2-Rezeptoren, die intramyokardialen überwiegend β2Rezeptoren. Unter Ruhebedingungen resultiert ein schwacher vasokonstriktorischer Sympathikustonus. Bei Belastung erfolgt durch metabolische Autoregulation eine dem O2-Verbrauch proportionale Vasodilatation. Daran ist der Sympathikus indirekt beteiligt, weil er an seinen myokardialen Angriffspunkten die Kontraktilität und damit den Stoffwechsel steigert. Herz. Sinusknoten, Vorhöfe, AV-Knoten, His-Purkinje-Fasern und Ventrikel haben Adrenorezeptoren der Typen β1, β2 und α1. Im normalen Myokard beträgt das Verhältnis 70–80:20–30. Die adrenergen Rezeptoren im Sarkolemm der Myozyten gehören zu den Protein-G-gekoppelten Rezeptoren. Nach Stimulation der β-Rezeptoren durch Katecholamine verbindet sich der Rezeptor mit dem stimulatorischen G-Protein (Gs), das aus den Untereinheiten α, β und γ besteht. Danach löst sich das an die α-Untereinheit gebundene GDP und wird durch GPT ersetzt. Die damit verbundene Aktivierung des G-Proteins führt zur Abspaltung der GPT tragenden α-Untereinheit. Der GTP-α-Komplex aktiviert nun die in der Membran lokalisierte Adenylatzyklase, die als Second Messenger cAMP bildet. Durch cAMP wird die Proteinkinase A aktiviert, die über eine Phosphorylierung der Calciumkanäle vom Typ L den Calciuminflux und damit die Inotropie steigert. β-Rezeptoren können sich auch mit inhibierendem G-Protein (Gi) verbinden. Daraus resultiert eine Hemmung der Adenylatzyklase. Die adrenergen α1-Rezeptoren verbinden sich nach der Stimulation mit dem G-Protein Gq, das in der Zellmembran die Phospholipase Cβ aktiviert. Diese spaltet Phosphoinositide in 2 Second Messenger, Inositoltriphosphat (IP3) und Diacylglycerol (DAG). IP3 stimuliert die Freisetzung von Ca++ aus intrazellulären Speichern, während DAG ein potenter Aktivator der Phospholipase Cβ ist. > Insgesamt nehmen bei gesteigerter Sympathikusaktivität im Sinusknoten die Impulsfrequenz, im AV-Knoten und den His-Purkinje-Fasern die Leitungsgeschwindigkeit und im Arbeitsmyokard die Inotropie zu.
Venole Arteriole Kapillare . Abb. 1.1. Sympathikus-Innervation des Gefäßsystems
Parasympathikus Anatomische Gliederung, Überträgerstoff und Rezeptoren Der Parasympathikus ist in prä- und postganglionäre Neurone gegliedert. Der Zellkörper der präganglionären Neurone liegt in den Kernen der Hirnnerven III (N. oculomotorius), VII (N. faci-
1
8
1
Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
alis), IX (N. glossopharyngeus) und X (N. vagus), sowie im 2.–4. Sakralsegment des Rückenmarks. Die Neuriten der präganglionären Neurone werden erst in den Erfolgsorganen auf die postganglionären Neurone umgeschaltet und sind deshalb erheblich länger als die der postganglionären. Etwa 75% aller parasympathischen Nervenfasern, darunter die kreislaufwirksamen, verlaufen im N. vagus. Überträgerstoff sowohl an den Synapsen zwischen prä- und postganglionären Neuronen als auch an den Endausbreitungen der postganglionären Neuriten ist das Acetylcholin. Man spricht deshalb auch vom cholinergen autonomen Nervensystem. Das Acetylcholin reagiert mit 2 Rezeptortypen. An den Synapsen zwischen prä- und postganglionären parasympathischen (und sympathischen) Neuronen befinden sich Rezeptoren vom Nikotintyp (selektive Aktivierung durch Nikotin). Alle von postganglionären parasympathischen Neuronen stimulierten Effektorzellen tragen Rezeptoren vom Muskarintyp (selektive Aktivierung durch Muskarin). Innervation und Wirkung am Kreislaufsystem Periphere und Skelettmuskelgefäße. Sie haben keine parasympathische Innervation, sondern werden nur vom Sympathikus gesteuert. Herz. Vom Vagus innerviert werden der Sinusknoten, das Vor-
hofmyokard und der AV-Knoten. Nur wenige, funktionell unbedeutende Vagusfasern erreichen das Kammermyokard. Eine Vagusstimulation verlangsamt die Sinusknotenimpulse und die Erregungsleitung in den Verbindungsfasern zwischen Vorhofmyokard und AV-Knoten. Außerdem setzt sie die Kontraktilität der Vorhöfe herab. Es resultieren eine Abnahme der Herzfrequenz und der kardialen Pumpleistung. ! Extreme Vagusstimulation kann zum Sinusstillstand und zum AV-Block führen.
1.1.3
Hormonale Regulation
Renin-Angiotensin-Aldosteron-System Das System dient der kurz- und langfristigen Blutdruckkontrolle, die durch Einwirkung auf den Gefäßtonus und das Blutvolumen erreicht wird. Renin Aktiviert wird das System durch das Renin, eine Protease, die in den juxtaglomerulären Zellen (JG-Zellen) des Vas afferens der Glomeruli aus Prorenin gebildet und zusammen mit seiner Vorstufe gespeichert wird. Zur Reninsekretion in die Blutbahn kommt es durch: 4 Stimulation der Barorezeptoren im Vas afferens als Reaktion auf Blutdruckabfall oder lokale Ischämie, 4 Stimulation der JG-Zellen über die Macula densa des juxtaglomerulären Apparates bei Absinken der Na+- und Cl–Konzentration im distalen Tubulus,
4 Sympathikusstimulation der β1-Rezeptoren an den JGZellen. Angiotensin Das Renin spaltet im Blutplasma aus den Angiotensinogen, einem α2-Globulin, das weitgehend kreislaufinaktive Dekapeptid Angiotensin I ab. Daraus entsteht durch Einwirkung des am Gefäßendothel (hauptsächlich in der Lunge) lokalisierten Angiotensin-Converting-Enzym (ACE) das aktive Oktapeptid Angiotensin II. Ebenfalls wirksam, wenn auch viel schwächer ist das Heptapeptid Angiotensin III, das beim Abbau des Angiotensin II durch eine Aminopeptidase gebildet wird. Das Angiotensin II ist die Schlüsselsubstanz des Systems. Mit 2 unterschiedlichen Wirkungsmechanismen trägt es maßgeblich zur Blutdruckstabilisierung bei: 4 Vasokonstriktion durch: 5 hauptsächlich intensive direkte Kontraktion der Arteriolen, weniger der postkapillären Venolen 5 Verstärkung des peripheren Symathikustonus über eine Hemmung des Noradrenalin-Reuptake in die Nervenenden 5 Stimulation des Vasomotorenzentrums. ! Die Renin-Angiotensin-Vasokonstriktion wird erst 20 Minuten nach Stimulation des Systems voll wirksam, also deutlich langsamer als die Sympathikusaktivierung.
4 Expansion des Blutvolumens durch: 5 Stimulation der Rückresorption von Na+, Cl- und Bikarbonat im proximalen Tubulus, die zur renalen Wasserund Salzretention führt 5 Konstriktion der renalen Blutgefäße, die den renalen Blutfluss und die Harnausscheidung drosselt 5 Stimulation der Aldosteronsekretion in der Nebennierenrinde. Aldosteron steigert im distalen Tubulus die renale Na+-Rückresorption und expandiert damit das extrazelluläre Flüssigkeitsvolumen. Die direkten Effekte des Angiotensin II auf die Niere sind dreimal stärker als der indirekte Effekt über das Aldosteron. > Die Expansion des Blutvolumens beginnt einige Stunden nach der Stimulation des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems, dauert aber so lange, bis die Ursache der Stimulation entfällt.
Alle kreislaufwirksamen Effekte des Angiotensin II werden an die Effektorzellen durch AT1-Rezeptoren vermittelt. AT2-Rezeptoren sind weit verstreut in fetalen Geweben anzutreffen, weniger bei Erwachsenen. Ihre Funktion ist noch nicht genau bekannt. Anmerkung: Mehrere Gewebe haben ein lokales Renin-Angiotensin-System, das Angiotensin II produzieren kann. Dazu gehören Gefäßwand, Herz, Gehirn, Nebennierenrinde, Nieren, Uterus und Plazenta. In Tierexperimenten zeigte Angiotensin II
9 1.1 · Mechanismen der Kreislaufregulation
an kardiovaskulären Strukturen folgende, wahrscheinlich parakrine Effekte: 4 Stimulation von Migration, Proliferation und Hypertrophie glatter Muskelzellen 4 Steigerung der Matrixproduktion glatter Muskelzellen 4 Hypertrophie kardialer Myozyten 4 Stimulation der Fibroblasten zu vermehrter Bildung von extrazelllärer Matrix. In analoger Weise scheint Angiotensin II auch beim Menschen wirksam zu sein. Denn die Behandlung mit ACE-Blockern wirkt der Hypertrophie und Fibrosierung des Herzmuskels sowie dem Remodeling des linken Ventrikels nach Myokardinfarkt entgegen. Antidiuretisches Hormon (ADH, Vasopressin) Das im Hypothalamus gebildete und im Hypophysenhinterlappen sezernierte Nonapeptid ADH hat 2 kreislaufstabilisierende Wirkungen: 4 Durch Stimulation der Wasserrückresorption im distalen Nephron stabilisiert es das Blutvolumen. 4 Durch generalisierte Arteriolenkonstriktion, auch in der Skelettmuskulatur, erhöht es den peripheren Gesamtwiderstand und damit den Blutdruck. Die Vasokonstriktion wird durch V1-Rezeptoren an den Gefäßen vermittelt, die Wasserrückresorption durch V2-Rezeptoren an den Sammelrohren. Die Stimulation der ADH-Sekretion durch das Kreislaufsystem erfolgt auf nervalem Weg über die Barorezeptoren im Karotissinus (bei Blutdruckabfall) und in den Vorhöfen (bei Volumenmangel). Während die ADH-Sekretion auf einen von zentralnervösen Osmorezeptoren signalisierten Anstieg der Plasmaos-
molarität höchst empfindlich reagiert, springt sie erst auf starken Blutdruckabfall und schwere Volumenverluste an. Natriuretische Peptide Zwei im Herzen gebildete Peptide wirken vasodilatatorisch und natriuretisch und vermindern dadurch das Blutvolumen. Sie supprimieren außerdem die Aktivität des Renin-Angiotensin-Aldosteron- und des adrenergen Systems. Ein drittes natriuretisches Peptid (CNP) wird im Gefäßsystem gebildet. Seine physiologische Bedeutung ist noch nicht genau geklärt. Der natriuretische und vasodilatatorische Effekt wird durch Rezeptoren der Typen A und B vermittelt. Ein Rezeptor vom Typ C trägt zusammen mit einer neutralen Endopeptidase zur Elimination bzw. Regulation der Peptide bei. ANP (atriales natriuretisches Peptid) Das Peptid aus 28 Aminosäuren wird in den Myokardzellen beider Vorhöfe gebildet und bei Vorhofdehnung vermehrt sezerniert. Bei seiner Freisetzung wird es vom Pro-ANP, einem in Granula gespeicherten Vorläuferprotein, abgespalten. Die normalen Plasmaspiegel betragen 2–80 pmol/l. Der natriuretische Effekt kommt hauptsächlich durch Dilatation des Vas afferens und die damit verbundene Steigerung der glomerulären Filtrationsrate zustande. Ergänzt wird er durch die Hemmung der Aldosteronsekretion. Per saldo wirkt ANP einer Stauung in den Vorhöfen durch Herzinsuffizienz, Niereninsuffizienz, Hypervolämie und Hypertonie entgegen. Das ANP im Plasma steigt auch beim paroxysmalen Vorhofflimmern an. BNP (brain natriuretic peptide) Die Bezeichnung beruht auf der erstmaligen Isolierung des Peptids aus Schweinegehirn. Es hat 32 Aminosäuren und wird
600 95-igste Perzentile NT-proBNP [pg/ml]
500
(95% der Individuen haben NT-proBNP-Werte unterhalb der Linie)
400
Median
300 200 125 pg/ml
100 0 20
30
40
50
60
70
80
Alter . Abb. 1.2. Erwartete NT-proBNP-Werte bei gesunden Individuen in Bezug auf das Alter. Mit zunehmenden Alter werden erhöhte NT-proBNPWerte immer häufiger auch bei scheinbar Gesunden gefunden. Diese
erhöhten Werte zeigen wahrscheinlich ein frühes Stadium und/oder milde Formen einer asymptomatischen kardialen Dysfunktion an (Roche Diagnostics)
1
10
1
Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
hauptsächlich von den Zellen des Kammermyokards gebildet und bei Zunahme des ventrikulären Füllungsdrucks vermehrt freigesetzt. Der Wirkungsmechanismus entspricht dem des ANP, denn es greift an den gleichen Rezeptoren an. BNP entsteht aus proBNP und wird daraus bei der Sekretion abgespalten. In äquimolaren Mengen sezerniert wird auch das inaktive N-terminale Fragment des proBNP (NT-proBNP). Da es mit > 120 min eine höhere Plasmahalbwertszeit hat als BNP (< 20 min), wird die Bestimmung des NT-proBNP bevorzugt zur Messung der BNP-Sekretion verwendet. In Abbildung 1.2 sind die Normalwerte und ihre Altersabhängigkeit wiedergegeben. Inzwischen steht ein Schnelltest für Bedside-Bestimmungen zur Verfügung (. Abb. 1.2). 1.1.4
Physikalische Mechanismen
Kapillare Flüssigkeitsverschiebung Blutdruckanstieg. Anstieg des Kapillardrucks → Zunahme der Filtration von Flüssigkeit ins Interstitium → Abnahme des Blutvolumens → Absinken des Blutdrucks.
Die dargestellten Regulationsmechanismen gewährleisten durch ihr Zusammenwirken, dass in Ruhe und bei Belastung das benötigte Blutvolumen gefördert wird und der Blutdruck die erforderliche Höhe erreicht. Adaptation an erhöhten Blutbedarf Basisregulation durch Intrinsic-Mechanismen: Erhöhter peri-
pherer Blutbedarf → autoregulatorische Vasodilatation → Zunahme des venösen Rückflusses → Zunahme der kardialen Pumpleistung → Anstieg des Herzminutenvolumens und des Blutdrucks. Bei starker Belastung zusätzliche Sympathikusaktivierung (bei gleichzeitiger Herabsetzung des Parasympathikustonus) mit Steigerung der Schlagfrequenz und Inotropie des Herzens, Vasokonstriktion (Haut, Splanchnikus, Niere) mit Änderung der Blutverteilung zugunsten der Organe mit erhöhtem Bedarf (Muskulatur) und Steigerung des venösen Rückflusses durch Venenkonstriktion. Adaptation an Blutdruckabfall Vorkommen: Orthostase, generalisierte Vasodilatation, Hypovo-
lämie, Herzschwäche. Blutdruckabfall. Absinken des Kapillardrucks → Flüssigkeitsein-
strom aus dem Interstitium in die Kapillaren → Zunahme des Blutvolumens → Blutdruckanstieg. Stress-Relaxation der Gefäße Spontane Anpassung der Wandspannung, vor allem der Venen, an Änderungen der Druckbelastung. Blutdruckanstieg (z.B. durch Hypervolämie). Zunahme der Ge-
fäßwandspannung → Relaxation der glatten Muskelzellen in der Gefäßwand → Gefäßerweiterung → Blutdruckabfall.
Sofortkompensation: Sympathikusstimulation durch Barorezeptoren, evtl. durch zerebrale Ischämiereaktion. Wirkungseintritt in Sekunden. Große Wirkungsintensität, Wirkungsdauer einige Stunden bis Tage. Mittelfristige Kompensation: Vasokonstriktion durch Angiotensin II und Vasopressin, umgekehrte Stressrelaxation der Gefäße, kapillare Flüssigkeitsverschiebung aus dem Interstitium in die Blutbahn. Wirkungseintritt nach Minuten. Wirkungsintensität schwächer als bei der Sofortkompensation, Wirkungsdauer Stunden, Tage, Wochen.
Blutdruckabfall (z.B. durch Blutverlust). Abnahme der Gefäß-
wandspannung → Tonisierung der glatten Muskelzellen (umgekehrte Streß-Relaxation) → Gefäßverengung → Blutdruckanstieg. Durch die Adaptation der Wandspannung können akute Veränderungen des Blutvolumens von +30% bis –15% befristet kompensiert werden. 1.1.5
Gesamtregulation
Langfristige Kompensation: Renale Wasser- und Salzretention
mit Anstieg des Blutvolumens durch Aktivierung des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems. Mit dem Blutvolumen steigen venöser Rückfluss, Herzminutenvolumen und arterieller Blutdruck. Wirkungseintritt nach Stunden, Wirkungsintensität groß, Wirkungsdauer unbefristet. Adaptation an Blutdruckanstieg Vorkommen: Hypervolämie verschiedener Genese mit peri-
Die adäquate Blutversorgung der Organe und Gewebe hängt von einer bedarfsgerechten Förderleistung des Herzens ab. Bestimmt wird das Herzminutenvolumen durch den venösen Rückfluss, der die Summe aller örtlich regulierten Flussraten im Organismus darstellt. > Die treibende Kraft für den Blutumlauf ist der arterielle Blutdruck, für den die Formel gilt: Arterieller Blutdruck = Herzminutenvolumen × peripherer Gesamtwiderstand
pherer Vasokonstriktion. Pharmaka-Überdosierung. Sofortkompensation: Sympathikushemmung und Vagusstimu-
lation durch den Barorezeptorreflex. Wirkungseintritt in Sekunden, Wirkungsintensität groß, Wirkungsdauer Stunden bis einige Tage. Mittelfristige Kompensation: Stressrelaxation der Gefäße, kapillare Flüssigkeitsverschiebung aus der Blutbahn ins Interstitium. Drosselung der Freisetzung von Angiotensin II und Vasopressin.
11 1.2 · Kreislaufschock
Abnahme des Blutvolumens, des venösen Rückflusses, des Herzminutenvolumens und des Blutdrucks. Wirkungseintritt nach Minuten, Wirkungsintensität mittelstark, Wirkungsdauer Stunden, Tage, Wochen. Langfristige Kompensation: Steigerung der renalen Wasserausscheidung durch »pressure-diuresis«, Ausschüttung von ANP und Inaktivierung des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems. Dadurch Beseitigung der Hypervolämie und Normalisierung des Blutdrucks, Wirkungseintritt nach Stunden, Wirkungsintensität groß, Wirkungsdauer unbefristet. Voraussetzung ist eine normale Nierenfunktion.
Schock durch primäre Mikrozirkulationsstörungen Inadäquate Gewebeperfusion infolge Zirkulationssperre in der Endstrombahn mit arteriovenösen Kurzschlüssen. Vorkommen bei gramnegativen Infektionen (Endotoxin-Intoxikation, generalisierte intravaskuläre Gerinnung).
1.2
Kreislaufschock
Hämodynamik und Kompensationsmechanismen Primärer Abfall des Herzminutenvolumens Frühphase: Blutdruckabfall → Reaktion der Barorezeptoren → reflektorische Steigerung des Sympathikustonus, Abnahme des Vagustonus, Freisetzung von → Angiotensin II und Vasopressin → intensive periphere Vasokonstriktion unter Aussparung des Koronar- und Hirnkreislaufs (Zentralisation) → Erhöhung des peripheren Gesamtwiderstandes → Wiederanstieg des Blutdrucks auf ein mäßig erniedrigtes Niveau.
1.2.1
Pathophysiologie
Spätphase: Anhaltende Drosselung der Gewebedurchblutung
Definition. Akute Minderdurchblutung ausgedehnter Körperre-
gionen, die zu schweren Zellschäden und zum irreversiblen Kreislaufversagen führen kann. Pathogenetische Klassifizierung Schock durch primäres Herzversagen (kadiogener Schock) Kritische Verminderung des Herzminutenvolumens infolge Pumpschwäche des Herzens bei ausreichendem venösem Blutrückfluss. Ursachen. Herzinfarkt, Kardiomyopathie, dekompensierte Vitien,
tachy- und bradykarde Rhythmusstörungen, Perikarditis constrictiva, Herztamponade. Schock durch Verminderung des venösen Rückflusses Kritische Herabsetzung des Herzminutenvolumens infolge Verminderung des venösen Blutangebotes bei intaktem Herzen. Ursachen. 4 Hypovolämie: Blutverluste, Plasmaverluste (Verbrennungen,
entzündliche oder traumatische Kapillarschädigung), Dehydratation (renale oder extrarenale Flüssigkeitsverluste). 4 Mechanische Rückflussverminderung: Verlegung großer Venen, Lungenembolie. 4 Periphere Vasodilatation: neurogener Schock (Schädigung des Vasomotorenzentrums durch Ischämie, Hirnödem oder Traumen), reflektorischer Abfall des Vasomotorentonus (Schmerz, Schreck), toxische periphere Vasodilatation (Anaphylaxie, Narkotika), regulatorische Vasodilatation der Haut (Fieber, Hitze) oder der Muskulatur (Arbeit). Orthostatische Regulationsstörungen bezeichnet man nicht als Schock, da sie im Liegen aufhören.
→ Gewebehypoxie und Azidose → Steigerung der Kapillarpermeabilität → Plasmaübertritt ins Interstitium → Bluteindickung (sekundäre Hypovolämie), Erythrozytenaggregation, zuletzt auch intravaskuläre Gerinnung (durch gerinnungsaktive Substanzen aus Endothelzellen, Thrombozyten und Leukozyten) → Behinderung der Mikrozirkulation, Abnahme des venösen Rückflusses → weitere Abnahme des Herzminutenvolumens mit Blutdruckabfall → Zunahme der ischämischen Gewebeschädigung (Circulus vitiosus). Primäre Störung der Mikrozirkulation (septischer Schock) Frühphase: Endotoxineinwirkung auf die kleinen Blutgefäße → Spasmus der Arteriolen und Venolen, Stagnation des Blutes in den Kapillaren → Eröffnung arteriovenöser Anastomosen mit Shunteffekt → Herabsetzung des peripheren Gesamtwiderstandes trotz Perfusionsstörung der Gewebe → Zunahme des venösen Rückflusses und des Herzminutenvolumens bei mäßigem Blutdruckabfall. Spätphase: Stase im Kapillargebiet → O2-Mangel und Azidose im Gewebe → Lösung des Arteriolenspasmus bei weiterbestehender Venolenkonstriktion, Freisetzung von Bradykinin, Aktivierung des Hagemann-Faktors → Blutpooling im Kapillargebiet mit Erhöhung der Kapillardrucks, Permeabilitätssteigerung, Plasmaübertritt ins Interstitium → Bluteindickung (roter Sludge), intravaskuläre Gerinnung → Verminderung des effektiven Blutvolumens und des venösen Rückflusses → Absinken des Herzminutenvolumens und des Blutdrucks → reaktive periphere Vasokonstriktion mit Perfusionsstörung im Gewebe (Circulus vitiosus).
Organschäden und Funktionsstörungen Haut: Im Schock mit herabgesetztem Herzminutenvolumen und Zentralisation des Kreislaufs feucht-kalt und extrem blass. In der Frühphase des septischen Schocks warm und trocken. Bei intra-
1
12
1
Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
vaskulärer Gerinnung und Verbrauchskoagulopathie Blutungen und Nekrosen.
sekretion. Nach Erschöpfung der Glykogenvorräte Tendenz zur Hypoglykämie.
Nieren: Blutdruckabfall und Vasokonstriktion → Abnahme der
Stadien des Schocks
glomerulären Filtrationsrate → Oligurie bis zur Anurie, Anstieg von Harnstoff und Kreatinin im Serum. Bei anhaltender schwerer Ischämie akutes Nierenversagen infolge tubulärer Nekrose. Bei intravaskulärer Gerinnung (septischer Schock) droht irreversible Rindennekrose beider Nieren.
Kompensierter (nicht progredienter) Schock: Kompensations-
Gastrointestinaltrakt: Reflektorische Vasokonstriktion oder in-
Progredienter Schock: Kompensationsmechanismen so weit ausgeschöpft, dass ein Circulus vitiosus in Gang gesetzt wird: Die schockbedingten Funktionsstörungen verschlechtern die Perfusion der Organe und Gewebe weiter und verstärken den Schock. Kritische Situation besonders für das Herz. Lebensrettung nur durch intensive Sofortbehandlung möglich.
travaskuläre Gerinnung mit Mikrothromben → Sugillationen, blutende Erosionen und Ulzera der Magen- und Darmschleimhaut. Leber: Ischämie durch Vasokonstriktion → Einzelzellnekrosen bis zu ausgedehnten läppchenzentralen Nekrosen.
mechanismen erhalten die Perfusion der lebenswichtigen Organe aufrecht. Nur relativ geringer Blutdruckabfall. Volle Reversibilität durch Beseitigung der Schockursache (z.B. Blutersatz bei hämorrhagischem Schock).
Irreversibler Schock: Exitus durch keine Therapie mehr abzuPankreas: Ischämie durch Vasokonstriktion → Drosselung der
Insulinsekretion mit Hyperglykämie. Lunge: Bei kardiogenem Schock Lungenödem durch pulmonale
Stauung (pulmonaler Kapillardruck erhöht), besonders nach zu starker Infusionsbehandlung. Bei septischem Schock durch Endotoxin oft irreversibles Lungenödem mit normalem intrapulmonalen Kapillardruck (ARDS: acute respiratory distress syndrome). Ursache ist eine Kapillarschädigung mit Permeabilitätssteigerung durch Zytokine aus Blutzellen und eine Störung der Surfactantproduktion. Herz: Die Ventrikelfunktion bleibt im Schock relativ lange intakt (Ausnahme kardiogener Schock). Erst ein kritischer Blutdruckabfall führt über einen Circulus vitiosus zum Herzversagen: Abnahme der Koronarperfusion → myokardialer O2-Mangel (beschleunigt durch Sympathikusstimulation, die den O2-Verbrauch steigert) → Störung des oxydativen Myokardstoffwechsels (Glykolyse, Laktatbildung, ATP-Abfall) → Verminderung der Kontraktilität → Abnahme von Herzminutenvolumen und Koronarperfusion → weiterer Blutdruckabfall. Zusätzliche Komplikationen: Supraventrikuläre und ventrikuläre Rhythmusstörungen, bei septischem Schock Freisetzung myokarddepressorischer Substanzen.
wenden. Die Irreversibilität ist klinisch nicht zu diagnostizieren, sondern ergibt sich aus dem Verlauf. Nicht das Ausmaß des Blutdruckabfalls, sondern das der Perfusionsstörung ist für den Schweregrad des Schocks maßgebend. Die Irreversibilität des Schocks resultiert aus der Zellzerstörung in den vitalen Organen (durch Unterschreitung des kritischen O2-Defizits und zirkulierende toxische Substanzen). Todesursache ist meisten die irreparable Schädigung des Herzens. 1.2.2
Klinik
Symptome des verkleinerten Herzminutenvolumens 4 kleiner Puls: durch verkleinertes Schlagvolumen 4 niedriger Blutdruck, Verkleinerung der Blutdruckamplitude 4 Muskelschwäche: durch reflektorische Ischämie 4 Temperaturabfall: durch verminderte Stoffwechselaktivität 4 Bewusstseinstrübung, Stupor, Bewusstlosigkeit: durch zerebrale Ischämie. Symptome der sympathikoadrenalen Stimulation 4 Tachykardie 4 motorische Unruhe 4 feucht-kalte Haut, Akrozyanose 4 Oligurie, Anurie.
Gehirn: Perfusionsstörung bei Abfall des arteriellen Mitteldrucks
unter 60 mmHg. Zunächst psychomotorische Unruhe (Adrenalineffekt), Angstzustände, Verwirrtheit. Bei arteriellem Mitteldruck von 35 mmHg Übergang in Bewusstlosigkeit. Im Terminalstadium ischämische Schädigung des Vasomotorenzentrums mit Absinken des Vasomotorentonus bis zur Aufhebung der zentralen Kreislaufregulation. Stoffwechsel: Laktatazidose durch O2-Mangel im Gewebe. Hyperglykämie durch Glykogenolyse und Hemmung der Insulin-
Ursachenabhängige Symptome 4 kardiogener Schock: Zeichen der Herzkrankheit (Infarkt, Lungenembolie etc.) 4 septischer Schock: Schüttelfrost, Fieber, intravaskuläre Gerinnung mit Verbrauchskoagulopathie 4 Schocklunge: Hyperventilation mit Hypokapnie, Hypoxie; initial respiratorische Alkalose, final metabolische Azidose 4 hämorrhagischer Schock: Hämatokritabfall nach 2–6 Stunden
13 1.2 · Kreislaufschock
4 hypovolämischer, nichthämorrhagischer Schock (z.B. bei Cholera): Hämokonzentration mit erhöhtem Hämatokrit 4 anaphylaktischer Schock: Dyspnoe, Bronchospastik, Urticaria nach Antigenkontakt. 1.2.3
Therapie
Symptomatische Therapie Allgemein: Patient warmhalten, Beine etwas hochlagern, um den venösen Rückfluss zu verbessern. Beim kardiogenen Schock Oberkörper hochlagern. Großzügige Schmerzlinderung mit Morphin i.v. (5 mg in 2 min). O2-Applikation durch Nasensonde, Infusion anlegen. Transport zur nächsten Intensivstation. Dort fortlaufende Kontrolle von Temperatur, Atmung, Urinausscheidung (Blasenkatheter), EKG, Blutdruck (möglichst intraarteriell), mit zentralem Venenkatheter Druck im rechten Vorhof (CVP) und in den Lungenkapillaren (PCWP: pulmonary capillary wedge pressure). Messung des Herzminutenvolumens mit der Thermodilutionsmethode. Bestimmung des peripheren Gefäßwiderstandes. Zu überwachen sind ferner pO2, pCO2 und pH, Elektrolyte, Harnstoff, Kreatinin, Blutbild und Gerinnungsparameter. Bei Herzkreislaufstillstand kardiopulmonale Reanimation. Volumensubstitution: Wichtigste Sofortmaßnahme zur Steigerung von venösem Rückfluss, Herzminutenvolumen und Blutdruck. Erreicht wird damit ein Nachlassen der kompensatorischen Vasokonstriktion und der Tachykardie. Abgesehen vom kardiogenen Schock mit Lungenstauung und einigen Sonderfällen (Herztamponade, Lungenembolie) liegt beim Schock immer eine absolute Hypovolämie oder eine Verminderung des effektiven vaskulären Volumens (infolge venösen Poolings) vor.
adrenalin an den sympathischen Nerven im Herzen und an den peripheren Gefäßen und besitzt dadurch einen positiv inotropen und vasokonstriktorischen Effekt. Zugleich wirkt es über Dopaminrezeptoren vasodilatatorisch auf Nieren- und Splanchnikusgefäße. Reicht Dopamin nicht aus, wird Noradrenalin infundiert (2–20 μg/min). Nach Anhebung des Blutdrucks kann zur Steigerung der kardialen Kontraktilität die Infusion von Dobutamin indiziert sein (2,5–15 μg/kg/min). Dobutamin stimmuliert nur die β1- und β2- adrenergen Rezeptoren und steigert die Vasokonstriktion nicht. Bei mangelhafter Wirksamkeit kommen zusätzlich die Phosphodiesterase-Inhibitoren Milrinon und Enoximon in Betracht. Beide Substanzen greifen nicht an den β-Rezeptoren an und wirken positiv inotrop und vasodilatatorisch. Bei infauster Prognose ggf. Assist Device oder Herztransplantation. Beim anaphylaktischen Schock ist die sofortige i.v. Injektion von Adrenalin indiziert. Starke Bradykardien werden mit Atropin behandelt. Apparative Maßnahmen Endotracheale Intubation: Zur Freihaltung der Atemwege, Sekretentfernung und Sauerstoffzufuhr. Maschinelle Beatmung: Bei respiratorischer Insuffizienz und beginnender Schocklunge. Mit positivem endexspiratorischem Druck werden Mikroatelektasen beseitigt und die O2-Sättigung des Blutes gesteigert. Manuelle Herzdruckmassage: Bei systolischem RR Infundiert wird bis zum normalen bzw. erhöhtem CVP, beim kardiogenen Schock bis zum erhöhten PCWP, der dem erhöhten diastolischen Füllungsdruck des linken Ventrikels entspricht.
Aufgefüllt wird der Kreislauf initial mit 0,9%iger Kochsalzlösung oder mit Ringerlösung, die durch Kolloidlösungen (Dextran 60) ergänzt werden können. Im hämorrhagischen Schock sind Erythrozyten- oder Vollblutkonserven angezeigt, bis zu einem Hb-Wert von mindestens 10 g/dl. Azidoseausgleich: Gegen die metabolische Azidose werden 50– 100 ml 8,4%ige Natriumbikarbonatlösung (1 mEq/ml) unter Kontrolle des Bikarbonatspiegels im Blut langsam infundiert. Wichtiger zur Beseitigung der Azidose ist die Behandlung der Schockursache. Katecholamine: Bei ungenügendem Blutdruckanstieg nach Vo-
lumensubstitution oder primär normalem CVP ist Dopamin i.v. indiziert: 4–20 μg/kg/min. Es steigert die Freisetzung von Nor-
. Abb. 1.3. Röntgenthorax (liegend) eines 72-jährigen beatmeten Patienten im kardiogenen Schock mit liegender intraaortaler Gegenpulsation (IABP) zur Kreislaufunterstützung und invasivem Kreislaufmonitoring mittels zentralem Pulmonaliskatheter
1
14
1
Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
descendens unterhalb des Subklaviaabganges. EKG-gesteuertes Aufblasen in der frühen Diastole steigert die Koronarperfusion. Deflation in der frühen Systole senkt die Nachlast und steigert das Schlagvolumen des Herzens. Indiziert im kardiogenen Schock (Kontraindikation bei Aorteninsuffizienz). Passagerer transvenöser elektrischer Herzschrittmacher: Bei
1.3
Arterielle Hypotonie und Synkopen
1.3.1
Essenzielle Hypotonie
Definition. Niedriger Blutdruck, bei Männern dauernd unter 110/60, bei Frauen unter 100/60 mmHg, ohne organische Ursache.
SA- und AV-Block 3. Grades. Klinik. Konstitutionell niedrig eingestellter Blutdruck mit intakter Elektrische Defibrillation: Bei tachykarden Rhythmusstörun-
gen. Chronische venovenöse Hämofiltration: Bei prärenalem Nieren-
Blutdruckregulation ohne klinische Symptome und ohne Krankheitswert, ja sogar mit erhöhter Lebenserwartung. Die nach unten eingeschränkte Reaktionsbreite des Blutdrucks bedingt aber eine erhöhte Anfälligkeit gegenüber hypotensiv wirkenden Faktoren.
versagen. Kausale Therapie
1.3.2
Sekundäre Hypotonie
Kardiogener Schock: Bei akutem Infarkt Revaskularisierung
durch Thrombolyse mit anschließender Antikoagulation (Heparin) falls kein kardiologisches Zentrum zur Verfügung steht. Wenn vorhanden oder in 1–2 Stunden erreichbar, sofortige Verlegung (mit ärztlicher Begleitung) zur primären Revaskularisierung durch perkutane transluminale koronare Angioplastie (PTCA), möglichst mit Stentimplantation. Beim Misslingen der PTCA auch Frühbypassoperation. Besonders erfolgversprechend sind Revaskularisierungsversuche in den ersten 12 Stunden nach Beginn der Infarktsymptome. Der günstigste Abstand beträgt 1–3 Stunden. Perikarddrainage bei Herztamponade. Klappenoperation bei akuter Klappeninsuffizienz oder dekompensierter Aortenstenose. Lungenembolie: Thrombolyse, besser kathetergesteuerte Thrombusfragmentation plus Thrombolyse oder Embolektomie. Hämorrhagischer Schock: Chirurgische oder endoskopische
Blutstillung. Septischer Schock: Bakterizide Antibiotika, die gegen gram-
positive und gramnegative Erreger wirksam sind (z.B. Ceftriaxon 2 g/Tag plus Gentamycin 3 mg/kg/Tag oder Levofloxacin 500–700 mg alle 12 Std. plus Clindamycin 600 mg alle 8 Std.). Ausschaltung des Sepsisherdes. Bei partieller NNR-Insuffizienz (Plasmacortisol 300/min) bei WPW-Syndrom mit Vorhofflimmern. Klinik: Plötzliches Einsetzen der Ohnmacht, unabhängig von der Position des Körpers. Pulslosigkeit, Verdrehung der Augen, Muskelerschlaffung, retrograde Amnesie. Bei Kreislaufstillstand über 20 Sekunden Zyanose, schnarchende Atmung, krampfartige (Zuckungen ohne Zungenbiss), Sphinkterinsuffizienz. Verzögertes Erwachen, anschließend noch persistierende Schwäche.
Aortenstenose und hypertrophisch-obstruktive Kardiomyopathie Typisch ist das Auftreten der Synkopen unmittelbar nach körperlicher Belastung. Bei dem kleinen fixierten Herzminutenvolumen führt der Blutabfluss in die Muskulatur zur zerebralen Ischämie. Primäre pulmonale Hypertonie Synkope durch fixiertes Herzminutenvolumen und arterielle Hypoxie bei körperlicher Belastung. Synkopen auch bei großen Lungenembolien.
Akutes Herzversagen Plötzlicher Abfall der kardialen Förderleistung bei großem Myokardinfarkt oder großen inneren Blutungen (Magen-DarmTrakt, tubarer Abort).
Therapie. Im Anfall Calcium i.v. (obwohl das Plasmacalcium nicht herabgesetzt ist) und Diazepam i.v. oder per os. Prophylaxe. Erklärung des Anfallmechanismus, bewusstes Vermeiden der Hyperventilation, Psychotherapie, kleine Dosen Diazepam bei den ersten Vorboten des Anfalls.
Neuropathisches posturales Tachykardie-Syndrom Orthostatische Intoleranz ohne Hypotonie mit Tachykardie (>100/min) im Stehen, Leeregefühl im Kopf, verminderter körperlicher Belastbarkeit, Schwäche, Missempfindungen in der Brust, Herzklopfen, Angstgefühl, Übelkeit und blauroter Verfärbung der Beine. Es kann auch zu Synkopen kommen. Im Sitzen und Liegen verschwinden alle Symptome. Das im Liegen normale Plasma-Noradrenalin steigt im Stehen doppelt so hoch an als bei Normalpersonen. Es handelt sich um eine partielle autonome Dysregulation, bei der die Speicherung und Freisetzung von Noradrenalin an den sympathischen Endausbreitungen in den Beinen herabgesetzt ist. Daraus folgt ein Versacken des Blutes im Stehen. Die reflektorische Tachykardie verhindert jedoch einen Blutdruckabfall. Die ätiologisch unklare Anomalie betrifft überwiegend Frauen jüngeren und mittleren Alters. Therapie: Volumenauffüllung durch reichliche Flüssigkeits- und Kochsalzaufnahme, ergänzt durch Fludrocortison, Kompressionsstrümpfe, α1-Rezeptoragonisten (Midodrin), körperliches Training. Hypoglykämie Pathogenese. das Absinken des Blutzuckers unter 60 mg/dl (3,3 mmol/l) hat zerebrale Funktionsstörungen (Neuroglukopenie) und eine gegenregulatorische Adrenalinausschüttung zur Folge. Symptome. Schwindelgefühl, Kopfschmerz, verschwommenes
Sehen, Verwirrtheit, Verhaltensstörungen, schließlich Konvulsionen und Bewusstseinsverlust. Die adrenergen Begleiterschei-
19 1.4 · Arterielle Hypertonie
nungen sind Tachykardie, Tremor, Schwitzen, Hungergefühl und Angst. Postprandiale Hypoglykämien Meistens funktioneller Natur, induziert durch Zucker oder Süßspeisen (besonders bei Magenoperierten). Führt nicht zu Bewusstseinsstörungen. Durch wasserlösliche Ballaststoffe oder Fett-Eiweiß-Diät vermeidbar. Nüchternhypoglykämien Bei Insulinomen, extrapankreatischen Tumoren mit abnorm starker Glukoseutilisation, Leberkrankheiten und endokrinen Störungen (Morbus Addison). Exogene Hypoglykämien Bei Diabetikern durch Insulin und orale Antidiabetika. 1.4
Arterielle Hypertonie
1.4.1
Allgemeines
Definition der Hypertonie Im 5. Report von 1993 hat das U.S. Joint Committee for Detection, Evaluation, and Treatment of High Blood Pressure ein Klassifizierungssystem (. Tab. 1.1) für die Hypertonie vorgeschlagen. Es basiert auf der epidemiologischen Erkenntnis, dass Sterberate und Mortalität an koronarer Herzkrankheit vom niedrigsten noch physiologischen Blutdruck aus kontinuierlich zunehmen.
Kategorie
Systolischer Druck (mmHg)
Diastolischer Druck (mmHg)
Optimal
< 120
< 80
Normal
120–129
80–84
Hochnormal Hypertonie
130–139
80–84
Stufe 1 (mild)
140–159
90–99
Stufe 2 (moderat)
160–179
100–109
Stufe 3 (schwer)
180–209
110–119
Stufe 4 (sehr schwer)
≥ 210
≥ 120
Mit transportablen Blutdruckautomaten gelingt eine objektive Erfassung des Blutdrucktagesprofils, das zur Beurteilung des Schweregrades der Hypertonie und des Therapieeffektes von großem Nutzen ist. Es schützt auch davor, einen erregungsbedingten »Sprechstundenhochdruck« zu missdeuten und falsch zu behandeln. Beim ambulanten Blutdruckmonitoring (ABDM) wird der Blutdruck in halb- bis einstündigen Intervallen über 24 Stunden gemessen. In der Nacht sinkt der Blutdruck normalerweise deutlich ab. In . Abbildung 1.4 ist ein normales, in . Abbildung 1.5 ein pathologisches ABDM wiedergegeben.
Blutdruck in mm/Hg
240 200 160 120 80 40 0 200 Herzfrequenz in Schläge/Minuten
. Abb. 1.4. Unauffällige Langzeit-BlutdruckRegistrierung über 24 h
. Tabelle 1.1. Klassifizierungssystem für die Hypertonie (nach U.S. Joint Committee for Detection, Evaluation, and Treatment of High Blood Pressure 1993, 5. Report)
150 100 50 0 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 Uhrzeit (in Stunden)
1
. Abb. 1.5. Pathologische Langzeit-BlutdruckRegistrierung über 24 h
240 200 160 120 80 40 0 200 Herzfrequenz in Schläge/Minuten
1
Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
Blutdruck in mm/Hg
20
150 100 50 0
8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 0 1 2 3 4 5 6 7 8 Uhrzeit (in Stunden)
Für das ABDM gelten folgende Normalwerte: 4 24-h-Mittelwert: 1,5 cm). Schlechtes Ansprechen auf antihypertensive Therapie. Hypokaliämie. Plasmarenin nicht zuverlässig. Direkter Stenosenachweis durch Farbduplexsonographie (70–90% bei erfahrenem Untersucher). Captopril-Nierensequenzszintigraphie, MR-Angiographie (. Abb. 1.9) oder konventionelle Angiographie.
1
26
Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
Phäochromozytom Paroxysmen oder Dauerhochdruck. Trias: Anfälle von Kopfschmerz, Herzklopfen und Schweißausbruch. Flush oder Blässe. Tachykardie oder Bradykardie, auch Vorhofflimmern und Angina pectoris. Kohlenhydratintoleranz (hepatische Glukogenese und Suppression der Insulinsekretion). Resistenz gegen übliche Antihypertensiva. Erhöhte Katecholaminausscheidung im 24-Stunden-Harn: Vanillinmandelsäure (VMA) >7 mg; Metanephrine >1,3 mg, freie Katecholamine >250 μg. Tumorlokalisation: CT oder MRT, spezifisch mittels MIBG-Scan (131J-Metaiodobenzylguanidin wird im chromaffinen Gewebe gespeichert).
1
Aortenisthmusstenose Jugendliches Alter. Schwache Fußpulse. Mesosystolikum (p.m. interskapulär am Rücken). Blutdruckdifferenz zwischen oberer und unterer Extremität (simultane Dopplermessung in Ruhe und nach 10 Kniebeugen). Echo: Darstellung der Stenose und Bestimmung des Druckgradienten in Ruhe und unter Valsalva-Manöver. Röntgenbild des Thorax: Rippenusuren. Darstellung der Stenose im MR-Angiogramm (. Abb. 1.10). . Abb. 1.9. MRT (nach KM-Gabe) einer hochgradigen rechtsseitigen Nierenarterienstenose mit Niereninfarkt (Sammlung Dr. Esdorn, Bad Oeynhausen)
Endokrine Hypertonie Primärer Aldosteronismus, Cushing-Syndrom, Akromegalie, Hyperthyreose, Hypothyreose (7 Kap. 6). 1.4.7
Allgemeine Therapie
Nichtmedikamentöse Maßnahmen Gründliche Aufklärung des Patienten über die Hochdruckkrankheit. Belehrung über den blutdrucksenkenden Effekt von Gewichtsreduktion, Kochsalz- und Alkoholbeschränkung, Nikotinverzicht und körperlichem Training. Zur Verbesserung von Therapiekontrolle und Kooperation Selbstmessung empfehlen. Vor Beginn der symptomatischen Behandlung heilbare sekundäre Hypertonien ausschließen. Diuretika Durch Steigerung der Natriurese senken sie extrazelluläres Flüssigkeitsvolumen und Herzminutenvolumen. Dadurch werden autoregulatorische periphere Vasokonstriktion und Blutdruck herabgesetzt (7 Kap. 1.1). Ein direkter antihypertensiver Effekt ist nicht gesichert. Da die Diuretika die Wirkung fast aller Antihypertensiva verstärken, sollten sie in jede Kombination aufgenommen werden.
. Abb. 1.10. MRT (nach KM-Gabe) einer Aortenisthmusstenose (Sammlung Dr. Esdorn, Bad Oeynhausen)
Thiazide In der 2002 publizierten großen amerikanischen ALLHAT-Studie an 42418 hypertonen Patienten wurde das Thiazid-Diuretikum Chlorthalidon (12,5–25 mg/Tag) mit dem Ca-Antagonisten Amlodipin (2,5–10 mg/Tag) und dem ACE-Hemmer Lisionopril (10–40 mg/Tag) verglichen. Die Autoren resümierten, dass
27 1.4 · Arterielle Hypertonie
Chlorthalidon den beiden untersuchten modernen Antihypertonika in Bezug auf kardiovaskuläre Protektion überlegen war und empfahlen. die kostengünstigen Thiazid-Diuretika bei der Initialtherapie der Hypertonie zu bevorzugen. Die Studie blieb nicht unwidersprochen, doch läßt sich eine essenzielle Hypertonie bei vielen, vor allem älteren Patienten gut mit Thiaziden kontrollieren. Einzuhalten sind niedrige Dosierungen (z.B. nicht >25 mg Hydrochlorothiazid/Tag), weil dann die metabolischen Nebenwirkungen (Hypokaliämie, Hyperurikämie, Abnahme der Glukosetoleranz, Hyperlipämie) gering sind. Außerdem wird eine übermäßige Volumenkontraktion mit Aktivierung des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems vermieden. Vorteilhaft ist die Kombination mit einem Kalium-sparenden Diuretikum. Die Gruppe der Thiazide mit Wirkungsmechanismus und Dosierungen wird im Abschnitt über Ödeme (7 Kap. 3.2) abgehandelt. Falls bei der Hypertonie eine niedrige Initialdosis nicht ausreicht, ist zusätzlich ein weiteres Mittel einzusetzen. Schleifendiuretika Ihr Einsatz erfolgt bei schweren, vor allem renalen Hypertonien mit eingeschränkter Nierenfunktion, ferner bei Herzinsuffizienz. Bezüglich Wirkungsmechanismus und Dosierung der einzelnen Pharmaka wird auf 7 Kap. 3.2. verwiesen. Aldosteronantagonisten Verfügbar sind Spironolacton und neuerdings Eplerenon. Indiziert ist die Anwendung bei Hypertonie mit Herzinsuffizienz und beim sekundären Aldosteronismus mit Hypokaliämie unter Diuretikatherapie, ferner bei Hypertonie unter Glukokortikoidtherapie. Inhibitoren des Renin-Angiotensin-Systems ACE (Angiotensin-Converting-Enzyme)-Blocker Sie senken den Blutdruck, indem sie die Bildung des vasokonstriktorischen Angiotensin II und den Abbau des vasodilatierenden Bradykinin hemmen. Dabei bleiben Schlagfrequenz und Förderleistung des Herzens unbeeinflusst. Zusätzlich unterdrücken ACE-Blocker die Stimulation der Aldosteronsekretion durch Angiotensin II und wirken damit einer Salz- und Flüssigkeitsretention entgegen. Hinzu kommen wichtige protektive Wirkungen auf kardiovaskuläre Strukturen durch Ausschaltung der lokalen Bildung von Angiotensin II. Besonders effektiv sind ACE-Blocker deshalb bei koronarer Herzkrankheit und Herzinsuffizienz. Als weitere Domäne haben sich chronische Nierenkrankheiten mit und ohne Diabetes mellitus erwiesen. Eine häufige Nebenwirkung (bei 10–15% der Patienten) der ACE-Blocker, der zum Absetzen zwingt, ist ein anhaltender heftiger Reizhusten. Kontraindikationen: Hyperkaliämie, Kreatininwerte >2,5 mg/dl und Schwangerschaft. Aspirin und nichtsteroidale Antiphlogistika können die Wirkung der ACE-Blocker einschränken.
Repräsentative Präparate: Captopril (2-mal 12,5–50 mg/Tag), Enalapril (1-mal 5–40 mg/Tag), Lisinopril (1-mal 5–40 mg/Tag).
Angiotensin II-Rezeptor-Blocker (ARB) Sie verdrängen Angiotensin II kompetitiv von seinem spezifischen Rezeptor AT1 und schalten bei entsprechender Dosierung alle Effekte des Angiotensin II aus. Sie heißen deshalb auch AT1Antagonisten und sind mit den ACE-Blockern praktisch wirkungsgleich. Hustenreiz lösen sie aber nicht aus. Der durch die Rezeptorblockade bewirkte Anstieg des zirkulierenden Angiotensin II hat keine nachteiligen Konsequenzen. Repräsentative Präparate: Lorsartan (1-mal 50–100 mg/Tag),
Irbesartan (1-mal 150–300 mg/Tag), Valsartan (1-mal 80–160 m/ Tag), Candesartan (1-mal 8–16 mg Nifedipin/Tag). Calciumantagonisten (Calciumkanal-Blocker) Zu unterscheiden sind 3 Hauptgruppen: Dihydropyridine (Nifedipin, Amlodipin), Phenylalkylamine (Verapamil) und Benzothiazepine (Diltiazem). Wirkungsmechanismus: Die relativ starke blutdrucksenkende Wirkung der Calciumantagonisten beruht auf Relaxation der Arteriolen und damit verbundenen Senkung des peripheren Kreislaufwiderstands. Durch Bindung an die spannungsabhängigen Calciumkanäle vom Typ L wird der Ca++-Einstrom in die glatten Muskelzellen reduziert, deren Kontraktilität von der freien intrazellulären Ca++-Konzentration abhängt. Der Venentonus wird nicht herabgesetzt, so dass ein orthostatischer Blutdruckabfall ausbleibt. Durch unterschiedliche Bindungsstellen an den Calciumkanälen wird das Wirkungsprofil der Calciumantagonisten modifiziert. Auf den Herzmuskel wirken Dihydropyridine nur schwach, Verapamil und Diltiazem etwas stärker negativ inotrop. Auf den Sinusknoten und den AV-Knoten, die vom langsamen Ca++-Einstrom depolarisiert werden, haben nur Verapamil einen deutlichen Hemmeffekt, der die Herzfrequenz und die AV-Überleitung verlangsamt, letztere am stärksten bei Vorhofflimmern. Bei raschem Blutdruckabfall durch Dihydropyridine kommt es via Barorezeptoren zur reflektorischen Sympathikusstimulation mit Tachykardie und Steigerung des Herzzeitvolumens. Verapamil und Diltiazem senken den Blutdruck protrahierter und deutlich schwächer. Anwendung und Kontraindikationen: 4 Dihydropyridine: Indiziert bei Hypertonie und vasospasti-
scher Angina pectoris (Prinzmetal-Angina), weil es den Blutdruck senkt und Koronarspasmen vorbeugt. Gute Wirkung bei systolischer Hypertonie im Alter (Senkung des Schlaganfallrisiko). Verstärkt bei renaler Hypertonie ungenügend wirksame Zweierkombinationen aus Diuretikum und ACEBlocker. In der ALLHAT-Studie schnitt Amlodipin nicht schlechter ab als der ACE-Blocker Lisinopril. In hyperten-
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Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
siven Notfällen ist Nifedipin schnell wirksam (5–10 mg Kapsel zerbeißen). In der Langzeittherapie sind Nifedipin in Retardform (2-mal 20 mg/Tag) und protrahierter wirkende DHP-Calciumantagonisten, z.B. Amlodipin (1-mal 5–10 mg/ Tag), Nitrendipin (2-mal 10–20 mg/Tag) und Isradipin (2-mal 2,5 mg oder 5 mg in Retardform/Tag einzusetzen. Kontraindikationen: Koronare Herzkrankheit, instabile Angina pectoris und frischer Myokardinfarkt wegen reflektorischer Sympathikusaktivierung. Nebenwirkungen: Kopfschmerzen, Flush, Knöchelödeme. 4 Verapamil und Diltiazem: Beide Substanzen sind bei leichter bis mittelschwerer Hypertonie einsetzbar (Verapamil retard 120–480 mg/Tag, Diltiazem retard 180–300 mg/Tag). Kontraindikationen: Bradykardie und Erregungsleitungsstörungen, Kombination mit β-Blockern, manifeste Herzinsuffizienz. Nebenwirkungen: Obstipation, Unterschenkelödeme, Gingivahyperplasie bei Diltiazem.
Kontraindikationen: Verdacht auf Phäochromozytom, Schwangerschaft, hydropische Herzinsuffizienz, schweres Bronchialasthma, Bradykardie und AV-Leitungsstörungen, periphere arterielle Verschlußkrankheit, insulinabhängiger Diabetes (hemmt Wahrnehmung und Gegenregulation bei Hypoglykämie). Nebenwirkungen: Müdigkeit, Schwäche, Herabsetzung der
maximalen körperlichen Leistungsfähigkeit, Schlafstörungen, Depression, Potenzschwäche, Haarausfall, Kältegefühl in den Extremitäten, Bradykardie, AV-Leitungsstörungen. Repräsentative Präparate: Propranolol (2–4-mal 40‒80 mg/Tag),
Bisoprolol (1-mal 1,25–10 mg/Tag), Metoprolol (2-mal 20–150 mg/ Tag), Atenolol (1-mal 25‒100 mg/Tag). Kombinierte α1- und β-Adrenorezeptoren-Antagonisten Substanzen: Zugelassen sind Carvedilol, in den USA auch Labetalol.
β-Adrenorezeptor-Antagonisten (β-Blocker) Klassifizierung:
Wirkungsmechanismus: Die Förderleistung des Herzens wird
4 nichtselektive: Propranolol, Nadolol, Timolol, Sotalol u.a. 4 nichtselektive mit intrinsischer sympathikomimetischer Aktivität: Pindolol, Penbutolol u.a. 4 β1-selektive oder kardioselektive: Metoprolol, Atenolol, Bisoprolol, Nebivolol u.a. 4 β1-selektive mit intrinsischer sympathikomimetischer Aktivität: Acebutolol, Celilprolol.
weniger reduziert als durch reine β-Blocker. Die Blutdrucksenkung kommt hauptsächlich durch die Blockade der α1-Rezeptoren zustande, die den peripheren Widerstand und damit das Afterload herabsetzen. Zugleich resultiert eine Tendenz zu orthostatischem Blutdruckabfall. Die Bradykardie kann ausgeprägt sein. Anwendung: Bei mittelschwerer Hypertonie effektiv, senkt den
Antihypertensive Wirkungsmechanismen: Der Blutdruck sinkt,
weil die Förderleistung des Herzens durch Herabsetzung der myokardialen Kontraktilität und der Herzfrequenz nachlässt. Dem wirkt zunächst eine Zunahme des peripheren Kreislaufwiderstands entgegen, denn auch die vasodilatorischen peripheren β-Rezeptoren werden blockiert. Die vaskuläre Resistenz tendiert jedoch allmählich wieder zur Norm. Dazu trägt bei, dass die βBlocker die renale Reninsekretion und damit die Bildung des Angiotensin II hemmen. Anwendung: Am besten spricht die hyperkinetische, mit Tachy-
kardie verbundene Hypertonie auf β-Blocker an (z.B. Nadolol 1-mal 30–120 mg/Tag). Weitere Indikationen sind renale Hypertonien mit gesteigerter Sympathikusaktivität, Tachyarrhythmien, hypertensive koronare Herzkrankheit, Zustand nach Infarkt und Herzinsuffizienz. Bei koronarer Herzkrankheit schützen β-Blocker zugleich vor Rhythmusstörungen und akutem Herztod. Bei Herzinsuffizienz sind nur β1-Blocker (in langsam steigender Dosis!) erlaubt. Sie verbessern die Herzleistung und wirken protektiv auf das Myokard (7 Kap. 1.9). Bei Bronchospastik sind nur die kardioselektiven β1-Blocker anzuwenden. Sie beeinträchtigen auch den Lipid- und Kohlenhydratstoffwechsel weniger als die nichtselektiven.
diastolischen Druck deutlich. Besonders indiziert bei Herzinsuffizienz. Dosierung (Carvedilol): Bei essenzieller Hypertonie 1-mal 12,5 mg/Tag für 2 Tage, danach 1-mal 25 mg/Tag, maximal 2-mal 25 mg. Bei Herzinsuffizienz 2-mal 3,125 mg/Tag, Dosisverdopplung alle 2 Wochen auf maximal 2-mal 50 mg/Tag bei Verträglichkeit. Kontraindikationen: Dekompensierte Herzinsuffizienz, Herzfrequenz Die erste Dosis kann zu einem unerwartet intensiven Blutdruckabfall führen und sollte deshalb kurz vor dem Schlafengehen eingenommen werden. Dosierungen: Bunazosin: 1-mal 6 mg/Tag; Doxazosin: Anfangsdosis 1-mal 1 mg/Tag, langsam erhöhen auf 2–4 mg, selten auf maximal 16 mg/Tag; Prazosin: Anfangsdosis 1 mg/Tag, in wöchentlichen Abständen steigern auf max. 2-mal 10 mg/Tag; Terazoin: Anfangsdosis 1-mal 1 mg, langsam erhöhen auf 4–5, max. auf 10 mg/Tag; Urapidil: Anfangsdosis 2-mal 60 mg/Tag, maximal 180 mg/Tag. Kontraindikationen: Für Prazosin, Doxazosin und Terazosin Überempfindlichkeit gegen Chinazoline. Für Prazosin und Urapidil Aorten- und Mitralstenose im Dekompensationsstadium, Linksinsuffizienz mit niedrigem Füllungsdruck, Herzinsuffizienz mit pulmonaler Hypertonie.
Zentral und peripher wirkende Antisympathikotonika: Sympathikolytika Substanzen: Clonidin, α-Methyldopa, Urapidil, Moxonidin, Reserpin. Clonidin Stimuliert die α2-Adrenorezeptoren im Vasomotorenzentrum und setzt dadurch die periphere Sympathikusaktivität herab. Es senkt den Blutdruck kräftig, erzeugt aber 12–18 Stunden nach Absetzen ein Rebound-Phänomen. Clonidin eignet sich zur Kombination mit Medikamenten, die eine reaktive Sympathikusstimulation bewirken (Diuretika, Calciumantagonisten), auch als dritte Komponente zu ungenügend wirksamen Zweierkombinationen. Wegen additiver negativ-inotroper Wirkung soll es nicht mit β-Blockern kombiniert werden.
α-Methyldopa Es wird enzymatisch zu Methylnoradrenalin umgewandelt, das die zentralen α2-Rezeptoren stimuliert und damit den Sympathikustonus herabsetzt. Wegen seiner Nebenwirkungen (Sedierung, Nasenkongestion, immunhämolytische Anämie, Hepatitis) wird es kaum mehr eingesetzt. Noch ist es aber Mittel der Wahl bei Schwangerschaftshypertonie, da es den Feten nicht schädigt. Dosis: 2-mal 250 mg/Tag. Moxonidin Die Substanz führt durch Bindung an zentrale I1-ImidazolidinRezeptoren und die Stimulation zentraler α2-Rezeptoren zur Hemmung der Sympathikusaktivität. Die Blutdrucksenkung ist schwächer als die durch Clonidin. Dafür kommt es nicht zum Rebound-Phänomen und weniger zu Sedierung und Mundtrockenheit. Moxonidin wird in Mehrfachkombinationen eingesetzt, doch fehlen Langzeitstudien über seinen Effekt auf Morbidität und Mortalität durch Hochdruckkomplikationen. Dosis: 1-mal 0,2 bis maximal 0,6 m/Tag. Reserpin Das Rauwolfia-Alkaloid senkt den Blutdruck durch Aktivitätsminderung zentraler und peripherer noradrenerger Neurone. Das geschieht durch Hemmung der Wiederaufnahme von Noradrenalin und Dopamin in die präsynaptischen Speichergranula. Herzfrequenz, Herzzeitvolumen und peripherer Widerstand werden herabgesetzt. Neben der sympathikolytischen Wirkung findet eine Vagusstimulation statt. Früher war Reserpin ein häufig eingesetztes Hochdruckmittel. Wegen seiner Nebenwirkungen (Sedierung, Depression, Kongestion der Nasenschleimhaut, Mundtrockenheit, Magenkrämpfe, Diarrhö und eventueller Erhöhung des Brustkrebsrisikos) wird es nur noch sehr selten verordnet. Dosis: 0,075–0,15 mg/Tag. Direkte Vasodilatoren Bewirken auf unterschiedliche Weise eine Weitstellung der Arteriolen mit starkem Blutdruckabfall und eine intensive reflektorische Sympathikusstimulation. Substanzen: Hydralazin, Dihydralazin, Minoxidil, Diazoxid, Ni-
troprussidnatrium.
Dosierung: 2-mal 0,038-0,0075 mg/Tag bei leichter, 2-mal 0,150–0,300 mg/Tag bei schwerer Hypertonie.
Hydralazin, Dihydralazin Relaxieren selektiv die glatten Muskelzellen der Arteriolen, wobei der Wirkungsmechanismus unbekannt ist. Der Blutdruckabfall induziert eine intensive kompensatorische Sympathikusstimulation, einen Anstieg der Plasmareninaktivität und eine renale Salz- und Flüssigkeitsretention. Folglich ist die Kombination mit einem E-Blocker und einem Diuretikum erforderlich.
Nebenwirkungen: Sedierung, Mundtrockenheit.
Nebenwirkungen: Kopfschmerz, Übelkeit, Herzklopfen, Ödeme.
Bei längerer Anwendung treten in 5–15% der Fälle antinukleäre Autoantikörper und bei 5–10% ein Lupus-erythematodes-Syn-
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Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
drom auf, seltener eine immunhämolytische Anämie oder Glomerulonephritis. Anwendung nur bei schwerer, sonst refraktärer Hypertonie als Komponente in Mehrfachkombinationen. Minoxidil Dilatiert selektiv die Arteriolen, indem es über eine Öffnung ATP-modulierter K+-Kanäle spannungsabhängige Calciumkanäle blockiert. Durch den Blutdruckabfall kommt es wie durch Hydralazin zur Sympathikusstimulation des Herzens und zur Aktivierung des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems mit Salz- und Flüssigkeitsretention. Nebenwirkungen: Gewichtszunahme und Herzinsuffizienz. An-
wendung nur in Mehrfachkombinationen bei refraktärer Hypertonie. Kontraindikation: koronare Herzkrankheit.
Diazoxid Dilatiert die Arteriolen auf die gleiche Weise wie Minoxidil. Es resultieren Sympathikusaktivierung mit Zunahme von Herzfrequenz und Herzzeitvolumen und Anstieg der extrazellulären Flüssigkeit. Nebenwirkungen: Kopfschmerz, Übelkeit, Erbrechen, Hemmung der Insulinsekretion mit Hyperglykämie, Hypertrichose. Anwendung nur noch selten bei hypertensiven Notfällen und maligner Hypertonie. Applikation als Infusion in Boli von 60 mg alle 2–3 Minuten bis zur erwünschten Wirkung. Zur Begleittherapie sind Schleifendiuretika indiziert. Durch die gleichzeitige Gabe von β-Blockern wird die Wirkung verstärkt.
Nitroprussidnatrium Gilt als stärkster Vasodilatator. Relaxiert arterielle Widerstandsgefäße und venöse Kapazitätsgefäße durch nichtenzymatische Freisetzung von Nitroxid. Vor- und Nachlast nehmen ab, was sich besonders günstig bei Linksinsuffizienz auswirkt. Anwendung bei hypertensiven Notfällen per Infusionspumpe in 5%iger Glukoselösung über einen zentralen Venenkatheter. Der Blutdruck fällt nach einigen Sekunden und steigt nach Infusionsstop innerhalb von 10 Minuten wieder an. Dadurch lässt sich das Infusionstempo gut steuern. Anfangsdosis 0,5 μg/kg/min. Anwendung nur unter intensivmedizinischem Kreislaufmonitoring. Bei längerer Anwendung und gestörter Nierenfunktion kann es zur Thiozyanat-Intoxikation kommen. Praktisches Vorgehen Als Zielwert für die Behandlung der Hypertonie gilt allgemein ein Blutdruck von 180 cm/s
. Abb. 1.16. Dopplerfrequenzspektren in Abhängigkeit vom Stenosegrad (intrastenotische Ableitung im Strömungsjet). a Normalbefund, b Stenosegrad 75%
der Flussgeschwindigkeit in Gefäßen und im Herzen. Aber nur der PW-Doppler hat dabei Tiefenselektivität. Farbkodierte Duplexsonographie (FKDS): Bei der Kombination
des B-Bildes mit dem Farbdoppler erscheint das Lumen des anvisierten Gefäßabschnittes bei der üblichen Farbzuordnung in der Systole rot, in der frühen Diastole blau, in der Spätdiastole wieder rot und erlischt während des präsystolischen Nullflusses (. Abb. 1.17). Die Farbmarkierung erleichtert das Auffinden der Gefäße im Gewebe sehr. Wandauflagerungen sind an Aussparungen der Farbkodierung zu erkennen. Die Färbung des Gefäßlumens erleichtert vor allem den Nachweis von Stenosen und die Positionierung des PW- oder CW-Dopplers, die zur Messung der Frequenzspektren bzw. Flussgeschwindigkeiten benötigt werden. Bei hohen intrastenotischen Flussbeschleunigungen wird die Pulsalität des Farbdopplersignals aufgehoben, die Farbe heller, und der diastolische Farbumschlag bleibt aus. Zur Quantifizierung des lokalen Stenosegrades kann im Querschnitt durch Planimetrie die Relation des intrastenotischen, farbkodierten Restlumens zum originären Gefäßquerschnitt als Berechnungsgrundlage ermittelt werden.
Radiologische Gefäßdarstellung Intraarterielle digitale Subtraktionsangiographie (DSA) Vor der Kontrastmittelinjektion wird ein Leer- oder Maskenbild erstellt, das nach der Gefäßkontrastierung von einer identischen Aufnahme computergestützt subtrahiert wird. Optimales Verfahren zur Gefäßdarstellung, vor interventionellen Eingriffen meistens unverzichtbar. Nachteile: Invasives Verfahren mit Strahlenbelastung und Komplikationsmöglichkeiten. Stellt nur das perfundierte Gefäßlumen dar und gibt wenig Aufschluss über die Gefäßwand. Computertomographische Angiographie (CTA) Erfasst Lumenweite und Wandstrukturen. Moderne Rekonstruktionsverfahren ermöglichen eine 3-D-Darstellung größerer Gefäße. Das Kontrastmittel wird intravenös injiziert. Schonendes Verfahren zur Darstellung vor allem von Hirnarterien. Nachteile: Strahlenbelastung, Möglichkeit der Kontrastmittelunverträglichkeit. Magnetresonanz-Angiograpie (MRA) Die MRA oder Kernspinangiographie ist durch Einführung schneller Sequenzen mit oder ohne Kontrastmittel (Gadolinum) zu einer schonenden, sehr guten Methode der Gefäßdarstellung geworden. Räumliche und zeitliche Auflösung und die Kontrastauflösung sind ausgezeichnet. Perfundiertes Lumen und Gefäßwandveränderungen werden sicher dargestellt. Hinsichtlich Kontrastauflösung ist die MRA der CTA eindeutig überlegen. Arterien und Venen werden gleichzeitig erfasst, dazu noch Parenchymveränderungen. Eine Strahlenbelastung entfällt. Das Kontrastmittel ist nicht jodhaltig.
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1.5.3
Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
Extremitätenarterien
Therapie. Sofortmaßnahmen: Tieflagerung der Extremität mit Wattepols-
Akute Verschlüsse Ursachen. Arterielle Embolie, akute Thrombose im Bereich atheromatöser Läsionen (begünstigt durch Hämokonzentration und Hyperkoagulabilität), Plättchenthromben (Thrombozytose), Arterienspasmus bei Thrombose der Begleitvene (Phlegmasia coerulea dolens), Kompression von außen, Aortendissektion.
terung der Auflageflächen. Hochlagerung verstärkt die Ischämie. Weder Kälte- noch Wärmeapplikation. Schmerzbekämpfung mit Morphinpräparaten. Antikoagulation mit 10.000 E Heparin gegen Appositionsthromben.
Lokalisationen. 4 Embolien: In abnehmender Häufigkeit Femoralisgabel, Iliaka-
stripper bzw. durch Arteriotomie in Höhe des Verschlusses. Wenig belastender Eingriff, so früh wie möglich durchführen. Spätembolektomie bei inkomplettem Ischämiesyndrom noch nach 3–6 Wochen erfolgversprechend
gabel, A. poplitea, A. brachialis. 4 Thrombosen: Hauptsächlich in mittel- und kleinkalibrigen Arterien des Ober- und Unterschenkels, seltener in der Aorta und den Beckenarterien. Plegmasia coerulea dolens: Strombahnblockade im Bereich des ganzen Beines. Pathophysiologie. Akute Arterienverschlüsse führen je nach Sitz
und Kollateralversorgung zum vollständigen oder unvollständigen Ischämiesyndrom. Ersteres ist meistens bei Embolien der Fall. Da arterielle Thrombosen den kompletten Verschluss einer bereits bestehenden arteriosklerotisch bedingten Stenose darstellen, hat sich meistens bereits ein mehr oder weniger gut ausgeprägter Kollateralkreislauf ausgebildet. Sitz der Verschlüsse bei vollständiger Ischämie in den Hauptarterien zentral der Kniekehle und Ellenbeuge, an Unterschenkeln und Unterarmen nur, wenn kein Gefäß offen bleibt. Progredienz durch Anlagerung von Stagnationsthromben proximal und distal des Verschlusses vor allem bei Embolien. Irreversible Schädigungen der Muskulatur 4–6 Stunden, der Haut 2 Stunden und der peripheren Nerven 24 Stunden nach Kreislaufstillstand. Symptome. Bei Zirkulationssperre mit Druckabfall unter
40 mmHg distal der Obstruktion resultieren: intensiver Schmerz, kalte Blässe, Gefühlsstörung, Pulsverlust und Bewegungsunfähigkeit in der Gliedmaßenperipherie, ferner Erschöpfung und allgemeine Schockzeichen. Zeichen der irreversiblen Gewebeschädigung: Spannungsblasen, Gangrän, totaler Sensibilitätsverlust, verspannte und verdickte Muskelgruppen, schlaffe Paresen (nach 43 Std.). Blasse Ischämie bei offenen Venen, blaue Ischämie bei sekundärer Stagnationsthrombose in Kapillaren und Venen. Bei unvollständiger Ischämie oft nur Blässe, Kälte und Taubheitsgefühl in der betroffenen Extremität. Diagnostik. Etagenlokalisation des Verschlusses durch Pulspalpation. Distale Dopplerdruckmessung ergibt Aufschluss über den Ischämiegrad. Bei der FKDS fehlt im Verschlussbereich das Farbdopplersignal. Kollateralenfluss erzeugt poststenotisch ein monophasisches Frequenzspektrum. Fahndung nach der Emboliequelle im Herzen mittels Echokardiographie, in der Aorta durch Abdomensonographie. Zur definitiven Abklärung wird meistens prä- oder intraoperativ eine Angiographie durchgeführt.
Revaskularisierung: 4 Bei Embolie: Embolektomie mit Ballonkatheter oder Ring-
! Nach Revaskularisation besteht die Gefahr eines postischämischen Ödems mit hypovolämischem Schock.
4 Bei Thrombose: Notfalloperation (Thrombektomie, TEA) nur bei komplettem Ischämiesyndrom der unteren Extremität, bei Befall der aortoiliakalen Strombahn und des Armes. Bei infrainguinalen Verschlüssen wenn möglich perkutane Angioplastie, sonst intraarterielle Thrombolyse. Konservative Maßnahmen: Lokale Thrombolyse und anschließend Heparinisierung. Indiziert bei Embolien im Bereich peri-
pherer kleiner Arterien, bei Thrombosen mit inkompletter Ischämie oder Inoperabilität wegen schweren Schocks oder Herzinsuffizienz. Prognose. Amputationsrate bei einer Operation innerhalb
12 Stunden 3%, innerhalb von 48 Stunden 10%, für die Gesamtheit der Embolien 6%. Chronische Verschlüsse (periphere arteriell Verschlusskrankheit) Häufigkeit. Etwa 2,2% aller Männer und 1,8% aller Frauen sind betroffen. In einer Basler Studie an 6400 Berufstätigen trat innerhalb von 5 Jahren bei 5% der 40-jährigen und bei 18% der 70-jährigen Männer eine frische periphere Verschlusskrankheit auf, wobei die asymptomatische Form 3-mal häufiger war als die symptomatische. Frauen erkrankten 5-mal seltener. Ursachen. In 80–90% der Fälle atheromatöse Arteriosklerose mit den bereits genannten Risikofaktoren, unter denen das Rauchen an erster Stelle steht. Bei peripherer Verschlusslokalisation (besonders an Unterschenkeln und Füßen) liegt in 10–20% der Fälle eine Endangiitis obliterans vor. Pathophysiologie. Je weiter zentral die Verschlusslokalisation,
desto besser die Kompensationsmöglichkeit über Kollateralen, desto später auch die klinischen Symptome. Nach den funktionellen Auswirkungen unterscheidet man folgende Schweregrade der Durchblutungsstörungen:
41 1.5 · Krankheiten der peripheren Arterien
4 Stadium I: Stenosen oder Verschlüsse ohne klinische Symptomatik 4 Stadium II: Belastungsinsuffizienz (z.B. Claudicatio intermittens) 4 Stadium III: Dauerinsuffizienz mit Ruheschmerz 4 Stadium IV: manifester anoxischer Gewebeschaden (distale Nekrosen), mit oder ohne Ruheschmerz. Obliteration der Becken- und Beinarterien > Mit Abstand die häufigste chronische arterielle Verschlusskrankheit. Initialsymptom ist das intermittierende Hinken (Claudicatio intermittens) durch ischämischen Muskelschmerz und Schwäche beim Gehen.
Im Gegensatz zu neuritischen Schmerzen klingt der ClaudicatioSchmerz nach Unterbrechung der Belastung innerhalb einiger Minuten ab. Progredienz manifestiert sich in zunehmender Verkürzung der Gehstrecke, Taubheitsgefühl und Parästhesien, Ruheschmerz, Atrophie und Nekrosen an Zehen und Vorfuß. Nach der Lokalisation unterscheidet man 3 Verschlusstypen: 4 Beckentyp (aortoiliakale Verschlüsse): Betrifft kaudale Aorta, Aortenbifurkation, A. iliaca communis, A. iliaca interna, A. iliaca externa (bis zum Leistenband). Ischämischer Schmerz bevorzugt in der Gesäß- und Oberschenkelmuskulatur. Bei 20% erektile Potenzstörung. Ruheschmerz und Nekrosen fast nur bei akuten und subakuten Verschlüssen oder bei zusätzlichen Verschlüssen weiter peripher. Stenosegeräusche in der Leistenregion. Alle Beinpulse abgeschwächt. Schweregrad ergibt sich aus Dopplerdruckmessung und FKDS. Präoperativ DSA oder Magnetresonanzangiographie zur genauen Lokalisation und Beurteilung der peripheren Ausflußbahn. 4 Oberschenkeltyp (femoropopliteale Verschlüsse): Betrifft: A. femoralis communis (vom Leistenband bis zur Femoralisgabel), A. femoralis superficialis (Leitungsarterie von der Femoralisgabel bis zum Ende des Adduktorenkanals), A. profunda femoris (von der Femoralisgabel als Versorgungsarterie in die Oberschenkelmuskulatur mit Kollateralen zum distalen Segment der A. femoralis superficialis und zum 1. und 2. Segment der A. poplitea ‒ sog. Profundakreislauf) und A. poplitea (vom Ende des Adduktorenkanals über das Kniegelenk bis zum unteren Rand des M. popliteus). Etwa 50% der Beinarterienverschlüsse entfallen auf die A. femoralis superficialis (. Abb. 1.18). Gute Kompensation bei offenem Profundaabgang und offener A. poplitea über den Profundakreislauf. Ischämischer Schmerz in den Waden, Parästhesien und Kältegefühl in den Zehen. Fehlen oder starke Abschwächung des Popliteapulses und der Fußpulse bei normalem Leistenpuls. Gefäßgeräusche distal des Verschlusses (nach Kniebeugen oder Zehenstand). Schweregrad durch FKDS, Dopplerdruckmessung und Oszillographie zu erfassen. Angiographie oder MRA nur bei Operationsindikation. 4 Unterschenkeltyp (Verschlüsse unterhalb der A. poplitea): Betrifft A. tibialis anterior, A. tibialis posterior und A. pero-
. Abb. 1.18. Duplexsonographie mit Farb- und CW-Doppler: Hochgradige Stenose der A. femoralis superficialis mit hohen systolischen und diastolischen Flüssen innerhalb sowie niedrigen Flüssen distal der Stenose
nea (aus A. tibialis posterior). Obliteration von 2 Unterschenkelarterien kann durch die dritte ausgeglichen werden. Bei ungenügender Kompensation (2–3 Arterien verlegt) Belastungsschmerz der Fußgelenke oder Fußsohlen, Parästhesien und Ruheschmerz in den Zehen. Fehlender Puls der A. dorsalis pedis bzw. A. tibialis posterior bei normalem Popliteapuls. Lokalisation und Schweregrad durch FKDS, Oszillographie (auch der Zehen) und etagenweise Dopplerdruckmessung zu erfassen, ggf. durch MRA. Kombinierte Verschlüsse: Becken-Oberschenkel-Typ und Oberschenkel-Unterschenkel-Typ kommen häufig vor. Becken-Unterschenkel-Typ und Verschlüsse aller 3 Etagen sind selten.
Obliteration der Armarterien Nur etwa 10% der chronischen Gliedmaßenarterienverschlüsse entfallen auf die oberen Extremitäten. Schultergürteltyp (Subklavia- und Axillarisverschlüsse). Prädilektionsstellen: Linke A. subclavia zwischen Abgang von der Aorta und Abzweigung der A. vertebralis, seltener rechte A. subclavia zwischen Abgang der A. carotis communis und A. vertebralis, noch seltener Verschlüsse distal des Vertebralisabgangs und in der A. axillaris. Bei Verschlüssen proximal des Vertebralisabgangs wenig Symptomatik, da kollateraler Zufluss über die Vertebralis erfolgt. Nachweis durch Blutdruck- und Pulsdifferenz an den Armen im Seitenvergleich. Claudicatio bei Belastung des Armes, zerebrale Ischämie bei proximalen Subklaviaverschlüssen durch Steal-Effekt (7 Kap. 1.5.7) mit Steal-Syndrom. Bedrohliche Ischämie nur bei akuten Verschlüssen und Kombination mit peripheren Verschlüssen. Lokalisation mittels FKDS. Präoperativ Aortoangiographie.
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Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
Oberarmtyp. Sehr selten, überwiegend entzündlich, traumatisch
oder thrombotisch bedingt. Führt zur Claudicatio des Armes. Unterarmtyp (Radialis- und Ulnarisverschluss). Symptome nur
bei Verschluss beider Unterarmarterien, am häufigsten durch Thrombangiitis obliterans bedingt. Faustschlussprobe positiv. Oszillogramm pathologisch, Pulse abgeschwächt oder fehlend. Verschlussnachweis durch FKDS und Angiographie. Digitaler Verschlusstyp. Überwiegend bei entzündlichen Ge-
fäßerkrankungen und Diabetes mellitus, Mikroembolien und Thrombozytose. Betroffen sind Digitalarterien, Hohlhandarkus, nicht selten auch die distalen Abschnitte von A. radialis und ulnaris. Symptome. Anfallsweise Blass- bzw. Blauverfärbung der Finger
mit ischämischen Schmerzen und Abkühlung, trophische Störungen an den Endgliedern, Entzündungen, Nekrosen, Narben, Wachstumsstörungen der Nägel, zyanotische Hautverfärbung, pathologische Faustschlussprobe. Diagnostik. Verschlussnachweis durch MR-Angiographie mit Gadolinum, Fingeroszillogramm.
Die Gefäßspasmen auf dem Boden einer Verschlusskrankheit werden als sekundäres Raynaud-Syndrom bezeichnet und unterscheiden sich vom primären Raynaud-Syndrom (RaynaudKrankheit) durch die in . Tab. 1.3 dargestellten Kriterien. Therapie. Konservative Therapie: Indiziert in den Stadien I und II: 4 Allgemeine Maßnahmen: Nikotinabstinenz und Ausschal-
tung weiterer Risikofaktoren der Arteriosklerose. 4 Gehtraining: Bis zu 75% der Belastungstoleranz zur Verbesserung des Kollateralkreislaufs. 4 Antikoagulation: Thrombozytenaggregationshemmer, seltener Cumarine. 4 Beim Raynaud-Syndrom: Schutz vor Abkühlung, vasokonstriktorische Mittel absetzen (β-Blocker, Ergotaminderivate). Medikamente: Calciumantagonisten (Nifedipin, Diltiazem, Prazosin, Reserpin, Phenoxybenzamin). Gefäßrekonstruktion: Indiziert in den Stadien III und IV. 4 Beckentyp:
5 Langstreckige Stenosen: Aortobifemoraler Bypass (Offenheitsrate nach 5 Jahren 80–90%), bei einseitiger Stenose iliofemoraler Crossover-Bypass. 5 Kurzstreckige Stenosen: Perkutane transluminale Angioplastie (PTA), im Bereich der A. iliaca com. mit Stenteinlage. Alternativ offene oder halbgeschlossene retrograde Iliaka-TEA. Entfernung embolisierender atheromatöser Plaques aus der Aorta abdominalis durch offene TEA mit Direktverschluss.
. Tabelle 1.3. Unterscheidungskriterien zwischen einem primären und sekundären Raynaud-Syndrom
Raynaud-Krankhkeit (primäres RaynaudSyndrom)
Sekundäres RaynaudSyndrom
bevorzugt Frauen (5:1)
bevorzugt Männer
Beginn nach der Pubertät
später Beginn (oft akut)
symmetrischer Befall
meist asymmetrisch
Blässe-Rötung-Zyanose
Ischämie oft anhaltend
Daumen nicht betroffen
Daumen auch betroffen
Gefäßläsionen und Störungen erst im Spätstadium
Gefäßläsionen primär, trophische Störungen schwer (Gangrän)
Faustschlussprobe normal
Faustschlussprobe pathologisch
Spasmeninduktion durch Kälte
Kälteeinfluss weniger deutlich
4 Oberschenkeltyp: 5 Isolierter Verschluss der A. femoralis superficialis mit offenem Profundakreislauf: Konservative Behandlung. Profundaplastik bei Abgangsstenose. Femoropoplitealer Bypass zum ersten Popliteasegment bei langstreckigem Verschluss. Kniegelenküberschreitende Bypässe in den Stadien III und IV bei Gehstrecke 5,5 cm. Resektion des aneurysmatischen Aortenabschnitts und Ersatz durch Gefäßtransplantat, bei suprarenalen Aneurysmen mit Anschluss der Viszeralarterien. Operationsletalität vor Ruptur 5–10%, nach Ruptur 50%. Bei Risikopatienten wird wegen sehr geringer Letalität über die freigelegte Femoralarterie eine selbstexpandierende ummantelte Stentprothese in das Gefäßlumen eingebracht.
Dissektion Definition. Eindringen des Blutes in die Aortenwand durch einen Intimariss mit Zerstörung der Media und Abtrennung der Intima von der Adventitia (dissezierendes Hämatom bzw. Aneurysma). Das Hämatom (falsches Lumen) engt das wahre Lumen der Aorta ein, vergrößert den Aortendurchmesser, kann Gefäßabgänge stenosieren, die Aortenklappen dislozieren (Aorteninsuffizienz), und nach außen oder innen perforieren. Letzteres bedeutet eine Spontankorrektur. Entstehung des Intimarisses auf dem Boden einer Mediaschädigung durch zystische Medianekrose, Hypertonie, Schwangerschaft, Aortenisthmusstenose, bikuspidale Aortenklappe. Zwei Prädilektionsstellen (95% aller Dissektionen) für Intimarisse: 2–5 cm oberhalb der Aortenklappe (proximal) und Aorta descendens unmittelbar unter dem Abgang der A. subclavia (Einteilung nach Debakey, . Abb. 1.20a–c).
a
b
c
. Abb. 1.20a–c. Typeneinteilung der Aortendissektion. a Typ I: Dissektion beginnend in der Aorta ascendens und sich über den gesamten Aortenverlauf erstreckend, b Typ II: Dissektion der Aorta ascendens, c Typ III: Beginn der Aortendissektion distal des Abgangs der A. subclavia sinistra und fortschreiten der Dissektion bis zur Aortenbifurkation bzw. bis in die Beckenstrombahn
Dissektion der Aorta ascendens Antegrade Ausbreitung der Dissektion von der proximalen Aszendens über den Aortenbogen bis in die A. abdominalis (Typ I) oder nur im Bereich der Aszendens (Typ II . Abb. 1.21). Gelegentlich retrograde Ausbreitung einer distalen Dissektion. Ursachen. Heftigster retrosternaler Schmerz, im Gegensatz zum
Crescendoschmerz des Infarktes sofort maximal, oft in der Dissektionsrichtung zum Hals und zwischen die Schulterblätter ausstrahlend. Aorteninsuffizienz (>50%), die zur kardialen Dekompensation führen kann. Pulsverlust oder -abschwächung an den Arm- und Halsgefäßen, zerebrale Ischämie mit Hemiparese, bei Typ I Abschwächung der Femoralispulse, auch Paraplegie durch ischämische Rückenmarkschädigung. Häufigste Todesursache: externe Ruptur in den Herzbeutel (Tamponade), in eine der Pleurahöhlen, ins Mediastinum, in die Bauchhöhle oder in den Gastrointestinaltrakt. Diagnostik. Klinische Symptome, Röntgenbild des Thorax, transösophageale Echokardiographie, MR-Angiographie, CT-Angiographie, Spiralcomputertomographie. Die klassische DSA zeigt nur das eingeengte freie Lumen. CK und CK-MB normal, keine Infarktzeichen im EKG. Therapie. Schmerzbekämpfung, Blutdrucksenkung auf 100–
120 mmHg (Infusion von Nitraten und ACE-Blocker, selten von
46
Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
1
. Abb. 1.21. Supraaortale Angiographie eines 24-jährigen Patienten mit einer Aortendissektion Typ de Bakey II bzw. Stanford-Typ A mit Ausbildung eines großen falschen Lumens zwischen rechter Koronararterie und Truncus brachiocephalicus sowie dissektionsbedingtem Verschluss der rechten Koronararterie
Natriumnitroprussid) und Propranolol i.v. außer bei schwerer Aorteninsuffizienz (zur Herabsetzung der Ejektionsgeschwindigkeit des Blutes) als Sofortmaßnahmen. Standard ist die sehr schnelle operative Versorgung (Resektion an der Stelle des Intimarisses, Nahtverschluss oder Gefäßprothese evtl. mit Aortenklappenprothese). Medikamentöse Langzeitnachbehandlung (Blutdrucksenkung, β-Rezeptorenblocker). Ohne Behandlung sterben 21% der Patienten innerhalb 24 Stunden, 60% in den ersten 2 Wochen, 90% innerhalb von 3 Monaten. Dissektion der Aorta descendens Antegrade Ausbreitung der Dissektion vom Lig. arteriosum zum Zwerchfell oder in die Aorta abdominalis (Typ III, . Abb. 1.22). In der Regel keine retrograde Ausbreitung. Seltener als Typen I und II, überwiegend bei alten Hypertonikern. Symptome. Intensiver plötzlicher Schmerz zwischen den Schul-
terblättern, der nach vorn ausstrahlen kann, gelegentlich Stenosierung der linken A. subclavia und Abschwächung der Femoralispulse durch Stenosierung der Aortenbifurkation. Diagnostik. Röntgenaufnahme des Thorax, transösophageale Echokardiographie, Spiralcomputertomographie, FKDS, Aortographie.
. Abb. 1.22. MRT (nach KM-Gabe) eines 52-jährigen Patienten mit Aortendissektion Typ de Bakey III bzw. Stanford Typ B (Sammlung Dr. Esdorn, Bad Oeynhausen)
Therapie. In unkomplizierten Fällen konservative Behandlung (Blutdrucksenkung, β-Rezeptorenblocker). Bei alten und instabilen Patienten mit erhöhtem Operationsrisiko kommt eine Versorgung mit endoluminaler Stentprothese in Betracht. Bei drohender Ruptur, bedrohlicher Ischämie vitaler Organe (Nieren, Darm) oder anhaltenden Schmerzen operative Beseitigung des Intimarisses und Gefäßprothese. Unter konservativer Behandlung überleben 80% das Akutstadium in der Klinik.
1.5.7
Kopfarterien
Akuter zerebrovaskulärer Insult (Schlaganfall, Apoplexie) Häufigkeit. Die Inzidenz steigt von etwa 8 pro 100.000 in der Altersgruppe 25–34 Jahre auf über 2000 pro 100.000 im hohen Lebensalter (>85 Jahre). In den USA ereignen sich pro Jahr rund 750.000 Schlaganfälle mit einer Mortalitätsrate von über 150.000.
47 1.5 · Krankheiten der peripheren Arterien
Ursachen. 4 Hirninfarkt:
5 arteriosklerotische Thrombose 5 Hirnembolie (. Abb. 1.23) 5 Infarzierung vom lakunären Typ (Obliteration kleiner perforierender Arterienäste an der Hirnbasis infolge hypertoniebedingter Hyalinisierung) (. Abb. 1.7)
4 intrazerebrale Blutung: 5 aus hypertoniegeschädigten perforierenden Arterien mit Mikroaneurysmen 5 bei Amyloidangiopathie (im Alter) 5 durch Einblutung in ischämische Infarkte 4 Subarachnoidalblutung: in den Subarachnoidalraum aus rupturierten sackförmigen Aneurysmen an den Teilungsstellen der Hirnbasisarterien (Entwicklungsdefekte der Media und Elastika), selten mykotische bei Endokarditis 4 andere Blutungsursachen: traumatisches epidurales und subdurales Hämatom. Intrakraniale Blutungen bei hämorrhagischen Diathesen und Antikoagulation. Klinik. > Kardinalsymptome: Plötzlich auftretende fokale neurologische Ausfallserscheinungen, die von Kopfschmerzen, Erbrechen und Bewusstseinsverlust mit zentralen Atmungs- und Kreislaufstörungen begleitet sein können. Zeitliches Insultprofil: 4 Thrombotischer Hirninfarkt: In 60% der Fälle vorausgehende
transitorische ischämische Attacken (s. unten). Neurologische Ausfallserscheinungen innerhalb von Minuten voll ausgebildet oder als Zeichen der Thrombusausdehnung bis zu 3 Tagen stufenweise zunehmend (progressing stroke). Remission je nach Infarktgrösse nach Stunden, Tagen oder Wochen beginnend, selten komplett. Defekte, die sich innerhalb von 6 Monaten nicht zurückbilden, bleiben bestehen. 4 Embolie: Selten transitorische ischämische Attacken (Mikroembolien) als Vorboten. Blitzartig einsetzende neurologische Ausfallserscheinungen, die sofort ihr Maximum erreichen. Bei Fragmentation des Thrombus und Weitertransport von Thrombusteilen in periphere Gefäßäste Besserung der Symptome nach kurzer Zeit. Rekanalisierung der Arterien nach Infarkteintritt relativ häufig. Dauerschäden wie bei thrombotischen Infarkten. 4 Hypertonische Parenchymblutung: Keine Prodromi. Neurologische Defekte nach plötzlichem Beginn kontinuierlich zunehmend. Maximum nach 1–24 Stunden (abhängig von der Stärke der Blutung). Spät einsetzende, langsame Remission mit gutem Endresultat bei kleinen Blutungen. 4 Subarachnoidalblutung: Selten Kopfschmerzen und neurologische Symptome als Vorboten (Sickerblutung). Nach der Ruptur blitzartige schwerste Kopfschmerzen mit sofort folgender Bewusstlosigkeit (50% der Fälle) oder Bewusstlosig-
. Abb. 1.23. Das native CCT zeigt einen kleinen älteren frontoparietalen Territorialinfarkt bei einer 68-jährigen Patientin mit intermittierendem Vorhofflimmern
keit ohne vorausgehende Beschwerden. In weniger schweren Fällen heftigster Kopfschmerz ohne Bewußtseinsverlust. Hemiplegie und andere Ausfälle in der Regel erst 4–9 Tage nach der Ruptur (Ischämie und Nekrosen infolge Spasmen der Hirnbasisarterien). 4 Posttraumatische Blutungen: Bewusstseinsverlust und Hirnstammsymptome nach einem freien Intervall. Neurologische Leitsymptome der Hirninfarkte: 4 Karotissystem (Versorgungsgebiete der A. ophthalmica,
A. cerebri anterior, A. cerebri media): Kontralaterale Hemiparese, Hemihypästhesie und homonyme Hemianopsie kombiniert mit sensomotorischer Aphasie (dominante Hemisphäre) oder Apraktagnosie (andere Hemisphäre). Reine motorische Hemiplegie bei lakunärem Infarkt der inneren Kapsel (A. lenticulostriata aus der A. cerebri media). Weitere lakunäre Syndrome im Versorgungsgebiet perforierender Mediaäste mit Dysarthrie, Hemichorea und Hemiballismus. 4 Vertebralis-Basilaris-System (Versorgungsgebiete der A. vertebralis, A. basilaris und der A. cerebri posterior): Bilaterale motorische und/oder sensorische Ausfallserscheinungen, kombiniert mit Störungen der Hirnnerven, des Kleinhirns und anderer Hirnstammstrukturen. Reine Hemianästhesie bei lakunärem Infarkt im ventralen hinteren Thalamuskern (perforierender Ast aus der A. cerebri posterior). Zahlreiche
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48
1
Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
weitere lakunäre Hirnstammsyndrome (7 Lehrbücher der Neurologie). Neurologische Leitsymptome intrazerebraler Blutungen: 4 Putamen und angrenzende innere Kapsel (A. lenticulo-
striata): Kontralaterale Hemiplegie, Blickwendung zur nicht gelähmten Seite, nach 5–30 Minuten Koma, im Verlauf obere Hirnstammkompression (Babinskireflex positiv, irreguläre Atmung, dilatierte fixierte Pupillen, finale Streckkrämpfe infolge Dezerebration). Häufigste Blutungslokalisation (50%). 4 Thalamus: Kontralaterale Hemiparese oder -plegie durch Kompression der inneren Kapsel, Blick nach unten gerichtet, reaktionslose Pupillen. Zusätzlich sensorische Ausfallserscheinungen (Aphasie, Apraktognosie, homonyme Hemianopsie, Mutismus).
an der A. supratrochlearis erkennen, die eine Kollaterale zwischen dem Stromgebiet der A. carotis interna und A. carotis externa darstellt. Beim Internaverschluss fließt das Blut durch die A. supratrochlearis retrograd über die A. ophthalmica in den Hirnkreislauf. Selektive zerebrale Arteriographie (DSA): Das jodhaltige Kon-
trastmittel wird über einen transfemoral eingeführten Katheter selektiv in die extrakranialen Arterien injiziert. Genaueste Methode der zerebralen Gefäßdarstellung. Komplikationsrate bis 3%. Indiziert vor intraarterieller Thrombolyse. Sonst weitgehend durch die Kombination von FKDS und MR-Angiographie zu ersetzen. Differenzialdiagnosen. Hypoglykämie, epileptischer Anfall, Hirntumor, hypertensive Enzephalopathie, Migräne.
Diagnostik.
Zu klären sind: 4 Ursache, Lokalisation und Ausdehnung des Gefäßverschlusses 4 Lokalisation des Hirninfarktes 4 das Vorliegen von intra- oder extrazerebralen Blutungen. Anamnese und klinische Untersuchung: Hinweise auf Thrombose: vorausgegangene TIA, Strömunsgeräusche über den Halsschlagadern, Zeitprofil. Hinweise auf Embolie: Vorhofflimmern, Atheromatose der Aorta ascendens, Zeitprofil. Hinweis auf Blutung: Trauma, schwere Hypertonie, Nackensteife, Zeitprofil. Computertomographie: Sehr wichtig zur sofortigen Erkennung von Blutungen. Hirninfarkte sind erst nach 24–48 Stunden eindeutig nachzuweisen. Ausschluss raumfordernder Tumoren als Insultursache. MR-Tomographie: Infarktnachweis in allen Hirnregionen innerhalb einer Stunde. Auch Blutungen werden sofort erkannt. Wenn verfügbar, dem CT vorzuziehen. MR-Angiographie: Erfasst Veränderungen an den extrakranialen
und den großen intrakranialen Arterien. Keine sichere Unterscheidung zwischen komplettem und fast komplettem Karotisverschluss. Im Gegensatz zur konventionellen Arteriographie risikolos. Farbkodierte Duplexsonographie (FKDS): Ermöglicht schnell
und zuverlässig den Nachweis von Stenosen und Verschlüssen der A. carotis interna. Schwieriger ist oft die Darstellung von Stenosen und Verschlüssen der Vertebralarterien im extrakranialen Bereich. Durch transkraniale Doppleruntersuchung sind Stenosen und Fluss in der A. cerebri media, der A. basilaris und den distalen Vertebralarterien zu erfassen. Kollateralkreisläufe lassen sich durch die Flussmessung an den intrakranialen Gefäßen und
Therapie. Nach Untersuchungen mittels MRT und PositronenEmissionstomographie entsteht im Ischämiebezirk schnell ein infarzierter Kern der von hypoxischem, jedoch potenziell erholungsfähigem Nervengewebe umgeben ist. Unter guter Therapie kann sich daher ein erheblicher Teil der neurologischen Ausfallserscheinungen zurückbilden. Allgemeine Maßnahmen: Einweisung auf eine Intensivstation, wenn erreichbar in eine Spezialeinrichtung für Schlaganfälle (stroke unit). Dort Überwachung von Atmung und Kreislauf. Freihaltung der Atemwege, Bestimmung der Blutgase zum Ausschluss einer Hypoxie. Erhöhter Blutdruck verbessert die Perfusion. Daher auch Werte bis 220/120 mmHg nicht senken. Nur vor Thrombolyse und bei maligner Hypertonie langsames Absenken auf 180/105 mmHg. Bei Fieber Antipyretika. Laboranalysen: Blutzucker, Elektrolyte, Kreatinin, Harnstoff, Gerinnungsfaktoren, Blutbild. Außerdem EKG und Röntgenaufnahme des Thorax. Intravenöse Thrombolyse mit t-PA: Sicher und erfolgversprechend nur innerhalb der ersten 3 Stunden nach Symptombeginn. Führt allerdings häufiger zu Einblutungen als in nicht behandelten Fällen. Intraarterielle Thrombolyse mit t-PA: Dazu wird ein Mikrokatheter dicht vor oder im Thrombus platziert. Indikation bei gegebener Möglichkeit innerhalb der ersten 3 Stunden bei Verschluss der A. cerebri media, vor allem bei Verschluss der A. basilaris, der ohne Wiederöffnung des Gefäßes eine sehr schlechte Prognose hat. Antikoagulation: Low-Dose-Heparin reduziert das Risiko von Beinvenenthrombosen. Auf den Insultverlauf hat es keinen positiven Einfluss, erhöht sogar die Blutungsgefahr. Acetylsalicylsäure (300 mg) verringert in geringem Maße das Auftreten von Insultrezidiven. Behandlung des Hirnödems: In 5–10% der Fälle kommt es proportional zur Infarktgröße zu klinischen Symptomen des Hirnödems (Nachlassen der Aufmerksamkeit, Benommenheit) und Raumforderung im CT. Beginn am 2. oder 3. Tag, bis zum
49 1.5 · Krankheiten der peripheren Arterien
10. Tag andauernd. Therapieprinzip: Erhöhung der Osmolarität auf 320 mosmol/l durch strikte Beschränkung der Zufuhr freien Wassers und osmotische Diurese mittels Mannitolinfusionen (25–50 g alle 5 Stunden bis maximal 2 g/kg/Tag). Unterstützend kann auch Furosemid injiziert werden. Keine Glukokortikoide! In schweren Fällen Intubation und mechanischer Hyperventilation zur Senkung des pCO2 auf 25–30 mmHg. Ultima ratio: Chirurgische Dekompressionstrepanation. Raumfordernde Hämatome werden mikrochirurgisch ausgeräumt. Neuroprotektiva und Vasodilatanzien: Bei Hirninfarkt wegen erwiesener Unwirksamkeit nicht indiziert. Bei Subarachnoidalblutung drohen neurologische Ausfallserscheinungen durch Arterienspasmen an der Hirnbasis. Einziges wirksames Mittel dagegen ist der Calciumantagonist Nimodipin, zuerst als Infusion später per os. Rehabilitation. Frühzeitige passive Bewegungen der gelähmten Extremitäten zur Verhütung von Gelenkkontrakturen und Periarthritiden. Aufsitzen im Stuhl nach einer Woche, aktive Bewegungstherapie, Gehübungen, Sprachübungen etc. Nach 3 bis 6 Monaten können die meisten Hemiplegiker wenigstens etwas gehen. Prognose. Nach dem ersten Hirninfarkt erreicht die Mortalität binnen 4 Wochen Werte bis 25%. Von den Überlebenden des ersten Infarktes stirbt etwa jeder zweite innerhalb von 5 Jahren. Ungünstige Faktoren: Hohes Alter, großer neurologischer Defekt, anhaltende Bewusstlosigkeit, Herzkrankheiten, Hypertonie. Die Basilaristhrombose wird ohne arterielle Thrombolyse selten überlebt. Prognose der embolischen Infarkte schlechter als die der thrombotischen. Relativ gute Prognose der lakunären Infarkte. Mortalität der intrazerebralen Blutung 60–70% innerhalb von 30 Tagen. Mortalität der Subarachnoidalblutung 27% innerhalb einer Woche, bei Rezidivblutung 40–45%.
Chronische Kopfarterienverschlüsse Pathophysiologie. Die 4 hirnversorgenden Arterien (Aa. carotides, Aa. vertebrales → A. basilaris) kommunizieren an der Hirnbasis zum Circulus arteriosus cerebri. Sie sind außerdem auf mehreren Ebenen durch extra- und intrakraniale Anastomosen untereinander verbunden. Langsam entstehende Verschlüsse können deshalb durch kollateralen Blutfluss kompensiert werden. Blutdruckabfall, Hypoxie und Anämie gefährden diesen Kompensationsmechanismus. Abgangsstenosen der Aa. subclaviae bewirken einen Blutentzug aus dem Hirnkreislauf, der über die retrograd durchströmte A. vertebralis zum Umgehungskreislauf für den Arm wird (Subclavian-StealSyndrom). Diagnostik. Magnetresonanzangiographie (MRA): Schonende Darstellung
des Hirnkreislaufs, die multiple Stenosen aufdecken kann (. Abb. 1.24).
. Abb. 1.24. MRT (nach KM-Gabe) einer 70-jährigen Patientin mit höhergradigen Stenosen der linken A. carotis interna (ACI) und externa (ACE) sowie der rechten A. carotis interna (ACI) (Sammlung Dr. Esdorn, Bad Oeynhausen)
Duplexsonographie: Eignet sich zur Untersuchung der A. carotis
(. Abb. 1.25). Farbkodierte Duplexsonographie: Erfasst Stenosierungen der A. carotis interna unterschiedlicher Schweregrade (. Abb. 1.26 und 1.27).
Asymptomatische Stenosen und Verschlüsse Überwiegend extrakranial lokalisiert und durch Kollateralen kompensiert. Erfassung zur Insultprophylaxe äußerst wichtig: Seitendifferenz des Blutdrucks, Stenosegeräusche an den Halsarterien, Differenz der Karotispulse (kann bei Stenose der Carotis interna fehlen), farbkodierte Doppler-Sonographie, MR-Angiographie. Transitorische ischämische Attacken (TIA) Definition. Flüchtige zerebrale Durchblutungsstörungen mit fokalen neurologischen Ausfallserscheinungen. Dauer einige Sekunden bis 10 Minuten, maximal 24 Stunden. Hinweis auf drohenden Hirninfarkt (kumulatives 5Jahresrisiko 35–50%). Gleichbleibendes Anfallsmuster spricht
1
50
Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
1
a
b
c
. Abb. 1.25a–c. Duplexsonographie der A. carotis communis (ACC): a Intima-Media-Komplex leicht (1,1 mm) verbreitert, b Intima-Media-Komplex mässig (1,6 mm) verbreitert, c mittelgradige ACC-Stenose
. Abb. 1.27. Duplexsonographie mit Farb- und CW-Doppler: hochgradige A.-carotis-interna-Stenose mit hohen systolischen und diastolischen Flussgeschwindigkeiten
9 . Abb. 1.26. Duplexsonographie einer leichtgradigen A.-carotis-interna(ACI-)Stenose mit zugeschaltetem Farbdoppler
51 1.6 · Krankheiten der Venen
für Atherothrombose, unterschiedliches für rezidivierende Mikroembolien (aus Atheromen oder aus dem Herzen). Karotis-System: Ipsilaterale Sehstörungen (Amaurosis fugax,
homonyme Hemianopsie), kontralaterale sensomotorische Störungen (Schwäche und/oder Taubheitsgefühl im Arm und Gesicht, flüchtige Aphasien). Vertebralis-Basilaris-System: Lage- oder Drehschwindel mit
Übelkeit und Erbrechen ohne Ohrgeräusche, Gang- und Standunsicherheit, Doppelbilder, alternierende Hemiparesen mit und ohne Sensibilitätsbeteiligung, vorübergehende beidäugige Erblindung, Dysarthrie, Dysphagie, Blitzsynkopen (Tonusverlust der Beine mit nur kurzem Bewusstseinsverlust). Aortenbogensyndrom Gleichzeitige Behinderung der Blutzufuhr zum Gehirn und zu den Armen durch obliterierende Prozesse an den Ostien des Aortenbogens (Truncus brachiocephalicus, linke A. carotis communis, linke A. subclavia). Nachweis durch FKDS und Angiographie.
Chirurgische Therapie: Beschränkt sich im Wesentlichen auf
die offene Karotisthrombendarteriektomie mit Patchplastik aus Kunststoff. Das bei der Indikationsstellung zu berücksichtigende Komplikations- plus Mortalitätsrisiko beträgt auch bei geübten Operateuren bis zu 6%. 4 Asymptomatische Karotisstenosen: Bei Stenosen von >70% keine Indikation zur TEA. Selbst bei schweren Stenosen von 80–99% ist ein Erfolg fraglich. Zunehmend an Bedeutung gewinnt das Karotisstenting mit Protektionssystemen, die Embolien aus Atherommaterial verhindern (Komplikationsrate 2–10%). 4 Symptomatische Karotisstenosen: Bei Stenosen von >70% ist die TEA indiziert. Bei symptomatischen Stenosen von 30–69% ist der Nutzen der TEA fraglich. 4 Symptomatische Vertebralisstenosen: Bei Abgangsstenosen Transposition der zentralen gesunden A. vertebralis auf die A. carotis communis (Letalität nahe 0%, neurologiche Komplikationen in 1% der Fälle). Bei Stenosen im V2-Segment Anlage eines Bypass vom V1- zum V3-Segment (Komplikationsrate um 3%).
Umgehungskreisläufe: Zur distalen A. sublavia aus der Aorta
thoracica (via Interkostalarterien und A. thoracica interna) und aus der retrograd durchströmten ipsilateralen Vertebralis unter Blutentzug aus dem Gehirn (Steal-Effekt).
1.6
Krankheiten der Venen
1.6.1
Pathophysiologie
Symptome. Transitorische ischämische Attacken (überwiegend
Normale Hämodynamik Zentraler und peripherer Venendruck Referenzebene für den Venendruck ist der rechte Vorhof. Dort beträgt der normale Druck unabhängig von der Körperlage etwa 0 mmHg (zentraler Venendruck), weil sich die Pumpleistung des Herzens dem venösen Rückfluss genau anpasst. Der periphere Venendruck wird vom hydrostatischen Druck bzw. Sog der Blutsäule zwischen rechtem Vorhof und Messpunkt bestimmt. Beim völlig stillstehenden Menschen liegt auf den Fußvenen ein hydrostatischer Druck von etwa 90 mmHg. Der Venendruck in anderen Körperebenen beträgt je nach Entfernung vom Herzen 0–90 mmHg, in den Halsvenen 0 mmHg, in den Sinus der Schädelkalotte -10 mmHg (aufrechte Körperhaltung).
vom Vertebralis-basilaris-Typ) und Schmerzen in den Armen bei manueller Tätigkeit auf der kollateral durchbluteten Seite, Pulsund Blutdruckdifferenzen an den Armen, supraklavikuläre Gefäßgeräusche, beim Steal-Syndrom inverser Fluss im VertebralisSonogramm. Takayasu-Krankheit Riesenzellarteriitis unklarer Ursache bei jungen Frauen und Mädchen. Befällt vorwiegend die vom Aortenbogen abgehenden Arterien. In der Frühphase Fieber und hohe BKS. Neben den transitorischen ischämischen Attacken Augenveränderungen (Blutstase, Irisatrophie, Katarakt, Optikusatrophie) und trophische Störungen an Fingernägeln, Mundschleimhaut (Ulzerationen), Nasenseptum (Perforation), Ohrmuscheln und Zähnen (Zahnausfall), dazu Claudicatio masticatoria. Therapie. Konservative Therapie: 4 Allgemeine Maßnahmen: Kontrolle der atherogenen Risi-
kofaktoren (Hypertonie, Hyperlipämie, Rauchen, Diabetes mellitus). 4 Glukokortikoide: Nur bei Takayasu-Krankheit. 4 Antikoagulation: Zur Prophylaxe transitorischer ischämischer Attacken und Hirninfarkte, auch bei asymptomatischen Stenosen. Indiziert sind Plättchenaggregationshemmer (ASS, ASS + Dypyridamol oder Clopidogrel), alternativ Phenprocoumon.
Muskelpumpe Das System der Beinvenen besteht aus tiefen, kommunizierenden (Vv. perforantes) und oberflächlichen Venen (. Abb. 1.28). Venenklappen öffnen sich in zentripetaler und schließen sich in zentrifugaler Richtung. Bei Muskelkontraktion, besonders beim Gehen, werden die tiefen Venen komprimiert. Es erfolgt ein zentripetaler Blutfluss mit Absaugung der oberflächlichen Venen. Die Pumpwirkung senkt den Venendruck in den Füßen von 90 auf 25 mmHg und verbessert den venösen Rückfluss zum Herzen. In . Abbildung 1.29 ist das Venensystem der Beine dargestellt (. Abb. 1.29).
1
52
Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
1 kommunizierende Vene tiefe Vene
oberflächliche Vene
Pathologische Hämodynamik Klappeninsuffizienz der oberflächlichen Venen (V. saphena) Mangelhafter Abfall von Venenvolumen und -druck im Gehen durch Rückstrom in die insuffiziente V. saphena magna an der Einmündung in die V. femoralis. Aus der ektasierten V. saphena fließt das Blut über die Vv. perforantes in die tiefen Venen zurück (»Privatkreislauf«). Im Verlauf kann es zur Klappeninsuffizienz der Perforansvenen und der tiefen Venen mit weiterer Verschlechterung des venösen Rückflusses kommen. Mit der Druckund Volumenbelastung nimmt auch die Varikose zu.
. Abb. 1.28. Blutströmung in den Beinvenen
Klappeninsuffizienz der Vv. perforantes Während der Muskelkontraktion Reflux des Blutes aus den tiefen Venen an die Oberfläche und während der Muskelerschlaffung von der Oberfläche in die Tiefe. Der abnorme Fluss nach außen dominiert und verstärkt die Ektasie der oberflächlichen Venen. Die Muskelpumpe arbeitet weniger effizient.
V. saphena magna DoddGruppe
Klappeninsuffizienz der tiefen Venen Weitgehende Ineffizienz der Muskelpumpe: Bei Muskelkontraktion regurgitiert Blut in die Peripherie, bei Muskelerschlaffung strömt herzwärts gepumptes Blut wieder zurück. In der Regel besteht gleichzeitig eine Klappeninsuffizienz der Vv. perforantes.
Boyd-Vene
CockettGruppe
a
Kreislaufwiderstände und Blutfluss im Venensystem Physiologische Strömungswiderstände entstehen beim Eintritt der großen Venen in den Brustraum: Abknicken der Armvenen an der ersten Rippe, Kompression der Halsvenen durch den atmosphärischen Druck, Kompression der Bauchvenen durch intraabdominalen Druck. Bedeutsam ist der Einfluss der Atmung. In der oberen Körperhälfte nimmt der venöse Rückfluss inspiratorisch zu (Sogwirkung auf die V. cava superior), exspiratorisch ab. In der unteren Körperhälfte nimmt der venöse Rückfluss inspiratorisch ab (Kompression der infradiaphragmalen Venen durch Tiefertreten des Zwerchfells), exspiratorisch zu (Aufhebung der Kompressionswirkung). Bei rein thorakaler Atmung (Frauen, Jugendliche, Astheniker) keine wesentliche Atemabhängigkeit der Flussraten in der unteren Körperhälfte.
b
. Abb. 1.29. Oberflächliche Stammvenen (Vv. Saphena magna et parva) mit den klinisch wichtigen Perforansvenen. a Ansicht von vornmedial, b Ansicht von hinten
Venenverschluss Nur ausgedehnte bzw. Hauptvenenverschlüsse bilden ein Strömungshindernis, das zur Stauung und Ischämie führt. Chronische Verschlüsse sind in Ruhe durch Kollateralvenen meistens kompensiert. Erst bei Belastung kommt es wegen herabgesetzter venöser Kapazität und Drainagefähigkeit distal des Verschlusses zu Stauungen. Die Kollateralvenen können sich unter der Druckund Volumenbelastung varikös erweitern.
53 1.6 · Krankheiten der Venen
I
E
V
OK
WK
zentral
E
. Abb. 1.30. Unauffälliger Dopplerbefund einer V. poplitea mit zentral gerichtetem Blutfluss bei Exspiration (E) und fehlendem Blutfluss bei Inspiration (I), Valsalvae-Manöver (V) und Kompression des Oberschen-
1.6.2
Untersuchungsmethoden
Inspektion und Palpation Untersuchung im Liegen und Stehen zur Erkennung von Varizen, Venektasien, Hautverfärbungen (Zyanose, Pigment) und trophischen Störungen. Durch Palpation werden Venenstränge, Druckschmerz, Faszienlücken im Bereich insuffizienter Vv. communicantes und Ödeme erfaßt. Messung von Umfangsdifferenzen. Einfache Funktionsprüfungen Perthes-Versuch Zur Prüfung der Durchgängigkeit der tiefen Beinvenen und der Suffizienz der Vv. perforantes bei Unterschenkelvarizen. Nach Anlegen einer Staubinde oberhalb der Varizen müssen sich diese beim Gehen entleeren. Andernfalls liegt eine Abflussbehinderung in den tiefen Beinvenen und/oder eine Klappeninsuffizienz der Vv. perforantes vor. Trendelenburg-Versuch Zur Prüfung der Klappenfunktion von V. saphena magna und Vv. perforantes bei Oberschenkelvarizen. Nach Ausstreichen der Varizen im Liegen mit angehobenem Bein wird die V. saphena magna am oberen Ende mit einem Stauschlauch abgeklemmt. Danach lässt man den Patienten aufstehen. Tritt innerhalb 30 Sekunden keine Wiederauffüllung der Varizen ein, sind die kommunizierenden Venen intakt, andernfalls, insuffizient. Rasche massive Varizenauffüllung im Stehen nach Lösung der Stauung zeigt Klappeninsuffizienz der V. saphena an. Ultraschalluntersuchungen Mit den zur Verfügung stehenden Methoden lassen sich Stenosen, Verschlüsse und abnorme Strömungsverhältnisse in den Venen der Extremitäten vollständig abklären. Doppler-Stiftsonde Misst Strömungsrichtung und Flussgeschwindigkeit (. Abb. 1.30). Geeignet zur Erfassung der Klappeninsuffizienz bei Varikose und zum Thrombosenachweis im Beckenbereich und in der Leistenregion.
kels (OK). Nach OK beschleunigter Fluss nach zentral, der durch Kompression der Wade (WK) weiter zunimmt
B-Bild Zugänglich sind sämtliche Abschnitte des tiefen Beinvenensystems und die meisten Abschnitte des tiefen Armvenensystems. Mit dem Sondenkompressionstest im Querschnitt lassen sich komplette Thrombosen (Venenlumen erweitert und nicht komprimierbar) sicher nachweisen und lokalisieren. Inkomplette Thrombosen sind weniger gut zu erfassen. Konventioneller Duplex Kombiniert morphologische B-Bild-Darstellung und Strömungsmessung mittels PW-Doppler. Bei inkompletten Thrombosen kann mit dem PW-Doppler die Strömung im Restlumen nachgewiesen werden. Bei Varikose kann der Klappenbesatz des oberflächlichen und tiefen Venensystems geprüft werden, außerdem die Klappenschlussfähigkeit der Perforansvenen. Farbduplex Erleichterte Beurteilung von Gefäßabschnitten, die einem Sondenkompressionstest schwer zugänglich sind. Verbessert wird insbesondere die Diagnostik im Bereich der V. iliaca sowie im distalen Abschnitt der V. femoralis superficialis. Bei Klappeninsuffizienz wird der Rückstrom durch Farbumschlag sichtbar. Das Auffinden der Perforansvenen wird erheblich erleichtert. Phlebographie Untersuchungstechnik: In eine Fußrückenvene wird jodhaltiges Kontrastmittel injiziert. Eine Staubinde oberhalb des Knöchels lässt das Kontrastmittel in das tiefe Venensystem abfließen. Der Röntgenkipptisch ist dabei auf 45° geneigt. Zur Darstellung der Beckenetage wird er zum Schluss horizontal gestellt. Thrombophlebitisrisiko 0,7%. Befunde: Darstellung des tiefen Venensystems, Erfassung von frischen und rekanalisierten Thromben, sekundärer Klappeninsuffizienz und Rethrombosen. Das oberflächliche Venensystem füllt sich nur bei Insuffizienz der Perforansklappen und bei Mündungsklappeninsuffizienz der V. saphena magna oder V. saphena parva.
1
54
1
Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
Indikationen: Zweifelhafte Befunde der Farbduplexsonographie und zum sicheren Ausschluss tiefer Venenverschlüsse vor der Operation einer primären Varikose.
Übersicht Venenerkrankungen Varikosen 4 primäre 4 sekundäre
Venenthrombosen 4 4 4 4
1.6.3
oberflächliche Thrombophlebitis Becken- und tiefe Beinvenenthrombosen postthrombotisches Syndrom tiefe Armvenenthrombosen
Varikosen
Definition. Varizen sind sackförmig oder zylindrisch erweiterte,
häufig gewundene oberflächliche Venen, deren Klappen nach Überschreitung eines kritischen Durchmessers insuffizient werden. Häufigster Sitz ist das oberflächliche Venensystem der Beine (V. saphena magna, V. saphena parva). Primäre Varikose Ursachen. Genetisch bedingte Anlage- bzw. Entwicklungs-
anomalie des oberflächlichen Venensystems. Erbliche Disposition in 75% der Fälle nachweisbar. Starke Zunahme der Erkrankungshäufigkeit mit dem Lebensalter. Begünstigende Faktoren: Stehen im Beruf, ungenügende körperliche Aktivität, Adipositas, Gravidität, Kontrazeptiva. Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Einteilung. Nach Lokalisation und Ausdehnung lassen sich folgende Typen
der Varikose unterscheiden (. Abb. 1.31): 4 Besenreiser: kutane Mikrovarizen (2,0. Solange wird die Heparintherapie überlappend fortgesetzt. 4 Dauer der Antikoagulation: Bei postoperativer und idiopathischer TVT 3–6 Monate, bei rezidivierender idiopathischer TVT minimal 12 Monate, nach kleiner Lungenembolie minimal 6 Monate, nach massiver Lungenembolie und bei hereditären Thrombophilien unbefristet. Thrombolyse: Mit Urokinase oder t-PA (rekombinanter Plasmi-
nogen Human-Aktivator). Indiziert bei Thrombusalter Depolarisation, langsame und schnelle Phase der Repolarisation ergeben zusammen das Aktionspotenzial.
[K+]
+
[K ]
K
A –90 mV
. Abb. 1.36. Ruhepotenzial der Herzmuskelfaser
Aktionspotenzial der Herzmuskelfaser Bei der Erregung kehren sich die Permeabilitätseigenschaften der Fasermembran für kurze Zeit um: Die Na+-Permeabilität erhöht sich, die K+-Permeabilität nimmt ab. Folge: Einwärtsdiffusion von Natriumionen, die auf der Innenseite nach Neutralisierung des Anionenüberschusses einen Überschuss positiver Ladung erzeugen, während die Außenseite elektronegativ wird. Diese Phase der Umkehr des Ruhepotenzials nennt man Depolarisation (. Abb. 1.37). . Abb. 1.37. Ionenströme während des Aktionspotenzials (Depolarisation und Repolarisation) der Herzmuskelfaser
Ruhepotenzial
In . Abb. 1.38 ist die Aufzeichnung des Aktionspotenzials der Einzelfaser dargestellt. Während der Erregungsausbreitung wird jede Einzelfaser an ihrer Außenfläche zu einem elektrischen Dipol: Negativer Pol auf der schon erregten, positiver Pol auf der noch unerregten Seite. Dieser Dipol stellt eine elektrische Spannungsquelle dar, die über 2 außen anliegende Elektroden mit einem Voltmeter gemessen werden kann. Ein positiver Ausschlag resultiert, wenn die Polung des Faserdipols mit der des Messgerätes übereinstimmt, ein negativer Ausschlag bei entgegengesetzter Polungsrichtung. Am Ende der Depolarisationsphase ist die gesamte Außenfläche negativ geladen und der Dipol verschwunden. Das Messgerät zeigt auf Null. In der Repolarisationsphase entsteht ein Faserdipol in umgekehrter Richtung mit negativem Ausschlag am Messgerät. (Im Experiment an der Einzelfaser beginnt die Repolarisation an der zuerst depolarisierten Stelle). Aktionspotenzial des Herzens Wie die Einzelfaser wird das ganze Herz während des Erregungsablaufes zu einem Dipol, der allerdings aus zahlreichen Einzel-
Depolarisation
Na+
außen Repolarisation Schnell langsam
Ca++
K+ innen
K+
Ruhepotenzial
1
68
Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
1 A Depolarisationswelle B
C Repolarisationswelle D 30 s . Abb. 1.38. Aktionspotenzial der Einzelfaser (nach Guyton): A = Depolarisationsphase, B = Zustand der Vollerregung (totale Depolarisation), C = Repolarisationsphase, D = Ruhepotenzial (totale Repolarisation)
dipolen zusammengesetzt ist. Seine Richtung und Größe ändern sich fortlaufend. In der EIektrokardiographie wird der Dipol als Vektor – in der Form eines Pfeiles – dargestellt. Es entsprechen: die Pfeilspitze dem positiven, das Pfeilende dem negativen Pol des Dipols, die Pfeilrichtung der Dipolachse und die Pfeillänge der Größe der Potenzialdifferenz des Dipols (. Abb. 1.39).
Die Erregung der Kammern beginnt auf der linken Seite des Septums, erfasst dann die subendokardialen Kammerabschnitte und dringt von dort zur Außenseite des Herzens vor. Die . Abb. 1.39a–d zeigt einige der nacheinander entstehenden Summationsvektoren, auch Momentanvektoren genannt, weil sie nur für einen Augenblick das elektrische Spannungsfeld des Herzens repräsentieren. Der größte Momentanvektor ist erreicht, wenn etwa die Hälfte des Kammermyokards erregt ist und negative und positive Ladungen einander die Waage halten. Er wird als elektrische Herzachse bezeichnet und zeigt die Hauptausbreitungsrichtung der Erregung an. Im Stadium der Vollerregung fehlen Potenzialdifferenz und Vektor. Es folgt die Erregungsrückbildung (Repolarisation), die von der Spitze zur Basis verläuft, so dass die Hauptvektoren von Depolarisation und Repolarisation die gleiche Richtung haben. EKG-Ableitungen Frontalebene Die Ableitungselektroden werden am linken Arm, am rechten Arm und am linken Bein angelegt. Die Ableitungsachsen entsprechen den Seiten des gleichseitigen Einthoven-Dreiecks mit dem Herzen im Mittelpunkt (. Abb. 1.40). An den Ecken dieses Dreiecks kommen die genannten Extremitäten mit dem elektrischen Spannungsfeld des Herzens in Berührung. Die Polung der Ableitungen ist aus der Abbildung ersichtlich: 4 Ableitung I: rechter Arm → linker Arm 4 Ableitung II: rechter Arm → linkes Bein 4 Ableitung III: linker Arm → linkes Bein. Jede Ableitung erfasst von einem Momentanvektor des Herzens nur den Teil, der sich senkrecht auf die Ableitungsachse projiziert (. Abb. 1.40a). Für die Projektion ist allein der Winkel zwischen
. Abb. 1.39a–f. Vektorielle Darstellung des Erregungsablaufes am Herzen (schraffierte Zonen elektronegativ): a–d Momentanvektoren der Depolarisation, e Stadium der Vollerregung (totale Depolarisation), f Momentanvektor der Repolarisation
a
b
e
f
c
d
1
69 1.8 · Grundlagen und Methoden der kardiologischen Diagnostik
. Abb. 1.40a, b. EKG-Ableitung in der Frontalebene: a Einthoven-Dreieck, b Axiales System der Standardableitungen
re. Arm
I
– –
–120°
li. Arm
–60°
–
+ –
– I +
180°
III
II
+ III + a
0°
+
li. Bein
Momentanvektor und Ableitungsachse maßgebend. Er ändert sich nicht, wenn man die Ableitungsachsen ohne Richtungsänderung bis zum Mittelpunkt des Dreiecks verschiebt (. Abb. 1.40b). Durch diese Umzeichnung erhält man eine axiale Anordnung der Ableitungen, in der jede Ableitung durch ihren Winkel mit der Horizontalachse gekennzeichnet ist. Aus der . Abb. 1.40b geht hervor, dass die Winkel oberhalb der Horizontalen im Gegenuhrzeigersinn von 0–180° gemessen werden und ein negatives Vorzeichen erhalten. Unterhalb der Horizontalen erfolgt die Winkelmessung im Uhrzeigersinn von 0–180° mit positivem Vorzeichen. Zeigt der projizierte Vektor auf den positiven Pol der Ableitungsachse gibt es im EKG einen nach oben gerichteten (positiven) Ausschlag, zeigt er zum negativen Pol, ist der Ausschlag im EKG nach unten gerichtet (negativ). Die bipolaren Einthoven-Ableitungen der Extremitäten werden durch die unipolaren Extremitätenableitungen nach Goldberger zu einem hexaxialen System erweitert. Bei den Goldberger-Ableitungen wird jeweils eine Extremität mit dem positiven Pol des Gerätes verbunden, während man die beiden anderen an den negativen Pol anschließt. Daraus ergeben sich Ableitungsachsen, die durch die Ecken und den Mittelpunkt des Einthoven-Dreiecks verlaufen und im hexaxialen System den Winkel zwischen 2 Standardableitungen teilen. Die GoldbergerAbleitungen haben folgende Bezeichnungen: 4 aVL: unipolare positive Elektrode am linken Arm 4 aVR: unipolare positive Elektrode am rechten Arm 4 aVF: unipolare positive Elektrode am linken Fuß. Das EKG-Bild der Goldbergerableitungen fügt sich hinsichtlich Höhe und Richtung der Ausschläge zwischen die Bilder der benachbarten Standardableitungen ein, mit Ausnahme von aVR, die in umgekehrter Richtung gepolt ist. Nach Umpolung zu -aVR, die in vielen EKG-Geräten möglich ist, ergibt sich ein Übergangsbild zwischen dem Bild von Ableitung I und II. Horizontalebene Der Erregungsablauf in der Horizontalebene wird durch die Brustwandableitungen (nach Wilson) erfasst. Die präkordiale
+ II +60°
+120° b
–––
+
V6
– +
+
V1
+ +
V2 V3
+
V5
V4
. Abb. 1.41. Ableitungsachsen des Brustwand-EKG
Tastelektrode (positiver Pol) wird an der Brustwand in den Positionen V1, V2, V3, V4, V5 und V6 angelegt (. Abb. 1.41). Die Gegenelektrode (Wilson-Zentral- oder Sammelelektrode) liegt im Schnittpunkt der Ableitungsachsen und wird durch Zusammenschluss der 3 Extremitätenableitungen über hochohmige Widerstände erhalten. Die EKG-Kurve zeigt einen positiven Ausschlag, wenn der auf die Ableitungsachse projizierte Vektor in Richtung auf die Tastelektrode verläuft, einen negativen Ausschlag bei umgekehrter Verlaufsrichtung. Grundform des Elektrokardiogramm Das Kurvenbild des normalen Erregungsablaufes ist in . Abb. 1.42 dargestellt. Vorhofteil: 4 P-Zacke: Depolarisationsphase beider Vorhöfe (Erregungs-
ausbreitung). Der vordere Anteil ist dem rechten, der hintere dem linken zuzuordnen. Doppelgipfligkeit kommt vor. Die Repolarisation der Vorhöfe ist im EKG nicht sichtbar. Dauer bis 0,1 s. 4 PQ-Strecke: Überleitungszeit vom Vorhof zur Kammer. Genauer: Zeit vom Beginn der Vorhoferregung bis zum Beginn der Kammererregung. Umfasst Überleitung vom Sinus-
70
1
Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
. Abb. 1.42. Grundform des EKG
Vorhofteil P-Welle
PQStrecke
Kammerteil QRSKomplex
ST-Strecke
T-Welle
UWelle
R ≤
0,10 s
T
P
U 0,1 s
Q
S QT - Dauer
PQ - Dauer 0,20 s
QU - Dauer
knoten zum AV-Knoten, vom AV-Knoten zum His-Bündel und von dort über beide Schenkel zu den Aufzweigungen der Purkinje-Fasern im Myokard. Dauer 0,12‒0,20 s. Kammerteil: 4 QRS-Komplex: Depolarisationsphase der Kammern (Erre-
4
4 4 4
4
gungsausbreitung). Dauert vom Beginn der Kammererregung bis zur Vollerregung beider Kammern. Normalwert bis 0,10. ST-Strecke: Stadium der Vollerregung (genauer: Stadium der langsamen Repolarisation mit negativer Ladung an der Oberfläche der Muskelfasern). Verläuft normalerweise in der isoelektrischen Linie. T-Zacke: Phase der schnellen Repolarisation (Erregungsrückbildung), Nachschwankung. Kammerendteil: ST-T Abschnitt, gesamte Repolarisationsphase. QT-Strecke: Entspricht der Gesamtdauer der Kammererregung (Depolarisation + Repolarisation). Normalwert stark frequenzabhängig (Normbereich für jede Frequenz aus Tabellen und Nomogrammen abzulesen). U-Zacke: Nachpotenzial (flach, häufig nicht erkennbar), das sich an die vollständige Repolarisation der Kammern anschließt und bereits in die Diastole fällt. Entstehung nicht sicher geklärt.
Lagetypen des EKG Das Kurvenbild in den Extremitätenableitungen des EKG (Frontalebene) hängt von dem Winkel (α) ab, den die elektrische Herz-
– –60°
+
– α
+ 120° III
0°
I
I
II
III 59°
. Abb. 1.43. Konstruktion der elektrischen Herzachse (aus Ableitung I und III: Winkel α 59°)
achse mit der Horizontalen bildet. Die elektrische Herzachse liegt in der Hauptausbreitungsrichtung der Kammererregung (größter in die Frontalebene projizierter Momentanvektor der Erregungsausbreitung) und entspricht (mit Ausnahme der überdrehten Lagetypen) etwa der Frontalprojektion der anatomischen Herzachse. Die Konstruktion der mittleren elektrischen Herzachse ist aus . Abb. 1.43 ersichtlich. In 2 Extremitätenableitungen werden vom Hauptausschlag der QRS-Gruppe die entgegengesetzten Ausschläge abgezogen. Dann trägt man die erhaltenen Partialvektoren auf der entsprechenden Ableitungsachse ab und errichtet an der Vektorspitze die Senkrechte. Die Verbindung vom Schnittpunkt der Senkrechten zum Nullpunkt ergibt die elektrische Herzachse.
71 1.8 · Grundlagen und Methoden der kardiologischen Diagnostik
. Abb. 1.44. Lagetypen des EKG (Extremitätenableitungen)
–120°
–90°
–60° –30°
–150°
0°
180°
30°
150° 120°
III
–120°
90° –90°
–60°
0°
180°
30°
150°
–120°
90° –90°
0° 30°
150°
–120°
–90°
0° 30°
150°
–120°
–90°
II III
Linkstyp: ORS-Vektor: +30 bis –30°. Höchste R-Zacke in I, überwiegende S-Zacke in III.
–60°
0°
180°
30°
150° 90°
I
II
–30°
III
Überdrehter Rechtstyp (nicht abgebildet): ORS-Vektor: +150 bis –150°. Höchste R-Zacke in III. Überwiegende S-Zacken in II und I. S II < S I,
60°
–150°
120°
III
Rechtstyp: ORS-Vektor: 90 bis 150°. Höchste R-Zacke in III, überwiegende S-Zacke in I.
–60°
180°
90°
II
II
–30°
III
I
60°
–150°
120°
III
–60°
180°
90°
II
Steiltyp: ORS-Vektor: 60 bis 90°. Höchste R-Zacke in II, kleinste R-Zacke in I. Grenzbereich: R II = R III, R I isoelektrisch.
II
–30°
III
I
60°
–150°
120°
III
II
–30°
III
II
Mitteltyp (Normaltyp): ORS-Vektor (elektr. Herzachse): 30 bis 60°. Höchste R-Zacke in II, kleinste R-Zacke in III. Grenzbereich: R I = R II, R III isoelektrisch.
60°
–150°
120°
I
60°
II
I II III
Überdrehter Linkstyp: ORS-Vektor: –30 bis 90°. Hohe R-Zacke in I, überwiegende S-Zacke in II und III. S II < S III.
1
72
1
Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
Die verschiedenen Lagetypen sind in . Abb. 1.44 zusammengestellt. Im Kindes- und Jugendalter überwiegt der Steiltyp, in den mittleren Jahren der Mittellagetyp, jenseits des 50. Lebensjahres der Linkstyp. Die T-Zacke ist im allgemeinen der Kammeranfangsschwankung gleichgerichtet (konkordant). Ausnahmen: In Ableitung I beim Rechtstyp, in Ableitung III beim Mitteltyp gelegentlich negativ. Normales Brustwand-EKG Das normale Brustwand-EKG hat bei allen Lagetypen des Extremitäten-EKG annähernd das gleiche Kurvenbild (. Abb. 1.45). Die Höhe der R-Zacken ist der unter den Ableitungsstellen vorhandenen Muskelmasse des Herzens proportional. Die Größe der R-Zacke nimmt von V1 bis V5 (manchmal nur bis V4) zu, in V6 ab. Die Ableitungspunkte V1 und V2 liegen über dem relativ muskelschwachen rechten Ventrikel, V3 im Grenzbereich, V4 an der Herzspitze, V5 und V6 an der Seitenwand des linken Ventrikels. Mit den hohen R-Zacken in den linkspräkordialen Ableitungen (V4–V6) korrespondieren tiefe S-Zacken in den rechtspräkordialen Ableitungen (V1 und V2), da der auf die seitlichen Ableitungen gerichtete positive Momentanvektor in den Ableitungen V1
V1
V2
und V2 in negativer Richtung (von der Brustwand weg) verläuft. Als Übergangszone bezeichnet man den Bereich des Überganges von dominierender S-Zacke zur dominierender R-Zacke (in . Abb. 1.45 zwischen V1 und V2). Bei Hypertrophie der rechten Kammer verschiebt sich die Übergangszone nach links (→ V4), bei Hypertrophie der linken Kammer nach rechts (→ V1, V2). EKG bei Hypertrophie der Vorhöfe Das EKG bei Vorhofhypertrophie ist in . Abb. 1.46. dargestellt: 4 P-dextrokardiale oder -pulmonale: Zeichen der Überlastung des rechten Vorhofes (Cor-pulmonale, Trikuspidalvitien, kongenitale Vitien mit Rechtsherzüberlastung). Es überwiegt der stärker nach rechts gedrehte Hauptvektor des rechten Vorhofes. Der Summationsvektor (elektrische Achse) der Vorhoferregung wird dadurch steiltypisch: PI flach, PII und PIII abnorm hoch, aber nicht über 0,10 s verbreitert, spitz und eingipfelig; in VI Anfangsteil deutlich positiv und zugespitzt (. Abb. 1.46b). 4 P-sinistrokardiale oder mitrale: Zeichen der Überlastung des linken Vorhofes (Mitralvitien, auch schwere Hypertonie und Aortenvitien). Es überwiegt der nach links gerichtete Vektor des linken Vorhofes. Der Summationsvektor dreht nach links, das Vorhof-EKG wird in seinem hinteren Abschnitt linkstypisch; wegen Verlängerung der Erregungsausbreitung wird die P-Zacke breiter als 0,10 s. PI und PII sind gekerbt oder doppelgipfelig, PIII ist biphasisch. P in V1 deutlich biphasisch mit breitem negativem hinteren Abschnitt (. Abb. 1.46c). 4 P-kardiale: Zeichen der Überlastung beider Vorhöfe (Vorhofseptumdefekt, rechts dekompensierte Mitral- und Aortenvitien). P-Zacke im vorderen Abschnitt rechtstypisch (in II und III und V1 deutlich positiv) im hinteren Abschnitt linkstypisch (in III und V1 negativ). In allen Ableitungen breiter als 0,10 s (. Abb. 1.46d).
V3
P
V4
P
P
P
b
c
d
I II V5
III V1
V6
. Abb. 1.45. Normales Brustwand-EKG
0,10 s a
. Abb. 1.46a–d. Vorhof-EKG: a normal, b P-destrokardiale, c P-sinsitrokardiale, d P-kardiale
73 1.8 · Grundlagen und Methoden der kardiologischen Diagnostik
Anmerkung: Die P-Zacke unterliegt starken Einflüssen des vege-
tativen Nervensystems: 4 Vagus-P: linkstypisch, flaches P in I und II, negatives P in III 4 Sympathikus-P: rechtstypisch, großes spitzes P in II und III, flaches P in I; tritt unter Belastung auf. Vagus- und Sympathikus-P sind reversibel und nicht pathologisch. EKG bei Hypertrophie der Kammern Man unterscheidet: 4 konzentrische Widerstandshypertrophie durch überwiegende Faserverdickung (z.B. Aortenstenose, Hypertonie) 4 exzentrische Volumenhypertrophie durch überwiegende Faserverlängerung (z.B. Aorteninsuffizienz, Vorhofseptumdefekt). Die Diagnose der Hypertrophie wird aus dem Brustwand-EKG gestellt: Größenzunahme der R-Zacke über dem hypertrophierten Ventrikel, Vertiefung der korrespondierenden S-Zacke auf der Gegenseite. Besonderheiten: 4 Widerstandshypertrophie: Depolarisation normal (QRS un-
ter 0,10 s), Repolarisation wegen systolischer Kompression der Kammerwand durch den erhöhten Innendruck verlangsamt (mit dem Schweregrad zunehmende Diskordanz des Kammerendteils zur Kammeranfangsschwankung). 4 Volumenhypertrophie: Depolarisation wegen verzögerter Erregungsausbreitung im dilatierten Ventrikel verlangsamt (QRS-Verbreitung auf 0,11–0,12 s), Repolarisation normal (Konkordanz von Kammeranfangsschwankung und Kammerendteil). Erst in fortgeschrittenen Stadien Diskordanz des Kammerendteils. Rechtshypertrophie Steil- oder Rechtstyp im Extremitäten-EKG. Überhöhtes R in V1, tiefes S in V5 (. Abb. 1.47). Sokolow-Index: R(V1)+S(V5) >1,05 mV.
Zusätzliche Besonderheiten: 4 Widerstandhypertrophie: QRS normal. In V1–V3 konvexe
ST-Senkung und biphasisches oder negatives T; das gleiche in III (. Abb. 1.47a). 4 Volumenhypertrophie: QRS gering verbreitert. In V1 zweite R-Zacke (Rc-Zacke). Isoelektrisches oder flach positives T in III und V1. Bei ausgeprägten Kammerendteilveränderungen spricht man von Rechtshypertrophie mit Rechtsschädigungszeichen (. Abb. 1.47b). Linkshypertrophie Linkstyp im Extremitäten-EKG (nicht obligatorisch) mit großer QRS-Amplitude; Überhöhtes R in V5 und V6, tiefes S in V1 und V2 (. Abb. 1.48). Sokolow-Index: S(V1)+(V5) >3,5 mV. Zusätzliche Besonderheiten: 4 Widerstandshypertrophie: QRS normal. In V4–V6 konvexe
ST-Senkung und biphasisches oder negatives T, das gleiche in I. ST-Hebung und positives T in III (. Abb. 1.48a). 4 Volumenhypertrophie: QR-Zeit in V5 und V6 verlängert (0,055 s). T in V5 und V6 positiv. Bei ausgeprägten Kammerendteilveränderungen spricht man von Linkshypertrophie mit Linksschädigungszeichen (. Abb. 1.48b). Anmerkung: Bei gleichzeitiger Hypertrophie beider Ventrikel ist das EKG häufig stumm, da sich die Veränderungen gegenseitig kompensieren.
EKG bei Innenschichtschaden Innenschichtschäden wirken sich nur auf den Kammerendteil des EKG (langsame und schnelle Repolarisationsphase) aus: Muldenförmige ST-Senkung, T-Abflachung oder negatives T. Ursache ist eine Erregungsabschwächung der Innenschicht, die im Stadium der Vollerregung (ST-Strecke) zu einer Potenzialdifferenz zwischen innen (geringe Elektronegativität) und außen (größere Elektronegativität) führt. Der ST-Vektor ist dem QRS-Vektor entgegengerichtet. Genese: Hypoxisch, toxisch, entzündlich.
V1
V1
V5
V5
a
b
. Abb. 1.47a, b. Kammer-EKG bei Rechtshypertrophie: a Widerstandshypertrophie, b Volumenhypertrophie
a
b
. Abb. 1.48a,b. Kammer-EKG bei Linkshypertrophie: a Widerstandshypertrophie, b Volumenhypertrophie
1
74
1
Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
I
I
II
II
III
III
V2 V2
V6
V6 a
b
c
a
b
. Abb. 1.49a–c. EKG bei Innenschichtschaden: a diffus, b rechtsventrikulär, c linksventrikulär
. Abb. 1.50a, b. EKG bei Außenschichtschäden: a frisches Stadium, b Folgestadium
Diffuser Innenschichtschaden (beide Ventrikel): Muldenför-
EKG (. Abb. 1.51a): ST-Senkung, T-Abflachung unter zunehmender Vergrößerung der U-Welle, schließlich TU-Verschmelzungswelle. Deutlichste Ausprägung in V5 und V6. QRS normal. Ventrikuläre Extrasystolen.
mige ST-Senkung und T-Abflachung in allen Ableitungen (. Abb. 1.49a). Rechtsventrikulärer Innenschichtschaden: Muldenförmige ST-
Senkung und T-Abflachung in II, III, V2–V4. Entgegengesetzte Veränderungen in I und V6 (. Abb. 1.49b). Linksventrikulärer Innenschichtschaden: Muldenförmige STSenkung und T-Abflachung in I, II, V5 und V6. Entgegengesetzte Veränderungen in III und V2 (. Abb. 1.49c).
EKG bei Außenschichtschaden Außenschichtschäden entstehen in der Regel diffus (Perikarditis). Frisches Stadium: ST-T Hebung in allen Ableitungen. Erregungsabschwächung außen. ST-Vektor hat die gleiche Richtung wie der QRS-Vektor. Erregungsausbreitung (QRS-Komplex) normal (. Abb. 1.50a). Folgestadium: Bei isoelektrischer ST-Strecke terminal negatives
T. Erregungsverlängerung der Außenschicht. Beginn der schnellen Repolarisationsphase innen, daher verläuft der T-Vektor zum QRS-Vektor entgegengesetzt (. Abb. 1.50b). EKG bei Elektrolytstörungen Hypokaliämie Bewirkt Erhöhung des Ruhepotenzials (Quotient Ka : Ki steigt). Schnelle Depolarisation aber verlangsamte Repolarisation.
Hyperkaliämie Bewirkt Verkleinerung des Ruhepotenzials, Verlangsamung der Depolarisation, Beschleunigung der Repolarisation. EKG (. Abb. 1.51b): Zuerst Vergrößerung der T-Zacke (Zeltform), Schwund der U-Welle, dann erhöhter ST-Abgang, P-Abflachung, QRS-Verbreiterung, T-Negativität, PQ-Verlängerung (AV-Block). Hypokalzämie Verlängert das Stadium der Vollerregung (ST-Strecke) durch Verzögerung der langsamen Phase der Repolarisation. EKG (. Abb. 1.52) Verlängerung der QT-Dauer durch lange ST-Strecke mit normaler T-Zacke. Die mechanische Systole (Ende beim 2. Herzton) kann hinter der elektrischen zurückbleiben (Hegglin-Syndrom). Hyperkalzämie Verkürzt das Stadium der Vollerregung durch Beschleunigung der langsamen Phase der Repolarisation. EKG (. Abb. 1.52): ST und folglich auch QT verkürzt; die T-Zacke geht unmittelbar aus dem abfallenden Schenkel der R-Zacke hervor. Belastungs-EKG (Ergometrie) Methode: Registrierung der Extremitäten- und Brustwandableitungen des EKG unter dosierter, stufenweise gesteigerter körper-
75 1.8 · Grundlagen und Methoden der kardiologischen Diagnostik
QT
Bradyarrhythmien und Pausen zur Dokumentation vor Schrittmacherimplantation.
QT
QU normal
normal
1.8.7
Invasive elektrophysiologische Untersuchungen
Methode: Einführung multipolarer Katheterelektroden in die
Herzhöhlen auf venösem oder arteriellem Weg zur Registrierung der elektrischen Aktivität der Vorhöfe und Kammern.
b
a
. Abb. 1.51a, b. EKG bei Kaliumveränderungen (obere Kurve normal, darunter zunehmende Schweregrade): a Hypokaliämie, b Hyperkaliämie
Anwendung: Differenzierung atrioventrikulärer Leitungsstörungen (His-Bündel-EKG). Lokalisierung von Reentrykreisen und ektopischen Reizbildungsherden bei supraventrikulären und ventrikulären Tachyarrhythmien zur Vorbereitung der Ablationstherapie. Therapiekontrolle mittels Elektrostimulation.
QT
1.8.8 normal
Hypokalzämie
Hyperkalzämie . Abb. 1.52. EKG bei Hypo- und Hyperkalzämie
licher Belastung am Fahrradergometer (im Sitzen oder Liegen). Durchführung in Gegenwart des Arztes. Diagnostische Bedeutung: Nachweis von myokardialen Isch-
ämiereaktionen, belastungsinduzierten Rhythmusstörungen, inadäquaten Frequenzsteigerungen (Störungen der Sinusknotenfunktion) und einer Belastungshypertonie. Zugleich wird die kardiopulmonale Belastbarkeit (Trainingszustand) erfasst. Indizien der Koronarinsuffizienz (7 dort). Langzeit-EKG Methode: EKG-Registrierung auf Band oder elektronischem
Speicher über 24 Stunden, gewöhnlich unter Alltagsbelastungen mit Anfertigung eines Protokolls durch den Patienten. Diagnostische Bedeutung: Nachweis intermittierender, ins-
besondere tachykarder Rhythmusstörungen als Erklärung für Schwindelanfälle und Herzsensationen. Erfassung von bedrohlichen ventrikulären Rhythmusstörungen. Effektivitätskontrolle jeder antiarrhythmischen Therapie. Erfassung intermittierender
Echokardiographie
Prinzip: Die Echokardiographie ist ein Verfahren zur Abbildung des Herzens und seiner Innenstrukturen durch reflektierten Ultraschall, mit dem auch Bewegungsabläufe an Herzklappen und Herzwand studiert werden können. Der zusätzliche Einsatz von Doppler- und Farbduplexfunktionen ermöglicht es, den Blutfluss im Herzen darzustellen und zu quantifizieren.
M-Mode-Echokardiographie Methode: Der Schallkopf wird im 3. oder 4. Interkostalraum links parasternal aufgesetzt. Er sendet einen dünnen Ultraschallstrahl aus, mit dem sich die Längsschnittebene des Herzens in verschiedenen Richtungen ausloten lässt (. Abb. 1.53a). Da sich das Herz ständig bewegt, tun es auch die in Lichtpunkte transformierten Echos, die in einem schmalen Bündel von seinen Grenzflächen zurückgeworfen werden. Am Bildschirm des Oszilloskops werden die Echos fortlaufend gegen die Zeit aufgezeichnet, so dass sie als Linien erscheinen, deren Abstände denen der Grenzfächen des Herzens entsprechen. Das so gewonnene M-Mode-Echokardiogramm (von motion) wird auf Papier ausgedruckt und erlaubt es, die Abstände der Grenzflächen während eines Herzzyklus mit hoher zeitlicher Auflösung zu messen. Zur Illustration sind in . Abb. 1.53b die M-Mode-Bilder von den 4 in . Abb. 1.53a eingezeichneten Schallstrahlpositionen wiedergegeben. Das mitlaufende EKG markiert die Herzzyklen (Ende der Diastole am Beginn von QRS). Auswertung: Gemessen werden folgende Standardparameter:
4 enddiastolischer und endsystolischer Durchmesser des linken Ventrikels 4 enddiastolischer Durchmesser des rechten Ventrikels 4 endsystolische und enddiastolische Wanddicke der linksventrikulären Hinterwand und des interventrikulären Septums
1
76
Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
1
Schallkopf Brustwand Sternum
ARV
IVS
RV
LV
PPM
AO
1 AMV PLV
LA 2
a
PMV 3 4
EKG
Brustwand ARV
RV
LS
AV AV
AMV PPM
LV PMV PLV
b
EN
AO
LA
PLA EP PER
Lunge 1
2
. Abb. 1.53a, b. M-Mode-Echokardiogramm. a Schallstrahlrichtungen, b M-Mode-Bild. In der spitzennahen Position (1) folgen aufeinander: Echos der Brustwand, Echos der Vorderwand des rechten Ventrikels (ARV), echofreie rechte Herzhöhle (RV), Echos der rechten (RS) und der linken Seite (LS) des interventrikulären Septum, echofreie linke Herzhöhle (LV), Echos des hinteren Papillarmuskels (PPM), der Hinterwand des linken Ventrikels (PLV), des Perikards (PER) und die intensiven Echos der Lunge. In der nächst höheren Position (2) kommen das Endokard (EN), die Sehnen-
3
4
fäden und das vordere (AMV) und hintere (PMV) Segel der Mitralklappe zur Darstellung. Die linke Herzhöhle hat hier ihren größten enddiastolischen Durchmesser. Weiter aufwärts, in Position (3), verschwindet das hintere Mitralsegel, während das vordere noch gut abgebildet ist. Hinten erscheint die Hinterwand des linken Vorhofes (PLA). In der höchsten Position (4) passiert der Schallstrahl die Aortenwurzel mit den Aortenklappen (AV) und der Vorder- und Hinterwand der Aorta (Ao). Die Aortenhinterwand fällt mit der Vorderwand des linken Vorhofes (LA) zusammen
77 1.8 · Grundlagen und Methoden der kardiologischen Diagnostik
4 enddsystolischer Durchmesser des linken Vorhofs 4 enddiastolischer Durchmesser der Aortenwurzel. Berechnet werden:
4 Fractional shorting (FS): Prozentuale Verkürzung des linksventrikulären enddiastolischen Durchmessers in der Systole 4 linksventrikuläre (enddiastolische und endsystolische) Volumina zur Bestimmung der Ejektionsfraktion.
AO PA
Qualitativ beurteilt werden:
4 Mitralklappe 4 Aortenklappe 4 Kontraktilität von Septum und linksventrikulärer Hinterwand.
Kurzachsenebene LA
RA RV
LV
Zweidimensionale (2-D-)Echokardiographie Methode: Mit dem B-Mode werden Schnittbilder des Herzens gewonnen. Standardebenen (. Abb. 1.54):
4 Längsachsenebene (in der Längsachse des Herzens, senkrecht zur Körperoberfläche) 4 Kurzachsenebene (senkrecht zur Längsachsenebene und zur Körperoberfläche) 4 Vierkammerebene (parallel zur Körperoberfläche).
Vierkammerblickebene
Längsachsenebene
. Abb. 1.54. 2-D-Ebenen (AO = Aorta, PA = Pulmonalarterie, RA/LA = rechtes/linkes Atrium, RV/LV = rechter/linker Ventrikel)
Schallkopfpositionen (. Abb. 1.55) und Schnittbilder (. Abb. 1.56):
4 links parasternal in der Längsachse zur Abbildung der Längsschnittebene (. Abb. 1.56a) 4 links parasternal um 90° im Uhrzeigersinn in die kurze Achse gedreht für die Abbildung der Aortenklappenebene (. Abb. 1.56b) 4 apikal oder subkostal für den 4-Kammerblick (. Abb. 1.56c). Einen Zweikammerblick mit der linksventrikulären Ausflussbahn (sog. Dreikammerblick) erhält man von apikal durch Drehung des Schallkopfs um 90° im Gegenuhrzeigersinn. Durch Schwenken des Schallkopfs in der Kurzachsenebene können Mitralklappenebene, Papillarmuskelebene und Apexebene dargestellt werden, mit einem suprasternal aufgesetzten Schallkopf Aorta und A. pulmonalis in 2 Ebenen. Die . Abb. 1.57 zeigt 4 Originalbilder von der 2-D-Echokardiographie eines Herzgesunden. Auswertung:
Zu messen bzw. zu beurteilen sind: 4 Dimensionen: Form, Größe und Volumina der Herzhöhlen (Ejektionsfraktion), Wanddicke der Kammern, Echogenität des Endokards. 4 Funktionen: Globale und regionale Kontraktilität, Akinesie, Dyskinesie. 4 Strukturveränderungen: Intrakardiale Thromben und Tumoren, Perikardergüsse, Zysten, Veränderungen der Morphologie und Beweglichkeit der Herzklappen.
. Abb. 1.55. Schallkopfpositionen bei der 2-D-Echokardiographie
Dreidimensionale (3-D-)Echokardiographie Methode: Die Technik befindet sich noch in der Entwicklung.
Nach zwei Prinzipien werden dreidimensionale Daten gesammelt. Bei einem Vorgehen wird zunächst eine Serie von zwei-
1
78
Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
1 RV
RV
RV
LV LA
LV
r
AO
PA
RA LA
a
b
RA
LA
c
. Abb. 1.56a–c. Schnittbilder: a Längsschnittebene, b Aortenklappenebene, c 4-Kammerblick (LV/RV = linker/rechter Ventrikel, LA/RA = linker/ rechter Vorhof, PA = Pulmonalarterie, r = rechtskoronare Aortenklappen-
tasche. l = linkskoronare Aortenklappentasche, a = akoronare Aortenklappentasche)
. Abb. 1.57. Transthorakale Echokardiographie eines Herzgesunden. Oben: links: parasternaler Längsachsenschnitt; rechts: parasternaler Querachsenschnitt in Höhe der Papillarmuskeln. Unten: links: apikaler 4-Kammerblick; rechts: apikaler 4-Kammerblick mit Farbdoppler (rot: Blutfluss zum Schallkopf hin, blau: Blutfluss vom Schallkopf weg).
(LV/RV = linker/rechter Ventrikel, LA/RA = linker/rechter Vorhof, IVS = interventrikuläres Septum, IAS = interatriales Septum, PW = Posterolateralwand, AO = Aorta, AK = Aortenklappe, MK = Mitralklappe, PM = Papillarmuskel)
79 1.8 · Grundlagen und Methoden der kardiologischen Diagnostik
transösophageale Echokardiographie wird auch zur Überwachung der Ventrikel- und Herzklappenfunktion bei Herzoperationen und beim katheterinterventionellen Verschluss eines persistierenden Foramen ovale (PFO) und eines Atriumseptumdefektes (ASD) eingesetzt. Kontrastechokardiographie Rechtes Herz: 2-D-Echokardiographie nach intravenöser Injektion eines Kontrastmittels (Echovist), das nicht die Lunge passiert. Indikationen: ASD, Ventrikelseptumdefekt (VSD), komplexe angeborene Vitien, Trikuspidal- und Pulonalklappeninsuffizienz (bessere Darstellung durch Signalverstärkung).
. Abb. 1.58. Transösophageale Echokardiographie eines Herzgesunden (LA = linkes Atrium, LV/RV = linker/rechter Ventrikel, MK = Mitralklappe, AK = Aortenklappe)
dimensionalen Bildern gesammelt, deren räumliche Position bekannt ist. Danach erfolgt eine dreidimensionale Rekonstruktion. Das neuere Verfahren verwendet Schallköpfe mit rechtwinkliger Anordnung der Kristalle, die direkt einen dreidimensionalen Scan liefern. Anwendung: Aus dem dreidimensionalen Datenset können gewünschte zweidimensionale Ebenen abgebildet werden. An Strukturen, z.B. Herzklappen, ergeben die summierten zweidimensionalen Ebenen pseudodimensionale Bilder, an denen endokarditische Läsionen genauer zu identifizieren sind.
Transösophageale Echokardiographie (TEE) Methode: Eine schallkopftragende Sonde (2-D-Tranducer, auch mit Dopplerfunktionen) wird nach Lokalanästhesie der Rachenwand (mit Spray) in den Ösophagus eingeführt. Die Platzierung des Schallkopfes erfolgt im oberen und mittleren Ösophagus sowie am Mageneingang (transgastrische Bilder). Es lassen sich horizontale und longitudinale Schnittbilder in verschiedenen Ebenen gewinnen. Die Nähe zu den Herzstrukturen erlaubt die Verwendung hochfrequenter Schallköpfe (5–10 MHz) mit besserer Ortsauflösung als bei der transthorakalen Echokardiographie. Die . Abb. 1.58 zeigt das transösophageale Echo eines Gesunden. Man blickt auf die Herzhöhlen von hinten. Anwendung: Die Methode liefert optimale Echoaufnahmen der Vorhöfe, Vorhofohren und der Herzklappen bzw. Herzklappenprothesen. Man erkennt Vorhofthromben, Vorhoftumoren, Vorhofseptumdefekte und Vegetationen auf den Herzklappen bei Endokarditis. Klappenprothesen können beurteilt und Aortendissektionen erkannt werden. Die tieferen Horizontal- und Längsschnitte erlauben eine Beurteilung der Herzkammern, wenn die transthorakale Echokardiographie nicht gelingt. Die
Linkes Herz: 2-D-Echokardiographie nach intravenöser Injektion eines lungengängigen Kontrastmittels (Levovist, Optison, Sonovue). Indikationen: Verstärkung von Dopplersignalen im linken Ventrikel, Verbesserung der LV-Konturerkennung.
Doppler-Echokardiographie Methode: Kombination von zweidimensionaler Echokardiographie und Dopplersonographie, die ein nichtinvasives Studium der Hämodynamik des Herzens ermöglicht: 4 Farbdoppler: Bei apikaler Position des Schallkopfes stellt sich in der Diastole das durch die AV-Klappen strömende Blut als rote Farbwolke dar, im linken Ventrikel wegen hoher Flussgeschwindigkeit mit zentralem Aliasing (Farbumschlag in orangegelb bis türkisblau). Mit der Vorhofkontraktion folgt ein zweiter Schub der Ventrikelfüllung. In der Systole zeigt sich im linksventrikulären Ausflusstrakt (LVOT) ein blau kodierter Fluss in Richtung Aortenklappe und im linken Vorhof eine rote Farbwolke durch den Bluteinstrom aus den Lungenvenen (. Abb. 1.57). 4 PW-Doppler: Dient zur Messung der Flussgeschwindigkeit des Blutes (nicht des Volumenflusses) in wählbaren Tiefenbereichen. Das Sample-Volumen wird im 2-D-Echokardiogramm an gewünschter Stelle positioniert. Eine Limitierung besteht bezüglich der Eindringtiefe und der Erfassung hoher Flussgeschwindigkeiten, da diese ein Alaising hervorrufen. 4 CW-Doppler: Dient zur Messung unbegrenzter und damit maximaler Flussgeschwindigkeiten entlang des Schallstrahles, der im B-Bild ausgerichtet wird. Tiefenselektive Messungen der Flussgeschwindigkeit sind nicht möglich. 4 Tissue-Doppler (Gewebedoppler): Durch Veränderung der Amplituden- und Geschwindigkeitsfilter der Dopplergeräte wurde es möglich, Richtung und Geschwindigkeiten der Wandbewegungen des Herzens, insbesondere des linken Ventrikels zu registrieren. Anwendungen: Der Farbdoppler gibt eine schnelle und relativ
umfassende Information über Blutströmungsrichtung, ungefähre Blutflußgeschwindigkeit sowie Lokalisation und Ausdehnung von Turbulenzen, die am Alaising-Phänomen zu erkennen sind.
1
80
1
Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
. Abb. 1.59. Gewebedoppleruntersuchung eines Herzgesunden mit synchroner systolischer (S) und diastolischer (E, A) Bewegung der basalen septalen (gelb) u. der basalen lateralen (rot) linksventrikulären Wand mit normalen Wandbewegungsgeschwindigkeiten
Halbquantitativ zu erfassen sind z.B. der systolische Reflux bei der Mitralinsuffizienz und der diastolische Reflux bei der Aorteninsuffizienz. Bei der Mitralstenose und der Aortenstenose stellen sich die Stenosejets als Turbulenzen dar. Zur quantitativen Messung der Flussgeschwindigkeiten ist die gezielte Zuschaltung des PW- bzw. CW-Dopplers unverzichtbar. Der PW-Doppler erfasst die Richtung und Geschwindigkeit des Blutflusses an den Herzklappen und an umschriebenen Positionen in Vorhöfen und Kammern. Er dient zur Bestimmung der diastolischen Funktion der Ventrikel (. Abb. 1.8). Mit großer Empfindlichkeit weist er den retrograden Fluss an insuffizienten und die Flussbeschleunigung an stenosierten Klappen nach. Durch ein Mapping mit vielen Messpunkte im linken Vorhof lässt sich die Ausdehnung des Regurgitationsjets bei der Mitralinsuffizienz bestimmen. Analoges gilt für die Aorteninsuffizienz. Mit der gepulsten Dopplertechnik können aber nicht die maximalen Flussgeschwindigkeiten gemessen werden. Mit dem CW-Doppler gelingt die Messung der maximalen Flussgeschindigkeit, wobei Fluss- und Dopplerrichtung weitgehend übereinstimmen müssen. Aus der Vmax lassen sich die Druckgradienten an den Herzklappen berechnen und damit z.B. die Schweregrade der Aortenstenose und der Mitralstenose bestimmen. Bei der Aortenstenose kann man aus der Vmax vor der Stenose (mit dem PW-Doppler gemessen) und der Vmax in der Stenose (mit dem CW-Doppler) die Öffnungsfläche errechnen. Geschwindigkeitsmessung und Bestimmung der Querschnittsfläche an den Herzklappen ermöglichen die Berechnung des Herzminutenvolumens. Sehr hilfreich ist die Dopplertechnik für den nichtinvasiven Shuntnachweis auf Vorhof- und Kammerebene. Mit dem Tissue-Doppler lassen sich Störungen der diastolischen Funktion des linken Ventrikels erfassen und regionale Störungen der Wandbeweglichkeit (. Abb. 1.59).
Stressechokardiographie Methode: Echokardiographische Untersuchung der Wandbewegung der Herzkammern unter Belastung zur Erfassung regionaler ischämischer Kontraktionsstörungen. Belastungsarten: Aktive Belastung am Fahrradergometer im
Liegen. Passive Belastung durch die Pharmaka Dobutamin (Sympathikomimetikum) oder Dipyridamol (Vasodilatator, der über einen Steal-Effekt Ischämien provoziert). Am Fahrradergometer und unter pharmakologischem Stress wird während der Belastung geschallt. Letztere Methode wird angewandt, wenn eine Maximalbelastung am Fahrrad wegen Muskelschwäche oder Gliedmaßenproblemen nicht möglich erscheint. Durchführung: In Ruhe, während stufenweise gesteigerter Belastung und am Belastungsende wird in 3–5 Schnittebenen (Vierkammerblick, Zweikammerblick, apikaler Dreikammerblick, parasternale Längsachse, parasternale kurze Achse) je ein Herzzyklus im Echokardiographen festgehalten und auf dem Auswertungscomputer zur Speicherung übertragen. Auswertung: Von jeder Schnittebene gibt der Computer bei der
sog. Quad-Screen-Darstellung 4 synchronisierte Bewegungsbilder der gespeicherten Herzzyklen nebeneinander wieder (Ruhe, 2 Belastungsstufen und Belastungsende). Verglichen werden visuell die Wandbewegungen in den basalen, mittleren und apikalen Segmenten der Ventrikelwand und folgenden Kategorien zugewiesen: Normokinesie, Hypokinesie, Akinesie und Dyskinesie. Beurteilt wird auch die Wanddickenzunahme.
81 1.8 · Grundlagen und Methoden der kardiologischen Diagnostik
Beurteilung: Der Nachweis einer Belastungsischämie gelingt
früher als mit dem Belastungs-EKG. Aus der Lokalisation der Wandbewegungsstörung lässt sich zuverlässig auf das betroffene Koronargefäß schließen. Narben bleiben akinetisch, Aneurysmen dyskinetisch, noch vitale Myokardsegemente, die sich in Ruhe schlecht kontrahieren zeigen unter niedrig dosiertem Dobutaminstress noch eine kontraktile Reserve. 1.8.9
Nuklearmedizinische Methoden
Myokardszintigraphie Definition. Abbildung des Myokards mit Radioisotopen, die nach intravenöser Applikation im Herzmuskel reversibel gespeichert werden. Die Bildgewinnung erfolgt meistens mit SPECTTechnik (single-photon emission computed tomographie). Thalliumszintigraphie 201 Thallium wird als ein kaliumanaloges Kation über das Natrium-Kalium-ATPase-System aktiv von den Herzmuskelzellen aufgenommen (Extraktionsrate 85% bei einem Transit durch den Koronarkreislauf). Seine Anreicherung im Herzmuskel ist (a) vom koronaren Blutfluss, (b) von der ATPase-Aktivität und damit von der metabolischen Integrität der Herzmuskelzellen abhängig. Etwa 30 Minuten nach der Lokalisation im Herzmuskel beginnt die Rückverteilung des 201Thallium in den Körper (physikalische Halbwertszeit 74 Std.). Herzinfarkte führen zu persistierenden regionalen Speicherdefekten im Ruheszintigramm, Koronarstenosen zu Speicherdefekten im Belastungsszintigramm, die 2‒4 Stunden nach der Belastung wieder verschwinden, da sich in dieser Zeit auch im ischämischen Myokard 201 Thallium anreichert. Man injiziert das Isotop auf dem Höhepunkt der Belastung. Die Aktivität über dem linken Ventrikel wird innerhalb von 5 Minuten nach der Injektion und 3–4 Stunden nach der Belastung gemessen. Die Treffsicherheit der Thalliumbelastungsszintigraphie bei Patienten mit Koronarinsuffizienz beträgt 87% (71–93%). Infarktnachweis (Gold-SpotScanning) innerhalb 24 Stunden möglich. Die Myokardszintigraphie wird auch mit verschiedenen 99m Tc-markierten Substanzen durchgeführt. Gebräuchlich ist 99m Tc-MIBI (Methoxy-Isobutyl-Isonitril). Es lagert sich als lipophile Substanz durch Diffusion in Muskelzellen ein. Die regionale Verteilung im Myokard entspricht immer der aktuellen Perfusion während der Injektion. Der Radiotracer wird nur in der Ischämiediagnostik eingesetzt. Für die Bildgebung besitzt er günstigere physikalische Eigenschaften. Infarktszintigraphie mit 99mTc-Pyrophosphat (Hot Spot Scanning) Selektive Ansammlung des Tracers im infarzierten Myokard 60–90 Minuten nach intravenöser Injektion, allerdings erst 12 Stunden nach Infarkteintritt, wahrscheinlich durch Bildung von Calciumpräzipitaten in geschädigten Mitochondrien. Optimale
Abbildung bei einem Infarktalter von 24–96 Stunden. Treffsicherheit 86%. Radionuklid-Ventrikulographie Methode: Die Binnenräume des Herzens werden nach Markierung der Erythrozyten mit 99mTc mit einer Szintillationskamera (Ein- oder Vielkristallsystem) in schneller Bildfolge aufgenommen. Die Datenerfassung und -verarbeitung erfolgt durch einen Computer. Es wurden 2 Verfahren entwickelt, die im Wesentlichen gleiche Informationen liefern. Die Markierung der Erythrozyten erfolgt in vivo. Zunächst wird eine reduzierende Substanz (Zinn-Pyrophosphat) injiziert, 15–30 Minuten später 99m Tc-Pertechnetat. 4 First-Transit-Ventrikulographie: Gewinnung von Sequenzbildern während der ersten Herzpassage der als Bolus injizierten markierten Erythrozyten. Dabei zeitlich getrennte Darstellung des rechten und linken Ventrikels ohne Überlappung mit der Möglichkeit, für jeden Ventrikel die Ejektionsfraktion (EF) zu bestimmen und die regionalen Wandbewegungen beider Ventrikel zu messen. Nachweis eines LinksRechts-Shunts: Die Transitkurve eines ausgeblendeten Lungenfeldes fällt im absteigenden Schenkel unvollständig ab, da der Tracer rezirkuliert. Nachweis eines Rechts-Links-Shunts: Verfrühtes Erscheinen der Aktivität in der Aorta. Die ZeitAktivitäts-Kurve der linken Kammer gibt Aufschluss über die systolischen und diastolischen Zeitintervalle, über Füllung und Entleerung sowie Volumen und Ejektionsfraktion der linken Kammer. 4 Ventrikulographie nach intravasaler Gleichverteilung des Indikators (equilibrium blood pool imaging): Beginn der Messungen nachdem sich die markierten Erythroyten gleichmäßig in der Blutbahn verteilt haben. Dadurch schwächere Aktivität über dem Herzen als bei der First-Transit-Methode (1:200) und gleichzeitige Markierung beider Vorhöfe und Kammern, die besondere Projektionen zur getrennten Untersuchung des rechten und linken Ventrikel erfordern. Die Tracerverdünnung wird ausgeglichen, indem man bis zu 400 Einzelzyklen im Computer speichert, der sie zu einem repräsentativen Zyklus addiert. Man gewinnt Zeit-AktivitätsKurven, aus denen die Ejektionsfraktion genau berechnet werden kann, ferner Bilder der Herzkammern in allen Phasen des Zyklus, die eine globale und regionale Messung der Wandbewegungen erlauben. Die Messungen lassen sich ohne erneute Tracergabe innerhalb der physikalischen Halbwertszeit des 99mTc (6 Std.) beliebig oft wiederholen, so dass Untersuchungen unter körperlicher Belastung möglich sind. Eine First-Transit-Ventrikulographie kann vorgeschaltet werden. Sie erfasst den rechten Ventrikel besser. Diagnostische Bedeutung: Genaueste Methode zur Bestimmung
der Ejektionsfraktion und der Herzvolumina. Letztere sind durch Bezug auf die Strahlung einer entnommenen Blutprobe zu ermitteln. Die Ejektionsfraktion lässt sich anhand der Zeitaktivi-
1
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1
Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
tätskurve über der untersuchten Kammer bestimmen. Die Ejektionsfraktion gibt Aufschluss über den Schweregrad einer muskulären Herzinsuffizienz. Bei koronarer Herzkrankheit sind Abnahme der Ejektionsfraktion während ergometrischer Belastung und Störungen der regionalen Wandbewegung (Dyskinesie, Akinesie, Aneurysmen) zu erfassen. Beim Cor pulmonale ist die Ejektionsfraktion des rechten Ventrikels herabgesetzt, in manchen Fällen auch des linken. Klappeninsuffizienzen sind anhand der Differenz der Schlagvolumina beider Ventrikel zu quantifizieren (deutliches Überwiegen des linksventrikulären Schlagvolumens bei Aorten- und Mitralinsuffizienz). Bei Herzklappenfehlern ist die Bestimmung der effektiven LV-Ejektionsfraktion wichtig. Sie ergibt sich aus der Differenz zwischen der EF in Ruhe und der EF bei submaximaler ergometrischer Belastung. Normalwerte: Anstieg der EF um 5–10%. Darunter liegende Werte zeigen eine beginnende Erschöpfung der myokardialen Adaptation an Druck- und Volumenbelastung an. Positronen-Emissions-Tomographie (PET) Methode: Der Herzmuskel wird mit natürlichen Substanzen des Stoffwechels perfundiert, die mit Positronen-emittierenden Isotopen, z.B. 11C, 15O, 18F markiert wurden. Das Verfahren dient dazu, den Stoffwechsel und die regionale Durchblutung des Herzmukels zu bestimmen und vitales von abgestorbenem Gewebe zu unterscheiden. Die meisten Tracer werden im Zyklotron durch Beschuss der Atome mit Protonen erzeugt. Das vom Atomkern aufgenommene Proton strahlt mit kurzer Halbwertszeit ein Positron ab und geht dabei in ein Neutron über. Im Gewebe stößt das Positron nach wenigen Millimetern auf ein freies Elektron, das die gleiche Masse, aber eine negative Ladung besitzt. Beide vereinigen sich zum Positronium, dessen Masse sich sofort in Energie verwandelt und zwar in zwei Photonen (Gammastrahlung), die in genau entgegengesetzter Richtung abgestrahlt werden. Die Detektoren zu ihrer Messung sind im Messgerät kreisförmig dicht nebeneinander angeordnet, so dass jedes Protonenpaar von einem Detektorenpaar aufgefangen wird, das sich genau gegenüberliegt. Aus dem Zeitabstand mit dem die Photonen eintreffen, lässt sich ihr Ausgangspunkt bestimmen. Alle aus einer Gewebsschicht eintreffenden Strahlenimpulse werden zu einer computertomographischen Darstellung verarbeitet. Diagnostische Anwendung: In der Kardiologie wird mit der PET am häufigsten der Glukosestoffwechsel des Myokards untersucht. Dazu injiziert man Desoxyglukose, die mit 18F markiert ist. Fluordesoxyglukose wird von stoffwechselaktiven Zellen als FDG-6-Phosphat aufgenommen, aber nicht weiter metabolisiert und deshalb angreichert. Ein positiver Speicherungstest zeigt lebensfähiges Myokard an, auch wenn es sich nicht mehr kontrahiert (hibernating und stunned myocardium). Die für die Indikationsstellung zur Revaskularisierung nach Infarkt wichtige Vitalitätsprüfung gelingt mittels PET am zuverlässigsten. Wegen hoher Kosten leider selten verfügbar.
1.8.10
Herzkatherisierung und Angiokardiographie
Diagnostische Indikationen Angeborene und erworbene Vitien: Sicherung der Diagnose und Bestimmung des für die Operationsindikation maßgeblichen Schweregrades. Gelingt nicht selten allein durch die Echokardiographie. Koronare Herzkrankheit: Feststellung der genauen anatomischen Ausdehnung, Indikationsstellung zur Bypass-Operation. Ausschluss einer koronaren Herzkrankheit vor Herzklappenoperationen und bei unklaren präkordialen Beschwerden. Nachweis von Restenosen nach Revaskularisierung. Kongestive Kardiomyopathie: Ausschluss einer koronaren Herzkrankheit, evtl. Klärung der Ursache durch Myokardbiopsie. Pulmonale Hypertonie: Nachweis und Bestimmung des Schwe-
regrades, Klärung der Ursache (primäre Form, rezidivierende Lungenembolien, Mitralstenose, Links-Rechts-Shunt). Intensivmedizin: Kontrolle der Herzfunktion durch laufende intrakardiale oder intrapulmonale Druckmessung bei Schockzuständen und Herzinsuffizienz. Herzrhythmusstörungen: His-Bündel-EKG, diagnostische Elektrostimulation (7 Kap. 1.10).
Therapeutische Indikationen Darstellung der Eingriffe und Methoden bei den einzelnen Erkrankungen. Messgrößen Diagnostische Informationen erhält man durch die Bestimmung nachstehender Parameter. Druckmessung: Gemessen wird intrakardial und intravaskulär. Erfasst werden Druckgradienten über stenosierten Klappen, typische Vorhofdruckkurven bei Klappeninsuffizienz sowie intraventrikuläre Drucksteigerungen bei Myokardinsuffizienz, Hypertrophie mit herabgesetzter Compliance, Myokardischämie und konstriktiver Perikarditis. Die . Tab. 1.6 zeigt die Normalwerte im Bereich des Herzens. Bestimmung des Herzminutenvolumens (HMV): Erfasst werden
die Förderleistung des Herzens in Ruhe und unter Belastung, das Vorwärts- und das Regurgitationsvolumen bei Klappeninsuffizienzen sowie die durch Shunts fließenden Blutmengen. Das Herzminutenvolumen lässt sich nach dem Fick-Prinzip aus der 02-Aufnahme der Lunge und der arteriovenösen Differenz des 02-Gehaltes des Blutes berechnen. Wenn das venöse Blut mit einem 02-Gehalt von 160 ml/l in die Lunge fließt und das arterielle
83 1.8 · Grundlagen und Methoden der kardiologischen Diagnostik
. Tabelle 1.6. Normale Druckwerte im Herz, A. pulmonalis und Lungenkapillaren
Herzbereich
Druck in mmHg
Rechter Vorhof (mittel)
3
Rechter Ventrikel (systolisch/enddiastolisch)
25/4
A. pulmonalis (systolisch/diastolisch/mittel)
25/9/15
Lungenkapillaren (mittel)
9
Linker Vorhof (mittel)
8
Linker Ventrikel (systolisch/enddiastolisch)
130/8
Aorta aszendens (systolisch/diastolisch/mittel)
130/70/85
Blut 200 ml 02/l enthält, nimmt jeder Liter Blut in der Lunge 40 ml/02 auf. Das ergibt bei einer 02-Absorption der Lunge von 200 ml/min einen Durchfluss von 5 l Blut/min, was einem normalen Herzminutenvolumen entspricht. Das HMV kann auch mit der Farbstoffverdünnungsmethode (Cardiogreen) oder mit der Thermodilutionsmethode (Injektion kalter Kochsalzlösung) bestimmt werden. Bei diesen Verfahren erfolgt die Berechnung des Blutflusses aus der Transportzeit für eine bestimmte Indikatormenge und der mittleren Indikatorkonzentration am distalen Messpunkt. Aus den Minutenvolumina und Drücken können die Gesamtwiderstände im großen und kleinen Kreislauf sowie die Offnungsflächen stenosierter Herzklappen berechnet werden. Angiographie Darstellung der Herzinnenräume, herznahen Gefäße und Koronararterien mit Röntgenkontrastmittel. Die Kontrastmittelinjektion erfolgt mit einem Druckinjektor oder manuell. Dabei wird das Durchleuchtungsbild des Bildverstärkers durch eine Filmkamera aufgenommen (Cineangiographie). Katheterisierung des rechten Herzens Am einfachsten mit dem Swan-Ganz-Balloneinschwemmkatheter. Dieser wird perkutan in eine Vene der Ellenbeuge eingeführt, nach dem Eintritt in das Herz an seinem Ende aufgeblasen und unter fortlaufender Druck- und EKG-Kontrolle bis in die Lungenarterienperipherie vorgeschoben. Dort verschließt der Ballon am Katheterende einen peripheren Lungenarterienast, so dass es zwischen Katheteröffnung und Lungenkapillaren zum Druckausgleich kommt. In dieser Position wird der Kapillarverschlussdruck (PCP) gemessen, der dem Lungenkapillardruck gleichzusetzen ist. Während der Sondierung werden die Drücke im rechten Vorhof, in der rechten Kammer, der Pulmonalarterie und in der PCP-Stellung (pulmonary wedge pressure) gemessen. Aus der Pulmonalarterie wird gemischtvenöses Blut zur Bestimmung des 02-Gehaltes (für die Messung des Minutenvolumens nach dem Fick-Prinzip) entnommen. Falls keine Mitralstenose vor-
liegt, entspricht der Mitteldruck im Pulmonalkapillarsystem (PCPm) dem Mitteldruck im linken Vorhof (LAPm) und dem enddiastolischen Druck im linken Ventrikel (LVEDP). Wenn der pulmonale Gefäßwiderstand nicht erhöht ist, hat der diastolische Pulmonalarteriendruck (PAPd) die gleiche Höhe. Die Rechtsherzeinschwemmkatheteruntersuchung gibt deshalb auch über die Funktion des linken Ventrikels Aufschluss. Die Messungen werden in Ruhe und unter dosierter Belastung mit dem Fahrradergometer durchgeführt. Je nach Schweregrad sind bei der Herzinsuffizienz die PCP-Drücke schon in Ruhe oder erst bei Belastung erhöht. Auch bei der Koronarinsuffizienz kommt es unter der Belastung zum Anstieg des PCPm. Als Insuffizienzsymptom kann das Herzminutenvolumen schon in Ruhe herabgesetzt sein oder erst unter Ergometerbelastung inadäquat werden. Zur Angiographie wird ein halbsteifer Rechtsherzkatheter durch die V. femoralis (perkutan mit Seldinger-Technik) unter Röntgenkontrolle in das rechte Herz und die A. pulmonalis vorgeschoben. Auf der rechten Herzseite lassen sich kongenitale Vitien (Ebstein-Syndrom, Pulmonalstenose, Fallot-Tetralogie) und Trikuspidalklappenfehler nachweisen, mittels Angiographie der A. pulmonalis Lungenembolien, abnorme Pulmonalvenenmündungen sowie Thromben und Tumoren im linken Vorhof. Katheterisierung des linken Herzens Bevorzugt auf retrogradem Weg mit einem perkutan (SeldingerTechnik) in die A. femoralis eingeführten Katheter, der durch die Aorta und das Aortenostium in den linken Ventrikel vorgeschoben wird, die Mitralklappe jedoch nicht passieren kann (. Abb. 1.60). Die Kathetereinführung ist auch über die A. brachialis oder A. radialis möglich. Linker Vorhof und linker Ventrikel können ggf. auf transseptalem Weg katheterisiert werden. Dabei wird der Katheter vom rechten Vorhof mittels einer Punktionsnadel durch das Vorhofseptum in den linken Vorhof eingeführt und bis in den linken Ventrikel vorgeschoben. Die Angiographie der linken Herzseite ergibt Füllungsbilder vom linken Ventrikel, die auch zur Berechnung des endsystolischen und enddiastolischen Volumens dienen. Sie erlauben den Nachweis regionaler Störungen der Wandbewegung bzw. Ventrikelfunktion. Durch Kontrastmittelinjektion in die Aorta gelingt der halbquantitative Nachweis einer Aorteninsuffizienz. Auch Aortenektasie und Aortendissektion werden erfasst. Am systolischen Reflux in den linken Vorhof ist die Mitralinsufizienz zu erkennen und ihr Schweregrad zu beurteilen. Koronarangiographie Selektive Darstellung beider Koronararterien (. Abb. 1.61) mittels spezieller Katheter, die über A. femoralis, A. brachialis oder A. radialis retrograd am Abgang der Arterien aus der Aorta platziert werden (7 Abschnitt koronare Herzkrankheit).
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Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
. Abb. 1.60. Normale Lävokardiographie
. Abb. 1.61. Unauffällige Koronarangiographie der linken (RIVA, RCX) und rechten Koronararterie (RCA) bei einer 51-jährigen Patientin mit atypischen pektanginösen Beschwerden
1.8.11
Computertomographie
Das kontrastverstärkte Cardio-CT mit modernen Scannern ermöglicht die Darstellung struktureller Veränderungen des Herzens (Perikardprozesse, Aneurysmen, Narben des Kammermyokards, Klappenverkalkungen, Lungenembolie). Ein normaler Längsschnitt wird in . Abb. 1.62a gezeigt. Auch die Koronargefäße lassen sich bis auf die Peripherie sichtbar machen (. Abb. 1.62b). 1.8.12
Magnetresonanztomographie (MRT)
Methode Sie basiert auf dem als Spin bezeichneten Drehimpuls der Atomkerne mit ungerader Protonen- oder Neutronenzahl und wird deshalb auch als Kernspintomographie bezeichnet. Zur Bildgebung bei der MRT (MRI: magnetic resonance imaging) werden nur Wasserstoffatome genutzt. Mit den Protonen rotiert ihre elektrische Ladung und erzeugt ein eigenes kleines Magnetfeld, durch das sich die Protonen in einem sehr starken äußeren Magnetfeld parallel und antiparallel ausrichten. Ihr Drehimpuls wird durch das äußere Magnetfeld entsprechend der magnetischen
Feldstärke um viele Zehnerpotenzen beschleunigt. Legt man ein solches Magnetfeld an, lassen sich die Protonen durch einen Radiofrequenzimpuls (der die gleiche Frequenz haben muss wie der Drehimpuls der Protonen) zur Seite ablenken. Nach Abschalten des Impulses kehren sie in die Ausgangslage zurück (Relaxation) und strahlen dabei als Kernspinresonanz Radiofrequenzen ab, die von Empfängerspulen aufgefangen und zum Bildaufbau auf den Computer übertragen werden. Die Intensität des Signals hängt erstens von der Geschwindigkeit ab, mit der sich der abgelenkte Magnetvektor wieder im äußeren Magnetfeld ausrichtet. Diese Zeitkonstante T1 (Longitudinalrelaxationszeit) beträgt 200‒3000 ms. Zweitens wird die Signalintensität von der Geschwindigkeit bestimmt, mit der sich der transversale Magnetvektor zurückbildet. Das geschieht in der Zeitkonstante T2 (Transversalrelaxationszeit), die zwischen 20 und 400 ms variiert. Da sich die Zeitkonstanten der Gewebe deutlich unterscheiden, kommen Schnittbilder mit guten Kontrasten zustande. Da es möglich ist, den Signalempfang für eine bestimmte Periode nach dem Radiofrequenzimpuls zu verzögern, gelingt es, entweder die T1- oder die T2-Differenzen der Gewebe hervorzuheben. Man spricht von T1- oder T2-gewichteten Bildern.
85 1.9 · Herzinsuffizienz
Diagnostische Bedeutung Als tomographisches bildgebendes Verfahren mit sehr guter Kontrastierung hat die MRT in der kardiologischen Diagnostik viele Anwendungsmöglichkeiten. Herzanatomie Sehr genau können Größe der Herzkammern, Myokardmasse und intrakardiale Massen bestimmt und Klappenanomalien und Perikarderkrankungen erfasst werden. Überlegen gelingt die Darstellung von angeborenen Herzfehlern, Aortenaneurysmen und der Rechtshypertrophie bei pulmonaler Hypertonie. Infarktnarben sind gut zu erkennen. Bis auf die peripheren Aufzweigungen lassen sich auch die Koronararterien darstellen.
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b . Abb. 1.62a, b. Cardio-CT (nach KM-Gabe). a Längsschnitt durch das Herz eines 58-jährigen Herzgesunden. b Normale linke Koronararterie (RIVA/RCX) eines 60-jährigen Mannes mit unklaren retrosternalen Beschwerden (LA = linker Vorhof, LV/RV = linker/rechter Ventrikel, AO = Aorta, PA = Pulmonalarterie, AK = Aortenklappe, MK = Mitralklappe) (Sammlung Dr. Langer, Bad Oeynhausen)
Für die Bildgebung gibt es zwei technische Versionen: SpinEcho-Imaging (S-E) und Gradient-Echo-Imaging (G-E). Beim S-E-Imaging wird der Magnetvektor der Protonen um 90° abgelenkt; hier erscheint das strömende Blut schwarz. Beim G-EImaging beträgt die Ablenkung 20–60°, wodurch eine schnellere Bildfolge möglich wird; hier erscheint das Blut hell. Cine-MRT ist eine dynamische G-E-Imaging Technik mit der in einer Ebene 10–20 Bilder pro Herzzyklus gewonnen werden können. Eine noch schnellere Bilderzeugung ist mit der Ultrafast-Technik (in 100–300 ms) und dem Echoplanar-Imaging (in 40–50 ms) möglich.
Herzfunktion Ausgezeichnet ist die systolische Ventrikelfunktion zu bestimmen, weniger gut die diastolische. Man erkennt auch Stenosen und Insuffizienzen der Herzklappen und intrakardiale Shunts. Gegenüber dem Kardio-CT, das ähnliche Anwendungsmöglichkeiten bietet, hat die MRT den Vorteil der fehlenden Strahlenbelastung. In der kardiologischen Praxis kommen beide Verfahren noch selten zum Einsatz, weil sie sehr teuer, nicht überall verfügbar und weitgehend durch konventionelle Methoden (Röntgen, Echokardiographie, Angiographie, Isotopenszintigraphie) zu ersetzen sind. 1.9
Herzinsuffizienz
1.9.1
Normalwerte und Determinanten der Herzleistung
Herzminutenvolumen (Herzzeitvolumen, cardiac output) Unter Ruhebedingungen 5‒6 l/min. Abhängig von Alter, Größe und Geschlecht. Mit dem Alter abnehmend, bei Frauen 10‒20% niedriger als bei Männern. Bei körperlicher Belastung mit der Sauerstoffaufnahme zunächst linear (bis 70% des Maximum), dann flacher ansteigend. Sportler erreichen 35‒38 l/min. Herzindex (cardiac index) Auf die Körperoberfläche bezogenes Herzminutenvolumen, Normalbereich liegt bei 3,0–3,5 l/min. Vorlast (preload) Enddiastolische Kammerwanddehnung gegenüber der Ausgangslänge. Genauer die für Kontraktionsstärke maßgebende Vordehnung der Sarkomere. Nach dem Starling-Gesetz nimmt die bei der Muskelkontraktion freigesetzte mechanische Energie bis zur optimalen Überlappung von Aktin- und Myosinfilamenten zu, bei weiterer Dehnung wieder ab. Bei der Überdehnung des Herzmuskels wird nicht die optimale Sarkomerenlänge überschritten, sondern die
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Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
Muskelfasern verschieben sich gegeneinander (slippage). Dabei kommt es gleichfalls zur Verminderung der Kontraktionsleistung. Die Vorlast wird im Wesentlichen vom venösen Rückfluss bestimmt, an den sich die Förderleistung des Herzens innerhalb physiologischer Grenzen automatisch anpasst. Ist die optimale Sarkomerenlänge erreicht, kann die Pumpleistung des Herzens nur noch durch Zunahme der Schlagfrequenz und der Kontraktilität sowie durch eine Verminderung der Nachlast (7 unten) gesteigert werden. Einen wichtigen Beitrag zur Vorlast leistet die Vorhofkontraktion. Ihr Wegfall (Vorhofflimmern, elektrischer Kammerschrittmacher) vermindert die maximale Pumpleistung, was sich vor allem bei einer Herzinsuffizienz nachteilig auswirkt. Für die Vorlast gibt es nur indirekte Maße, den enddiastolischen Füllungsdruck und die diastolische Zunahme des Kammervolumens. Bei gegebener Vorlast ist der enddiastolische Füllungsdruck umso höher, je schwerer sich der Herzmuskel dehnen lässt. Häufige Ursachen einer verminderten Dehnbarkeit (Compliance) und damit erschwerten Füllung der Kammern sind Hypertrophie, Ischämie, Myokardfibrose und obstruktive Perikarderkrankungen. Kontraktilität (inotroper Zustand) Die nicht vom Preload, sondern von inneren Faktoren, hauptsächlich vom Anstieg der zytoplasmatischen Ca++-Konzentration bestimmte Kontraktionskraft des Herzmuskels. Eine Kontraktilitätssteigerung (positiv inotroper Effekt) bewirkt bei jeder Vor- und Nachlast eine Zunahme des Schlagvolumens, der Druckanstiegs- und der Kontraktionsgeschwindigkeit. Eine Kontraktilitätsherabsetzung (negativ inotroper Effekt) hat das Gegenteil zur Folge. Positiv inotrop wirken Catecholamine, Sympathikusstimulation, Digitalis, Xanthine, Calciumionen, Steigerungen der Herzfrequenz und postextrasystolische Intervalle. Negativ inotrop wirken β-Rezeptorenblocker, Chinidin, Calciumantagonisten, Barbiturate und die Azidose. Der für die Kontraktilität maßgebende Calciumeinstrom in das Zytoplasma der Muskelfasern wird durch das Aktionspotenzial induziert. Zum einen öffnet es Membrankanäle für einen langsamen Ca++-Einstrom von außen. Zum anderen setzt es aus dem sarkoplasmatischen Retikulum große Ca++-Mengen frei, so dass die intrazelluläre Ca++-Konzentration auf das Hundertfache ansteigt. Oberhalb einer Schwellenkonzentration werden Calciumionen an das Troponin C im Troponin-Tropomyosin-Komplex gebunden, der dadurch seinen blockierenden Effekt auf die aktiven Stellen der Aktinfilamente verliert. Myosinquerbrücken und Aktin können sich nun verbinden, worauf es unter Bindung und Spaltung von ATP am Myosinkopf zur Kraftentwicklung und Kontraktion kommt. Die Zahl der Aktin-Myosin-Brücken und damit die systolische Kraftentfaltung nimmt mit der intrazellulären Ca++-Konzentration zu.
Mit der Repolarisation endet der Ca++-Einstrom. Calciumionen werden unter Energieverbrauch in das sarkoplasmatische Retikulum und nach außen zurückgepumpt. Sie lösen sich vom Troponin C, so dass die aktiven Stellen des Aktins wieder blockiert werden und die Relaxation eintritt. Der »Ca++-Puls« dauert nur 0,2–0,3 s. Viele Interventionen, die zur Steigerung oder Herabsetzung der Kontraktilität führen, greifen in die Calcium-Kinetik der Herzmuskelfasern ein: 4 Sympathikomimetika: Steigern den Ca++-Einstrom in die Zellen durch Öffnung zusätzlicher (vom Aktionspotenzial unabhängiger) Calciumkanäle. Sie vergrößern damit den intrazellulären Calciumpool und die bei der Kontraktion freigesetzte Ca++-Menge. Auch der Rücktransport in das sarkoplasmatische Retikulum wird beschleunigt und damit die Relaxation. 4 β-Rezeptorenblocker: Setzen die beschriebene Wirkung endogener und exogener Catecholamine und damit Kontraktilität und Relaxationsgeschwindigkeit herab. 4 Digitalis: Steigert die Bindungskapazität für Ca++ an der Innenfläche der Zellmembran, wodurch die vom Aktionspotenzial freigesetzte Ca++-Menge und die Kontraktilität zunehmen. Erst bei überhöhter Dosis wird der Ca++-Transport aus der Zelle gehemmt. 4 Frequenz-Kraft-Beziehung: Kontraktilitätssteigerung bei Frequenzanstieg und nach Extrasystolen, vermutlich infolge stärkerer Auffüllung der Ca++-Speicher durch die höhere Zahl von Aktionspotenzialen/min. 4 Calciumantagonisten: Hemmen den erregungsbedingten Ca++-Einstrom in die Myokardzellen und in die glatten Muskelzellen der Gefäße. Der im isolierten Herzmuskel deutliche negativ inotrope Effekt tritt am suffizienten Herzen klinisch nicht in Erscheinung (Kompensation durch Catecholamine), sondern erst bei Herzinsuffizienz und gleichzeitiger Gabe von β-Rezeptorenblockern. Bei den Caliciumantagonisten überwiegt die vasodilatorische Wirkung mit ihren Konsequenzen für die Nachlast (7 unten). Hinzu kommen antiarrhythmische Eigenschaften dieser Substanzen. Als Messgrößen für die Kontraktilität dienen experimentell die Rate der Druckänderung im linken Ventrikel in Beziehung zur Zeit (dP/dt) und zwar bei einem diastolischen Ventrikeldruck von 40 mmHg oder die maximale dP/dt während der Systole. In der Praxis Austreibungsgrößen wie Ejektionsfraktion (EF), prozentuale systolische Verkürzung des linksventrikulären Durchmessers (FS) und die maximale Beschleunigung des aortalen Blutflusses. Für alle Parameter der Kontraktilität des im Organismus schlagenden Herzens gilt einschränkend, dass sie auch von Vor- und Nachlast beeinflusst werden können. Nachlast (afterload) Darunter versteht man die aktive Spannungs- oder Kraftentwicklung, auch Stress genannt, pro Querschnittseinheit der Ventrikel-
87 1.9 · Herzinsuffizienz
wand während der Austreibungsphase. Je mehr von der mechanischen Energie der Kontraktion für die Spannungsentwicklung verbraucht wird, desto weniger bleibt für die Faserverkürzung, also für das Schlagvolumen übrig. > Vorlast und Kontraktilität determinieren zusammen die Kontraktionsenergie, die Nachlast beeinflusst die Förderleistung der Herzkammer.
Vom gesunden linken Ventrikel wird eine Zunahme der Nachlast durch eine Zunahme von Vorlast und Kontraktilität kompensiert. Wenn Vorlast- und Kontraktilitätsreserve erschöpft sind, kann die Förderleistung nur durch eine Senkung der Nachlast gesteigert werden. Die Determinanten der Nachlast sind der Aortendruck während der Systole und das enddiastolische Ventrikelvolumen. Denn nach dem Laplace-Gesetz nimmt die Wandspannung pro Querschnittseinheit für eine bestimmte Drucksteigerung im Ventrikel mit dem Ventrikelvolumen zu. Durch eine Wandhypertrophie kann die Nachlast normalisiert werden, da die einzelne Muskelfaser jetzt weniger Spannung erzeugen muss. Herzfrequenz Die Bedeutung der Herzfrequenz für die kardiale Förderleistung ergibt sich aus der Beziehung: Herzminutenvolumen = Schlagvolumen × Schlagfrequenz Da das Schlagvolumen nur begrenzt steigerungsfähig ist (Zunahme von Vorlast und Kontraktilität), kann die Anpassung des Minutenvolumens an größere körperliche Belastungen nur durch Erhöhung der Herzfrequenz erfolgen. Erst bei sehr hohen Frequenzen nimmt die Förderleistung wieder ab, weil die Diastolendauer für eine ausreichende Kammerfüllung zu kurz wird. Mit der Erhöhung der Schlagfrequenz ist auch ein positiv inotroper Effekt verbunden (s. oben). Voraussetzung für die Zunahme des Minutenvolumens ist, dass die Frequenzsteigerung von einem Anstieg des venösen Rückflusses begleitet wird, wie es bei körperlicher Belastung der Fall ist. Stimuliert wird der Sinusknoten bei der Belastung durch Dehnung des Vorhofes, Sympathikusaktivierung und Vagushemmung. Steigert man die Herzfrequenz unter Ruhebedingungen, so kommt es nicht zur Vergrößerung des Minutenvolumens, weil enddiastolisches Ventrikelvolumen und Schlagvolumen kleiner werden. Eine Ausnahme bildet die Ruhetachykardie bei Herzinsuffizienz, die durch eine reflektorische Sympathikusstimulation entsteht und die Förderleistung verbessert. > Durch Bradykardien wird die Herzleistung auch bei intakter Ventrikelfunktion herabgesetzt. Extreme Bradykardien (AV-Block, Sinusknotenschädigung) führen zur Ruheinsuffizienz.
1.9.2
Pathogenese der Herzinsuffizienz
Definition. Herzinsuffizienz bedeutet Einschränkung der normalen Herzfunktion mit herabgesetzter Förderleistung und/oder Blutrückstau. Man unterscheidet 2 Schweregrade: Kompensierte Herzinsuffizienz: Ungenügendes Herzminutenvolumen und/oder manifeste Lungenstauung erst unter körperlicher Belastung unterschiedlichen Grades (Belastungsinsuffizienz, latente Insuffizienz). Dekompensierte Herzinsuffizienz: Ungenügendes Herzminu-
tenvolumen und/oder manifeste Lungenstauung bereits unter Ruhebedingungen (Ruheinsuffizienz). Seitenlokalisation der Herzinsuffizienz Linksherzinsuffizienz: Mit 80% am häufigsten. Vorkommen: Ko-
ronare Herzkrankheit, Hypertonie, Aortenklappenfehler etc. Bei suffizientem rechten Ventrikel Begünstigung der Lungenstauung. Oft in globale Insuffizienz übergehend. Rechtsherzinsuffizienz: Bei obstruktiven Lungenerkrankungen, Mitralstenose, pulmonaler Hypertonie, Pulmonalklappenvitien, Trikuspidalinsuffizienz, Septumdefekten mit Links-RechtsShunt etc. Förderleistung ebenso herabgesetzt wie bei Linksinsuffizienz. Blutrückstau nur im grossen Kreislauf (Ausnahme: Mitralstenose). Im allgemeinen kein Übergang in Globalinsuffizienz. Doppel- oder Globalinsuffizienz: Primär bei Myokarditis, Anämie, Beri-Beri und extremer Bradykardie. Am häufigsten sekundär aus einer Linksinsuffizienz entstehend. Führt zu Stauungszeichen im großen und kleinen Kreislauf.
Pathogenetische Mechanismen Mechanische Überbeanspruchung: Dafür gibt es 2 in ihren Ur-
sachen und Auswirkungen unterschiedliche Möglichkeiten: 4 Volumenbelastung: Durch ein abnorm gesteigertes Minutenvolumen mit entsprechend vergrößertem venösen Rückfluss (high output failure), Shunts, Klappeninsuffizienzen etc. Sie erweitert den betroffenen Ventrikel und zwingt ihn, schon unter Ruhebedingungen ein erhöhtes Schlag- und Minutenvolumen auszuwerfen. 4 Druckbelastung: Durch erhöhten Austreibungswiderstand, der eine entsprechende Steigerung des systolischen Ventrikeldrucks erfordert. Kontraktilitätsverlust: Durch anatomische oder funktionelle
Veränderungen des Myokards (Myokardinsuffizienz): Bei Myokarditis, Koronarinsuffizienz, Myokardinfarkt, Kardiomyopathie, Anämie, Hypoxie, Intoxikationen, Azidose etc. Sekundär kommt es auch bei mechanischer Belastung mit Hypertrophie zur Kontraktilitätsminderung.
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Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
Störungen der diastolischen Kammerfüllung: Bei Stenosen der
Hypertrophie: Erhöhte Dauerbelastung beantwortet das Herz
AV-Klappen, extremer Tachykardie, herabgesetzter Dehnbarkeit der Ventrikel (Endo- und Myokardfibrose, Ventrikelhypertrophie, ischämische Störung der Relaxation, Perikarditis konstriktiva, Perikardergüsse) und bei dilatiertem Ventrikel, da die Dehnbarkeit (Compliance) mit zunehmender Dilatation abnimmt. Folge der erschwerten Füllung des linken Ventrikels ist ein Druckanstieg auf der venösen Seite des kleinen Kreislaufs, der zur Lungenstauung und zum Lungenödem führen kann, bevor das Minutenvolumen unter die Bedarfsgröße sinkt.
mit einer Zunahme der Muskelmasse im betroffenen Abschnitt und vergrößert dadurch seine Kontraktionskraft. Die Form der Hypertrophie hängt vom Belastungstyp ab: 4 Exzentrische Hypertrophie: Entsteht bei Volumenüberlastung durch den stimulierenden Effekt des erhöhten enddiastolischen Drucks (diastolischer Wandstress). Es kommt zur Vermehrung der Sarkomeren überwiegend in der Längsrichtung und damit zur Vergrößerung des Ventrikels ohne wesentliche Zunahme der Wanddicke. 4 Konzentrische Hypertrophie: Entsteht bei Drucküberlastung, stimuliert durch den systolischen Wandstress. Die Sarkomeren vermehren sich parallel zueinander, so dass die Wanddicke zunimmt und das Ventrikelvolumen unverändert bleibt bzw. leicht abnimmt. 4 Spätfolgen der Hypertrophie: Missverhältnis von Muskelmasse zur Vaskularisierung bei hohem O2-Verbrauch, Ischämie, Fibrosierung des subendokardialen Myokards, das infolge schlechter Blutversorgung degeneriert, Kontraktilitätsverlust bis zum finalen Myokardversagen. 4 Sportherz: Physiologische Hypertrophie leichteren Grades, durch Sportarten mit Volumenbelastung vom exzentrischen Typ (Langstreckenlauf, Schwimmen etc.), bei solchen mit Druckbelastungen vom konzentrischen Typ (Gewichtheben, Ringen, Rudern).
Kompensationsmechanismen Sympathikusstimulation und Vagushemmung: Steigern in Se-
kundenschnelle Kontraktilität und Herzfrequenz wirken daher schnell einem Herzversagen entgegen. Zunahme der Vorlast durch renale Flüssigkeitsretention: Akutes Nachlassen der Förderleistung erhöht das Restvolumen im Ventrikel und führt durch den zunächst nicht verminderten venösen Rückfluss zur Erhöhung des enddiastolischen Volumens und damit nach dem Starling-Gesetz zur Steigerung der Kontraktionskraft. Langfristig wird die Vorlast bei kardialer Pumpschwäche durch eine kompensatorische Hypervolämie erhöht, die auf folgende Weise entsteht: Drosselung der Nierendurchblutung durch sympathikusinduzierte Vasokonstriktion → Herabsetzung der glomerulären Filtration → Aktivierung des Renin-AngiotensinAldosteron-Systems → Verminderung der renalen Wasser- und Salzausscheidung → Hypervolämie → Zunahme des venösen Rückflusses und der Ventrikelfüllung. Wenn die Vorlast durch die Hypervolämie genügend steigt, um das Minutenvolumen zu normalisieren, lässt die Sympathikusstimulation nach, andernfalls bleibt sie bestehen. Herzglykoside können den Sympathikus entlasten bzw. seine kontraktilitätssteigernde Wirkung unterstützen. Die Flüssigkeitsretention geht auch nach Ausschöpfung der Vorlastreserve weiter, wenn sich das Minutenvolumen nicht normalisiert. Die progrediente Hypervolämie führt dann zu Ödemen und zur Überdehnung des linken Ventrikels (slippage), dessen Kontraktilität dadurch noch weiter abnimmt. Diuretika können durch Beseitigung der Überdehnung eine deutliche Besserung der Kontraktionskraft des linken Ventrikels bewirken. Es sollte aber nicht zu stark entwässert werden, weil ein gewisser Grad von Hypervolämie durch Ausschöpfung der Vorlastreserve kompensierend wirkt. Eine Lungenstauung entsteht durch Rückstau in den Lungenkreislauf bei Insuffizienz des linken Ventrikels. Steigt der hydrostatische Druck in den Lungenkapillaren über den kolloidosmotischen Druck des Blutplasmas, kommt es zum Lungenödem. Die Bedingungen dafür sind Blutrückstau und ein Ungleichgewicht der Starling-Kräfte beider Ventrikel. Bei einer Insuffizienz beider Ventrikel ist die Gefahr eines Lungenödems wesentlich geringer.
1.9.3
Klinische Diagnostik
Anamnese Die Bedeutung der Anamnese ergibt sich nicht zuletzt daraus, daß die New York Heart Association (NYHA) die Schweregrade der Herzinsuffizienz nach der subjektiven Einschätzung der Belastungstoleranz klassifiziert hat: 4 Grad I: Belastungstoleranz nicht herabgesetzt. 4 Grad II: Belastungstoleranz gering herabgesetzt. 4 Grad III: Belastungstoleranz deutlich herabgesetzt. Weniger als die normale Belastung erzeugt Beschwerden. 4 Grad IV: Belastungstoleranz hochgradig herabgesetzt. Beschwerden können schon in Ruhe vorhanden sein, treten bei jeder geringsten Belastung auf. > Als limitierende Faktoren für die körperliche Belastung gelten in dieser Klassifikation Schwäche, Herzklopfen, Atemnot und anginöse Herzbeschwerden.
Symptome des reduzierten Herzminutenvolumens Verminderung der körperlichen Leistungsfähigkeit: Rasche Erschöpfung mit Schweregefühl in den Gliedern infolge mangelhafter Muskeldurchblutung. Zerebrale Symptome: Durch Absinken des Blutdrucks Schwin-
delgefühl bei körperlicher Belastung, Kopfschmerzen, Verwirrt-
89 1.9 · Herzinsuffizienz
heit, Gedächtnisstörungen, Angstzustände, Schlafstörungen, bei alten Menschen mit zerebraler Gefäßsklerose auch Delirien und Psychosen. Renale Symptome: Nykturie durch Aufhebung der kompensatorischen renalen Vasokonstriktion in Ruhelage. Oligurie und Azotämie durch intensive permanente renale Vasokonstriktion bei schwerer dekompensierter Herzinsuffizienz. Intestinale Symptome: Leibschmerzen infolge intestinaler Isch-
ämie. Symptome der venösen Stauung Linksherzinsuffizienz: Stauungserscheinungen im Lungenkreislauf: 4 Dyspnoe: Kurzatmigkeit bei immer geringeren Anstrengungen (Belastungsdyspnoe), zuletzt auch in Ruhe (Ruhedyspnoe). Inspiratorische feinblasige basale Rasselgeräusche können hörbar werden. Abgrenzung gegen pulmonale Dyspnoe (Emphysem, chronische Obstruktion mit Husten und Auswurf, Besserung durch Bronchodilatoren) in Grenzfällen schwierig, erst durch Nachweis des erhöhten Lungenkapillardrucks möglich. 4 Orthopnoe: Atemnot bei Flachlagerung, die nach Aufsetzen oder Aufstehen verschwindet, da der venöse Rückfluss abnimmt. Auch bei schwerer obstruktiver Lungenerkrankung zum besseren Einsatz der Atemhilfsmuskulatur vorkommend. 4 Paroxysmale nächtliche Dyspnoe: Nächtliches Erwachen aus REM-Phasen des Schlafes mit schwerer Atemnot, die zu raschem Aufstehen zwingt und nur allmählich abklingt. Verursacht durch plötzliche Volumenverschiebung in den kleinen Kreislauf. Manchmal Bronchospastik (Asthma cardiale). Bedrohlich Hinweis auf Linksherzversagen. 4 Stauungsbronchitis: Chronischer, meist trockener Husten, der auf antibronchitische Behandlung nicht anspricht. Nachts oft verstärkt. Auch Stauungsblutungen kommen vor. Im Sputum Herzfehlerzellen. 4 Lungenödem: Nach trockenem Husten einsetzende schwerste Dyspnoe mit beschleunigter, vertiefter Atmung unter Einsatz der Hilfsmuskulatur, begleitet von Erregung, Unruhe, Angst, Tachykardie, kaltem Schweiß, zentraler und peripherer Zyanose. Mittelblasige inspiratorische Rasselgeräusche bis in die oberen Lungenabschnitte, auch Spastik. Schaumiges, manchmal blutig tingiertes Sputum. Rechtsherzinsuffizienz: Stauungszeichen im grossen Kreislauf: 4 Erhöhung des Venendrucks: Durch Abflussbehinderung in
den rechten Ventrikel. Erkennbar an fortgeleiteten Pulsationen der V. jugularis interna (die im Gegensatz zur V. jugularis externa ohne Zwischenschaltung von Venenklappen mit dem rechten Vorhof kommuniziert).
4 Hepatojugulärer Reflux: Anstieg des Jugularvenendrucks bei Kompression des rechten oberen Abdomens mit der Hand, der normalerweise keinen Druckanstieg bewirkt. Ursachen des abnormen Druckanstiegs: Erhöhter Venentonus, und Verschiebung eines relativ großen Volumens aus dem blutüberfüllten Abdomen zum Herzen. 4 Halsvenenfüllung: In aufrechter Haltung indirektes Zeichen eines erhöhten Vorhofdrucks, sofern keine Abflussbehinderung vor dem Herzen besteht (z.B. durch eine Struma). 4 Stauungsleber: Lebervergrößerung, oft vor der Ausbildung peripherer Ödeme nachweisbar. Bei akuter Leberstauung Schmerzen durch Kapseldehnung. Abgrenzung gegen andere Ursachen der Lebervergrößerung durch positiven hepatojugulären Reflux, bei Trikuspidalinsuffizienz durch fortgeleiteten Jugularvenenpuls und sonographischen Nachweis erweiterter Lebervenen. 4 Aszites: Durch langdauernde Druckerhöhung in den Lebervenen und den Venen, die das Peritoneum drainieren (Trikuspidalinsuffizienz, Pericarditis konstrictiva). 4 Intestinale Symptome: Völlegefühl, Anorexie, Übelkeit, Meteorismus, Obstipation. 4 Renale Symptome: Stauungsalbuminurie und -hämaturie. 4 Periphere Ödeme: Durch Erhöhung des Venendrucks infolge mechanischer Abflussbehinderung und durch die kompensatorische renale Flüssigkeitsretention bedingt. In aufrechter Haltung an Knöcheln und Unterschenkeln, im Liegen über dem Kreuzbein, in schweren Fällen generalisiert (Anasarka). Globalinsuffizienz: Summation der Stauungszeichen von Links-
und Rechtsherzinsuffizienz. Als zusätzliches Symptom treten Pleuraergüsse auf. Die Pleurahöhlen werden von den Venen und Lymphgefäßen der viszeralen und der parietalen Pleura drainiert. Bei Linksherzinsuffizienz ausreichende Drainage durch die parietale Pleura. Bei Rechtsherzinsuffizienz kann eine starke Venendruckerhöhung (durch Erschwerung des venösen Abflusses und des Lymphabflusses aus dem Ductus thoracicus in die obere Hohlvene) zum Pleuraerguss und zur Dyspnoe führen. Meistens besteht bei Pleuraergüssen eine Globalinsuffizienz. Aus ungeklärten Gründen entwickeln sich Stauungsergüsse oft auf der rechten Seite zuerst bzw. stärker. Kardiovaskuläre Symptome Herzvergrößerung: Im dekompensierten Stadium in der Regel vorhanden, bei druckhypertrophierten Herzen (Aortenstenose, Hypertonie, HOCM, Cor pulmonale) später als bei volumenbelasteten (Aorteninsuffizienz, Trikuspidalinsuffizienz). Keine Vergrößerung bei ganz akuter Insuffizienz (Lungenembolie, Herzinfarkt) und bei Concretio pericardii. Linksverbreiterung perkutorisch und durch Palpation des Spitzenstoßes festzustellen. Bei Rechtshypertrophie parasternale und epigastrische Pulsationen. Genaue Analyse durch Röntgenbild und Echokardiogramm.
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Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
3. Herzton (protodiastolischer Galopprhythmus: Frühdiastolischer Füllungston bei überdehntem Ventrikel. Linksventrikulärer 3. Herzton niederfrequent, oft leise, am besten in Linksseitenlage über der Herzspitze und rechtsventrikulärer 3.Herzton links parasternal zu hören (Trikuspidalinsuffizienz). Relative AV-Klappeninsuffizienz: Bei starker Kammerdilatation
mit Erweiterung des Klappenringes Mitral- bzw. Trikuspidalinsuffizienz, bei letzterer atemabhängige Intensitätsschwankung des holosystolischen Refluxgeräusches. Pulsus alternans: Abwechselnd folgen ein schwacher und ein kräftiger Herzschlag aufeinander mit entsprechendem Blutdruckunterschied. Nachweis durch Zunahme der KorotkowTöne beim Ablassen des Manschettendruckes während der Blutdruckmessung. Differenzen von 10–20 mmHg. Zeichen einer schweren Kontraktilitätsstörung des linken Ventrikels. Inadäquate Herzfrequenz: Ruhetachykardie und inadäquater
Frequenzanstieg unter körperlicher Belastung als Zeichen der kompensatorischen Sympathikusstimulation und Vagushemmung. Kutane Vasokonstriktion: Im Rahmen der Umverteilung des
Minutenvolumens zugunsten der lebenswichtigen Organe. Die damit verbundene Behinderung der Wärmeabgabe kann subfebrile Temperaturen hervorrufen. 1.9.4
Apparative Diagnostik
Röntgenaufnahmen des Thorax in zwei Ebenen Herzbefunde: Erkennung des Ausmaßes der Herzdilatation und abnormer Konfigurationen der Herzsilhouette. Nachweis von Verkalkungen des Perikards, der Pleura, Lungenstauung und Pleuraergüssen. Elektrokardiogramm (EKG) Erfasst tachykarde und bradykarde zur Insuffizienz führende Rhythmusstörungen, frische Infarkte und alte Infarktnarben. Mittels Ergometrie sind Belastungsgrenzen zu objektivieren. Echokardiographische Untersuchung Ermöglicht eine umfassende Analyse der Anatomie und Hämodynamik des Herzens. Auf den Funktionsgrad ist aus dem Durchmesser des linken Ventrikels, der Ejektionsfraktion und der relativen systolischen Durchmesserverkürzung (FS) zu schließen. Die . Abb. 1.63 zeigt im Echokardiogramm eines Patienten mit dekompensierter dilatativer Kardiomyopathie einen stark erweiterten dünnwandigen linken Ventrikel und eine Dilatation des linken Vorhofs. Mit der Dopplermessung des transmitralen Einflusses werden diastolische Funktionsstörungen erfasst.
. Abb. 1.63. Echokardiographischer 4-Kammerblick eines 50-jährigen Patienten mit dilatativer Kardiomyopathie (RA/LA = rechter/linker Vorhof, RV/LV = rechter/linker Ventrikel)
Rechtsherzeinschwemmkatheter Die Durchführung in Ruhe und bei dosierter ergometrischer Belastung gibt Aufschluss über das Minutenvolumen, das bei insuffizienten Herzen nicht adäquat ansteigt. Bei Herzinsuffizienz werden Drucksteigerungen bzw. Stauungszeichen im kleinen Kreislauf und ein erhöhter enddiastolischer Füllungsdruck des linken Ventrikels erfasst. Der periphere Widerstand lässt sich bestimmen. In der Intensivmedizin kann der pulmonale Kapillardrucks (PCP) fortlaufend kontrolliert werden. 1.9.5
Laboruntersuchungen
Frühindikator der Herzinsuffizienz ist ein erhöhter BNP-Spiegel. Bestimmt wird häufig der aminoterminale Abschnitt des Prohormons (NT-proBNT), der neben BNP mit höherer Halbwertszeit zirkuliert. Die . Abb. 1.64 zeigt die Korrelation zwischen NT-pro-BNP-Konzentrationen und NYHA-Klassen der Herzinsuffizienz. In der NYHA-Klasse IV können die NT-pro-BNPKonzentrationen auf >5.000 pg/ml steigen. 1.9.6
Therapie
Die Herzinsuffizienz ist ein progredientes Leiden. Es schreitet mit zunehmender Geschwindigkeit fort. In einigen Fällen kann es durch rechtzeitige kausale Therapie der zugrunde liegenden Herzkrankheit abgewendet, behoben oder stark verlangsamt werden. Dazu gehören z.B. operable angeborene und erworbene Vitien, ischämische Kardiomyopathien, Myokarditiden und Hypertonien.
1
91 1.9 · Herzinsuffizienz
Median NT-proBNP [pg/ml]
1800
1707 1571
1600 1400 1200 951
1000 800 600 342
400 200
125 pg/ml
56
0 normal
I
II
III
IV
NYHA-Klassen . Abb. 1.64. NT-proBNP-Werte korrelieren mit dem Schweregrad der Herzinsuffizienz. Je höher der NT-proBNP-Wert, desto schwerer die Erkrankung und desto schlechter die Prognose (Roche Diagnostics)
In den nicht reparablen Fällen ist es am wichtigsten, das Herz dauerhaft zu entlasten. Das beginnt mit der Beschränkung körperlicher Aktivitäten im häuslichen und beruflichen Alltag und kann einen Berufswechsel oder die vorzeitige Berentung notwendig machen. Auf jeden Fall sind erschöpfende körperliche Anstrengungen und übermäßiger psychischer Stress zu vermeiden. Zu achten ist auf ausgiebige Nachtruhe und Ruhepausen am Tage. Die Ernährung sollte salzarm und nicht überkalorisch sein. Große Mahlzeiten sind zu vermeiden, weil sie den Kreislauf belasten. Übergewicht ist längerfristig zu reduzieren. Wenn trotz optimaler medikamentöser Therapie die NYHA-Klasse IV erreicht ist, kann manchmal eine strikte wochenlange Bettruhe noch zu erstaunlicher Besserung führen, wie man es bei hospitalisierten Kandidaten für eine Herztransplantation beobachtet hat. Medikamentöse Therapie Die Mehrzahl der Patienten in den NYHA-Klassen I und II der Herzinsuffizienz wird mit einem Programm körperlicher Entlastung und diätetischer Vorsorge auskommen. Viele Patienten werden sogar keine ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen. Es sollte aber schon bald mit einer protektiven medikamentösen Therapie begonnen werden. Inhibitoren des Renin-Angiotensin-Systems Mit der Ausschaltung des Angiotensin II senken sie den peripheren Widerstand und damit das Afterload. Mit der Drosselung der Aldosteronsekretion wirken sie einer Hypervolämie entgegen und vermindern das Präload des Herzens. Als wichtiger Effekt kommt hinzu, dass sie durch Hemmung des lokalen Renin-Angiotensin-Systems Hypertrophie und Fibrose des Herzmuskels
(nachteiliges Remodeling nach Infarkt) hemmen. Kürzlich wurde gezeigt, dass sie auch die Aktivierung von Blutmonozyten (zur Adhärenz am Endothel und wahrscheinlich zur Freisetzung von Zytokinen) unterdrücken. Wegen dieser Eigenschaften sind die Inhibitoren des RAAS in allen Stadien der Herzinsuffizienz indiziert und bei vorgeschädigten Herzen und Hypertonie schon zur Prophylaxe. Bei zu hoher Dosierung drohen Blutdruckabfall, Hyperkaliämie und Einschränkung der Nierenfunktion. Das Serumkreatinin sollte nicht über 2,5 mg/dl steigen. Die beiden Substanzklassen ACE-Blocker und AngiotensinII-Rezeptor-Antagonisten sind in ihrer Wirkung gleichwertig. Letztere, die AT1-Rezeptor-Antagonisten haben jedoch den Vorteil, keinen chronischen Hustenreiz zu verursachen, den die ACE-Blocker in bis zu 20% der Fälle auslösen. ACE-Blocker 4 Captopril: Initialdosis 6,25 mg, Maximaldosis bis 4-mal 50–100 mg/Tag. 4 Enalapril-Maleat: Initialdosis 2-mal 2,5 mg/Tag, Maximaldosis 2-mal 10–20 mg/Tag. 4 Lisinopril: Initialdosis 1-mal 2,5–5 mg/Tag, Maximaldosis 1-mal 10–20 mg/Tag. Angiotensin-Rezeptor-Antagonisten 4 Lorsartan: Initialdosis 1-mal 12,5 mg/Tag, 1-mal 50 mg/Tag. 4 Irbesartan: Initialdosis 1-mal 75 mg/Tag, 300 mg/Tag. 4 Valsartan: Initialdosis 1-mal 80 mg/Tag, 1-mal 16 mg/Tag. 4 Candesartan: Initialdosis 1-mal 4 mg/Tag, 1-mal 16 m/Tag.
Maximaldosis Maximaldosis Maximaldosis Maximaldosis
Diuretika Ihr Einsatz erfolgt zur Verhinderung oder Beseitigung von Ödemen. Sie wirken der renalen Wasser- und Salzretention bei der Herzinsuffizienz entgegen, die umso stärker wird, je weiter das Herzminutenvolumen absinkt. Patienten mit kardialen Ödemen trinken viel, weil die Verkleinerung des arteriellen Blutvolumens das Durstzentrum im Zwischenhirn stimuliert. Auf diese Weise wird die Ödembildung im Sinne eines Circulus vitiosus gefördert. Die Auswahl des Diuretikum richtet sich nach dem Schweregrad der Ödeme bzw. Stauungszeichen und nach der Nierenfunktion. Thiazide: Genügen in leichten bis mittelschweren Fällen.
4 Hydrochlorothiazid: Intialdosis 1-mal 25 mg/Tag, Maximaldosis 1-mal 100 mg/Tag. 4 Chlorthalidon: Initialdosis 1-mal 50 mg/Tag, Maximaldosis 100 mg/Tag. 4 Am besten werden Thiazide mit einem kaliumsparenden Diuretikum kombiniert.
92
1
Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
Kombinationspräparate: 5 Dytide H: (Hydrochlorothiazid 25 mg + Triampteren 50 mg) 1-mal 1–2 Tabl./Tag. 5 Moduretik: (Hydrochlorothiazid 25 mg + Amilorid 2,5 mg) 1-mal 1–2 Tabl./Tag. Schleifendiuretika: Indiziert in schweren Fällen und bei eingeschränkter Nierenfunktion. 4 Furosemid: Initialdosis 1–2-mal 20–40 mg/Tag p.o. oder 20 mg i.v., Maximaldosis 400 mg/Tag p.o. oder 400 mg i.v./ Tag mit Perfusor (nicht bei dekompensierter Aortenstenose!). 4 Torasemid: Initialdosis 1–2-mal 10 mg/Tag p.o. oder 0,5 mg i.v., Maximaldosis 200 mg/Tag p.o. oder i.v. mit Perfusor/ 24 Std.
Aldosteronantagonisten In einer Studie an 1663 Patienten mit Herzinsuffizienz der NYHA-Klassen II und IV (RALES-Studie) wurde unter Standardmedikation (ACE-Blocker plus Schleifendiuretikum) die zusätzliche Gabe von Spironolacton (12,5–25 mg/Tag) gegen Plazebo getestet. Ergebnis: In der Spironolacton-Gruppe besserten sich die Symptome signifikant, und das Mortalitätsrisiko ging gegenüber der Plazebo-Gruppe um 30% zurück. Zu erklären ist dieser Effekt zum einen damit, dass erhöhte Aldosteronspiegel den Herzmuskel schädigen und fibrosefördernd wirken. Zum anderen ist anzuführen, dass Aldosteron erst durch spezifische Antagonisten ausgeschaltet wird, weil die Plasmakonzentrationen unter langfristiger Behandlung mit ACE-Blockern nicht zurückgehen. Neuerdings steht mit Eplerenon ein Aldosteronantagonist zur Verfügung, der keine hormonalen Nebenwirkungen hat und deshalb vor allem für Frauen zu empfehlen ist. Unter Beachtung des Kaliumspiegels und der Nierenfunktion (Serumkreatinin) sollten niedrig dosierte Aldosteronantagonisten jetzt in den NYHA-Stadien III und IV prinzipiell eingesetzt werden. β-Adrenorezeptor-Antagonisten (β-Blocker) Wirkungsmechanismus: Die Steigerung des Sympathikustonus mit Frequenzanstieg und positiv inotropem Effekt ist ein wichtiger Kompensationsmechanismus bei akuter Herzinsuffizienz. Deshalb kann eine Volldosis von β-Rezeptorenblockern bei Herzinsuffizienz leicht zur akuten Dekompensation führen. Bei chronischer Herzinsuffizienz wirkt sich dagegen ein permanent erhöhter Tonus des adrenergen Nervensystems schädlich aus. Die stärksten nachteiligen Effekte werden von Noradrenalin über die β1-Rezeptoren vermittelt (Myotoxizität, Apotose, Myozytenwachstum), während positive Inotropie und Chronotropie über β1- und β2-Rezeptoren mit gleicher Intensität induziert werden. Mit fortschreitender Herzinsuffizienz nimmt der Anteil der β1-Rezeptoren ab, der bei Gesunden >70% beträgt. Das Verhältnis β1:β2:α1 liegt zuletzt bei 2:1:1. Die protektive Wirkung von β-Blockern zeigte sich, als bei Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz (NYHA II und III), die durch Diuretika, ACE-Blocker und Digitalis stabilisiert wa-
ren, langsam steigende Dosen von β1-Blockern gegeben wurden. Zu verzeichnen war eine Besserung der klinischen Symptome und ein Rückgang der Gesamttodesfälle sowie des akuten Todes. Auch die Häufigkeit der Rehospitalisierung wegen Dekompensation ging zurück. Ein positiv-inotroper Effekt über β2-Rezeptoren bleibt erhalten. Präparate und Dosierungen: Als klinisch geeignet erwiesen
sich in zahlreichen Studien selektive β1-Rezeptor-Antagonisten (Metoprolol-Succinat, Bisoprolol) und β-Blocker-Vasodilatoren (Carvedilol, Bucindolol). Erstere werden bei Herzinsuffizienz toleriert, weil β2- und α1-Rezeptoren nicht blockiert werden und weiter positiv-inotrope adrenerge Stimulation vermitteln. Letztere, zwei nichtselektive β-Blocker, weil der relativ mäßige negativ-inotrope Effekt durch die Vasodilation kompensiert wird, die das Afterload senkt. Für alle β-Blocker gilt, dass ihre Anwendung bei der Herzinsuffizienz mit extrem niedrigen Dosierungen (1/8 bis 1/16 der Zieldosis) begonnen werden muss mit vorsichtiger Steigerung in Abständen von 1–2 Wochen. Die hohe Zieldosis ist erforderlich, um die β1-Rezeptoren weitgehend auszuschalten. Die Zieldosis muss auf Dauer beibehalten werden. Der therapeutische Effekt stellt sich erst im Laufe einiger Monate ein. 4 Metoprolol-Succinat (Beloc-Zok): Initialdosis 1-mal 12,5 mg/ Tag, Zieldosis 1-mal 190 mg/Tag. 4 Bisoprolol (Concor): Initialdosis 1-mal 1,25 mg/Tag, Zieldosis 1-mal 5 mg/Tag (85 kg). 4 Carvedilol (Dilatrend): Initialdosis 2-mal 3,125 mg/Tag, Zieldosis 2-mal 25 mg/Tag (85 kg). Das Mittel scheint bei NYHA III etwas vorteilhafter zu sein, führt aber leichter zur Hypotonie. Indikationen: Bei Herzinsuffizienz der NYHA-Klassen II und III, bei euvolämischen Patienten der Klasse IV. Bei Dekompensation unter β-Blockade sind Phosphodiesterase-Inhibitoren angezeigt (s. unten), da sie nicht antagonisiert werden. Kontraindikationen: Bradykardie, AV-Leitungsstörungen, Bradykardie, hydropische Herzinsuffizienz.
Herzglykoside (Digitalis) Bei der Herzinsuffizienz werden sie zur Steigerung der Inotropie des Myokards und zur Verlangsamung der Kammerfrequenz bei Vorhofflimmern und Vorhofflattern angewendet. Wirkungsmechanismus: Die positive Inotropie beruht auf einer Vergrößerung des intrazellulären Calciumpools, die während der Systole zur gesteigerten Freisetzung von Ca++ aus dem zytoplasmatischen Retikulum führt. Induziert wird die Calciumanreicherung durch die selektive Hemmung der Na+/K+-ATPase in der Zellmembran, die einen Anstieg der intrazellulären Na+Konzentration, zur Folge hat. Der erhöhte Na+-Spiegel steigert
93 1.9 · Herzinsuffizienz
die Aktivität der ebenfalls in der Zellmembran lokalisierten Na+/ Ca++-ATPase, so dass es im Austausch gegen Na+ zu einem verstärkten Ca++-Einstrom in die Zelle kommt. Der inhibierende Effekt auf den Sinus- und den AV-Knoten kommt durch eine Steigerung der efferenten Vagusimpulse mit entsprechend vermehrter Freisetzung von Acetylcholin zustande. Acetylcholin erhöht die K+-Permeabilität der Zellmembran und bewirkt dadurch eine Hyperpolarisation, die zur Verlangsamung der Depolarisation und der Erregungsleitung führt. Therapeutischer Nutzen: Digitalis ist ein wichtiges Mittel zur Normalisierung der Herzfrequenz bei tachykardem Vorhofflimmern und Vorhofflattern. Beide können eine Herzinsuffizienz herbeiführen oder verschlimmern. Bei einer Herzinsuffizienz mit Sinusrhythmus reduziert Digitalis die Symptome und die Häufigkeit der Krankenhausbehandlungen. Die Überlebensdauer der Patienten wird kontrollierten Studien zufolge jedoch nicht verlängert. Die Anwendung erfolgt in den NYHA-Klassen III und IV. Die gebräuchlichen Vertreter der Digitalisglykoside sind Digoxin und Digitoxin. Pharmakokinetik und Dosierung: Digitalisglykoside kumulieren
im Körper und werden erst nach Speicherung bestimmter Mengen therapeutisch wirksam. Nach der Aufsättigung muss die tägliche Abklingquote durch die Erhaltungsdosis ersetzt werden. Anhand der Plasmaspiegel kann die Dosierung kontrolliert werden. 1. Digoxin und Derivate (Acetyldigoxin, β-Methyldigoxin): Applikation per os oder intravenös. Enterale Resorption 50–80%. Renale Ausscheidung 70%. Tägliche Abklingquote 30%. Aufsättigung mit Digoxin: 2-mal 0,25 mg/Tag p.o. für 3 Tage oder 2-mal 0,25 mg/Tag i.v. für 2 Tage. Erhaltungsdosis 1-mal 0,25–0,375 mg/Tag. Dosisanpassung bei eingeschränkter Nierenfunktion. Therapeutische Serumspiegel 0,9‒2,0 ng/ml. Nach neueren Studien sollte ein Spiegel von 1,2 ng/ml nicht überschritten werden. Vom Acetyldigoxin (Novodigal) gibt es Tabletten zu 0,1 und 0,2 mg und Ampullen zu 0,4 mg. 2. Digitoxin: Applikation per os, selten intravenös. Enterale Resorption 90–100%. Renale Ausscheidung 25%. Tägliche Abklingquote 10%. Aufsättigung: 3-mal 0,05–0,1 mg/Tag p.o. für 3–5 Tage. Therapeutische Plasmakonzentrationen 10–30 ng/ml (wegen starker Bindung an Plasmaproteine höher als für Digoxin). Erhaltungsdosis durchschnittlich 0,07 mg. Keine Dosisanpassung bei eingeschränkter Nierenfunktion. Wegen niedriger Abklingquote schlechter steuerbar als Digoxin. Digitalisintoxikation: Entsteht bei Überdosierung oder vermin-
derter Digitalistoleranz (organische Herzerkrankungen, hohes Alter, Hypokaliämie, Hypothyreose). 4 Kardiale Symptome: Sinusbradykardie, SA-Block, AV-Block unterschiedlichen Grades, Vorhofextrasystolen, Vorhof- und
Knotentachykardien, Vorhofflimmern, Kammerextrasystolen, Kammertachykardien, auch Kammerflimmern. Diese Symptome sind unspezifisch, verschwinden aber nach Dosiskorrektur oder Absetzen des Digitalispräparates. 4 Extrakardiale Symptome: Anorexie, Übelkeit, Erbrechen durch Reizung medullärer Zentren. Gelbsehen, Kopfschmerzen, Müdigkeit, depressive Verstimmung. 4 Therapie: Digitalis absetzen oder niedriger dosieren. Kaliummangel ausgleichen. Gegen Bradykardie und Erregungsleitungsstörungen Atropin. Bei Tachykardien Lidocain oder Phenytoin. In den schwersten Intoxikationsfällen Neutralisierung des Digoxin mit spezifischen Antikörpern. Katecholamine Diese Sympathikomimetika von stark positiv inotroper Wirksamkeit werden nur bei akuter Herzinsuffizienz, kardiogenem Schock und im Endstadium der chronischen Herzinsuffizienz eingesetzt, wenn alle anderen Möglichkeiten der medikamentösen Therapie ausgeschöpft sind. Sie können nur intravenös appliziert werden. Dobutamin: Verbessert die Ventrikelfunktion durch direkte Stimulation der β1- und β2-Rezeptoren des Myokards. Die β1-Rezeptoren des Sinusknotens werden kaum stimuliert, so dass die Herzfrequenz nur wenig zunimmt. Der periphere Widerstand ändert sich kaum, weil neben vasokonstriktorischen α1-Rezeptoren auch vasodilatorische β2-Rezeptoren stimuliert werden. Die Applikation erfolgt durch kontinuierliche Infusion (2,5–10 μg/kg/min). Anwendung bei akuter und bei schwer dekompensierter chronischer Herzinsuffizienz. Nach mehrtägiger Infusion lässt die Wirkung nach. Intermittierende Kurzzeitinfusionen bleiben dagegen effektiv. Dopamin: Die kardiovaskulären Effekte des Dopamin sind dosisabhängig: 4 Niedrige Dosis (1,5–3,5 μg/kg/min): Durch Stimulation vaskulärer D1-dopaminerger Rezeptoren Vasodilatation im renalen, koronaren und mesenterialen Flussbett. Steigerung der Diurese und Na+-Ausscheidung. 4 Mittlere Dosis (4–10 μg/kg/min): Positiv inotrope Wirkung durch direkte Stimulation beider β-Rezeptoren am Myokard und Noradrenalinfreisetzung an den sympathischen Nervenenden, die auch den Blutdruck und die Herzfrequenz erhöht. 4 Hohe Dosis (10,5–21,5 μg/kg/min): Bewirkt durch direkte Stimulation der vaskulären α1-Rezeptoren eine periphere Vasokonstriktion mit Blutdruckanstieg und Drosselung der Nierendurchblutung. Der positiv inotrope Effekt des Dobutamin ist stärker als der des Dopamin. Letztes wird in mittlerer bis hoher Dosierung eingesetzt, wenn der Blutdruck abgefallen ist. Oft werden beide Katecholamine kombiniert.
1
94
1
Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
Phosphodiesterase-Inhibitoren Sie verzögern den Abbau des intrazellulären cAMP, das der second messenger der adrenalen Stimulation ist. Durch Steigerung der Kontraktilität des Herzens bei gleichzeitiger Absenkung des peripheren Widerstands wird das Herzzeitvolumen vergrößert. Verfügbar sind Milrinom und Enoximon. Die Applikation erfolgt durch Infusion. Anwendung beim Versagen der Katecholamine, mit denen sie kombiniert werden können. Vasodilatoren Bei schwerer Herzinsuffizienz kann es zu einer massiven, gegen ACE-Blocker resistenten Vasokonstriktion kommen. Dabei spielt vielleicht die Freisetzung von Endothelin aus geschädigten Endothelzellen eine Rolle. In diesen Fällen werden starke Vasodilatoren eingesetzt, von denen zwei genannt seien: 4 Natrium-Nitroprussid: Infusion mit 0,1–3,0 μ g/kg/min. Die Wirkung setzt sehr schnell ein ist kurzdauernd. 4 Nitroglyzerin: Infusion zunächst mit 20 μg/min, dann schrittweise erhöhen auf maximal 400 μg/kg/min. Biventrikuläre Elektrostimulation Bei intraventrikulären Leitungsstörungen, speziell beim Linksschenkelblock erfolg die Kontraktion der Ventrikel nicht mehr völlig synchron. Das trägt im Falle einer Herzinsuffizienz deutlich zur Verminderung der Herzleistung bei. Die Resynchronisation gelingt durch biventrikuläre Elektrostimulation. Dazu werden drei Schrittmacherelektroden gelegt, eine in den rechten Vorhof, eine in den rechten Ventrikel und die dritte in den Koronarsinus, die von dort den linken Ventrikel stimuliert (. Abb. 1.65). Erzielt wird eine Steigerung der Ejektionsfraktion und eine Verbesserung um eine oder zwei NYHA-Klassen. Häufig bildet sich auch eine relative Mitralinsuffizienz um ein bis zwei Schweregrade zurück.
. Abb. 1.65. Röntgenthorax eines 45-jährigen Patienten mit schwerer dilatativer Kardiomyopathie links vor und rechts 6 Monate nach kardialer Resynchronisationstherapie (CRT) mittels eines biventrikulären Schritt-
Assistierte Zirkulation und Kunstherz Intraaortale Ballon-Gegenpulsation (IABP) Die schon 1953 eingeführte Technik ist leicht anzuwenden und hat wenig Komplikationen. Indikationen: Kardiogener Schock nach Herzinfarkt, Infarktkomplikationen (Septumperforation, akute Mitralinsuffizienz durch Papillarmuskelabriss), low-output-Syndrom nach Herzoperationen, Das Herzminutenvolumen kann um 10–20% gesteigert werden. Anwendungsdauer 24–48 Stunden. Kontraindikationen: Aorteninsuffizienz und Aortenaneurysma.
Ventrikuläre Assistenzsysteme Es handelt sich um Blutpumpen, die das Herz durch komplette Aufrechterhaltung des großen, kleinen oder gesamten Kreislaufs entlasten. Sie können nur am freigelegten Herzen mit Hilfe der Herz-Lungen-Maschine installiert werden. 4 Linksventikuläre Assistenzsysteme (Linksherzbypass): Das Blut wird nach Kanülierung des linken Vorhofes oder der Spitzenregion des linken Ventrikels in die Aorta ascendens gepumpt. 4 Rechtsventrikuläre Assistenzsysteme (Rechtsherzbypass): Das Blut wird nach Kanülierung des rechten Vorhofes in den Hauptstamm der Pulmonalarterie gepumpt. 4 Biventrikuläre Assistenzsysteme: Kombination der beiden Assistenzsysteme. Primär erfolgte der Einsatz der ventrikulären Assistenzsysteme beim kardialen Postkardiotomieschock, wenn die Patienten nicht von der Herz-Lungen-Maschine abgehängt werden konnten. Zur passageren Assistenz, für mehrere Stunden bis zu wenigen Tagen werden kontinuierliche Zentrifugalpumpen und pulsatile pneumatische Membranpumpen benutzt.
machersystems (1 Pfeil = Vorhofelektrode, 2 Pfeile = Ventrikelelektrode, 3 Pfeile = Koronarsinuselektrode)
95 1.10 · Rhythmusstörungen des Herzens
Seit sich die Herztransplantation als definitive Therapie der Herzinsuffizienz etabliert hat, werden die ventrikulären Assistenzsysteme bei bedrohten Patienten der Warteliste als Bridgeto-Transplantation installiert. Langfristig, über mehrere Monate, einsetzbare Systeme sind die extrakorporale pneumatische Thoratec-Pumpe (für linksventrikuläre, rechtsventrikuläre und biventrikuläre Assistenz) und voll implantierbare elektrische linksventrikuläre Assistenzsysteme. Bei letzteren erfolgt die Energiezufuhr transkutan mittels einer Magnetspule oder über transkutane Kabel, die mit einer tragbaren Steuer- und Batterieeinheit verbunden sind. Kunstherz Die Implantation eines künstlichen Herzens als Langzeitherzersatz erfolgte erstmals 1983. Damit wurden bei 5 Patienten Überlebenszeiten bis zu 622 Tagen erzielt. Inzwischen gibt es verschiedene pneumatische und elektrische Kunstherzen, die anstelle des Herzens an die großen Gefäße angeschlossen werden. Man wendet sie aber nur noch als Bridge-to-Transplantation an. Die Ergebnisse scheinen dabei weniger gut zu sein als mit den implantierbaren linksventrikulären Assistenzsystemen. Linksventrikuläre Aneurysmaresektion Große linksventrikuläre Aneurysmen sind gewöhnlich anterolateral lokalisiert. Sie entstehen nach Herzinfarkt und gehen in 50% der Fälle mit einer Herzinsuffizienz einher, da sich die vernarbte Aneurysmawand nicht an der Kontraktion beteiligt. Weitere Komplikationen: Angina pectoris, relative Mitralinsuffizienz, tachykarde Rhythmusstörungen, Wandthromben. In diesen Fällen ist die Resektion des Aneurysmas indiziert (Dor-Plastik), meistens in Verbindung mit einer kompletten Revaskularisation. Die Rekonstruktion des linken Ventrikels führt in 80% der Fälle zu einer deutlichen Besserung der Symptome und der kardialen Funktion. Die Überlebensrate nach 5 Jahren liegt bei 84%. Herztransplantation Dank verbesserter Verfahren der Immunsuppression hat sich die Herztranplantation zu einer etablierten Therapie der terminalen Herzinsuffizienz entwickelt. Anders als bei der Nierentransplantation genügt es, wenn Spender und Empfänger in den ABO-Blutgruppen übereinstimmen. In Deutschland werden jährlich über 500 Herztransplantationen durchgeführt. Die Überlebensrate beträgt nach einem Jahr 80–85%, nach 5 Jahren etwa 70%, nach 10 Jahren etwa 50%. Leider bedingt der Mangel an Spenderherzen Wartezeiten von 12–18 Monaten, die viele Patienten nicht überleben. Indikationen: Irreversible terminale Herzerkrankungen, die
weder medikamentös noch durch konventionelle operative Maßnahmen gebessert werden können. Etwa 50% entfallen auf die dilatative Kardiomyopathie, 40% auf koronare Herzerkrankungen im Endstadium, 10% auf kongenitale und erworbene Vitien.
Kontraindikationen: Erhöhter Lungengefäßwiderstand (würde
eine Herz-Lungen-Transplantation erfordern), akute und chronische Infektionen, Malignome oder Systemerkrankungen mit schlechter Prognose, ausgedehnte Lungenparenchymerkrankungen, Leberinsuffizienz, akute peptische Ulzera, bestehende Drogen- oder Alkoholabhängigkeit. Chirurgische Technik: Exzision des Empfängerherzens auf Vor-
hofebene, Durchtrennung der Aorta ascendens und der A. pulmonalis. Anastomosierung des Spenderherzens, zuerst am linken, danach am rechten Vorhof. Zuletzt Verbindung von A. pulmonalis und Aorta ascendens. Variante: Bikavale Anastomose, also Exzision des rechten Vorhofes und des linken Vorhofes bis auf das Einmündungsgebiet der Lungenvenen. Immunsuppression: Standard ist die Kombination von Cyclo-
sporin A, Azathioprin und Prednisolon. Gegen akute Abstoßungsreaktionen werden auch Antikörper gegen T-Lymphozyten eingesetzt. Neuere Immunsuppressiva sind Tacrolimus (für Cyclosporin A) und Mofetil (für Azathioprin). Komplikationen nach Herztransplantation: 4 Abstoßungsreaktionen: Am häufigsten in den ersten 4 Wo-
chen, später zunehmend seltener. Sicherster Nachweis durch endomykardiale Biopsie über die rechte V. jugularis interna aus dem rechten Ventrikel. Behandlung mit Glukokortikoidstoß. 4 Infektionen: Am häufigsten durch Zytomegalievirus und Pneumocystis carinii. 4 Transplantationsvaskulopathie: Arteriosklerose der Kranzgefäße auf dem Boden einer immunologischen Intimaschädigung. Inzidenz 5‒10% pro Jahr. Nach 5 Jahren weisen 40–50% der Patienten angiographische Veränderungen auf. Statine wirken hier besonders günstig. 1.10
Rhythmusstörungen des Herzens
1.10.1
Normale Reizbildung und Erregungsleitung
Spezifisches Muskelsystem des Herzens Das spezifische Muskelsystem dient der Reizbildung und Erregungsleitung (Reizleitungssystem) und gliedert sich in die folgend beschriebenen Bereiche (. Abb. 1.66). Sinusknoten (Sinuatrialknoten) Physiologischer Schrittmacher des Herzens, der im Winkel zwischen V. cava superior und dem Dach des rechten Vorhofes lokalisiert ist (. Abb. 1.66).
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96
1
Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
mittleres Internodalbündel (Wenckebach)
Sinusknoten Bachmann-Bündel vorderes Internodalbündel
hinteres Internodalbündel (Thorel) AV-Knoten
Kent-Bündel His-Bündel Purkinje-Fasern
James-Bündel Kent-Bündel Mahaim-Bündel rechter Tawara-Schenkel
linker Tawara-Schenkel
Purkinje-Fasern a
Sinusknoten AV-Knoten His-Bündel
Tawara-Schenkel
A
H V His-Bündel-EKG
a
b
b
Oberflächen-EKG
. Abb. 1.66a, b. Spezifisches Muskelsystem des Herzens: a Reizleitungssystem mit akzessorischen Strukturen, b His-Bündel- und Ober flächen-EKG
Atriale Leitungsbahnen Spezifische, die Erregung beschleunigt leitende Fasern zwischen Sinusknoten und AV-Knoten sowie zwischen beiden Vorhöfen (. Abb. 1.66). AV-Knoten Lokalisiert am Boden des rechten Vorhofes neben dem Vorhofseptum. Enthält Verbindungsfasern zum Vorhof und eigentliche Knotenfasern und Übergangsfasern zum His-Bündel, die das
Trigonum dextrum durchsetzen. An allen übrigen Stellen sind die Vorhöfe durch das Herzskelett gegen die Kammern elektrisch isoliert (. Abb. 1.66). His-Purkinje-System Es besteht aus dicken, schnell leitenden Purkinje-Fasern und erstreckt sich vom His-Bündel über die beiden Tawara-Schenkel zum subendokardialen Netz der Purkinje-Fasern und von dort mit seinen Endaufzweigungen bis in das innere Wanddrittel der
1
97 1.10 · Rhythmusstörungen des Herzens
diastol. Depolarisation Aktionspotenzial
30
+20 0
0 – 30
– 60 Schwellenpotenzial
Ruhepotenzial
Schwellenpotenzial
– 60
Ruhepotenzial
– 100
Kammern. Der rechte Tawara-Schenkel ist einsträngig, der linke teilt sich in einen breiten hinteren und schmalen vorderen Ast. Die Fasern des spezifischen Muskelsystems stehen mit denen des Arbeitsmyokards der Vorhöfe und Kammern in synzytialer Verbindung (. Abb. 1.66). Schrittmacherfunktion (Automatie) Sinusknoten Zur Impulsbildung ist der Sinusknoten durch spontane Depolarisation befähigt. Das elektrische Ruhepotenzial der Sinusfasern, die keine kontraktilen Fibrillen enthalten, ist mit –55 mVolt relativ niedrig. Wie die transmembrane Potenzialmessung in der . Abb. 1.67 zeigt, bleibt es in der Diastole nicht konstant, sondern nimmt durch den Einstrom von Na+ kontinuierlich ab. Wenn das Schwellenpotenzial (–40 mVolt) erreicht ist, öffnen sich in der Zellmembran Calcium-Natrium-Kanäle. Durch den Einstrom beider Kationen wird das Aktionspotenzial ausgelöst, das sich aus Depolarisation und Repolarisation zusammensetzt. Die Repolarisation resultiert aus dem Stopp des Na+-Einstroms und der Auswärtsdiffusion von K+ (7 Kap. 1.8.6). Der Sinusknoten wird vom Sympathikus und Vagus innerviert. Adrenerge Stimulation beschleunigt, cholinerge Stimulation verlangsamt die Eigenfrequenz des Schrittmachers. Nachgeordnete Schrittmacher Auch der proximale Abschnitt des His-Bündels (sekundäres Reizbildungszentrum) und die His-Purkinje-Fasern (tertiäres Reizbildungszentrum) sind zur Automatie (Selbsterregung) befähigt. Ihre Impulsfrequenz beträgt aber nur 40–60 bzw. 15–40/min, da sie ein höheres Ruhepotenzial haben und in der Diastole langsamer spontan depolarisieren. Sie werden normalerweise vom Aktionspotenzial des Sinusknotens entladen, bevor sie einen Impuls bilden können. Erst wenn der Sinusknoten ausfällt oder blockiert wird, übernehmen nachgeordnete Schrittmacher die Steuerung der Herzfrequenz. Dem Arbeitsmyokard fehlt normalerweise die Automatieeigenschaft. Es wird durch das fortgeleitete Aktionspotenzial depolarisiert.
Phase 1
Phase 0
– 90 . Abb. 1.67. Schrittmacherfunktion des Sinusknotens: spontane diastolische Depolarisation und Aktionspotenzial
Phase 4
– 80
Phase 3
– 40
Phase 2
mV
mV
– 20
. Abb. 1.68. Aktionspotenzial der Arbeitsmyokardfaser
Ruhe- und Aktionspotenzial des Arbeitsmyokards Das Ruhepotenzial einer Zelle des Arbeitsmyokard liegt mit ‒90 mV nahe am K+-Gleichgewichtspotenzial. Der Ablauf des Aktionspotenzial ist in . Abb. 1.68 dargestellt: 4 der schnellen Depolarisation (Phase 1) folgt 4 die langsame (Phase 2) und die schnelle (Phase 3) Repolarisation 4 das Ruhepotenzial (Phase 4) entspricht dem diastolischen Potenzial und bleibt im Gegensatz zu den Schrittmacherzellen konstant. Es kann zu Anfang eine kurze negative Nachschwankung (Hyperpolarisation) aufweisen, die im EKG einer U-Welle entspricht. Erregungsleitung Nach der Depolarisation in den Sinusknotenfasern fließt ein positiver Ionenstrom (Ca++) durch die Ionenkanäle (Nexus) der Glanzstreifen, die an der Kontaktzone zwischen den Herzmuskelfasern liegen. Er hebt das Ruhepotenzial in den angrenzenden Fasern zum Schwellenpotenzial an und bringt damit auch diese zur Depolarisation. Auf diese Weise breitet sich die Erregung über das ganze Herz aus. Die vom Sinusknoten ausgehende Erregung erreicht den AV-Knoten über schnell leitende spezifische Bahnen, bevor die Erregungsausbreitung durch das langsam leitende Arbeitsmyokard der Vorhöfe beendet ist. Im AV-Knoten wird die Erregungsleitung stark verzögert, damit die Kammern nicht vor Ablauf der Vorhofkontraktion erregt werden. Nach Austritt aus dem AV-Knoten wird die Erregung mit hoher Geschwindigkeit (2,5 m/s) über das HisBündel und die Tawara-Schenkel in beide Kammern fortgeleitet. Erregbarkeit Erregbarkeit ist die Fähigkeit der Herzmuskelfasern, auf einen Impuls (der Schrittmacherzellen des Herzens oder exogener Reizquellen wie elektrische Schrittmacher) mit einem Aktionspotenzial zu antworten.
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1
Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
Refraktärphasen Während das Aktionspotenzial abläuft, ändert sich die Ansprechbarkeit der betroffenen Herzmuskelfaser gegenüber neuen Reizimpulsen. Zu unterscheiden ist zwischen: 4 Absoluter Refraktärperiode (Plateauphase): Völlige Unerregbarkeit der Muskelfasern vom Beginn der Repolarisation bis zum Ende der Plateauphase (Phase 2 und 3 in . Abb. 1.68). Die Dauer der absoluten Refraktärperiode nimmt mit der Aktionspotenzialdauer zu. 4 Relativer Refraktärperiode (Repolarisation): Erregbarkeit durch Reize erhöhter Intensität, die nach der Plateauphase der Repolarisation fortlaufend zunimmt (Phase 3 in . Abb. 1.68). Die Aktionspotenziale unvollständig repolarsierter Zellen haben jedoch eine verminderte Anstiegsgeschwindigkeit und werden verlangsamt fortgeleitet. Die effektive Refraktärperiode bezeichnet den Zeitraum bis zur ersten fortgeleiteten Erregung. 1.10.2
Elektrophysiologische Mechanismen der Arrhythmien
Potenzialverlust der ruhenden Fasern Die meisten Rhythmusstörungen resultieren aus einer regionalen Verminderung des Ruhepotenzials im Leitungssystem und Arbeitsmyokard des Herzens, die vielerlei Ursachen haben kann, z.B.: 4 erhöhte K+-Konzentration außerhalb oder verminderte K+Konzentration innerhalb der Zellen 4 Steigerung der Membranpermeabilität für Na+ und 4 Verminderung der Permeabilität für K+. Eine akute Ischämie beispielsweise führt durch Hemmung der Na+/K+-Pumpe (ATP-Mangel) zum Anstieg der äußeren und Absinken der inneren K+-Konzentration, ferner zum Anstieg der inneren Ca2+-Konzentration, durch den das maximale diastolische Membranpotenzial ebenfalls weniger negativ wird. Heterotope Automatie Nach Herabsetzung des Ruhepotenzials (auf etwa -60 mV) durch unvollständige Repolarisation oder partielle Depolarisation können Myokardfasern der Vorhöfe und Kammern die Fähigkeit zur Automatie erlangen, die ihnen beim normalen Ruhepotenzial (-90 mV) fehlt. Purkinje-Fasern, auf -50 mV gebracht, depolarisieren schneller und durch einen anderen ionalen Mechanismus als bei ihrem normalen Ruhepotenzial von -90 mV. Die spontane Entladungsfrequenz von Purkinje- und Myokardfasern mit herabgesetztem Ruhepotenzial kann in Gegenwart von Katecholaminen 200/min erreichen. Die Aktionspotenziale ähneln denen des normalen Sinus- und AV-Knotens (Depolarisation durch langsame Kanäle).
> Die Automatiefrequenz wird durch Katecholamine und Hyperkalzämie gesteigert. Durch Verapamil wird sie stärker gehemmt als durch Inhibitoren der schnellen Kanäle.
Ein durch Depolarisation induzierte heterotope Automatie wurde bei Ischämie und Infarkt nachgewiesen. Getriggerte Aktivität Impulsbildung durch Nachpotenziale, die einem Aktionspotenzial vor oder nach Beendigung der Repolarisation folgen und das Schwellenpotenzial für eine neue Erregung erreichen. Getriggerte Aktionspotenziale können einzeln, in Salven oder als Dauerrhythmus auftreten, je nachdem, in welchem Maße sie durch eigene Nachpotenziale triggernd wirken. Die ionalen Mechanismen sind nicht genau bekannt und wahrscheinlich uneinheitlich. Erregungsleitungsstörungen Ein herabgesetztes Ruhepotenzial vermindert die Anstiegsgeschwindigkeit des Aktionspotenzials und damit seine Fortleitung. Es kann zur progredienten Leitungsverzögerung (decremental conduction) und schließlich zum lokalen Block kommen. Natürlich wird die Erregungsleitung auch durch Gewebeläsionen und Narben blockiert. Reentry Definition. Wiedererregung des Herzens durch Eintritt eines an
umschriebener Stelle verzögert fortgeleiteten Impulses in ein nicht mehr refraktäres Areal. Der Reentry-Mechanismus ist eine häufige Ursache von Rhythmusstörungen. Zu unterscheiden sind zwei Formen. Kreisende Erregung Der ankommende Impuls trifft auf ein in antegrader Richtung unerregbares Gewebe (unidirektionaler Block), umgeht es mit langsamer Geschwindigkeit, erregt es auf retrogradem Weg und gelangt dann zum Ausgangspunkt der Kreisbahn zurück (. Abb. 1.69). Wenn das Gewebe proximal der blockierten Stelle inzwischen wieder erregbar geworden ist, breitet sich der Impuls von hier aus erneut über das Herz aus. Eine andere Variante ist ein Impuls, der sich kreisförmig um ein unerregtes Zentrum bewegt und in einem Abschnitt der Kreisbahn stark verzögert fortgeleitet wird. Wenn er diesen Abschnitt verlässt, trifft er auf Gewebe, dessen Refrak-
. Abb. 1.69. Kreisende Erregung: unidirektionaler Block (links) und Reentry (rechts)
99 1.10 · Rhythmusstörungen des Herzens
tärperiode inzwischen beendet ist. Ein solcher kreisförmiger Reentry-Mechanismus liegt dem Vorhofflattern zugrunde. Die Kreisbahn kann auch von Fasern gebildet werden, die aneinander grenzen (Längsdissoziation der Erregungsausbreitung). Das Kreisen des Impulses wird unterbrochen, wenn er bei seiner Rückkehr auf refraktäres Gewebe trifft. Um das zu erreichen, kann man die Erregungsleitung auf der Kreisbahn beschleunigen oder die langsam leitende Strecke ganz blockieren. Reflektion Der Impuls durchläuft eine Leitungsfaser, die zwischen ihrem proximalen und distalen Segment eine unerregbare Zone aufweist. Diese Zone leitet den Depolarisationsstrom nur passiv, d.h. ohne zusätzliches Aktionspotenzial, und deshalb stark verlangsamt fort. Wenn seine Intensität ausreicht, löst der Depolarisationsstrom im diastalen Segment wieder ein Aktionspotenzial aus, das mit normaler Geschwindigkeit weitergeleitet wird. Gleichzeitig läuft es durch die unerregbare Zone langsam in das proximale Segment zurück und bewirkt hier eine erneute Erregung, falls die Refraktärzeit inzwischen abgelaufen ist. 1.10.3
Zur körperlichen Untersuchung gehört ein kompletter internistischer Status mit besonderem Augenmerk auf Zeichen von Herzinsuffizienz, arteriellem Hypertonus sowie auf Erkrankungen der Lunge und Schilddrüse. 1.10.4
Therapeutische Maßnahmen bei Herzrhythmusstörungen
Medikamentöse Therapie 4 4 4 4
Antiarrhythmika Klasse I A–C Antiarrhythmika Klasse II Antiarrhythmika Klasse III Antiarrhythmika Klasse IV
Apparative Therapie 4 4 4 4
transthorakale Elektrokonversion Herzschrittmacher implantierbarer Kardioverter-Defibrillator (ICD) automatische externe Defibrillatoren (AED)
Diagnostik von Herzrhythmusstörungen
Eine Zusammenfassung der Untersuchungen zur Diagnose von Rhythmusstörungen des Herzen enthält . Tab. 1.7. Bei der Anamnese stehen folgende Fragen im Vordergrund: 4 Art der Rhythmusstörung: langsam oder schnell, regelmäßig oder unregelmäßig 4 Dauer der Störung 4 zusätzliche Symptome (z.B. Schwäche, Synkope, Schwindel, Dyspnoe).
Antiarrhythmika Die Klassifizierung der Antiarrhytmika nach Vaughan Williams (. Tab. 1.8) berücksichtigt nicht alle Wirkungen und lässt einige Überschneidungen außer Betracht. Auch variiert die Wirkung der Antiarrhythmika mit dem Gewebetyp, dem Grad akuter und chronischer Gewebeschäden, der Herzfrequenz, dem Membranpotenzial und weiteren Faktoren. Sie wird ferner durch Effekte auf Vagus oder Sympathikus bestimmt. Anwendungsbeispiel
Von Bedeutung sind auch kardiale Grunderkrankungen des Patienten und die Einnahme von Medikamenten.
. Tabelle 1.7. Diagnostik der Arrhythmien Klinische Symptomatik
5 anamnestische Erfassung der Symptome 5 körperliche Untersuchung
Nichtinvasive Untersuchungsverfahren
5 5 5 5 5
Invasive Untersuchungsverfahren
5 elektrophysiologische Herzkatheteruntersuchung (EPU) 5 Vorhofstimulation 5 His-Bündel-EKG 5 programmierte Ventrikelstimulation 5 Herzkatheteruntersuchung
Ruhe-EKG (12-Kanal) Langzeit-EKG Belastungs-EKG Karotisdruckversuch Kopfwendeversuch
Chinidin (Chinidin duriles®): Hauptsächlich bei Vorhofflimmern
und Vorhofflattern zur Defibrillation (nach Antikoagulation und unter Aufsicht). Wegen vagolytischer Wirkung mit Digoxin kombinieren. Dosierung: 3×400 mg Chinidin im Abstand von 2‒3 Stunden p.o., maximal 3 Tage wiederholen. Erhaltungsdosis: unter Sinusrhythmus 2–4×200 mg/Tag. Disopyramid (Rythmodul®): Anwendung bei supraventrikulären Tachykardien, stets unter EKG-Kontrolle. Dosierung: Aufsättigung mit 1–2 mg/kg i.v. über 15–45 min. Erhaltungsdosis:
2–3×200 mg/Tag p.o. Lidocain: Anwendung bei ventrikulären Tachykardien diverser Ätiologie. Dosierung: initial 70–100 mg langsam i.v. (25 mg/min),
bei fehlendem Erfolg nach 5–10 min zweite Injektion mit 1/3 der Dosis. Erhaltungsdosis: 25–50 μg/kg/min. Flecainid (Tambocor®): Anwendung bei supraventrikulären und ventrikulären Extrasystolen (wegen proarrhythmischer
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1
Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
. Tabelle 1.8. Klassifikation der Antiarrhythmika nach Vaughan Williams Klasse I
Na+-Blocker, die den schnellen Na+-Einstrom hemmen und damit die Anstiegsgeschwindigkeit des Aktionspotenzials senken. A
bei allen Herzfrequenzen und unter Verlängerung der Aktionspotenzialdauer (Chinidin, Procainamid, Disopyramid)
B
bei partiell depolarisierten Zellen und höheren Frequenzen ohne Verlängerung oder mit Verkürzung der Aktionspotenzialdauer (Lidocain, Phenytoin, Tocainid, Mexiletin)
C
bei allen Herzfrequenzen im normalen Gewebe ohne signifikante Veränderung der Aktionspotenzialdauer (Flecainid, Propafenon, Ajmalin, Encainid, Lorcainid)
Klasse II
β-Rezeptorenblocker: 5 nichtkardioselektive (Propranolol etc.) 5 kardioselektive (Atenolol, Metoprolol, Esmolol etc.) Senken die Sinusknotenautomatie, steigern die Refraktärität des AV-Knoten und verlangsamen die AV-Überleitung
Klasse III
K+-Kanalblocker, die eine Verlängerung der Aktionspotenzialdauer bewirken (Amiodaron, Sotalol)
Klasse IV
Ca2+-Kanalblocker, die den Einstrom von Ca2+ (z.T. auch von Na+) durch die langsamen Kanäle hemmen (Verapamil, Gallopamil, Diltiazem)
Effekte unter EKG-Kontrolle). Dosierung: 2 mg/kg i.v. (100– 200 mg alle 12 Stunden); p.o. 20–200 mg/12 Std.
Adenosin: Endogenes Nukleosid, das K+-Kanäle aktiviert. Mittel
der ersten Wahl zur Beendigung von AV-Knotentachykardien. Dosierung: 8–18 mg schnell i.v.
Propafenon (Rytmonorm®): Anwendung bei ventrikulären Extrasystolen und supraventrikulären Tachykardien. Dosierung:
Allgemeine Nebenwirkungen
2–3×150–300 mg p.o.
Verlangsamung der Sinusknotenfrequenz: Bei intaktem Sinus-
Propanolol (Dociton®): Anwendung bei Arrhythmien durch
knoten sind im Allgemeinen die Nebenwirkungen gering und tolerabel. Am stärksten wirken β-Rezeptorenblocker, die vor allem den Frequenzanstieg unter Belastung hemmen.
Thyreotoxikose, Phäochromozytom und Digitalisintoxikation, generell zur Frequenzkontrolle bei supraventrikulären Tachyarrhythmien. Dosierung: initial 0,25 mg i.v. alle 5 Minuten, erhöhen auf 1 mg bis zum Wirkungseintritt (maximal 0,15 mg/kg). Orale Dauerdosierung: 10–100 mg alle 6–8 Stunden. Esmolol (Brevibloc®): Besitzt eine sehr kurze Wirkungsdauer.
Ist deshalb für eine schnelle Blockade bei supraventrikulären Tachyarrhythmien geeignet. Nach Wirkungseintritt bzw. bei Unverträglichkeit kann die Blockade kurzfristig beendet werden. Dosierung: initial 500 μg/kg über 2–3 min. Erhaltungsdosis: 100–200 μg/kg/min.; maximaler hämodynamischer Effekt nach 6–10 Minuten; 20 Minuten nach Infusionsstopp substanzielles Nachlassen der Blockade. Amiodaron (Cordarex®): Anwendung notfallmäßig bei ventriku-
lären Tachykardien und ventrikulären Tachyarrhythmien, auch bei supraventrikulären Tachyarrhythmien. Dosierung: 15 mg/ min für 10 Minuten, 1 mg/min für 3 Stunden, danach 0,5 mg/ min; p.o. 3×200 mg/Tag für 5 Tage, danach 1×200 mg/Tag (TSHKontrollen). Verapamil (Isoptin®): Anwendung bei supraventrikulären Tachykardien (nicht mit Betablockern kombinieren!). und zur Frequenzregulierung bei Vorhofflimmern. Dosierung: akut 5–10 mg i.v. über 1–2 min. Erhaltungsdosis: 3×40–120 mg p.o.
> Bei vorgeschädigtem Sinusknoten können alle Antiarrhythmika erhebliche Bradykardien hervorrufen. Erregungsleitungsstörungen: Es können ein sinuaurikulärer
sowie AV-Block 1. bis 3. Grades, eine QRS-Verbreiterung sowie Schenkelblöcke auftreten. Erregungsleitungsstörungen drohen vor allem bei vorgeschädigtem Reizleitungssystem. Am wenigsten bei den Substanzen der Klasse III. Verlängerung der Erregungsdauer (QT-Zeit): Normaler thera-
peutischer Effekt bei Substanzen der Klasse III, ansonsten bei Überdosierungen und Hypokaliämie. ! Die Verlängerung der QT-Zeit ist bei Überdosierungen und bei Hypokaliämie ein Hinweis auf drohende Kammertachykardien (Torsades de pointes). Arrhythmogene Wirkung: Bei keinem Antiarrhythmikum auszu-
schließen. Wahrscheinlich durch Reentry, wenn z.B. durch Hemmung der Erregungsleitung ein unidirektionaler Block induziert wird, ohne dass gleichzeitig die effektive Refraktärzeit zunimmt oder durch die Umwandlung eines bidirektionalen in einen unidirektionalen Block. Möglicherweise auch durch Nachpotenziale. Negativ inotrope Wirkung: Durch Hemmung des langsamen Calciumeinstroms und der intrazellulären Calciumkinetik. Ausgeprägt durch β-Rezeptorenblocker und Disopyramid, die zur
101 1.10 · Rhythmusstörungen des Herzens
Herzinsuffizienz führen können. Bei den übrigen Substanzen der Klasse I und den Calciumantagonisten durch Überdosierung möglich und im Allgemeinen nur bei vorbestehender Herzinsuffizienz relevant. Keine Herabsetzung der Kontraktilität durch Amiodaron. Spezielle Unverträglichkeiten Chinidin: In höherer Dosierung verursacht Chinidin häufig Diarrhöen, Anorexie, Übelkeit und Erbrechen. Es kann außerdem auch zu Störungen des Sehens und Hörens führen. Die Nebenerscheinungen sind jedoch reversibel. Amiodaron: Seiner ausgezeichneten antiarrhythmischen Wir-
kung stehen bei längerer Anwendung ernste Nebenwirkungen gegenüber. ! Die gefährlichste Nebenwirkung von Amiodaron ist eine irreversible Lungenfibrose, die im fortgeschrittenem Stadium zum Tode führt.
Bei Patienten mit autonomer Euthyreose (fT3 und fT4 normal, TSH blockiert) kann es wegen des hohen Jodgehalts leicht zur Hyperthyreose kommen. Dabei wirkt sich die lange Halbwertszeit des Amiodaron nachteilig aus. Die Hemmung der T4→T3Konversion mit TSH-Anstieg und evtl. Hypothyreose ist weniger problematisch. Bei fast allen Erwachsenen treten nach 6-monatiger Therapie korneale Mikroablagerungen auf, die sich in der Regel 6–12 Monate nach Absetzen zurückbilden. Fast immer ist mit reversibler Lichtempfindlichkeit zu rechnen, der mit Sonnenschutzmitteln zu begegnen ist. Gelegentlich wurden periphere Neuropathien mit Ataxie beobachtet. Transthorakale Elektrokonversion Die elektrische Kardioversion beseitigt mit hoher Erfolgsquote tachykarde Rhythmusstörungen, die auf einem Reentry-Mechanismus beruhen: 4 Vorhofflattern und viele Fälle von Vorhofflimmern 4 AV-Reentrytachykardien 4 Tachykardien bei WPW-Syndrom 4 die meisten Kammertachykardien 4 Kammerflattern und Kammerflimmern.
nicht mehr einen monophasischen, sondern einen biphasischen Gleichstromimpuls ab. Dabei wird die Polarität des Schocks nach Abfall der Ausgangsspannung um 65% umgeschaltet. Die biphasische Defibrillation ist deutlich effektiver. Sie benötigt weniger Energie und ist auch bei adipösen Patienten effektiv. Die Applikation erfolgt in Kurznarkose über zwei großflächige Elektroden, von denen eine im rechten 2. Interkostalraum aufgesetzt wird, die andere im Bereich der Herzspitze (beide mit Elektrodengel). Gelingt die Kardioversion damit nicht, kann eine Elektrode ventral und die andere dorsal aufgesetzt werden, bevor man mit einem geeigneten Katheter intrakardial kardiovertiert. Mit Ausnahme sehr schneller Tachykardien wird der Elektroschock synchron zum QRS-Komplex abgegeben, damit er nicht in die vulnerable Phase der Ventrikel fällt. Zur biphasischen Defibrillation werden für die Vorhöfe 25–50 J, für die Kammern 100–200 J benötigt. Bei monophasischem Schock betragen die entsprechenden Werte Unwirksam ist die Defibrillation bei Tachykardien, die von einem Automatiezentrum ausgehen, weil dieses sofort wieder aktiv wird. Dazu gehören Parasystolie, einige Fälle von Vorhofflimmern, manche Vorhoftachykardien, AV-junktionale Tachykardien und seltene Fälle von Kammertachykardie.
Technik und Wirkungsmechanismus Ein Gleichstromimpuls von hoher elektrischer Energie (50– 200 Joule) wird durch den Brustkorb in das Herz geleitet. Er depolarisiert fast alle nichtrefraktären Herzmuskelzellen und schaltet damit die Reentrykreise ab. Neue Defibrillatoren geben
. Abb. 1.70. Transösophageale Echokardiographie einer 56-jährigen Patientin mit Vorhofflimmern und Nachweis eines Thrombus im linken Vorhofohr (LAA)
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Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
Antikoagulation mit Phenprocoumon (Marcumar) erforderlich. Oft gelingt der Nachweis eines Vorhofthrombus in transösophagealen Echo (. Abb. 1.70). Die Patienten sollen mindestens 4 Wochen auf INR-Werten von 2–3 gewesen sein. Nach der Konversion muss die Antikoagulation mindestens 4 Wochen fortgesetzt werden, weil die mechanische Systole vorübergehend ausbleiben kann, während die elektrische Systole schon wieder vorhanden ist. Eine dringende Kardioversion kann unter Heparinschutz vorgenommen werden, wenn das transösophageale Echokardiogramm im linken Vorhof keinen Thrombus erkennen lässt. Herzschrittmacher Technik und Funktion Herzschrittmacher sind implantierbare Impulsgeber, die den Herzmuskel durch elektrische Stimulation depolarisieren und zur Kontraktion bringen. Sie bestehen aus Energiequelle, Schaltkreis und Elektroden. Als Energiequelle dienen Lithium-JodBatterien mit 5- bis 15-jähriger Betriebsdauer. Die MikrochipSchaltkreise moderner Schrittmacher gestatten die Programmierung komplexer Schrittmacherfunktionen mittels Radiowellen auf transkutanem Wege. Die dazu verwendeten Programmiergeräte können das eingespeicherte Programm für Kontrollzwecke vom Schrittmacher abfragen. Die Elektroden bestehen aus isolierten Drahtsonden mit einem Kopf, der Verankerungshilfen (Anker, Spiralen, Schrauben) trägt. Im Regelfall verwendet man transvenös (V. cephalica, V. subclavia) eingeführte Elektrodensonden und verlegt den Impulsgeber in die Pektoralisregion unter die Muskelfaszie (. Abb. 1.71). Die typische transvenöse Schritt-
macherimplantation ist ein kleiner, in Lokalanästhesie durchführbarer Eingriff, der auch sehr alten Patienten zugemutet werden kann. Zur Überbrückung von Notfallsituationen oder passageren Blockierungen (frischer Infarkt, postoperative Komplikationen) führt man eine temporäre Elektrostimulation mit transvenösen Sonden (V. jugularis, V. subclavia) und externem Impulsgeber durch. Herzschrittmacher haben 2 Basisfunktionen: 4 Herzstimulation (Pacing) 4 Wahrnehmung spontaner elektrischer Impulse des Herzens (detection sensing), die ihnen die Information für das richtige Timing der Impulsabgabe liefern. Durch das Sensing wird erreicht, dass der Schrittmacher das Herz nur bei Bedarf (demand) stimuliert (paced), d.h. wenn die Herzfrequenz unter die Basisfrequenz des Schrittmachers sinkt. Spontane QRS-Komplexe können die Schrittmacheraktion entweder durch Hemmung der Impulsabgabe unterdrücken (Inhibition) oder indem sie einen Schrittmacherimpuls triggern, der noch in die absolute Refraktärphase der Kammern fällt (Trigger-Mechanismus). Die meisten Schrittmacher sind frequenzadaptiert (rate response), d.h., sie können ihre Frequenz einer körperlichen Belastung anpassen. Dazu dienen Sensoren die u.a. Muskelaktivität (Vibrationen), Atemfrequenz, Q-T-Intervall und Sauerstoffsättigung registrieren (. Tab. 1.9). Aus der Möglichkeit, Schrittmachersonden mit Sensing- und Pacing-Funktion im Vorhof und im Ventrikel zu platzieren, resultiert eine Reihe von Schrittmachersystemen, zu deren Kenn-
. Abb. 1.71. Röntgenthorax (p.a. und lateral) einer 72-jährigen Patientin mit DDD-Schrittmacher (1 Pfeil: Vorhofelektrode, 2 Pfeile: Ventrikelelektrode) mit Sick-Sinus-Syndrom und Synkope
103 1.10 · Rhythmusstörungen des Herzens
. Tabelle 1.9. Verschiedene Herzschrittmachertypen und ihre Indikationen
Typ
Indikation
Bemerkung
Vorhof-Demand-Schrittmacher (AAI oder AAIR)
bei isolierter Sinusknotendysfunktion (Bradykardie, SA-Block), aber nur, wenn keine Störung der AV-Überleitung besteht und zu erwarten ist
Vorteil: synchrone Ventrikelkontraktion bleibt
Einkammer-Ventrikel-DemandSchrittmacher (VVI oder VVIR)
AV-Block, wenn sequentielle Aktion von Vorhöfen und Kammern nicht erforderlich ist
Nachteile: asynchrone Ventrikelkontraktion, die zur Beeinträchtigung der linksventrikulären Funktion führt. Außerdem in 20% der Fälle »Schrittmachersyndrom« (bei retrograder Vorhofstimulation Vorhofkontraktion gegen geschlossene AV-Klappen o Druckanstieg im Vorhof o Blutdruckabfall, Schwindelgefühl)
Zweikammerschrittmacher (DDD oder DDDR)
Störung der Sinusknotenfunktion und erste Anzeichen einer AV-Überleitungsstörung, intermittierender und totaler AV-Block III
Sequentielle Aktion von Vorhöfen und Kammern bringt hämodynamische Vorteile
Vorhofsynchronisierter biventrikulärer Schrittmacher
Herzinsuffizienz mit Linksschenkelblock oder verlängertem AV-Intervall
Schrittmacherelektroden im rechten Vorhof, im rechten Ventrikel und über den Sinus coronarius in der Seitenvene des linken Ventrikels. Vorteil: deutliche Verbesserung der Herzleistung
zeichnung ein internationaler Fünf-Buchstaben-Code eingeführt wurde, meist werden nur 3‒4 Buchstaben verwendet. Die Buchstaben haben folgende Bedeutung: 4 1. Buchstabe: stimulierte Kammer (A = Atrium, V = Ventrikel, D = A und V) 4 2. Buchstabe: Ort des Sensing (A, V, D oder 0) 4 3. Buchstabe: Betriebsart zur Unterdrückung spontaner Impulse (I = Inhibition, T = triggern, D = beide Mechanismen) 4 4. Buchstabe: Programmierbarkeit (R = frequenzadaptiert, M = multiprogrammierbar, 0 = keine) 4 5. Buchstabe: Tachyarrhythmiefunktion: (B = Aktivität, N = normale Frequenkonkurrenz, S = Scanning, E = extern). Indikation. Herzschrittmacher werden eingesetzt bei:
4 Dysfunktion des Sinusknotens 4 atrioventrikulärem Block 4 hypersensitivem Karotissinus. Komplikationen. 4 Postoperative Komplikationen: Drucknekrosen mit Haut-
perforation, Infektionen (Schrittmachertasche, Elektrodensonden oder beide), Thrombose und Embolie (Oberarmund Schultervenen, V. cava superior, rechter Vorhof, Insertionsstelle in der rechten Kammer, Pneumothorax, Perikarderguss, Perikardtamponade). 4 Hämodynamische Konsequenzen: Minderung der Herzleistung bei Wegfall der Vorhof-Kammer-Koordination, die bei sequentieller Vorhof-Kammerstimulation vermieden wird, Vorhofpfropfungswellen bei retrograder Überleitung der Kammerimpulse auf die Vorhöfe;
während des Pacing erhalten
4 Elektrodenkomplikationen: Sondenbruch, Sondendislokation, Sondenperforation. Exit-Block (ineffektiver Schrittmacherimpuls außerhalb der Refraktärzeit vorausgegangener Systolen) und Entrance-Block (Wegfall des Sensing) sind die Folgen. 4 Störungen des Schrittmachersystems: vorzeitige Batterieerschöpfung, elektromagnetische Interferenzen (Diathermie, Elektrokauter, Magnetresonanztomographie). Implantierbarer Kardioverter-Defibrillator (ICD) Technik. Der Elektroschock (bis 40 J) zur Defibrillierung (bei Kammerflimmern) oder Konversion (bei Kammertachykardien) wird vom subpektoral implantierten Impulsgeber (mit Lithiumjodid-Batterie) über einen Katheter im rechten Ventrikel appliziert (. Abb. 1.72). Dabei dient das Defibrillatorgehäuse als Gegenpol. Der rechtsventrikuläre Katheter besorgt auch das Sensing. Durch einen Vorhofkatheter kann das System zusätzlich als vorhofgesteuerter Herzschrittmacher arbeiten. Ausgelöste Schocks werden vom Gerät gespeichert. Indikation. Überstandenes Kammerflimmern und lebensbedroh-
liche ventrikuläre Tachykardien, die medikamentös nicht beherrscht werden können. Die Implantation ist dringend erforderlich, wenn bei der elektrophysiologischen Untersuchung, Kammertachykardien und Kammerflimmern induziert werden können. Automatischer externer Defibrillator (AED) Der AED kann bei plötzlich auftretendem Kammerflimmern vom Ersthelfer im Notfall eingesetzt werden bevor der Notarzt eintrifft. Sie sind schon an vielen öffentlichen Orten zu finden.
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Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
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. Tabelle 1.10. Einteilung der Herzrhythmusstörungen Änderung der Herzfrequenz
Tachykardie: Erhöhung des Rhythmus über 100/min Bradykardie: Erniedrigung des Rhythmus unter 60/min
Reizbildungsstörungen
supraventrikuläre Reizbildungsstörungen 5 Sinustachykardie 5 Sinusbradykardie 5 Sinusarrhythmie 5 supraventrikuläre Extrasystolen 5 Vorhoftachykardien 5 multifokale Vorhoftachykardie 5 nichtparoxysmale AV-junktionale Tachykardie 5 AV-Knoten-Reentry-Tachykardie 5 Vorhofflattern 5 Vorhofflimmern ventrikuläre Reizbildungsstörungen 5 ventrikuläre Extrasystolen 5 Kammertachykardien 5 Kammerflattern und Kammerflimmern Präexzitationssyndrome 5 Wolff-Parkinson-White-Syndrom 5 Präexzitation durch Mahaim-Fasern 5 verkürztes AV-Intervall
Erregungsleitungsstörungen
sinuatriale Blockierungen atrioventrikuläre Blockierungen intraventrikuläre Blockierungen
. Abb. 1.72. Röntgenthorax p.a. eines 49-jährigen Patienten 6 Stunden nach Implantation eines Defibrillators mit linksseitigem Pneumothorax
Diese Geräte können automatisch defibrillationswürdige Rhythmen erkennen und die Defibrillation empfehlen. Die Überlebenschancen bei Herzstillstand durch Kammerflimmern steigen, je früher eine Defibrillation durchgeführt wird. 1.10.5
Einteilung von Herzrhythmusstörungen
Herzrhythmusstörungen werden nach Mechanismus und Ort der Störung eingeteilt (. Tab. 1.10). 1.10.6
Supraventrikuläre Reizbildungsstörungen
Ursachen. Steigerung des Sympathikustonus bei körperlicher Anstrengung, seelischer Erregung (hyperkinetisches Herzsyndrom), Fieber, Hyperthyreose, Anämie, kompensatorisch bei Herzinsuffizienz. Analog wirken Sympathikomimetika und Anticholinergika.
supraventrikuläre Reizbildungsstörungen 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4
Sinustachykardie Sinusbradykardie Sinusarrhythmie supraventrikuläre Extrasystolen Vorhoftachykardien multifokale Vorhoftachykardie nichtparoxysmale AV-junktionale Tachykardie AV-Knoten-Reentry-Tachykardie Vorhofflattern Vorhofflimmern
Sinustachykardie Definition. Herzfrequenz 100–200/min bei normalem Erregungsursprung im Sinusknoten.
EKG. Zeichen der Sympathikotonie: Steiltypische P-Zacken, tiefer Abgang der ST-Strecke mit ansteigendem Verlauf, Abflachung der T-Zacke. T- und P-Zacke können sich überlagern. Therapie. Elimination der kausalen Faktoren. Bei hyperkinetischem Herzsyndrom β-Rezeptorenblocker (bevorzugt Nadolol). Tranquilizer bei Erregungstachykardien, die mit Hyperventilation verbunden sein können.
Sinusbradykardie Definition. Herzfrequenz unter 60/min bei normalem Erregungsursprung im Sinusknoten. Ursachen. 4 Vagotonie: Chronisch bei trainierten Sportlern. Paroxysmal
bei Karotisdruck, hypersensitivem Karotissinus, vasovagalen Synkopen (7 Kap. 1.3.4) und Hirndrucksteigerung.
105 1.10 · Rhythmusstörungen des Herzens
4 Kranker Sinusknoten: Altersveränderungen, organische Herzkrankheiten, Infektionen, Kollagenosen, Hypothyreose, Verschlussikterus, Traumen. 4 Pharmaka: β-Rezeptorenblocker, Digitalis (cholinergischer Effekt), Antiarrhythmika (meistens cholinergischer Effekt), Antihypertensiva (Reserpin, Clonidin, α-Methyldopa).
den Pharmaka absetzen. In symptomatischen Fällen Schrittmacherimplantation. Sinusarrhythmie Definition. Phasische Variationen der Länge des Sinuszyklus, bei der die Differenz zwischen maximaler und minimaler Zykluslänge 120 ms übersteigt.
Klinik. Bei jungen Erwachsenen kann die Herzfrequenz im Schlaf
auf 35–40/min sinken. Extreme Bradykardien kommen bei Langstreckenläufern vor (Schlaf: 31/min, Ruhelage: 37/min). Im Alter kann die Ruhefrequenz unter 50/min betragen, ohne dass Kreislaufstörungen auftreten. Symptome verursachen inadäquate persistierende Bradykardien durch Absinken des Herzminutenvolumens (Schwächeanfälle, Verwirrtheit, Schwindelgefühl, Gleichgewichtsstörungen, Synkopen) oder durch Stauung (Atemnot, Ödeme). Organisch bedingte Sinusbradykardien gehen oft mit paroxysmalen atrialen Tachyarrhythmien (Vorhofflimmern, Vorhofflattern, Vorhoftachykardie) einher, die zu anginösen Beschwerden und Herzklopfen führen können. Infolge der verlängerten Sinusknotenerholungszeit treten beim Umschlagen der Tachyarrhythmien in den Sinusrhythmus bei manchen Patienten Synkopen auf. Man spricht vom Bradykardie-Tachykardie-Syndrom. Offenbar ist in diesen Fällen auch die Impulsbildung der Ersatzschrittmacherzellen in den Vorhöfen und im AV-Knoten gestört. Schlägt der bradykarde Sinusrhythmus in ein bradykardes Vorhofflimmern um, muss eine zusätzliche AV-Leitungsstörung angenommen werden. Da es sich jeweils um Vorhofstrukturen handelt, ist es verständlich, dass Sinusknoten, Vorhofmyokard und AV-Knoten bei Vorhoferkrankungen gleichzeitig betroffen sein können bzw. nacheinander in Mitleidenschaft gezogen werden. Diagnostik. Atropin-Test: Frequenzanstieg nach 1 mg Atropin i.v. normaler-
weise auf über 50% des Ausgangswertes im Liegen. Bei gestörter Generatorfunktion des Sinusknotens Anstieg unter 25% des Ausgangswertes bzw. auf weniger als 90/min. EKG: Bei erhöhtem Vagustonus flache P-Zacken, relativ lange PQ-Zeit (die sich unter Belastung verkürzt) und hohe T-Zacken in V2–V6. Klinisch relevante Bradykardien erfordern Aufzeichnung im 24-h-Langzeit-EKG. Bei Sinusknotenaffektionen und Sympathikusblockade kein adäquater Frequenzanstieg im Belastungs-EKG. Die Sinusknotenerholungszeit nach schneller Schrittmacherstimulation des rechten Vorhofs (Zeitintervall zwischen der letzten stimulierten und der ersten spontanen Vorhofaktion) ist bei Dysfunktion des Sinusknotens häufig verlängert (>1600 ms). SA(sinuatriale)-Blockierungen 7 Kap. 1.10.9. Therapie. In passageren Fällen Atropin oder Sympathikomimetika (Orciprenalin sublingual). Alle potentiell frequenzsenken-
Ursachen. Respiratorische Arrhythmie durch reflektorische Hemmung des Vagustonus während der Inspiration; ein physiologisches Phänomen, bei jüngeren Individuen ausgeprägter. Nichtrespiratorische Form bei Sinusknotenschädigung und Digitalisintoxikation. Klinik. Meistens symptomlos. Bei langen Sinuspausen Schwindel-
gefühl, Palpitationen, selten Synkopen. Körperliche Belastung steigert die Frequenz. EKG. Bei der respiratorischen Form zyklische Verkürzung der
P-P-Intervalle während der Inspiration und Verlängerung während der Exspiration, Konstanz beim Atemanhalten. Bei der nichtrespiratorischen Form keine Relation der Frequenzschwankungen zur Atmung. Therapie. Die Therapie entspricht dem Vorgehen bei Bradykardie.
Supraventrikuläre Extrasystolen Definition. Vorzeitige Herzschläge, die den Sinusrhythmus unterbrechen. Der Erregungsursprung liegt oberhalb der Teilungsstelle des His-Bündels. Nach dem Ursprungsort können Sinusextrasystolen, Vorhofextrasystolen und AV-Extrasystolen unterschieden werden. Letztere gehen nicht von Knotenfasern aus, sondern vom knotennahen Abschnitt des His-Bündels. Pathogenese. Der gewöhnlich konstante zeitliche Abstand vom vorhergehenden Normalschlag (feste Kuppelung) zeigt, dass die Extrasystole von der Normalerregung induziert wird. Meistens liegt ein Reentry-Mechanismus vor, der durch die inhomogene Refraktärzeit bedingt ist. Ursachen. Kommt bei Patienten mit organisch gesunden Herzen (seltener als Kammerextrasystolen) vor sowie bei Myokarditis,
koronarer Herzkrankheit, Infektionen (auch fokal), Hyperthyreose. Aber auch eine Hypokaliämie, Genussmittel (Tabak, Alkohol, Kaffee) und Pharmaka (Digitalis, Narkotika, Antiarrhythmika, Sympathikomimetika) können supraventrikuläre Extrasystolen auslösen. In jedem Fall ist nach Kausalfaktoren zu suchen. Klinik. Hämodynamisch sind einzelne Extrasystolen bedeutungs-
los. Herzklopfen resultiert aus der größeren Kontraktionskraft des postextrasystolischen Herzschlages. Als Herzstolpern wird der vorzeitige Einfall der Extrasystolen, als Aussetzen des Herzens die postextrasystolische Pause empfunden.
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106
1
Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
Supraventrikuläre Extrasystolen können Vorboten eines Vorhofflimmerns oder -flatterns sein.
Therapie. Eine medikamentöse antiarrhythmische Therapie ist nur bei relevanten Symptomen notwendig.
EKG. 4 Extrasystolische P-Zacke: Bei einer Sinusarrhythmie mit
Vorhoftachykardien Definition. Tachykardien mit Erregungsursprung im Vorhof.
der des Sinusrhythmus identisch. Bei Vorhofextrasystolen deformiert, bisweilen in der T-Zacke der vorausgegangenen Normalerregung verborgen (. Abb. 1.73). PQ-Zeit verkürzt oder verlängert. Bei AV-Extrasystolen (. Abb. 1.74) retrograde Erregung der Vorhöfe (P in Abl. II und III negativ); P kann vor, im oder hinter dem QRS-Komplex liegen. Keine P-Zacke bei retrograder Blockierung. 4 QRS: Nicht verbreitert, bei früh einfallenden Extrasystolen manchmal verbreitert und deformiert (wegen unvollständiger Repolarisation im Leitungssystem der Kammern: aberrierende Leitung). 4 Postextrasystolische Pause: Länger als ein normaler R-RAbstand, meistens nicht voll kompensierend, d.h. das Intervall von der vorausgehenden zur nachfolgenden R-Zacke ist kürzer als 2 normale RR-Intervalle. 4 Periodizität: Extrasystolen (ES) können sich in fixierten Abständen wiederholen: Bigeminie (nach jedem Normalschlag 1 ES), Trigeminie (nach jedem Normalschlag 2 ES), 2:1-, 3:1-Extrasystolie (nach jedem zweiten bzw. dritten Normalschlag eine ES). Extrasystole
PP
< PP
> PP
PP
2 PP P Av QRS RR
< RR
> RR
RR
2 RR
Klassifizierung. Nach dem Entstehungsmechanismus sind folgende 3 Typen zu unterscheiden: 4 Intraatriale Reentry-Tachykardie: Die Lokalisation des Reentry-Kreises ist nicht genau untersucht. Sie kann durch programmierte elektrische Stimulation ausgelöst und bei der elektrophysiologischen Untersuchung verifiziert werden. Hat paroxymalen Charakter und folgt stets auf eine Vorhofextrasystole. Patienten mit dieser Form haben meistens organische Herzkrankheiten, sind symptomatisch, aber hämodynamisch kompensiert. Sehr häufig besteht eine 2:1Blockierung mit Kammerfrequenzen von 90–120/min. 4 Vorhoftachykardie durch ektopische Automatie: Lokalisation des ektopischen automatischen Fokus an der Crista terminalis des rechten Vorhofes oder an der Basis der Pulmonalvenen im linken Vorhof. Die Automatie kann durch Vorhofstimulation weder ausgelöst noch beendet werden. Diese häufigste Form der Vorhoftachykardie kommt bei gesunden jungen Erwachsenen und Kindern vor. Gewöhnlich tritt sie nach körperlichen Belastungen auf, steigert die Frequenz und bleibt lang dauernd bestehen. In chronischen Fällen kann es zu einer sekundären Kardiomyopathie kommen. 4 Getriggerte Vorhoftachykardie: Verursacht durch Nachpotenziale. Kann durch hochfrequente Vorhofstimulation induziert und elektrophysiologisch von der ReentryTachykardie abgegrenzt werden. Hat stets paroxysmalen Charakter. Seltenste Form mit einem Durchschnittsalter der Patienten von 60 Jahren. Kommt bei Gesunden und Herzkranken vor, typischerweise bei Digitalisintoxikation. Klinik. Gesunde haben oft keine oder nur geringe Beschwerden.
Sehr hohe Frequenzen können zu Schwindelgefühl und Synkopen führen. Bei Herzkranken sind anginöse Beschwerden und Dyspnoe möglich. In jedem Fall wird der Kreislauf nachteilig beeinflusst.
. Abb. 1.73. Extrasystole des Vorhofes
Extrasystole
EKG. Vorhoffrequenz 140–240/min. Bei hohen Frequenzen AVII PP
< PP
PP
Überleitung im Verhältnis 1:2 oder höher. P-Zacken ähnlich wie in Phasen mit Sinusrhythmus. P-P-Abstände konstant (bei ektopischer Automatie leicht variierend). Im Gegensatz zum Vorhofflattern liegt zwischen den P-Zacken eine isoelektrische Linie. QRS ist nicht verbreitert, ohne aberrierende Leitung (. Abb. 1.75).
PP
P Av QRS RR
< RR
> RR < 2 RR
. Abb. 1.74. Extrasystole des AV-Knotens
RR
Therapie. Karotisdruck und Adenosin sind im Gegensatz zu
Knotentachykardien unwirksam die Therapiemöglichkeiten bei Vorhoftachykardien sind in . Tab. 1.11 aufgeführt.
107 1.10 · Rhythmusstörungen des Herzens
Nichtparoxysmale AV-junktionale Tachykardie Definition. Supraventrikuläre Tachykardie durch gesteigerte junktionale Automatie (ektopischer Fokus im oberen His-Bündel). a
d
Ursachen. Posteroinferiorer Herzinfarkt, Myokarditis, Herzoperationen, am häufigsten Digitalisintoxikation. Selten bei sonst gesunden Individuen. e
b
Klinik. An diese Form ist zu denken, wenn die Kammerfrequenz
bei digitalisbehandeltem Vorhofflimmern plötzlich regelmäßig wird, während das Vorhofflimmern bestehen bleibt. f
c
. Abb. 1.75a–f. Tachykarde Herzrhythmusstörungen. a supraventrikuläre paroxysmale Tachykardie, b Vorhofflattern, Vorhofflimmern, c Vorhofflimmern, d ventrikuläre Tachykardie, e Kammerflattern, f Kammerflimmern
EKG. Konstante Kammerfrequenz zwischen 70 und 130/min mit
schmalem QRS-Komplex. Steigerung des Vagustonus verlangsamt die Frequenz, Herabsetzung des Vagustonus erhöht sie. Die retrograde Vorhoferregung ist meistens blockiert. Die Vorhöfe werden vom Sinusknoten, einem atrialen oder einem zweiten junctionalen Fokus mit unabhängiger Frequenz kontrolliert (AV-Dissoziation).
Multifokale Vorhoftachykardie Definition. Seltene supraventrikuläre Tachykardie aus mindestens 3 atrialen Foki. Sie feuern unabhängig von einander, so dass eine Arrhythmie resultiert.
Therapie. Bei Digitalis-Intoxikation Glykosid absetzen, zusätzlich Lidocain. Eine Kardioversion ist meist erfolglos. Katheterablation ist möglich. Spontane Rückbildung unter Behandlung des Grundleidens.
Klinik. Kommt fast nur bei schweren Lungenkrankheiten mit
AV-Knoten-Reentry-Tachykardie Definition. Paroxysmale Tachykardie durch Reentry-Erregung innerhalb des AV-Knotens. Häufigste Form der paroxysmalen supraventrikulären Tachykardien (PSVT) mit einem Anteil von 50% (Vorhofflimmern und -flattern nicht mitgerechnet).
Hypoxie vor. EKG. Mindestens 3 unterschiedliche Formen von P-Zacken und/ oder PR-Intervallen. Vorhoffrequenz durchschnittlich 100/min. Therapie. Im Vordergrund steht die Behandlung der Grund-
krankheit. Außerdem vorsichtige Gabe von β-Blockern oder Calciumantagonisten möglich. > Bei einer multifokalen Vorhoftachykardie keine Kardioversion einsetzen. . Tabelle 1.11. Therapiemöglichkeiten bei Vorhoftachykardien
Tachykardieform
Behandlung
Reentry-Typ
medikamentös wie bei Vorhofflattern und Vorhofflimmern seltener Anfälle: Beendigung mit schneller Vorhofstimulation. Mittel der Wahl in schweren Fällen: Radiofrequenz-Katheterablation (Dauererfolg in Abgrenzung der AV-Knoten-Reentry-Tachykardie gegen atriale Tachykardien durch Karotisdruck- oder ValsalvaManöver. Therapie. Der Anfall endet nicht selten spontan (. Abb. 1.77). Zur Anfallbeendigung wird zuerst die einseitige Karotismassage (5–10 s) eingesetzt, die einen Vagusimpuls mit Freisetzung von Acetylcholin auslöst. Bei Fehlschlag Adenosin (6 mg als Bolus i.v.) oder Verapamil (5–10 mg über 2 min), nötigenfalls elektrische Konversion. Anfallsprophylaxe mit Verapamil, Diltiazem oder β-Blocker (nicht mit Calciumantagonisten kombinieren).
. Abb. 1.77. Spontan terminierte AV-Knoten-Reentry-Tachykardie
Klassifizierung. Das Vorhofflattern wird in 2 Formen eingeteilt: 4 Typ I: Häufigste Variante ist die isthmusabhängige Variante
mit einem Makro-Reentry-Kreis im rechten Vorhof. Er verläuft dorsal der Trikuspidalklappe unter Einbeziehung von Septum, vorderem Vorhofdach, Seitenwand und einem Muskelstrang, dem sog. Isthmus, der vor der Einmündung der V. cava inferior beginnt und zwischen dem Ostium des Sinuscoronarius- und dem Trikuspidalklappenring zum Septum zieht. Die langsame Erregungsleitung im Isthmus ermöglicht den Wiedereintritt der Erregung nach einer Kreisbahn. Diese kann im Uhrzeigersinn oder im Gegenuhrzeigersinn durchlaufen werden, wobei letztere Richtung stark überwiegt. Die Flatterfrequenz beträgt 250–320/min. Die nichtisthmusabhängige Variante hat einen fixierten Reentry-Kreis, der nicht den Isthmus einbezieht. Er muss durch elektrophysiologische Untersuchung lokalisiert werden. Die Flatterfrequenz liegt zwischen 250–320/min. Charakteristisch für beide Varianten des Typs I ist, dass sich das Flattern durch schnelle Vorhofstimulation unterbrechen und durch RF-Katheterablation beseitigen lässt. 4 Typ II: Atypisches Vorhofflattern, das vom Typ I durch folgende Kriterien zu unterscheiden ist: 5 Flatterfrequenz 350–450/min 5 keine Unterbrechung durch Vorhofstimulation 5 keine RF-Katheterablation möglich 5 der Reentrykreis ist nicht fixiert, die P-Zacke variabel. Der Entstehungsmechanismus entspricht anscheinend dem des groben Vorhofflimmerns.
109 1.10 · Rhythmusstörungen des Herzens
Ursachen. Rheumatische Vitien, hauptsächlich Mitralstenose,
Vorhofseptumdefekt, Perikarderkrankungen, chronische obstruktive Lungenkrankheiten, offene Herzoperationen, Hyperthyreose. Selten kommt paroxysmales Vorhofflattern auch bei klinisch Gesunden vor. Klinik. Neben der paroxysmalen gibt es eine chronische Form, die
bei normalen Kammerfrequenzen gut toleriert wird. Beschwerden und hämodynamische Auswirkungen hängen von der Pulsfrequenz ab. Wechselseitiger Übergang in ein Vorhofflimmern ist häufig. Da sich eine Seite der Vorhöfe kontrahiert, während die andere relaxiert ist, wird von den Vorhöfen wenig Blut gefördert, was die gesamte Herzleistung beeinträchtigt. EKG. Sägezahnfömige P-Zacken ohne horizontale Zwischenstrecken (. Abb. 1.75b). Bei der gewöhnlichen Form mit Erregungskreisen im Gegenuhrsinn sind die P-Zacken biphasisch, beim seltenen Kreisen im Uhrzeigersinn aufrecht. AV-Blockierungen 2:1 seltener 4:1. Beim atypischen Flattern ungleichmäßige P-Zacken mit sehr hoher Frequenz (. Abb. 1.78).
Therapie. Zur Beendigung der Attacke zuerst Digoxin i.v. plus β-Blocker oder Verapamil zwecks Reduzierung der Kammerfrequenz. Danach ist bei typischem Vorhofflattern die kurative RF-Katheterablation indiziert. > Beim Versagen der Medikamente oder in bedrohlicher Kreislaufsituation elektrische transthorakale Kardioversion (25–50 Wattsekunden) oder hochfrequente Vorhofstimulation per Katheter im Ösophagus oder rechten Vorhof.
Bei atypischen Vorhofflattern Behandlung wie bei Vorhofflimmern. Eine Antikoagulation ist umstritten, bei intermittierendem Vorhofflimmern jedoch dringend indiziert. Vorhofflimmern Definition. Völlig ungeordnete, unkoordinierte Vorhoferregung ohne effektive Vorhofkontraktion, die mit unregelmäßiger meist beschleunigter Kammertätigkeit verbunden ist.
. Abb. 1.78. Typisches Vorhofflattern mit negativen sägezahnartigen P-Zacken in den Ableitungen II, III, aVF und positiver P-Zacke in V1
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110
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Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
multiple kleine Reentrykreise, denen Inhomogenitäten der Leitungsgeschwindigkeit und Refraktärität im Vorhofmyokard zugrunde liegen. Wenige Minuten nach Beginn des Vorhofflimmerns kommt es im Vorhofmyokard zur Ansammlung von intrazellulärem Calcium und damit zur Verkürzung der Refraktärzeit. Dadurch wird das Flimmern perpetuiert. Neuerdings wurde gezeigt, dass paroxysmales Vorhofflimmern sehr häufig von einem Fokus in den Muskelbrücken am Übergang der Lungenvenen in den linken Vorhof ausgeht. Mittels RF-Katheterablation lassen sich durch Pulmonalvenenisolation solche ektopischen Herde ausschalten und damit das Vorhofflimmern beseitigen. Allerdings kommen Rezidive vor.
Beklemmungsgefühl in der Brust und innere Unruhe. Durch die unökonomische Herztätigkeit können selbst kräftige Herzen nach einiger Zeit hämodynamisch dekompensieren. Auch Synkopen kommen vor. Die Normalisierung der Kammerfrequenz führt dann schnell zur Rekompensation. Bei insuffizienten Herzen droht auch im Falle normaler Kammerfrequenzen die Dekompensation, da mit dem Wegfall der Vorhofkontraktion die Inotropie schwächer wird. Durch Thrombenbildung in den stillstehenden Vorhöfen kann es zu Thromboembolien kommen, besonders bei Mitralstenosen und insuffizienten vergrößerten Herzen, auch bei Hyperthyreose. Bei idiopathischem Vorhofflimmern nimmt das Thromboembolierisiko jenseits des 70. Lebensjahres deutlich zu.
Ursachen. Mitralstenose und andere Vitien mit Überdehnung
Diagnostik. Die Diagnose ergibt sich aus dem EKG (. Abb. 1.79):
des linken Vorhofes, koronare Herzkrankheit, akuter Infarkt mit Linksinsuffizienz, Hypertonie, Kardiomyopathien, Vorhofmyxome, Hyperthyreose, Alkoholismus. Nach Bypass-Operationen tritt oft mehrtägiges Vorhofflimmern auf. Nicht selten kommt Vorhofflimmern ohne erkennbare Ursache und ohne Hinweis auf eine strukturelle Herzerkrankung vor.
Keine P-Zacken, stattdessen unregelmäßige kleine Flimmerwellen etwa 400–700/min von ungleicher Form und Größe, oft nur in Abl. V1 zu erkennen (. Abb. 1.75c). Absolute Arrhythmie der Kammern mit schmalem QRS-Komplex. Kammerfrequenz 60–140/min, abhängig von der AV-Überleitung, die durch verborgene Leitung (concealed conduction) gehemmt ist. Zur Klärung der Ursache ist eine vollständige kardiologische Untersuchung einschließlich Echokardiographie und Ischämiediagnostik. In jedem Fall ist die Schilddrüsenfunktion zu überprüfen.
Pathogenese. Das Vorhofflimmern entsteht in erster Linie durch
Klinik. Transitorisches Vorhofflimmern dauert weniger als 48 Stunden, persistierendes Vorhofflimmern länger als 48 Stunden, bildet sich aber spontan zurück. Wenn sich die Attacken wiederholen, spricht man von paroxysmalem Vorhofflimmern. Permanentes Vorhofflimmern bildet sich nicht mehr spontan zurück. Häufig geht paroxysmales im Laufe von Jahren in permanentes Vorhofflimmern über. Unbehandelte Patienten haben meistens eine Tachyarrhythmia absoluta mit Pulsdefizit infolge schlechter Kammerfüllung. Die Kammerfrequenz kann in unbehandelten Fällen mit intaktem AV-Knoten 150–180/min erreichen. Die Flimmerfrequenz der Vorhöfe schwankt zwischen 350 und 600/min. Häufige Beschwerden während der Tachykardie sind Schwäche, Atemnot,
. Abb. 1.79. Tachykardes Vorhofflimmern
Therapie. Nach Möglichkeit Beseitigung der Ursache durch Be-
handlung des Grundleidens (Mitralkommissurotomie, Thyreostatika etc.). Die Therapiemaßnahmen zum Vorhofflimmern sind in . Tab. 1.12 übersichtlich zusammengestellt. Vorhofflimmern durch ein Automatiezentrum kann bei 70–85% der Patienten durch Ablation des Fokus an der Einmündung der Pulmonalvenen in den linken Vorhof geheilt werden.
111 1.10 · Rhythmusstörungen des Herzens
. Tabelle 1.12. Therapiemaßnahmen bei Vorhofflimmern Akutbehandlung
Beim erstmals aufgetretenem Vorhofflimmern mit sekundären Kreislaufproblemen ist die umgehende transthorakale elektrische Defibrillation angezeigt. Zugleich wird mit der Antikoagulation begonnen (initial Heparin, Überleitung auf Phenprocoumon). Bei kompensierten Patienten wird zunächst die Kammerfreqenz auf 60–80/min gesenkt, z.B. mit Verapamil (mehrmals 80 mg/Tag p.o., dazu Digoxin (initial 0,4 mg i.v.). Alternativ kann mit dem kurz wirkenden β-Blocker Esmolol begonnen (500 μg/kg i.v. über 2–3 min) und die Frequenz mit einem oralen β-Blocker und Digoxin weiter stabilisiert werden. Die Kardioversion ist nicht dringlich. Zunächst sollte die Spontanremission abgewartet und die Antikoagulation eingeleitet werden.
Elektive Kardioversion
Sie gelingt am sichersten mit elektrischer Defibrillation, die allerdings eine Kurznarkose erfordert. Alternativ kann sie unter Notfallbereitschaft mit Flecainid (1 mg/kg langsam i.v.) oder Propafenon (1 mg/kg langsam i.v.) versucht werden. Cave: nicht bei koronarer Herzkrankheit! Möglich ist auch die ärztlich überwachte Einleitung einer peroralen Konversion mit Chinidinhydrogensulfat (4×500 mg aller 4 h bis 2000 mg/Tag für 1–2 Tage). Dazu muss die AV-Überleitung mit Verapamil oder einem β-Blocker gebremst werden. Alternativ kann das besser verträgliche Amiodaron gegeben werden (initial 3–4 × 200 mg/Tag, nach 6 Tagen auf 200 mg/Tag zurückgehen). Auch eine langsamere Aufsättigung ist vertretbar.
Langzeittherapie zwei prognostisch gleichwertige Strategien
Frequenzkontrolle unter permanentem Flimmern
Indiziert bei langem Bestehen des Flimmern (>12 Monate), strukturellen Herzkrankheiten und häufigen Flimmerrezidiven. Eine Ausnahme ist längeres Flimmern bei Herzinsuffizienz, weil die Wiederherstellung des Sinusrhythmus zur Verbesserung der Ventrikelfunktion führt. In solchen Fällen ist ein Versuch mit elektrischer Kardioversion nach bereits begonnener Behandlung mit Amiodaron plus β-Blocker indiziert. Die Frequenznormalisierung gelingt mit den Kombinationen Digoxin plus Calciumantagonist (Verapamil, Diltiazem) oder Digoxin plus β-Blocker. Digoxin, das den Vaguseffekt am AV-Knoten verstärkt, ist zur Frequenzkontrolle unter Belastung allein nicht geeignet, weil dann der Vagustonus abnimmt. Falls es nicht gelingt, die Kammerfrequenz auf ein normales Niveau zu senken, können β-Blocker ausnahmsweise mit Verapamil oder Diltiazem kombiniert werden. Ultima Ratio ist eine Radiofrequenzablation des AV-Knotens und die Kammerstimulation mit einem VVIR-Schrittmacher.
Erhaltung des Sinusrhythmus
Zur Erhaltung des Sinusrhythmus können nach erfolgreicher Kardioversion verschiedene Antiarrhythmika eingesetzt werden. Die Mittel der Gruppen IA und IC sind wegen potentiell proarrhythmischer Wirkung nur nach Ausschluss einer koronaren Herzkrankheit erlaubt. Gegen die Mittel der Gruppen II und III besteht dieser Vorbehalt bei normaler Herzfunktion nicht. Allen überlegen bei der Stabilisierung des Sinusrhythmus ist Amiodaron, das bei längerfristiger Anwendung jedoch zu ernsten Nebenwirkungen führen kann. Die meisten Antiarrhythmika erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer Erhaltung des Sinusrhythmus von 30–50 auf 50–70% pro Jahr nach der Kardioversion.
1.10.7
Präexzitationssyndrome
Präexzitationssyndrome 4 Wolff-Parkinson-White-Syndrom 4 Präexzitation durch Mahaim-Fasern 4 verkürztes AV-Intervall]
Wolff-Parkinson-White-Syndrom Definition. Das Wolff-Parkinson-White-(WPW-)Syndrom ist eine Reentry-Tachykardie, die aufgrund einer akzessorischen Muskelbrücke (Kent-Bündel) zwischen Vorhof und Kammer mit antegrader und retrograder Leitung entsteht (. Abb. 1.66a, . Abb. 1.80b).
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Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
1
K
H
H
A
a
H V
H
c
H V
A
b
V H
H
d
A
d
d
A H V
. Abb. 1.80a–d. Präexzitation: Darstellung exzitatorischer Leitungsbahnen, des EKG und His-Bündel-Elektrogramm. a normaler Befund, b atrioventrikulärer Bypass (WPW-Syndrom), c nodoventrikuläres Bündel (Mahaim-Fasern), d AV-Knoten-Bypass (H = His-Bündel, K = Kent-Bündel, A = Atrium, V = Ventrikel, d = Delta-Welle) (nach J. Gallacker)
4 Orthodrome AV-Reentrytachykardie: Eine supraventrikuläre oder ventrikuläre Extrasystole, die das akzessorische Bündel noch refraktär antrifft, durchläuft dann folgende Kreisbahn: AV-Knoten und His-Bündel → Tawara-Schenkel → Kammern → retrograd die wieder leitungsfähige akzessorische Bahn zum Vorhof zurück, der inzwischen erneut erregbar geworden ist. Anschließend kreist die Erregung im Gegenuhrzeigersinn weiter. Bei dieser orthodromen Tachykardie bleibt der QRS-Komplex schmal, da die Kammererregung auf normalem Weg erfolgt. Die Deltawelle verschwindet. Die negative P-Zacke liegt im frühen ST-Segment. Kammerfrequenz 150–250/min. Bei sehr langsamer retrograder Leitung des Kent-Bündels kann sich eine orthodrome Reentrytachykardie auch ohne Extrasystole entwickeln. 4 Antidrome AV-Reentrytachykardie: Bei dieser seltenen Variante kreist die Erregung im Uhrzeigersinn. Eine Extraystole trifft den AV-Knoten refraktär an, wird antegrad durch das Kent-Bündel zum Ventrikel geleitet und retrograd über den AV-Knoten zum Vorhof zurück. EKG: QRS verbreitert mit Delta-Welle. Negatives P im STSegment. 4 AV-Reentrytachykardie bei verborgenem WPW-Syndrom: In diesen seltenen Fällen leitet das Kent-Bündel nur retrograd. Es kann zu orthodromen Reentry-Tachykardien kommen, die schwer zu diagnostizieren sind, weil das EKG im Sinusrhythmus keine Delta-Welle aufweist. Die negative P-Zacke liegt im Bereich des ST-Intervalls. Klärung erlaubt die elektrophysiologische Untersuchung.
Ätiologie. Angeborener Defekt, der sich meist im frühen Er-
Klinik. Viele Patienten mit Delta-Welle im EKG bleiben asymp-
wachsenenalter manifestiert.
tomatisch. Bei sonst Gesunden werden auch die paroxysmalen Tachykardien relativ gut toleriert. Sehr hohe Frequenzen können zu Schwindelgefühl führen, bei Koronarkranken zu Angina pektoris.
Varianten. Die akzessorische Bahn kann an verschiedenen Stellen der Vorhof-Kammer-Grenze lokalisiert sein. Ihre Auswirkungen hängen von ihrer Leitungsgeschwindigkeit ab, die von Fall zu Fall und auch beim einzelnen Patienten variiert: 4 Sinusrhythmus mit Früherregung der Kammern: Die Kammern werden antegrad über den AV-Knoten und das akzessorische Muskelbündel erregt. Je höher die Leitungsgeschwindigkeit des Bündels, desto größer der Bereich des von ihm erregten Kammermyokards. EKG: Die vorzeitige Erregung eines Kammerabschnitts durch die akzessorische Leitung bewirkt eine Verkürzung des AVIntervalls (0,12 s) durch eine träge ansteigende R-Zacke bzw. träge abfallende Q-Zacke (. Abb. 1.81). Das flache Anfangsstück des QRS-Komplexes nennt man Delta-Welle. Sie repräsentiert den vorzeitig erregten Kammerbezirk. Der QRSKomplex ist genau um den Betrag verbreitert, um den das AV-Intervall verkürzt ist. Aus der Polarität der Deltawellen in den 12 Ableitungen des EKG kann auf die Lokalisation des Bündels geschlossen werden. Die T-Zacke ist meist diskordant zur Hauptausschlagrichtung von QRS.
! Lebensbedrohlich ist hinzutretendes Vorhofflimmern. Da das akzessorische Bündel eine kurze Refraktärzeit hat, droht Kammerflimmern. Therapie. Asymptomatische Patienten mit Früherregung werden nicht behandelt. Anfallbeendigung mit Karotisdruck, Adenosin oder Verapamil i.v. Mittel der Wahl bei symptomatischen Patienten ist die definitive Behandlung mit RF-Katheterablation des akzessorischen Bündels. ! Bei Vorhofflimmern darf Verapamil nicht i.v. gegeben werden, weil es Kammerflimmern auslösen kann. Im Notfall elektrische Kardioversion.
Präexzitation durch Mahaim-Fasern Nach der Lokalisation der Mahaim-Fasern (. Abb. 1.66) unterscheidet man 2 Formen.
113 1.10 · Rhythmusstörungen des Herzens
. Abb. 1.81. EKG einer 28-jährigen Patientin mit WPW-Syndrom und intermittierenden Tachykardien: positive Delta-Welle in II, III, aVF, V2–V6
Nodoventrikuläres Bündel Verbindung zwischen AV-Knoten und rechtem Ventrikel (. Abb. 1.80c). Präexzitation mit verkürzter PQ-Zeit und Delta-Welle kann bei Sinusrhythmus fehlen und erst nach Vorhofstimulation wegen Verzögerung der AV-Überleitung sichtbar werden. Reentry-Tachykardie antegrad über das akzessorische Bündel, retrograd von den Kammern über die Tawara-Schenkel und das His-Bündel zum AV-Knoten zurück. QRS hat dabei die Form wie beim Linksschenkelblock.
Klinik. Symptome und Therapie der Reentry-Tachykardie bei
nodoventrikulärer Verbindung entsprechen denen beim WPWSyndrom. Vorhofflattern und -flimmern führen nicht zu bedrohlicher Kammertachykardie, weil die Impulse einen Teil des AV-Knotens passieren müssen. Therapie. Entsprechend wie beim WPW-Syndrom.
1
114
1
Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
Faszikuloventrikuläres Bündel Bei normaler AV-Leitung ist die PQ-Zeit hier normal. Da das Bündel langsamer leitet als die Purkinje-Fasern ergibt sich keine Deltawelle, sondern nur eine leichte Deformierung der R-Zacke. Im His-Bündel-EKG ist die AH-Zeit normal, die HV-Zeit verkürzt. Spezifische Arrhythmien für dieses Bündel sind nicht bekannt.
Ursachen. 4 organisch: Myokarditis, Infektionen, koronare Herzkrank-
Verkürztes AV-Intervall Definition. Vorzeitige Kammererregung durch ein atriofaszikuläres Bündel.
Klinik. Symptome wie bei supraventrikulären Extrasystolen
Klinik. Häufiges Phänomen, wahrscheinlich ohne pathologische Bedeutung. EKG. PQ 0,12 s oder kürzer, keine Deltawelle, QRS-Komplex normal (. Abb. 1.80d). In der Mehrzahl der Fälle nimmt die PQ-Zeit bei rascher Vorhofstimulation zu, nur bei etwa 10% der Fälle bleibt sie verkürzt. Demnach scheint die verkürzte PQ-Zeit überwiegend auf einer beschleunigten AV-Knotenleitung und nicht auf einer Umgehung des AV-Knotens zu beruhen.
1.10.8
Ventrikuläre Reizbildungsstörungen
Ventrikuläre Reizbildungsstörungen 4 ventrikuläre Extrasystolen 4 Kammertachykardien 4 Kammerflattern und Kammerflimmern
Ventrikuläre Extrasystolen (VES) Definition. Vorzeitige Extraschläge mit Erregungsursprung in den Ventrikeln (Purkinje-Fasern oder Myokard). Einteilung der Extrasystolen:
4 monomorphe Extrasystolen: mehrere Extrasystolen mit identischer Konfiguration im EKG 4 monotope Extrasystolen: Extrasystolen mit identischer Konfiguration und gleichem Ursprung 4 Couplet: 2 aufeinander folgende VES 4 Bigeminus: regelmäßige Abfolge eines Normalschlages und einer Extrasystole 4 Trigeminus: jeder VES folgen 2 Normalschläge 4 Triplet: 3 VES 4 3 oder mehr sukzessive VES: ventrikuläre Tachykardie. Gelegentliche VES kommen häufig bei Gesunden vor, mit dem Alter zunehmend. Pathogenese. In Betracht kommen Reentry-Mechanismus, fo-
kale ektopische Impulsbildung und triggernde Nachpotenziale.
heit und Infarkt 4 toxisch: Digitalis, Anästhesie, Antiarrhythmika 4 metabolisch: Elektrolytstörungen (Hypo- und Hyperkaliämie), Hypoxie, Azidose, Urämie 4 mechanisch: Katheter, Traumen. (7 Kap. 1.1.5). VES sollten immer Anlass zu einer gründlichen Herzuntersuchung und zur Fahndung nach versteckten Entzündungsherden (Tonsillen, Zähnen, Nebenhöhlen) sein. Die Behandlung des Grundleidens ist vorrangig. Auf Tabak, Alkohol und Kaffee sollte versuchsweise verzichtet werden. Eine Belastungsextrasystolie kann auf koronaren Durchblutungsstörungen oder Drucksteigerung in den Ventrikeln beruhen. Eine Ruheextrasystolie, die unter Belastung verschwindet ist meistens harmlos, muss es aber nicht sein. > Die Bedeutung ventrikulärer Extrasystolen hängt von der klinischen Situation ab und wird nicht mehr nach der Lown-Klassifikation bemessen.
In Abwesenheit einer organischen Herzerkrankung mindern VES die Lebenserwartung nicht und erfordern auch keine Einschränkung der körperlichen Aktivität. Dagegen bedeuten ventrikuläre Arrythmien bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit eine Verdoppelung des Risikos, am Herzinfarkt und an allen anderen Mortalitätsursachen zu sterben. Dabei ist die Arrhythmie eher ein Marker für die Herzkrankheit als die unmittelbare Todesursache. Patienten mit VES, die bei elektrophysiologischer Untersuchung keine Kammertachykardie bekommen, haben ein geringes Risiko, einen akuten Herztod zu erleiden. Bei Patienten nach frischem Herzinfarkt mit 1–10 VES pro Stunde ist das Risiko eines Kammerflimmerns erhöht. Ein Kammerflimmern wird allerdings in der Hälfte der Fälle ohne vorausgehende ventrikuläre Rhythmustörungen (VES, R-auf-T-Phänomen, Bigeminus, multiforme QRS-Komplexe, Salven von 2, 3 und mehr Komplexen) beobachtet. Umgekehrt bleibt bei der Hälfte der Patienten mit solchen Rhythmusstörungen ein Kammerflimmern aus. Demnach ist die prognostische Bedeutung ventrikulärer Arrhythmien unsicher. EKG. Vorzeitig einfallende, verbreiterte (QRS >0,11 s), schenkelblockartig deformierte Kammerkomplexe ohne Korrelation zur P-Zacke. Bei rechtsventrikulärem Ursprung Linksschenkelblockbild, bei linksventrikulärem Ursprung Rechtsschenkelblockbild. Die QRS-Verbreiterung und Schenkelblockbilder beruhen auf der langsamen myokardialen Erregungsleitung. Sie hat auch zur Folge, dass die Erregungsrückbildung an der zuerst erregten Stelle beginnt, woraus sich eine zur Hauptausschlagsrichtung von QRS diskordante T-Zacke ergibt (. Abb. 1.82). Die postextrasystolische Pause ist meist kompensatorisch (R–R* + R*–R = 2 R–R), da der Sinusknoten nur selten durch eine
115 1.10 · Rhythmusstörungen des Herzens
tion RR 2 RR
RR
. Abb. 1.82. Kammerextrasystole mit kompensatorischer Pause
Kammertachykardien Definition. Drei oder mehr aufeinander folgende ektopische Kammerkomplexe, deren Frequenz 100/min überschreitet. Zu unterscheiden sind: 4 ventrikuläre Dauertachykardien (>30 s: sustained type), die hämodynamische Symptome (Hypotonie, Synkopen) verursachen und dringend therapiebedürftig sind 4 intermittierende ventrikuläre Tachykardien (120 ms, meist >140 ms), mit Achsenabweichung gegenüber dem QRS im Sinusrhythmus nach links oder rechts. 4 Konkordanz der QRS-Komplexe in den Brustwandableitungen. Bei positiver Konkordanz (QRS in V1–V6 überwiegend positiv) Erregungsursprung im posterobasalen linken Ventrikel. Bei negativer Konkordanz (QRS in V1–V6 überwiegend negativ) Erregungsursprung im anterolateralen linken Ventrikel. 4 QRS-Morphologie. Bei Rechtsschenkelblockbild sprechen biphasisches QRS in V1 und RS (R:S-Verhältnis 30 ms) und eine breite (>70 ms) sowie geknotete S-Zacken für VT. Die . Abb. 1.83 zeigt das Original-EKG einer nichtanhaltenden (non sustained) Kammertachykardie.
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Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
! Alle Kammertachykardien sind sehr ernst zu nehmen, da sie das Risiko des akuten Herztodes durch Übergang in Kammerflimmern beinhalten. Allgemeine Therapie: Medikamentös sind manchmal β-Blocker oder Calciumantagonisten und β-Blocker wirksam. Am zuverlässigsten ist die Wirkung von Amiodaron. In manchen Fällen ist die RF-Katheterablation möglich. Sicheren Schutz gewährt ein implantierter Defibrillator.
Kammertachykardie bei koronarer Herzkrankheit Hochgradige Gefährdung durch Übergang in Kammerflimmern. Mechanismen: Hauptsächlich Reentry im Narbengewebe, im Frühstadium eines Infarkts auch Automatie und Nachpotenziale. Risikofaktoren: Herabgesetzte linksventrikuläre Ejektionsfraktion, intermittierende VT, Nachpotenziale, Alternans der T-Welle (von Schlag zu Schlag), starre Sinusfrequenz (Wegfall des Vaguseinflusses), durch programmierte elektrische Stimulation induzierbare VT. Ischämische ventrikuläre Tachykardie ohne koronare Arteriosklerose Bei jungen Patienten mit abnormem Abgang der Koronararterien, Embolie der Koronararterien durch Thromben oder Vegetationen. Relative Ischämie bei Hypertrophie, schwerer Hypertonie und Aortenstenose.
Kammertachykardie bei Myokarditis Vorkommen bei Myokardsarkoidose, akute Myokarditiden und Trypanosomiasis (Chagas-Krankheit). Behandlung des Grundleidens. Vorübergehend β-Blocker. Kammertachykardien mit/ohne Kardiomyopathie Es werden 3 Formen unterschieden, die in . Tab. 1.13 dargestellt sind. Langes QT-Syndrom Definition. Arrhythmogene Anomalie mit Anfälligkeit für lebensbedrohliche Kammerarrhythmien, die angeboren oder erworben sein kann. Genetisch bedingtes langes QT-Syndrom. Nach dem Erbgang ist das autosomal-dominante Romano-Ward-Syndrom vom seltenen autosomal-rezessiven Jervell- und Lange-Nielsen-Syndrom zu
unterscheiden, das mit Taubheit assoziiert ist. Molekularbiologisch nachgewiesen sind 6 unterschiedliche genetische Defekte, von denen 5 Ionenkanäle der Myozyten modifizieren und einer das Membranmolekül Ankyrin betrifft. Gemeinsam ist allen eine Verlängerung der QT-Zeit mit genspezifischen Unterschieden des ST-T-Abschnitts (. Abb. 1.84). Symptombeginn ist häufig schon in den ersten beiden Lebensdekaden einschließlich der Neugeborenenperiode. Der Schweregrad variiert von häufigen Synkopen, die zum akuten Herztod führen können, bis zu sub-
. Tabelle 1.13. Einteilung der Kammertachykardien mit/ohne Kardiomyopathie
Form
Definition
Ventrikuläre Tachykardie bei idiopathischer dilatativer Kardiomyopathie
5 hohes Risiko bei herabgesetzter Ejektionsfraktion (EF ≤ 30%) und Kammerextrasystolie 5 Reentrymechanismus durch verzögerte Erregungsleitung in den Purkinje-Fasern der TawaraSchenkel
Ventrikuläre Tachykardie bei hypertrophischer Kardiomyopathie
5 bei 25–50% der Patienten asymptomatische intermittierende VT, Gefährdung durch Kammerflimmern (in 40% der Fälle während oder nach mittlerer/schwerer körperlicher Anstrengung) 5 Auslösung durch relative Ischämie und Sympathikusaktivierung 5 meist VT mit Linksschenkelblockbild
Monomorphe ventrikuläre Tachykardie bei normalem Herzen
5 betrifft junge Erwachsene, Männer bevorzugt Variante I
5 Erregungsursprung: automatischer Fokus in der Ausflussbahn des rechten Ventrikels. Ansprechen auf Verapamil oder β-Blockade 5 im Tachykardie-EKG Rechtslage-Typ der Extremitätenableitungen und Linksschenkelblock im Brustwand-EKG 5 teilweise intermittierend auftretend 5 plötzlicher Herztod selten
Variante II
5 idiopathische linksventrikuläre Tachykardie mit Erregungsursprung in der Spitze des linken Ventrikels 5 wahrscheinlich Reentry-Mechanismus 5 Rechtsschenkelblockbild im Brustwand-EKG 5 spricht auf Verapamil, aber nicht auf β-Blockade an 5 plötzlicher Herztod selten
117 1.10 · Rhythmusstörungen des Herzens
. Abb. 1.84. Long-QT-Syndrom bei einer 23-jährigen Patientin (QT-Zeit 480 ms bei einer Herzfrequenz von 60/min). Genetisch: LQT5, KCNE1
(2% aller LQT). Vor 5 Jahren ICD-Implantation nach Kammerflimmern und Reanimation mit 3-maliger Defibrillation
klinischen Formen ohne Arrhythmien. Das Risiko von Ereignissen ist bei einem QT-Intervall >500 ms um über 50% höher als bei einem Intervall 1:800)
einzelne positive Kultur mit Coxiella burnetti oder Antiphase I-IgG (Titer ≥200)
Nebenkriterien
Nachweis des Endokardbefalls
positives Echokardiogramm mit: 5 oszillierender intrakardialer Masse auf Klappen, stützenden Strukturen, in der Bahn des Jetstrahls oder auf implantiertem Material 5 Abszess, partieller Dehiszenz einer prosthetischen Klappe oder neue Klappeninsuffizienz
Prädisposition
5 disponierende Herzveränderungen oder intravenöser Drogenmissbrauch 5 Fieber: >38 °C
vaskuläre Phänomene
größere arterielle Embolien, septische Lungeninfarkte, mykotische Aneurysmen, intrakraniale Blutungen, Janeway-Läsionen
immunologische Phänomene
Glomerulonephritis, Osler-Knoten, Roth-Flecken, Rheumafaktor
mikrobiologische Hinweise
5 einzelne positive Kulturen mit koagulase-negativen Staphylokokken oder Organismen, die gewöhnlich keine infektiöse Endokarditis verursachen oder 5 serologischer Nachweis einer aktiven Infektion mit Erregern, die für eine infektiöse Endokarditis in Betracht kommen
mit je 10 ml Blut zu beschicken, eine zur aeroben, die andere zur anaeroben Kultur. Die Körpertemperatur ist für den Zeitpunkt der Blutentnahme unerheblich. Die Erreger werden identifiziert und auf ihre Antibotikaempfindlichkeit getestet. Dabei wird die minimale Hemmkonzentration (MHK) bestimmt. Diagnostische Haupt- und Nebenkriterien der infektiösen Endokarditis sind in . Tab. 1.16 zusammengestellt. Wenn 2 Hauptkriterien oder 1 Hauptkriterium und 3 Nebenkriterien erfüllt sind, ist die klinische Diagnose Endokarditis begründet. Therapie.
Antibiotische Therapie Prinzip: Zur Überwindung des Expositionsschutzes der Erreger in den Vegetationen muss ein hoher Diffusionsgradient erzielt werden. Hohe bakterizide Serumspiegel (durch parenterale Applikation) sowie eine Behandlungsdauer von in der Regel 4–6 Wochen sind unverzichtbar. Enterokokken werden von Penicillin und Vancomycin nicht abgetötet. Durch die Kombination mit einem Aminoglykosid wird ein synergistischer Effekt erreicht. Er resultiert aus unterschiedlichen Wirkungsmechanismen. Penicilline und Vancomycin greifen an der Zellmembran an, Aminoglykoside sehr intensiv im Zellinnern.
Praktische Durchführung: Für die häufigsten Erreger sind die therapeutischen Alternativen in . Tab. 1.17 zusammengestellt. Anmerkungen: Die intravenösen Applikationen erfolgen als
Kurzinfusionen von 30 Minuten, zuerst immer mit den β-Laktamantibiotika. Unter Therapie mit Gentamicin und/oder Vancomycin sind die Serumspiegel zu kontrollieren. Bei Beteiligung intrakardial implantierten Polymermaterials, Staphylokokken-, Enterokokken- und Pilzendokarditiden besteht unabhängig von bereits eingetretenen Komplikationen (7 unten) primär die Indikation zur Operation. Polymer-assoziierte Endokarditiden erfordern zudem die höchstdosierte Kombinationstherapie mit synergistisch wirksamen Antibiotika. Chirurgische Therapie intrakardialer Komplikationen Indikationen: 4 Klappeninsuffizienz: Hohe Mortalität, da das Myokard an die
akute Volumenbelastung nicht adaptiert ist. Lässt sich die konsekutive Lungenstauung medikamentös nicht rasch kompensieren, besteht eine dringliche Operationsindikation. 4 Instabile Prothesen: Dehiszenzen durch perivalvuläre Infektionen erfordern in der Regel eine Reoperation.
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Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
. Tabelle 1.17. Antibiotikatherapie infektiöser Endokarditiden (nach Horstkotte et al.)
Erreger
Antibiotikum
Dosierung
Dauer
Penicillin-empfindliche Streptokokken (MHKPen 0,1 μg/ml) und Penicillin-Allergie
Vancomycin
4×7,5 mg/kg/Tag
4–6 Wochen
plus Gentamicin
3×1 mg/kg/Tag
5–14 Tage
Pseudomonas aeroginosa
Azlocillin
4×5 g/Tag
6 Wochen
plus Tobramycin
3×1,5 mg/kg/Tag
6 Wochen
Cefotaxim
4×2 g/Tag
4–6 Wochen
plus Gentamicin
3×1,5 mg/kg/Tag
4–6 Wochen
Mezlocillin
4×5 g/Tag
4–6 Wochen
plus Gentamicin
3×1,5 mg/kg/Tag
4–6 Wochen
Amphotericin B
0,5–1,0 mg/kg/Tag
6–8 Wochen
plus Fluorocytosin
150 mg/kg/Tag
4–6 Wochen
E. coli, Klebsiellen, Serratia, Proteus
HACEK-Gruppe
Candida und andere Pilze
(plus Klappenersatz innerhalb von 10 Tagen)
4 Unkontrollierte Infektion: Wenn die antibiotische Therapie versagt, besonders bei Endokarditiden durch gramnegative Erreger, Straphylokokken, Enterokokken und Pilze. Bei Endokarditiden durch S. aureus oder Enterokokken, falls die Sepsis nach 48-stündiger Antibiotikatherapie fortbesteht und der Entzündungsprozess sich lokal ausbreitet (Erregungsleitungsstörungen, Abklatschvegetationen, Destruktion supportiver Strukturen). 4 Große Vegetationen: Bei großen flottierenden Gebilden kommt wegen drohender oder erfolgter Embolien die Operation in Betracht. 4 Akutes Nierenversagen: Entstanden durch die Infektion oder Medikamente, hat eine schlechte Prognose, die durch die Operation gebessert werden kann.
4 Entfernung von Vegetationen und entzündlich verändertem Gewebe mit Klappen-erhaltender Rekonstruktion.
Operative Eingriffe:
Risikoklassen: 4 Besonders hoch: Klappenprothesen, Konduitimplantate,
4 Meistens Klappenersatz oder Prothesenwechsel unter Antibiotikaschutz.
Die antibiotische Therapie ist postoperativ für 6 Wochen fortzusetzen. Endokarditisprophylaxe Prinzip: Bei Eingriffen, die zu einer Bakteriämie führen können,
werden gefährdete Patienten durch Antibiotika geschützt. Eingriffe in der Mundhöhle im Respirationstrakt und Ösophagus erfordern eine Prophylaxe vor allem gegen penicillinempfindliche Erreger. Bei Eingriffen am Urogenitaltrakt und Gastrointestinaltrakt ist mit Enterokokken zu rechnen, bei Inzision eitriger Prozesse an der Haut mit S. aureus.
frühere infektiöse Endokarditis, zyanotische Vitien.
129 1.11 · Entzündliche Herzkrankheiten
. Tabelle 1.18. Medikamentöse Endokarditisprophylaxe (nach europäischen Leitlinien)
Eingriffe
Antibiotikum
Dosierung
Oropharynx, Respirations-, Gastrointestinalund Urogenitaltrakt
Amoxicillin
3 g p.o. 1 Std. vorher, 2g (< 70 kg KG)
Penicillin-/Amoxicillin-Unverträglichkeit
Vancomycin
plus 1 g p.o. 6 Std. nachher (bei sehr hohem Risikoa) 1 g als Infusion von 1–2 Std. vor bis 30 min während der Prozedur plus 1,5 mg/kg KG Gentamicin i.v. bei hospitalisierten und Hochrisikopatienten oder Clindamycin
600 mg p.o. 1 Std. vorher (nur bei Oropharynxeingriffen) 300 mg p.o. 6 Std. nachher (bei sehr hohem Risikoa)
Haut und Hautanhangsgebilde
Clindamycin
600 mg p.o. 1 Std. vor Eingriff plus 300 mg p.o. 6 Std. nachher (bei sehr hohem Risikoa)
Vancomycin
1 g als Infusion, Beginn 1 Std. vorher erneute Infusion nach 12 Std. (bei sehr hohem Risikoa)
a
Sehr hohes Risiko besteht bei Herzklappenersatz, Z.n. infektiöser Endokarditis und zyanotischen Herzfehlern.
4 Erhöhtes Risiko: Angeborene Herzfehler (außer ASD vom Sekundumtyp), erworbene Herzklappenfehler, operierte Herzfehler mit Restbefund, Mitralklappenprolaps mit Insuffizienzgeräusch, hypertrophe obstruktive Kardiomyopathie, bikuspidale Aortenklappe. 4 Kein erhöhtes Risiko: Herzgeräusche ohne echokardiographische Korrelate, Mitralklappenprolaps ohne Insuffizienzgeräusch, Zustand nach koronarer Bypassoperation, Zustand nach Ductus-Botalli-Verschluss, operierte Herzfehler ohne Restbefund, Schrittmacher.
4 Pilze: Disseminierte Moniliasis. 4 Protozoen: Trypanosoma cruzi Toxoplasma gondii (Toxoplasmose). 4 Metazoen: Trichinen( Trichinose).
(Trypanosomiasis),
Nichtinfektiöse Myokarditis: Entzündliche Läsionen immunologischer Genese bei Medikamentenallergie (Penicillin, Methyldopa, Sulfonamide, Streptomycin u.a.), Kollagenkrankheiten und Riesenzellmyokarditis. Entzündliche Reaktionen auf toxische Einwirkungen: Katecholamine (Phäochromozytom), Kohlenmonoxid, Lithium, Arsen, Blei, Röntgenstrahlen.
In . Tab. 1.18 sind die medikamentösen Maßnahmen der Endokarditisprophylaxe bei Eingriffen zusammengestellt. 1.11.3
Myokarditis
Ätiologie. Infektiöse Myokarditis: Entzündliche Myokardläsionen durch
pathogene Organismen, von denen hier nur die wichtigsten aufgeführt werden. 4 Virusarten: Coxsackie-Virus A und B, Enteroviren, Echovirus, Adenovirus, Influenzavirus, Hepatitisvirus B, Zytomegalievirus, EBV (infektiöse Mononukleose), Parvo-Virus B19, Herpesviren. 4 Bakterien: Streptokokken (rheumatisches Fieber, Scharlach), Korynebakterien (Diphtherie), Salmonellen, Meningokokken, Clostridien. 4 Spirochäten: Treponema pallidum (Syphilis), Leptospiren (Morbus Weil, Borrelia recurrentis (Rückfallfieber) und burgdorferi (Lyme-Krankheit).
Pathogenese und Pathologie. Mechanismen der Myokardschädigung: Invasion der Myo-
kardzellen (z.B. durch Echovirus), Toxinbildung (z.B. Diphtherie) oder sekundäre Immunreaktionen (z.B. rheumatisches Fieber). Myokardläsionen: Interstitielle entzündliche Infiltrate, Myokardnekrosen, Desintegration der Myokardfasern, Granulome. Fokaler oder diffuser Befall, je nach Schwere der Erkrankung. Sekundäre interstitielle Fibrose.
Klinik. Verlaufsformen: Nach dem klinischen Bild lassen sich 3 Varianten
der Myokarditis unterscheiden: 4 Subklinische Myokarditis bei akuten Infektionskrankheiten: Nachweis der Myokardbeteiligung nur in autoptisch untersuchten Fällen, klinisch nicht relevant.
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Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
4 Klinisch manifeste Myokarditis bei akuten Infektionskrankheiten: Neben den Zeichen der Infektionskrankheit wird die Herzbeteiligung evident. 4 Myokarditis als isolierte Erkrankung: Die Zeichen der Herzaffektion stehen im Vordergrund. Begleitendes Fieber weist auf entzündliches Geschehen hin. Endokarditis, Perikarditis und Herzinfarkt sind abzugrenzen.
Parainfektiöse Myokarditiden heilen meistens nach mehreren Wochen aus.
Symptome: Schwäche, Herzklopfen, präkordiale Sensationen,
ziertes Virus, Autoimmunerkrankung?). Von der Virusperikarditis klinisch nicht zu unterscheiden, wie diese meistens gutartig mit Ausheilung in 3–6 Wochen.
Herzschmerz bei Perikardbeteiligung, Dyspnoe bei Herzinsuffizienz. Körperliche Befunde: In leichten Fällen nur Tachykardie (über den fieberbedingten Grad hinausgehend). Bei Herzinsuffizienz Abschwächung des 1. Herztones, protodiastolischer Galopp, oft weitere Rhythmusstörungen (atriale und ventrikuläre). Stauungszeichen im großen und kleinen Kreislauf mit Zyanose. Diagnostik. Virologische, bakteriologische, immunologische und serologische Untersuchungen bzw. der Nachweis nichtinfektiöser Noxen sind zur ätiologischen Klärung erforderlich, da die Symptome der Myokarditis keine Spezifität besitzen. Bei Virusmyokarditiden gelingt der Nachweis meistens nur bioptisch und nur selten serologisch. Wichtige Hinweise ergeben sich auch aus extrakardialen Manifestationen der zugrundeliegenden infektiösen Erkrankungen (z.B. Arthritis). Bei generalisierten Infektionskrankheiten stets auf Myokardbeteiligung achten (inadäquate Sinustachykardie, EKG-Veränderungen), da auch latente Myokardschäden die Rekonvaleszenz verzögern oder beeinträchtigen können. EKG: Veränderungen des ST/T-Abschnittes, in klinisch latenten
Fällen oft der einzige Hinweis auf die Myokarditis. Nicht selten atrioventrikuläre und intraventrikuläre Reizleitungsstörungen, bei Nekrosen auch Q-Zacken. Echokardiographie: Erfasst Herzdilatation und Herabsetzung der Verkürzungs- und Ejektionsfraktion. Röntgenuntersuchung des Thorax: Nachweis von Herzverbrei-
terung und Lungenstauung. Therapie. Spezifische antibiotische Therapie bei bekanntem Erreger. Penicillin bei rheumatischem Fieber. Kortikoide bei rheumatischem Fieber, Kollagenosen und versuchsweise bei entzündlichen Kardiomyopathien (nach Endomyokardbiopsie), nicht bei Virusmyokarditis. Im fieberhaften Stadium Bettruhe. Symptomatische Behandlung der Rhythmusstörungen. Behandlung der Herzinsuffizienz mit ACE-Blockern, Diuretika, β-Blockern und Aldosteronantagonisten. ! Bei einer Myokarditis besteht gegenüber Digitalispräparaten eine erhöhte Empfindlichkeit.
1.11.4
Perikarditis
Ätiologische Klassifizierung. Idiopathische Perikarditis: Ursache ungeklärt (nicht identifi-
Virusperikarditis: Am häufigsten durch Coxsackie-Virus B und Echovirus Typ 8, seltener durch die Viren von Mumps, Influenza, infektiöser Mononukleose, Hepatitis B und Varizellen. In der Regel gutartig verlaufend. Das Myokard kann beteiligt sein. Tuberkulöse Perikarditis exsudativa: Früher die häufigste Form, Anteil jetzt unter 10%. Entstehung per continuitatem aus befallenen mediastinalen Lymphknoten oder hämatogen. Weniger akut als die idiopathische Perikarditis und die Virusperikarditis. Übergänge von akuter fibrinöser zu adhäsiver und konstriktiver Perikarditis mit Verkalkung (Panzerherz). Eitrige Perikarditis: Durch verschiedene Erreger (Pneumokok-
ken, Staphylokokken, Streptokokken u.a.), hämatogen, lymphogen oder per continuitatem (Pneumonie, Mediastinitis, subdiaphragmaler Abszess). Meistens Komplikation einer septischen Allgemeininfektion. Perikarditis nach Herzinfarkt: Zu unterscheiden ist zwischen der durch Katheterintervention selten gewordenen Begleitperikarditis durch Nekrose und Ischämie, die nach 12 Stunden bis 10 Tagen auftritt und der immunologisch bedingten diffusen Perikarditis des Dressler-Syndroms, das 2‒3 Wochen (eine Woche bis wenige Monate) nach dem Infarkt beginnt. Beide Formen sind gegen Postinfarktangina und Infarktrezidiv abzugrenzen. Urämische Perikarditis: Früher erkrankten daran bis zu 50% der urämischen Patienten. Unter Dialysebehandlung haben 15‒ 20% hämodynamisch nicht signifikante Perikardergüsse und nur 1,3–5% Ergüsse von hämodynamischer Signifikanz, die sich nach Steigerung der Dialysefrequenz häufig bessern. Die Pathogenese ist ungeklärt (toxische stickstoffhaltige Metaboliten, Infektionen, immunologische Mechanismen nach urämischen oder heparininduzierten Blutungen in den Perikardspalt?). Immunoreaktive Perikarditiden: Bei rheumatischem Fieber,
Kollagenosen und Postperikardiotomie-Syndrom. Promptes ansprechen auf Glukokortikoide.
131 1.11 · Entzündliche Herzkrankheiten
Neoplastische Perikarditis: Sekundärer Befall des Perikards
vor allem bei Bronchialkarzinom, Mammakarzinom, Morbus Hodgkin und Leukämie, seltener bei gastrointestinalen Tumoren, Sarkomen und Melanom. Primärtumoren des Perikards (Mesotheliom, Fibrosarkom) sind äußerst selten. Strahlen-Perikarditis: Relativ häufige Komplikation der Mega-
volt-Therapie bei Mammakarzinom und Morbus Hodgkin, innerhalb von 12 Monaten nach Beendigung der Bestrahlung auftretend. Akute Perikarditis Klinik. Anhaltender scharfer, stechender Präkordialschmerz mit Intensitätszunahme beim Atmen und Husten, im Liegen stärker als im Sitzen mit vorgebeugtem Oberkörper. Der Schmerz hält Tage bis Wochen an, reagiert nicht auf Nitroglycerin, aber auf Analgetika. In schweren Fällen Symptome der Herztamponade durch Perikarderguss (7 unten). Allgemeinerscheinungen: Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Appetitmangel, Fieber. Diagnostik. Herzauskultaltion: Perikardreiben: An umschriebener Stelle
über dem Herzen charakteristisches systolisch-diastolisches Reibegeräusch (Lokomotivgeräusch). Manchmal ist das Reiben zu tasten. EKG: Veränderungen entstehen durch Schädigung des subepikar-
dialen Myokards mit Verletzungsstrom, dessen Vektor bei diffusem Befall des Subepikards in Richtung des QRS-Vektors verläuft. Das typische Perikarditis-EKG durchläuft folgende 4 Stadien: 4 Stadium I: ST-Hebung in allen Ableitungen des Extremitäten- und Brustwand-EKG, außer in aVR und V1, wo die ST-Strecke gesenkt sein kann. Die ST-Strecken sind nach oben konkav, nicht konvex wie beim Infarkt. Positives T in allen Ableitungen mit ST-Erhöhung. 4 Stadium II: Nach einigen Tagen Rückkehr der ST-Strecke zur Grundlinie unter Abflachung der T-Zacke. 4 Stadium III: Inversion der T-Zacken bei isoelektrischem ST. Im Gegensatz zum Infarkt werden die T-Zacken erst nach Rückbildung der ST-Hebung negativ; außerdem entstehen weder Q-Zacken noch Potenzialverluste der R-Zacken, da Nekrosen ausbleiben. 4 Stadium IV: Rückbildung der T-Negativität zum Ausgangsbefund innerhalb von Wochen bis Monaten. In knapp 50% der Fälle werden verschiedene Abweichungen von diesem Verlauf beobachtet: Isolierte Senkung der ST-Strecke, direkter Übergang von Stadium I nach IV, Beschränkung der ST-Hebung auf einige Ableitungen, Negativierung von T bei noch gehobener ST-Strecke, persistierende T-Negativität. Die Abgrenzung gegen das bei jungen Männern nicht seltene EKG der normalen frühen Repolarisation mit ST-Hebungen ergibt sich aus dem Ausbleiben von ST/T-Veränderungen. Die bei etwa
25% der Patienten auftretenden Rhythmusstörungen betreffen hauptsächlich Sinusknoten und Vorhöfe (Nachbarschaft von Sinusknoten und persinodalem Gewebe mit dem entzündeten Perikard): Sinustachykardie, Vorhofflattern, Vorhofflimmern, paroxysmale supraventrikuläre Tachykardien. Echokardiographie: Nachweis und Lokalisation eines begleitenden Perikardergusses. Röntgenuntersuchung des Thorax: Oft ohne auffälligen Befund.
Nur bei größerem Perikarderguss Herzverbreiterung. Keine pulmonalen Stauungszeichen. Laborbefunde: Unspezifische Entzündungszeichen (hohe BKS, Leukozytose), CK und CK-MB meistens normal, doch kann die CK-MB erhöht sein. Troponin ist meistens negativ. Zur ätiologischen Klärung: Tuberkulinreaktion, virologische Untersuchungen, Blutkulturen, Harnstoff- und Kreatininbestimmung, serologische Untersuchungen (Antistreptolysinreaktion, antinukleäre Faktoren, Rheumafaktor, heterophile Mononukleoseantikörper). Therapie. Schmerzstillung bevorzugt mit Antiphlogistika, wenn nötig auch mit starken Analgetika, evtl. mit Morphium. Bei infektiöser Ursache Antibiotika. Bei idiopathischer und immunologischer Form Glukokortikoide, ggf. Colchicum.
Perikarderguss und Herztamponade Definition. Komplikation der akuten oder chronischen Perikarditis jeglicher Ätiologie. Zur akuten Tamponade führt außerdem das Hämoperikard bei Ruptur des Herzens oder einer aneurysmatischen Aorta. Pathogenese: Die Perikardflüssigkeit (normal 15–50 ml) wird
vom Mesothel der parietalen Perikardoberfläche sezerniert und auf dem Lymphweg abtransportiert. Ein Perikarderguss resultiert, wenn die Sekretion die Transportkapazität der Lymphbahnen überschreitet. Das ist bei vielen Perikarditiden der Fall. Für die hämodynamischen Auswirkungen ist nicht die Menge des Perikardergusses, sondern der zur Herzkompression führende Anstieg des intraperikardialen Drucks maßgebend. Bei normalem Herzbeutel steigt der intraperikardiale Druck oberhalb eines Ergussvolumens von 150–200 ml steil an, während der langsam und chronisch gedehnte Herzbeutel mehr als einen Liter Erguss ohne wesentliche Druckerhöhung aufnehmen kann. Die Kompression durch den Perikarderguss erschwert die diastolische Füllung des Herzens. Folglich muss der Füllungsdrucks steigen. Aus der Kompression wird eine Tamponade des Herzens, wenn der intraperikardiale Druck den diastolischen Druck des rechten Vorhofes und der rechten Kammer erreicht. Es resultiert eine Einflussstauung vor dem rechten Herzen mit veränderter Dynamik des venösen Rückflusses. Ansaugeffekt nur während
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Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
der Systole durch Druckabfall im rechten Vorhof, nicht mehr in der frühen Diastole nach Öffnung der Trikuspidalklappe. Da die Kompression während des ganzen Herzzyklus bestehen bleibt, fallen diastolische Kammerfüllung, Schlagvolumen, Herzminutenvolumen und Blutdruck bis zum kardiogenen Schock ab. Klinik. Keine oder geringe präkordiale Beschwerden bei Ergüssen
ohne Drucksteigerung. Bei großen Ergüssen mechanische Kompression der Trachea mit Hustenreiz, der Lunge mit Atemnot und des Ösophagus mit Dysphagie. ! Eine akute Herztamponade führt rasch zum Kreislaufschock.
I
V1
II
V2
III
V3
aVR
V4
aVL
V5
aVF
V6
Diagnostik. Körperlicher Untersuchungsbefund: Verschwinden des perikar-
dialen Reibegeräusches, Abschwächung des 1. Herztones, Verschwinden des Spitzenstoßes, perkutorische Herzverbreiterung, Stauung der Halsvenen. Bei beginnender Tamponade inspiratorischer Blutdruckabfall um mindestens 10 mmHg (verstärkte Füllung des rechten Ventrikels verdrängt das Septum nach links und verkleinert das linksventrikuläre Schlagvolumen). EKG: Niedervoltage von QRS und T bei stärkerer Ergussbildung (. Abb. 1.98), daneben evtl. Perikarditiszeichen (7 oben). Bei Herztamponade und massivem Erguss elektrischer Alternans. Echokardiographie: Ergüsse stellen sich als relativ echofreie
Zonen dar. Der Ergusssaum erlaubt Rückschlüsse auf das Ergussvolumen. Bei großen Ergüssen bzw. großer Tamponade »schwingendes Herz« mit schnellen unzureichenden Kontraktionen. Kompression des rechten Vorhofs und rechten Ventrikels. Inspiratorische Zunahme der Flussgeschwindigkeit in der A. pulmonalis, verbunden mit abnehmender Flussgeschwindigkeit in der Aorta. Röntgenuntersuchung des Thorax: Verbreiterung der Herzsil-
houette bei Ergüssen ab 250 ml (Boxbeutelform). Untersuchung des Herzbeutelpunktats: Bakteriologisch und
zytologisch. Therapie. Subxiphoidale Perikardpunktion, wenn nötig Drainage über einige Tage. Nicht ungefährlicher Eingriff, der nach Lokalanästhesie möglichst unter Durchleuchtungskontrolle, alternativ unter echokardiographischer Führung streng aseptisch durchgeführt werden sollte. Bei rezidivierendem Perikarderguss kommt eine operative Perikardfensterung in Betracht.
Chronische konstriktive Perikarditis Ätiologie. Früher dominierte die Tuberkulose als Krankheitsursache. Heute bleiben die meisten Fälle ungeklärt. Eine initiale akute Perikarditis ist oft nicht nachzuweisen. Akute Perikarditiden jeder Ursache können aber vorausgehen.
. Abb. 1.98. Akute Perikarditis mit Herztamponade. Low-voltage und P-pulmonale (durch Drucksteigerung im rechten Vorhof )
Pathogenese. Behinderung der diastolischen Füllung des Herzens
durch narbige Verdickung und Schrumpfung des Perikards, in 50% der Fälle mit ausgedehnter Verkalkung. Die progrediente Zunahme des Füllungswiderstandes bewirkt einen venösen Rückstau im großen Kreislauf mit Ödembildung und einen Anstieg des enddiastolischen Füllungsdrucks unter Angleichung des Druckniveaus im rechten und linken Herzen. Bei hochgradiger Schrumpfung des Perikards werden die Herzkammern nur in der frühen Diastole gefüllt. Die Förderleitung des Herzens nimmt ab, die Stauung im großen Kreislauf zu. Klinik. Im fortgeschrittenen Stadium präsentieren sich die Pa-
tienten mit hydropischer Herzinsuffizienz, Leber- und Milzvergrößerung, Aszites und Beinödemen. Auf den ersten Blick ähnelt das Krankheitsbild einer Leberzirrhose, zumal das Herz nicht verbreitert erscheint. Die ausgeprägte Halsvenenstauung und ein frühdiastolischer Extraton weisen auf die Herzerkrankung hin. Diagnostik. EKG: Unspezifische Abflachung oder Negativierung der T-Wellen
in den Brustwandableitungen. Infolge des erhöhten Vorhofdrucks manchmal Vorhofflimmern.
133 1.12 · Erworbene Herzklappenfehler
. Abb. 1.99. Perikardektomie. Röntgenbilder und Computertomogramm eines 58-jährigen Patienten mit Perikarditis calcarea vor und nach operativer Perikardektomie (Sammlung Dr. Langer, Bad Oeynhausen)
Echokardiographie: Typisch sind Perikardverdickung, Dilatation der Vorhöfe und der V. cava inferior, abrupter diastolischer Füllungsstop in den Kammern bei guter Kontraktilität, atemabhängige Änderungen der Flussgeschwindigkeit durch die Mitraklappe. Abgrenzung gegen restriktive Kardiomyopathie mit dem Tissue-Doppler: Bei Perikarditis normale, bei restriktiver Kardiomyopathie herabgesetzte Gewebegeschwindigkeit des linksventrikulären Myokards.
1.12
Erworbene Herzklappenfehler
Erworbene Herzklappenfehler Mitralstenose und -insuffizienz Mitralklappenprolapssyndrom Aortenstenose und -insuffizienz Trikuspidalstenose und -insuffizienz erworbene Pulmonalstenose und -insuffizienz
Röntgenuntersuchung des Thorax: Normale Herzgröße.
Manchmal sind Kalkeinlagerungen im Perikard nachzuweisen.
Mitralstenose
MRT und CT: Lassen die Perikardverdickung eindeutig erkennen.
1.12.1
Herzkatheter: Typischer enddiastolischer Druckausgleich
Ätiologie und Pathologie. Die Stenose der Mitralklappe entsteht fast immer als Komplikation des rheumatischen Fiebers, das manchmal auch ohne Gelenkmanifestationen verläuft. Anamnestisch geben etwa 60% der Patienten eine Gelenkerkrankung an, 12% eitrige Anginen und 3% Scharlach. Die Stenosierung der Mitralklappe kommt durch Fusion der Kommissuren zustande der sich Verdickung und Verkalkung der Klappen und eine Verkürzung der Sehnenfäden anschließen kann (. Abb. 1.100). Der Stenosierungsprozess ist langsam progredient, teils durch rheumatische Rezidive, teils durch mechanische Läsionen nach initialer entzündlicher Schädigung. Intervall zwischen erstem rheumatischem Schub und signifikanter Mitralstenose 2‒10 Jahre.
zwischen rechtem und linkem Ventrikel. Präopertiv Koronarangiographie zum Ausschluss einer Mitbeteiligung der Koronararterien. Therapie. Die konservativen Möglichkeiten erschöpfen sich mit Entwässerung durch salzarme Kost und Diuretika. Eine Tuberkulose ist gezielt zu behandeln. Definitve Besserung ist nur durch die Perikardektomie zu erzielen (. Abb. 1.99). Dabei werden nach Längssternotomie beide Ventrikel und die A. pulmonalis freipräpariert (Dekortikation). Die hintere Schale verbleibt, da ihr Ablösen zu gefährlich ist. Letalität 3‒10%. Postoperativ tritt im Laufe einiger Monate eine weitgehende Normalisierung der Herzfunktion ein. Mit dem Eingriff sollte nicht lange gewartet werden, weil die Verschwielung auf das Myokard übergreifen kann.
Pathophysiologie. Die Mitralstenose behindert die Füllung des linken Ventrikels. Am verengten Mitralostium besteht ein diastolischer Druckgradient zwischen linkem Vorhof und linkem Ventrikel. Der Druckgradient steigt mit dem Schweregrad der Stenose und mit dem Herzminutenvolumen, also bei körperlicher Anstrengung. Mitralöffnungsfläche normal 4–6 cm2, bei leichter
1
134
Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
Schübe. Frühsymptom ist eine Belastungsdyspnoe aufgrund des Rückstaus in die Lunge mit Herabsetzung der Vitalkapazität. Allmählich kommt es zum Leistungsabfall und zur chronischen Stauungsbronchitis mit viel Husten und gelegentlich blutigem Sputum. Die Ruptur einer Bronchialvene kann zur Hämoptyse führen. Im Gesicht entwickelt sich auf blassem Grundton eine lividrote Verfärbung der Wangen mit Teleangiektasien (»Mitralgesicht«). Die progrediente Dilatation des linken Vorhofs verursacht schließlich Vorhofflimmern. Halsvenenstauung, Leberschwellung und Ödeme zeigen im Spätstadium eine dekompensierte pulmonale Hypertonie an. Der Übergang von der NYHAKlasse II in die Klassen III und IV vollzieht sich von Fall zu Fall mit unterschiedlicher Geschwindigkeit.
1
Diagnostik. Auskultationsbefund: Paukender 1. Herzton (Mitralklappe wird
. Abb. 1.100. Hochgradig stenosierte, stark kalzifizierte Mitralklappe
Stenose >2,5 cm2, bei mittelschwerer 1,1–2,5 cm2, bei schwerer 1,0 cm2 und weniger. 4 Auswirkungen nach rückwärts: Blutstau und Druckanstieg im linken Vorhof (Hypertrophie → Dilatation → Vorhofflimmern → Zunahme der Dilatation, Tendenz zur Thrombenbildung). Passiver Rückstau in die Lungenvenen und -kapillaren (Stauungslunge mit Hämosiderose, auch Hämoptoe → Lungenödem), Adaptative Drucksteigerung in der A. pulmonalis und im rechten Ventrikel (passive pulmonale Hypertonie). In fortgeschrittenen Fällen kommt es durch intensive Konstriktion der Lungenarteriolen zu einer schweren reaktiven pulmonalen Hypertonie (Rechtshypertrophie → Dilatation des rechten Herzens → Rechtsinsuffizienz → sekundäre Trikuspidalinsuffizienz). Die pulmonale Vasokonstriktion (zweite Stenose) wirkt der Lungenstauung bei körperlicher Belastung entgegen, verhindert aber einen adäquaten Anstieg des Herzminutenvolumens. Trotz Hyalinbildung in den Arteriolen bildet sich die reaktive pumonale Hypertonie nach der Mitralkommissurotomie weitgehend zurück. 4 Auswirkungen nach vorwärts: Kompensation der Stenose durch verlängerten diastolischen Bluteinstrom in den linken Ventrikel. Bei Tachykardie ist dieser Kompensationsmechanismus gestört, die Lungenstauung entsprechend größer. Das Herzminutenvolumen nimmt sukzessive ab. Die Verkleinerung bewirkt Abnahme der linksventrikulären Muskelmasse, Schwindelgefühl bei Belastung und Hautblässe mit zyanotischem Einschlag wegen O2-Ausschöpfung des Kapillarblutes. Klinik. Leichtere Grade der Mitralstenose sind asymptomatisch und können es über 20 Jahre und länger bleiben. Die Verschlimmerung erfolgt hauptsächlich durch rezidivierende entzündliche
aus geöffneter Stellung zugeschlagen). Apikaler hochfrequenter Mitralöffnungston, 0,04–0,11 s nach der aortalen Komponente des 2. Herztones (durch Anspannung der an den Rändern verklebten Klappensegel). Präsystolisches Crescendogeräusch (Einstromgeräusch) während der Vorhofsystole, ein Frühsymptom, das bei Vorhofflimmern verschwindet. In schweren Fällen von pulmonaler Hypertonie Dilatation des Pulmonalklappenringes mit frühdiastolischem Pulmonalinsuffizienzgeräusch im 2.–3. ICR links parasternal (Graham-Steell-Geräusch) und relative Trikuspidalinsuffizienz mit holosystolischem Geräusch links parasternal, dessen Intensität (im Gegensatz zur Mitralinsuffizienz) inspiratorisch zunimmt. EKG: Steil- bis Rechtslagetyp, P-mitrale, Vorhofextrasystolen, im
Verlauf häufig Vorhofflimmern. Bei pulmonaler Hypertonie Zeichen der Rechtshypertrophie und Rechtsschädigung. Röntgenaufnahme des Thorax: Steiler Abfall des linken Herzrandes, Herztaille durch linken Vorhof und prominenten Pulmonalbogen verstrichen (Mitralkonfiguration), Kernschatten durch vergrößerten linken Vorhof im Frontalbild. Im Seitenbild Einengung des Retrokardialraumes im oberen Anteil durch den linken Vorhof, Vorwölbung des rechten Ventrikels in den Retrosternalraum bei Rechtsinsuffizienz. Echokardiographie mit Doppler: Erlaubt die sichere Diagnose
der Mitralstenose, die Bestimmung des Schweregrades und die Beurteilung der Klappenmorphologie (Valvotomiefähigkeit). 4 M-Mode: Linker Vorhof vergrößert bzw. dilatiert. Klappensegel verdickt, eingeschränkt beweglich. DE-Amplitude verkleinert. EF-Slope abgeflacht. Multiple parallele Echos im Bereich der Klappensegel. Frühdiastolische Vorwärtsbewegung des hinteren Segels. 4 2-D-Echo und transösophageales Echo: Differenzierung zwischen Klappenverklebung und Klappenverkalkung, deren Ausmaß und Verteilung zu erfassen sind. Nachweis des diastolischen Vorwölbens (doming) und der fehlenden Separa-
135 1.12 · Erworbene Herzklappenfehler
. Abb. 1.102. Schema einer Mitralvalvotomie mittels Ballonkatheter (Inoue-Technik)
. Abb. 1.101. Echokardiographischer parasternaler Querschnitt bei einer 48-jährigen Patientin mit höhergradiger Mitralstenose. Links: verplumpte, sich wenig öffnende Mitralklappe (Öffnungsfläche 0,8 cm2). Rechts: nach katheterinterventioneller Valvotomie Zunahme der Öffnungsfläche auf 1,8 cm2 durch Wiedereröffnung der verklebten Suturen
tion der Segel. Bestimmung der Mitralöffnungsfläche (MÖF) in der kurzen Achse durch Umfahren der Öffnung im diastolischen Standbild (. Abb. 1.101). Beurteilung des subvalvulären Klappenapparates (Sehnenfäden, Papillarmuskel). 4 Doppler: Farbdoppler: Unterhalb der Mitralklappenebene hochturbu-
lenter Fluss mit mosaikartigem Farbmuster. PW-Doppler: A-Welle bei Sinusrhythmus erhöht, hohe Flussgeschwindigkeit. CW-Doppler: Maximale und mittlere Flussgeschwindigkeit erhöht. Daraus errechnet sich der mittlere diastolische Druckgradient: gering 15 mmHg. Aus der Druckhalbierungszeit (PHT) kann die Mitralöffnungsfläche berechnet werden. 4 Mitralklappen-Score (Wilkens): Bewertet 4 Parameter der Mitralklappe mit den Graden 1‒4: 5 Grad 1: Mobilität 5 Grad 2: subvalvuläre Dicke 5 Grad 3: Dicke der Klappensegel 5 Grad 4: Kalzifizierung. > Der Mitralklappen-Score ist ein wichtiges Kriterium bei der Indikationsstellung zur mitralen Ballonvalvotomie.
Koronarangiographie: Indikationen sind Angina pectoris, Risikofaktoren einer koronaren Herzkrankheit bei Männern >40 und Frauen >50 Jahre. Therapie. Konservativ: In leichten asymptomatischen Fällen ggf. β-Blocker
zur Senkung der Herzfrequenz. Bei Dyspnoe Diuretika, bei Vorhofflimmern Digitalis und Dauerantikoagulation (Marcumar). Im Frühstadium kann die elektrische Kardioversion nach Antikoagulation noch erfolgreich sein. Perkutane Ballon-Valvotomie (BMV): Schematische Darstellung
der BMV in . Abb. 1.102. Indiziert bei unkomplizierter Mitralstenose (an den Kommissuren verklebte Klappen ohne ausgedehnte Verkalkung und ohne starke Schrumpfung der Sehnenfäden). Der Wilkens-Scor sollte ≤8 betragen, die Öffnungsfläche 20 Stück/Tag). 4 Hypertonie: Das KHK-Risiko steigt kontinuierlich mit dem Blutdruckniveau. Systolische und diastolische Hypertonie sind von gleicher Relevanz. Wahrscheinlich ist für die mechanische Belastung der Gefäßwand der arterielle Mitteldruck maßgebend. 4 Hypercholesterinämie: Maßgebend ist das LDL-Cholesterin, dessen Nüchternwert im Serum Infarktausschluss nur durch EKG und fehlenden Enzymanstieg möglich. Variant-Angina (Prinzmetal): Schmerzattacken, die in Ruhe,
meistens in der zweiten Nachthälfte auftreten, mit transmuraler Ischämie (ST-Hebung) und Rhythmusstörungen. Sie werden nicht durch körperlichen oder emotionalen Stress ausgelöst. Nur wenige Patienten haben Schmerzattacken bei körperlicher Belastung. Die Ischämie wird durch Spasmen der epikardialen Koronararterien ausgelöst, die sich fixierten Stenosierungen überlagern können (Kombination von stabiler und Variant-Angina). Meistens ist das Koronarangiogramm bis auf minimale Läsionen unauffällig.
Schmerzdauer: Eine halbe Minute bis zu 30 Minuten. Bei längerer Dauer besteht Infarktverdacht. Nitroglycerineffekt: Nachlassen der Schmerzen 45 Sekunden bis 5 Minuten nach sublingualer Applikation von Nitroglycerin als Kapsel oder Spray. Ausbleibender Effekt bei beginnender Myokardnekrose oder nichtkoronarer Schmerzursache. > Differenzialdiagnose des Brustschmerzes: Generell fehlt bei den nichtkoronaren Brustschmerzen die typische Belastungsabhängigkeit der Angina pectoris. Die RuheAngina ist durch den positiven Nitroglycerineffekt abzugrenzen, der sonst nur noch beim Ösophagusspasmus vorkommt. Angina-ähnliche Schmerzzustände können bei folgenden Erkrankungen auftreten: Aortendissektion (Schmerz sofort maximal), Mitralklappenprolaps (oberflächlicher, mehr über der Spitze lokalisiert), Perikarditis (lässt im Sitzen nach), pulmonale Hypertonie (Lungenembolie), Pleuritis (atemabhängiger Schmerz), Spontanpneumothorax (Dyspnoe), TietzeSyndrom (Druckschmerz der Kostosternalgelenke bzw. des Rippenknorpels), zervikale Radikulitis (Röntgenbefund an der HWS), Refluxösophagitis mit Spasmen (Hiatushernie).
Klinik. Anfallauslösende Faktoren: Körperliche Anstrengung, Arbeit
Diagnostik. Anamnese: Feststellung des persönlichen koronaren Risikopro-
mit den Händen oberhalb des Kopfes, kalte Witterung, Spaziergang nach dem Essen oder gegen den Wind, emotionaler Stress während körperlicher Belastung (Wettkampfsport), seelische Erregung (Angst, Ärger, Freude).
fils (familiäre Infarktbelastung, Hypertonie, Diabetes mellitus, Hyperlipidämie, Zigarettenkonsum). Wichtig sind auch Krankheitszustände mit Hypoxie (schwere Anämie, Asthma bronchiale, chronische obstruktive Lungenkrankheit, zyanotische Vitien). Nicht zuletzt sollten beruflicher und privater Stress eruiert werden.
Schmerzqualität und Begleiterscheinungen: Dumpfer, quälender Druck, ein Schweregefühl oder Brennen in der Brust, oft mit Enge- und Beklemmungsgefühl verbunden, durch Atmung und Lageänderung unbeeinflusst. Innerhalb weniger Minuten zur maximalen Intensität anschwellend, dann allmählich nachlassend. Manchmal nur leichtes unbestimmtes Druckgefühl. Bei schweren Attacken Angst, Erregung, Schweißausbruch und Tachykardie mit Blutdruckanstieg (Sympathikusstimulation). Trotz ischämischer EKG-Zeichen können Schmerzen ausbleiben (stille Ischämie), besonders bei Diabetikern (autonome Denervation im Bereich der sensorischen Endplatten der intrakardialen sympathischen Nerven), manchmal nach Herzinfarkt, wenn sympathische Endplatten zerstört sind. Schmerzlokalisation: Ganz überwiegend retrosternal. Schmerzen über der Herzspitze sind meistens nicht koronaren Ursprungs. Gelegentlich Schmerzen nur in der linken Schulter und im linken Arm, selten im rechten Arm, im Unterkiefer, in der unteren Halswirbelsäule oder in der linken Interskapularregion. Ausstrahlung zur Innenseite des linken Armes, zur linken Schulter, gelegentlich zum rechten Arm oder in beide Arme zugleich.
Ruhe-EKG: In etwa 50% der Fälle normal. Häufig, aber unspezifisch und deshalb diagnostisch nicht verwertbar sind Veränderungen des ST-T-Abschnittes, linksanteriorer Hemiblock, Schenkelblocks und diverse Rhythmusstörungen, insbesondere ventrikuläre Extrasystolen. Nur reversible Veränderungen im Anginapectoris-Anfall (vor allem ST-Senkung oder -Hebung) zeigen eine Ischämie an. Alte Infarktnarben (pathologische Q-Zacken) bestätigen das Vorliegen einer koronaren Herzkrankheit. Belastungs-EKG: Ergometerbelastung (Fahrrad im Liegen oder
Sitzen, Laufband) unter fortlaufender EKG-Kontrolle (12 Ableitungen) und intermittierender Blutdruckmessung, wobei die Belastung stufenweise, z.B. alle 2 min um 25‒50 Watt, gesteigert wird. Ausbelastung bei 85% der maximalen altersabhängigen Herzfrequenz (220 minus Alter). Belastungsabbruch bei Auftreten anginöser Beschwerden und einer horizontalen ST-Senkung um ≥0,1 mV, ferner bei ST-Hebung, polytopen VES, supraventrikulären Arrhythmien, Blutdruckanstieg auf 250/115 mmHg Blutdruckabfall und Erschöpfung. Bei Patienten mit typischer
163 1.15 · Koronare Herzkrankheit (KHK)
Ruhe
RIVA RCX
3 min Belastung
RCA
. Abb. 1.114. Ischämiereaktion im Belastungs-EKG
Angina-pectoris-Anamnese sollte keine Belastung, sondern gleich eine Koronarangiographie durchgeführt werden. Nach Ende der Belastung 6 Minuten Erholung unter EKG-Kontrolle. Ein Defibrillator muss sicherheitshalber bereitstehen. Ischämiekriterium ist eine horizontale ST-Senkung ab 0,1 mV in den Extremitätenableitungen und ab 0,2 mV in den Brustwandableitungen, eine isolierte T-Negativierung jedoch nicht (. Abb. 1.114). Je früher und stärker sie auftritt und je länger sie anhält, desto höhergradig die Koronarstenosen. Die STSenkung erscheint in den Ableitungen mit dominanter R-Zacke und nimmt mit der Höhe der R-Zacke zu. Als Null-Linie für die Messung der ST-Senkung dient die TP-Linie, bei Tachykardie die PQ-Linie. Ursache der ST-Senkung ist eine Ischämie (der am schlechtesten durchbluteten) Innenschicht, die früher repolarisiert oder in der Diastole depolarisiert bleibt. Eine ST-Senkung mit steilem Anstieg der ST-Strecke ist nicht pathologisch. Wenn die ST-Strecke schon im Ruhe-EKG verändert ist, sind ST-Senkungen unter Belastung nicht eindeutig zu bewerten (Digitalismedikation, Hypokaliämie, schwere Linkshypertrophie, Schenkelblocks, WPW-Syndrom). Es kommen falsch positive und falsch negative Befunde vor. Die Sensitivität des Belastungs-EKG variiert bei Eingefäßerkrankung von 25–71% und erreicht bei 3-Gefäßerkrankung etwa 86%. Von anginösen Beschwerden begleitete ST-Senkungen sind fast immer ein Ischämiesymptom. ST-Hebungen sind Ausdruck einer transmuralen Ischämie und als bedrohliches Zeichen anzusehen. Myokardszintigraphie: Ermöglicht den direkten Nachweis be-
lastungsinduzierter Ischämien und übertrifft damit das Belastungs-EKG an diagnostischer Treffsicherheit (74–96%). Unmittelbar vor Beendigung der Ergometerbelastung wird 201Thallium injiziert. Im sofort nach der Belastung aufgenommenen Szintigramm stellen sich ischämische Bezirke als totale oder partielle Speicherdefekte dar, die im zweiten Szintigramm nach 2‒4 Stunden verschwunden sind, während Infarktnarben permanente Defekte entstehen lassen. Strahlenbelastung geringer
anteroseptal
anterior
lateral
septal
inferior
posterolateral
. Abb. 1.115. Zur echokardiographischen Beurteilung und Lokalisation einer koronaren Herzkrankheit werden die Wandbewegungen des linken Ventrikels in 16 Segmenten hinsichtlich ihrer Kontraktilität beurteilt. Das Schema zeigt die Zuordnung der Segmente zu den Koronargefäßen
als bei Thoraxdurchleuchtung. Indikationen zur Myokardszintigraphie:
4 typische oder atypische Angina pectoris mit normalem oder grenzwertigem Belastungs-EKG 4 pathologisches Belastungs-EKG ohne Angina pectoris 4 Verdacht auf koronare Herzkrankheit bei Interpretationsproblemen des Belastungs-EKG (Schenkelblockbilder, ST-TVeränderungen im Ruhe-EKG, Linkshypertrophie, Digitalisierung) 4 mittelgradige Koronarstenosen zur Prüfung der hämodynamischen Relevanz. Stressechokardiographie (. Abb. 1.115): Ein methodisch etwas aufwendiges, aber sehr sicheres Verfahren ohne Strahlenbelastung zur Aufdeckung einer koronaren Herzkrankheit (Sensitivität 74–96%). Indikationen: 4 Angina pectoris bei negativem Belastungs-EKG 4 atypische Angina pectoris 4 Risikopatienten 4 Prüfung der hämodynamischen Relevanz einer Stenose 4 Kontrolle des Revaskularisierungserfolges.
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Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
. Abb. 1.116. 61-jähriger Patient mit koronarer 2-Gefäßerkrankung. Computertomographische (oben) und koronarangiographische (unten) Darstellung einer 70%igen Stenose der rechten Koronararterie (RCA) und einer 70 %igen Stenose des Ramus marginalis I (RCX = R. circumflexus)
Rechtsherz-Einschwemmkatheter: Erfasst die Auswirkungen der koronaren Herzkrankheit auf die diastolische und systolische Ventrikelfunktion. In Ruhe und unter Ergometerbelastung werden der Lungenkapillardruck (PCP) als Referenzwert für den enddiastolischen Füllungsdruck des linken Ventrikels und das Minutenvolumen bestimmt. Sobald es unter der Belastung zur Ischämie kommt, steigt der PCP deutlich an, weil die Compliance des linken Ventrikels abnimmt. Bei stärkeren Graden der Ischämie nimmt gleichzeitig das Minutenvolumen nicht mehr belastungsadäquat zu. Als indirekte Methode nur noch wenig gebräuchlich. Koronarangiographie und Ventrikulographie: Die kombinierte Darstellung der Koronararterien (. Abb. 1.116) und des linken Ventrikels mit Kontrastmitteln ermöglicht die definitive Diagnose bzw. den Ausschluss einer koronaren Herzkrankheit. Sie erfasst den Schweregrad und die Lokalisation der Arterienobstruktion und der durch Infarkte eingetretenen Wandschädigung. Damit bildet sie die Grundlage für Eingriffe zur Revaskularisierung. 4 Indikation: Im Hinblick auf das sehr geringe Risiko der Untersuchung einerseits und der Möglichkeit der gleichzeitigen Ballondilatation signifikanter Stenosen andererseits, sollte die Koronarangiographie bei jeder typischen Angina pec-
toris, bei klinisch dringendem Verdacht auf KHK und bei objektivierter Ischämiereaktion angestrebt werden. Diese Empfehlung wird durch die Beobachtung gestützt, dass bei relativ milder Angina pectoris nicht selten hochgradige Koronarstenosen gefunden werden. 4 Methoden: Retrograde Sondierung der Koronararterien und des linken Ventrikels nach dem Verfahren von Judkins: Mit der Seldinger-Technik werden über die A. femoralis transkutan verschiedene Katheter zur Ventrikulographie und zur Sondierung der rechten und linken Koronararterie eingeführt. Die Kontrastmittelinjektion wird auf dem Fernsehschirm beobachtet und mit der Kinobildaufnahmetechnik aufgezeichnet. Bei Stenosierung der Beckenarterien erfolgt die Sondierung nach der Methode von Jones über die A. brachialis dextra oder die A. radialis. Therapie. Konservative Maßnahmen Instruktionen: Erklärung der koronaren Herzkrankheit, auch
den nächsten Angehörigen. Anginaschmerz als Warnsignal darstellen. Die anfallsauslösenden Faktoren benennen: Kälte, große Höhe, Schwüle, feuchte Luft, körperliche Belastung und Aufregungen aller Art. Entsprechende Anpassung der Lebensweise
165 1.15 · Koronare Herzkrankheit (KHK)
und leichtes Training unterhalb der Anginaschwelle empfehlen (Koronarsportgruppe). Maßnahmen gegen die Risikofaktoren: Absolutes Rauchverbot, optimale Blutdruckeinstellung (nach Langzeitprotokoll), optimale Diabeteskontrolle inklusive Gewichtsreduktion, Senkung der LDL-Werte, unter den Normalbereich. Medikamentöse Behandlung Organische Nitrate: Substanzen: Nitroglycerin (Glyceroltrinitrat), Isosorbitdinitrat
(ISDN), Isosorbit-5-Mononitrat (IS-5-MN), Pentaerythrityltetranitrat (PETN). Wirkungsmechanismus: Relaxation der glatten Muskelzellen in der Gefäßwand von Venen und Arterien nach Metabolisierung zu Nitroxid (NO), das auch endogen als Vasodilatator gebildet wird (7 Kap. 1.1.1). Zur Vasodilation führt folgende Reaktionskette: NO → Aktivierung der Guanylatcyclase (nach Umwandlung in S-Nitrosothiol) → Bildung von cGMP aus GTP → Absinken der intrazellulären Ca++-Konzentration → Relaxation der Muskelzellen. Kreislaufeffekte:
4 Bei der üblichen (relativ niedrigen) Dosierung überwiegt die Relaxation der Venen: → Blutpooling im Venensystem → Abnahme des venösen Rückflusses → Herabsetzung des enddiastolischen Volumens → Abnahme von Prä- und Afterload → Reduzierung des myokardialen O2-Verbrauchs. 4 Relaxation der epikardialen Koronararterien und Beseitigung von Koronarspasmen: → Zunahme des koronaren Blutflusses, bevorzugt in den ischämischen Bezirken, weil hier die Widerstandsgefäße durch die Autoregulation weitgestellt sind. 4 Abnahme des Arteriolenwiderstandes: Schon bei niedrigen Dosen im Bereich des Gesichts (Flush) und der Meningen (Kopfschmerz). Erst bei höheren Dosen auch systemisch: → Blutdruckabfall, reflektorische Tachykardie. Nitrattoleranz: Nachlassen des therapeutischen Effektes bei Applikation in kurzen Intervallen, unter Dauerinfusion schon nach einem Tag. Mögliche Ursachen: Mangel an Sulfhydrilgruppen, Volumenexpansion durch venöses Pooling, gegenregulatorische Sympathikusaktivierung. Vermeidbar durch Therapieunterbrechung für 8–12 Stunden pro Tag, am besten in der Nacht. Vielleicht können ACE-Blocker der Nitrattoleranz entgegenwirken. Therapeutische Anwendung: Nitrolingual wird von der Mundschleimhaut resorbiert und wirkt nach 1–2 Minuten. Zerbeißkapseln (0,8 mg) oder Sprays (0,4 mg je Sprühstoß) sind die Mittel der Wahl für den Anfall. Die Dosis kann nach 5 Minuten wiederholt werden. Bei der instabilen Angina pectoris kann eine Infusion nötig werden. Diese Patienten gehören auf eine Intensivstation. Auch ISDN wird sublingual resorbiert beginnt aber erst nach 3‒6 Minuten zu wirken (Tabl. zu 5–10 mg, Sprühstoß 1,25 mg). Für die perorale Langzeittherapie zur Anfallsprophylaxe dienen ISDN (2–3×20–60 mg/Tag), IS-5-MN (2–3×
20–40 mg/Tag) und PETN (2×80 mg/Tag). Von nitratähnlicher Wirkung und ein Plättchenaggregationshemmer ist Molsidomin (2×8 mg/Tag). Nebenwirkungen: Flush, Kopfschmerezn, oft nach einigen Tagen nachlassend. Bei höherer Dosis Schwindelgefühl und Hypotonie bis zum Kreislaufkollaps. Die Kreislaufwirkung ist im Stehen größer als im Liegen. Bei Nitratunverträglichkeit kann alternativ Molsidomin eingesetzt werden. β-Rezeptorenblocker: Substanzen: Nichtselektive (Propanolol) und kardioselektive
(Metoprolol, Atenolol) Blocker. Wirkungsmechanismus: Alle β-Blocker setzen die Schlagfrequenz und Kontraktilität des Herzens sowie den Blutdruck herab. Damit reduzieren sie den myokardialen Sauerstoffverbrauch. Therapeutisch sind die kardioselektiven β1-Blocker vorzuziehen, da von ihnen die vasodilatorischen β2-Rezeptoren der koronaren und peripheren Arterien nicht gehemmt werden. Therapeutische Anwendung: Mittel der Wahl für die Langzeittherapie der Angina pectoris, da die Arbeitskapazität erhöht und die Anfallshäufigkeit gesenkt wird. Mittlere Tagesdosen: Metoprolol 2×50 mg, Atenolol 1×50–100 mg. Die Kombination mit Nitraten ist sinnvoll. Auf Intensivstationen werden β-Blocker zusätzlich zu Nitraten eingesetzt, um die Patienten zu stabilisieren. Nebenwirkungen: Bronchialspasmen, periphere zirkulatorische Vasokonstriktion, selten Koronarspasmen, herabgesetzte Gegenregulation bei Hypoglykämie, Verstärkung einer Bradykardie. Calciumantagonisten: Substanzen: Dihydropyridine (Nifedipin, Nicardipin, Amlo-
dipin, Felodipin, Isrodipin), Phenylalkylamine (Verapamil), Benzodiazepine (Diltiazem). Wirkungsmechanismus: Hemmung des Ca++-Einstroms in die glatten Muskelzellen der Arterien, Arteriolen und der Herzmuskelzellen. Kein Effekt auf die Venen, daher in Gegensatz zu den Nitraten kein venöses Pooling. Kreislaufeffekte: Blutdrucksenkung durch periphere Vasodilation, Lösung von Koronarspasmen, Herabsetzung der myokardialen Kontraktilität (negative Inotropie). Therapeutische Anwendung: Nifedipin (3×10–20 mg/Tag) ist wegen seiner spasmolytischen Wirkung das Mittel der Wahl bei nachgewiesener Prinzmetal-Angina, im Anfall (zusammen mit Nitrolingual) und langfristig zur Anfallsprophylaxe. Bei der stabilen Angina pectoris werden Calciumantagonisten erst eingesetzt, wenn β-Rezeptorenblocker nicht toleriert werden oder kontraindiziert sind. Sie reduzieren die Anfallshäufigkeit und verbessern die Arbeitstoleranz. Dihydroperidine dürfen nur in Retardform und nur in Kombination mit β-Rezeptorenblockern gegeben werden, weil ihre starke periphere Vasodilation eine Sympathikusaktivierung induziert, die den myokardialen O2Verbrauch erhöht. Die eigene negativ-inotrope Wirkung ist zu schwach. Verapamil und Diltiazem sind schwächer vasodilatatorisch und stärker negativ inotrop wirksam und können einzeln
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Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
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. Abb. 1.117. Primäres Stenting einer 90%igen Stenose der rechten Koronararterie bei einem 68-jährigen Patienten mit progredienter belastungsabhängiger Angina-pectoris-Symptomatik
gegeben werden, nicht aber in Kombination mit β-Blockern. Bei instabiler Angina pectoris sind Calciumantagonisten kontraindiziert. Antikoagulation: Inhibitoren der Thrombozytenaggregation: 4 Acetylsalicylsäure (ASS): Inaktiviert die Cyclooxygenase der
Thrombozyten und setzt dadurch ihre Aggregationsneigung herab. Ausgedehnte Studien haben gezeigt, dass ASS das Fortschreiten der koronaren Herzkrankheit verzögern und das Infarktrisiko verkleinern kann. Je schwerer die Angina pectoris, desto dringender ist ASS (100–200 mg/Tag) indiziert. 4 Clopidogrel und das analoge Ticlopidin: Hemmen die Bildung von Fibrinbrücken zwischen den Plättchen und damit die Thrombenbildung. Gegen Ticlopidin entwickelt sich häufig eine Allergie. Inhibitoren der Blutgerinnung: 4 Phenprocoumaron, Warfarin: Angezeigt, wenn Aggrega-
tionshemmer nicht vertragen werden. 4 Heparine: Für die Soforttherapie der instabilen Angina pectoris, bei der sich oft eine Plaquethrombose entwickelt. Revaskularisation Indikation: Im Prinzip bei jeder symptomatischen koronaren
Herzkrankheit, wenn die Koronarangiographie eine bedrohliche Stenosierung aufdeckt. Das gilt auch für Fälle mit stummer Ischämie. Die zur Verfügung stehenden Methoden haben sehr hohe Erfolgsquoten bei niedrigem Risiko und sind auch im höheren Alter anzuwenden.
Perkutane koronare Revaskularisation (PCR)
Erstmals 1977 von Grüntzig durchgeführt, kommt sie dank vieler technischer Verbesserungen jetzt häufiger zum Einsatz als die Bypass-Operation. Letztere wird in den meisten Fällen bei Hauptstammstenose der LCA und multiplen Stenosen angewandt, ferner bei vitalem Myokard distal von Totalverschlüssen und verkalkten ungünstig gelegenen Stenosen. Bei Stenosen, die beiden Methoden zugänglich sind, ist die Mortalität vergleichbar, die Restenoserate aber für die PCR (mit unbeschichteten Stents) deutlich höher (20–50% versus 7–10%). Restenosen lassen sich aber meistens wieder eröffnen. Als Sofortmaßnahme ist der PCR bei instabiler Angina pectoris angezeigt. Ballonkatheter: Die zuerst eingeführte, als perkutane transluminale koronare Angioplastie (PTCA) bezeichnete Methode. Ein Katheter mit aufblasbarem länglichem Ballon an der Spitze wird über die Fermoralarterie mit einem Führungsdraht in die Koronararterie vorgeschoben. Der im stenosierten Lumen platzierte Ballon wird dann für 1–3 Minuten mit 2–20 atm aufgeblasen. Der Dilatationserfolg ist fast immer mit einer lokalen Dissektion der Gefäßwand verbunden, wie sich durch intrakoronare Ultraschalluntersuchung nachweisen lässt. Die Wandschädigung führt in 3% der Fälle zum akuten thrombotischen Gefäßverschluss und einer hohen Restenoserate (bis 40% in 6 Monaten). Stentimplantation (. Abb. 1.117): Ein kollabiertes, auf einen Bal-
lon montiertes Drahtgeflecht wird mit einem Katheter in den stenosierten Gefäßabschnitt eingeführt und durch Aufblasen des Ballons zur Entfaltung gebracht. Wandläsionen entstehen dabei kaum. Die Restenoserate sinkt um die Hälfte. Dennoch entstehende Restenosen basieren auf neointimaler Hyperplasie, die neuerdings durch intrakoronare β- oder γ-Bestrahlung gehemmt werden kann. Der Dilatation folgt eine 4-wöchige Nachbehand-
167 1.15 · Koronare Herzkrankheit (KHK)
lung mit ASS (100 mg/Tag) und Clopidogrel (75 mg/Tag). ASS wird langfristig weiter verordnet. Inzwischen werden 70–80% aller dilatierenden Eingriffe mit der Stenttechnik durchgeführt. Medikamente freisetzende Stents (Drug eluting stents): Es handelt sich um Stents, die mit einem Polymer beschichtet sind, aus dem über einige Wochen zytostatische und immunsuppressive bzw. antiproliferative Substanzen freigesetzt werden. Sie können, wie sich gezeigt hat, die zur Restenose führende Proliferation der Neointima in dilatierten Stenosen supprimieren, wenn auch nicht ganz verhindern. Der CYPHER-Stent eluiert Sirolimus, das die durch Wachstumsfaktoren und Zytokine induzierte Zellproliferation hemmt. In der SIRUS-Studie an 1058 Patienten betrug nach 8 Monaten das Zielgefäßversagen (Revaskularisierungsbedarf, Herzinfarkt, Tod) mit dem CYPHER-Stent 8,6%, mit unbeschichtetem Stent dagegen 21%. Der TAXUS-Stent setzt aus einem Polymer den Mitoseinhibitor Paclitaxel frei und erzielt ähnlich günstige Ergebnisse. Die Entwicklung auf diesem Gebiet geht weiter. Nach DE-Stentimplantation ASS+Clopidogrel für 6 Monate. Brachytherapie bei In-Stent-Stenosen: Zur Verhütung von Re-
stenosen hat man eine katheterapplizierte lokale Radiotherapie angewandt. In den dilatierten Stenosebereich im Stent wurden bei liegendem Katheter für kurze Zeit Isotope mit Gamma- oder Betastrahlung eingebracht. Mit dieser Methode senkte sich die Restenoserate um bis zu 50%. Der günstige Effekt hielt häufig jahrelang an. Da ein aufwendiger Strahlenschutz erforderlich ist, benutzt man meistens die Drug-eluting-Stents auch zur Therapie der In-Stent-Stenosen. Chirurgische Revaskularisierung
Indiziert vor allem bei mindestens 50%iger Hauptstammstenose und bei komplizierten multiplen Stenosen: 4 Aortokoronarer Venenbypass mit V. saphena magna (ACVB): In der Regel sind mehrere Stenosen zu überbrücken. Das kann mit Einzeltransplantaten (single grafts) mit zweifachem Anschluss eines y-förmigen Transplantats (jump-graft) oder mit einem sequenziellen Bypass (sequential graft) geschehen, bei dem mit einer Vene mehrere Arterien distal der Stenose anastomosiert werden. 4 A.-mammaria-interna-Bypass (IMA-Bypass): Anastomosierung der linken IMA (LIMA) hauptsächlich mit dem R. descendens anterior (RIVA) der LCA, aber auch mit dem linken R. circumflexus. Für Stenosen der RCA kann die rechte IMA (RIMA) verwendet werden. Bei gut zugänglichem RIVA lässt sich der Eingriff auch mit minimal invasiver Technik durchführen, also ohne Herz-Lungen-Maschine. Ergebnisse: Die Operationsletalität beträgt mit beiden Methoden in unkomplizierten Fällen 2%, bei perioperativen Infarkten 4%. Sie ist höher, wenn im kardiogenen Schock operiert werden muss. Nach 8–10 Jahren sind 80% der Mammaria-Implantate offen, aber nur 40–50% der V.-saphena-Segmente.
1.15.3
Stumme Ischämie
Die Schmerzlose myokardiale Ischämie ist ein häufiges Phänomen. Es kann dazu führen, dass eine koronare Herzkrankheit ganz übersehen oder in ihrem Schweregrad unterschätzt wird. Man hat die stumme Ischämie in 2 Typen unterteilt: 4 Typ I: Patienten mit obstruktiver koronarer Herzkrankheit, die zu keiner Zeit anginöse Schmerzen haben. Bei ihnen ist das erste Symptom der Myokardinfarkt und selbst dieser kann stumm verlaufen. Die Ischämie lässt sich aber bei einer Vorsorgeuntersuchung im Belastungs-EKG nachweisen. 4 Typ II: Patienten mit symptomatischer koronarer Herzkrankheit, bei denen auch stumme Ischämien beobachtet werden. Schon beim Belastungs-EKG treten oft ischämische ST-Senkungen auf, ohne dass Schmerzen angegeben werden. Besonders eindrucksvoll haben Untersuchungen mit dem ambulatorischen oder Langzeit-EKG gezeigt, dass manche ST-Senkungen von anginösen Schmerzen begleitet werden, andere jedoch nicht. Beschwerdefreiheit ist demnach kein Indiz für eine optimale antiischämische Therapie. Medikamentös lassen sich auch die stummen Ischämien zum Verschwinden bringen. Mechanismen der stummen Ischämie Folgende Möglichkeiten werden diskutiert: 4 Bei sehr langsamer Progredienz einer Eingefäßstenose können durch simultane Ausbildung von Kollateralen Beschwerden ausbleiben. 4 Bei Diabetikern lässt sich Schmerzfreiheit mit autonomer Neuropathie erklären. 4 Patienten mit stummer Ischämie haben auch für andere Schmerzformen eine hohe Schwelle. 4 Solche Patienten produzieren reichlich endogene Opioide (Endorphine). 4 Patienten mit stillen Ischämien vom Typ II nehmen erst höhergradige Ischämien als Schmerzen wahr. 1.15.4
Mikrovaskuläre Ischämie (»Syndrom X«)
Definition. Angina pectoris und objektivierbare myokardiale
Ischämie bei normalem Koronarangiogramm, also ohne Stenose der epikardialen Kranzarterien. Ätiologie und Pathogenese. Inadäquate vasodilatatorische Re-
serve der myokardialen Mikrozirkulation, wahrscheinlich durch eine Dysfunktion des Endothels. Die Ursache ist ungeklärt. Als sekundäres Phänomen kommt diese Störung bei Hypertonie mit Linkshypertrophie vor. Klinik. Das Syndrom wird bei 25% der Patienten beobachtet, die wegen stabiler Angina pectoris eine Koronarangiographie erhalten. Meistens handelt es sich um Frauen in der Prämenopause.
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Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
Symptome sind typische Anfälle von Angina pectoris bei körperlicher Belastung und Erregungzuständen (Adrenalinausschüttung), die zu erhöhtem myokardialen O2-Verbrauch führen. Die Patienten sind oft psychisch labil und verängstigt. Diagnostik. Ruhe-EKG meistens normal. Im Belastungs-EKG typische ischämische ST-Senkung. Auch ohne ST-Senkung kann eine Ischämie vorliegen, wie Stressechokardiographie und Thallium-Szintigraphie gezeigt haben. Gesichert wird die Diagnose durch das negative Koronarangiogramm. Therapie und Prognose. Im Anfall hilft Nitroglycerin sublingual.
Nitrate steigern aber die Belastungstoleranz nicht. Vorbeugend sind β-Blocker oder Calciumantagonisten indiziert, aber auch ACE-Blocker und Statine. Die Prognose ist sehr gut. Myokardinfarkte treten nicht auf. Im Verlauf kann es aber zu fokalen Fibrosierungen kommen. 1.15.5
Akuter Myokardinfarkt
Definition. Regionale ischämische Nekrose des Herzmuskels
meistens auf dem Boden einer koronaren Atherosklerose. Infarkte ohne koronare Atherosklerose sind sehr selten. Nomenklatur Die praktischen Richtlinien des American College of Cardiology und der American Heart Association gehen in Übereinstimmung mit der Europäischen und der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie vom klinisch zu konstatierenden akuten koronaren Syndrom (ACS) aus, das dann mit EKG (12 Ableitungen) und Biomarkern (Troponin, CK) wie folgt zu differenzieren ist: 4 ACS mit ST-Hebung: Diagnose Myokardinfarkt (STEMI), mit Q-Zacke (QwMI) oder ohne Q-Zacke (NQMI). Die frühere Unterscheidung von transmuralem und nichttransmuralem Infarkt aufgrund einer Q-Zacke im ersten Fall ist unsicher und für die Therapie nicht relevant. Da in jedem Fall ein Koronarverschluss anzunehmen ist, sind die Patienten Kandidaten für eine rasche Reperfusion (Fibrinolyse oder PTCA). 4 ACS ohne ST-Hebung: Es kann sich um einen Myokardinfarkt handeln (NSTEMI) oder um eine instabile Angina pectoris. Die Entscheidung fällt nach dem Troponinspiegel im Serum. Selten treten beim NSTEMI Q-Zacken auf, die einen Infarkt beweisen. Patienten mit ACS ohne ST-Hebung sind keine Kandidaten für eine Fibrinolyse. Sie werden antiischämisch behandelt und bei hohem Risiko (Troponin-Erhöhung, ST-Senkung >0,1 mV, hämodynamische Instabilität, Rhythmusinstabilität, Diabetes) umgehend der Koronarographie, ggf. einer PTCA zugeführt. Pathogenese und Pathologie. Der akute Infarkt mit ST-Hebung entsteht in über 90% der Fälle durch eine frische Koronarthrom-
bose, auf dem Boden eines rupturierten atherosklerotischen Plaques. Bei langsam verlaufendem Verschlussprozess kann durch Kollateralenentwicklung ein Infarkt ausbleiben. Andere Ursachen des akuten Koronararterienverschlusses: persistierender Gefäßspasmus, Koronararterienembolie (z.B. bei Endokarditis), Arteriitis, Traumen mit lokaler Thrombose. Der Infarkt ohne ST-Hebung entsteht durch anhaltende Ischämie der subendokardialen Region bei fortgeschrittener koronarer Atherosklerose und geht nicht immer mit einem akuten koronaren Syndrom einher. Ischämische Läsionen werden nach 20–120 Minuten irreversibel. Etwa am 4. Tag nach Infarkteintritt beginnt der Abtransport der nekrotischen Muskelfasern. Nach der 4. bis 6. Woche hat sich in der Infarktzone eine stabile Bindegewebenarbe mit eingestreuten Muskelfasern gebildet. Komplikationen: Herzwandruptur, Septumruptur, Papillarmuskelabriss, ventrikuläres Aneurysma, wandständige Thromben mit Embolisierung. Topographie und Terminologie. Myokardinfarkte sind in der Regel auf das Versorgungsgebiet der verschlossenen bzw. stenosierten Koronararterien und auf den linken Ventrikel beschränkt. Nur in 10% der Fälle ist der rechte Ventrikel mitbetroffen (bei 30% der Fälle von posteroinferiorem Infarkt). Die Bezeichnungen Vorder-, Seiten- und Hinterwandinfarkt beziehen sich deshalb nur auf den linken Ventrikel, nicht auf das Herz als Ganzes (. Abb. 1.118): 4 Vorderwandinfarkte: Betreffen das Versorgungsgebiet des R. interventricularis anterior der linken Koronararterie (RIVA): Vorderwand, vordere Seitenwand, und Spitze des linken Ventrikels, dazu die vorderen 2/3 des Septums. Zu unterscheiden sind: 5 Vorderwandspitzeninfarkt (. Abb. 1.118a): Ausgedehnter Vorderwandinfarkt bei proximalem RIVA-Verschluss. 5 Anteroseptaler Infarkt (. Abb. 1.118b): Rudimentärer supraapikaler Vorderwandinfarkt durch Verschluss septaler Äste des RIVA. Spitze und Seitenwand sind nicht betroffen. 5 Apikaler Infarkt (. Abb. 1.118c): Kleiner auf die Ventrikelspitze beschränkter Infarkt durch Verschluss im distalen Segment des RIVA. 4 Seitenwandinfarkte: Betreffen Teile des Versorgungsgebietes des R. circumflexus der linken Koronararterie (RCX) oder den R. diagonalis des RIVA. Zu unterscheiden sind: 5 Vorderer Seitenwandinfarkt (. Abb. 1.118d): Anterolateraler Infarkt durch Verschluss des R. diagonalis des RIVA oder des R. marginalis des RCX. 5 Hinterer Seitenwandinfarkt (. Abb. 1.118e): Posterolateraler Infarkt durch Verschluss des RCX. 4 Hinterwandinfarkte (. Abb. 1.118f): Betreffen das Versorgungsgebiet der rechten Koronararterie, beim Linksversorgungstyp das des RCX. Zu unterscheiden sind: 5 Posteroinferiorer Infarkt: Diaphragmaler Infarkt, lokalisiert in der dem Zwerchfell anliegenden inferioren Hinterwand. Verschluss des R. posterolateralis der RCA, seltener aus dem RCX.
169 1.15 · Koronare Herzkrankheit (KHK)
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traktiler Substanz ab: Herabsetzung der Ejektionsfraktion (ab 10%), Zunahme von enddiastolischem Druck und Volumen durch Störung der systolischen Funktion (ab 15%), klinische Symptome der Herzinsuffizienz (ab 25%), kardiogener Schock (ab 40%). Bei großen Infarkten sinkt mit dem Schlagvolumen der Blutdruck und damit der koronare Perfusionsdruck, wodurch die Ischämie zunehmen kann. Zugleich vergrößert die Ventrikeldilatation das Afterload und damit den myokardialen O2-Verbrauch, der zusätzlich durch kompensatorische Sympathikusstimulation ansteigt. So kann ein Circulus vitiosus mit progredienter Linksinsuffizienz zustande kommen. Zusätzliche mechanische Belastungen entstehen bei Mitralinsuffizienz durch Papillarmuskelabriss und bei Septumperforation. Störungen des Herzrhythmus: Kammerflimmern ist die häufigste Todesursache im Frühstadium des Myokardinfarktes und auch im Folgestadium zu fürchten. Ihm gehen oft ventrikuläre Extrasystolen und Kammertachykardien voraus. Auch supraventrikuläre Arrhythmien kommen vor. Pathogenetische Faktoren für die elektrische Instabilität sind ischämisch bedingte Potenzialverluste der ruhenden Fasern des Arbeitsmyokards bzw. der Leitungsbahnen. Es entstehen dadurch Verletzungsströme und Reentrykreise. An der ischämischen Schädigung sind Effekte der Hypoxie (Azidose, zelluläre Kaliumverluste) beteiligt. Hinzu kommen lokale Katecholaminfreisetzung und zirkulierende freie Fettsäuren in erhöhter Konzentration. Funktionsstörungen des Sinusknotens und Leitungsstörungen im AV-Knoten sind überwiegend beim Hinterwandinfarkt anzutreffen, weil diese Strukturen meistens von der rechten Koronararterie perfundiert werden. Blockierungen der Tawara-Schenkel findet man in der Regel beim Vorderwandinfarkt, da der größte Teil des Septums im Versorgungsbereich des RIVA liegt. Klinik. Anamnese: Bei etwa 50% der Patienten beginnen die Infarkt-
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f
. Abb. 1.118. Topographie des Herzinfarktes
5 Posteriorer Infarkt: strikter posteriorer oder posterobasaler Infarkt, lokalisiert im freien, superioren Teil der Hinterwand. Verschluss der RCA bzw. des R. interventricularis posterior. Der rechte Ventrikel kann mitbetroffen sein. Pathophysiologie. Störungen der Ventrikelfunktion: Frisch infarzierte Myokard-
areale werden akinetisch oder dyskinetisch, d.h. in der Systole nach außen gedrängt. Die Auswirkungen auf die Pumpfunktion des linken Ventrikels hängen vom prozentualen Verlust an kon-
symptome in Ruhe, bei 8% aus dem Schlaf heraus, woran zu erkennen ist, dass Plaqueruptur und Thrombose belastungsunabhängig vorkommen. Nur bei 13% der Patienten tritt der Infarkt im Anschluss an schwere körperliche Anstrengung auf. Eine vorbestehende stabile Angina pectoris wird von 20–60% der Patienten angegeben. Etwa ein Viertel der nicht tödlichen Infarkte verläuft stumm oder führt die Patienten nicht zum Arzt. Symptome: Der Infarktschmerz ist meistens von höchster Inten-
sität und in der Tiefe hinterm Sternum lokalisiert. Ausstrahlungen können in den linken Arm, ins Epigastrium, in die Nackenregion und in den rechten Arm erfolgen. Der Schmerz ist anhaltend und spricht nicht auf Nitrate an, denn aus dem ischämischen ist ein Nekroseschmerz geworden. Er kann von Schwäche und Atemnot begleitet sein. Beim Hinterwandinfarkt kommen neben epigastrischer Schmerzlokalisation Übelkeit, Erbrechen und Stuhldrang als vagale Reflexe vor. Selten ist das Initialsymptom eine vagovasale Synkope mit extremer Bradykardie.
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Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
Diagnostik. Körperliche Untersuchung
Die Patienten erscheinen gewöhnlich schwerkrank, sind durch Schmerz und Angst stark erregt und motorisch unruhig. Eine Linksinsuffizienz gibt sich durch kompensatorische Sympathikusstimulation mit Hautblässe, kaltem Schweiß und Tachykardie zu erkennen. Es kann eine Lungenstauung mit Dyspnoe, Stauungshusten und Katarrh über den basalen Lungenabschnitten vorliegen. Blutdruck und Pulsfrequenz sind erregungsbedingt erhöht, manchmal normal oder herabgesetzt. Patienten mit verengten Hirngefäßen können durch die Hypotonie einen zerebralen Insult erleiden. Ein Absinken des systolischen Drucks unter 90 mmHg ist schockverdächtig. Für einige Tage kann sich leichtbis mittelgradiges Fieber einstellen. Über der Herzspitze kann eine abnorme Pulsation zu tasten sein. Oft ist der 1. Herzton abgeschwächt und ein 3. Herzton zu hören. Am 2. oder 3. Tag tritt in etwa 20% der Fälle ein Perikardreiben auf. EKG
Das EKG beweist nicht immer sofort, aber meistens innerhalb von Stunden das Vorliegen eines Myokardinfarktes und erlaubt seine Lokalisation. Allgemeine EKG-Veränderungen beim akuten Infarkt:
Jede Phase des EKG ist auf bestimmte Weise betroffen: 4 Erregungsausbreitung (QRS): Das infarzierte Gebiet ist elektrisch inert. Da die Verbindungen zur gesunden Umgebung unterbrochen sind, leitet es keinen Strom mehr und kann mangels intakter Zellen auch nicht mehr elektrisch erregt werden. Damit entfallen an dieser Stelle bei der Erregungsausbreitung die positiven Partialvektoren, und es kommt ein entgegengerichteter negativer Summationsvektor zustande, der sich in den Extremitätenableitungen als Q-Zacke, in den Brustwandableitungen als R-Verlust dokumentiert. Wenn sich der usprünglich positive Initialvektor im Infarktgebiet nur verkleinert, aber nicht negativ wird, resultiert eine R-Reduktion. Q-Zacken und R-Verlust sind sichere Nekrosezeichen. Da sie in einigen Fällen ausbleiben, unterscheidet man zwischen Q-Zacken-Infarkt und Nicht-Q-ZackenInfarkt. Beide können transmural oder nichttransmural sein. Deshalb wurde die frühere Einteilung in transmuralen und nichttransmuralen Infarkt aufgegeben. 4 Stadium der Vollerregung (ST-Strecke): Das EKG des frischen Infarktes zeigt eine vom absteigenden R-Schenkel hochabgehende starke ST-Hebung, die eine Kuppel- oder Plateauform aufweist und die T-Zacke einbezieht (monophasische Deformierung). Dieses Phänomen geht nicht vom nekrotisierten Infarktareal, sondern von der angrenzenden ischämisch geschädigten Verletzungszone aus. Es basiert auf einem Verletzungsstrom während der Vollerregung oder in der Diastole. Die ST-Hebung ist ein reversibles Ischämiezeichen, kein Indiz für eine Nekrose.
V1
III
normal
akutes Stadium
Folgestadium
Endstadium
Vorderwandinfarkt
Hinterwandinfarkt
. Abb. 1.119. Infarktstadien im EKG
4 Erregungsrückbildung (T-Abschnitt): Im ischämischen Frühstadium, das meistens nicht erfasst wird, überhöhtes T wegen Verspätung der Repolarisation in der ischämischen Innenschicht. Sobald die Ischämie auch die Außenschicht erfasst, dreht sich der T-Vektor und die T-Zacke wird negativ. Im Verlauf nimmt die T-Negativität allmählich ab. Eine flache T-Negativität kann langfristig bestehen bleiben. Stadien des Infarktablaufes:
Repräsentativ sind für den Vorderwandinfarkt die Ableitungen V1‒V4, für den Hinterwandinfarkt die Ableitungen II, aVF und III (. Abb. 1.119). 4 Akutes Stadium: Monophasische Erhöhung des ST-T-Abschnittes, gefolgt von der Negativierung des initialen QRSVektors (Q-Zacke oder R-Verlust). Letztere fehlt beim NichtQ-Zacken-Infarkt, der durch weitere Tests zu sichern ist (7 unten). Dauer: wenige Stunden bis einige Tage. 4 Zwischen- oder Folgestadium: Rückbildung der ST-Hebung, die T-Zacke wird spitz-negativ und erscheint gleichschenklig (koronares T). Q-Zacke bzw. R-Verlust unverändert. Dauer: mehrere Tage bis einige Wochen. 4 Endstadium: Weitgehende, nicht selten aber unvollständige Normalisierung des ST-T-Abschnittes. Tiefes Q und R-Verlust bleiben von seltenen Ausnahmen abgesehen bestehen.
171 1.15 · Koronare Herzkrankheit (KHK)
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II III
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V6 Vorderwandsupraapikaler rudimentärer spitzeninfarkt Vorderwandinfarkt Vorderwandinfarkt
Vorderseitenwandinfarkt
Hinterseitenwandinfarkt
Hinterwandinfarkt
Lungenembolie
. Abb. 1.120. Infarktlokalisation im EKG
Elektrokardiographische Infarktlokalisation: Die Infarktlokalisationen sind in . Abb. 1.120 dargestellt: 4 Vorderwandspitzeninfarkt: Extr. Abl.: Q-Zacke und mono-
4 4 4 4
phasische ST-T-Deformierung in I und II. BWA: R-Verlust und monophasische ST-T-Deformierung in V1–V5. Anteroseptaler Infarkt: Extr. Abl.: unauffällig. BWA: R-Verlust und monophasische ST-T-Deformierung in V1–V3. Apikaler Infarkt: Extr. Abl.: Q-Zacke und monophasische ST-T-Deformierung in I. BWA: R-Verlust und monophasische ST-T-Deformierung in V3 und/oder V4. Vorderseitenwandinfarkt: Extr. Abl.: Q-Zacke und monophasische ST-T-Deformierung in I. BWA: R-Verlust und ST-T-Deformierung in V4–V6. Hinterseitenwandinfarkt: Extr. Abl.: Q-Zacke und monophasische ST-T-Deformierung in II und III. BWA: Q-Zacken und monophasische ST-T-Deformierung in V4–V6.
4 Hinterwandinfarkt: Extr. Abl.: Q-Zacke und monophasische ST-T-Deformierung in II und III. BWA: ST-Senkung in V1–V3. 4 Innenschichtinfarkt: Oft in fast allen Ableitungen tiefe muldenförmige ST-Senkungen bei erhaltenen R-Zacken. Die Diagnose kann nur im Zusammenhang mit positiven Biomarkern gestellt werden. Es ist ein NSTEMI (7 oben). Labordiagnostik Kreatininkinase (CK): Sie kommt im menschlichen Organismus
in Form von Dimeren der Untereinheiten CK-M (Muskel) und CK-B (Brain) vor, die sich zu 3 Isoenzymen kombinieren können: CK-MM (Skelettmuskeltyp), CK-BB(Gehirntyp) und CK-MB (Herzmuskeltyp). Die CK-Aktivität besteht im Skelettmuskel zu 96% aus dem Isoenzym CK-MM und zu 4% aus dem Isoenzym CK-MB. Dagegen beträgt das Verhältnis CK-MM zu CK-MB im
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Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
Herzmuskel 60% zu 40%. In der Regel treten CK-BB-Aktivitäten im Serum nicht auf. > Die Gesamt-CK ist in der Diagnostik das Leitenzym. Bei erhöhter Gesamt-CK-Aktivität kann durch Bestimmung des Anteils der CK-MB zwischen Herz- und Skelettmuskelschäden differenziert werden.
Beim Infarkt liegt der CK-MB-Anteil über 6%. Der Anstieg der CK- und CK-MB-Werte ist 6 Stunden nach Schmerzbeginn signifikant und nach 18–20 Stunden maximal. Zur Norm sinken die Werte nach 48 Stunden ab. Die CK- und CK-MB-Aktivität sollte in Abständen von je 6 Stunden zweimal wiederholt werden, weil dem Anstieg der Aktivitäten höchste Beweiskraft für einen Infarkt zukommt. Fehlerquellen bei alleiniger Bestimmung der Gesamt-CK: Muskeltraumen, i.m. Injektionen, körperliche Anstrengung, Alkoholintoxikation, Lungenembolie. Die Bestimmung der CK-MB-Masse ist zuverlässiger als die der CK-MBAktivität.
länger zurückliegende Schmerzereignisse als Infarkte identifiziert werden können. Durch den Troponin-Test ist die CK-Bestimmung für die Infarktdiagnose überflüssig geworden. »Falsch« positive Werte kommen vereinzelt bei Patienten mit Niereninsuffizienz (Kreatinin >2,5 mg(dl) vor, auch bei anderen Krankheiten mit Myokardzellschädigung (z.B. Myokarditis, Lungenembolie, dekompensierte Herzinsuffizienz, Kontusio cordis, Transplantatabstoßung). Unspezifische Parameter: Anstieg der Enzyme GOT und LDH
und der Blutsenkungsgeschwindigkeit. Leukozytose (bis 15000/ mm3). Das Gesamtcholesterin kann absinken, der Nüchternblutzucker steigen.
> Ein Quotient CK-MB-Masse/CK-Aktivität >2,5 zeigt einen Infarkt an. Herzspezifische Troponine: Der Troponin-Komplex besteht aus 3 Untereinheiten: Troponin C (bindet Ca++), Troponin I (bindet an Aktin und hemmt die Aktin-Myosin-Interaktion), Troponin T (bindet an Tropomyosin und damit den Komplex an Aktin). Vom herzspezifischen Troponinkomplex (cTn) sind 6% der Untereinheit cTnT und 3% der Untereinheit cTnI im Zytoplasma gelöst. Beide steigen im Serum beim Myokardinfarkt auf das 20fache an, wobei der Normalwert dicht an der Nachweisgrenze liegt. Eine signifikante Erhöhung ist schon nach 3 Stunden nachweisbar und am Krankenbett mit einem einfachen qualitativen Schnelltest zu eruieren. Beim STEMI ist das Testergebnis nicht abzuwarten. Der Test ist hochempfindlich und manchmal schon bei instabiler Angina pectoris deutlich positiv, als Beweis für Mikronekrosen in diesen Fällen. Erhöhte Werte bleiben beim cTnI 7–10 Tage, beim cTnT 10–14 Tage bestehen, so dass auch
. Abb. 1.122. Lävokardiographie eines 49-jährigen Patienten mit implantiertem Defibrillator (LV-EF: 25%), der nach Vorderwandinfarkt ein großes Vorderwandspitzenseptumaneurysma ausgebildet hat
. Abb. 1.121. Echokardiographischer 4-Kammerblick bei einem 59-jährigen Patienten mit überlebter gedeckter Ventrikelperforation nach protrahiertem Hinterwandinfarkt, die erst 4 Monate später diagnostiziert und operativ mittels Resektion u. Patchübernähung therapiert wurde
173 1.15 · Koronare Herzkrankheit (KHK)
Diagnostik mit bildgebenden Verfahren Echokardiographie: Im 2-D-Echo sind stets regionale Kontrak-
tionsanomalien (Hypokinesie, Akinesie oder Dyskinesie) zu erkennen. Schnell lässt sich die linksventrikuläre Funktion beurteilen (Ventrikeldurchmesser, Ejektionsfraktion), deren Absinken prognostisch ungünstig ist. Erkannt werden wandständige Thromben, Aneurysmen, Perikardergüsse und Perforationen (. Abb. 1.121). Mit dem Farbdoppler lassen sich Septumperforation und Mitralinsuffizienz durch Papillarmuskelabriss diagnostizieren. Erschwert wird die Beurteilung, wenn alte Infarktnarben vorliegen. Ventrikulographie: Erfasst regionale Hypokinesien des linken
Ventrikel und Aneurysmen (. Abb. 1.122). MRT (nach KM-Gabe): Nachweis von Infarktnarben und wand-
die Klinik zu veranlassen, der dann vom Arzt zu begleiten ist. Die
Mortalität des akuten Myokardinfarktes beträgt rund 30%, wobei die Hälfte der Todesfälle vor der Ankunft im Krankenhaus eintritt, gewöhnlich durch Kammerflimmern. Der Rettungswagen sollte daher mit EKG und Defibrillator ausgestattet sein. In der Hospitalphase
Um keine Zeit zu verlieren, werden viele Patienten mit dem Rettungswagen in eine Klinik eingeliefert, ohne dass sie ein Arzt gesehen hat. Die Erstversorgung hat dann auf der Intensivstation stattzufinden, wo alle Möglichkeiten zur Kreislaufüberwachung gegeben sind. Die Ziele sind: Schmerzbefreiung, hämodynamische Stabilisierung, Begrenzung der Infarktgröße und Beherrschung der Komplikationen, besonders der Rhythmusstörungen.
ständigen Thromben (. Abb. 1.123). Schmerzbekämpfung Röntgenaufnahne des Thorax: Bei der Erstuntersuchung häufig
normal, auch wenn das enddiastolische Volumen des linken Ventrikels erhöht ist. Kardiomegalie und Lungenstauung können sich mit einer Latenz von 12–24 Stunden entwickeln und sind als Zeichen der Linksinsuffizienz prognostisch ungünstig. Szintigraphische Untersuchungen: Infarktszintigraphie mit 99m
Tc-Pyriphosphat zur selektiven Darstellung des Infarktes bei einem Infarktalter von 24–96 Stunden. Geeignet zur genauen Lokalisation und Größenbestimmung. Therapie.
In der Prähospitalphase ! Ein Herzinfarkt ist zu vermuten, wenn ein Anfall von schwerer Angina pectoris nicht auf sublinguales Nitroglycerin anspricht.
Am besten ist es, dem Patienten einen venösen Zugang zu legen, zur Schmerzstillung Morphium zu geben und 500 mg ASS und falls zur Hand 5000 IE Heparin (oder 30 mg Enoxaparin i.v + 1 mg/kg s.c.) zu injizieren. Schnellstmöglich ist der Transport in
. Abb. 1.123. MRT (nach KM-Gabe) eines 51-jährigen Patienten mit erlittenem Vorderwandinfarkt, Ausbildung einer Vorderwandnarbe u. eines apikalen Ventrikelthrombus
! Die Scherzbekämpfung ist die erste und wichtigste Maßnahme.
Mittel der Wahl ist Morphium: 2–4 mg i.v. alle 5 Minuten, bis zum Wirkungseintritt. Mit dem Schmerz geht auch der erhöhte Sympathikustonus zurück, der den O2-Verbrauch des Myokards steigert. Bei Auftreten von Übelkeit ist Dimenhydrinat (Supp.), bei vagotoner Bradykardie Atropin (0,5 mg i.v.) indiziert. Acetylsalicylsäure (ASS)
Sofort 500 mg i.v. oder eine Kautablette (160–325 mg) zur bukkalen Resorption verabreichen und diese Dosis täglich wiederholen. Nach großen Studien senkt ASS die Infarktmortalität in den ersten 35 Tagen signifikant, wahrscheinlich durch Herabsetzung des Thromboxan-A2-Spiegels im Blut. Zusätzlich kann Clopidogrel gegeben werden. Nitroglycerin
Auch wenn es den Infarktschmerz nicht beseitigt, hat es Vorteile. Es senkt den Blutdruck und durch venöses Pooling das Präload. Damit wird der myokardiale O2-Verbrauch reduziert. Außerdem erweitert es infarktnahe Gefäße. Man gibt 3 Dosen von 0,4 mg sublingual im Abstand von je 5 Minuten. Bei günstigem Ansprechen kann im Falle erneuter Verschlimmerung eine Infusion (0,5–1,0 mg/Std.) angeschlossen werden. Kontraindikationen: systolischer Blutdruck 1 h). Ferner nur beim Infarkt mit ST-Hebung. Infarktpatienten mit STSenkung und erhöhten Markern erhalten antiischämische Mittel (s. oben) und Heparine (5000 IE unfraktioniertes Heparin i.v. oder Enoxaparin 30 mg i.v. plus 1 mg/kg s.c.). Bei fehlendem Lyseerfolg, erneuter oder progredienter Angina pectoris umgehende PTCA. Thrombolytische Substanzen: Ihr Wirkungsmechanismus wird im 7 Kap. 7, Abschnitt Thrombophilie beschrieben. Für die Thrombolyse beim Infarkt wird mit Vorteil der humane nichtantigene Plasminogenaktivator vom Gewebetyp verwendet, der gentechnologisch hergestellt als Alteplase oder tPA verfügbar ist. Weniger gebräuchlich sind Streptokinase und Urokinase. AlteplaseDosierung: Bolus von 15 mg, danach 0,75 mg/kg in 30 Minuten (nicht >50 mg), anschließend in der folgenden Stunde 0,5 mg/kg i.v. (Gesamtdosis ≤100 mg). Gleichzeitig wird heparinisiert bis zu einer PTT vom 1,5- bis 2-fachen des Ausgangswertes. Der thrombolytische Effekt: Gemessen am Rückgang der Mor-
talität ist ein Thrombolysebeginn innerhalb der ersten Stunde optimal. Doch lässt sich ein so früher Behandlungsbeginn selten realisieren. Deutlich positiv sind die Ergebnisse noch bis zu 6 Stunden nach Symptombeginn. Lohnend können sie noch nach 7–12 Stunden sein, wenn bis dahin eine ST-Hebung bestanden hat. In etwa 30% der Fälle erfolgt innerhalb von 24 Stunden eine Wiederöffnung des Gefäßes durch spontane Thrombolyse. Die erzielte Reperfusion begrenzt die Infarktgröße, verbessert die Ejektionsfraktion reduziert das vergrößerte enddiastolische Ventrikelvolumen und beseitigt die ST-Hebung. Jenseits des 75. Lebensjahres sind die Erfolge der Thrombolyse bescheiden (10 gerettete Leben auf 1000 Behandlungen). Es besteht vor allem ein erhöhtes zerebrales Blutungsrisiko.
Absolute Kontraindikationen: Hirnblutungen irgendwann, zerebrale Insulte im letzen Jahr, systolischer Blutdruck >180 mmHg, diastolischer Blutdruck >110 mmHg, Verdacht auf Aortendissektion, innere Blutungen. Relative Kontraindikationen: Antikoagulanzienbehandlung mit
Coumarinderivaten (INR >2), vorausgegangene Operation oder Reanimation, hämorrhagische Diathese, Schwangerschaft, hämorrhagische diabetische Retinopathie. Primäre perkutane koronare Intervention
Die primäre perkutane koronare Intervention (. Abb. 1.124) ist eine optimale Sofortmaßnahme bei Infarktpatienten mit ST-Erhöhung. Innerhalb der ersten 5 Stunden mit Ballondilatation und Stent durchgeführt, wird die Infarktgröße auf 10–11% des linken Ventrikels begrenzt. Die Thrombolyse ist weniger effektiv. Verbessert werden Früh- und Spätergebnisse der Infarkttherapie. Der Eingriff wird unter Heparinschutz und Infusion eines GPIIb/IIIa-Inhibitors (Abciximab) durchgeführt, der sehr effektiv die Thrombozytenaggregation hemmt und die Mikrozirkulation in der Randzone des Infarktes steigert. Nach vorausgegangener Thrombolyse wird eine PTCA nur bei persistierender ST-Hebung und fortdauernder Angina pectoris durchgeführt. Komplikationen und ihre Therapie Linksherzinsuffizienz und kardiogener Schock
sche Reaktionen.
Infarktareale von 20–25% des linken Ventrikels haben eine deutliche Funktionseinschränkung zur Folge, Areale ab 40% führen zum kardiogenen Schock (Blutdruck 20 mmHg, Herzindex 150/min ebenfalls Defibrillation, bei Frequenzen Die Diagnose ergibt sich aus den Symptomen von Perikarditis, Pleuritis, dem Fieber und einer maximalen Blutsenkungbeschleunigung.
Es handelt sich wahrscheinlich um eine Autoimmunreaktion gegen perikardiale oder myokardiale Antigene, die durch den Infarkt freigesetzt wurden. Therapie der Wahl: Corticosteroide, die prompt zur Besserung führen, manchmal aber wegen Rezidivneigung über längere Zeit in niedriger Dosis weiter verordnet werden müssen. Im Zeitalter der Herzkatheter ist diese Komplikation selten geworden. Linksventrikuläres Aneurysma
Umschriebene paradoxe Wandbewegung nach außen während der Systole, der eine anatomische Aussackung folgen kann. Die
Sie reduzieren die Mortalität nach Myokardinfarkt deutlich und sollten schon nach 24 Stunden gegeben werden. Den größten Nutzen haben Patienten mit herabgesetzter linksventrikulärer Funktion. Der systolische Blutdruck sollte aber nicht unter 110 mmHg gesenkt werden. Statine
Als Inhibitoren der HMG-CoA-Reduktase blockieren sie die Cholesterinsynthese in der Leber und bewirken eine starke Senkung des LDL-Cholesterins im Serum. Mehrere große kontrollierte Studien an Patienten mit koronarer Herzkrankheit haben gezeigt, dass Statine unter Herabsetzung des LDL-Cholesterins das Risiko von kardiovaskulären Ereignissen und des Todes erheblich senken. In der Heart-Protection Study (2002) führt die Reduktion des LDL-Cholesterin um 40 mg/dl zu einer Abnahme der koronaren Ereignisse um 25%. Später wurde nachgewiesen, dass der Effekt auf die ultrasonographische Progredienz der Läsionen und auf klinische Ereignisse bei Absenkung des LDLCholesterins auf Wettkampf aller Art ist zu vermeiden, weil er den Sympathikus in unkontrollierbarer Weise stimuliert. Psychotherapie und Gesundheitsförderung: Psychotherapeu-
tische Behandlung, Verhaltenstherapie, Sexualberatung. Gesundheitsförderung durch Autogenes Training. Ausschaltung der Risikofaktoren, insbesondere Raucherentwöhnung (in der gesamten Familie!).
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178
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Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
Sozialtherapeutische Maßnahmen: Umsetzung, Umschulung, Berentung bei Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit. Vermittlung in ambulante Koronargruppen.
Wiedereingliederung Von der 12.–24. Woche. Ambulante Betreuung durch den Hausarzt und möglichst auch einer Koronargruppe. Zunehmende Belastung im Alltagsleben. Entscheidend für die Belastbarkeit ist letztlich die Größe des erlittenen Infarktes, die aus dem maximalen CK-Anstieg und dem echokardiographischen Befund abzuleiten ist. Nötigenfalls Eingliederung in eine leichtere Berufstätigkeit. Erhaltungsphase Ab 4.–6. Monat. Nach dieser Zeit kann meistens über die Arbeitsfähigkeit definitiv entschieden werden. Hausärztliche Überwachung, evtl. betriebsärztliche Kontrollen (Blutdruck etc). Weiterbetreuung in der Koronargruppe. Ausdauerbelastung beim Training bei 50–60% der individuellen Maximalbelastung. Konsequente medikamentöse Langzeittherapie. 1.16
Pulmonale Herzkrankheiten
Pulmonale Herzkrankheiten Lungenembolie 4 Thromboembolie 4 nichtthrombogene Embolie Pulmonale arterielle Hypertonie 4 idiopathische und familiäre pulmonale Hypertonie 4 Krankheiten mit assoziierter pulmonaler arterieller Hypertonie
1.16.1
Lungenembolie
Thromboembolie Ätiologie und Pathogenese. Der Verschluss von Pulmonalarterienästen durch verschleppte Thromben ist die häufigste Form der Lungenembolie. Inzidenzrate rund 1:1000 pro Jahr. In den USA werden jährlich über 250.000 Personen wegen Thromboembolie hospitalisiert. Ausgangspunkt ist meistens eine Thrombose der tiefen Beinvenen, die auf dem Boden einer hereditären oder erworbenen Thrombophilie entstehen kann (7 Kap. 7). Die seltenen Armvenenthrombosen entstehen meistens traumatisch, auch auf dem Boden von Wandläsionen, die mit Kanülen und Venenkathetern gesetzt werden. Pathophysiologie. Respiratorische Störungen: Durch Belüftung der nicht perfun-
dierten Alveolen im embolisierten Lungenbezirk entsteht ein al-
veolärer Totraum. Die resultierende Störung des VentilationsPerfusions-Verhältnisses führt zur Hypoxie und zur kompensatorischen Hyperventilation, die als Dyspnoe empfunden wird. Im Verlauf kann es durch Surfactant-Verlust und Kontraktion der Längsmuskulatur in den terminalen Luftwegen zu Atelektasen kommen. Die meisten emboliebedingten Lungenverschattungen im Röntgenbild stellen reversible Atelektasen dar. Lungeninfarkte sind selten, da die Lunge auf 2 Wegen mit Blut versorgt wird: durch den Bronchialkreislauf und die Pumonalarterie. Infarzierungen werden meistens durch periphere Embolien hervorgerufen, am ehesten bei gleichzeitiger Stauung im kleinen Kreislauf. Sie gehen mit Begleitpleuritis einher, manchmal mit blutigem Auswurf. Hämodynamische Störungen: Die Verlegung von Lungenarterienästen erhöht den Widerstand im kleinen Kreislauf und damit die Nachlast für den rechten Ventrikel. Wegen der großen Compliance der Lungenarterien steigt der Pulmonalarteriendruck erst bei ausgedehnten Embolien. Von normalen Ausgangswerten kann er auf 80 mmHg steigen, bei vorbestehender Rechtshypertrophie noch höher. Die akute Druckbelastung des rechten Ventrikels führt durch Kompression der Ventrikelwand zur Ischämie und zur progredienten Rechtsherzinsuffizienz. Auch die Funktion des linken Herzens wird herabgesetzt, da sich das interventrikuläre Septum infolge Dilatation des rechten Ventrikels nach links vorwölbt und die Füllung des linken Ventrikels vermindert. Etwa bei 5% der Thromboembolien kommt es zum kardiogenen Schock. Bei offenem Foramen ovale können Thromben in den großen Kreislauf eingeschwemmt werden und im Gehirn und anderen Organen ischämische Infarkte verursachen. Klinik. ! Erstes und wichtigstes Zeichen ist eine plötzlich einsetzende unerklärliche Dyspnoe mit Tachypnoe, deren Stärke sich nach dem Schweregrad der Embolie richtet.
Tachykardie, Blutdruckabfall und Zyanose kommen bei massiven Embolien hinzu. Wenn sich eine Rechtsinsuffizienz entwickelt, treten Halsvenenstauung und Leberschwellung auf. Die relativ seltenen fulminanten Embolien führen abrupt zu Bewusstseinsverlust und kardiogenem Schock. Kleinere periphere Embolien mit Infarkt manifestieren sich nach mehrstündiger Latenzzeit mit Husten und atemabhängigem Pleuraschmerz ohne stärkere Dyspnoe. In der Hälfte dieser Fälle wird etwas Blut ausgehustet. Rezidivierende Mikroembolien können asymptomatisch verlaufen und schließlich zur irreversiblen chronischen pulmonalen Hypertonie führen. Diagnostik. Anamnese: Familiäre Thrombosebelastung erfragen (genetische
Thrombophilie) und erworbene Risikofaktoren für eine Thrombose eruieren.
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179 1.16 · Pulmonale Herzkrankheiten
Ventilation
ventral
dorsal
RVL
LDR
Perfusion
a
ventral
dorsal
RVL
LDR
. Abb. 1.125. Echokardiographischer 4-Kammerblick einer 38-jährigen Patientin mit rezidivierenden Lungenembolien: Oben: akutes Cor pulmonale mit Vergrößerung des rechten Ventrikels u. des rechten Vorhofes sowie Linksverschiebung des Septums. Unten: Normalisierung des Echobefundes 48 Stunden nach Beginn einer Vollheparinisierung
Körperliche Untersuchung: Symptome einer tiefen Beinvenen-
thrombose? Auskultationsbefund der Lungen meistens normal. Akzentuierter Pulmonalton im 2. ICR links. Inspiratorisch verstärktes Systolikum links parasternal (Trikuspidalinsuffizienz)? Zeichen der Rechtsherzinsuffizienz? Röntgenbild des Thorax: Normalbefund häufig! Ansonsten:
Zwerchfellhochstand, keilförmige, mit der Basis an die Pleura grenzende Verschattung (Atelektase, seltener Infarkt), hypovaskularisierte Zonen (Westermark-Zeichen).
b . Abb. 1.126a, b. 54-jährige Patientin im Stadium NYHA III mit Verdacht auf rezidivierende Lungenembolien. a Das Ventilations- und Perfusionsszintigramm zeigt eine deutliche Minderperfusion der gesamten rechten Lunge (unten) bei nur geringer ventilatorischer Aktivitätsminderung im rechten Lungenoberlappen (oben), passend zu einer fast kompletten Thrombosierung der rechten Lungenstrombahn. b Operationspräparat nach rechtsseitiger Thrombendarterektomie
EKG: SIQIII-Typ (Rechtsdrehung des QRS-Vektors), inkompletter
Rechtsschenkelblock, dazu ST-Hebung und T-Negativität in V1 und V2 bei rechtsventrikulärer Ischämie (. Abb. 1.120). Echokardiographie (. Abb. 1.125): Bei schwerer Lungenembolie großer rechter Ventrikel (durch Dilatation) bei kleinem linken Ventrikel. Paradoxe Septumbewegung nach links, erweiterte Pulmonalarterie. Manchmal noch Thromben im rechten Vorhof oder Ventrikel, bei offenem Foramen ovale auch im linken Vorhof.
> Die Echokardiographie ist auf Intensivstationen bei kardiogenem Schock das wichtigste Instrument zur Unterscheidung von Lungenembolie, Aortendissektion und Perikardtamponade. Duplexsonographie der tiefen Beinvenen: Nur in 65% der Fälle ist ein Thrombus nachweisbar (fehlende Komprimierbarkeit).
180
Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
Differenzialdiagnosen. Pneumonie, Asthmaanfall, Pneumothorax, primäre pulmonale Hypertonie, Herzinfarkt, Lungenödem, Herztamponade, Aortendissektion, Rippenfraktur, Kostochondritis, psychogene Hyperventilation.
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Therapie. Antikoagulation mit unfraktioniertem Heparin: Sofortmaßnah-
. Abb. 1.127. Thorax-CT im Spiralmodus nach Kontrastmittelgabe bei einer 67-jährigen Patientin mit schwerer Lungenembolie. Großer Embolus in der Bifurkation des Pulmonalarterienstammes, kleinere Thromben in der rechten Unterlappenarterie mit peripherer Parenchymverdichtung (PV) bei embolischem Lungeninfarkt und begleitendem Pleuraerguss (PLE)
Laborbefunde: Hypoxie und Hypokapnie, aber auch Normalbefunde bei der Blutgasanalyse. Nachweis von Fibrinspaltprodukten (D-Dimer) im Serum mit Latexagglutination, besser mit ELISA, aber nicht spezifisch. Ein negatives Resultat spricht aber gegen Embolie. Lungenperfusionsszintigraphie: Wichtigster Screening-Test, da
me bei Verdacht auf Lungenembolie noch vor Abschluss der Diagnostik. Dosis: 10.000 IE als Bolus i.v., anschließend Langzeitinfusion mit 1000 IE/h (18 IE/kg, maximal 1600 E/h). Die aPTT soll auf das 1,5- bis 2fache des Ausgangswertes steigen. Heparin (als Heparin/Antithrombin-III-Komplex) stoppt die Thrombusbildung und ermöglicht eine zügige endogene Fibrinolyse. Alternativ wird das niedermolekulare Heparin Enoxaparin zur Behandlung der Lungenembolie bei tiefer Venenthrombose eingesetzt (2×1 mg/kg/Tag s.c.). Nach Erreichen des therapeutischen aPTT-Wertes kann mit oraler Antikoagulation (Phenprocoumon, Warfarin) begonnen werden. Die Heparininfusion ist aber mindestens 5 Tage fortzusetzen (bis alles Thrombin eliminiert ist). Der INR-Wert ist auf 2,0–3,0 einzustellen. Die Antikoagulantientherapie genügt für alle Patienten mit stabilem Kreislauf und normaler Kontraktilität des rechten Ventrikels im Echokardiogramm. Kontraindikationen: akute Blutungen, zerebrale Insulte, heparininduzierte Thrombopenie (mit intravaskulärer Gerinnung). Alternativ kann der reine Thrombininhibitor Hirudin gegeben werden. Bei Blutungskomplikationen lässt sich Heparin mit Protaminsulfat neutralisieren. Dauer der Antikoagulation mindestens 6 Monate, bei genetischen Thrombophilien mehrere Jahre, bei rezidivierenden Embolien evtl. lebenslang. Vena-cava-Schirm (Greenfield-Filter): Applikation über die V. jugularis in die V. cava inferior. Indikationen (sehr selten): Embolie-
ein normales Szintigramm eine klinisch relevante Embolie ausschließt. Ein Speicherdefekt spricht für eine Embolie, wenn das konventionelle Röntgenbild des Thorax unauffällig ist. Im Ventilations-Perfusions-Scan wird der nicht perfundierte Lungenabschnitt noch belüftet (. Abb. 1.126).
rezidive unter der Therapie, Kontraindikationen für Antikoagulation und Fibrinolyse. Komplikationen: Verschiebungen des Filters, Thrombose auf der proximalen Seite, Kavathrombose. In randomisierten Studien wurde die 2-Jahresmortalitat nicht gesenkt.
Spiral-CT mit Kontrastmittelbolus (. Abb. 1.127): Zunehmend
Thrombolyse: Als potenziell lebensrettend indiziert bei massiven
diagnostischer Goldstandard. Erfasst Embolien in den Haupt-, Lappen- und Segmentästen mit einer Sensitivität von 73–97% und einer Spezifität von 86–98%.
Konventionelle pulmonale Kontrastmittelangiographie: Bei un-
Embolien mit kardiogenem Schock oder hämodynamischer Instabiltät, auch bei normalem Blutdruck, wenn der rechte Ventrikel im Echokardiogramm hypokinetisch ist. Die Lyse kann noch nach einem Intervall von bis zu 14 Tagen effektiv sein. Am kürzesten ist das Protokoll mit tPA (100 mg während 2 Stunden i.v.), wobei die Heparininfusion nicht unterbrochen wird. Alternativ kommen Urokinase und Streptokinase in Betracht. Die pulmonale Strömungswiderstand fällt schon nach mehreren Stunden ab. Kontraindikationen: aktive innere Blutungen, Hirninfarkt während der letzten 2 Monate, unter 10 Tagen Abstand nach großen Operationen, bakterielle Endokarditis.
klaren Fällen, wenn ein Spiral-CT nicht verfügbar ist. Indiziert vor chirurgischer Therapie einer pulmonalen Hypertonie auf dem Boden rezidivierender Lungenembolien.
Transvenöse Katheter-Embolektomie: Absaugung von Thromben oder Zertrümmerung mit speziellen Kathetern in Kombina-
Dreidimensionale Magnetresonanzangiographie mit Gadolinum: Annähernd von gleicher Aussagekraft wie die konventio-
nelle pulmonale Angiographie mit Kontrastmittel. Ergänzend sind mit einer MRA der proximalen Beinvenen und der Beckenvenen Thromben in diesem Bereich sicher zu erfassen.
181 1.16 · Pulmonale Herzkrankheiten
tion mit der Thrombolyse. Indikation: bei schweren Embolien und im kardiogenen Schock. Chirurgische Embolektomie: In schwersten Fällen mit Schocksymptomatik indiziert. Eingriff unter Einsatz der Herz-LungenMaschine oder nach Trendelenburg (Inzision des Pulmonalarterienhauptstammes). Letalität 25–40%. Prognose. Die Heparinbehandlung hat die Mortalität der Lungenembolie von 18–38% auf unter 9% gesenkt. Die Thrombolyse ist in schweren Fällen lebensrettend. Die spontane Thrombolyse dauert mehrere Wochen und kann unvollständig bleiben (16% der Fälle). Patienten mit rezidivierenden Embolien und chronischer pulmonaler Hypertonie sind Kandidaten für eine pulmonale Thrombendarterektomie, die vielfach erfolgreich ist (Operationsmortalität 5–10%; . Abb. 1.126b).
laufende Registrierung des transösophagealen Echchokardiogramms genau verfolgt werden. Es kam zur massiven Einschwemmung echogener Fettmassen über den rechten Vorhof in den rechten Ventrikel und die A. pulmonalis. Außerdem trat embolisches Material durch ein offenes Formanen ovale in den linken Vorhof über und führte zu systemischen Fettembolien mit generalisierten Krämpfen, Hyperreflexie und Koma. Nach 32 Stunden erfolgte der Exitus. Das Fettemboliesyndrom hat damit eine mechanische Erklärung gefunden. Bei einer Häufigkeit des offenen Formanen ovale von 20–34% sind neurologische Ausfallserscheinungen durchaus plausibel. Eine spezifische Therapie gibt es nicht. Das Fettemboliesyndrom wurde auch bei akuter Pankreatitis beobachtet. Das embolisierende Fett scheint hier durch Aggregation von Chylomikronen und VLDL unter dem Einfluß von C-reaktivem Protein und anderen Faktoren zu entstehen.
Prävention. Sehr erfolgreich mit subkutan appliziertem Heparin
in niedriger Dosis ohne Laborkontrollen durchzuführen. Statt unfraktioniertem Heparin (3×5000 IE/Tag) verwendet man meistens niedermolekulare Heparine (Enoxaparin, Dalteparin, Ardeparin, Reviparin, Tinzaparin, Nadroparin). Diese haben sind wegen besserer Bioverfügbarkeit niedriger zu dosieren und nur einmal oder zweimal täglich zu injizieren (z.B. Enoxaparin 2-mal 30 mg/Tag s.c., Dalteparin 1-mal 2500–5000 IE/Tag s.c.) durchgesetzt. Indikationen: Peri- und postoperative Prophylaxe tiefer Beinvenenthrombosen (Allgemeinchirurgie, Hüft- und Kniegelenkersatz, Neurochirurgie, Thorax- und Herzchirurgie). Prophylaxe bei bettlägerigen Schwerkranken und Schwerverletzten. Nach Hüft- und Kniegelenkersatz muss die Prophylaxe postoperativ mindestens einen Monat lang fortgesetzt werden, da Spätthrombosen drohen. Physikalische Maßnahmen: Postopertive Frühmobilisation, Antiemboliestrümpfe bzw. elastische Bandagen der Beine. Bei Bewusstlosen intermittierende Kompression der Unter- und Oberschenkel.
Nichtthrombogene Embolien Fettembolie Fettembolisierung kommt bei 90% der Patienten mit schweren Traumen vor und verläuft überwiegend asymptomatisch. Das klinisch manifeste Fettemboliesyndrom ist relativ selten. Es wird zu 90% nach stumpfen Traumen mit Frakturen langer Röhrenknochen, Marknagelungen, sowie nach Hüft- und Kniegelenkersatz mit Zementeinspritzungen beobachtet. Seine Kennzeichen sind pulmonale Dysfunktion mit Tachypnoe und Hypoxie, in schweren Fälle auch pulmonale Hypertonie und rechtsventrikuläre Dysfunktion. In 70% der Fälle folgen nach 2 Tagen multiple Petechien und mentale und neurologische Ausfallserscheinungen. Die Mortalität beträgt 10–20%. Bei der Marknagelung einer Femurfraktur konnte die Entstehung eines fulminanten Fettemboliesyndroms durch fort-
Tumorembolie Entsteht durch Eindringen von Tumorgewebe in die großen Venen. Die Unterscheidung von einer Thrombembolie kann schwierig sein. Embolien mit Amnionflüssigkeit Vorkommen bei Blaseneinriss am Plazentarand. Führt zum Lungenödem durch Kapillardurchlässigkeit in den Alveolen. 1.16.2
Pulmonale arterielle Hypertonie
Definition. Drucksteigerung im kleinen Kreislauf mit erhöhter
Rechtsherzbelastung, die zur Rechtshypertrophie und zur Rechtsherzinsuffizienz führen kann. Klassifikation (Venedig 2003).
1. Pulmonale arterielle Hypertonie (PAH) 1.1. Idiopathisch (IPAH) 1.2. Familiär (FPAH) 1.3. Assoziiert mit (APAH) 1.3.1. Kollagengefäßkrankheiten 1.3.2. Kongenitale Links-rechts-Shunts 1.3.3. Portale Hypertension 1.3.4. HIV-Infektion 1.3.5. Pharmaka und Toxine 1.3.6. Andere (Schilddrüsenkrankheiten, Glykogenspeic herkrankheit, Morbus Gaucher, hereditäre hämorrhagische Teleangiektasie, Hämoglobinopathien, myeloproliferative Erkrankungen, Splenektomie) 1.4. Assoziiert mit signifikanter Venen- oder Kapillarbeteiligung 1.4.1. Pulmonale venookklusive Krankheit (PVOD) 1.4.2. Pulmonale kapillare Hämangiomatose (PCH) 1.5. Persistierende pulmonale Hypertonie der Neugeborenen
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Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
2. Pulmonale Hypertonie bei Linksherzerkrankungen 2.1. Linksseitige atriale oder ventrikuläre Krankheiten 2.2. Linksseitige Herzklappenerkrankungen 3. Pulmonale Hypertonie assoziiert mit Lungenkrankheiten und/oder Hypoxämie 3.1. Chronische obstruktive Lungenkrankheit 3.2. Interstitielle Lungenkrankheiten 3.3. Schlaf-Atem-Störungen 3.4. Krankheiten mit alveolärer Hypoventilation 3.5. Chronische Höhenluftexposition 3.6. Entwicklungsanomalien 4. Pulmonale Hypertonie durch chronische thrombotische und/ oder embolische Krankheiten 4.1. Thromboembolische Obstruktion der proximalen pulmonalen Arterien 4.2. Thromboembolische Obstruktion der distalen pulmonalen Arterien 4.3. Nichtthrombotische pulmonale Embolien (Tumor, Parasiten, Fremdmaterial) 5. Verschiedenes (Sarkoidose, Histiozytose X, Lymphangiomatose, Kompression von Lungengefäßen, Adenopathie, Tumor, fibrosierende Mediastinitis)
Lungenszintigraphie: Das Perfusionsszintigramm dient zum
Nachweis bzw. Ausschluss rezidivierender Lungenembolien als Ursache einer PAH. Elektrokardiogramm: Steil- oder Rechtslagetyp; Zeichen der Rechtshypertrophie: hohe spitze P-Zacken in II, aVF, III und V1; zunehmende Rc-Zacke in V1, zuletzt rSR. Bei Emphysem periphere Niedervoltage. Spiroergometrie zur Feststellung der Belastungstoleranz. Echokardiographie: Rechtskardiale Dilatation. Im 4-Kammerblick Verdickung der rechtsventrikulären Vorderwand (>5 mm). Häufig hyperkinetischer rechter Ventrikel. Bei relativer Trikuspidalinsuffizienz dopplersonographische Abschätzung der rechtskardialen Drücke. Magnetresonanztomographie: Goldstandard zur Größenbestimmung des rechten Ventrikels und seiner Ejektionsfraktion. Spiral-CT: Erlaubt die optimale Diagnostik des Emphysem und
anderer Lungenveränderungen. Rechtsherzeinschwemmkatheter: Ermöglicht durch Druck-
Diagnostik. Anamnese: Hinweise auf Rechtsinsuffizienz (Belastungsdyspnoe,
belastungsabhängige Synkopen, Beinödeme)? Sekundäre Angina pectoris? Hinweise auf diastolische Funktionsstörung des linken Ventrikels (nächtliche Dyspnoe)? Zeichen einer Lungenkrankheit (Husten, Auswurf, Asthma)? Hinweise auf Lungenembolie (Beinvenenthrombose, Pleuraschmerz mit Fieber)? SchlafApnoe-Phasen? Leberkrankheit mit Aszites? Einnahme von Appetitzüglern? Angeborene Herzfehler? HIV-Infektion? Rheumatische Systemkrankheiten? Körperlicher Untersuchungsbefund: Im 2. ICR links systolische Pulsation der dilatierten A. pulmonalis, Ejektionsklick, systolisches Strömungsgeräusch und enge Spaltung des 2. Herztones. Epigastrische Pulsationen infolge Rechtshypertrophie, Leberschwellung, Ödeme. Bei relativer Trikuspidalinsuffizienz holosystolisches Regurgitationsgeräusch links parasternal und prominente V-Welle im Jugularvenenpuls. Zyanose bei Lungenkrankheiten mit Hypoxämie oder im Finalstadium. Röntgenuntersuchung des Thorax: Erweiterung der Pulmonal-
arterie und der Hauptäste mit Kalibersprung zur Peripherie. Bei obstruktiver Lungenkrankheit weist eine Erweiterung (>16 mm) des rechten deszendierenden Pulmonalarterienastes auf eine pulmonale Hypertonie hin. Einengung des Retrosternalraumes bei Dilatation des rechten Ventrikels. Lungenfunktionsprüfung: Nachweis obstruktiver und restrik-
tiver Ventilationsstörungen und Veränderungen der Blutgase. Bei Indikation Untersuchung im Schlaflabor.
messungen im kleinen Kreislauf (re. Vorhof, re. Ventrikel, Pulmonalarterie, Pulmonalkapillaren) und Bestimmung des Herzminutenvolumens in Ruhe und unter Ergometerbelastung den Schweregrad der pulmonalen Hypertonie genau zu bestimmen und eine Linksinsuffizienz als Ursache auszuschließen. Bei der Untersuchung kann der Effekt von Vasodilatoren getestet werden. 1. Stadium: Ruhedrücke normal. Anstieg des Pulmonalarteriendrucks unter leichter Belastung ohne Erhöhung des pulmonalen Kapillardrucks (Druckgradient im kleinen Kreislauf steigt). Vorhofmitteldruck und enddiastolischer rechtsventrikulärer Druck normal. Adäquate Zunahme des Herzminutenvolumens. 2. Stadium: Erhöhter Pulmonalarteriendruck in Ruhe ohne wesentlichen Anstieg des rechtsventrikulären enddiastolischen und des mittleren Vorhofdrucks. Starker Druckanstieg in der Pulmonalarterie und inadäquate Förderleistung unter Belastung. 3. Stadium: Erhöhter Pulmonalarteriendruck in Ruhe. Enddiastolischer Druck im rechten Ventrikel und mittlerer Vorhofdruck deutlich über 8 mmHg. Herzminutenvolumen an der unteren Grenze der Norm und nicht mehr steigerungsfähig (Dekompensierte Rechtsinsuffizienz). Idiopathische und familiäre pulmonale Hypertonie (IPAH) Vorkommen. Mit 2 Fällen pro Jahr auf eine Million Einwohner sehr selten. Frauen erkranken viermal häufiger als Männer, hauptsächlich im Alter zwischen 20 und 40 Jahren.
183 1.16 · Pulmonale Herzkrankheiten
Ätiologie und Pathogenese. Die Ursache der idiopathischen PAH ist unbekannt. Die familiäre PAH wird autosomal-dominant vererbt. Pathogenetische Komponenten sind: 4 verminderte Produktion vasodilatatorischer Substanzen durch das Endothel 4 Proliferation der Intima und glatten Gefäßmuskelzellen 4 in situ Thrombose in den kleinen pulmonalen Arterien. Klinische Symptome. Treten meistens erst im fortgeschrittenen
Stadium auf. Dyspnoe (60%), Körperschwäche (19%), Synkopen oder Präsynkopen (13%) und Raynaud-Phänomen (10%). Die Neigung zu Synkopen ist durch das fixierte Minutenvolumen bedingt. Es kann bei Anstrengungen nur begrenzt durch Steigerung der Schlagfrequenz erhöht werden. Im Verlauf kommt es zur Rechtsherzinsuffizienz. Haupttodesursachen sind Herzversagen und Kammerflimmern. Symptomatische Therapie. Die hier beschriebenen Maßnahmen gelten auch für die anderen Formen der pulmonalen arteriellen Hypertonie. Vasodilatatoren: 4 Calciumantagonisten: Ein Teil der Patienten spricht auf
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Höchstdosen von Nifedipin (170 mg/Tag) oder Diltiazem (720 mg/Tag) an. Iloprost-Inhalation: Die Substanz ist ein stabiles Analogon vom Prostacyclin mit vasodilatorischer Wirkung auf die Pulmonalgefäße. Es wird als Aerosol mit 6–8 Inhalationen pro Tag appliziert (Tagesdosis 75–200 μg). Sildenafil: Der Phosphodiesterase-5-Inhibitor wirkt vasodilatierend, indem er die intrazelluläre Konzentration von cGMP erhöht. Endothelinrezeptor-Blocker: Verfügbar ist die Substanz Bosentan, das durch Vasodilation die Hämodynamik verbessert. Indiziert bei Rechtsinsuffizienz der Klassen III und IV (Initialdosis 2×62,5 mg/Tag, nach 4 Wochen verdoppeln, falls möglich). NO-Inhalation: Bei akuter Dekompensation hilfreich, Langzeitanwendung schwierig.
Diuretika: Führen durch Verminderung des rechtsventrikulären Füllungsdruck zur Entlastung des rechten Herzens und schwemmen Stauungsödeme aus. Digitalis: Steigert bei Rechtsinsuffizienz das Herzzeitvolumen und
senkt den Noradrenalinspiegel. Indiziert bei Vorhofflimmern. Orale Antikoagulation: Wirkt sekundären Thrombosierungen der kleinen Lungengefäße entgegen und verbessert nachweislich die Lebenserwartung (INR 2,0–3,0). Lungentransplantation: Durch die moderne medikamentöse
Therapie werden 2-Jahresüberlebensraten von 80% erreicht. Im
fortgeschrittenen Stadium besteht die Indikation zur einseitigen oder doppelseitigen Lungentransplantation. Danach kann die 5-Jahresüberlebensrate 60% betragen. Selten kommt eine HerzLungen-Transplantation in Betracht. Krankheiten mit assoziierter pulmonaler arterieller Hypertonie Kollagenkrankheiten Häufige Komplikation bei Sklerodermie (30%) und dem CRESTSyndrom (50%). Deutlich seltener bei Lupus erythematodes, Sjögren-Syndrom und Dermatomyositis. Diagnose. Durch immunserologische Untersuchungen und Biopsie (7 Kapitel Kollagenosen). Klinik. Körperschwäche und Dyspnoe sind initiale Symptome der pulmonalen Hypertonie, die sich prognostisch ungünstig auswirkt. Therapie. Wie bei IPAH, aber weniger erfolgversprechend.
Kongenitale Shunt-Vitien Häufig bei großen posttrikuspidalen Shunts (VSD, offener Ductus Botalli). Vorkommen auch bei prätrikuspidalen Shunts (ASV, anomale Pulmonalvenendrainage). Durch den bestehenden Links-Rechts-Shunt kommt es zu einer chronischen Steigerung des pulmonalen Blutflusses, der das Endothel schädigt und über Mediahyperplasie und Intimaproliferation zur obliterierenden konzentrischen Fibrosierung mit starker pulmonaler Hypertonie führt. Rechtzeitige operative Korrektur kann eine Shuntumkehr verhindern. Allerdings tritt eine PAH manchmal Jahre oder Jahrzehnte nach erfolgreicher Operation auf. Sie ähnelt dann der IPAH. Bei gleicher symptomatischer Therapie ist die Langzeitprognose jedoch besser. Pulmonale Hypertension Eine pulmonale Hypertonie kommt bei portaler Hypertension mit und ohne Leberzirrhose vor. Die Pathogenese ist nicht geklärt. In beiden Fällen ist das Herzzeitvolumen und damit der pulmonale Blutfluss erhöht mit möglicher Wandschädigung. Zusätzlich könnten vasoaktive Mediatoren, Zytokine und Wachstumsfaktoren aus der überdehnten Pfortader eine Rolle spielen. Therapie wie bei IPAH. Leichte Grade der pulmonalen Hypertonie sind keine Kontraindikation für eine Leberttransplantation. HIV-Infektion Der Mechanismus durch den bei dieser Infektion eine pulmonale Hypertonie entstehen kann, ist unbekannt. Die spezifische Therapie hat auf die Komplikation keinen Einfluss. Symptomatische Behandlung wie bei IPAH. Appetitzügler Es ist gesichert, daß verschiedene Anorexiegene eine pulmonale Hypertonie verursachen können. Zu einer Epidemie kam es 1967
1
184
1
Kapitel 1 · Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems
in Europa durch die Substanz Aminorex. Später führten Fenfluramin-haltige Präparate zu vielen Fällen. Klinisch ähnelt das Krankheitsbild der IPAH. Nach experimentellen Untersuchungen bewirkt Fenfluramin durch Hemmung spannungsabhängiger Kaliumkanäle eine pulmonale Vasokonstriktion. Betroffene Personen scheinen außerdem eine herabgesetzte basale NOProduktion zu haben. Therapie wie bei IPAH, doch sprechen die Patienten gewöhnlich schlechter darauf an. Pulmonale venookklusive Krankheit (PVOD) Sehr seltene Ursache der pulmonalen Hypertonie. Es liegt eine Intimaproliferation und Fibrose der intrapulmonalen Venen und Venülen unklarer Ursache vor. Dadurch ist der pulmonale Kapillardruck erhöht. Eine wirksame Therapie gibt es nicht. Pulmonale kapillare Hämangiomatose Bei dieser sehr seltenen Krankheit sind in der Lunge Interstitium und Gefäßwände mit dünnwandigen Blutgefäßen infiltriert. Es kann zu Blutungen kommen. Eine Therapie ist nicht bekannt, die Prognose ist infaust. Linksherzerkrankungen mit Lungenstauung Für einen gestörten Abfluss aus den Lungenvenen in das linke Herz gibt es verschiedene Ursachen: linksventrikuläre Dysfunktion, Mitralvitien, Aortenvitien, Kardiomyopathien und Perikarderkrankungen. Wegen der großen Compliance der Lungenvenen wird ein Rückstau zunächst ohne Drucksteigerung aufgefangen. Höhere Grade des Rückstaus lassen den pulmonalen Venendruck und den Pulmonalarteriendruck in einem Verhältnis steigen, das den Druckgradient und damit auch den Blutfluss konstant hält. Wenn der pulmonale Venendruck 25 mmHg übersteigt, kommt es bei einem Drittel der Patienten zu einer Konstriktion der pulmonalen Widerstandsgefäße mit starkem Anstieg des Pulmonalarteriendrucks (bis 80 mmHg). Trotz dieses Druckanstiegs bleibt der Blutfluss konstant, weil auch der Strömungswiderstand zugenommen hat. Der Mechanismus der Vasokonstriktion ist nicht geklärt. Bei chronischer venöser Hypertension schwellen die pulmonalen Kapillarendothelien, ihre Basalmembran nimmt an Dicke zu und es entwickelt sich ein interstitielles Ödem, das allmählich in Fibrose übergeht. Auf der arteriellen Seite resultieren Mediahypertrophie der Arterien und Rechtsherzbelastung mit Hypertrophie und Insuffizienz. Die Therapie muss nach Möglichkeit die kardialen Ursachen der venösen Hypertension beseitigen. Wenn es gelingt, bildet sich die pulmonale Hypertonie meistens zurück. Lungenkrankheiten und/oder Hypoxämie In der Venedig-Klassifikation sind die in Betracht kommenden Krankheitszustände aufgeführt. Sie werden im Kapitel über die Erkrankungen der Atmungsorgane abgehandelt (7 Kap. 2).
> Hypertrophie und Dilatation des rechten Herzens infolge chronischer pulmonaler Hypertonie durch Erkrankungen des respiratorischen Systems (ohne Linksherzbeteiligung) werden als Cor pulmonale bezeichnet.
Der Widerstandserhöhung im kleinen Kreislauf können Verschluss oder Rarefizierung der Lungengefäße und Ventilationsstörungen mit hypoxisch bedingter Vasokonstriktion zugrunde liegen. Die Therapie richtet sich gegen das Grundleiden und mit den gleichen Mitteln wie bei der IPAH gegen die pulmonale Hypertonie. Chronische Lungenembolie Ganz überwiegend handelt es sich um Thromboembolien, selten um Fett- oder Tumorzellembolien. Neben symptomatischer Therapie wie bei IPAH ist eine Dauerantikoagulation mit Phenprocoumon oder täglichen subkutanen Injektionen von Enoxaparin erforderlich. Bei Verschlüssen größerer Äste der Pulmonalarterie kommt eine Embolektomie in Betracht.
2 2
Krankheiten der Atmungsorgane
2.1
Die normale Atmung – 187
2.1.1 2.1.2 2.1.3
Funktionen der oberen Luftwege Funktionen der Lunge – 187 Regulation der Atmung – 188
– 187
2.2
Lungenfunktionsprüfungen – 189
2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5
Ventilation – 190 Atemmechanik – 192 Verteilung – 193 Diffusion – 194 Atemgase und pH-Wert im Blut
2.3
Störungen der Atmung – 196
2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5 2.3.6 2.3.7 2.3.8
Allgemeine Symptome – 196 Obstruktion – 197 Restriktion – 198 Verteilungsstörungen – 198 Diffusionsstörungen – 199 Respiratorische Insuffizienz – 199 Acute respiratory distress syndrome (ARDS) Schlafapnoe-Syndrom – 202
2.4
Diagnostische Methoden – 204
2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4 2.4.5 2.4.6
Körperliche Untersuchung – 204 Sputumuntersuchung – 204 Radiologische Untersuchungsmethoden – 206 Nuklearmedizinische Untersuchungsmethoden – 206 Thoraxsonographie – 207 Bronchoskopie, Biopsie und Lavage – 207
2.5
Erkrankungen der Trachea und Bronchien – 209
2.5.1 2.5.2 2.5.3 2.5.4 2.5.5 2.5.6 2.5.7
Tracheitis – 209 Akute Bronchitis – 209 Chronische Bronchitis und Emphysem – 210 Zystische Fibrose (Mukoviszidose) – 213 Asthma bronchiale – 215 Bronchiektasen – 219 Bronchialkarzinom – 220
– 194
– 201
2.5.8 2.5.9 2.5.10
Bronchoalveoläres Karzinom – 224 Lungenmetastasen – 225 Semimaligne und benigne Bronchialtumoren
2.6
Erkrankungen der Lunge – 226
2.6.1 2.6.2 2.6.3 2.6.4 2.6.5 2.6.6 2.6.7 2.6.8 2.6.9 2.6.10 2.6.11
Pneumonien – 226 Interstitielle Lungenkrankheiten – 230 Idiopathische Lungenfibrose (UIP: usual interstitial pneumonia) Iatrogene Lungenfibrosen – 232 Toxische Inhalationsschäden – 233 Exogen-allergische Alveolitis – 234 Eosinophile Pneumonien – 235 Goodpasture-Syndrom – 236 Pneumokoniosen – 237 Sarkoidose – 240 Tuberkulose – 243
2.7
Erkrankungen von Pleura, Mediastinum und Zwerchfell – 249
2.7.1 2.7.2 2.7.3 2.7.4 2.7.5 2.7.6 2.7.7 2.7.8
Pneumothorax – 249 Pleuritis – 251 Pleuraempyem – 252 Pleuraerguss – 252 Pleuratumoren – 253 Mediastinitis – 254 Mediastinaltumoren – 254 Lage- und Funktionsanomalien des Zwerchfells
– 225
– 255
– 230
187 2.1 · Die normale Atmung
2.1
Die normale Atmung Sauerstoffaufnahme
2.1.1 Funktionen der oberen Luftwege Bedeutung der Nasenatmung In der Nase wird die Atemluft: 4 gereinigt (Filterwirkung der Nasenhaare, Partikelniederschlag auf dem Nasenschleim, rachenwärts gerichtete Zilienbewegung des Epithels) 4 erwärmt (fast bis auf Körpertemperatur) 4 befeuchtet (nahezu vollständige Sättigung mit Wasserdampf). Gestörte Nasenatmung kann daher Reizung und Austrocknung der Bronchialschleimhaut bewirken. Dem ist bei künstlicher Beatmung (Trachealkatheter, Trachealkanüle) Rechnung zu tragen. Selbstreinigung des Tracheobronchialsystems Erfolgt durch den schleimhaltigen Schutzfilm der Trachea und der Bronchien in Verbindung mit der rachenwärts gerichteten Zilienbewegung des Epithels (Transportgeschwindigkeit 10–15 cm/h). > Bestandteile des Zigarettenrauchs hemmen die Ziliaraktivität! Husten und Niesen sind zusätzliche reflektorisch ausgelöste Rei-
nigungsmechanismen. > Abschwächung oder Ausschaltung des Hustenreflexes kann lebensgefährlich sein, z.B. Aspiration bei Narkosen oder im Koma oder mangelhaftes Abhusten bei fortgeschrittener obstruktiver Lungenerkrankung.
2.1.2 Funktionen der Lunge Ventilation Die Ventilation umfasst die Einatmung mit Belüftung des Alveolarraumes und die Ausatmung. Die Einatmung erfolgt aktiv durch Kontraktion der Atemmuskeln, die Ausatmung überwiegend passiv durch elastische Rückstellkräfte der Lungen und des Brustkorbes. Bei erschwerter Ausatmung treten die exspiratorischen Muskeln (Bauchpresse) verstärkt in Aktion. Bei erschwerter oder verstärkter Einatmung dienen Skalenus, Sternokleidomastoideus, und beim Aufstützen der Arme die Mm. pectoralis minor et major als Atemhilfsmuskeln. Das Volumen eines normalen Atemzuges beträgt etwa 500 ml. Davon entfallen auf die Luftwege (Totraum) 150 ml, auf das Kompartiment der Alveolen 350 ml. Bei 15 Atemzügen pro Minute ergibt sich eine alveoläre Ventilation von etwa 5 l/min. Die Sauerstoffaufnahme beträgt dabei 300 ml, die CO2-Abgabe 250 ml/min. Unter Belastung kann die Sauerstoffaufnahme auf 4–5 l/min steigen und das Atemminutenvolumen auf das 15fache.
O2
Alveolarluft pO2: 104 mm Hg
Kapillarblut paO2: 40 → 104 mm Hg
Kohlendioxydausscheidung Alveolarluft pCO2: 40 mm Hg
CO2
Kapillarblut paCO2: 45 → 40 mm Hg
. Abb. 2.1. Gasaustausch in der Lunge
Gasaustausch Durch Diffusion werden zwischen Alveolarluft und Lungenkapillarblut die Atemgase ausgetauscht. Die treibende Kraft dabei ist die Differenz der Partialdrücke zwischen dem Alveolarraum und dem Kapillarblut (. Abb. 2.1). Der Gasaustausch erfolgt durch die respiratorische Membran, deren Diffusionskapazität ist abhängig von: 4 Membrandicke (Schichten: Flüssigkeitsfilm in den Alveolen, Alveolarepithel, Interstitium, Basalmembran der Kapillaren, Kapillarendothel) 4 Membranoberfläche (wird bei körperlicher Belastung durch Alveolendehnung vergrößert) 4 Diffusionskoeffizienten (abhängig vom Molekulargewicht des Gases und seiner Löslichkeit in der Membran; für CO2 zwanzigmal größer als für O2). Unter Ruhebedingungen ist die Sauerstoffsättigung des Blutes nach weniger als einem Drittel der Passagezeit durch die Lungenkapillaren beendet. Beschleunigter Blutumlauf bei Belastung beeinträchtigt daher die O2-Sättigung nicht. Nur beim Zusammentreffen von Belastung und herabgesetztem atmosphärischem Sauerstoffdruck (Höhenluft) sinkt die arterielle O2-Sättigung ab, weil der verkleinerte O2-Druckgradient die Diffusionsgeschwindigkeit vermindert. Der CO2-Austausch zwischen Alveolarluft und Kapillarblut erfolgt wegen der hohen Diffusionsrate dieses Gases sehr schnell und wird durch die respiratorische Membran niemals behindert. Perfusion Der pulmonale Blutfluss hat die gleiche Größe wie das Herzminutenvolumen und beträgt etwa 5 l/min. Da auch die alveoläre Ventilation 5 l/min beträgt, ergibt sich global ein Ventilation-Perfusion-Verhältnis von annähernd 1. Ein kleiner Teil des Herzminutenvolumens (1–2%) passiert die Lunge unter Umgehung der Alveolen. Diese venöse Zumischung zum arterialisierten Lungenvenenblut lässt den pO2 des arteriellen Blutes (paO2) auf 95 mm Hg absinken. Verteilung Ventilation und Perfusion erreichen in verschiedenen Lungenabschnitten ein unterschiedliches Ausmaß (. Abb. 2.2). Die Per-
2
188
2
Kapitel 2 · Krankheiten der Atmungsorgane
. Abb. 2.2. Regionale Differenzen der Ventilation (VA), Blutperfusion (Q) und des Ventilation-Perfusion-Quotienten (VA/Q) in der normalen Lunge bei aufrechter Haltung (nach J.B. West)
V% 7 8 10 11 12 13 13 13 13 100
Q l/min 0,24 0,07 0,33 0,19 0,42 0,33 0,52 0,50 0,59 0,66 0,67 0,83 0,72 0,98 0,78 1,15 0,82 1,29 VA
5,09
3,3 1,8 1,3 1,0 0,90 0,80 0,73 0,68 0,63
pO2 pCO2 mm Hg 132 28 121 34 114 37 108 39 102 40 98 41 95 41 92 42 89 42
6,00
alveolär-gemischt arteriell gemischt alveolär-arterielle Differenz
fusion pro Volumeneinheit nimmt in aufrechter Körperhaltung von der Lungenbasis zur Spitze kontinuierlich ab. Das gleiche gilt für die Ventilation, doch ist der Gradient nicht so steil. Folglich nimmt das Ventilation-Perfusion-Verhältnis von der Basis zur Spitze zu. Den Alveolen der Spitzenregion wird wegen des geringen Kapillardurchflusses relativ wenig O2 entzogen und wenig CO2 zugeführt. Das Gegenteil ist in den stark durchbluteten Alveolen der Lungenbasis der Fall. Trotz der ungleichen Verteilung von Ventilation und Perfusion ist die globale Sauerstoffsättigung des Lungenblutes normalerweise gewährleistet. Doch treten Störungen der arteriellen O2-Sättigung auf, wenn sich bei Lungenerkrankungen das Ventilation-Perfusion-Verhältnis erheblich verändert. Im Extremfall wird eine belüftete Alveole überhaupt nicht perfundiert (Gefäßverschluss) bzw. eine perfundierte Alveole nicht belüftet (Atelektase). Kompensatorische Reflexmechanismen sorgen dafür, dass die Durchblutung schlecht belüfteter Alveolen gedrosselt wird bzw. dass die Belüftung schlecht durchbluteter Alveolen abnimmt.
VA/Q
pO2 mm Hg 101 97
pCO2 mm Hg 39 40
4
1
bei Belastung durch übergeordnete Zentren stimuliert. Die willkürliche Atmung läuft über somatische Nerven von der Hirnrinde zur Atemmuskulatur. 4 Pneumotaktisches Zentrum: Lokalisiert im oberen Pons. Kontrolliert die Dauer des inspiratorischen Signals und damit Frequenz und Tiefe der Atmung. Das normale inspiratorische Signal erstreckt sich über 2 Sekunden, damit sich das Zwerchfell wie eine Hebebühne senken und einen ruhigen Einstrom der Atemluft bewirken kann. 4 Ventrale respiratorische Gruppe: Dicht vor und seitlich der dorsalen respiratorischen Gruppe gelegen und bei normaler Ruheatmung inaktiv. Erhält bei gesteigerter Atmung Impulse der dorsalen respiratorischen Gruppe und stimuliert dann die Exspiration und verstärkt mit einigen Neuronen auch die Inspiration.
2.1.3 Regulation der Atmung
Funktion: Die alveolare Ventilation wird so geregelt, dass der Gasaustausch den metabolischen Bedürfnissen des Organismus entspricht und paO2 und paCO2 auch unter Belastung annähernd normal bleiben. Die Stimulation des Atemzentrums bewirkt Zunahme der Atemfrequenz und der Atemtiefe.
Atemzentrum Lokalisation: Neuronengruppen bilateral in der Medulla oblongata und im Pons: 4 Dorsale respiratorische Gruppe: Erzeugt durch spontane inspiratorische Impulse den Grundrhythmus der Atmung, der ohne stimulierte Exspiration auskommt. Empfängt und beantwortet afferente Signale von den peripheren Chemorezeptoren und verschiedenen Rezeptoren der Lunge. Wird
Regulation des Atemzentrums durch Dehnungsrezeptoren der Lunge Die Muskelschicht in der Wand von Bronchien und Bronchiolen ist mit Dehnungsrezeptoren ausgestattet, die bei Überdehnung die Inspiration verkürzen. Die Atemtiefe nimmt ab, die Atemfrequenz zu. Dieser als Hering-Breuer-Reflex bezeichnete Vorgang ist beim Menschen nicht an der normalen Kontrolle der Ventilation beteiligt, sondern schützt lediglich vor extremer Lungenblähung.
189 2.2 · Lungenfunktionsprüfungen
Humorale Regulation des Atemzentrums Direkte Kontrolle: Sie erfolgt durch CO2 (Messgröße paCO2) und Wasserstoffionen (Messgröße pH). Das Atemzentrum wird über eine benachbarte chemosensitive Region stimuliert, die auf Wasserstoffionen anspricht. CO2 reagiert im Liquor und in der interstitiellen Flüssigkeit des Gehirns mit H2O zu H2CO3, das in H+ und HCO3- dissoziiert. Das geschieht am wirksamsten im Liquor, der kaum Säurepuffer enthält. Auf die H-Ionen des Blutes reagiert das Atemzentrum viel unempfindlicher, weil die BlutHirn- und die Blut-Liquor-Schranke, die CO2 schnell passieren kann, für H+ weitgehend undurchlässig sind. Indirekte Kontrolle: Exzitation des Atemzentrums über die
Chemorezeptoren im Karotissinus und Aortenbogen, die hauptsächlich durch O2-Mangel im arteriellen Blut (paO2 Die Compliance ist der Quotient aus eingeatmetem Volumen und der Druckdifferenz zwischen Beginn und Ende der Einatmung. Normalwerte: Männer 0,21 l/cmH2O (kPa) und Frauen: 0,17 l/cmH2O (kPa).
Die Compliance ist den elastischen Rückstellkräften der Lunge umgekehrt proportional. Diese setzen sich zu einem Drittel aus der elastischen Kraft des Lungengewebes, zu zwei Dritteln aus der elastischen Kraft zusammen, die von der Oberflächenspannung des Flüssigkeitsfilms in den Alveolen ausgeht. Durch einen Lipidfilm (Surfactant) wird die Oberflächenspannung herabgesetzt und ein Kollaps der Alveolen verhindert. Klinische Bedeutung: Eine pathologische Abnahme der Compliance führt zu einer Zunahme der Atemarbeit, da mehr (negativer) Druck aufgewandt werden muss, um die steife Lunge mit demselben Volumen zu füllen. Sie findet sich häufig bei restriktiven Lungenerkrankungen, kann aber auch bei akuten Veränderungen wie Ödem, Lungenentzündung und ARDS auftreten.
Eichpumpe
a
Pn V/t
x
! Bei Lungenfibrosen und Frühgeborenen mit Surfactantmangel ist die Compliance herabgesetzt, beim Lungenemphysem erhöht.
Bronchialer Strömungswiderstand (Resistance) Die Luftbewegung in den Atemwegen wird durch einen Druckgradienten zwischen Außenluft und Alveolarraum erzeugt. Am Ende der normalen Exspiration ist der Alveolardruck gleich dem atmosphärischen Druck der Außenluft, da keine Luft strömt. Mit Beginn der Inspiration wird der Alveolardruck durch die Thoraxdehnung seitens der Atemmuskeln negativ. Es entsteht ein Druckgradient von außen nach innen, der am Ende der Inspiration wieder verschwindet. Mit Beginn der Exspiration steigt der Alveolardruck infolge Kompression der Alveolen über den
y
ΔPK
−ΔP b . Abb. 2.5a, b. Ganzkörperplethysmograph. a Kammer. b Schema der Arbeitsweise (Pn = Pneumotachograph, V/t = Druckmanometer für Stromstärke, 'PK = Druckmanometer für die Messung des Kammerdrucks
2
193 2.2 · Lungenfunktionsprüfungen
atmosphärischen Druck der Außenluft; es entsteht ein Druckgradient von innen nach außen. Die Atemstromstärke (V) in l/s ist dem Druckgradienten (ΔP) zwischen Außenluft und Alveolarraum proportional und dem endobronchialen Strömungswiderstand (R) umgekehrt proportional:
V (I/s)
pmo
Inspiration VT
'P 'P (cm H2O) V˙ = 32 und R = 002 R V(l/s)
pk (cm H2O)
Exspiration
Die Resistance ist definiert als die Druckdifferenz zwischen Alveolarluft und Außenluft, die erforderlich ist, um 1 Liter Luft/ Sekunde im Bronchialsystem strömen zu lassen. Sie kann mit verschiedenen Methoden bestimmt werden. Unterbrechermethode: Während der Spontanatmung am Pneu-
motachographen werden die Atemwege am Mund 2–5u/s für weniger als 0,1 s verschlossen. In der Verschlussphase gleicht der Munddruck dem Alveolardruck. Die Atemstromstärke wird während der Öffnungsphase gemessen. Etwas aufwendiger ist die Oszillometrie, bei der am Mundstück in den Luftstrom eine schnelle kleine Wechselströmung eingeleitet wird. Aus dem Verhältnis Wechseldruck/Wechselströmung wird der Widerstand der Atemwege bestimmt. Ganzkörperplethysmographie: Der Patient wird in den Ganzkörperplethysmographen, eine luftdichte Kammer, eingeschlossen (. Abb. 2.5). Während er darin atmet, werden die Änderungen des Kammerdrucks und mittels eines Pneumotachographen die Atemstromstärke gemessen und beide auf einem XY-Schreiber registriert. Wenn sich der Brustkorb bei der Inspiration erweitert, entsteht in den Alveolen ein Unterdruck (Sog) und in der Kammer ein korrespondierender Überdruck, die beide bis zum Ende der Inspiration verschwinden, weil dann die verdrängte Kammerluft in die Lunge geströmt ist. Bei der Exspiration wird umgekehrt ein Überdruck in den Alveolen und ein Unterdruck in der Kammer erzeugt. Je größer der Strömungswiderstand, desto stärker weichen die Drucke in der Kammer bzw. in den Alveolen von der Ausgangslage ab. Das während eines Atemzyklus vom Schreiber aufgezeichnete Druckströmungsdiagramm zeigt eine Schleifenform (Resistanceschleife) mit der Inspiration
Atemstromstärke
. Abb. 2.7. Ganzkörperplethysmographische Resistenzkurven. Links Normalbefund, daneben Kurven von Patienten mit Atemwegsobstruktion
Inspiration V ml/s R = 1,6 1000
pk (cm H2O)
b
a
. Abb. 2.6a, b. Druckströmungsdiagramm. a während eines Atemzyklus, b Mundverschlussdruckkurve (V = Atemfluss, pk = Kammerdruck, pmo = Munddruck, V T = Atemzugvolumen
im rechten oberen und der Exspiration im linken unteren Quadranten (. Abb. 2.6a). Je steiler die Achse der Schleife steht, desto kleiner die Resistance. Für die Bestimmung des absoluten Wertes der Resistance muss bekannt sein, welche Alveolardruckänderung einer definierten Änderung des Kammerdrucks entspricht. Um diese Relation zu ermitteln, wird der Kammerdruck gegen den Munddruck registriert, nachdem man das Atemrohr verschlossen hat, weil dann Munddruck und Alveolardruck übereinstimmen (. Abb. 2.6b). Der Patient hechelt bei diesen Messungen (Atemexkursionen ohne Luftströmung). Bei Erwachsenen sind Resistancewerte über 3,0 cm H2O (= 0,3 kPa/l/s) als pathologisch anzusehen (. Abb. 2.7). Aus den Druckänderungen bei der Hechelatmung lässt sich auch das thorakale Gasvolumen errechnen, weil aus den Druckänderungen in der Kammer die Volumenänderungen abzuleiten sind. 2.2.3 Verteilung Nachweis ventilatorischer Verteilungsstörungen Bei ventilatorischen Verteilungsstörungen wird die Lunge nicht gleichförmig beatmet. Es besteht ein Nebeneinander von hyperund hypoventilierten Alveolen. Eine der Nachweismethoden ist die exspiratorische CO2-Druckkurve (. Abb. 2.8).
R = 13,2
R = 10,8
R = 11,2
R = 7,2
500 0
Δ Ppl
500 1000 Exspiration
Druckdifferenz
194
Kapitel 2 · Krankheiten der Atmungsorgane
pCO2 A
2
B
C
pCO2 arteriell
Normalbefund leicht Störung schwere Störung der Relation Ventilation/Perfusion (obstruktive Ventilationsund Verteilungsstörung)
Exspiration . Abb. 2.8. Exspiratorische CO2-Druckkurve. Nach tiefer Einatmung wird die Ausatmungsluft durch einen Infrarotabsorptionsschreiber geleitet, der den CO2-Druck fortlaufend registriert. In der Druckkurve sind 3 Abschnitte zu unterscheiden: absoluter Totraum (A), Mischluftanteil (B) und Alveolarluftanteil (C). Wenn der paCO2 während der Exspiration kein Plateau erreicht, sondern kontinuierlich ansteigt, muss die endinspirato-
rische CO2-Konzentration in verschiedenen Lungenbezirken unterschiedlich sein (Zeichen eines gestörten Ventilation-Perfusion-Verhältnisses). Außerdem muss sich die Lunge asynchron entleeren (Obstruktion). Denn bei gleichmäßiger Ventilation (synchroner Exspiration) würden sich die Alveolarluftanteile mit niedriger und hoher CO2-Konzentration während der Ausatmung wie im Normalfall in konstantem Verhältnis mischen
2.2.4 Diffusion
Steady-State-Methode Bei dieser Gleichgewichtsmethode atmet der Patient für einige Minuten ein Luftgemisch mit 0,1% Kohlenmonoxid ein. Die Bestimmung der CO-Konzentration in der Atemluft erfolgt mit einem Gaschromatographen, z.B. CO-Uras.
Messung der Diffusionskapazität Die Diffusionskapazität, auch als Transferfaktor bezeichnet, ist definiert als das Gasvolumen, das bei einem Druckgradienten von 1 mmHg in jeder Minute von den Alveolen ins Blut bzw. in die Erythrozyten übertritt. Es muss dabei die alveolokapilläre Membran (Gewebeschranke) und das Blut mit seinen flüssigen und festen Bestandteilen (Blutschranke) passieren. Der Normalwert für die O2-Diffusionskapazität bei ruhiger Atmung beträgt 21 ml O2/ min/Torr. Bei Diffusionsstörungen infolge Verdickung der respiratorischen Membran (Lungenfibrose, Stauungslunge) und bei Verkleinerung der Gesamtdiffusionsfläche (Emphysem, Lungenresektionen) ist dieser Wert herabgesetzt. Methodisch ist die Bestimmung der O2-Diffusionskapazität für die Praxis zu aufwendig und störanfällig. Deshalb bestimmt man die Diffusionskapazität für CO, dessen Partialdruck im Lungenkapillarblut wegen der starken Affinität des CO zum Hämoglobin gleich Null gesetzt werden kann und dessen alveolärer Partialdruck folglich dem Druckgradienten an der respiratorischen Membran gleichzusetzen ist. Single-Breath-Methode Die Einatemzugtechnik stellt gegenwärtig das Standardverfahren dar. Sie basiert auf der CO-Diffusion während einer Apnoezeit von 10 Sekunden. Dazu wird ein CO-haltiges Mischgas nach maximaler Exspiration tief inspiriert (bis zur Totalkapazität). Nach der Apnoe enthält die Exspirationsluft weniger CO als die Inspirationsluft. Die Differenz ist ein Maß für den CO-Transfer. Die Berechnung erfordert die Kenntnis des Alveolarvolumens zur Apnoezeit und die inspiratorische Verdünnung des Kohlenmonoxids. Dazu wird dem Mischgas in geringer Konzentration Helium zugesetzt dessen Transfer zu vernachlässigen ist.
2.2.5 Atemgase und pH-Wert im Blut Diagnostische Bedeutung Blutgasanalyse und pH-Bestimmung des Blutes liefern die wichtigsten Daten zu Beurteilung der globalen Lungenfunktion. Ihre Ergebnisse hängen allerdings auch vom Zustand des Herz-Kreislauf-Systems (z.B. Shunt-Vitien) und vom Säure-Basen-Haushalt (Azidose, Alkalose) ab. Messmethode: Moderne automatisierte, computergesteuerte Mikro-pH/Blutgas-Analysatoren messen nach Eingabe einer Blutprobe aus dem arterialisierten Ohrläppchen Blutgase und pH-Wert mit Spezialelektroden. Sie liefern folgende Parameter: paO2 (arterieller O2-Partialdruck), paCO2 (arterieller CO2-Partialdruck), pH, Plasmabikarbonat, Basenüberschuss, O2-Sättigung und O2-Gehalt des Blutes.
Sauerstoffmessungen paO2: Normalwerte für Männer und Frauen 75–100 mmHg. Im Liegen sind die Mittel- und Grenzwerte etwa 5 mmHg niedriger als im Stehen. SaO2 (O2-Sättigung): Prozentuale Sättigung des Hämoglobins im arteriellen Blut mit Sauerstoff. Normalwerte für beide Geschlechter 95–98%. Im steilen Teil der Dissoziationskurve führt ein rela-
195 2.2 · Lungenfunktionsprüfungen
tiv kleiner Anstieg von paO2 zu einer starken Zunahme der O2Sättigung, ein Effekt, der bei hypoxischen Patienten den Nutzen der O2-Inhalation erklärt. O2-Kapazität: Die bei Vollsättigung mit Sauerstoff an das Hämoglobin gebundene O2-Menge in Vol.% (ml O2/100 ml Blut). Wird aus dem Hämoglobingehalt berechnet: 1 g Hb bindet 1,34 ml O2. Bei einem Hb-Gehalt von 16 g/100 ml Blut ergibt sich eine O2-Kapazität von 21,4 Vol%. Der physikalisch gelöste Sauerstoff erreicht bei einem pO2 der Atemluft von 95 mmHg nur 0,29 Vol%.
4 Standardbikarbonat: Konzentration von Bikarbonat im Blutplasma, äquilibriert mit einem Gas von 40 mmHg pCO2 und 100 mmHg pO2 bei 37 °C. Normalwerte: Für Männer und Frauen 22–26 mmol/l. Weitere Ausführungen über den Säure-Basen-Haushalt im 7 Kap. 3. Ergometrie: Blutgasanalyse bei dosierter Belastung Methode: Gemessen werden paO2, paCO2 und pH-Wert bei stufenförmiger Belastung am Fahrradergometer oder Laufband.
Hypoxie: Erniedrigter paO2-Partialdruck im Blut. Ursachen: O2-
Mangel in der Atemluft (Höhenklima), Ventilationsstörungen, Störungen des Ventilation-Perfusion-Verhältnisses, Diffusionsstörungen, Rechts-Links-Shunt. Hypoxämie: Verminderte O2-Menge pro Volumeneinheit Blut, verglichen mit dem O2-Gehalt des Blutes einer Normalperson unter denselben atmosphärischen Bedingungen. Ursachen: Wie bei Hypoxie, außerdem bei Anämien und CO-Intoxikation. Kann bei herabgesetztem pO2 durch sekundäre (kompensatorische) Polyzythämie teilweise ausgeglichen werden.
Messung von paCO2 und pH-Wert mit Berechnung der Basen paCO2: Normalwerte für Männer 35–45 mmHg, für Frauen 32– 42 mmHg.
Normalbefunde: Bei aerober dynamischer Arbeit bis etwa 50%
der maximalen Sauerstoffaufnahmekapazität (VO2max) steigt paO2 leicht an, weil zusätzliche Alveolen ventiliert werden (Vergrößerung des Ventilation-Perfusion-Quotienten). Dabei bleiben paCO2 und pH-Wert konstant, weil das vermehrt gebildete CO2 abgeatmet wird. Bei weiter steigender Belastung wird zur aeroben auch anaerobe Energie benötigt, bei deren Gewinnung Laktat entsteht. Während paO2 noch etwas ansteigt, senkt das Laktat den Bikarbonatspiegel. Um den pH-Abfall zu bremsen, wird durch Ventilationssteigerung vermehrt CO2 abgeatmet, was zum Absinken von paCO2 führt. Wenn der pH-Wert auf etwa 7,24 abgesunken ist, erfolgt durch die Azidose eine Hemmung der Muskelkontraktion, und die absolute Belastungsgrenze ist erreicht.
Hyperkapnie: Erhöhter paCO2-Partialdruck, stets durch alveoläre Hypoventilation bedingt.
Pathologische Befunde Diffusionsstörung: In Ruhe ist der paO2 herabgesetzt und der paCO2 durch kompensatorische Hyperventilation ebenfalls erniedrigt. Unter Belastung sinkt der paO2 weiter ab, während der paCO2 durch vermehrten Anfall von CO2 auf normale Werte ansteigt.
pH-Normalwerte: Männer: 7,34–7,44; Frauen 7,35–7,45. Die
Verteilungsstörung: In Ruhe erniedrigter paO2, der paCO2 nor-
Variationsbreite ist beim Individuum kleiner als im Kollektiv. > Bei pH-Werten 7,44 eine Alkalose vor.
mal oder herabgesetzt. Unter Belastung Anstieg von paO2 durch Verbesserung des Ventilation-Perfusion-Quotienten; Absinken von paCO2 durch Laktatazidose.
Plasmabikarbonat: Aktuelle Konzentration von Bikarbonat im
Hypoventilation: In Ruhe herabgesetzter paO2 und erhöhter
Plasma. 4 Normalwerte: Für Männer 22–26, für Frauen 20–24 mmol/l. 4 Erhöhte Werte: 5 bei primärer metabolischer Alkalose (pH >7,45, paCO2 durch kompensatorische Hypoventilation erhöht) 5 kompensatorisch bei respiratorischer Azidose (pH 1. 4 Dauerleistungsgrenze (Arbeitskapazität): Sie ist erreicht, wenn die Laktatazidose nicht mehr ventilatorisch kompensiert wird und der pH-Wert zu sinken beginnt. Zu diesem Zeitpunkt geht die VCO2 leicht zurück, während das Atemminutenvolumen exponentiell ansteigt. 4 Maximale Saueraufnahmekapazität: Definiert als die O2Aufnahme bei einem pH-Wert von 7,25 bzw. vorzeitiger Erschöpfung. Bei Lungenkrankheiten und Herzinsuffizienz ist die maximale O2-Aufnahme deutlich herabgesetzt. Untrainierte junge Männer erreichen 3.600 ml/min, trainierte Athleten 4.000 ml/min, Marathonläufer 5.100 ml/min. Die maximale Sauerstoffaufnahmekapazität steigt mit der Zahl der Mitochondrien in der Skelettmuskulatur, denn dort finden die Oxydationsprozesse statt. 2.3
Störungen der Atmung Störungen der Atmung Allgemeine Störungen 4 Dyspnoe 4 Hyperventilation 4 Hypoventilation 4 periodische Atmung 4 Zyanose Obstruktion Restriktion Verteilungsstörungen Diffusionsstörungen respiratorische Insuffizienz ARDS (adult/acute respiratory distress syndrome) Schlafapnoe
2.3.1 Allgemeine Symptome Dyspnoe Definition. Unangenehme Empfindung einer inadäquaten An-
strengung bei der Atmung. Vom Patienten beschrieben als Lufthunger, Kurzatmigkeit, Atemlosigkeit, Atembeklemmung, schweres Atmen, Atemnot und im Extremfall als Erstickungsgefühl. Pathophysiologie. Die Empfindung Dyspnoe kann durch mindestens 3 Mechanismen hervorgerufen werden: 4 Gesteigerte Atemarbeit: Durch erhöhten Kraftaufwand für eine adäquate Atmung bei obstruktiven und restriktiven Ven-
tilationsstörungen, insbesondere Lungenstauung (herabgesetzte Compliance infolge Blutüberfüllung bzw. Ödembildung in der Lunge). Vermittelt durch afferente, über den N. vagus geleitete Impulse von Gelenk-, Sehnen- und Muskelrezeptoren der Brustwand. Die Atemnot während und nach erschöpfender körperlicher Anstrengung wird auch empfunden, aber als ein normales Phänomen ohne Beunruhigung. 4 Abnorme Konstellation der Blutgase: Stimulation des Atemzentrums durch arterielle Hypoxie (Höhenklima, Diffusionsstörungen), Hyperkapnie (Hypoventilation bei Atemmuskelparese und Lungenaffektionen) und Azidose (diabetisches Koma). 4 Psychogene Faktoren: Emotional bedingte Stimulation des Atemzentrums mit einer die metabolischen Bedürfnisse übersteigenden Ventilation, die zur Hyperventilationstetanie führen kann. Meistens sind es Patienten mit Angstneurosen. Klinik. Das Symptom Dyspnoe lässt sich nach folgenden Kriterien weiter differenzieren: 4 Qualität: Asthmatiker geben Giemen und exspiratorische, aber auch inspiratorische Dyspnoe an. Erstickungsgefühl bei Lungenödem, massiven Pleuraergüssen und Atemmuskellähmung. 4 Zeitliche Entwicklung: Zu unterscheiden sind folgende Kategorien: 5 plötzlich und dramatisch (in Minuten): Pneumothorax, große Lungenembolie, akutes Lungenödem, Aspiration 5 akut (in Stunden): Pneumonie, akute Lungeninfiltrationen (allergische Alveolitis), Asthma, Linksinsuffizienz 5 subakut (über Tage): Pleuraerguss, Bronchialkarzinom, subakute Lungeninfiltrationen (z.B. Sarkoidose) 5 chronisch (über Monate oder Jahre): chronische Obstruktion der Atemwege, diffuse Lungenfibrose, nicht pulmonale Ursachen (Anämie, Hyperthyreose) 5 intermittierend: Bronchialasthma, Linksinsuffizienz, rezidivierende Lungenembolien. Differenzialdiagnosen. Unterscheidung zwischen pulmonaler
und kardialer Dyspnoe nach dem körperlichen Untersuchungsbefund, dem Röntgenbild des Thorax und der Spirometrie. Kardiale Ursachen sind durch EKG (akuter Infarkt), Echokardiographie (Linksinsuffizienz) und einen Anstieg des BNP bzw. NT-ProBNP im Serum zu erfassen. Therapie. Kausal nach zugrunde liegender Erkrankung. Symptomatisch: Sauerstoffzufuhr durch die Nasensonde, bei Lungenstauung i.v. Schleifendiuretika.
Hyperventilation Definition. Im Verhältnis zum Energiestoffwechsel gesteigerte Gesamtventilation.
197 2.3 · Störungen der Atmung
Klassifizierung. 4 Primäre Hyperventilation: Gesteigerte Ventilation bei psy-
chogener Stimulation des Atemzentrums (Angst, Schmerz, Erregung). Führt zur Hypokapnie und respiratorischen Alkalose.
Atemzentrum und den paO2-Effekt auf die Chemorezeptoren zustande. Durch O2-Beatmung kann letztere Komponente ausgeschaltet werden. Auch direkte Läsionen des Atemzentrums (Hirndruck etc.) können zur Cheyne-Stokes-Atmung führen.
4 Kompensatorische Hyperventilation: 5 Bei Hypoxie durch Diffusionsstörungen. Das Atemzentrum wird über die peripheren Chemorezeptoren stimuliert. 5 Bei diabetischer Azidose zur Bremsung des pH-Abfalls.
Biot-Atmung Auf mehrere Atemzüge von gleichem Abstand und gleicher Amplitude folgt eine apnoische Pause. Die Dauer der Zyklen ist variabel (. Abb. 2.9b).
> Die gesteigerte Ventilation bei körperlicher Arbeit ist keine Hyperventilation.
Pathogenese. Direkte Schädigung des Atemzentrums durch Traumen, Kompression, Ischämie etc.
Zyanose Hypoventilation Definition. Im Verhältnis zum Energiestoffwechsel herabgesetzte Gesamtventilation.
Definition. Blaufärbung der Haut und der sichtbaren Schleim-
Klassifizierung. 4 Primäre Hvpoventilation: Bei respiratorischer Insuffizienz
Pathogenese. Reduziertes Hämoglobin (Hb red.) hat eine intensiv blaue Eigenfarbe, die viel kräftiger ist als die rote Farbe des Oxyhämoglobins. Maßgebend ist nicht die relative, sondern die absolute Konzentration des reduzierten Hämoglobins: 4 leichte Zyanose: Hb red. 3–4 g/100 ml Blut 4 starke Zyanose: Hb red. 5 g/100 ml Blut und mehr.
mit erhöhtem paCO2 und respiratorischer Azidose. 4 Kompensatorische Hypoventilation: Zur CO2-Retention bei metabolischer Alkalose (pH-Anstieg hemmt das Atemzentrum). Periodische Atmung Cheyne-Stokes-Atmung Alternierende Perioden von Hyperpnoe (mit Zu- und Abnahme der Atemtiefe bei normaler Atemfrequenz) und Apnoe (. Abb. 2.9a). Pathogenese. Verzögerter Bluttransport von der Lunge zum
Atemzentrum im Hirnstamm. Infolgedessen wird noch weiter geatmet, obwohl der pCO2 im Lungenvenenblut bereits stärker abgesunken ist. Erreicht das arterielle Blut mit niedrigem paCO2 das Atemzentrum, kommt es zur Apnoe. Ursachen der Strömungsverzögerung: Herzinsuffizienz mit Vergrößerung des linken Ventrikels, Vitien, Kreislaufschock. In den apnoischen Phasen sinkt der paO2, während der paCO2 steigt. Die anschließende Ventilationssteigerung kommt durch den paCO2-Effekt auf das
a
häute durch erhöhten Gehalt des Kapillarblutes an reduziertem Hämoglobin.
Bei Polyzythämie genügt ein relativ geringer Abfall der O2-Sättigung des Blutes, um eine Zyanose entstehen zu lassen, bei Anämien muss die O2-Untersättigung stärker sein als im normalen Blut. Selten kommt eine Zyanose durch Methämoglobinbildung vor. Nach dem Entstehungsmechanismus unterscheidet man 2 Formen der Zyanose: 4 Zentrale Zyanose: Resultiert aus einer Herabsetzung der arteriellen O2-Sättigung, z.B. bei respiratorischer Insuffizienz. Sie betrifft Haut (Lippen, Wangen, Nagelbett) und Schleimhäute (Zunge). Bei kardialem und pulmonalem RechtsLinks-Shunt nimmt sie unter körperlicher Belastung zu. 4 Periphere Zyanose: Entsteht durch gesteigerte O2-Ausschöpfung des Kapillarblutes der Haut bei verminderter arterieller Durchblutung und langsamem Blutfluss. Ursachen: Vasokonstriktion durch Kälteeinwirkung, Arterienspasmen (Morbus Raynaud), arterielle Embolien (Hautblässe mit zyanotischer Komponente), Herz- und Kreislaufinsuffizienz mit kompensatorischer kutaner Vasokonstriktion und bei venöser Stauung. 2.3.2 Obstruktion Definition. Obstruktion bedeutet Verengung der Atemwege.
b . Abb. 2.9a, b. Periodische Atmung. a Cheyne-Stokes-Atmung, b BiotAtmung
Unterschieden werden 2 Formen: 4 Endobronchiale Obstruktion: Lumeneinengung durch Schleimhautschwellung, Sekret und Spasmen der Bronchialmuskulatur (durch β-Rezeptorenblocker begünstigt). Kommt bei Asthma und chronischer obstruktiver Bronchitis vor.
2
198
2
Kapitel 2 · Krankheiten der Atmungsorgane
4 Exobronchiale Obstruktion: 5 Lumeneinengung infolge Herabsetzung der die Bronchien offenhaltenden elastischen Zugkräfte des Lungengewebes. Vorkommen: beim Emphysem. 5 Abnorme Kollapsbereitschaft der Bronchien durch chronische Bronchitis. 5 Kompression von außen durch Malignome. Pathophysiologie. Die Obstruktion beeinträchtigt Atemme-
chanik, Ventilation und Lungenkreislauf. Sie kann dadurch zu schweren Funktionsstörungen der Lunge und des rechten Herzens führen. Veränderungen der Ventilation und Atemmechanik: Die obstruktionsbedingte Erhöhung des bronchialen Strömungswiderstandes steigert die Atemarbeit. Da die Exspiration auch bei schwerer Obstruktion in Ruhe passiv (durch die Retraktionskraft der Lunge) erfolgt, muss die Lunge zur Vergrößerung der Retraktionskraft inspiratorisch stärker vorgedehnt werden. Bei schwerer Obstruktion ist die Exspiration so verlangsamt, dass sie von der Inspiration vor Erreichen des normalen Ruhevolumens unterbrochen wird. Es kommt zur Hyperinflation der Lunge mit Erhöhung der funktionellen Reservekapazität, die bei geschwächter Lungenstruktur eine Emphysembildung begünstigt. Mit sekundärem Elastizitätsverlust der Lunge nimmt das Residualvolumen und folglich auch die Totalkapazität zu. Während die Inspiration bei der Obstruktion durch die an den Bronchien radiär angreifende Retraktionskraft des Lungengewebes erleichtert wird, kommt es bei forcierter Exspiration, also bei körperlicher Belastung, durch Kompression der kleinen Bronchien zu einer erheblichen Steigerung des Strömungswiderstandes. Durch den kompensatorischen Einsatz der exspiratorischen Atemmuskeln werden die endexspiratorischen Intrapleuraldrucke bei Arbeitsbelastung positiv, während sie beim Gesunden unter dem Atmosphärendruck bleiben. Die Atemfrequenz nimmt auf Kosten der Atemtiefe zu. Es resultiert eine Belastungsdyspnoe in schweren Fällen eine Ruhedyspnoe. Veränderungen der Verteilung: Die Atemwegsobstruktion führt zur regionalen Minderbelüftung der Alveolen mit Absinken des Ventilation-Perfusion-Quotienten. Zunächst fällt dadurch der paO2 ab, in schweren Fällen mit globaler alveolärer Hypoventilation kommt es außerdem zum Anstieg des paCO2 und zur respiratorischen Azidose. Steigerung des pulmonalen Strömungswiderstandes: Die mit der Obstruktion verbundene Verteilungsstörung bewirkt in den minderbelüfteten Lungenbezirken eine reflektorische Vasokonstriktion, die eine pulmonale Hypertonie mit Rechtsinsuffizienz zur Folge haben kann. Diagnostische Kriterien. Auskultation: Überwiegend exspiratorisches Giemen und
Brummen über allen Lungenabschnitten. Spirometrie: Herabsetzung des forcierten exspiratorischen Einsekundenvolumens (FEV1) und des Quotienten FEV1/
FVC(%). In schweren Fällen ist auch die FVC herabgesetzt. Abnahme der maximalen exspiratorischen Atemstromstärke. Abnorme Fluss-Volumen-Kurve. Resistance-Messung: In Ruhe erhöhte Resistance-Werte bei der Ganzkörperplethysmographie und mit der Unterbrecheroder Oszillationsmethode. Volumenmessungen: Erhöhung des Residualvolumens (RV) und der funktionellen Residualkapazität (FRC). Das führt zur Vergrößerung der Totalkapazität. Blutgasbestimmung: Nachweis der partiellen oder globalen respiratorischen Insuffizienz als Obstruktionsfolge (7 unten). 2.3.3 Restriktion Definition. Restriktion bedeutet verminderte Dehnbarkeit der
Lunge oder der Brustwand. Vorkommen. Bei schweren Thoraxdeformitäten, massiver Fettsucht, Pneumothorax, Pleuraergüssen, Lungenstauung, Lungenödem, Atelektasen, massiven Pneumonien und diffusen Fibrosierungsprozessen (Tuberkulose, Sarkoidose, Pneumokoniosen, zystischer Fibrose, Strahlenfibrose, idiopathischer Lungenfibrose). Pathophysiologie. Steigerung der Atemarbeit durch Erschwe-
rung der Inspiration. Verminderung der Lungenbelüftung durch Begrenzung der Inspiration. Verteilungsstörungen infolge Inhomogenität der Belüftung, in schweren Fällen respiratorische Insuffizienz. Diagnostische Kriterien. Volumenmessungen: Verkleinerung der inspiratorischen Vital-
kapazität, des Residualvolumens und der Totalkapazität. Der absolute Wert des forcierten exspiratorischen Einsekundenvolumens (FEV1) ist zwar verkleinert, der Quotient FEV1/FVC% jedoch normal, da keine Obstruktion vorliegt. Compliance-Bestimmung: Herabgesetzte Werte, bei pulmonalen
Ursachen mit erhöhtem, bei pleuralen und thorakalen Ursachen der Restriktion mit normalem transpulmonalem Druck. Blutgasbestimmung: Nachweis der sekundären respiratorischen
Insuffizienz (7 unten). 2.3.4 Verteilungsstörungen Definition. Störungen des Ventilation-Perfusion-Verhältnisses, d.h. des Gleichgewichtes zwischen Ventilation und Perfusion der Alveolen mit Beeinträchtigung des Gasaustausches. Ventilatorische Verteilungsstörungen: Primäre Störung der
Ventilation mit erniedrigtem Ventilation-Perfusion-Quotienten
199 2.3 · Störungen der Atmung
(obstruktive und restriktive Ventilationsstörungen aller Art) oder Wegfall der Ventilation (Atelektasen, Pneumothorax, Kompression durch Ergüsse). Zirkulatorische Verteilungsstörungen: Primäre Störung der
Lungenperfusion aus verschiedenen Ursachen (z.B. durch Lungenembolien) und bei intrapulmonalen Shunts. Pathophysiologie. Das schon in der normalen Lunge vorhan-
dene, funktionell aber belanglose Ungleichgewicht zwischen Ventilation und Perfusion wird durch die meisten generalisierten Lungenerkrankungen und Okklusionen der Lungengefäße erheblich verstärkt. Sowohl O2-Aufnahme als auch CO2-Ausscheidung werden erschwert. Letztere kann durch kompensatorische Hyperventilation normal belüfteter und perfundierter Lungenbezirke ausgeglichen werden. Da die O2-Sättigung des Kapillarblutes in normal belüfteten Alveolen schon fast maximal ist, kann sie durch Hyperventilation nur begrenzt gesteigert werden. Es resultiert eine Hypoxämie, die in schweren Fällen nur durch Erhöhung des Sauerstoffpartialdrucks der Atemluft, also durch Sauerstoffzufuhr per Nasensonde gebessert werden kann. Diagnostische Kriterien. Eine Verteilungsstörung liegt vor, wenn
der paO2 bei normalem oder herabgesetztem paCO2 erniedrigt ist. In leichteren Fällen normalisiert sich der paO2 während körperlicher Belastung durch Zunahme der Ventilation und Perfusion unter Ausgleich von Inhomogenitäten. Auf Verteilungsstörungen weist auch eine abnorme exspiratorische CO2-Druckkurve hin (. Abb. 2.8). Direkt zu erfassen sind Verteilungsstörungen (besonders nach Lungenembolie) durch kombinierte Anwendung der Ventilationsszintigraphie mit 133Xenon und der Perfusionsszintigraphie mit 99mTc-Mikrosphären. 2.3.5 Diffusionsstörungen Definition. Störungen der Atmung infolge Verkleinerung der O2-
Diffusionskapazität der Lunge. Ursachen. Nach den Determinanten der O2-Diffusionskapazität
ergibt sich die folgende Einteilung: 4 Alveokapillärer Block: Verlängerung der Diffusionsstrecke zwischen Alveolarwand und Erythrozyten. Kommt bei interstitiellen Lungenfibrosen, interstitieller Pneumonie und Lungenstauung vor. Für eine Hypoxie weniger bedeutsam als die oft gleichzeitig bestehende Verteilungsstörung. 4 Verkleinerung der Gasaustauschfläche: Bei Lungenemphysem, Alveolarzellkarzinom und als Pneumektomiefolge. 4 Anämie: Reduziert die O2-Aufnahmekapazität des Blutes. Bei CO-Intoxikation ist sie blockiert. Pathophysiologie. Diffusionsstörungen sind meistens mit Ver-
teilungsstörungen kombiniert. Sie betreffen nur die O2-Diffu-
sion, da CO2 sehr leicht diffundiert. Die Hypoxämie löst eine kompensatorische Hyperventilation aus. Diagnostische Kriterien. Bestimmung des CO-Transferfaktors, der herabgesetzt ist (7 oben). Bei Emphysem ist wegen des Elastizitätsverlustes gleichzeitig die Compliance vergrößert.
2.3.6 Respiratorische Insuffizienz Definition. Kritische Hypoxämie mit einem paO2 60 mmHg gebracht werden.
4 4 4 4 4 4
chronische obstruktive Lungenerkrankung (39%) Lungenfibrose (17%) zystische Fibrose (10%) α1-Proteinasen-Inhibitor-Mangel (9%) idiopathische pulmonale Hypertonie (4%) Bronchiektasen (2,5%).
Operationsverfahren: 4 Einseitige Lungentransplantation (SLTx): Nur ein Lungen-
flügel wird transplantiert. Der zweite Lungenflügel des Empfängers wird belassen. 4 Bilaterale oder doppelseitige Lungentransplantation (DLTx): Es werden beide Lungenflügel übertragen. 4 Herz-Lungen-Transplantation (HLTx): Herz und beide Lungenflügel des Spenders werden en bloc transplantiert.
201 2.3 · Störungen der Atmung
Eine bilaterale Transplantation ist bei Bronchiektasen notwendig, weil die bronchiale Infektion auf das Transplantat überspringen könnte. Die Herz-Lungen-Transplantation ist beim Eisenmenger-Syndrom mit komplexen Herzanomalien obligatorisch und in Fällen wo Lungen- und Herzkrankheit im Endstadium sind. Ein Cor pulmonale muss nicht ersetzt werden, weil sich der rechte Ventrikel nach der Transplantation erholt. Bei den übrigen Lungenkrankheiten sind SLTx oder DLTx akzeptabel. Letztere erzielt bei COPD und α1-Antitrypsinmangel eine längere Überlebensdauer. Empfängerauswahl
Voraussetzung für die Transplantation ist die Blutgruppenkompatibilität zwischen Spender und Empfänger gemäß den ABOKriterien. HLA-Kompatibilität bleibt aus Zeit- und Spendermangel unberücksichtigt. Patienten mit entsprechendem Schweregrad der Lungenerkrankung kommen zunächst auf eine Warteliste des Transplantationszentrums und werden dort bis zur Transplantation kontrolliert. Die Wartezeit beträgt etwa 2 Jahre. Als Alterslimit für eine Transplantation gilt das 65. Lebensjahr. Kontraindikationen Absolute Kontraindikationen: Floride Infektionen, maligne Tu-
morerkrankung, Suchtverhalten einschließlich Nikotinkonsum während der letzten 6 Monate. Relative Kontraindikationen: Kachexie, schwere Adipositas, ma-
schinelle Beatmung (ausgenommen intermittierende Selbstbeatmung), HIV-Infektion, Niereninsuffizienz, chronische Virushepatitis (B oder C), Leberzirrhose, Herzinsuffizienz (für Lungentransplantation), symptomatische Osteoporose, neurologische, neuromuskuläre und psychiatrische Krankheiten, Systemkrankheiten mit relevanter extrapulmonaler Manifestation, psychosoziale Probleme, schlechte Mitarbeit bei der bisherigen Therapie. Immunsuppression
Im Vergleich zu anderen Organtransplantationen ist nach Lungentransplantationen eine besonders intensive Immunsuppression notwendig, die lebenslang fortgesetzt werden muss. Zum Einsatz kommt eine Dreierkombination aus einem Calcineurininhibitor (Ciclosporin, Tacrolimus), einem Inhibitor der T-Zellproliferation (Azathioprin, Mycophenolat, Sirolimus) und Prednisolon. Komplikationen Abstoßungsreaktionen: In akuter Form am häufigsten während
der ersten 3 Monate nach der Transplantation. Erkennbar an Abgeschlagenheit, Fieber, Hypoxämie und sehr empfindlich am Abfall der Einsekundenkapazität (FEV1). Die chronische Abstoßung manifestiert sich als Bronchiolitis-obliterans-Syndrom. Therapie: Bei akuter Abstoßung Methylprednisolon (1-mal 500– 1.000 g/Tag für 3 Tage) und monoklonale Antikörper gegen
T-Lymphozyten. Bei chronischer Abstoßung Intensivierung bzw. Umstellung der Immunsuppression, evtl. Retransplantation. Infektionen: Meistens bakterielle Atemwegsinfektionen mit gramnegativen Erregern, Pneumokokken und Hämophilus. Am zweithäufigsten sind Zytomegalie-Virus-Infektionen. Malignome: Erhöhtes Risiko für Plattenepithelkarzinome und Lymphome. Ergebnisse
Durch eine erfolgreiche Transplantation werden die kardiopulmonale Funktion und damit auch die Lebensqualität unabhängig von der Vorerkrankung eindrucksvoll gebessert. Die ergospirometrische Belastbarkeit ist nach einseitiger und zweiseitiger Lungentransplantation nicht signifikant unterschiedlich. Die körperliche Leistungsfähigkeit bleibt aber reduziert, und weniger als die Hälfte der Empfänger nimmt eine Voll- oder Teilzeitbeschäftigung auf. Die Überlebensraten variieren unter den Grundkrankheiten relativ wenig: 4 3 Monate: 79–89% 4 1 Jahr: 66–79% 4 3 Jahre: 50–61% 4 5 Jahre: 38–52%. Häufigste Todesursachen im ersten Jahr nach der Transplantation sind technische Probleme bei der Operation, Transplantatversagen infolge ischämischer Schädigung und Infektionen. Akute Abstoßungsreaktion und CMV-Infektionen kommen im ersten Jahr ziemlich oft vor, enden aber selten tödlich. Nach dem ersten Jahr sind die meisten Todesfälle auf chronische Abstoßung und Infektionen zurückzuführen. 2.3.7 Acute respiratory distress syndrome (ARDS) Definition. Schnell einsetzende schwere Dyspnoe mit Hypoxämie und diffusen Lungeninfiltraten, die zur akuten respiratorischen Insuffizienz, auch als akutes Lungenversagen bezeichnet, führen. Ätiologie. Direkte Schädigung des Alveolarepithels: Durch Pneumonie,
Aspiration von Mageninhalt, Lungenkontusion, Beinaheertrinken oder Toxininhalation. Indirekte Lungenschädigung: Sepsis, schwere Verletzungen (multiple Knochenbrüche, Kopftraumen, Verbrennungen), multiple Transfusionen, Pankreatitis, Darminfarkt, Operation mit Herzlungenmaschine. Hohes Risiko bei Traumen plus Sepsis. Pathogenese. Exsudative Phase: Permeabilitätssteigerung in den Alveolen
durch entzündliche Schädigung der Endothelzellen der alveolären Kapillaren und der alveolären Epithelzellen. Dadurch An-
2
202
2
Kapitel 2 · Krankheiten der Atmungsorgane
sammlung eiweißreicher Flüssigkeit in den Alveolen und im Interstitium. Auslösend sind proinflammatorische Zytokine (Tumornekrosefaktor-α, Interleukine 1 und 8) und Leukotriene. Es werden Effektorzellen rekrutiert und aktiviert, vor allem Neutrophile, die in der Lunge sequestriert werden und toxische O2-Metaboliten freisetzen. In den Alveolen bilden sich Niederschläge aus aggregierten Proteinen und Detritus, in den Kapillaren Mikrothromben. Durch Zerstörung des Surfactant entstehen Atelektasen. Dyspnoe und Tachypnoe beginnen 12–36 Stunden nach dem auslösenden Ereignis, selten wenige Tage später. Die exsudative Phase dauert etwa 7 Tage. Es entwickelt sich eine zunehmende Hypoxämie (paO2 Die Ausscheidung der harnpflichtigen Substanzen ist der empfindlichste Indikator der Nierenfunktion. Schon eine geringe Abnahme der Primärharnmenge lässt die Konzentration dieser Stoffe im Blut ansteigen.
Kontrolle über Volumen und Zusammensetzung der Körperflüssigkeiten Im Zusammenwirken mit anderen Regulationseinrichtungen tragen die Nieren maßgebend dazu bei, dass folgende Parameter im physiologischen Bereich bleiben: 4 extrazelluläres Flüssigkeitsvolumen, inklusive Blutvolumen 4 Osmolarität der Körperflüssigkeiten 4 Elektrolytkonzentration der Körperflüssigkeiten 4 Wasserstoffionenkonzentration der Körperflüssigkeiten. Für diese regulatorischen Funktionen besitzen die Nieren eine relativ große Reservekapazität, so dass es bei Nierenerkrankungen erst in fortgeschrittenen Stadien zu Ausfallserscheinungen kommt. Endokrine Aktivität Von den Nieren werden die folgenden für den Gesamtorganismus wichtigen Wirkstoffe gebildet: 4 Renin: Enzymatische Komponente des Renin-AngiotensinAldosteron-Systems, das der Kreislaufstabilisierung dient und dabei auch an der Niere selbst angreift (7 Kap. 1). 4 Erythropoetin: Ein Glykoprotein, das als erythropoetisches Hormon die Stammzellen der Erythrozyten zur Proliferation stimuliert. Sein Ausfall bei schweren Nierenparenchymerkrankungen führt zur Anämie. 4 1,25-Dihydroxyvitamin D3 (Calcitriol): Die wirksame Form des Vitamin D, ein Hormon, das im proximalen Tubulusepithel aus 25-Hydroxyvitamin D3 (Cholecalciferol) gebildet wird, gesteuert vom Parathormon. Es stimuliert die Resorption von Calcium- und Phosphationen aus dem Dünndarm. Bei schweren Nierenkrankheiten trägt sein Mangel entscheidend zur Entstehung der renalen Osteodystrophie bei (7 unten). 3.1.2 Aufbau des Nephrons Glomerulus Kapillarnetz aus 20–40 Schlingen, die aus den Verzweigungen des Vas afferens hervorgehen, 5–8 Lobuli bilden und im Vas efferens
. Abb. 3.1. Schema des Glomerulus
zusammenfließen (. Abb. 3.1). Zwischen den Kapillarschlingen liegt das Mesangium (Bindegewebe). Umschlossen wird das Kapillarknäuel von der Bowman-Kapsel, deren viszerales Blatt die Glomeruluskapillaren bedeckt, während das parietale Blatt den Kapselraum nach außen begrenzt und in den proximalen Tubulus übergeht. Die Glomerulusmembran (. Abb. 3.2) besteht aus 3 Schichten:
Spaltmembran
Basalmembran mit Glykoproteinen
Fußfortsatz
Fenster
Kapillarlumen Basalmembran
Endothelzellen . Abb. 3.2. Glomerulusmembran
1,000 A
260
4 Endothelzellschicht mit Fensterung, die Blutzellen zurückhält 4 Basalmembran mit anionischen Glykoproteinen, die als Proteinbarriere dient 4 Deckepithel, bestehend aus Deckzellen (Podozyten), die mit ihren Fußfortsätzen die Kapillaroberfläche bedecken. Zwischen den Fußfortsätzen erstreckt sich eine dünne Membran, die auch Proteine zurückhält. Die Glomerulusmembran hat die Eigenschaften eines Ultrafilters. Sie ist für Wasser und alle niedermolekularen Substanzen des Blutplasmas permeabel, im Normalfall aber für Proteine undurchlässig. Jede Niere hat ca. 1 Million Nephrone. Nach dem 40. Lebensjahr nimmt ihre Zahl jedes Jahrzehnt um ca 10% ab. Adaptive Veränderungen an den verbleibenden Nephronen gleichen diesen Verlust jedoch weitgehend aus.
Tubulus und Sammelrohr In der Richtung des Harnflusses folgen aufeinander: Kapselraum, proximaler Tubulus, Henle-Schleife, distaler Tubulus, Sammelrohr. Die kortikalen Nephrone (in den äußeren zwei Dritteln der
Rinde) haben kurze, die juxtamedullären Nephrone (im inneren Drittel der Rinde) lange Henle-Schleifen (. Abb. 3.3). Auf 1 juxtamedulläres Nephron kommen etwa 4 kortikale Nephrone. Die Henle-Schleifen haben im absteigenden und im unteren Abschnitt des aufsteigenden Schenkels ein dünnes, im letzten Abschnitt, der in den distalen Tubulus übergeht, ein dickes Kaliber. Dieser entleert seinen Inhalt in ein initiales Sammelrohr, das in ein größeres gemeinsames Sammelrohr für mehrere Nephrone mündet. Die Sammelrohre repräsentieren das Nierenmark. Sie bilden die renalen Pyramiden, deren Basen gegen die Nierenrinde gerichtet sind, deren Spitzen als Nierenpapillen in die Nierenkelche hineinreichen.
Peritubuläre Flüssigkeit
[NaCl] = 100 [Harnstoff] = 40
Nierenmark
[NaCl] Harnstoff Osmolalität mmol/l mmol/l mosm/kg H20
294
6
300
294
6
300
[NaCl] = 280 [Harnstoff] = 20
äußere Markzone 400
200
[NaCl] = 100 [Harnstoff] = 100
600
300
600
900
[NaCl] = 1120 [Harnstoff] = 80
600
600
1200
[NaCl] = 280 [Harnstoff] = 20 [NaCl] = 560 [Harnstoff] = 40
[NaCl] = 400 [Harnstoff] = 100
innere Markzone
. Abb. 3.3. Juxtamedulläres (links) und kortikales Nephron (rechts). In den Nephronsegmenten und im Interstitium von Rinde und Mark sind die Osmolarität und die Konzentrationen von Na+ und Harnstoff angegeben. Die Molarität des Endharns wird durch ADH gesteuert
Nierenmark
3
Kapitel 3 · Krankheiten der Nieren und ableitenden Harnwege
261 3.1 · Die normale Nierenfunktion
Juxtaglomerulärer Komplex Besteht aus einem kurzen Segment des vorderen distalen Tubulus, das am Gefäßpol des Glomerulus zwischen Vas afferens und Vas efferens eingebettet ist, und den Gefäßen anliegt (. Abb. 3.4). An der Kontaktstelle ist das Tubulusepithel durch hohe, schmale Zellen zur Macula densa, die Wand des Vas efferens in das Polkissen aus granulierten juxtaglomerulären Zellen umgestaltet, die auch in der Wand des Vas afferens vorhanden sind. Der juxtaglomeruläre Komplex dient der Feedback-Kontrolle der glomerulären Filtrationsrate. Ein Absinken der GFR führt zur Herabsetzung der NaCl-Konzentration im distalen Tubulus, die von den Makulazellen wahrgenommen wird. Sie geben dann wahrscheinlich durch Transmittersubstanzen zwei Signale ab, ein vasodilatorisches zum Vas afferens und ein die Reninsekretion stimulierendes an die juxtaglomerulären Zellen. Das freigesetzte Renin führt zur Bildung von Angiotensin II, das konstriktorisch auf das Vas efferens wirkt. Dilatation des Vas afferens und Konstriktion des Vas efferens steigern den glomerulären Filtrationsdruck und damit die Ultrafiltration. Blutversorgung Obwohl auf die Nieren nur 0,5% des Körpergewichts entfallen, erhalten sie zusammen 20–25% des Herzminutenvolumens, bei einem 70 kg schweren Mann etwa 1200 ml/min. Die aus der Aorta abgehende A. renalis teilt sich ventral des Nierenbeckens in 5 Hauptäste, die als Aa. interlobares jeweils zwischen zwei Pyramiden rindenwärts ziehen und sich an der Rinden-Mark-Grenze in bogenförmig verlaufende Aa. arcuatae aufzweigen. Von diesen
gehen senkrecht zur Oberfläche zahlreiche Aa. interlobulares ab, deren kleine Äste in die Vasa afferentia auslaufen. Nach dem ersten Kapillargebiet im Glomerulus, das der Ultrafiltration dient, fließt das Blut über das Vas efferens in ein zweites, das sich entlang der Tubuli ausbreitet und den rückresorbierten Anteil des Glomerulusfiltrates aufnimmt. Aus dem Kapillargebiet der proximalen Tubuli entspringen die Vasa recta, muskelfreie Kapillaren, die entlang der haarnadelförmigen Henle-Schleifen verlaufen und in die Venen einmünden. Sie haben eine wichtige Funktion bei der Harnkonzentrierung. 3.1.3 Mechanismus der Harnbildung Glomeruläre Filtration Filtrationsrate Die glomeruläre Filtrationsrate ist das von beiden Nieren in einer Minute gebildete Glomerulusfiltrat. Normalwert: 125 ml/min. Von dem die Glomeruli durchströmenden Blutplasma werden 19% (Filtrationsfraktion) in die Bowman-Kapsel filtriert. Filtrationsdruck Die treibende Kraft für die Filtration beträgt etwa 10 mmHg. Berechnung: hydrostatischer Druck in den Glomeruluskapillaren (60 mmHg) minus kolloidosmotischer Druck des Blutplasmas (32 mmHg) minus hydrostatischer Druck in der BowmanKapsel (18 mmHg).
. Abb. 3.4. Juxtaglomerulärer Komplex
Glomerulusepithel
juxtaglomeruläre Zellen
Vas afferens Vas efferens
glatte Muskelzellen
Macula densa
distaler Tubulus Basalmembran
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Kapitel 3 · Krankheiten der Nieren und ableitenden Harnwege
Zusammensetzung des Glomerulusfiltrates Zell- und proteinfreies Ultrafiltrat des Plasmas, das im übrigen fast die gleiche Zusammensetzung wie das Plasma hat. Nicht filtriert werden proteingebundene Substanzen wie Fettsäuren und etwa die Hälfte der Calciumionen. Der Proteingehalt liegt unter 0,03 g/l. Plasma-Load und tubuläres Load Das Plasma-Load einer Substanz ist die Gesamtmenge dieser Substanz, die in einer Minute durch die Nieren fließt. Beispiel: Bei einer Glukosekonzentration im Plasma von 100 mg/100 ml und 600 ml Plasmafluss pro Minute beträgt das Plasma-Load für Glukose 600 mg/min. Das tubuläre Load ist die Fraktion des PlasmaLoads, die mit dem Glomerulusfiltrat abfiltriert wird. Bei einem Glomerulusfiltrat von 125 ml/min und einer Glukosekonzentration von 100 mg/l00 ml Plasma beträgt das tubuläre Load der Glukose 125 mg/min. Das tubuläre Load gibt an, welche Menge einer Substanz pro Minute in den Primärharn (Glomerulusfiltrat) ausgeschieden wird.
Rückresorption und Sekretion im proximalen Tubulus Rückresorbiert werden 65% des filtrierten Loads von Wasser, Na+ und etwas weniger von Cl–. Dabei bleibt die Osmolarität mit 300 mosmol/kg H2O auf dem Wert des Blutplasmas. Vollständig rückresorbiert werden alle nutritiv wichtigen Stoffe (Glukose, Aminosäuren, Acetacetat, Proteine, Vitamine). Eine Rückresorptionssperre besteht für Kreatinin, Inulin und Paraaminohippursäure (PAH). Harnstoff wird langsamer rückresorbiert als Wasser und dadurch angereichert. Sezerniert werden H-Ionen, Kreatinin und PAH. Mechanismen sind: Primäre aktive Rückresorption Treibende Kraft für die gesamte Rückresorption ist der aktive (energieverbrauchende) Na+-Transport aus den Tubuluszellen in die peritubuläre Flüssigkeit. Er erfolgt durch die in der basalen und basolateralen Zellmembran lokalisierte Na+/K+-Pumpe, ein Carrierprotein, das simultan 3 Na+ nach außen und 2 K+ ins Zellinneren befördert. Die Energie für diesen Prozess wird durch die Spaltung von ATP in ADP gewonnen, wobei das Carrierprotein als ATPase fungiert.
Regulation der glomerulären Filtrationsrate Autoregulation der glomerulären Filtrationsrate: Auch bei starken Schwankungen des systolischen Blutdrucks bleibt die glomeruläre Filtrationsrate weitgehend konstant. Dazu trägt in erster Linie der beschriebene juxtaglomeruläre Komplex bei. Er bewirkt eine Steigerung der glomerulären Filtrationsrate (GFR), wenn die NaCl-Konzentration im distalen Tubulus absinkt und eine renale Vasokonstriktion mit Abnahme der GFR, wenn die NaCl-Konzentration im distalen ansteigt. Das geschieht wahrscheinlich durch Reninfreisetzung im Vas afferens. Schon ein geringer Anstieg der GFR bei Blutdruckanstieg genügt, um die Diurese zu verstärken (Pressure-Diurese). Myogene Autoregulation der renalen Blutflusses und GFR: Es gibt Hinweise darauf, dass ein myogener Mechanismus existiert, der bei Blutdruckanstieg über Dehnungsrezeptoren eine Konstriktion, bei Blutdruckabfall eine Dilatation des Vas afferens induziert. Nervale Regulation: Die Nieren werden ausschließlich vom Sym-
pathikus innerviert. In Ruhe ist der Sympathikustonus in den Nierengefäßen minimal. Im Rahmen der Blutdruckregulation bei körperlicher Belastung kommt es durch gesteigerte Sympathikusaktivität auch zur renalen Vasokonstriktion. Die sympathikusinduzierte Vasokonstriktion des Vas afferens dominiert über die Autoregulation. Sie reduziert den renalen Blutfluss und die glomeruläre Filtrationsrate. Da der Sympathikus auch das Vas efferens kontrahiert, bleibt ein stärkeres Absinken der glomerulären Filtrationsrate aus. Bei intensiver Sympathikusstimulation (z.B. im Kreislaufschock) wird eine zu weitgehende Drosselung der Nierenperfusion durch lokale Freisetzung vasodilatierender Prostaglandine (PGE2) verhindert. Inhibitoren der Prostaglandinsynthese wie Indomethacin können in solchen Situationen die Nierenfunktion dramatisch verschlechtern.
Sekundäre aktive Rückresorption Energiequelle ist der durch den aktiven Na+-Transport entstandene Na+-Konzentrationsgradient zwischen Tubuluslumen und dem Innern der Tubuluszellen. Er repräsentiert gespeicherte Energie, die den Transport von Na+ aus dem Tubuluslumen in die Tubulusepithelien ermöglicht. Die Na+-Passage in die Tubuluszellen besorgt eine andere Art von Na+-Carriern, die zugleich Glukose, Aminosäuren oder Phosphat binden und mit Na+ in die Tubuluszellen transportieren (Co-Transport), wobei für jede dieser Substanzen spezifische Carrier existieren. Glukose, Aminosäuren und Phosphate diffundieren danach in die peritubuläre Flüssigkeit, die im Bulk-Fluss von den peritubulären Kapillaren aufgenommen werden, analog dem generellen Einstrom interstitieller Flüssigkeit in den venösen Abschnitt der Kapillaren. Für Glukose, Aminosäuren und Phosphat gibt es tubuläre Transportmaxima, für Na+ nicht. Passive Rückresorption (Rückdiffusion) Das Wasser diffundiert sehr schnell teils durch die Schlussleisten, teils transzellulär aus dem Tubuluslumen zurück, getrieben vom osmotischen Gradienten, den der aktive Na+-Transport erzeugt. Aus dem durch die Schlussleisten fließenden Wasser werden auch Na+, K+, Cl– K+, Ca++ und Mg++ passiv rückresorbiert. Rückdiffusion von Harnstoff In keinem Nephronabschnitt wird Harnstoff aktiv rückresorbiert. Er diffundiert aber passiv nach außen, wenn seine Konzentration im proximalen Tubulus durch die Wasserrückresorption steigt. Am Ende des proximalen Tubulus sind etwa 40% der filtrierten Harnstoffmenge rückdiffundiert unter Anstieg der Harnstoffkonzentration in der Tubulusflüssigkeit von 6 auf 20 mmol/l.
263 3.1 · Die normale Nierenfunktion
Etwas Harnstoff scheint im dritten Abschnitt des proximalen Tubulus sezerniert zu werden. Sekretion von H+ Ihr liegt anders als im distalen Tubulus kein aktiver Transport, sondern ein Counter-Transport gegen Na+ zugrunde. Durch das Enzym Carboanhydrase werden CO2 und H2O in H+ und HCO3– überführt, indem das Enzym ein OH– mit CO2 zu HCO3– verbindet. Ein spezielles Carrierprotein im Bürstensaum transportiert Na+ entlang seinem Konzentrationsgradienten in die Zelle und H+ in die Tubulusflüssigkeit. Das in der Zelle entstehende HCO3– (Bikarbonat) wird rückresorbiert. In der Tubulusflüssigkeit kommt es zur Reaktion H++HCO3– → CO2+H2O, so dass per Saldo eine Bikarbonatrückresorption stattfindet. Ausscheidung organischer Säuren und Basen Durch aktiven Transport sezerniert, werden organische Anionen und Kationen aus der peritubulären Flüssigkeit, in die sie durch Diffusion aus den peritubulären Kapillaren gelangen. Der aktive Transportschritt erfolgt an der basolateralen und basalen Membran der Tubuluszellen, in der sich spezielle Transporter für organische Kationen (OCT) und Anionen (OAT) befinden, deren molekulare Analyse nach gelungener Klonierung bereits weit fortgeschritten ist. Den Übertritt aus den Tubuluszellen in die tubuläre Flüssigkeit besorgen Membrantransporter vom ABCTyp. Von glomerulär filtrierten organischen Säuren und Basen kann der undissoziierte Anteil analog dem Harnstoff in die peritubulären Kapillaren zurückdiffundieren, der ionisierte Anteil wird ausgeschieden. Prototyp einer organischen Säure ist die Paraaminohippursäure (PAH). Sie liegt im Plasma und in allen Tubulussegmenten als Anion vor und wird bei einer Tubuluspassage aus dem Plasma vollständig eliminiert: Ein Teil durch Ultrafiltration, der Rest durch aktiven Transport aus der peritubulären Flüssigkeit. Folglich ist die PAH-Clearance ein Maß für den effektiven Nierenplasmastrom (7 unten). Eine Sonderstellung hat die Harnsäure. Sie wird im proximalen Tubulus nach der Ultrafiltration rückresorbiert, danach zu 50% sezerniert, weiter distal erneut rückresorbiert und danach nochmals sezerniert. In den Endharn gelangen etwa 10% der glomerulär filtrierten Menge. Probenecid ist ein Hemmstoff des sekretorischen Systems für organische Säuren. Es kann zum Beispiel die tubuläre Sekretion von Penicillin verzögern und damit seine Wirkungsdauer verlängern. Pinozytose Im proximalen Tubulus werden Proteine durch Pinozytose in die Zellen aufgenommen und intrazellulär proteolytisch gespalten. Die anfallenden Aminosäuren werden rückresorbiert. Rückresorption in der Henle-Schleife Der absteigende Schenkel ist hochpermeabel für Wasser und wenig permeabel für gelöste Substanzen. In diesem Abschnitt wer-
den 20% des Primärharns rückresorbiert. Dabei steigt die Osmolarität an. Der dünne und der dicke Abschnitt des aufsteigenden Schenkels sind für Wasser völlig impermeabel. Hier findet, am stärksten im dicken Teil, eine intensive aktive Na+-Rückresorption statt, mit einem Carrier der je 4 Ionen ins Zellinnere transportiert (Symport): 1 Na+, 1 K+ und 2 Cl–, was ein Absinken der Osmolarität auf 100 mosmol/l zur Folge hat. Im Interstitium des Nierenmarks reichert sich das von den aufsteigenden Schenkeln der juxtaglomerulären Henle-Schleifen rückresorbierte NaCl an, weil es von den langsam durchströmten Vasa recta sehr verzögert abtransportiert wird. Die hohe NaClKonzentration im Interstitium bewirkt, das dem absteigenden Schenkel der Henle-Schleife laufend Wasser entzogen wird und in den aufsteigenden Schenkel Harn mit deutlich erhöhter Osmolarität gelangt. Trotz erhöhter Konzentration wird das NaCl hier wieder weitgehend rückresorbiert, womit die NaCl-Konzentration im Interstitium weiter zunimmt. Der Vorgang wiederholt sich, und durch dieses Gegenstromsystem wird im Interstitium des Nierenmarks ein vertikaler hyperosmotischer Gradient errichtet, der zur Papille hin ansteigt. Zu seiner Verstärkung trägt erheblich die Rückdiffusion von Harnstoff aus den medullären Sammelrohrabschnitten bei, der für Harnstoff selektiv permeabel ist. Der Harnstoff diffundiert dann in den dünnen Abschnitt der HenleSchleife und zirkuliert durch den distalen Tubulus in das Sammelrohr zurück (Rezirkulation des Harnstoffs). So wird im papillennahen Interstitium des Nierenmarks eine Osmolarität von 1200 mosmol erreicht. Der hyperosmotische Gradient liefert die Energie für die gesteuerte Wasserrückresorption aus dem Sammelrohr. Rückresorption und Sekretion im distalen Tubulus und kortikalen Sammelrohr Vorderer Abschnitt: Impermeabel für Wasser. Aktive Na+-Rückresorption mit einem Carrier der Na+ zusammen mit Cl– in die Zellen transportiert (Na+-Cl–-Symport). Die Osmolarität der Tubulusflüssigkeit sinkt noch weiter ab. Hinterer Abschnitt und kortikales Sammelrohr: Sie weisen
2 Zelltypen auf: Hauptzellen und Zwischenzellen. Von den Hauptzellen wird durch die Na+/K+-ATPase an der basolatera-
len Membran Na+ aktiv rückresorbiert. Das in die Zellen gepumpte K+ diffundiert in das Tubuluslumen, was einer Sekretion gleichkommt. Na+- Rückresorption und K+-Sekretion werden durch Aldosteron gesteigert. Die Zwischenzellen sezernieren aktiv H+ (mittels spezifischer ATPase) und resorbieren HCO3–. Durch säuredichte Schlussleisten wird die Rückdiffusion von H+ verhindert. Zusätzlich gibt es einen ATP-getriebenen Austauscher, der H+ gegen K+ in die tubuläre Flüssigkeit transportiert. Die Protonenpumpe kann den pH-Wert des Harns bis auf 4,5 senken. Die Permeabilität für Wasser wird durch ADH kontrolliert. Auch die Protonenpumpen werden durch Aldosteron stimuliert.
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Kapitel 3 · Krankheiten der Nieren und ableitenden Harnwege
Rückresorption und Sekretion im medullären Sammelrohr Aus den medullären Sammelrohren werden etwa 10% des Primärharns rückresorbiert, rund 18 Liter pro Tag. Die Rückresorptionsrate wird durch das antidiuretische Hormon des Hypophysenhinterlappens (ADH) gesteuert, das die medullären Sammelrohre für Wasser permeabel macht. Die Energie für die Wasserrückresorption liefert der hohe osmotische Druckgradient zwischen dem Interstitium des Nierenmarks und der Flüssigkeit in den Sammelrohren. Das spezifische Gewicht des ausgeschiedenen Urins kann zwischen 1002 und 1032 variieren. Ein hohes Konzentrationsvermögen zeigt an, das die Nierenfunktion normal ist. Bei Niereninsuffizienz hat der Urin die Osmolarität des Plasmas (300 mosmol) und ein spezifisches Gewicht von 1010 (Isostenurie). Auch die Ausscheidung eines verdünnten Urin ist eine mit Energieverbrauch verbundene Nierenleistung. Die medullären Sammelrohre sind selektiv permeabel für Harnstoff, der im Sammelrohr stark konzentriert ist und ins Interstitium diffundiert. Wie bereits erläutert, trägt er wesentlich zum hohen osmotischen Druck im Interstitium bei. Das medulläre Sammelrohr ist auch ein Ort der aktiven H+-Sekretion durch die vom Aldosteron gesteuerte Protonenpumpe. 3.1.4 Volumen- und Osmoregulation Volumina der Körperflüssigkeiten Gesamtvolumen Bei schlanken Menschen 70%, bei adipösen 50% des Körpergewichtes. Muskulatur enthält 75%, Fettgewebe nur 10% Wasser. Extrazelluläre Flüssigkeit Alle Flüssigkeit außerhalb der Zellen. Anteil am Gesamtkörperwasser 45%. Umfasst folgende Kompartimente: 4 Blutplasma: 7,5% des Gesamtkörperwassers 4 interstitielle Flüssigkeit: 20% des Gesamtkörperwassers 4 transzelluläre Flüssigkeit: Flüssigkeit in epithelialisierten Räumen (zerebrospinale, intraokuläre, pleurale, perikardiale, peritoneale, synoviale Flüssigkeit und Verdauungssäfte): Im Nüchternzustand 2,5% des Gesamtkörperwassers 4 Flüssigkeit in den Knochen: 7,5% des Gesamtkörperwassers 4 Flüssigkeit im dichten Bindegewebe: 7,5% des Gesamtkörperwassers. Intrazelluläre Flüssigkeit Die Flüssigkeit in allen Körperzellen: 55% des Gesamtkörperwassers. Elektrolytkonzentrationen in der extrazellulären und intrazellulären Flüssigkeit Wie aus der . Tab. 3.1 ersichtlich, ist Na+ das dominierende Kation der extrazellulären Flüssigkeit und bestimmt daher weitge-
. Tabelle 3.1. Elektrolytkonzentrationen in der extrazellulären Flüssigkeit (in mmol/l)
Elektrolyte
Extrazelluläre Flüssigkeit
Intrazelluläre Flüssigkeit
Na+ K+ Ca++ Mg++ Cl– HCO3– Phosphate SO4––
142 4 2,4 1,2 103 28 4 1
10 140 0,0001 58 4 10 75 2
hend dessen Osmolarität. Intrazellulär ist K+ das vorherrschende Kation. Die Konzentrationsgradienten der Kationen werden durch die in den Zellmembranen lokalisierte Na+/K+-ATPase erzeugt. Den extrazellulären Anionen Cl– und HCO3– entsprechen intrazellulär Phosphate und anionische Proteine. Kontrolle des Blutvolumens und der extrazellulären Flüssigkeit Reaktion auf Volumenverluste Der mit dem Absinken des Blutvolumens verbundene Blutdruckabfall löst folgende Kompensationsmechanismen aus: Absinken der glomerulären Filtrationsrate durch Sympathikus-stimulierte Konstriktion des Vas afferens, etwas weniger auch des Vas efferens → Steigerung der Na+- und Cl--Rückresorption im proximalen Tubulus → Aktivierung des Renin-Angiotensin-AldosteronSystems am juxtaglomerulären Komplex → Steigerung der Na+Rückresorption mit sekundärer Rückresorption von Cl– und Wasser (durch Angiotensin II im proximalen, durch Aldosteron im distalen Tubulus) → Anstieg der extrazellulären Flüssigkeit und des Blutvolumens → Normalisierung des Blutdrucks. Außerdem bewirkt starker Blutdruckabfall über einen Barorezeptorreflex, dass die ADH-Sekretion gedrosselt wird. Das führt zu intensiver Wasserrückresorption in den medullären Sammelrohren, die ebenfalls das extrazelluläre Flüssigkeitsvolumen ansteigen lässt. Reaktion auf Hypervolämie Durch autoregulatorische Vasokonstriktion kommt es zum Anstieg des arteriellen Blutdrucks der eine Diuresesteigerung bewirkt und damit Hypervolämie und Hypertonie beseitigt. Mechanismus der sog. Pressure Diurese sind: Blutdruckanstieg → Anstieg des hydrostatischen Drucks in den Glomeruluskapillaren und in den peritubulären Kapillaren → die im proximalen Tubulus rückresorbierte Elektrolytlösung (Na+, Cl–, H2O) kann nur unvollständig in die peritubulären Kapillaren abfließen → Anstieg des hydrostatischen Drucks im Interstitium → Rückdiffusion von NaCl und Wasser durch die Schlussleisten ins Tubuluslumen → vermehrte Ausscheidung von NaCl und Wasser in den Urin. Hinzu kommt eine Drosselung des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems.
265 3.1 · Die normale Nierenfunktion
Osmotischer Druck der Körperflüssigkeiten Osmolalität Molare Konzentration aller osmotisch wirksamen Teilchen pro kg Wasser. Gemessen durch Bestimmung der Gefrierpunktserniedrigung (kryoskopisch). Normalwert im Plasma: 300 mosmol/kg H2O. Osmolarität Molare Konzentration aller osmotisch wirksamen Teilchen im Liter der Lösung. Hier geht das Teilchenvolumen in die Menge von einem Liter ein. Da ein Liter Plasma nur 940 ml Wasser enthält, beträgt seine Osmolarität 300×0,940 = 282 mosmol/l. Die Osmolarität des Serums kann aus der Natriumkonzentration berechnet werden, da Na+ das dominierende Kation des Serum ist: Osmolarität = (Na-Konzentration in mval/l + 5)×2. Die Osmolarität des Plasmas ist mit der Osmolarität der extrazellulären Flüssigkeit gleichzusetzen. > Hypernatriämie bedeutet stets Hyperosmolarität, Hyponatriämie stets Hypoosmolarität der extrazellulären Flüssigkeit.
Wasserverteilung Da die Zellwände im Körper für Wasser permeabel sind, herrscht im intrazellulären Raum die gleiche Osmolarität wie im extrazellulären. Harnstoff und Substanzen, die ebenso wie Wasser frei durch Zellmembranen diffundieren, erhöhen die Osmolarität im intra- und extrazellulären Kompartiment ohne einen osmotischen Gradienten zu erzeugen. Ein solcher entsteht nur, wenn die Zellmembranen für gelöste Stoffe impermeabel sind, deren Konzentration in einem Kompartiment ansteigt. Nimmt die Na+-Konzentration in der extrazellulären Flüssigkeit zu und damit auch ihre Osmolarität, so entsteht ein osmotischer Gradient, der Wasser von innen nach außen treibt, bis die Osmolarität auf erhöhtem Niveau in beiden Kompartimenten gleich ist. Bei Hyponatriämie strömt Wasser zum osmotischen Ausgleich in die Zellen und führt auch im intrazellulären Kompartiment zur Hypoosmolarität. Um in den Körperzellen einen normalen osmotischen Druck aufrechtzuerhalten ist es also notwendig, die Osmolarität der extrazellulären Flüssigkeit im normalen Bereich zu halten. Osmoregulation Hypothalamische Osmorezeptoren sind mit den hypothalamischen Durstzentren und den benachbarten ADH-sezernierenden hypothalamischen Neuronen verbunden, deren granulabeladene Neuriten im Hypophysenhinterlappen enden. Reaktion auf Hyperosmolarität des Plasmas Osmotischer Wasserentzug aus den Neuronen mit osmoregulatorischer Funktion → Steigerung der Impulsrate der Osmorezeptor-Neurone → Steigerung der ADH-Sekretion (und damit der Wasserrückresorption im hinteren Abschnitt der distalen Nephrone und in den medullären Sammelrohren) und des Durstes
(und damit der oralen Wasserzufuhr) → Normalisierung der Plasmaosmolarität. Reaktion Hypoosmolarität des Plasmas Osmotische Wasseraufnahme und Schwellung der Osmorezeptor-Neurone → Herabsetzung der Impulsrate der Osmorezeptoren → Hemmung der ADH-Sekretion (mit Steigerung der Wasserausscheidung der Nieren) und des Durstes → Normalisierung der Plasmaosmolarität. Barorezeptoreffekt auf ADH-Sekretion und Durstzentrum Von den venösen und arteriellen Barorezeptoren die auf Dehnungsreize in den Gefäßen ansprechen und deshalb als Volumenrezeptoren wirken, gehen hemmende Impulse zu den medullären Kreislaufzentren. Reaktion auf erhebliche Volumenverluste: Abnahme des Plasmavolumens → Herabsetzung der Impulsrate der Barorezeptoren → reflektorische Steigerung der ADH-Sekretion und des Durstes → Rückkehr des Plasmavolumens zur Norm durch Abnahme der renalen Wasserausscheidung und Steigerung der Wasserzufuhr durch Trinken. Die Osmorezeptoren sind sensitiver (Reaktion der ADHSekretion bei Osmolaritätsänderung um 1%) als die Barorezeptoren (Reaktion der ADH-Sekretion bei Abweichung des Plasmavolumens um 10%), deren Reaktion jedoch stärker ist. So stimuliert ein sehr niedriges Plasmavolumen Durst und ADH-Sekretion auch, wenn gleichzeitig eine Hypoosmolarität des Plasmas vorliegt. > Volumenkontrolle dominiert über Osmoregulation.
Kontrolle der Wasserbilanz An den geringen Tagesschwankungen des Körpergewichts erkennt man, dass der Organismus seinen Flüssigkeitsbestand in engen Grenzen konstant hält. Um das zu erreichen, müssen vor allem Zufuhr und Ausscheidung des Wassers im Gleichgewicht gehalten werden. Das geschieht durch die Nieren im Zusammenwirken mit dem Durstzentrum und dem Osmorezeptor-ADHSystem. Normale Wasserbilanz Wasserzufuhr: Sie erfolgt aus 3 Quellen: 4 Wassergehalt der Nahrung (800–1000 ml/Tag) 4 Oxydationswasser aus dem Stoffwechsel der Kohlenhydrate (300–400 ml/Tag) 4 Trinkwasser (im Durchschnitt 1000–2000 ml/d, sehr variabel). Wasserabgabe: Sie erfolgt auf 4 Wegen: 4 insensible Wasserverluste durch Perspiratio insensibilis und Anfeuchtung der Atemluft (800–1000 ml/Tag) 4 Schweißabsonderung (abhängig von Außentemperatur und körperlicher Aktivität, zwischen 200 und 8000 ml schwankend) 4 Wasserausscheidung mit dem Stuhl (100–200 ml/Tag, bei Diarrhö mehrere Liter)
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Kapitel 3 · Krankheiten der Nieren und ableitenden Harnwege
4 Wasserausscheidung durch die Nieren (1000–2000 ml/Tag, sehr variabel).
ten Wassereinstrom in die extrazelluläre Flüssigkeit unter Einschluss des Blutplasmas.
Renale Ausscheidung von Wasserüberschüssen Die orale Resorption überschüssigen Wassers führt zum Absinken der Plasmaosmolarität, das sehr gering bleibt, weil sofort die Gegenregulation einsetzt: Hypoosmolarität des Plasmas → Wasseraufnahme der Osmorezeptorneuronen im Hypothalamus → Drosselung der ADH-Sekretion → Drosselung der Wasserpermeabilität der medullären Sammelrohre → Steigerung der renalen Wasserausscheidung.
2. Reaktion: Beseitigung der entstandenen Hypervolämie (7 oben) durch Steigerung der glomerulären Filtration und Hemmung des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems. Die renale Kochsalzund Wasserausscheidung nimmt zu, bis die Natriumbilanz ausgeglichen ist.
Renale Wasserkonservierung Wasserentzug bewirkt einen Anstieg der Plasmaosmolarität mit folgenden Konsequenzen: Wasserentzug aus den Osmorezeptorneuronen → Stimulation der ADH-Sekretion → Steigerung der Wasserpermeabilität der medullären Sammelrohre mit Wasserrückresorption → Ausscheidung eines konzentrierten Urins. Zugleich wird durch die Osmorezeptoren das hypothalamische Durstzentrum stimuliert. Regulation der Osmolarität und der Natriumkonzentration der extrazellulären Flüssigkeit Die Osmolarität der extrazellulären Flüssigkeit wird in sehr engen Grenzen konstant gehalten, da sie für die Funktionen des Organismus fundamental wichtig ist. Die Kontrolle der Osmolarität ist gleichbedeutend mit der Kontrolle der Na+-Konzentration, da diese mit den zugehörigen Anionen, weitestgehend die Osmolarität bestimmt. Die Regulation obliegt fast ausschließlich dem Durstzentrum und dem Osmorezeptor-ADH-System. Angiotensin II und Aldosteron haben nur einen minimalen Einfluss auf die Plasmaosmolarität, da sie mit der Na+-Rückresorption die Rückresorption von Wasser steigern, so dass sich an der Natriumkonzentration in der extrazellulären Flüssigkeit kaum etwas ändert. Reaktion auf Anstieg der Natriumkonzentration des Plasmas Sofortige ADH-Ausschüttung mit Steigerung der Wasserrückresorption aus den medullären Sammelrohren. Zusätzliche Stimulation des Durstzentrums. Reaktion auf Absinken der Natriumkonzentration des Plasmas Sofortige Drosselung der ADH-Sekretion mit Blockierung der Wasserrückresorption in den medullären Sammelrohren und entsprechend gesteigerter Wasserausscheidung mit dem Urin. Regulation der Natriumbilanz Reichlicher Kochsalzkonsum 1. Reaktion: Einsatz der Osmoregulation zur Stabilisierung der Natriumkonzentration im Plasma (und der übrigen extrazellulären Flüssigkeit). Dabei kommt es zwangsläufig zu einem dosier-
Kochsalzmangel 1. Reaktion: Einsatz der Osmoregulation zur Stabilisierung der Natriumkonzentration des Plasmas (und der übrigen extrazellulären Flüssigkeit). Dabei kommt es zwangsläufig zu einem Wasserabstrom über die Niere. 2. Reaktion: Beseitigung der entstandenen Hypovolämie (7 oben) durch Herabsetzung der glomerulären Filtration und die Aktivierung des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems. Die Rückresorption von Kochsalz und Wasser wird gesteigert, bis die Natriumbilanz ausgeglichen ist.
Regulation der K+-Ausscheidung und der K+-Konzentration des Plasmas Vom Kaliumbestand des Körpers (2500–3000 mval) entfallen 98% auf die intrazelluläre Flüssigkeit (Konzentration 160 mval/l) und nur 2% auf die extrazelluläre Flüssigkeit (Plasmakonzentration 3,5–5,0 mval/l). Die K+-Konzentration des Plasmas wird in engen Grenzen konstant gehalten, weil Abweichungen nach oben und unten schwerwiegende Störungen der Zellfunktionen bewirken, insbesondere am Reizleitungssystem des Herzens. Dazu dient eine auf die Kaliumaufnahme mit der Nahrung (50– 200 mval/Tag) genau abgestimmte Kaliumausscheidung, die zu 90–95% durch die Nieren und nur zu 5–10% über den Darm erfolgt. Tubuläre K+-Rückresorption Pro Tag werden rund 756 mval K+ glomerulär filtriert. Davon werden 65% im proximalen Tubulus und 37% im dicken aufsteigenden Schenkel der Henle-Schleife rückresorbiert. Etwa 8% gelangen ins distale Nephron und ins Sammelrohr, wo keine Rückresorption mehr erfolgt. Eine aktive K+-Rückresorption gegen Sekretion von H+ findet im hinteren Abschnitt des distalen Tubulus und im Sammelrohr statt, die durch Aldosteron stimuliert wird. K+-Sekretion im hinteren Abschnitt des distalen Tubulus und im Sammelrohr Die Hauptzellen, die in diesem Abschnitt 90% der Epithelzellen ausmachen, sezernieren K+ in 2 Schritten: 4 Die Na+/K+-Pumpe an der basolateralen Membran pumpt K+ im Austausch gegen Na+ in die Zelle. 4 Diffusion von K+ aus dem Zellinneren in die tubuläre Flüssigkeit im Austausch gegen das rückresorbierte Na+.
267 3.2 · Störungen des Wasser- und Salzhaushalts
Die luminale Membran der Hauptzellen besitzt eine hohe K+Permeabilität dank spezifischer K+-Kanäle.
4 Bei entzündlicher Schädigung der Zellmembranen mit Permeabilitätssteigerung. Häufig das Vorstadium der Nekrose.
Kontrolle der renalen K+-Sekretion 1. Eine erhöhte extrazelluläre K+-Konzentration stimuliert direkt die Na+/K+-Pumpe an der basolateralen Zellmembran im distalen Nephron und steigert damit die K+-Diffusion in die Tubulusflüssigkeit. 2. Sie steigert gleichzeitig die Sekretion von Aldosteron in der Nebennierenrinde, das gleichfalls die Na+/K+-Pumpe aktiviert und zusätzlich die K+-Permeabilität der luminalen Membran erhöht. 3. Gesteigert wird die K+-Exkretion auch bei erhöhter tubulärer Flussrate (durch Hypervolämie, hohe Natriumaufnahme und Diuretika), weil der Konzentrationsgradient des K+ zwischen dem Zellinneren und der Tubulusflüssigkeit steiler bleibt.
Extrazelluläres Ödem
Bei erniedrigter extrazellulärer K+-Konzentration lässt die Aktivität der Na+/K+-Pumpe nach. Sie wird auch durch Herabsetzung der Aldosteronsekretion gedrosselt. Ein stärkeres Absinken der K+-Konzentration wird auch dadurch verhindert, das die Zwischenzellen im hinteren Abschnitt des diastalen Nephron und im Sammelrohr bei Kaliummangel K+ im Austausch gegen H+ rückresorbieren, was zu Alkalose führt. 3.2
Störungen des Wasserund Salzhaushalts Störungen des Wasser- und Salzhaushalts Ödeme 5 intrazelluläres Ödem 5 extrazelluläres Ödem Volumenmangel Hypo- und Hypernatriämie Hypo- und Hyperkaliämie
Primäre renale Flüssigkeitsretention: Kommt bei akuter Herabsetzung der Nierenfunktion infolge akuter tubulärer Nekrose oder akuter Glomerulonephritis vor. Mechanismus: Generalisierte Zunahme des extrazellulären Flüssigkeitsvolumens mit Anstieg des Blutvolumens → Zunahme des Herzminutenvolumens → Blutdruckanstieg → Anstieg des hydrostatischen Kapillardrucks und damit des Filtrationsdrucks → interstitielles Ödem. Primäre Flüssigkeitsverschiebung aus dem intravaskulären in den interstitiellen Raum mit sekundärer Steigerung der renalen Rückresorption von NaCl und Wasser: In Gang gesetzt wird
die Flüssigkeitsansammlung im Interstitium durch eine Störung der kapillaren Flüssigkeitsdynamik, die verschiedene Ursachen haben kann: 4 Erhöhung des hydrostatischen Kapillardrucks (venöse Stauung) 4 Herabsetzung des onkotischen Drucks im Plasma 4 Steigerung der Kapillarpermeabilität (allergisch, toxisch, entzündlich, traumatisch) mit Übertritt von Proteinen in die interstitielle Flüssigkeit 4 Störung des Lymphabflusses (7 Kap. 1.7.2). Wenn es durch die Ödembildung zum Absinken des Blutvolumens kommt (Hypovolämie), setzt unter Beteiligung des ReninAngiotensin-Aldosteron-Systems eine verstärkte renale Rückresorption von NaCl und Wasser ein, die das Volumen der extrazellären Flüssigkeit erhöht und damit die Ödembildung perpetuiert, wenn die Ödemursache nicht beseitigt wird. Das Ausmaß der Ödeme hängt von der Compliance des interstitiellen Gewebes ab. Denn die Ödembildung kommt zum Stehen, wenn der Anstieg des hydrostatischen Drucks im Interstitium einen weiteren Flüssigkeitsübertritt aus den Kapillaren stoppt. Klinik. Hypoproteinämische und venöse Stauungsödeme sind
3.2.1 Ödeme Definition. Flüssigkeitsüberschuss in den Körpergeweben. Zu
unterscheiden sind: 4 intrazelluläres Ödem 4 extrazelluläres Ödem Intrazelluläres Ödem Wassereinstrom in die Zellen: 4 Beim Versagen der Na+/K+-Pumpe, das zur intrazellulären Na+-Anreicherung mit Anstieg des osmotischen Drucks führt. Vorkommen bei Stoffwechselherabsetzung oder Ischämie.
eindrückbar (Dellen-Phänomen), Lymphödeme und entzündliche Ödeme sind es wegen des hohen Eiweißgehaltes der Ödemflüssigkeit nicht. Lokalisierte Ödeme: Vorkommen bei venöser und lymphatischer Obstruktion, deren Sitz und Ursache geklärt werden muss (Veno- bzw. Lymphographie). Ferner bei lokaler Entzündung, Traumatisierung, Allergie oder Insektenstich. Generalisierte Ödeme: Mit Schwellung des Gesichts (Periorbitalregion), der Finger (Einklemmung der Ringe), der Brustund Rückenpartie und der Beine (bevorzugt an den Knöcheln und prätibial). Gleichzeitig können Hydrothorax und Aszites vorhanden sein. Ausgeprägte generalisierte, nichtentzündliche Ödeme werden Anasarka genannt. Bei generalisierten Ödemen kommen in erster Linie akute Niereninsuffizienz, Herzinsuffizienz, nephrotisches Syndrom und andere hypoproteinämische
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Kapitel 3 · Krankheiten der Nieren und ableitenden Harnwege
Krankheitszustände, allergische Reaktionen, idiopathisches, meist in der frühen Menopause auftretendes Ödem und ein Myxödem in Betracht. Latente Ödeme: Noch bevor Ödeme sichtbar werden, kann das interstitielle Flüssigkeitsvolumen um mehrere Liter zunehmen, nachweisbar an plötzlichem Gewichtsanstieg bzw. starkem Gewichtsverlust durch Diurese (NaCl-Entzug, Diuretika, spontan bei idiopathischem Ödem). Beinödeme können das erste Symptom eines generalisierten Ödems sein, z.B. bei Herzinsuffizienz. Diagnostik. Kardiale Ödeme sind durch Untersuchung des Herzens, im Zweifel durch Messung des zentralen Venendrucks zu
erkennen. Häufig sind statische Beinödeme (Varikosis, Senkfuß, Adipositas etc.). Die Gesamteiweißbestimmung im Serum, einschließlich Elektrophorese, deckt hypoproteinämische Formen auf. Am häufigsten ist hier das nephrotische Syndrom mit großer Proteinurie. Primäre renale Ödeme sind von Oligurie und Azotämie begleitet. Druckempfindlich sind entzündliche Ödeme. Zyanose weist auf venöse Obstruktion hin. Das Myxödem zeigt gewöhnlich kein Dellenphänomen, an den Beinen kann es aber vorkommen. Bei Leberzirrhose mit Aszites (als lokalem Ödem) kann durch Hypalbuminämie eine generalisierte Ödemneigung entstehen. Therapeutische Prinzipien. 4 Behandlung des Grundleidens: Sie umfasst je nach der
Ödemursache Maßnahmen gegen Herzinsuffizienz, Niereninsuffizienz, Pfortaderstauung, Hypoproteinämie, Venenverschlüsse etc. 4 Diätetische und physikalische Maßnahmen: Kochsalzbeschränkung (auch bei Diuretikatherapie) bei der Zubereitung der Speisen, durch Fasten, Apfelreistage und ähnliche Diätformen (keine geräucherten Fleisch- und Wurstwaren). Gegen Beinödeme Kneipp-Schenkelgüsse mit kaltem Wasser und Wassertreten, danach trocknen der Haut an der Luft (Venenkontraktion durch Abkühlung), zusätzlich Stütz- oder Kompressionsstrümpfe bzw. Bandagen, bei Lymphödemen kombiniert mit manueller Lymphdrainage. 4 Diuretika Diuretikatherapie Allgemeines: Diuretika sind Substanzen, die eine Steigerung der
renalen Wasser- und Salzausscheidung bewirken. Einige tun es indirekt, wie Digitalis, Dopamin, Albumin und Dextran, indem sie die Nierenperfusion und damit die GFR erhöhen. Die meisten greifen direkt an der Niere an und hemmen die Rückresorption von Wasser und Salz. Carboanhydrasehemmer
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Substanzen: Acetazolamid (Diamox ), Diclofenamid
Wirkung: Hemmung der Bürstensaum-Carboanhydrase an den Epithelien des proximalen Tubulus und den Zotten des Ziliarkörpers des Auges. Damit wird die Hydratisierung von CO2 zur H2CO3 unterdrückt sowie die Bereitstellung von H+ und HCO3–. Im proximalen Tubus kann deshalb nicht genügend H+ zum Austausch gegen Na+ sezerniert werden. Das hat 2 Konsequenzen: 4 Die Bikarbonatrückresorption in diesem Nephronabschnitt sinkt um 80%, was eine metabolische Azidose zur Folge hat. 4 Die Hemmung der Na+-Rückresorption im proximalen Tubulus bewirkt, dass größere Mengen Na+ in den distalen Tubulus gelangen. Hier kann durch Aldosteronwirkung kompensatorisch mehr Na+ rückresorbiert werden, womit der natriuretische Effekt gering bliebe. Werden gleichzeitig Diuretika gegeben, die am distalen Nephron angreifen, würde deren natriuretischer Effekt erheblich verstärkt.
Die Epithelzellen der Ziliarfortsätze sezernieren aktiv Na+ in das Kammerwasser, dem als Anion überwiegend HCO3– folgt und durch osmotischen Sog H2O. Dieser Mechanismus der Kammerwasserbildung wird durch die Carboanhydrasehemmer stark unterdrückt. Anwendung: Mittel der Wahl zur Behandlung des Glaukoms. Geeignet zur Prophylaxe und Therapie der Höhenkrankheit (metabolische Azidose kompensiert respiratorische Alkalose). In der Ödemtherapie nicht gebräuchlich, kann aber die Wirkung der Schleifendiuretika erheblich verstärken. Nebenwirkungen: Hypokaliämie, metabolische Azidose, Nierensteine. Diuretika vom Thiazid-Typ Mittellang wirkende Substanzen: Bendroflumethiazid, Butizid,
Clopamid, Hydrochlorothiazid, Mefrusid, Trichlormethiazid, Xipamid. Langwirkende Substanzen: Chlortalidon, Indapamid, Polythiazid. Wirkung: Hemmung des Na+-Cl–-Symports aus dem vorderen Abschnitt des distalen Nephron. Es werden Na+ (maximal 3–6% der glomerulär filtrierten Menge), Cl– und Wasser vermehrt ausgeschieden. Die damit verbundene Abnahme des extrazellulären Flüssigkeitsvolumens steigert die Na+-Rückresorption im proximalen Tubulus, so dass bei chronischer Einnahme (nach einigen Tagen) Na+-Zufuhr und Na+-Ausscheidung bei verkleinertem extrazellulären Volumen wieder ins Gleichgewicht kommen. Höhere, insbesondere i.v. Gaben senken die GFR, was ihre Wirkung bei schwerer Herzinsuffizienz einschränkt. Als organische Säuren werden die Thiazide im proximalen Tubulus aktiv sezerniert. Diuretisch wirksam ist nur die in der Tubulusflüssigkeit enthaltene Substanz. Bei Absinken der GFR unter 30 ml/min werden die Thiazide deshalb unwirksam. Anwendung: Mittelstark wirkende Diuretika, die bei ödematösen Zuständen, Herzinsuffizienz und Hypertonie gewöhnlich als erste eingesetzt werden. Oft in Kombination mit einem kali-
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umsparenden Diuretikum (Spironolacton, Triamteren, Amylorid). Nebenwirkungen: Die unter Thiaziden gesteigerte proximale Na+-Rückresorption erhöht die Harnsäure-Rückresorption und kann zur Hyperurikämie führen. Das gesteigerte Na+-Angebot an den hinteren Abschnitt des distalen Nephron stimuliert die Sekretion von K+ und H+ gegen Na+, woraus Hypokaliämie und Alkalose resultieren können. Die Thiazide setzen im distalen Tubulus die Ca++-Exkretion herab, was zur Hyperkalzämie führen kann. Thiazide vermindern die Glukosetoleranz durch Hemmung der Insulinfreisetzung aus den Inselzellen, teils direkt, teils indirekt über eine Hypokaliämie. Seltene Nebenwirkungen sind kutane Vaskulitis, Pankreatitis und bei Leberzirrhose hepatische Insuffizienz. Schleifendiuretika
Substanzen: Bumetamid, Etacrynsäure, Furosemid, Piretanid, Torasemid. Wirkung: Hemmung des Na+-K+-2Cl–-Symport aus dem dicken aufsteigenden Schenkel der Henle-Schleife, durch den 25% des glomerulär filtierten Na+ rückresorbiert werden. Die Salzrückresorption in diesem Abschnitt wird weitgehend aufgehoben. Das führt zu einer starken Natriurese, da der distale Tubulus das hohe Na+-Angebot nur teilweise rückresorbieren kann. Im hinteren Abschnitt des distalen Nephron werden gegen Na+ verstärkt K+ und H+ sezerniert. Der osmotische Gradient im medullären Interstitium wird infolge der herabgesetzten Na+-Rückresorption stark reduziert. Es resultiert die Ausscheidung einer großen Menge sauren, mit dem Plasma isoosmotischen Urins, begleitet von einer deutlichen Verkleinerung des extrazellulären Flüssigkeitsvolumens. Schleifendiuretika steigern auch die Ca++und Mg++-Exkretion. Anwendung: Hochwirksame Diuretika, die bei allen schweren ödematösen Zuständen indiziert sind. Schnell einsetzende, aber relativ kurzdauernde Wirkung. Bei schwerer Herzinsuffizienz und eingeschränkter Nierenfunktion müssen sehr hohe Dosen gegeben werden. Schleifendiuretika werden im proximalen Tubulus aktiv sezerniert und sind nur in der Tubulusflüssigkeit wirksam. Bei schlecht ansprechenden Ödemen und Hypokaliämie Kombination mit kaliumsparenden Diuretika. Nebenwirkungen: Bei Überdosierung Hypovolämie mit Blutdruckabfall und prärenales Nierenversagen. Der ödematöse Patient sollte nicht mehr als 2 kg pro Tag durch Wasserausscheidung verlieren. Weitere Komplikationen: Hypokaliämie, Alkalose, Hyperurikämie. Durch Ototoxizität kann Schwerhörigkeit entstehen bzw. verschlimmert werden, besonders bei gleichzeitiger Anwendung von Aminoglykosid-Antibiotika. Metolazon Wirkung: Wie die Thiazide ein Sulfonamiddiuretikum, aber mit
besonderen Eigenschaften. Es vermindert die renale Perfusion und die GFR nicht und ist auch bei eingeschränkter Nierenfunk-
tion voll wirksam. Wirkungsdauer 24–48 Stunden. Es setzt, anders als die Thiazide, die Na+-Rückresorption nicht nur im Anfangsteil des distalen, sondern auch im proximalen Tubulus herab und vergrößert daher das Na+-Angebot zum dicken Schleifenschenkel und zum distalen Nephron. In der Kombination mit einem Schleifendiuretikum führt Metolazon zu einer ganz massiven Diurese, während es allein wenig diuretisch wirkt. Anwendung: Bei therapierefraktären Ödemen kombiniert mit einem Schleifendiuretikum. Nebenwirkungen: Hypovolämie, Alkalose, Hypokaliämie. Kaliumsparende Diuretika
Substanzen: Spironolacton, Eplerone, Triamteren, Amilorid. Wirkung: Spironolacton ist ein kompetitiver Aldosteronantagonist, der an den Aldosteronrezeptoren der initialen, kortikalen und medullären Sammelrohre angreift. Er hemmt in diesen Abschnitten die vom Aldosteron induzierte Na+-Rückresorption und die Sekretion von K+ und H+. Amilorid und Triamteren sind keine Aldosteroninhibitoren. Sie hemmen die Na+-Rückresorption im Austausch gegen K+ und H+ an den nicht vom Aldosteron abhängigen Stellen des distalen Nephrons. Alle drei Wirkstoffe haben einen relativ schwachen natriuretischen Effekt, führen aber zur Retention von K+. Anwendung: In Kombination mit Thiaziden und Schleifendiuretika, um deren kaliuretische Wirkung zu kompensieren, z. B.: Moduretik (Amilorid + Hydrochlorothiazid), Dytide H (Triamteren + Hydrochlorothiazid), Aldactone SaltucinR (Spironolacton + Butizid). Isolierter Einsatz zur Behandlung von Hypokaliämien. Nebenwirkungen: Hyperkaliämie, besonders bei eingeschränkter Nierenfunktion, selten metabolische Azidose. Unverträglichkeitssymptome: Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö, Kopfschmerz. Durch Affinität zu anderen Steroidrezeptoren Gynäkomastie, Impotenz; bei Frauen Vertiefung der Stimme (Sängerinnen), Hirsutismus und Menstruationsunregelmäßigkeiten. Das neue Eplerone hat keine endokrinen Nebenwirkungen und ist gut verträglich.
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3.2.2 Volumenmangel Volumenmangelzustände betreffen primär und hauptsächlich die extrazelluläre Flüssigkeit. Sie sind in jedem Fall durch Wasserverluste bedingt und meistens mit Natriumverlusten verbunden. Die Osmolarität des Plasmas bzw. dessen Na+-Konzentration zeigt an, in welchem Verhältnis die Wasser- und die Na+-Verluste zu einander stehen. Überwiegender Wasserverlust führt zur Hyperosmolarität des Plasmas bzw. Hypernatriämie, äquivalente Wasser- und Na+-Verluste verändern Osmolarität und Na+-Konzentration des Plasmas nicht. Überwiegende Na+-Verluste bewirken Hypoosmolarität des Plasmas und Hyponatriämie. Prinzipiell können Volumenmangelzustände nur auf Grund der klinischen Symptome des Volumenmangels (7 unten) diagnosti-
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Kapitel 3 · Krankheiten der Nieren und ableitenden Harnwege
ziert werden. Hyper- und Hyponatriämie kommen auch ohne Volumenmangel und bei Volumenüberschuss vor (7 unten). Die Bezeichnung Dehydratation wird jetzt überwiegend für reine Wassermangelzustände gebraucht, nicht mehr für den Volumenmangel generell. Wenn bei extrazellulären Flüssigkeitsverlusten die extrazelluläre Osmolarität steigt, wird dem intrazellulären Raum durch Osmose Wasser und damit gleichfalls Volumen entzogen. Bei Flüssigkeitsverlusten ohne Veränderung der extrazellulären Osmolarität bleibt das intrazelluläre Volumen unverändert. Sinkt bei Flüssigkeitsverlusten die extrazelluläre Osmolarität, kommt es durch osmotischen Wassertransport in die Zellen zur Vergrößerung des intrazellulären Volumens. Ursachen. Ungenügende Trinkmenge: Bei schwer kranken, bewusstseinsge-
trübten Patienten, Anorexie, Erbrechen und Trinkwassermangel. Gastrointestinale Störungen: Flüssigkeitsverluste durch Erbrechen oder Absaugen des Mageninhalts, Diarrhöen, Flüssigkeitssequestration im Darmlumen bei Ileus. Oft von Hypokaliämie, Azidose oder Alkalose begleitet. Flüssigkeitsverluste durch die Haut:
4 Starkes Schwitzen: Schweiß ist gegenüber dem Plasma hypoosmolar. Die Na+-Konzentration beträgt 5–30 mval/l. Sie nimmt bei nicht akklimatisierten Personen mit der Schweißabsonderung zu. Profuses Schwitzen kann zum hyperosmolaren Volumenmangel führen. Nach überschießender Wasserzufuhr resultiert eine Hypoosmolarität des Plasmas. 4 Verbrennungen: Können durch Schädigung der Hautkapillaren große Wasser- und Na+-Verluste herbeiführen. Flüssigkeitsverluste durch die Nieren: 4 Akutes Nierenversagen: Zwangspolyurie in der frühen Re-
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missionsphase wegen Störung der Na+- und Wasserrückresorption, wobei die großen Harnmengen relativ viel Na+ enthalten. Chronische Niereninsuffizienz: Infolge der Isosthenurie kann die renale Wasser- und Na-Ausscheidung nicht gedrosselt werden. Ein Defizit in der Wasser- und Salzaufnahme (Erbrechen, Anorexie etc.) führt deshalb zum Volumenmangel. Dekompensierter Diabetes mellitus: Osmotische Diurese mit erhöhter Wasser- und NaCl-Ausscheidung infolge der starken Glukosurie. Das tubuläre Glukoseload übersteigt die maximale tubuläre Rückresorptionskapazität für Glukose. Diabetes insipidus: Renaler Wasserverlust bei fehlender ADH-Sekretion führt zur Dehydratation mit Hypernatriämie und Hyperosmolarität des Plasmas. Diuretika-Überdosierung: Na+- und Wasserverluste durch Hemmung der tubulären Rückresorption, verbunden mit Hypokaliämie und Alkalose. Nebennierenrindeninsuffizienz: Renale NaCl- und Wasserverluste durch Wegfall der Aldosteronwirkung. Die mangelhafte K+-Exkretion führt gleichzeitig zur Hyperkaliämie.
Klinik. Herabsetzung des Hautturgors (Stehenbleiben abgeho-
bener Hautfalten über dem Sternum), Trockenheit der Zungenund Mundschleimhaut, reflektorische Tachykardie mit Anstieg des diastolischen Drucks, orthostatische Hypotonie, in schweren Fällen Apathie, Verwirrtheit, motorische Unruhe, schließlich hypovolämischer Schock. Laborbefunde. Anstieg des Hämatokritwertes und des Hämo-
globins über den Normwert oder den Ausgangswert. Prärenale Azotämie mit Anstieg des Harnstoffs und Kreatinins im Serum. In den meisten Fällen Oligurie. Die Natriumkonzentration im Serum hängt von Typ des Volumenmangels ab (7 oben). Therapie. Bei Patienten ohne gastrointestinale Störungen, die schlucken und trinken können, Steigerung der oralen Wasserund Kochsalzzufuhr. In schweren Fällen Infusionen von isotonischer Kochsalzlösung, bei Hypernatriämie ergänzt durch 5%ige Glukoselösung, mit der osmotisch freies Wasser zugeführt wird. Bei schlechtem Kreislauf kann initial ein Plasmaexpander (z.B. Rheomacrodex in 0,9%iger NaCl-Lösung) erforderlich sein. Zugabe von Kalium oder Bikarbonat bei entsprechendem Defizit. Die infundierte Flüssigkeitsmenge richtet sich nach den laufend zu kontrollierenden Parametern Hautturgor, Pulsfrequenz, Blutdruck, Hämatokrit, Elektrolyte, Säure-Basen-Status. Die erste Hälfte des Defizits sollte rasch (4–12 Std.), die zweite langsamer (1–2 Tage) ersetzt werden. Zu schnelle Infusion kann bei Herzkranken zum Lungenödem führen.
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3.2.3 Hyponatriämie Ursachen. Bei einer Hyponatriämie sind extra- und intrazelluläre Flüssigkeit hypoosmolar. Gestört ist die Wasserdiurese, die zum Ausgleich der Hypoosmolarität notwendig wäre. Zur Ausscheidung von Wasserüberschüssen ist es erforderlich, dass: 4 die ADH-Sekretion unterdrückt wird 4 genügend Glomerulusfiltrat in den dicken Schenkel der Henle-Schleife und den distalen Tubulus gelangt und 4 die Natriumrückresorption in diesen Segmenten funktioniert.
Bei einer Hyponatriämie können mehrere dieser Mechanismen beeinträchtigt sein, wie die Pathophysiologie der nachstehenden wichtigsten Formen erkennen lässt. Hyponatriämie bei schwerem extrazellulärem Volumenmangel: Trotz weitgehender Na+-Rückresorption wird die Hypovolä-
mie nicht beseitigt. Daher erfolgt über Barorezeptoren eine Stimulation der ADH-Sekretion, die zur gesteigerten Wasserrückresorption führt. Durch die entstehende Hypoosmolarität des Plasmas wird die ADH-Sekretion in dieser Situation nicht gehemmt. (Dominanz der Volumenregulation über die Osmoregulation). Hyponatriämie bei generalisierten Ödemen: Bei massivem Abstrom von intravaskulärer Flüssigkeit ins Interstitium entsteht
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eine Hypovolämie, die zur kompensatorischen Stimulation der ADH-Sekretion führt. Hyponatriämie durch Diuretika: Hypovolämie durch zu starken Na+-Entzug oder große Trinkmengen unter Diuretikatherapie. Hyponatriämie bei Niereninsuffizienz: Entsteht infolge Limitierung der Wasserausscheidung (Oligurie) bei zu großer Wasseraufnahme (Verdünnungshyponatriämie mit Ödem) oder durch renale Salzverluste (Unfähigkeit zur Na+-Konservierung bei reduzierter Kochsalzaufnahme). Hyponatriämie bei inadäquater ADH-Sekretion: Entsteht durch: 4 nichtosmotische Stimulation der ADH-Sekretion (Schmerz, Emotionen, Narkotika), z.B. in der postoperativen Phase 4 ADH aus Tumoren (Haferkornkarzinom der Lunge) 4 direkte Stimulation der hypothalamischen Osmorezeptoren bei Meningitis, Enzephalitis, zerebralen Insulten, Hirntumoren, Hirntraumen und Porphyrie. Hyponatriämie bei endokrinen Störungen:
4 Bei Nebenniereninsuffizienz durch renale Na+-Verluste (Aldosteronmangel). 4 Bei Hypothyreose durch Herabsetzung des effektiven arteriellen Volumens (s. oben). Hyponatriämie bei Akkumulation osmotisch aktiver Substanzen im Plasma: kommt bei schwerer Hyperglykämie und hoch-
dosierten Mannitolinfusionen vor. Die Zuckermoleküle erhöhen die Osmolarität, entziehen dem intrazellulären Raum Wasser und verdünnen dadurch die Na+-Konzentration des Plasmas. > Einzige Ausnahme, bei der Hyponatriämie nicht Hypoosmolarität des Plasmas bedeutet. Essenzielle Hyponatriämie: Entsteht durch Verstellung der Os-
morezeptoren, die dadurch die Plasmaosmolarität auf einen abnorm niedrigen Wert einregulieren. Vorkommen: bei Lungentuberkulose, Herzinsuffizienz, Leberzirrhose und anderen chronischen Krankheiten. Pathogenese ungeklärt, klinisch asymptomatisch und nicht behandlungsbedürftig. Klinik. Schwere Hyponatriämie führt durch Hydratisierung und Schwellung der Hirnzellen zu Benommenheit, Verwirrtheit, Stupor und Koma, auch zu Muskelzuckungen und Krämpfen. Bei rascher Entwicklung der Hyponatriämie sind die neurologischen Ausfallserscheinungen stärker ausgeprägt als bei chronischer Hyponatriämie, wo sie fehlen können (Adaptation der Zellen durch K+-Austritt). Therapie. Bei Volumenmangel Infusion isotoner, allenfalls zu Beginn auch hypertoner Kochsalzlösung. Bei Ödemen Flüssigkeitsbeschränkung (1000–1500 ml/Tag). Beseitigung der Ursache: Bei Diuretika-induzierter Hyponatriämie Absetzen des Mittels. Bei inadäquater ADH-
Sekretion und bei Niereninsuffizienz Flüssigkeitsbeschränkung. Stets sollte die Na+-Konzentration langsam ansteigen. 3.2.4 Hypernatriämie Ursachen. Bei der Hypernatriämie ist das Körperwasser im Verhältnis zu den gelösten Bestandteilen vermindert. Das Plasma ist hyperosmolar, durch osmotischen Wasserentzug auch die intrazelluläre Flüssigkeit. Die Zellen werden dehydratisiert, ihr Volumen verkleinert. Gehirnzellen können sich an eine länger bestehende Hypernatriämie durch intrazelluläre Vermehrung gelöster Substanzen adaptieren und verlorenes Volumen zurückgewinnen. Zu rasche Wasserzufuhr kann in solchen Fällen zum Hirnödem führen. Nachstehen die häufigsten Ursachen der Hypernatriämie. Hypernatriämie durch reine Wasserverluste: 4 extrarenal: durch die Haut (Perspiratio insensibilis) und durch
die Lunge (Anfeuchtung der Atemluft in großer Hitze) 4 renal: Diabetes insipidus (zentral, nephrogen), hypothalamische Dysfunktion. Hypernatriämie durch überwiegende Wasserverluste: Hier geht auch etwas Natrium verloren: 4 extrarenal: Schweißabsonderung in großer Hitze oder bei körperlichen Anstrengungen 4 renal: osmotische Diurese (Glukosurie). Klinik. Zum einen Verwirrtheit, gesteigerte neuromuskuläre Erregbarkeit und Krämpfe, zum anderen geistige Abstumpfung, Benommenheit und Koma. Die Erscheinungen sind ausgeprägter, wenn sich die Hypernatriämie akut entwickelt und ähneln dem hyperosmolaren diabetischen Koma. Irreversible neurologische Schäden durch sekundäre Gefäßläsionen im Gehirn (Sinusthrombose, Blutungen). Bei reinen Wasserverlusten ist der extrazelluläre Volumenmangel gering, weil nur ein Drittel der Wassermenge dem extrazellulären Raum entzogen wird, dagegen zwei Drittel dem intrazellulären. Bei Wasser- und Natriumverlusten können die Symptome des Volumenmangels dominieren. Therapie. Ausgleich des Wasserdefizits durch orale Wasserzufuhr
oder intravenöse Infusion 5%iger Glukoselösung in Wasser. In den ersten 12–24 Stunden sollte nicht mehr als die Hälfte des Defizits zugeführt werden. Wasser plus Natriumverluste sind durch Infusion 0,9%iger Kochsalzlösung (Ausgleich des Volumendefizits) mit nachfolgender Infusion 0,45%iger Kochsalzlösung zu behandeln. 3.2.5 Hypokaliämie Definition. Eine Hypokaliämie liegt bei einem Serumkalium von
5 mval/l vor, sofern eine Pseudohyperkaliämie ausgeschlossen ist (7 unten). Ursachen. Es lassen sich die folgenden Kategorien unterscheiden: Störungen der renalen Kaliumausscheidung: 4 Niereninsuffizienz: akutes Nierenversagen und dekompen-
sierte chronische Niereninsuffizienz (Verlust von Nephronen). 4 Herabsetzung der tubulären Flussrate: Bei arterieller Hypovolämie. Es gelangt zu wenig Na+ in den distalen Tubulus für den Austausch gegen K+. Herabgesetzte K+-Sekretion im distalen Tubulus:
4 primärer Hypaldosteronismus: durch Nebenniereninsuffizienz oder adrenalen Enzymdefekt 4 sekundärer Hypoaldosteronismus: 5 bei Hyporeninämie, die bei diabetischer Nephropathie vorkommt (renotubuläre Azidose Typ 4) 5 durch ACE-Blocker, nichtsteroidale Antiphlogistika und Heparin 4 Aldosteronresistenz: Bei Pseudohypaldosteronismus (Mutation des tubulären Na+-Kanals), tubulointerstitiellen Erkrankungen und durch kaliumsparende Diuretika. Exzessive Kaliumzufuhr: Auch sehr hohe Kaliumaufnahme mit
der Nahrung führt dank automatischer Steigerung der K+-Sekretion im distalen Tubulus nicht zur Hyperkaliämie. ! Bedrohliche Hyperkaliämien können bei der Infusion kaliumhaltiger Lösungen durch zu hohe Kaliumkonzentration der Lösung oder zu hohes Infusionstempo vorkommen. Hyperkaliämie durch Kaliumverschiebung aus den Zellen in die extrazelluläre Flüssigkeit bzw. ins Plasma: 4 Gewebezerstörungen: Muskelquetschungen, Hämolyse, in-
nere Blutungen. Ein Kilogramm Muskelgewebe oder Erythrozyten enthält 80 mval Kalium. ! Die posttraumatische Hyperkaliämie kann zur Todesursache werden (Unfall- und Kriegsverletzungen).
4 Pharmaka: Das Muskelrelaxans Succinylcholinchlorid kann durch Depolarisation der Muskelzellen bei Traumen und neuromuskulären Erkrankungen zu starkem Kaliumaustritt aus den Muskelzellen führen. Den Kaliumaustritt aus den Zellen fördern auch Betarezeptorenblocker, Argininhydrochlorid und Digitalis (bei Intoxikation durch Hemmung der Na+/K+-Pumpe). 4 Azidosen: Hauptsächlich bei metabolischer Azidose durch Mineralsäuren (Niereninsuffizienz, akute respiratorische
Azidose). Die Azidose hemmt die Na+/K+-Pumpe. Azidosen durch organische Säuren sind weniger stark, weil die Anionen metabolisiert werden. 4 Insulinmangel: Insulin fördert den K+-Transport in die Zellen durch Stimulation der N+/K+-Pumpe. Bei diabetischer Ketoazidose entfällt dieser Effekt. Außerdem steigert die pHVerschiebung den K+-Efflux aus den Zellen. Da durch osmotische Diurese vermehrt K+ ausgeschieden wird, entsteht ein intrazelluläres Kaliumdefizit sowie ein Kaliumdefizit des Körpers. Insulingaben führen folglich zu einer schweren Hypokaliämie, falls nicht substituiert wird. 4 Hyperosmolarität des Plasmas: Im osmotischen Wasserstrom aus den Zellen wird K+ ins Plasma transportiert. 4 Hyperkaliämische periodische Paralyse: Seltene autosomal dominante Erkrankung mit periodischer Muskelschwäche bei Anstrengungen (die den K+-Übertritt aus Muskelzellen begünstigen). Es liegt eine Punktmutation des Gens für den einwärts gerichteten K+-Kanal der Muskelzellen vor. Pseudohypokaliämie: Kaliumaustritt ins Serum nach der Blu-
tentnahme bei längerem Stehen der unzentrifugierten Blutprobe (oft durch Hämolyse), auch bei Thrombozytose. Es fehlen klinische Symptome und EKG-Veränderungen. Im Plasma bestimmt, ist die Kaliumkonzentration normal. Klinik. Muskelschwäche bis zur schlaffen Lähmung bei normaler Hirnnervenfunktion. Erregungsleitungsstörungen im Herzmuskel mit typischen EKG-Veränderungen, Bradykardie, AV-Block, finales Kammerflimmern (7 Kap. 1). Diagnostik. Akutes Nierenversagen und chronische Niereninsuffizienz sind unschwer an Azotämie und Oligurie zu erkennen. Auf den Volumenstatus ist zu achten. K+-Sekretionsstörungen im distalen Tubulus sind durch die Bestimmung von Aldosteron und Renin im Serum zu differenzieren. Das Ansprechen der Kaliurese auf Aldosteron kann mit einem Mineralokortikoid (9a-Fluorcortison) getestet werden. Diabetes mellitus und Azidosen werden laborchemisch erfasst. Therapie. Die Maßnahmen richten sich nach dem Schweregrad der Hyperkaliämie, der sich aus Serumkonzentration, klinischen Symptomen und EKG ergibt. Leichtere Grade: (Serumkalium 8 mval/l, fehlende P-Zacken, QRS-Verbreiterung): Infusion von 10–30 ml 10%iger Calciumgluconatlösung (antagonistische Wirkung zur Hyperkaliämie auf neuromuskuläre Membranen), danach Glukoseinfusion wie oben und/oder Infusion isotonischer Bikarbonatlösung gegen die bestehende Azidose. Zusätzlich Polysterolsulfonat per os. Bei akuter und fortgeschrittener Niereninsuffizienz ist als sichere Maßnahme die Hämodialyse angezeigt, bzw. die Peritonealdialyse, die nur 20% der Wirksamkeit der Hämodialyse hat.
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Störungen des Säure-Basen-Haushalts Störungen des Säure-Basen-Haushalts Metabolische Azidose Metabolische Alkalose Respiratorische Azidose Respiratorische Alkalose
3.3.1 Allgemeines Das normale Säure-Basen Gleichgewicht Der pH-Wert des arteriellen Blutes beträgt 7,40. Er wird als wichtiger Faktor des inneren Milieus in engen Grenzen konstant gehalten. Venöses Blut hat einen pH von 7,35. Der intrazelluläre pH-Wert liegt wahrscheinlich bei 6,9. Normalerweise wird das Säure-Basen-Gleichgewicht hauptsächlich durch Säuren belastet, die im Stoffwechsel entstehen: 4 CO2 (13000–15000 mmol/Tag), das die Lunge ausscheidet. 4 Fixe Säuren: Schwefelsäure (aus Methionin und Cystein), Phosphorsäure (aus Nukleinsäuren, Phosphoproteinen, Phospholipiden, Phosphoglycerin), zusammen 50– 100 mmol/Tag. 4 Organische Säuren (Milchsäure, Acetessigsäure, β-Oxybuttersäure), die normalerweise weiter oxydiert werden, unter abnormen Bedingungen jedoch in größeren Mengen anfallen. Für die Ausscheidung der nichtflüchtigen Säuren ist die Niere zuständig. Mechanismen der pH-Regulation Zur Abwendung von pH-Verschiebungen besitzt der Organismus 3 Schutzeinrichtungen, die unterschiedlich schnell wirksam werden und eine unterschiedliche Kapazität aufweisen: Chemische Puffer Als schwache Säuren mit ihrem Alkalisalz schwächen sie durch Neutralisation von Säuren und Basen pH-Änderungen ab und sind dabei sofort wirksam. Gesamtkapazität etwa 15 mval/kg.
Bikarbonatpuffer: Wichtigstes Puffersystem des Körpers. Seine
Säurekomponente ist CO2, seine Basenkomponente HCO3–. Die quantitative Beziehung zwischen dem pH und dem Bikarbonatpuffer-System wird durch die Henderson-Hasselbach-Gleichung wiedergegeben: [HCO3–] pH = 6,1 + log 05 pCO2 × 0,03 Im normalen Arterienblut beträgt die Bikarbonatkonzentration 25 mval/l, die CO2-Konzentration (bei pCO2 40 mmHg) 1,25 mval/l. Daraus berechnet sich der normale pH-Wert wie folgt: 25 pH = 6,1 + log 5 + log 20 = 6,1 + 1,3 = 7,4 1,25 Die schwache Säure CO2 wird in großen Mengen im Stoffwechsel gebildet und durch die Atmung eliminiert, die damit die CO2Konzentration in der extrazellulären Flüssigkeit steuert. In wässerigen Lösungen ist CO2 wie andere Substanzen gelöst. Ein kleiner Bruchteil geht durch Reaktion mit H2O in H2CO3 über, das in H+ und HCO3– dissoziiert. Insofern kann CO2 als schwache Säure bezeichnet werden: CO2 + H2O → H2CO3 → H+ + HCO3– Bikarbonat wird in der Niere gebildet. Dort fällt es bei der Sekretion von H+ an (7 unten). Überschüsse werden von der Niere ausgeschieden. Der Bikarbonatpuffer hat eine große Kapazität, weil beide Komponenten nachgeliefert und eliminiert werden können. Normalerweise bleibt ein pH von 7,4 eingestellt. Die Bezeichnung Bikarbonatpuffer ist nicht ganz korrekt, weil nicht nur Bikarbonat, sondern auch CO2 an der Pufferung beteiligt ist. Es gilt folgendes Gleichgewicht: CO2 + H2O ←→ H+ + HCO3– Ein Anstieg von H+ durch eine starke Säure, z. B. HCl, verschiebt das Gleichgewicht nach links, verbraucht Protonen und setzt CO2 und H2O frei. Ein Abfall von H+ verschiebt das Gleichgewicht nach rechts, verbraucht CO2 und H2O und setzt Protonen und Bikarbonat frei. Phosphatpuffer: Seine Säurekomponente ist Dihydrogenphosphat, das durch Dissoziation von H+ in die Basenkomponente Hydrogenphosphat übergeht:
H2PO4– ←→ H+ + HPO4–– Bei einem pH von 6,8 sind Säure- und Basenkomponente in gleicher Konzentration vorhanden. Daraus ergibt sich intrazellulär, wo der Phosphatpuffer relativ hoch konzentriert ist, eine gute
275 3.3 · Störungen des Säure-Basen-Haushalts
Pufferbreite. Effektiv ist der Phosphatpuffer auch in der Tubulusflüssigkeit (7 unten), nicht dagegen im Plasma, das nur wenig Phosphat enthält. Proteine: Als Zwitterionen können sie Säuren und Basen binden. Im Blut dominiert die Pufferwirkung des intrazellulären Hämoglobins über die der Plasmaproteine bei weitem. Die Proteinpuffer werden vom Bikarbonatpuffer wieder abgelöst.
Respiratorische Säure-Basen-Regulation Die Atmung entfernt das im Stoffwechsel gebildete CO2 und reagiert auf pH-Änderungen im Blut mit einer kompensatorischen Senkung oder Erhöhung des arteriellen pCO2. Das geschieht mit einer Latenz von Minuten, aber mit einer Pufferkapazität, die doppelt so groß ist wie die der chemischen Puffer. Renale Regulation des Säure-Basen-Gleichgewichts Die im Stoffwechsel anfallenden mineralischen und organischen Säuren werden durch Bikarbonat neutralisiert, das die Protonen aufnimmt und danach in CO2 und H2O zerfällt. Den entstehenden Bikarbonatverlust gleicht die Niere durch Neubildung (Regeneration) von Bikarbonat aus. Damit der Verlust nicht noch größer wird, muss die Niere außerdem das glomerulär filtrierte Bikarbonat durch Rückresorption weitgehend zurückgewinnen. Diese Prozesse laufen im Nephron wie folgt ab: 4 Bikarbonatrückresorption im proximalen Tubulus: In den Tubuluszellen wird unter enzymatischer Mitwirkung von Carboanhydrase aus 1 CO2 und 1 H2O je 1 H+ und 1 HCO3– gebildet. Die Reaktion läuft schnell und ohne Entstehung von H2CO3 als Zwischenprodukt ab. Vielmehr wird aus dissoziiertem H2O das OH– direkt mit CO2 zu HCO3– vereinigt. Das Proton wird im Austausch gegen Na+ in die Tubulusflüssigkeit sezerniert und reagiert dort mit glomerulär filtriertem HCO3– zu H2CO3, das sofort in CO2 und H2O zerfällt. Das Bikarbonat tritt zusammen mit dem rückresorbierten Na+ in die peritubuläre Flüssigkeit über und gelangt von dort in den Kreislauf. Die Bikarbonatrückresorption erfolgt also indirekt, da die luminale Membran der Tubuluszellen für Bikarbonat impermeabel ist. Mit diesem Vorgang wird aber noch kein zusätzliches Bikarbonat gewonnen. 4 Bikarbonatproduktion (Regeneration) im proximalen Tubulus durch Sekretion von Ammonium: Glomerulär filtrierte Glutaminsäure wird von den Tubuluszellen aufgenommen. Danach werden die beiden Aminogruppen abgespalten, wobei pro Molekül 2 Moleküle NH4+ und ein Ion Alphaketoglutarat (abgekürzt AKG– –) entsteht. Dieses Ion bindet 2 H+ (zu AKG), die aus CO2 und H2O gebildet werden: 2 CO2+2 H2O → 2 H+ 2 HCO3–. Das entstandene NH4+ wird im Austausch gegen Na+ in die Tubulusflüssigkeit sezerniert, das Bikarbonat zusammen mit Na+ in die extrazelluläre Flüssigkeit rückresorbiert. Per Saldo sind aus einem Molekül Glutaminsäure 2 Bikarbonationen entstanden. Bei azidotischer Stoffwechsellage wird in den Körperzellen durch Proteolyse vermehrt
Glutaminsäure freigesetzt, aus der die Niere entsprechend mehr Bikarbonat regeneriert. 4 Bikarbonatproduktion durch Ausscheidung titrierbarer Säure im distalen Tubulus und Sammelrohr: In diesem Nephronabschnitt wird durch die Protonenpumpe in der luminalen Membran der Tubuluszellen aktiv H+ sezerniert, das wie im proximalen Tubulus aus CO2 und H2O entsteht. Das dabei produzierte Bikarbonat wird an die extrazelluläre Flüssigkeit abgegeben. In der Tubulusflüssigkeit reagiert H+ zunächst mit dem noch nicht rückresorbierten Bikarbonat und löst es in CO2 und H2O auf. Der größere Anteil der Protonen wird in der Tubulusflüssigkeit vom Phosphatpuffer gebunden: HPO4–– + H+ → H2PO4– Es folgt die Ausscheidung in den Urin als titrierbare Säure. Diese Bezeichnung ergibt sich daraus, dass beim Titrieren des sauren Urins mit NaOH bis pH 7,4 die Säuremenge ermittelt wird, die an Phosphatpuffer gebunden wurde. Säure-Basen-Bilanz Die im Stoffwechsel reichlich gebildete schwache Säure CO2 wird durch die Atmung eliminiert. Die außer CO2 gebildeten endogenen Säuren (darunter H2SO4) verbrauchen Bikarbonat das durch die Nieren ersetzt wird und zwar durch das Bikarbonat, das durch die Ausscheidung von Ammonium und von titrierbarer Säure produziert wird. Quantitativ sieht das wie folgt aus: Normalerweise werden pro Tag etwa 4320 mmol Bikarbonat glomerulär filtriert. Davon werden 97,7% rückresorbiert und nur 15 mmol mit dem Urin ausgeschieden. Die NH4+-Ausscheidung beträgt 60 mmol, die titrierbare Säure im Harn 30 mval. Daraus ergibt sich eine Nettosäureexkretion von 60+30– 15=75 mval. Diese Menge ist der Menge des regenerierten Bikarbonat gleichzusetzen, mit der die Nieren den Bikarbonatpuffer stabilisieren. 3.3.2 Metabolische Azidose Definition. Krankheitsprozess, der zu einem abnormen Absinken
des Plasmabikarbonats mit pH-Verschiebung zum Sauren (Azidämie) führt. Bei Patienten mit normaler Atmungsfunktion löst die metabolische Azidose eine kompensatorische Hyperventilation aus, die den pCO2 senkt und so den pH-Abfall abschwächt. Mit Ausnahme der renalen Kompensation einer respiratorischen Alkalose sind alle Hypobikarbonatämien pathologisch. Ätiologie und Pathogenese. Bei der Azidose wird endogen mehr
Säure produziert, als die Nieren ausscheiden können. Der Bikarbonatverbrauch ist größer als der Zufluss von regeneriertem Bikarbonat aus den Nieren. Klinisch gibt es die nachstehenden 4 Mechanismen, die eine Azidose verursachen.
3
276
Kapitel 3 · Krankheiten der Nieren und ableitenden Harnwege
Erhöhte Säureproduktion durch Störungen der Darmfunktion: In vielen Darmabschnitten unterhalb des Pylorus, ein-
3
schließlich Pankreas und Gallenblase, wird Bikarbonat sezerniert. Das wird in den sekretorischen Zellen durch die Reaktion CO2+H2O → H++HCO3– gebildet. Während das Bikarbonat in die Darmsekrete gelangt, treten die Protonen an der basolateralen Zellmembran in die extrazelluläre Flüssigkeit über und erhöhen deren Säuregrad. Diarrhöen und toxische Infektionen steigern die sekretorische Aktivität. Es kommt zu großen Bikarbonatverlusten und entsprechend starkem Protoneneinstrom in die extrazelluläre Flüssigkeit. Die Protonen werden durch extrazelluläres Bikarbonat gepuffert. Wenn dabei der Bikarbonatverbrauch größer wird, als die von den Nieren regenerierte Bikarbonatmenge, resultiert eine metabolische Azidose. Durch den gleichzeitigen Kaliumverlust und die vom Volumenverlust induzierte Aktivierung der Aldosteronsekretion entsteht zusätzlich eine Hypokaliämie. Erhöhte endogene Säureproduktion durch Stoffwechselstörungen: Der gesunde Körper produziert während des Tages
große Mengen organischer Säuren, z.B. 1000 mmol Milchsäure. Diese Säuren dissoziieren und bilden H+ und organische Anionen, z.B. Laktat. Die Protonen werden vom Bikarbonat abgefangen und die Anionen zu Bikarbonat abgebaut, so dass der Bikarbonatbestand erhalten bleibt. Bei manchen Krankheiten wird die Produktion organischer Säuren gesteigert, ohne dass der Anionenmetabolismus zu Bikarbonat Schritt hält. Dadurch sinkt im Plasma die Bikarbonatkonzentration, während die der Anionen steigt. Es kommt zur Azidose. Die Anionen werden glomerulär filtriert und da sie unvollständig rückresorbiert werden, gehen sie dem Körper als potenzielle Bikarbonatquelle verloren. Zwei typische Formen sind die Laktatazidose und die diabetische Ketoazidose. 4 Laktatazidose: Milchsäure ist ein Produkt des anaeroben Stoffwechsels und wird in verschiedenen Geweben gebildet, vor allem in der Muskulatur, im Gehirn und in den Erythrozyten. Laktat wird hauptsächlich in der Leber konsumiert. Zu hohem Laktatanfall kommt es bei Perfusionsstörungen der Gewebe, bei gestörtem Sauerstofftransport des Blutes und extremer Laktatbildung. Daraus ergibt sich, dass Laktatazidosen bei folgenden Krankheitszuständen auftreten: Herzund Kreislaufversagen, insbesondere Herzstillstand, schwere Sepsis, schwere Krampfanfälle, starke körperliche Anstrengung mit Dehydratation, CO-Intoxikation, Biguanidintoxikation, schwere Anämien, große Malignome mit anaerober Energiegewinnung (Lymphome, Haferzellkarzinome der Lunge). 4 Ketoazidose: Zu den Ketosäuren werden Acetessigsäure und ihr Derivat β-Hydroxybuttersäure gerechnet, obwohl letztere keine Ketogruppe besitzt. Aus Acetessigsäure entsteht durch Decarboxylierung Aceton, das bei Ketoazidose vermehrt gebildet wird und durch seinen Geruch auf die Störung aufmerksam macht, aber keine Säure ist. Diese werden zusammen als Ketonkörper bezeichnet. Die Ketosäuren werden in
der Leber aus Fettsäuren gebildet, in größeren Mengen aber erst, wenn die Leber mit Fettsäuren überflutet wird. Das ist bei Insulinmangel der Fall, weil wegen der gestörter Glukoseverwertung aus dem Fettgewebe Fettsäuren mobilisiert werden. Die Ketosäuren sind vollständig dissoziiert. Ihre Protonen verbrauchen extrazelluläres Bikarbonat, die Anionen zirkulieren im Blut, werden schlecht abgebaut, und im Urin ausgeschieden. Lebensbedrohliche schwere Ketoazidosen werden beim dekompensierten Diabetes mellitus beobachtet, in abgeschwächter Form beim Hunger bzw. Fasten (weil die Insulinsekretion gedrosselt ist) und bei Alkoholikern nach anhaltendem Erbrechen, das einen Hungerzustand bewirkt. Exogen verursachte Azidosen: Methanol und Ethylenglykol verursachen schwerste oft tödliche Azidosen. Methanol wird zu Ameisensäure oxidiert, Ethylenglykol über Glykolsäure zu Oxalsäure. Salicylate stimulieren das Atemzentrum und führen zur respiratorischen Alkalose. Bei schweren Intoxikationen schließt sich eine metabolische Azidose an, da Salicylat mit verschiedenen Enzymen interferiert und auf diesem Weg zur gesteigerten Produktion organischer Säuren führt. Renale Störungen der Säureausscheidung Niereninsuffizienz: Ausschlaggebend für die Entstehung der re-
nalen Azidose ist der Verlust an Nephronen. In erster Linie ist die Bildung von Ammonium herabgesetzt, die bei metabolischen Azidosen kompensatorisch um ein vielfaches gesteigert werden kann. Damit entfällt eine ausreichende Regeneration von Bikarbonat für die Pufferung endogener Säuren. Renale tubuläre Azidose Typ 1: distale renale tubuläre Azidose (RTA): Gestört ist die aktive H+-Sekretion im distalen Tubulus
und Sammelrohr und damit auch die Rückresorption des in diesen Abschnitt gelangenden Bikarbonats. Durch die verminderte Ausscheidung titrierbarer Säure wird die Bikarbonatregeneration stark herabgesetzt. Verschiedene Ursachen sind möglich: Schwäche der Protonenpumpe, Rückdiffusion von Protonen durch undichte Zwischenleisten, Defekt der H+-K+-ATPase, die Protonen im Austausch gegen K+ sezerniert. Folgen: Schwere Hypobikarbonatämie (oft 5,5. Serumkalium niedrig oder normal. Glomeruläre Funktion relativ normal. Die Ca++-Rückresorption ist herabgesetzt, die Knochen als Puffer setzen Ca++ frei. Da Citrat vermindert ausgeschieden wird, kommt es leicht zur Nierensteinbildung, bei Kindern zur Rachitis. Vorkommen: Bei Kindern hereditär, bei Erwachsenen oft mit Sjögren-Syndrom und rheumatoider Arthritis assoziiert, bei Nephrokalzinose und durch Amphotericin B. Renale tubuläre Azidose Typ 2: proximale RTA: Die Rückresorptionskapazität des proximalen Tubulus für Bikarbonat ist ernied-
277 3.3 · Störungen des Säure-Basen-Haushalts
rigt, so dass bei einem normalem Plasmaspiegel von 26–28 mmol viel Bikarbonat im Urin ausgeschieden wird. Erst wenn das Plasmabikarbonat durch den Bikarbonatabfluss auf 14–20 mmol/l gesunken ist, wird die Rückresorptionsquote normal. Im distalen Tubulus muss dann nicht mehr viel Bikarbonat rückresorbiert werden, so dass sich die Ausscheidung titrierbarer Azidität zur Regeneration von Bikarbonat normalisiert. Auf niedrigem Niveau des Plasmabikarbonats tritt ein Gleichgewicht ein, so lange keine exogene Bikarbonatzufuhr erfolgt. Die glomeruläre Funktion ist relativ normal. Es resultiert eine hyperchlorämische Azidose mit einem Plasmabikarbonat von 15–20 mmol/l und normalem oder leicht erniedrigtem Serumkalium. Während der Bikarbonaturie ist der Urin alkalisch im Gleichgewichtszustand beträgt der pH 150 g/Tag, Fett zur Ergänzung des Kalorienbedarfs. Behandlung der Hyperkaliämie: Sofortmaßnahme bei Werten über 6,0 mval/l: intravenöse Gabe von Bikarbonat (44 mval in 5 min) oder Infusion von 200 ml einer 20%igen Glukoselösung mit 20–30 E Insulin. Kalium wird dadurch in den intrazellulären Raum verschoben, aber nicht eliminiert. Schnell wirksam ist auch die Injektion von 10 ml einer 10%igen Calciumchloridlösung (Membranstabilisierung gegen Hyperkaliämieeffekt). Der permanente Anstieg des Kaliums im Serum kann durch orale Gaben von Calcium-Resonium verzögert werden, das auch als rektaler Einlauf effektiv ist. Schnell und sicher wirkt die Nierenersatztherapie. Azidosebehandlung: Nur bei Absinken des Serumbikarbonats auf Werte unter 15 mmol/l bzw. einem arteriellen pH unter 7,2 erforderlich. Da Bikarbonat die extrazelluläre Flüssigkeit vermehrt, darf es nur mit Vorsicht substituiert werden. Nierenersatztherapie: Die Indikationen sind in . Tab. 3.2 aufgeführt. Heutzutage wird die Nierenersatztherapie beim oligurischen Nierenversagen eher frühzeitig eingesetzt (Harnstoff >100 mg/dl), um bald eine hochkalorische Ernährung ohne Eiweißrestriktion durchführen zu können. Methoden der Nierenersatztherapie: Man hat die Wahl zwischen Hämofiltration, Hämodiafiltration und Peritonealdialyse. Beim ANV kommen hauptsächlich die kontinuierliche venovenöse Hämofiltration (CVVH) oder die kontinuierliche venovenöse Hämodiafiltration (CVVHD) zum Einsatz (. Abb. 3.5). Die Hämodialyse wird unter fortlaufender Antikoagulation mit einer Heparininfusion (500–1000 IE/Std.) durchgeführt. Der Gefäßzugang erfolgt dabei mit einem in der V. jugularis oder V. subclavia platzierten doppellumigen Katheter. Das entnommene Blut wird mit einer Pumpe umgetrieben, die den hydrostatischen Druck für die Filtration durch die semipermeable Membran des Hämofilters erzeugt. Bei der CVVH wird das Ultrafiltrat verworfen und durch
. Tabelle 3.2. Indikationen zur Nierenersatztherapie beim akuten Nierenversagen Anurie >12 Stunden trotz konservativer Therapie Hyperkaliämie >6,5 mval/l Überwässerung mit interstitiellem Lungenödem Serumharnstoff >180 mg/dl Serumkreatinin >6,8 mg/dl Symptome der Urämie: Übelkeit Erbrechen Somnolenz Krampfanfall Koma Blutungsneigung Metabolische Azidose mit pH 500 mg/Tag sprechen für eine Glomerulonephritis. Blutungsquelle mit normal geformten Zellen können Nephrolithiasis, Nierentumoren, Blasenpapillome oder -karzinome sein. Makrohämaturie: Vorkommen bei Blasentumoren und Gerinnungsstörungen (Antikoagulation). Leukozyten
Normal 4–5 Leukozyten im Blickfeld (Mittelstrahlurin).Quantitative Bestimmung in der Zählkammer (normal etwa 5/μl. Leukozytenvermehrung (Pyurie) ohne Bakterien bei Nieren und Blasensteinen, Analgetikanephropathie, chemischer Zystitis und Glomerulonephritis. Zylinder Formen sich im distalen Tubulus- und Sammelrohrsystem, wo Flussrate und pH niedrig und die Osmolarität hoch sind. Matrix ist das im distalen Tubulus sezernierte Tamm-Horsfall-Mukoprotein. Es hält die Partikel innerhalb des Zylinders zusammen: 5 Hyaline Zylinder: Reines Mukoprotein, auch im normalen Harn, nach Anstrengungen, bei Fieber und Gabe von Schleifendiuretika vermehrt. 5 Granulierte Zylinder: Feine Granulation aus aggregierten Proteinen; ihr Vorkommen ist ähnlich wie bei den hyalinen Zylindern. Grobe Granulation entsteht durch Zelldetritus und ist pathologisch (chronische proliferative oder membranöse Glomerulonephritis, diabetische Nephropathie, Amyloidose). 5 Fettzylinder: Vorkommen beim nephrotischen Syndrom (doppelbrechende Substanzen). 5 Erythrozytenzylinder: Pathognomonisch für glomeruläre Blutung (akute Glomerulonephritis, Vaskulitis, maligne Hypertonie). 5 Epithelzellzylinder: Unregelmäßig aneinander gereihte Tubulusepithelien, die bei akuter tubulärer Nekrose vorkommen.
abnorm reichliches Vorkommen in frischem, warm gehaltenen Urin. Urate sind ein normaler Bestandteil ohne Aussagewert. Bakteriologische Untersuchung Uringewinnung: Zu verwenden ist frischer Mittelstrahlurin, evtl. Katheterurin. Keimzählung: Eine signifikante Bakteriurie liegt vor, wenn der Harn mehr als 100.000 Keime/ml enthält. Kulturelle Untersuchung: Keimidentifizierung und Antibiogramm. Osmolarität bzw. spezifisches Gewicht Diagnostische Bedeutung: Wichtig zur Bestimmung des Konzentrations- und Verdünnungsvermögens der Nieren, die bei tubulären Störungen herabgesetzt sind. Konzentrationsversuch: Ein spez. Gewicht des Morgenurins von >1027 zeigt eine normale Nierenfunktion. Tagsüber sollte dieser Wert unter Flüssigkeitsentzug bei stündlicher Kontrolle erreicht werden. Andernfalls liegt eine Hyposthenurie vor. Konstanz des spez. Gewichts bei 1010 bedeutet Isosthenurie. Verdünnungsversuch: Das spez. Gewicht kann maximal auf 1001 (33 mosmol/l) gesenkt werden. Nach Blasenentleerung werden in 30 min 1500 ml Tee getrunken. Danach wird halbstündlich das spez. Gewicht des Urins bestimmt. 3.5.2 Untersuchung der Nierenfunktion Retention harnpflichtiger Substanzen Harnstoff und Kreatinin: Bei herabgesetzter Nierenfunktion werden Kreatinin und Harnstoff im Blut retiniert. Normalwerte:
4 Kreatinin: männlich: 0,7–1,2 mg/dl; weiblich: 0,6–1,1 mg/ dl. 4 Harnstoff: männlich und weiblich 10–50 mg/dl. Da mit einem Konzentrationsanstieg beider Parameter im Plasma auch ihr tubuläre Load zunimmt, kommen Produktion und Ausscheidung vorübergehend ins Gleichgewicht. Man hat dafür den Ausdruck kompensierte Retention verwendet. Die Serumkonzentrationen von Kreatinin und Harnstoff sind jedoch erst bei deutlich eingeschränkter Nierenfunktion erhöht und steigen danach mit fortschreitendem Schwund funktionstüchtiger Nephrone überproportional an. Speziell das Serumkreatinin ist deshalb kein Gradmesser für die Nierenfunktion. Cystatin C: Das Peptid (MG 13 kD) ist ein Inhibitor der Cystein-Protease, das sich durch konstante Bildungsrate auszeichnet. Es wird von der gesunden Niere filtriert, tubulär resorbiert und abgebaut. Die Serumkonzentration hängt daher ausschließlich
293 3.5 · Diagnostische Methoden
von der glomerulären Filtrationsrate ab. Die Cystatin-C-Bestimmung erlaubt die Erfassung geringer (bis ca. 50%) Einschränkungen der Nierenfunktion, die noch zu keinem Anstieg der Kreatininkonzentration im Serum führen. Normalbereich: 90% (Kreatinin 7. Optimale Blutdruckeinstellung. Bei terminaler renaler Insuffizienz Nierenersatztherapie.
Therapie. Nach Beseitigung der Hyperkalzämie tritt meistens
Hyperkalzämische Nephropathie Akute Hyperkalzämie Klinik. Bei hyperkalzämischen Krisen (Serumcalcium >7,5 mval/l) kommt es neben den Symptomen wie Übelkeit, Erbrechen, Muskelschwäche, Hypertonie, Lethargie, Tachykardie und Fieber zu einer rasch fortschreitenden Niereninsuffizienz, der folgende (potenziell reversible) Effekte der Hyperkalzämie zugrunde liegen: renale Vasokonstriktion mit Abfall der glomerulären Filtrationsrate, Natriurese durch Hemmung der Na+-Rückresorption im proximalen Tubulus, Herabsetzung der Konzentrationsfähigkeit durch Hemmung der Cl–-Rückresorption im aufsteigenden Schenkel der Henle-Schleife und der ADH-Wirkung auf die Sammelrohre. Trotz der damit verbundenen Dehydratation kann der Urin hypoton sein. Im Verlauf ist zusätzlich mit obstruierenden intratubulären Calciumniederschlägen zu rechnen. Vorkommen. Bei metastasierenden Tumoren, seltener bei primärem Hyperparathyreoidismus.
Chronische Hyperkalzämie Pathogenese. Die Schädigung der Nieren beginnt mit intratubulären und intrazellulären Kalkablagerungen, besonders in den Basalmembranen und Mitochondrien, später auch im Interstitium der Henle-Schleifen und Sammelrohre, wo die Calciumkonzentration am höchsten ist. Im Verlauf werden auch der pro-
eine Besserung der Funktionsstörungen ein. 3.7.4 Neoplasmatische Nephropathien Myelomniere und L-Ketten-Nephropathie Beim Myelom, der unlimitierten neoplastischen Plasmazellenproliferation, kommt es in über 50% der Fälle zu Nierenläsionen und in etwa 25% der Fälle zur terminalen Niereninsuffizienz. Hauptursache der Nierenschädigung sind überschüssig gebildete monoklonale L-Ketten, die glomerulär filtriert und in die Tubuluszellen rückresorbiert werden, wo sie toxische Wirkungen entfalten können. Der Grad der Nephrotoxizität hängt von der speziellen Struktur der L-Ketten ab und ist beim λ-Typ ausgeprägter als beim κ-Typ. Manche L-Ketten sind für die Tubuli auch in hoher Konzentration unschädlich. Toxische L-Ketten führen zur progredienten Tubulusatrophie mit einer Ansammlung mehrkerniger Riesenzellen in der Tubuluswand und im Interstitium. Die funktionellen Auswirkungen sind Störungen der Konzentrationsfähigkeit und Säureausscheidung sowie spezifische Defekte der tubulären Rückresorption mit Glukosurie, Phosphaturie, Kaliurie und Aminoazidurie (Fanconi-Syndrom des Er-
wachsenen). Schließlich tritt eine progrediente Azotämie auf. Weitere Nierenläsionen bewirken die mit dem Bence-Jones-Protein identischen L-Ketten durch ihre Präzipitation zu Eiweißzylindern im Tubuluslumen. Hinzu kommt in manchen Fällen die Bildung von primärem Amyloid aus L-Ketten mit glomerulärer
309 3.7 · Tubulointerstitielle Nierenerkrankungen
Schädigung und unselektiver großer Proteinurie (7 oben), während sonst überwiegend Albumin und L-Ketten im Harn ausgeschieden werden. Nierenschädigungen auf indirektem Wege entstehen beim Myelom durch Hyperkalzämie, Nephrokalzinose und Hyperurikämie. Die erhöhte Infektanfälligkeit der Kranken führt nicht selten zur sekundären Pyelonephritis. In fortgeschrittenen Stadien kann die Nierenfunktion durch diffuse Infiltrate aus Plasmazellen beeinträchtigt sein. Den monoklonalen Gammopathien unbestimmter Signifikanz liegt eine limitierte neoplastische Plasmazellenproliferation ohne Knochendestruktionen zugrunde. Sie können über viele Jahre stabil bleiben, gehen dann aber nicht selten in ein Myelom über. Schon vorher kann die Produktion toxischer L-Ketten zu tubulären Schädigungen führen, die denen beim voll ausgeprägten Myelom entsprechen. Manche L-Ketten bilden Amyloid, das im Mesangium abgelagert wird und ein nephrotische Syndrom hervorruft. Nephropathien bei Lymphomen und Leukämien Lymphome gehen in etwa der Hälfte der Fälle mit multiplen fokalen oder diffusen Tumorzellinfiltraten im Nierenparenchym einher. Die Nieren können dadurch deutlich vergrößert sein. Niereninsuffizienz und Urämie resultieren jedoch relativ selten. Leukämische Infiltrationen der Nieren werden autoptisch in mehr als 50% der Fälle bei den verschiedenen Leukämietypen gefunden. Bei monozytären Leukämien kann es durch tubuläre Defekte zu starken Kalium- und Magnesiumverlusten kommen. Sekundären Schädigungen sind die Nieren bei Leukämien durch Hyperurikämie, Hyperkalzämie und nephrotoxische Chemotherapeutika ausgesetzt. Auch eine interstitielle Nephritis durch Strahlenschädigung kommt vor. 3.7.5 Hereditäre tubuläre Erkrankungen Zystennieren (Polyzystische Nierenkrankheit) Häufigkeit. Mit einem Fall auf 500–1000 Lebendgeburten sind die Zystennieren zahlenmäßig bedeutsam. Ihre Häufigkeit unter den Patienten mit terminaler Niereninsuffizienz beträgt 10–12%. Ätiologie und Pathogenese. Der Erwachsenentyp der polyzystischen Nierenkrankheit wird autosomal dominant, der seltene, hier nicht zu behandelnde frühkindliche Typ autosomal rezessiv vererbt. Der genetische Defekt ist am kurzen Arm des 16. Chromosoms lokalisiert. Die Zystenbildung erfolgt in allen Nephronabschnitten, symmetrisch in beiden Nieren, und verläuft von Geburt an progredient. Dabei nimmt das Nierenvolumen oft um ein Mehrfaches zu. An der voll ausgebildeten Zystenniere schwankt der Zystendurchmesser zwischen 1 Millimeter und mehr als 5 Zentimetern (. Abb. 3.26). Unter dem Druck der Zysten nimmt das normale Nierengewebe kontinuierlich ab. Einblutungen in die Zysten, Zystenperforationen und Infektionen, sowie sekundäre Steinbildung kommen vor. Das Stadium
. Abb. 3.24. Polyzystische Nierenkrankheit. 58-jährige Frau mit massiver Zystenbildung in beiden Nieren und in der Leber (Sammlung S. Schneider, ATOS-Klinik Heidelberg)
der terminalen Niereninsuffizienz wird meistens im 5. oder 6. Lebensjahrzehnt erreicht. Bis zum 80. Lebensjahr ist die Expressivität der Erbanlage 100%ig. Als assoziierte Fehlbildungen werden Leberzysten(30–50%), Pankreaszysten (10%), Milzzysten (5%) und intrakraniale Aneurysmen (6–10%) beobachtet (. Abb. 3.24). Klinik. Symptome können bis zum Stadium der Niereninsuffizienz
ausbleiben. Völlegefühl im Abdomen und Flankenschmerz bei starker Nierenvergrößerung und Uretherverschluss durch Konkremente oder Koagula. In 50–80% der Fälle sekundäre Hypertonie. Geringe Proteinurie und intermittierende Hämaturie als erster Hinweis auf eine Nierenerkrankung in 25–50% der Fälle. Erhöhte Anfälligkeit der Nieren gegen aszendierende und hämatogene Infektionen. Die Hälfte der Patienten mit normalem Serumkreatinin ist nach 5 Jahren azotämisch. Bis zur Dialysebedürftigkeit vergehen 8–13 Jahre nachdem die Diagnose gestellt wurde. Eine renale Anämie tritt ungewöhnlich spät oder gar nicht auf. Eine erhöhte Disposition zu Malignomen der Nieren besteht nicht. Diagnostik. Etwa 60% der Patienten haben bei der ersten Untersuchung palpable Nieren. Sicherer Nachweis der Zysten im Oberbauchsonogramm, auch durch intravenöse Pyelographie mit Tomographie. Wenn das Sonogramm bis zum 20. Lebensjahr unauffällig bleibt, scheidet die Diagnose Zystennieren mit hoher Wahrscheinlichkeit aus. Zur Diagnose tragen familiäre Belastung sowie der Zystennachweis in anderen Organen bei.
3
310
Kapitel 3 · Krankheiten der Nieren und ableitenden Harnwege
Therapie und Verlauf. Die Progredienz ist durch keine Maßnah-
men aufzuhalten, die Behandlung daher symptomatisch. Dialyse oder Transplantation im Endstadium der Niereninsuffizienz. Häufige Todesursachen sind Sepsis und zerebrale Blutungen.
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Markzystenerkrankung (Nephronophthisis) Pathogenese. Genetisch heterogene, sehr seltene Erkrankung
mit übereinstimmenden morphologischen Nierenveränderungen. Die rezessiv erbliche Variante führt vor dem 20. Lebensjahr zur Niereninsuffizienz, die dominante erst bei Erwachsenen. Etwa 20% der Fälle treten sporadisch auf. Klinik. Im Gegensatz zu den Zystennieren sind die Nieren durch Atrophie (»Phthise«) verkleinert. Sie weisen an der RindenMarkgrenze Zysten von 1–5 mm Durchmesser auf. Die meisten Glomeruli sind ganz oder teilweise hyalinisiert. Die kortikalen Tubuli haben ein atrophisches oder undifferenziertes Epithel. Diagnostik. Die Diagnose ergibt sich aus der Familienanamnese und dem Nachweis der Nierenveränderungen durch Sonographie, i.v. Pyelographie, evtl. auch Computertomographie. Therapie. Das Endstadium erfordert Dialysebehandlung oder Transplantation.
Markschwammniere Pathogenese. Hereditäre Anomalie der Sammelrohre in den Markpyramiden und Papillen mit autosomal dominantem Erbgang, die meistens sporadisch auftritt und die Nieren segmental, diffus, unilateral und bilateral befallen kann. Man beobachtet sie in 0,5% aller Pyelogramme. Die terminalen Sammelrohre der betroffenen Nephrone sind erheblich erweitert, nahe der Papillenspitze bis zu zystischen Dimensionen und enthalten häufig Calciumoxalatkonkremente in großer Zahl. Die Nieren bekommen dadurch ein schwammiges Aussehen, behalten aber ihre normale Form, während die Größe etwas zunehmen kann. Intrarenale Obstruktionen führen zu sekundären Parenchymveränderungen, doch kommt es nicht zur Niereninsuffizienz. Klinik. Die Markschwammniere bleibt oft lange symptomlos. Klinische Manifestationen treten entweder schon im Adoleszentenalter oder erst nach dem 4. Lebensjahrzehnt auf. Am häufigsten sind rezidivierende Nierenkoliken (60%), gefolgt von Harnwegsinfektionen (35%) und Hämaturien (30%). Diagnostik. Die Diagnose wird durch die Röntgenuntersuchung
gestellt. Oft zeigt die Nativaufnahme multiple bilaterale Verkalkungen im Papillenbereich. Bei der i.v. Pyelographie füllen sich als erstes Hohlräume in den Papillen und dann die Nierenbeckenkelche. Therapie und Verlauf. Die Behandlung erfolgt symptomatisch, bei Hyperkalziurie mit Thiaziden. Dehydratation ist zu vermei-
den. In der Regel ist die Lebenserwartung der Patienten nicht eingeschränkt. Einfache Nierenzysten Pathogenese. Eine oder mehrere Nierenzysten kommen mit zunehmendem Alter häufig vor, jenseits des 50. Lebensjahres fast bei jedem zweiten Untersuchten. Man hält sie für eine erworbene Anomalie, die sich vermutlich aus Divertikeln der distalen Tubuli und Sammelrohre entwickelt. Aus Autopsiestatistiken schon bekannt, wurde die große Häufigkeit der Nierenzysten dem Kliniker erst seit der routinemäßigen Anwendung der Oberbauchsonographie vor Augen geführt. Die Zysten enthalten ein Ultrafiltrat des Plasmas ohne mit den Harnkanälchen zu kommunizieren. Die Zysten können dünn- oder dickwandig sein, manche sind von Trabekeln durchzogen oder multilokulär. Verkalkungen der Zystenwand kommen vor. Die maligne Entartung ist selten. Einfache Zysten sind am häufigsten in der Rinde lokalisiert und verursachen eine Vorwölbung der Nierenkapsel, können aber auch in tieferen Rindenzonen und im Mark liegen, ohne die Nierenoberfläche zu verändern. Von diesen Parenchymzysten, sind die parapelvinen oder Sinuszysten zu unterscheiden, die sich sonographisch vom Parenchym abgrenzen lassen und zum Nierenbecken hin vorwölben. Bei den Kelchzysten handelt es sich um kongenitale Kelchdivertikel. So lange man die vorhandenen Zysten zählen kann, liegt keine polyzystische Nierenkrankheit vor. Bei den Nierenzysten fehlen auch familiäre Belastung und Niereninsuffizienz. Diagnostik. Eine sichere Diagnose gelingt mit der Sonographie in 95% der Fälle. Zur Abgrenzung gegen Nierentumoren, die wichtig ist, dienen die folgenden sonographischen Kriterien: 4 runde oder ovaläre Gebilde mit echofreiem Binnenraum 4 scharfe Begrenzung 4 dorsale Schallverstärkung 4 Kompressionseffekt auf Nachbarorgane.
Hereditäre tubuläre Defekte Renale tubuläre Azidosen Siehe unter Störungen des Säure-Basen-Haushalts (7 Kap. 3.3). Defekte des Phosphat- und Calciumtransports Vitamin-D-resistente Rachitis: X-chromosomal dominanter erblicher Defekt des proximalen Tubulus mit einer selektiven Störung der Phosphatrückresorption im Bereich des Bürstensaumes. Zugleich ist die Bildung von 1,25(OH)2D3 in den Tubuluszellen dem Grad der Hypophosphatämie nicht adäquat. Die Hypophosphatämie hemmt die Aktivität der Osteoblasten, der relative Mangel an 1,25(OH)2D3 die Verkalkung des Osteoids. Das Serumcalcium ist normal oder leicht erniedrigt. Folglich besteht kein oder nur ein leichter sekundärer Hyperparathyreoidismus. Klinisch fehlen dementsprechend die Muskelschwäche und Tetanie der Vitamin-D-Mangel-Rachitis. Männliche Merkmalsträger erkranken schwerer als weibliche.
311 3.7 · Tubulointerstitielle Nierenerkrankungen
Die Manifestation erfolgt überwiegend bei Kleinkindern nach dem 1. Lebensjahr (Zurückbleiben des Längenwachstums an den Beinen, Zahnanomalien, Schädeldeformierungen, geringer Befall von Wirbelsäule, Armen, Rippen und Becken). Bei der Manifestation im Erwachsenenalter (meistens sporadische Fälle) entsteht eine Osteomalazie; hier fehlen die Stigmata einer im Kindesalter durchgemachten Rachitis. Die Behandlung erfolgt mit oraler Phosphatzufuhr, ergänzt durch 1,25(OH)2D3, das zur Vermeidung einer Hyerkalzämie sorgfältig dosiert werden muss. Vitamin-D-abhängige Rachitis Typ I: Autosomal-rezessiv erblicher Defekt der 1α-Hydroxylase in den proximalen Tubuluszellen, die 25-(OH)D3 in das wirksame 1,25(OH)2D3 überführt. Das Krankheitsbild gleicht dem des exogenen Vitamin-D3-Mangels. Es beginnt im 2. Lebensjahr und ist durch Hypophosphatämie, Hypokalzämie und sekundären Hyperparathyreoidismus gekennzeichnet. Die Behandlung muss mit 1,25(OH)2D3 erfolgen und ist ausgezeichnet wirksam. Vitamin D-abhängige Rachitis Typ II: Autosomal-rezessiv erbli-
cher, sehr seltener Defekt der die Rezeptoren des 1,25(OH)2D3 betrifft. Im Gegensatz zum Typ I ist der Serumspiegel des 1,25(OH)2D3 erhöht. Klinisch besteht bei sonst ähnlichem Krankheitsbild oft noch eine Alopezie. Eine erfolgreiche Behandlung ist mit sehr hohen Dosen von Dihydroxyvitamin-D3, kombiniert mit Mineralersatz möglich. Defekte des Aminosäurentransports Hartnup-Syndrom: Defekt des Carrier-Systems für MonoaminoMonocarboxyl-Aminosäuren (Methionin, Tryptophan, Histidin) im Bürstensaum des proximalen Tubulus und des Dünndarms mit autosomal-rezessivem Erbgang. In Form von Oligopetiden können diese Aminosäuren resorbiert werden, so dass nur bei Eiweißmangel oder starkem Eiweißverbrauch klinische Symptome auftreten. Sie entstehen durch Tryptophanmangel, der zu defizitärer Nikotinamidbildung mit pellagraähnlichen Hauterscheinungen, zerebellärer Ataxie, psychiatrischen Störungen und geistiger Retardierung führt. Im Harn werden alle Aminosäuren dieser Gruppe vermehrt ausgeschieden. Zufuhr von reichlich Eiweiß und Nikotinamid gleicht die Störung aus. Cystinurie: Defekt des Carrier-Systems für Diamino-Aminosäu-
ren (Cystin, Lysin, Arginin, Ornithin) mit autosomal-rezessivem Erbgang, teilweise auch mit autosomal-inkomplett rezessivem Erbgang. Er betrifft wie beim Hartnup-Syndrom den intestinalen und den renalen Bürstensaum. Die vermehrte Ausscheidung von Cystin in den Harn führt im 2. bis 3. Lebensjahrzehnt, manchmal schon bei Kindern, zur Cystinsteinbildung in den ableitenden Harnwegen (Nierenbecken, Urether, Harnblase) mit obstruktiver Uropathie und sekundären Infektionen und kann eine Niereninsuffizienz zur Folge haben. Therapeutisch wirksam sind große Trinkmengen (4 l/Tag) und rigorose Alkalisierung des Harns durch Bikarbonat und Azetazolamid.
Defekte des Hexosetransports Renale Glukosurie: Autosomal-rezessiv erblicher Defekt, der isoliert die Glukoserückresorption im proximalen Tubulus betrifft, nicht dagegen die intestinale Glukoseresorption. Die Schwellenkonzentration des Blutzuckers, bei der die Harnzuckerausscheidung beginnt, ist herabgesetzt. Dabei kann das tubuläre Transportmaximum erniedrigt oder normal sein. Diagnostische Kriterien: Glukosurie ohne Hyperglykämie, normaler oraler Glukosetoleranztest. Die Harnzuckerausscheidung kann zwischen 0,5 und >100 g/Tag variieren und gelegentlich Polyurie und Polydypsie verursachen. Glukose-Galaktose-Malabsorption: Autosomal-rezessiv erblicher Defekt der intestinalen Resorption von Glukose und Galaktose, der mit einer renalen Glukosurie bei normalen Plasmaglukosewerten einhergeht. Es handelt sich um ein anderes Transportsystem für Hexosen als bei der klassischen renalen Glukosurie. Die Zuckerausscheidung in den Harn ist weniger schwer, weil das Transportsystem der klassischen renalen Glukosurie funktioniert. Bei den betroffenen Säuglingen stehen wässrige Diarrhöen und Dehydratation im Vordergrund des klinischen Bildes. Sie sprechen auf kohlenhydratfreie Ernährung oder Substitution der Kohlenhydrate durch Fruktose an. Mit zunehmendem Alter bessern sich die Glukose- und Galaktosetoleranz spontan.
Nephrogener Diabetes insipidus Pathogenese. Defekt des distalen Nephrons, der selektiv die Ansprechbarkeit auf ADH betrifft. Bei der X-chromosomal-rezessiven Form weisen die Männer ein total ADH-refraktäres distales Nephron auf, bei den heterozygoten Frauen ist die ADH-Wirkung nur abgeschwächt. Der Defekt betrifft wahrscheinlich die Indukion der cAMP-Bildung durch ADH und bewirkt bei den betroffenen Männern, dass die Harnosmolalität nicht über die des Plasmas steigt (300 mosmol/l). Heterozygote Frauen können den Harn bis 800 mosmol/l konzentrieren. Klinik. Polyurie (>50 ml/kg KG), verursacht durch Polydipsie. Schlafstörungen infolge Nykturie (7 Kap. 6). Diagnostik. Die Diagnose ergibt sich aus dem Durstversuch unter Kontrolle der Harnosmolalität. Therapie. Therapeutisch reicht bei leichteren Fällen die orale Hy-
dratation aus. In schweren Fällen sind Salzbeschränkung und Thiaziddiuretika indiziert.
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Kapitel 3 · Krankheiten der Nieren und ableitenden Harnwege
3.8
Ischämische Nephropathien Ischämische Nephropathien
Flankenschmerz, Leukozytose und Hämaturie. Schock bei hämorrhagischem Infarkt und Ruptur. Bei Erwachsenen unerwartete akute oder subakute Verschlechterung der Nierenfunktion, Zunahme der Proteinurie bei nephrotischem Syndrom.
Akute ischämische Tubulusnekrose 5 Prärenales akutes Nierenversagen
Diagnostik. Durch MR-Angiographie oder selektive Venogra-
phie. Vaskuläre ischämische Läsionen 5 Nierenarterienverschluss 5 Nierenvenenthrombose 5 Benigne arterioläre Nephroangiosklerose 5 Maligne arterioläre Nephroangiosklerose 5 Renale Manifestation der Sklerodermie 5 Hämolytisch-urämisches Syndrom (HUS)
3.8.1 Akute ischämische Tubulusnekrose Prärenales akutes Nierenversagen Siehe 7 Kap. 3.4.1. 3.8.2 Vaskuläre ischämische Läsionen Nierenarterienverschluss Ursachen. Lokale Thrombose (Atherosklerose, Trauma), Dissektion der Nierenarterie, Thromboembolie (Quellen: linkes Herz, Aorta, aus Beinvenen über offenes Foramen ovale), Atheroembolie (Cholesterinembolie aus Atheromen nach Ruptur durch Katheter oder spontan), chronische Nierenarterienstenose (7 Kap. 1.5.5). Klinik. Bei akuter Thrombose mit Infarkt Flankenschmerz, Fieber, Hämaturie, Leukozytose, Übelkeit, Erbrechen, Anstieg der GOT und LDH im Serum. Bei bilateraler Embolie Oligurie und Nierenversagen. Bei protrahiertem Verschluss progrediente Azotämie mit und ohne Hypertonie. Diagnostik. Nachweis durch Farbduplexsonographie, MR-Angiographie oder Arteriographie. Therapie. Operative Revaskularisierung, Ballondilatation mit
Stentimplantation, Antikoagulation. Hypertoniebehandlung bei einseitigem Verschluss mit ACE-Inhibitoren. Nierenvenenthrombose
Therapie. Antikoagulation bis zur spontanen Rekanalisierung, evtl. Thrombolysetherapie. Bei großen Infarkten Nephrektomie.
Benigne arterioläre Nephroangiosklerose Verursacht durch chronische Hypertonie. Tritt altersunabhängig auf (. Abb. 3.25). Die Gefäßveränderungen bestehen in einer Verengung der kleinen Arterien und Arteriolen durch hyaline Verdickung der ganzen Gefäßwand, die im Querschnitt als homogener eosinophiler Ring erscheint. Fibröse Verdickung und Elastikaaufsplitterung in den größeren intrarenalen Arterien. Die Nierengröße nimmt im Verlauf ab, bei 30% der Fälle erheblich. Viele Glomeruli sind normal, andere klein und ischämisch, einige total sklerosiert. Es überwiegt die ischämische Tubulusschädigung mit fleckförmiger Atrophie und Dilatation der Tubuli sowie mit interstitieller Fibrose. Renaler Plasmastrom und glomeruläre Filtrationsrate nehmen ab, womit die Funktionsreserve der Nieren kleiner wird. Übergänge in ein dialysepflichtiges Nierenversagen kommen vor. Therapeutisch ist der Blutdruck auf 130/80 mmHg zu senken. Maligne arterioläre Nephroangiosklerose Ist eine Komplikation schwerer primärer und sekundärer Hypertonien, gekennzeichnet durch Fibrinablagerung und Nekrose in der Wand der Arteriolen ohne Ansammlung von Entzündungszellen (fibrinoide Nekrose) und durch Endothelproliferation mit konzentrischer Kollagenablagerung in den interlobulären Arterien und den afferenten Arteriolen (proliferative Endarteriitis). Die Tubuli zeigen ischämische Atrophie bzw. Infarzierung und werden durch Bindegewebe ersetzt, das entzündlich infiltriert ist. Nur etwa jeder dritte Glomerulus ist betroffen (im Gegensatz zur Glomerulonephritis), teils mit Schlingennekrosen, teils mit fibrinoider Durchtränkung der Kapillarschlingen. Je nach Krankheitsdauer sind die Nieren normal groß oder verkleinert. Durch diese Nierenveränderungen wird die Hypertonie maligne. Es kommt zu einer rasch progredienten Niereninsuffizienz mit Urämie, die nur durch intensive antihypertensive Therapie aufgehalten werden kann und teilweise reversibel ist.
Ursachen. Traumen, Kompression (Lymphknoten, Aortenaneu-
rysmen), Tumorinvasion, nephrotisches Syndrom, Schwangerschaft, bei Kindern Dehydratation). Klinik. Bei akuter doppelseitiger Thrombose (vorwiegend bei Kindern) plötzliches Nierenversagen mit Oligurie, dazu Fieber,
Renale Manifestationen der Sklerodermie Betroffen werden bis zu 50% der Patienten, meistens nach mehrjährigem Bestehen der akralen Hautveränderungen mit Raynaud-Phänomen. Wahrscheinlich durch einen primären Endothelschaden kommt es an den interlobulären Arterien zur Proli-
313 3.8 · Ischämische Nephropathien
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d . Abb. 3.25a–d. Benigne Nephrosklerose. a Periphere Interlobulararterie mit hyalinem Material in der Media (EM×1200), b »dekompensierte« benigne Nephrosklerose mit herdförmigen glomerulären und tubulointerstiellen Vernarbungen, c Interlobulararterie mit stark eingeengter
Lichtung durch die zwiebelschalenartig geschichtete Intima (EM×1200), d ischämischer glomerulärer Schlingenkollaps mit girlandenförmig gefalteten Basalmembranen (aus W. Remmele: Pathologie. Bd. 5, Springer, Berlin 1997)
feration der Intimazellen mit Ablagerung von Kollagen und bindegewebiger Grundsubstanz, die eine progrediente Lumeneinengung zur Folge hat. Bei 30% der Patienten findet man in den Nieren auch eine fibrinoide Arteriolonekrose, die sich bis in die Glomerulusschlingen ausbreiten kann. Die glomerulären Veränderungen bestehen hauptsächlich in erhöhtem Zellgehalt des
Mesangiums und in irregulären Verdickungen der Basalmembran. In den ischämischen Regionen werden die Tubuli atrophisch bzw. nekrotisch. Die renale Affektion manifestiert sich klinisch oft mit plötzlich einsetzender maligner Hypertonie und progredienter Niereninsuffizienz.
314
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Kapitel 3 · Krankheiten der Nieren und ableitenden Harnwege
Hämolytisch-urämisches Syndrom (HUS) Es handelt sich um eine vorwiegend renale Mikroangiopathie mit Fibrinablagerung, die zur Störung der Nierenfunktion und durch Fragmentierung der Erythrozyten zur Hämolyse führt. Zu unterscheiden sind 2 Varianten, von denen eine hauptsächlich im Kindesalter, die andere bei Erwachsenen vorkommt. HUS im Kindesalter
Vorkommen. Sehr selten, was größere Studien erschwert. Klinik: Häufig gehen Symptome eines Infektes der oberen Luft-
wege, Mattigkeit und Schwäche voraus. Neurologische Symptome sind selten. Es kommt zu einer mikroangiopathischen hämolytischen Anämie mit LDH-Anstieg und zur Niereninsuffizienz, die in 60% der Fälle eine Dialysebehandlung erfordert. Die Thrombozyten fallen ab, jedoch weniger stark als bei der TTP.
Ätiologie und Pathogenese. Ursache ist eine oft endemische In-
fektion mit Verotoxin-bildenden E. coli (VTEC), deren Reservoir hauptsächlich Rinder sind, daneben aber auch Rehwild, Schafe Enten, Hunde, Vögel und Fliegen. Das Toxin bewirkt wahrscheinlich eine präglomeruläre Endothelschädigung.
Therapie und Verlauf: Wirksame Behandlungsmöglichkeiten au-
ßer der Nierenersatztherapie sind nicht bekannt. Ein Plasmaaustausch wie bei der TTP wird nicht empfohlen. Die Mortalität beträgt etwa 25%. Von den Überlebenden werden 50% niereninsuffizient.
Vorkommen und Häufigkeit. In einer großen Studie lag das Alter
bei 55% der Patienten unter 5 Jahren, bei 33% zwischen 5 und 17 Jahren, bei 6% zwischen 18 und 44 Jahren und bei 6% über 45 Jahren. Klinik. Dieser Variante des HUS geht gewöhnlich eine Gastroenteritis mit Diarrhöen voraus. Daher die Bezeichnung »D+HUS«. Der Beginn ist akut mit blutigen wässrigen Darmentleerungen von 1- bis 9-tägiger Dauer, verbunden mit heftigen abdominalen Schmerzen, aber nicht mit Fieber. Zur Oligurie und anderen Zeichen der Nierenschädigung kommt es nach 5–6 Tagen. Etwa 50% der Patienten benötigen Dialysebehandlung, zumindest vorübergehend.
3.9
Infektionen der Harnwege Infektionen der Harnwege Untere Harnwegsinfektionen 5 Urethritis 5 Zystitis Obere Harnwegsinfektionen
5 Akute Pyelonephritis 5 Subklinische Pyelonephritis 5 Obstruktionen der Harnwege
Therapie und Verlauf. Das HUS ist die häufigste Ursache des aku-
ten Nierenversagens bei Kindern. Obwohl in der Hälfte der Fälle eine Dialyse notwendig wird, verläuft die Erkrankung meistens selbstlimitierend. Die Mortalitätsrate konnte auf 5% gesenkt werden. Einige Patienten entwickeln eine chronische Nierenkrankheit mit finalem Nierenversagen. Die Therapie muss sich auf unterstützende Maßnahmen beschränken. Plasmaaustausch und Frischplasma wurden ohne Erfolg versucht. Auch Antibiotika erwiesen sich als nutzlos.
3.9.1 Allgemeines Definition. Eine signifikante Harnwegsinfektion liegt in der Regel beim Nachweis von 105 oder mehr pathogenen Keimen/ml im Mittelstrahlurin vor. Bei Frauen mit akuten Symptomen genügen zur Diagnose 102 einzelne oder dominante Erreger/ml, bei symptomatischen Männern sind es 103 Erreger/ml.
Prophylaxe. Kein rohes oder ungenügend erhitztes Rindfleisch,
keine rohe Milch oder Produkte daraus. HUS im Erwachsenenalter Ätiologie und Pathogenese. Es gibt seltene familiäre Fälle mit
autosomal-dominantem oder rezessivem Erbgang. Bei knapp der Hälfte dieser Patienten besteht durch die Gendefekte ein Mangel an regulatorischen Proteinen des Komplementsystems (Faktor H oder Membran-Co-Faktorprotein). Auf welche Weise es dadurch zur renalen thrombotischen Mikroangiopathie kommt, ist jedoch unbekannt. Ungeklärt ist auch die Ursache der erworbenen Formen. Im Unterschied zur thrombotisch-thrombozytopenischen Purpura (TTP) sind die Multimeren des von-Willebrand-Faktors nicht vermehrt. Außerdem führt die TTP meistens nicht zur terminalen Niereninsuffizienz.
Epidemiologie. Harnwegsinfektionen führen in den USA jährlich zu 7 Millionen Arztbesuchen. Etwa 20% der Frauen sind während ihres Lebens davon betroffen. Jenseits des 50. Lebensjahres wird die Erkrankungshäufigkeit von Männern und Frauen ähnlich. Bei älteren Männern steigern Prostataerkrankungen die Anfälligkeit. Zu unterscheiden sind 2 Kategorien: 4 unkomplizierte Harnwegsinfektionen: ambulant erworbene Zystitiden bei Frauen ohne disponierende Grundkrankheit 4 komplizierte Harnwegsinfektionen: Infektionen bei Männern, Kindern, Schwangeren und bei disponierenden Faktoren: Obstruktionen der Harnwege, Fremdkörper (Steine, Katheter) und nach Nierentransplantation.
315 3.9 · Infektionen der Harnwege
Infektionsweg Aufsteigende Infektion: In über 95% der Harnwegsinfekte erfolgt
die Erregerinvasion über die Urethra. Es kann zur Urethritis, Zystitis, Prostatitis (mit Epididymitis) und beim Vordringen der Infektion zum Nierenbecken und Nierenparenchym zur Pyelonephritis kommen. Absteigende Infektion: Die Erreger gelangen auf dem Blutweg in die Nieren und von dort in die ableitenden Harnwege. Diese Route wird in weniger als 5% der Fälle beschritten. Ursache ist gewöhnlich eine Bakteriämie mit relativ virulenten Erregern, die manchmal zuerst zur Abszessbildung in der Niere führen. Einteilung nach der Lokalisation Untere Harnwegsinfektion: Urethritis (oft venerisch), Zystitis (oberflächliche Infektion der Harnblasenschleimhaut). Komplikationen: Prostatitis und Epididymitis. Obere Harnwegsinfektion: akute und chronische Pyelonephritis, Nierenabszess. 3.9.2 Untere Harnwegsinfektionen Urethritis Isolierte Harnröhrenentzündungen kommen hauptsächlich bei Männern vor. Man unterscheidet die gonorrhoische Urethritis (N. gonorrhoeae) von den nichtgonorrhoischen oder unspezifischen Urethritiden, deren Erreger zum großen Teil auch sexuell übertragen werden: Chlamydia trachomatis, Mykoplasmen (M. hominis, Ureaplasma urealyticum), Herpes simplex, Trichomonas vaginalis, Candida albicans. Nicht sexuell übertragen wird die übliche bei Harnwegsinfekten anzutreffende Bakterienflora (E. coli etc.). Bei Frauen erkranken Urethra und Blase meistens gleichzeitig. Häufigste Erreger sind aufsteigende Darmbakterien (E. coli, Enterokokken, Staphylococcus saprophyticus). Bei Dysurie ohne Bakteriennachweis im Mittelstrahlurin spricht man vom akuten urethralen Syndrom. Im Katheterurin lassen sich aber oft Bakterien nachweisen oder Chlamydia trachomatis. Manchmal liegen Entzündungen der urethralen Drüsen vor. Pathogenese. Untere Harnwegsinfekte treten bei Frauen etwa
10-mal häufiger auf als bei Männern. Der Keimbesiedlung der weiblichen Urethra wirkt normalerweise der saure Scheideninhalt entgegen. Zur Kolonisation des Vestibulum vaginae und der Urethra mit pathogenen Keimen kommt es bei Östrogenmangel, Kolpitis, Zervizitis, auch bei mangelhafter Hygiene. Kohabitation und kurze Harnröhre erleichtern das Eindringen der Keime. Keimverschleppung erfolgt bei beiden Geschlechtern durch instrumentelle Eingriffe (Zystoskopie, Katheterisierung, Operationen). Bei sexuell übertragbaren Infektionen sind Virulenz und Erregeraffinität zum Uroepithel ausschlaggebend. Lokale Abwehrschwäche resultiert bei Diabetes mellitus und verschiedenen Defekten des Immunsystems.
Klinik. Beständiges Jucken und Brennen in der Harnröhre, brennende Schmerzen beim Wasserlassen und Ausfluss aus der Harnröhre. Bei Frauen kommen zystische Beschwerden (Pollakisurie, Dysurie) hinzu. Diagnostik. Bei Männern: Inspektion des äußeren Genitale und der Harnröhrenmündung. Exprimat- und Abstrichuntersuchung mikrosko-
pisch und kulturell. Segmentkernige Granulozyten im Abstrich sprechen für Urethritis, gramnegative Keime für bakterielle Infektion, intrazelluläre gramnegative Diplokokken für Gonorrhoe. Grampositive Kokken und Stäbchen stellen eine normale Flora dar. Zur Uringewinnung nach dem Abstrich Wasserlassen in 3 Portionen (frühestens 2 Stunden nach der letzten Miktion). Höchste Keimzahl und Segmentkernige in der ersten Portion sprechen für Urethritis, gleich große Zahlen in beiden Proben für Zystitis oder Pyelonephritis, dominierende Keim- und Leukozytenzahlen in der dritten Probe für Prostatitis. Kulturelle Untersuchung auf Gonokokken (Spezialnährböden) und gewöhnliche Erreger (E. coli etc.), Chlamydiennachweis kulturell oder auf dem Objektträger mit monoklonalen fluoreszierenden Antikörpern. Kultureller Mykoplasmennachweis in Speziallaboratorien. Trichomonaden werden im frischen Sediment erkannt. CandidaNachweis kulturell. Nachweis von Herpes-Simplex-Infektion kulturell und durch Immunfluoreszenz mit monoklonalen Antikörpern. Bei Frauen: Ausschluss einer gynäkologischen Erkrankung (Vaginitis, Zervizitis), Abstrich vom Vestibulum vaginae. Uringewinnung in 2 Proben zur mikroskopischen und kulturellen Untersuchung. Höchste Zahl der Bakterienkolonien bei Vaginitis im Vaginalabstrich, bei Urethritis in der ersten Harnprobe, bei Zystitis oder Pyelonephritis in der zweiten Harnprobe. Therapie. Antibiotika je nach Erreger: 4 Enterobacteriaceae: Co-Trimoxazol, Ciprofloxacin 4 Gonokokken: Einmalgabe von 250 mg Ceftriaxon (Roce-
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phin ) oder 400 mg Ofloxacin p.o. 4 Chlamydien und Mykoplasmen: Doxycyclin, Azithromycin 4 Trichomonaden: Metronidazol 2utgl. 250 mg p.o. für 6 Tage oder Tinidazol 2 g als Einmaldosis 4 Candida albicans: Amphotericin-B-Lösung oder MiconazolLösung zur lokalen Instillation. Dazu Amphotericin B oder Nystatin p.o. zur Beseitigung der Darmmykose. Behandlung der genitalen Candidiasis mit Clotrimazol als Creme oder Vaginaltablette. 4 Herpesviren: Lokal- und Allgemeinbehandlung mit Acyclovir 5utgl. 200 mg p.o. für 7–10 Tage. Bei Trichomonaden-, Chlamydien- und Mykoplasmainfektionen ist der Sexualpartner mitzubehandeln.
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Kapitel 3 · Krankheiten der Nieren und ableitenden Harnwege
Zystitis Erreger. Bei den ambulant erworbenen Zystitiden der Frauen do-
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minieren E. coli (80%), Enterokokken, und S. saprophyticus. Bei nosokomialen Infektionen (durch Blasenkatheter und Zystoskopie) werden außer E. coli häufig Staphylococcus epidermidis, P. aeruginosa, Proteus spp., Klebsiella, Enterobacter, Serratia und Sprosspilze gefunden, die teilweise schon multiresistent sind. Pathogenese. Zystitiden entstehen meistens durch aszendieren-
de Infektion über die Urethra, bei Frauen spontan, bei Männern und Kindern gewöhnlich nur als Komplikation einer funktionellen oder anatomischen Anomalie oder durch instrumentelle Eingriffe. Deszendierende Infektionen kommen bei primären Niereninfektionen verschiedener Art, z.B. Tuberkulose, vor. Entzündungen können auch von der Prostata und den Parametrien auf die Harnblase übergreifen. Das Eindringen der Bakterien in die Blase ist bei Frauen erleichtert. Ihm geht eine Kolonisation der periurethralen Haut und der distalen Urethra mit gramnegativen Bakterien aus dem Darm voraus, zu der eine unterschiedliche individuelle Disposition zu bestehen scheint. In die Blase gelangt, unterliegen die Bakterien defensiven Mechanismen, die den Harn unter normalen Bedingungen wieder keimfrei machen können: Erstens wird die Bakterienzahl durch die Harnausscheidung vermindert (Verdünnungseffekt). Zweitens enthält der Harn bakteriostatische Faktoren (hohe Harnstoffkonzentration, hohe Osmolarität, niedriges pH, Lysozym, Immunglobuline G und A, Leukozyten. Drittens werden Bakterien durch die Schleimhaut angegriffen und zerstört (»Mukosafaktor«). Der Clearing-Mechanismus ist gestört bei Restharn (Entleerungsstörungen durch Harnröhrenstrikturen, Prostatahypertrophie), Fremdkörpern oder Steinen in der Blase und entzündlichen Schleimhautläsionen. Zucker im Harn fördert das Keimwachstum, Immunsuppressiva setzen die Schleimhautresistenz herab. Klinik. Hauptsymptom der Zystitis sind Miktionsstörungen, bei denen man zwischen Pollakisurie (Drang zu häufigem Wasserlassen ohne vermehrte Harnausscheidung), Strangurie (schmerz-
hafter Harndrang, der nur zur Entleerung weniger Tropfen führt), Dysurie (Schmerzen zu Beginn und am Ende der Miktion) und Blasentenesmen (anhaltender schmerzhafter Harndrang) unterscheidet. In der entzündeten Blase wird der Miktionsreflex schon bei geringer Füllung ausgelöst, besonders wenn der Blasenhals (hintere Urethra mit dem internen, unwillkürlichen Sphinkter) betroffen ist. Nicht selten sind suprapubische Schmerzen. Diagnostik. Mikroskopische und kulturelle Urinuntersuchung. Bei ambulant erworbener Zystitis der Frauen zeigt eine positive Nitritreaktion den Befall mit E. coli an. Bei komplizierten Zystitiden ist eine Bakterienkultur mit Testung auf Antibiotikaempfindlichkeit notwendig. Mikroskopisch ist eine Leukozysturie bzw. Pyurie nachzuweisen. Blut im Urin erfordert eine Klärung durch Zystoskopie. Deformierte Erythrozyten stammen aus der Niere.
Therapie. Allgemeine Maßnahmen: Bei erheblichen Beschwerden vor-
übergehend Bettruhe und lokale Wärmeapplikation. Spüleffekt durch reichliches Trinken (Blasentee, Säfte, Mineralwasser). Antibiotika: Bei ambulant erworbener Zystitis hilft oft sehr schnell die preisgünstige Einmalgabe von 2 Tabletten Co-trimoxazol (je 80/160 mg). Ein breites Wirkungsspektrum hat Ciprofloxacin (3utgl. 250 mg für 3–5 Tage). Nosokomiale Zystitiden sind nach dem Antibiogramm zu behandeln. Bei chronischer Coli-Zystitis kann das pflanzliche Mittel Angocin überraschend gut wirksam sein (3utgl. 4 Tabl.). Es scheint in kleinen Mengen Formaldehyd freizusetzen.
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3.9.3 Obere Harnwegsinfektionen Definition. Bakterielle Entzündungen des Nierenbeckens mit
Parenchymbeteiligung, die akut und chronisch verlaufen können. Akute Pyelonephritis Erreger. Überwiegend Keime mit besonderen Virulenzfaktoren (Hämolysinbildung, Haftung mit Fimbrien am Uroepithel, Resistenz gegen die bakterizide Wirkung des Serums): 4 gramnegative Bakterien: E. coli, Proteus, Klebsiellen, Enterobacter Serratia und Pseudomonas (häufigste Erreger bei nosokomialen vor allem katheterinduzierten Infektionen) 4 grampositive Bakterien: S. saprophyticus, Enterokokken und S. aureus (häufig bei Patienten mit Harnwegskonkrementen, nach urologischen Eingriffen, nicht selten bei hämatogener Pyelonephritis). Pathogenese. Der seltenen hämatogen-deszendierenden Infek-
tion steht die weitaus häufigere aszendierende Infektion gegenüber. Begünstigende Faktoren: 4 Frauen: kurze Urethra, Kohabitation, Gravidität 4 Männer: Prostatahypertrophie mit Restharn 4 Kinder: vesikourethraler Reflux, 4 generell: Abflussbehinderungen durch Konkremente, Narben oder neurogene Dysfunktion, vor allem Katheterisierungen und instrumentelle Eingriffe. Klinik. Plötzlicher Krankheitsbeginn mit Fieber über 39°C, Schüt-
telfrost, allgemeiner Schwäche, Übelkeit, auch Erbrechen, Gliederschmerzen und Schmerzen im Nierenlager. Bei aszendierender Infektion Symptome der Urethritis oder Zystitis, die aber fehlen können. Diagnostik. Erregernachweis im Urin. Bei positiver Blutkultur liegt eine Uro-
sepsis vor. Im Urinsediment Leukozytenzylinder, anfangs oft leichte Hämaturie, geringe Eiweißausscheidung. Konzentrationsvermögen oft eingeschränkt. Allgemeine Entzündungszeichen:
317 3.9 · Infektionen der Harnwege
Beschleunigte Blutsenkung, Leukozytose mit Linksverschiebung, erhöhtes CRP, im Serumelektropherogramm erhöhte α2-Globulinfraktion. Bildgebende Verfahren: Intravenöse Pyelographie zur Darstellung der Papillen und des Nierenbeckens. Sonographie (evtl. auch Kernspin- oder Computertomographie) zum Nachweis von Konkrementen und Abflussstörungen und zur Erfassung von Größen- und Formänderungen der Nieren (Rindenatrophie, Zysten, Tumoren). Nierenbiopsie: Eitrige interstitielle Entzündung (. Abb. 3.26).
Auf der anderen Seite hat sich gezeigt, dass es nicht zu Beeinträchtigungen der Nierenfunktion kommt. Insofern kann die frühere Bezeichnung als »chronische Nephritis« nicht aufrechterhalten werden.
Therapie. Die antibiotische Therapie sollte sofort – ohne abwarten des Antibiogramms – mit Ciprofloxacin begonnen werden, in schweren Fällen mit 2×tgl. 100 mg intravenös, sonst mit 3×tgl. 250–500 mg per os. Annähernd gleichwertig ist Levofloxacin (1×tgl. 250–500 mg). Gegen diese Chinolonantibiotika gibt es praktisch noch keine Resistenz. Die Entfieberung tritt nach 2–3 Tagen ein. Trotzdem ist die orale Behandlung für 7–14 Tage fortzusetzen. Alternativ kann nach dem Antibiogramm mit einem anderen Antibiotikum weiterbehandelt werden.
Ursachen. Kongenital: Stenosierung oder Verschluss am uretherovesikalen
Subklinische Pyelonephritis Eine obere Harnwegsinfektion ohne Pyelonephritissymptome ließ sich überraschend häufig bei Frauen mit Dysurie nachweisen sowie bei älteren Frauen mit asymptomatischer Bakteriurie. Zur Beseitigung der Bakteriurie ist eine mehrwöchige Behandlung nach Antibiogramm erforderlich.
. Abb. 3.26. Akute eitrige interstitielle Nephritis bei Pyelonephritis. Granulozytenansammlung im verbreiterten Interstitium und in den Tubuluslichtungen (aus W. Remmele: Pathologie Bd. 5, Springer, Berlin 1997)
Obstruktion der Harnwege Definition. Aufstau des Harns durch Abflussstörungen aus den Nierenbecken, den Uretheren oder der Harnblase, die zum akuten und chronischen Nierenversagen führen können und häufig durch Infektionen kompliziert werden.
oder uretheropelvinen Übergang, Fehlbildung der Urethereinmündung in die Blase mit vesikourethralem Reflux. Blasenhalsobstruktion; Urethrastenosen, Meatusstenosen. Erworbene innere Defekte: Uretherverschlüsse durch Konkremente, Entzündungen, Tumoren, Blutkoagula. Innere Verschlüsse des Blasenausgangs durch Prostatahypertrophie, Prostatakarzinom, Blasentumoren, neurogene Blasenentleerungsstörungen. Erworbene äußere Defekte: Uretherkompression durch schwangeren Uterus, retroperitoneale Fibrose, Karzinome von: Uterus, Prostata, Rektum und Kolon; Kompression des Blasenausgangs durch Karzinome von Zervis und Kolon; Urethraverletzungen. Pathophysiologie. Jeder Aufstau erweitert die ableitenden Harnwege und beeinträchtigt durch Steigerung des hydrostatischen Drucks im Nierengewebe die Nierenfunktion. Er disponiert außerdem zum Angehen einer bakteriellen Infektion, die schnell zur Zerstörung des Nierengewebes führen kann. Doppelseitiger Uretherenverschluss führt zwangsläufig zum akuten Nierenversagen. Bei Verschluss am oberen Uretherende resultiert eine isolierte Hydronephrose (. Abb. 3.27), bei Verschluss am uretherovesikalen Übergangs ein Hydrourether plus Hydronephrose. Bei gravierender Blasenentleerungsstörung wird die Harnblase überdehnt und der Detrusor allmählich atrophisch. Nach Beseitigung des Abflusshindernisses kann die Harnblase dann nicht mehr spontan entleert werden. Es muss ein Dauerkatheter gelegt werden, was oft einen chronischen Harnwegsinfekt mit Exazerbationen und Verschlechterung der Nierenfunktion zur Folge hat. Beim vesikourethralen Reflux wird Blasenharn während der Miktion über die Uretheren in das Nierenbecken und das Nierenparenchym zurückgedrückt. Normalerweise geschieht das nicht, weil sich der schräg durch die Blasenwand verlaufende Uretherabschnitt während der Miktion durch die Kontraktion der Blasenmuskulatur verschließt. Bei Fehlbildungen mit Verkürzung oder gerader Einmündung des intramuralen Urethers und bei Überdehnung der Blase durch Restharn ist der Verschlussmechanismus gestört. Es besteht die Gefahr, dass im Falle einer Zystitis Keime ins Nierenbecken und das Nierengewebe verschleppt wer-
3
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Kapitel 3 · Krankheiten der Nieren und ableitenden Harnwege
. Abb. 3.27a, b. Ausgeprägte Hydronephrose infolge Kompression des Harnleiters durch ein unteres Polgefäß bei einer 68-jährigen Frau, a von außen, b im Längsschnitt (aus W. Remmele: Pathologie Bd. 5, Springer, Berlin 1997)
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a
den. Vesikourethraler Reflux unterschiedlichen Schweregrades ist bei 2% der Kleinkinder vorhanden und bei 30–50% der Kinder mit rezidivierenden Harnwegsinfekten. Diagnostik. Die Diagnose gelingt durch die Miktionszysturo-
graphie. Therapie. Mechanisch bedingte Harnleiterobstruktionen und
Blasenentleerungsstörungen müssen chirurgisch oder endoskopische beseitigt werden. Danach lassen sich auch sekundäre Infektionen beherrschen. Leichtere bis mittelschwere Grade des vesikourethralen Refluxes bei Kleinkindern bilden sich allmählich spontan zurück, können aber eine antibiotische Langzeitprophylaxe erfordern. In schweren Fällen muss der Urether neu eingepflanzt werden. Manchmal genügt die endoskopische submuköse Kollageninjektion im Bereich des Uretherostiums. 3.10
Nierensteinerkrankungen (Nephrolithiasis/Urolithiasis)
b
keine Steinbildung bzw. eine Kristallauflösung. Bei Übersättigung (Ionenkonzentrationen über ihrem Löslichkeitsprodukt) kommt es zu spontaner Kristallisation und Steinwachstum. Dazwischen liegt ein metastabiler Sättigungsgrad, bei dem die Kristallisation nicht spontan, sondern nur bei Vorhandensein eines Kristallisationskeimes stattfindet. Dabei kann als Keim für die Bildung eines Calciumoxalatsteines auch ein Kristall aus Calciumphosphat oder Harnsäure dienen. Die meisten Konkremente enthalten 90% kristalline Substanz, 5% Wasser und 5% organische Matrix. Inhibitoren der Calciumoxalatkristallisation sind Citrat, Magnesium, Pyrophosphat und verschiedene Glykoproteine, die von den Tubuli sezerniert werden (Nephrocalcin, Tamm-HorsfallProtein Uropontin). In der . Tab. 3.5 sind die verschiedenen Steintypen aufgeführt. Im Mittelmeerraum und im Nahen Osten bestehen bis zu 75% der Nierensteine aus Urat. In warmen Ländern ist die Häufigkeit der Nephrolithiasis generell größer, offenbar durch höhere insensible Flüssigkeitsverluste. Lokalisation. Steine in den Harnwegen können an allen Stellen zwischen Nierenparenchym und Harnröhre lokalisiert sein
Epidemiologie. Die Häufigkeit der Nierensteinerkrankungen
nahm in den westlichen Ländern während der letzten Jahrzehnte zu. Die Inzidenzrate in den USA beträgt etwa 300 neue Fälle auf 100.000 Einwohner im Jahr, die Prävalenzrate für Männer über 30 Jahre etwa 7%, für Frauen 3%. Pathogenese. Maßgebend für die Steinbildung ist der Sättigungsgrad der steinbildenden Substanzen im Harn. Bei Untersättigung (Ionenkonzentrationen unter ihrem Löslichkeitsprodukt) erfolgt
. Tabelle 3.5. Steintypen von Nierensteinen Gemischte Steine aus Calciumoxalat und Calciumphosphat Calciumoxalat Calciumphosphat Harnsäure Magnesiumammoniumphosphat (Struvit) Cystin
319 3.10 · Nierensteinerkrankungen (Nephrolithiasis/Urolithiasis)
. Abb. 3.28. Lokalisation von Steinen im Urogenitalsystem
Parenchymstein ruhender Kelchstein Nierenbeckenstein
Ausgussstein
Stein im Kelchhals Steine in der unteren Kelchgruppe Harnleitersteine
Blasenstein
Prostatasteine
Harnröhrenstein
(. Abb. 3.28). Klinisch am häufigsten treten Urethersteine in Erscheinung, da sie heftige Koliken auslösen. Ursachen. Die verschieden Typen von Nierensteinen werden auf-
grund unterschiedlicher Ursachen und Stoffwechelvorgänge gebildet. Calciumsteine
Etwa 70% aller Nierensteine enthalten Calcium. Für die Bildung von Calciumsteinen gibt es verschiedene Ursachen: Idiopathische Hyperkalziurie: Es handelt sich um eine wahrscheinlich polygen vererbte Anomalie, die bei etwa 60% der Patienten mit Calciumsteinen vorliegt. In diesen Fällen sind bei einer Normokalzämie enterale Calciumresorption und Kalziurie gesteigert. Werden die Patienten auf eine calciumarme Diät gesetzt, scheiden die meisten mit dem Harn mehr Calcium aus, als sie mit der Nahrung aufnehmen. Dabei wird dem Skelett Calcium entzogen. Offensichtlich ist hier das Primäre eine Störung der Calciumrückresorption. Ob es auch primäre Steigerungen der enteralen Calciumresorption gibt, evtl. durch eine erhöhte Dichte der Rezeptoren für Calciferol, ist ungewiss. > Die idiopathische Hyperkalziurie spricht gut auf Thiazide an, die eine Steigerung der Calciumrückresorption in der Niere bewirken.
Hyperkalzämische Erkrankungen: Die gesteigerte Kalziurie ist in diesen Fällen auf die Hyperkalzämie zurückzuführen. Vorkommen: bei primärem Hyperparathyreoidismus, Sarkoidose, Skelettmetastasen, Vitamin-D-Intoxikation, Immobilisation und Thyreotoxikose. Renale tubuläre Azidose Typ I: Die Azidose hat folgende Konsequenzen: 4 Freisetzung von Calcium und Phosphat aus den Knochen und vermehrte Ausscheidung beider Substanzen in den Primärharn. 4 Stark herabgesetzte Ausscheidung von Citrat in den Urin, das ein Inhibitor der Steinbildung ist. 4 Alkalische Reaktion des Urins. Bei dieser Konstellation wird die Bildung von Calciumphosphatniederschlägen begünstigt, die auch im Nierenparenchym entstehen können (Nephrokalzinose). Hyperurikosurie: Etwa 20% der Patienten mit Calciumoxalatsteinen scheiden infolge purinreicher Ernährung (Fleisch, Fisch, Geflügel) im Urin vermehrt Harnsäure aus, die den Kristallisationsprozess von Calciumoxalat begünstigt. Hyperoxalurie: Etwa 5% der Calciumoxalatsteine sind auf erhöhte renale Oxalatausscheidung zurückzuführen. 4 Diätetische Oxalurie: Übermäßiger Verzehr oxalatreicher Nahrungsmittel wie Blattgemüse, Rhabarber, rote Bete, Tee, Scho-
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3
Kapitel 3 · Krankheiten der Nieren und ableitenden Harnwege
kolade, Nüsse, Erdnussbutter und hohe Dosen von Vitamin C (das zu Oxalat metabolisiert wird) führen zu einer moderaten Steigerung der Oxalatausscheidung (40–60 mg/Tag). 4 Enterale Oxalurie: Unter Bedingungen der Malabsorption kann die Oxalatausscheidung 60–100 mg/Tag erreichen, z.B. bei Zöliakie, Crohn-Krankheit, chronischer Pankreatitis, Gallengangobstruktion. Die nicht resorbierten Fettsäuren binden Calcium, so dass mehr freies Oxalat zur Resorption ins Kolon gelangt. Die Reizung der Kolonschleimhaut durch nicht absorbierte gallensaure Salze steigert die Permeabilität für Oxalat. 4 Primäre Hyperoxalurie: Sehr seltene autosomal-rezessiv übertragene Erbkrankheit mit massiver endogener Oxalatproduktion und einer Oxalurie von 80–300 mg/Tag. Der genetische Defekt betrifft beim Typ 1 die Alanin-GlyoxalatAminotransferase (AGT), beim Typ 2 die D-Glyceratreduktase und die Glyoxalatreduktase. Die Bildung von Oxalatsteinen beginnt schon vor dem 6. Lebensjahr und führt bis zum 20. Lebensjahr zur Niereninsuffizienz. Außerdem kommt es zu Verkalkungen in den Weichteilen inklusive Herz, Arterien, ZNS und Knochenmark. Hypozitrurie: Citrat verbindet sich mit Calcium zu löslichen Komplexen und reduziert dadurch die Bildung von Calciumoxalat und Calciumphosphat. Eine Hypozitrurie ist bei manchen Steinträgern die einzige Anomalie im 24-Stunden-Urin. Ursachen sind hoher Proteinverzehr, Hypokaliämie, körperliche Anstrengung, Infektionen, Hunger und Androgene. Nephrokalzinose: Ablagerung von Calcium im Nierenparenchym, wobei 2 Formen zu unterscheiden sind: 4 dystrophische Verkalkung: Calciumphosphatniederschläge in nekrotischem Gewebe hauptsächlich der Nierenrinde bei Tumoren, Infarkten oder Infektionen 4 metastatische Verkalkung: Calciumphosphatablagerungen vorwiegend im Nierenmark bei erhöhten Konzentrationen von Calcium und Phosphat im Serum. Vorkommen: Bei renaler tubulärer Azidose, primärem Hyperparathyreoidismus, Hyperoxalurie und Papillennekrose.
Nyhan-Syndrom, Tumorlyse durch Zytostatika), übermäßigem Verzehr von tierischem Eiweiß und purinreichen Nahrungsmitteln (Innereien, Schellfisch, Krevetten, Fleischextrakt, Hefe, Spargel, Pilze, Spinat) und durch einige Medikamente (Salyzylate, Probenecid, Vitamin C). Magnesiumammoniumphosphatsteine (Struvit)
Zu Bildung von Magnesiumammoniumphosphat-(MAP-)steinen sind eine alkalische Reaktion (pH >7) und deprotoniertes Phosphat erforderlich. Diese Voraussetzungen sind nur in einem infizierten Urin mit harnstoffspaltenden Bakterien erfüllt. Die bakterielle Urikase setzt aus Harnstoff Ammoniak frei, das zu Ammoniumhydroxyd hydrolysiert. Das Ammoniumhydroxyd alkalisiert den Urin und deprotoniert das Phosphat. MAP-Steine werden wegen ihrer Pathogenese als Infektsteine bezeichnet. Typisch ist ihre Hirschgeweihform und eine Matrix aus Bakterien, Leukozyten und Glykoproteinen, die in unvollständig kristallisiertem Zustand kittähnliche Massen bilden kann. > MAP-Steine kommen bei allen Läsionen des Harntraktes vor, die zu Infektionen disponieren: kongenitale Anomalien (vesikourethraler Reflux mit Megalourether), Obstruktion des Blasenausganges, Prostatahypertrophie, Urethrastenosen), neurogene Blasenentleerungsstörungen, Pyelonephritis. Cystinsteine
Ursache ist ein genetischer Defekt des renalen und intestinalen Transportmechanismus für Cystin, das normalerweise ultrafiltriert, tubulär sezerniert und rückresorbiert wird. Gestört ist bei der Cystinurie die tubuläre Rückresorption (auch für die dibasischen Aminosäuren Lysin, Arginin und Ornithin). Infolgedessen werden ultrafiltriertes und sezerniertes Zystin ausgeschieden. Es kommt zur Cystinurie (Tagesausscheidung über 400 mg gegenüber 30–50 mg bei Gesunden) mit Übersättigung des Urins. Klinische Manifestationen der Zystinsteinbildung erfolgen meistens im Kindesalter, ausnahmsweise erst nach dem vierten Lebensjahrzehnt.
Harnsäuresteine
Klinik. Nierenkolik: Schmerzattacke von größter Heftigkeit bei akutem
Voraussetzung für die Bildung von Harnsäuresteinen ist die Übersättigung des Urins mit undissoziierter Harnsäure. Dazu kann es unter folgenden Bedingungen kommen: 4 Erniedrigtes Urinvolumen: Vorkommen bei reduzierter Trinkmenge, Diarrhöen, Erbrechen, starkes Schwitzen und vermehrter Transpiratio insensibilis im heißen Klima. 4 Saurer Urin-pH: Hauptsächlich durch reichlichen Verzehr tierischer Proteine. Bei einem pH von 6,5 kann der Urin 5mal mehr Harnsäure enthalten als bei einem pH von 5,3, ohne dass Harnsäure präzipitiert, und Harnsäuresteine können sich bei pH 6,5 auflösen. 4 Hyperurikosurie: Bei Erkrankungen mit erhöhtem Harnsäureanfall (Gicht, myeloproliferative Krankheiten, Lesch-
Verschluss des Urethers durch Steine. Der Schmerz beginnt mit paravertebralem Druckgefühl in Höhe der betroffenen Niere, steigert sich in 30–60 Minuten bis zur Unerträglichkeit und bleibt dann bis zum Abklingen des Anfalls mit annähernd konstanter Intensität bestehen. Die Bezeichnung Kolik ist eigentlich unzutreffend, da es sich nicht um einen wellenförmigen Schmerz handelt. Er entsteht durch die plötzliche Dehnung von Urether, Nierenbecken und Nierenkapsel, die vom Rückstau des Harn verursacht wird. Proximal der Stenose kann der Druck durch verstärkte Uretherperistaltik auf 50–100 mmHg steigen. Eine Obstruktion am Abgang des Urethers aus dem Nierenbecken verursacht Flankenschmerz, der oft mit Übelkeit und Erbrechen einhergeht. Bei tiefer sitzenden Steinen folgt der Schmerz von
321 3.10 · Nierensteinerkrankungen (Nephrolithiasis/Urolithiasis)
hinten ausstrahlend dem Uretherverlauf bis zum Unterleib. Am Uretherostium lokalisierte Steine lassen den Schmerz bis in den Hoden bzw. die Labie ziehen. Länger dauernde Koliken führen nicht selten zum reflektorischen paralytischen Subileus mit starkem Meteorismus. Reflektorisch kommt es nach kurzer Zeit auch zur Drosselung der Nierendurchblutung mit einem Abfall der glomerulären Filtrationsrate auf der betroffenen Seite. Infolgedessen lässt der Harndruck proximal des Verschlusses allmählich nach. Am Zustandekommen des Uretherverschlusses ist neben dem Konkrement oft ein lokaler Uretherspasmus beteiligt. Wird er durch Spasmolytika beseitigt, klingt die Kolik ab. Konkremente passender Form und Größe können den Urether auch ohne Kolik passieren. Nicht selten geht der Uretherstein Tage nach der Kolik schmerzfrei ab. Eine häufige Komplikation sind nachfolgende Harnwegsinfekte mit Miktionsbeschwerden. Die Nierenfunktion bleibt bei intakter kontralateraler Niere normal. ! Eine besondere Gefährdung geht von obstruierenden MAP-Steinen aus, weil es aufgrund der bestehenden Infektion schnell zur Pyonephrose und Ursosepsis kommen kann. Chronische Nephrolithiasis: Nierensteine entstehen an der Oberfläche der Papillen. Calciumsteine lösen sich relativ früh ab und verursachen bei der Passage des Urethers häufig Koliken. Im In-
tervall bestehen keine Symptome. Tempo des Steinwachstums und Häufigkeit der Steinabgänge sind ein Maß für die metabolische Aktivität des chronischen Steinleidens. Wiederholte akute Obstruktionen führen nicht selten zur chronischen Harnwegsinfektion. Harnsäuresteine bleiben wegen ihrer Größe oft im Nierenbecken zurück. MAP-Steine und Zystinsteine können zu Ausgusssteinen heranwachsen (. Abb. 3.29). Symptomatisch werden Nierenbeckensteine durch partielle Obstruktion mit rezidivierendem dumpfem Flankenschmerz, der nicht die Intensität des Kolikschmerzes erreicht, sowie durch Hämaturie und rezidivierende Pyelitiden, die klinisch oft nur als Zystitis imponieren. Im fortgeschrittenen Stadium infizierter Steinnieren beobachtet man Hydronephrose und pyelonephritische Schrumpfnieren, bei doppelseitigem Befall Niereninsuffizienz und Hypertonie. Blasensteine: Sie können primär in der Harnblase oder durch
appositionelles Wachstum abgegangener Nierensteine entstehen. Voraussetzung ist in jedem Fall eine Entleerungsstörung der Harnblase. Zu 60% handelt es sich um Calciumoxalat- oder gemischte Calciumsteine, zu 40% um Infektsteine aus MAP. Blasensteine gehen mit Pollakisurie, Hämaturie und Zystitis einher. Ihre Entfernung ist stets geboten. Diagnostik. Differenzialdiagnose der Nierenkolik
Für Nierenkolik sprechen Schmerzlokalisation und Mikro- oder Makrohämaturie. Die Abgrenzung gegen Appendizitis (lokaler Druckschmerz), Gallenkolik (Schmerzausstrahlung zum Mittelbauch und in die rechte Schulter), Adnexprozesse und tubaren
. Abb. 3.29. Große Nierenbeckenausgusssteine beiderseits mit gleichzeitiger Darstellung der dilatierten Nierenbecken (heller Kontrastmittelsaum) durch Infusionsurographie (aus Zöllner: Innere Medizin. Springer, Berlin 1991)
Abort (gynäkologische Untersuchung) ist in der Regel ohne größere Probleme möglich. Steinnachweis durch bildgebende Verfahren Abdominale Sonographie: Erfasst Steine im Nierenbecken durch
den Nachweis des Schallschattens (. Abb. 3.30 und 3.31). Je nach Zusammensetzung kann ein Stein komplett durchschallbar sein oder den Schall so stark reflektieren, dass nur die echoreiche Kuppe abgebildet wird. Urethersteine werden nur indirekt am Aufstau des Nierenbeckens erkannt. Zusätzlich werden Größe und Form der Nieren, Blasenentleerungsstörungen und Prostatavergrößerungen erkannt. Röntgenübersichtsaufnahme des Abdomens: Dient der Darstel-
lung schattengebender Konkremente in Höhe des Nierenbeckens,
3
322
Kapitel 3 · Krankheiten der Nieren und ableitenden Harnwege
im Verlauf des Urethers und in der Harnblase. Gelegentlich sieht man eine Vergrößerung des Nierenschattens als Hinweis auf Harnrückstau. Ausscheidungsurographie: Nachzuweisen sind schattengebende
und schattengebende und schattennegative Konkremente im Nierenbecken und Urether und der Harnrückstau. Zur Identifizierung von Urethersteinen ist zusätzlich die Leeraufnahme erforderlich.
3
Spiral-CT: Ermöglicht ohne Kontrastmittel den Nachweis von Nierenbecken- und Urethersteinen mit der gleichen Spezifität wie die Ausscheidungsurographie. Nachteil: Höhere Kosten und Strahlenbelastung. Indiziert bei Kontrastmittelallergie. Steinanalyse
Da die Ergebnisse der chemischen Untersuchung irreführend sein können, ist in jedem Fall eine kristallographische Analyse indiziert. Sie deckt alle kristallinen Steinkomponenten auf und liefert damit eine sichere Basis für die metabolische Analyse des Steinleidens. Metabolische Untersuchungen Serumparameter: Natrium, Kalium Chlorid, Bikarbonat, Kreati-
nin, Harnsäure, Calcium, Phosphor. Urinuntersuchung: Standard mit Sediment und bakteriologisch. . Abb. 3.30. Nierenbeckenstein mit Schallschatten im sonographischen Querschnittsbild der Niere (Sammlung Dr. Wilke, Bad Oeynhausen)
24-Stunden-Urin (Normalwerte): Volumen (>2–2,5 l), pH (>5,5,
In der Regel Leukozytose 10.000–18.000 mm3. Die Blutsenkung steigt erst im Verlauf an. Differenzialdiagnose. Bei Kindern und Jugendlichen akute Lymphadenitis mesenterialis (Yersinia-Enteritis) mit Spontanheilung: Übelkeit und Erbrechen vor den Leibschmerzen. Abzugrenzen sind ferner: Uretersteinkolik, Adnexitis, Cholezystitis, Morbus Crohn, Porphyrie, Meckel-Divertikulitis. Komplikationen. Perforation mit diffuser Peritonitis, lokalisierte Perforation mit perityphlitischem Abszess, Sepsis.
Therapie. Unverzügliche Appendektomie, offen oder laparoskopisch. Bei gedeckter Perforation zunächst konservative Behandlung (Infusionen, Antibiotika, Eisblase), später nötigenfalls Abszessdrainage. Bei freier Perforation mit diffuser Peritonitis Appendektomie und Antibiotikainstillation in die Bauchhöhle. Die Letalität der Appendektomie beträgt unter Einschluss der komplizierten Fälle etwa 0,3%.
4.5.6 Colitis ulcerosa Definition. Chronische Entzündung der Dickdarmschleimhaut
mit unspezifischem Granulationsgewebe und Ulzerationen, die sich in den betroffenen Abschnitten kontinuierlich ausbreitet. Colitis ulcerosa und Morbus Crohn werden unter dem Begriff der entzündlichen Darmerkrankungen zusammengefasst. Lokalisation. Ganzes Kolon mit Rektum 37%, Kolon bis zur lin-
ken Flexur 17%, Rektosigmoid 28%. Epidemiologie. Daten aus den letzten 30 Jahren zeigen Inzidenzraten von 11,8 in Nordeuropa und 8,7 in Südeuropa, jeweils auf 100.000 Einwohner bezogen. Am höchsten waren die Werte in Dänemark (20,3) und Island (16,5). Männer erkranken häufiger als Frauen. Die Altersverteilung ist unimodal mit einem Gipfel in der zweiten und dritten Lebensdekade. Ätiologie und Pathogenese. Wie beim Morbus Crohn wurde
kein spezifischer Krankheitserreger nachgewiesen. Die Schleimhautentzündung wird anscheinend von der normalen Dickdarmflora induziert, der eine intakte Schleimhautbarriere standhält. In der Schleimhaut sezernieren CD4+-T-Zellen vom Typ Th2 Zytokine, die eine oberflächliche Entzündung bewirken. Da immunsuppressive und entzündungshemmende Mittel therapeutisch wirksam sind, ist eine überschießende Abwehrreaktion als wesentlicher pathogenetischer Faktor anzunehmen. Ob autoimmunologische Reaktionen zum Krankheitsprozess beitragen, ist trotz mancher Hinweise ungewiss. Bemerkenswert erscheint, dass 50–80% der Patienten im Serum perinukleäre antineutrophile zytoplasmatische Antikörper (pANCA) haben, die als diagnostischer Marker dienen. Diese Autoantikörper sind jedoch gegen chromosomale Proteine gerichtet und nicht wie die ANCA bei der Wegener-Granulomatose gegen die Proteinase 3. Zu den Kausalfaktoren gehört sicher eine genetische Disposition, denn von monozygoten Zwillingen erkranken 20% konkordant, während es bei dizygoten nur 8% sind. Genomweite Suche ergab an mehreren Chromosomen (1, 3, 7 12, 16) potenziell krankheitsassoziierte Loci. Bei schweren Verlaufsformen mit Pankolitis wurden bestimmte HLA-Allele (HLA DBR1*0103) häufiger als normal exprimiert. Im Gegensatz zum Morbus Crohn haben Raucher bei der Colitis ulcerosa ein geringeres Erkrankungsrisiko als Nichtraucher. Psychische Konflikte und Be-
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376
Kapitel 4 · Krankheiten der Verdauungsorgane
lastungen führen nicht selten zu Exazerbationen der Kolitis ohne die eigentliche Ursache zu sein.
4
Pathologie. Die pathologischen Veränderungen beginnen mit Degeneration der subepithelialen Retikulinfasern, dem Verschluss der Kapillaren in diesem Bereich und einer progredienten Infiltration der Lamina propria mit Plasmazellen, Eosinophilen, Lymphozyten, Mastzellen und Neutrophilen. In der Folge entwickeln sich zuerst Kryptenabszesse, dann Epithelnekrosen und Schleimhautulzera. Unterminierende Ulzera erzeugen Schleimhautbrücken. Durch Hyperplasie einzelner Schleimhautareale entstehen Pseudopolypen. Der Prozess beginnt meistens im Rektosigmoid und dehnt sich danach auf das proximale Kolon aus, manchmal unter Mitbefall von 1–2 Zentimetern des terminalen Ileums. Anders als beim Morbus Crohn bilden sich keine Granulome, und der Prozess erfasst nicht die gesamte Darmwand.
a
Klinik. Abhängig von der Ausdehnung des Kolonbefalls und vom
Schweregrad der Entzündung. Krankheitsbeginn mit der Ausscheidung von Blut und Schleim im Stuhl. Wenn nur das Rektosigmoid betroffen ist, kann der Stuhl dabei hart und trocken sein. In leichten Fällen kommt es ohne Allgemeinsymptome zu weniger als 4 Stuhlentleerungen pro Tag, bei moderatem Schweregrad resultieren mehr als 4-mal täglich blutig-eitrige und schleimige Durchfälle mit Bauchkrämpfen und Tenesmen. Bei Ausdehnung des Prozesses auf das ganze Kolon sind leichte Verlaufsformen selten. Eher treten massive blutig-schleimige Diarrhöen auf, begleitet von Fieber, Tachykardie, Anämie und beschleunigter Blutsenkung. Lokale Komplikationen: Schwere Blutungen (3,5%), akute Kolondilatation durch Befall der Muskularis (5%), Kolonperforation (Mortalität 16%). Extraintestinale Manifestationen: Akute Arthropathie in einem großen oder symmetrisch in kleinen Gelenken (10–15%), Sakroiliitis (9–11%), ankylosierende Spondylitis (1–3%), vordere Uveitis und Episkleritis (5–15%), Erythema nodosum (10–15%), Pyoderma gangraenosum (1–2%), primäre sklerosierende Cholangitis (2–7,6%). Karzinomrisiko: In den ersten 7 Jahren 1,4%, in 30 Jahren 60%. Diagnostik. Stuhluntersuchung: Inspektion des schleimig-blutigen oft auch
eitrigen Stuhls. Ausschluss eine bakteriellen oder parasitären Infektion (Amöben). Endoskopie: Rektosigmoidoskopie, nach Möglichkeit Koloskopie (. Abb. 4.29). Befund: Hyperämie, fein- bis grobgranuläre Schleimhautoberfläche, punktförmige Blutung auf Berührung oder spontan, diskrete Ulzera, Pseudopolypen, Rigidität. Typischer histologischer Befund in der Schleimhautbiopsie (7 oben). Koloskopisch erscheint das Kolon bei chronischer Colitis ulcerosa als verkürztes, glattes und starres Rohr ohne Haustren.
b . Abb. 4.29a, b. Colitis ulcerosa. a Ödematöse Schleimhaut mit flachen, unregelmäßig begrenzten Ulzera, b Fortgeschrittenes Stadium mit Pseudopolypen und Narbenbildung (Sammlung Prof. Frieling)
Röntgenuntersuchung: Übersichtsaufnahme des Abdomens zur Erfassung des toxischen Megakolons (Luftansammlung, Durchmesser >6 cm). Der retrograde Bariumbreieinlauf mit Doppelkontrastverfahren zeigt gezähnelte Wandkontur, Kragenknopfulzera und vergröberte Schleimhautfalten. Die Befallsausdehnung ist gut zu erfassen, ein Karzinom im frühesten Stadium nicht. Laboruntersuchungen: Nachweis von pANCA im Serum bei 50–80% der Patienten. Entzündungsparameter: CRP, Blutsenkung, α2-Globuline im Serumelektropherogramm. Hypalbuminämie durch intestinale Verluste. Differenzialdiagnosen. Infektiöse Diarrhöen, irritables Kolon, Strahlenproktitis, Antibiotika-induzierte Kolitis, ischämische Kolitis (vorwiegend im Alter). Langzeitüberwachung. Jährliche koloskopische Kontrolle zur Erfassung von Dysplasien und Karzinomen bei totaler oder
377 4.5 · Dickdarm
subtotaler Kolitis länger als 8 Jahre, bei linksseitiger Kolitis länger als 5 Jahre, bei subtotaler Kolektomie Kontrolle des verbliebenen Rektumstumpfes.
4.5.7 Kolon- und Rektumpolypen
Therapie. Konservative Therapie Diät: Schlackenarm oder flüssig-breiig, evtl. parenterale Ernäh-
plastischen Charakter und ohne Malignitätspotential (. Abb. 4.30). Meistens im Rektum lokalisiert. Häufigkeitsanteil unter den Dickdarmpolypen aller Größen 25%, unter den Polypen mit weniger als 3 mm Durchmesser 90%. Gesteigerte Proliferation des Epithels mit normaler Zelldifferenzierung und nur geringer Expansion der mitotischen Zone im unteren Drittel der Krypte. Scharfe Abgrenzung gegen die umgebende Schleimhaut. Keine klinische Relevanz. Endoskopische Abtragung zur histologischen Sicherung der Diagnose erforderlich. Adenomatöse Polypen: Es handelt sich um neoplastische Polypen, die in Karzinome übergehen können (. Abb. 4.31). Sie kommen familiär gehäuft vor, aber nur zum Teil mit bekannten Keimbahnmutationen (s. unten). Die Adenombildung beginnt mit dem Funktionsverlust des tumorsuppressiven APC-Gens (s. unten). Von Personen mittleren und höheren Alters haben nach endoskopischen Feldstudien und Autopsiestatistiken >30% Kolonadenome, aber Die meisten Patienten haben mukokutane pigmentierte Läsionen im und um den Mund, an Händen und Füßen.
Das Kolonkarzinomrisiko ist 18fach erhöht. Es wird eine »Hamartom-Adenom-Karzinom-Sequenz« angenommen. Assoziiert ist das PJS auch mit Ovarial- und Sertolizellkarzinomen, ferner mit Karzinomen der Mamma, des Pankreas und des Endometriums. Das kumulative Karzinomrisiko erreicht im Alter von 64 Jahren 93%. 4 Juvenile Polyposis (JPS): Autosomal-dominant erbliches Syndrom mit multiplen gefäßreichen, zystischen hamartomatösen Polypen im unteren Gastrointestinaltrakt. Ursache ist eine Keimbahnmutation am Tumorsuppressorgen SMAD4, seltener am BMPR1A-Gen. Durch Transformation in Adenome kommt es häufig zur malignen Entartung. Das Malignomrisiko steigt von 20% im Alter von 34 Jahren auf 68% im Alter von 60 Jahren. Symptome sind intestinale Blutungen, Invagination und Obstruktion. Das JPS ist oft mit kongenitalen Anomalien assoziiert (Malrotation des Mitteldarms, urogenitale und kardiale Fehlbildungen). 4 Cowden-Syndrom: Seltene hereditäre autosomal-dominant vererbte Erkrankung mit Kolonpolyposis durch Hamartome. Das Risiko für ein Kolonkarzinom ist nicht höher als in der allgemeinen Bevölkerung. Mutiert ist das tumorsuppressive PTEN-Gen. Weitere Manifestationen des Syndroms sind Oberkieferhypoplasie, hyperkeratotische Papillomatose von Lippen, Mund und Rachen, Kyphoskoliose und neurologische Störungen. Gefährlich ist eine hohe Inzidenz von papillären Schilddrüsenkarzinomen. Auf dem Boden einer zystischen Mammahyperplasie können Mammakarzinome entstehen.
379 4.5 · Dickdarm
Klinik. Manifestation durch rektale Blutung, auch okkult mit sekundärem Eisenmangel, selten durch unbestimmte Leibschmerzen, Obstipation bzw. Obstruktion. Bei villösen Adenomen mukoide Diarrhöen. Die meisten Adenome bleiben klinisch stumm. Diagnostik. Nachweis durch Rektosigmoidoskopie und Koloskopie sowie durch Bariumkontrastmitteleinlauf mit Luftinsufflation. Sicherung der Diagnose durch endoskopische Biopsie bzw. Abtragung. Bei hereditären Polyposen molekulargenetische Diagnostik zu Erfassung der Keimbahnmutationen, möglichst schon vor Erkrankung der Merkmalsträger. Bei FAP flexible Sigmoidoskopie ab dem 10.–12. Lebensjahr. Ösophageale Gastroduodenoskopie (ÖGD) alle 3 Jahre zur frühen Erfassung extrakolischer Polypen. Therapie. Allgemein: Endoskopische Abtragung von gutartigen Adenomen
und differenzierten (G1, G2) T1-Tumoren ohne Lymph- und Blutgefäßbeteiligung. Bei letzteren regelmäßige endoskopische Kontrollen. Bei großen Adenomen kann eine chirurgische Entfernung notwendig sein. FAP: Genetische Beratung. Prophylaktische Proktokolektomie zwischen dem 15. und 20. Lebensjahr mit Ileum-Pouch-analer Anastomose (externer und interner Sphinkterapparat bleiben nach Möglichkeit erhalten. Jährliche Pouchoskopie, bei erhaltenem Rektumstumpf Rektoskopie alle 4 Monate. AFAP: Abtragung der einzelnen Polypen. Jährliche koloskopische Kontrolle. Bei nicht beherrschbarer Polyposis Kolektomie. Hamartomatöse Polyposissyndrome: Wegen großer Seltenheit keine generellen Empfehlungen für Überwachung und Therapie. Zuständig sind spezialisierte Zentren. 4.5.8 Kolorektales Karzinom Epidemiologie. Kolorektale Karzinome sind in den westlichen
Ländern nach dem Bronchialkarzinom die häufigsten Malignome. In der deutschen Bundesrepublik wurden im Jahr 2000 insgesamt 28.696 Sterbefälle an kolorektalen Karzinomen registriert. Davon entfielen 8063 auf Rektumkarzinome. Bei Frauen waren Kolonkarzinome etwas häufiger, Rektumkarzinome etwas seltener die Todesursache als bei Männern. Der Häufigkeitsgipfel der Sterbefälle lag für Männer zwischen dem 70. und 75., für Frauen zwischen dem 75. und 80. Lebensjahr. Ätiologie. Abgesehen von den hereditären Formen mit Keim-
bahnmutationen, die einen Anteil von 6% haben, entstehen kolorektale Karzinome durch erworbene Veränderungen des Genoms von Kolonepithelien. Welche Umwelteinflüsse dafür maßgebend sind, ist im Einzelnen nicht geklärt. Generell kommen kolorektale Karzinome in den oberen sozioökonomischen Populationen der Städte häufiger vor als in ländlichen Regionen und in unter-
entwickelten Ländern. Die Sterblichkeit an Kolonkarzinom korreliert mit dem Prokopfverbrauch an Kalorien, Fleischproteinen, Nahrungsfett und Öl. Ein protektiver Effekt wurde dem Konsum einer faserreichen Nahrung zugeschrieben. Andererseits konnten Adenomrezidive durch eine fettarme und faserreiche Diät nicht verzögert werden. Da Obstipation und Divertikel nicht zum Karzinom disponieren, kann auch der verlängerte Kontakt der Schleimhaut mit dem Darminhalt keine besondere Rolle spielen. In Fallkontrollstudien konnte mit einer an Früchten und Gemüsen reichen Diät, die neben Faserstoffen viele Vitamine enthält, das Risiko an Rektum- und Kolonkarzinomen gesenkt werden. Protektiv soll auch hoher Calciumgehalt der Nahrung sein, vielleicht durch Präzipitation von Gallensäuren, deren Metaboliten ein kanzerogener Effekt zugeschrieben wird. Alkohol und Rauchen scheinen das Risiko etwas zu erhöhen. Eindeutig gesteigert ist das Risiko für kolorektale Karzinome bei Colitis ulcerosa und Morbus Crohn, Krankheiten mit erhöhter regenerativer Aktivität der Schleimhaut. Genetische Basis der Kanzerogenese. Etwa 85% der kolorekta-
len Karzinome gehen aus Adenomen bzw. Polypen hervor, die durch den Verlust des APC-Gens bereits Neoplasien geworden sind (. Abb. 4.32). Das sind die bei FAP entstehenden und die Mehrzahl der sporadischen Karzinome. Ihre Entwicklung zum Karzinom verläuft stufenweise über weitere Genveränderungen. Nächste Stufe ist in 50% der Fälle die aktivierende Mutation des Protoonkogens K-ras, die eine Steigerung der Transduktion mitotischer Signale durch die Zellmembran bewirkt. Dysplasien entstehen aber nur nach vorausgegangenem APC-Verlust. In der Adenom-Karzinom-Sequenz folgt die Deletion des am Chromosom 18q lokalisierten DDC-Gens (deleted in colon cancer), das Apoptose fördert und Tumoren supprimiert. Damit fallen zwei Tumorsuppressor-Gene aus. Diese Genanomalien sind bei villösen Adenomen mit hochgradiger Dysplasie anzutreffen. Letzte Stufe ist die Deletion des Tumorsuppressorgens p53, das über sein Genprodukt bei DNA-Schäden die Apoptose programmiert. Der Verlust der p53-Funktion ist bei 75% der kolorektalen Karzinome nachzuweisen. Ein zweiter Weg der Karzinogenese wird beim hereditären nichtpolypösen kolorektalen Karzinom (HNPPC) und bei 15% der sporadischen Karzinome beschritten. Beim HNPPC ist eines der 6 MMR-Gene (mismatch repair gene) in der Keimbahn mutiert, begleitet vom Verlust des gepaarten Wildtyp-Allels. Die Genprodukte der MMR-Gene reparieren die bei der DNA-Replikation entstehenden Fehler (mismatches). Ihr Wegfall führt zu Mutationen, die hauptsächlich in den sog. Mikrosatelliten erfolgen, das sind Genabschnitte aus kurzen sich wiederholenden Sequenzen, die vermehrt Replikationsfehlern unterliegen. Die Mikrosatelliten sind über das ganze Genom verteilt. Wenn sich ihre Gensequenzen durch Mutationen verändern, spricht man von Mikrosatelliteninstabilität (MIS). Die MIS lässt sich gentechnologisch durch Amplifikation nachweisen und ist ein sicheres Zeichen für den Funktionsverlust von Reparaturgenen. Beim
4
380
Kapitel 4 · Krankheiten der Verdauungsorgane
. Abb. 4.32. Adenom-Karzinom-Sequenz im Kolon (Sammlung Prof. Frieling)
4 Polypenkospe
kleiner Polyp
großer Polyp
kleiner Tumor
großer Tumor
HNPPC sind von den MMR-Genen am häufigsten die Gene hMLH1 und hMSH2 mutiert, DNA-Reparaturfehler führen unter anderem zum Verlust des Gens für den TGF-α-Rezeptor. Signale, die über diesen Rezeptor laufen, blockieren die G1-Phase im Intermitosezyklus und hemmen die Proliferation. Bei den sporadischen Karzinomen mit gestörter DNA-Reparatur ist das hMLH1-Gen nicht mutiert, sondern durch Methylierung der CpG-Insel seines Promotors inaktiviert. Es kann infolge der Methylierung nicht transkribiert werden. Der Verlust der Genexpression durch Hypermethylierung ist ein epigenetisches Phänomen, das anscheinend in eine frühe Phase der Karzinogenese fällt. Denn in Adenomen und Karzinomen wurden gewöhnlich die gleichen Gene methyliert angetroffen (p16, p14ARF, APC, HGMT u.a.). Die Forschung auf diesem Gebiet ist im Fluss und lässt weitere interessante Ergebnisse erwarten.
Pathologie. Dickdarmkarzinome wachsen relativ langsam und
metastasieren spät. Von einer Tumorgröße von 1 cm Durchmesser bis zum stenosierenden Karzinom können mehrere Jahre vergehen. Hauptlokalisation ist das Rektumsigmoid. Das makroskopische Wachstum erfolgt papillös, schüsselförmig ulzerierend, zirkulär stenosierend oder diffus infiltrierend. Mikroskopisch werden folgende Differenzierungsgrade unterschieden: Gut (G1), mäßig (G2), schlecht (G3), undifferenziert (G4). Tumorstadiumeinteilung in . Tab. 4.9. Klinik. Gewöhnlich erst im fortgeschrittenen Stadium, von der
Tumorlokalisation mitbestimmt. Allgemeinsymptome: Anorexie, Gewichtsverlust, Körperschwä-
che, manchmal Fieber durch Nekrosen und Lokalinfektionen.
381 4.5 · Dickdarm
. Tabelle 4.9. Staging des kolorektalen Karzinoms
Stadium
TNM-Klassifikation
Ausdehnung
5-Jahresüberlebensquote in Prozent
Stadium I (Dukes A) Stadium I (Dukes B1) Stadium II (Dukes B2) Stadium III (Dukes C) Stadium IV (Dukes D)
T1N0M0 T2N0M0 T3N0M0 TxN1M0 TxNxM1
Tumor auf Mukosa und Submukosa begrenzt Tumor reicht bis in die Muskularis Tumorausdehnung in oder durch die Serosa Befall der regionalen Lymphknoten Fernmetastasen (Leber, Lunge etc.)
>90 85 70–80 35–65 5
Leibschmerzen: Besonders bei Tumoren proximal des Sigmas,
weniger häufig beim Rektumkarzinom. Veränderungen des Stuhlgangs: Anhaltende Obstipation, am häufigsten beim Sigmakarzinom, Diarrhö bei schleimsezernierenden Tumoren, Dyschezie und Tenesmen beim Rektumkarzinom. Rektale Blutungen: Mit Blutauflagerung bei Karzinomen des lin-
ken, mit dunklem Stuhl bei solchen des rechten Kolons. Keine Verfärbung durch okkultes Blut. Eisenmangelanämie: Durch chronische, meistens okkulte Blutverluste. Diagnostik. Stuhluntersuchung auf okkultes Blut: Beim herkömmlichen
FOBT (fecal occult blood testing) färbt sich ein mit Guajakolharz imprägniertes Filterpapier in Anwesenheit von Hämoglobin nach Zusatz von Wasserstoffperoxid blau. Mit dem FOBT werden intermittierende Blutungen von kolorektalen Tumoren erfasst. Zur Verbesserung der Sensivität gehören zum Test 3 Briefchen (mit je 2 Auftragsfeldern) für 3 konsekutive Stühle. Die Sensitivität des FOBT für kolorektale Karzinome lässt sich durch diätetische Vorbereitung (3 Tage ohne rotes Fleisch, Blumenkohl und Brokkoli) steigern, erreicht aber maximal 85%. Für Adenome ist sie deutlich geringer. Die Spezifität des FOBT ist mit 30% niedrig. Dennoch ergaben prospektive Studien mit jährlich einem FOBT einen Rückgang der Mortalität an kolorektalen Karzinomen um 30%. Direkter Karzinomnachweis: Endoskopisch durch Koloskopie,
Sigmoidoskopie und Rektoskopie mit Biopsie zur histologischen Untersuchung (. Abb. 4.33). Goldstandard ist die Koloskopie, die das ganze Kolon erfasst und zugleich die Abtragung präkanzeröser Adenome erlaubt. Der Nachweis von Kolontumoren gelingt auch radiologisch mittels Bariumeinlauf und Doppelkontrastverfahren, jedoch mit geringerer Sensitivität. Neuerdings etabliert sich die computertomographische virtuelle Koloskopie mit fortlaufend verbesserter Technik. Ihre Stellung in der Vorsorgediagnostik ist durch Studien noch nicht ausreichend geklärt. Sie kommt in Betracht, wenn das Kolon proximal einer nicht passierbaren Obstruktion zu untersuchen ist, ferner bei Verweigerung oder Unzumutbarkeit der Koloskopie. Die Strahlenbelastung ist nicht höher als beim Bariumeinlauf. Der Darm muss vorher ge-
. Abb. 4.33. Kolonkarzinom in der linken Flexur (Sammlung Prof. Frieling)
reinigt und das Kolon mit Luft oder Kohlensäure gefüllt werden. Vorsorge Kolorektale Karzinome wachsen langsam und haben Platz sich auszudehnen. Deshalb treten Symptome oft erst in einem fortgeschrittenem Stadium auf, das eine operative Heilung nicht mehr zulässt. Auf der anderen Seite sind die Heilungschancen in frühen Stadien des Karzinoms ausgezeichnet. Die beachtliche Mortalität am kolorektalen Karzinom kann nur durch geeignete Vorsorgeuntersuchungen gesenkt werden. Leider nehmen daran bisher weniger als 20–30% der Personen über 50 Jahre teil. Die Maßnahmen zur Vorsorge richten sich nach dem Karzinomrisiko in den Bevölkerungsgruppen. Sie wurden von der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) zuletzt 2004 aktualisiert (. Tab. 4.10). Therapie. In jedem Fall chirurgisch. Präoperative Diagnostik Digital-reaktale Untersuchung: Zur Beurteilung der Sphinkter-
funktion und der Tiefeninfiltration bei Rektumkarzinomen. Komplette Koloskopie mit Biopsie: Bei nicht passierbarer Stenose postoperative Koloskopie nach 3–6 Monaten.
4
382
Kapitel 4 · Krankheiten der Verdauungsorgane
. Tabelle 4.10. Vorsorgeempfehlungen für das kolorektale Karzinom (KRK) von der DGVS
4
Risikogruppe
Personen
Vorsorgeempfehlungen
Asymptomatische Bevölkerung mit normalem Risiko
Beginn ab 50 Jahren
Personen, die keine Koloskopie wünschen
jährlicher FOBT für 3 konsekutive Stühle
Teilnehmer am Koloskopie-Screening
5 bei unauffälligem Befund Kontrolle nach 10 Jahren 5 bei Adenomnachweis nach 2–3 Jahren, FOBT entfällt kann mit Sigmoidoskopie alle 5 Jahre kombiniert werden
Risikogruppen für sporadisches kolorektales Karzinom
Risikogruppen für hereditäre kolorektale Karzinome
Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen
Verwandte 1. Grades von Patienten mit KRK
Koloskopie im Alter unter 10 Jahren vom Erkrankungsalter des Indexpatienten, spätestens mit 50 Jahren Wiederholung alle 10 Jahre
Verwandte von Patienten mit kolorektalen Adenomen
Koloskopie im Alter unter 10 Jahren vom Alter, in dem beim Patienten das Adenom nachgewiesen wurde Wiederholung alle 10 Jahre
Patienten mit familiärer adenomatöser Polyposis (FAP)
prädikative genetische Diagnostik bei bestätigter Mutation jährliche Sigmoidoskopie bzw. Koloskopie Proktokolektomie zwischen dem 15. und 20. Lebensjahr ab dem 30. Lebensjahr ÖGD alle 3 Jahre
attenuierte FAP
Nachweis der Keimbahnmutation (s. oben) jährliche Koloskopie und je nach Ausdehnung Polypektomie oder Kolektomie bei Risikopersonen aus Familien mit AFAP: 5 erste Koloskopie mit 15 Jahren 5 ab dem 20. Lebensjahr: Therapieentscheidung nach Ausdehnung der Polyposis
Hereditäres Non-Polyposis-Coli-Kolonkarzinom (HNPCC) oder Lynch-Syndrom
Das Syndrom wird nach anamnestischen Kriterien (Amsterdam, Bethesda) definiert. 5 bei Risikopatienten ab dem 18. Lebensjahr genetische Beratung 5 beim gentechnologischen Mutationsnachweis jährliche Koloskopien und Oberbauchsonographien ab dem 25. Lebensjahr, in jedem Fall 5 Jahre vor dem niedrigsten Erkrankungsalter in der Familie 5 beim familiären Magenkarzinom jährlich ÖGD ab dem 25. Lebensjahr 5 bei weiblichen Merkmalsträgern jährlich gynäkologische Untersuchung mit Ultraschall ab dem 25. Lebensjahr 5 beim Karzinomnachweis Operation nach tumorchirurgischen Gesichtspunkten 5 keine prophylaktische Kolektomie
Hamartomatöse Polyposissyndrome
wegen spärlicher Datenlage keine Überwachungsempfehlungen
Colitis ulcerosa: Karzinomrisiko bei Pankolitis: 5 2% nach 10 Jahren 5 9% nach 20 Jahren 5 18% nach 30 Jahren
bei Pancolitis ulcerosa die 15 Jahre besteht jährliche Koloskopie mit Stufenbiopsie (mindestens 4 Biopsien aller 10 cm)
Morbus Crohn
keine generelle Empfehlung zur Überwachung
bei hochgradiger intraepithelialer Neoplasie wird die Kolektomie empfohlen
Abdomensonographie (evtl. Spiral-CT oder MRT): Zum Aus-
schluss von Organüberschreitung und Lebermetastasen. Röntgenthorax in 2 Ebenen (evtl. Spiral-CT): Zum Ausschluss
Resektion werden die Werte normal und steigen bei Rezidiven wieder an. Zum Screening ist die CEA-Bestimmung ungeeignet, weil frühe Karzinome nur wenig erhöhte Werte zeigen. Außerdem ist die Spezifität des Tests gering.
von Lungenmetastasen. Operation Bestimmung des CEA (Karzinoembryonales Antigen): Das CEA
ist ein prognostischer Faktor. Hohe Serumwerte sprechen für einen ausgedehnten Tumor und sind ungünstig. Nach kompletter
Heilungschancen bestehen nur bei Radikaloperation. Je nach Lokalisation erfolgen Hemikolektomie rechts, Transversumresektion, Hemikolektomie links, Sigmaresektion, unter Einbeziehung
383 4.5 · Dickdarm
des regionalen Mesenteriums mit Lymphbahnen, Lymphknoten und Gefäßen. Wiederherstellung der Darmpassage durch Endzu-End-Anastomose. Beim Rektumkarzinom werden Sigma, Rektum und das komplette Mesorektum reseziert. Liegt die untere Tumorgrenze 7–15 cm oberhalb der analen Haut-Schleimhaut-Grenze, wird die tiefe anteriore Rektumresektion durchgeführt mit End-zu-End-Anastomose. Bei tiefer liegenden Rektumkarzinomen erfolgt die Resektion abdominoperineal mit permanenter Kolostomie. Neoadjuvante (präoperative) und adjuvante (postoperative) Therapie
Zum Einsatz kommen Radiotherapie und Chemotherapie, auch in Kombination. Die Indikation dazu besteht nur in fortgeschrittenen Tumorstadien. Kontraindikationen: unkontrollierte Infektionen, Leberzirrhose, schwere koronare Herzkrankheit, Herzinsuffizienz, präterminale und terminale Niereninsuffizienz, eingeschränkte Knochenmarksfunktion, Unvermögen zur Teilnahme an regelmäßigen Nachuntersuchungen.
Isolierte inoperable Lebermetastasen: Systemische Chemothe-
rapie. Der Nutzen einer additiven lokalen Behandlung (Lasertherapie, Radiofrequenzablation) ist nicht erwiesen. Resektion des Primärtumors: Bei primär metastasierendem kolorektalen Karzinom ist die Resektion des Primärtumors anzustreben, um lokale Komplikationen zu vermeiden. Nachsorge. Nach kurativer Therapie eines kolorektalen Karzinoms besteht für 5 Jahre das Risiko eines lokalen oder lokoregionalen Rezidivs. Programm der Nachsorge: 4 in den ersten 2 Jahren: 5 vierteljährliche klinische Untersuchung, FOBT und CEA-Bestimmung 5 halbjährlich Endoskopie, Abominalsonographie, evtl. CT oder MRT 4 nach 2 Jahren Verlängerung des Nachsorgeintervalls auf 6 Monate 4 nach 5 Jahren Verlängerung des Nachsorgeintervalls auf 12 Monate.
! Ein Alter 50% der proktologisch untersuchten Patienten). Oft symptomlos. Manifestiert sich mit geringen bis heftigen Blutungen während der Defäkation, nicht mit Schmerzen. Hämorrhoiden nur in der Rektumschleimhaut. Nachweis durch Anoskopie oder Rektoskopie, nicht palpatorisch. Stadium II Größer gewordene, tastbare Hämorrhoidenknoten, deren Verletzlichkeit durch Fibrosierung abgenommen hat (. Abb. 4.34a). Beginnende Unterwanderung des Plattenepithels im Analkanal, reversibler Prolaps nach außen bei der Defäkation. Schleimabsonderung unabhängig von der Defäkation (gestörte Verschlussfunktion des Schwellkörpers) mit sekundärer Anitis und Perianitis. Nachlassen der Blutungsneigung. Schmerzhafte Fissuren durch Einrisse der unterwanderten Analhaut. Gelegentlich Pro-
4
384
Kapitel 4 · Krankheiten der Verdauungsorgane
4
a
b
. Abb. 4.34a, b. Hämorrhoiden. a Hämorrhoiden Grad II, b prolabierte Hämorrhoiden (Sammlung Prof. Frieling)
lapseinklemmung mit schmerzhafter Thrombose und Inkarzeration. Stadium III Vorfall der stark hyperplasierten Hämorrhoidenknoten bei jedem Druckanstieg im Becken (Husten, Pressen, Heben) oder dauernd (. Abb. 4.34b). Die Entwicklung wird in . Abb. 4.35 demonstriert. Der Analkanal wird völlig unterwandert. Der Dauerprolaps setzt
. Abb. 4.35. Entwicklung des Hämorrhoidenprolapses. Die Anheftung des hämorrhoidalen Schwellkörpers durch Fasern des M. canalis ani am
eine Sphinktererschlaffung voraus. Es resultieren permanente Schleimabsonderung mit Hautreizungen und vom Stuhlgang unabhängige Blutungen durch Scheuern der Kleidung. Therapie. Allgemeine Maßnahmen: Gewichtsreduktion, Reizstoffe (Ge-
würze, Kaffee, Alkohol) beschränken, Stuhlgangsregelung, Analtoilette (Sitzbäder, Waschungen).
Sphincter ani internus löst sich und die Kryptenlinie prolabiert (aus Internist 2(43); 2002)
385 4.5 · Dickdarm
Medikamente: Symptomatisch wirksame Salben und Zäpfchen, die Glukokortikoide, Lokalanästhetika, Hamamelis, Adstringenzien, Spasmolytika, Antibiotika und Mykostatika enthalten. Verödungsinjektionsbehandlung: Submuköse Injektion von
Verödungsmitteln (z.B. 5%ige Phenol-Mandelöl-Lösung, 10% Polidocanol) im Stadium I und II. Kontraindiziert bei akuter Entzündung oder Thrombose, in der Schwangerschaft und bei hämorrhagischen Diathesen. Gummiligatur: Bei prolabierten Hämorrhoiden Stadium II und III. Die Knoten nekrotisieren und werden nach einigen Tagen abgestoßen. Operation: Submuköse Hämorrhoidenexstirpation (Milligan-
Morgan, Parks, Staplerhämorrhoidektomie nach Longo). Die Knoten werden unter Schonung der zwischen ihnen liegenden Analhaut exzidiert. Analthrombose Von subanodermalen Venen ausgehender Knoten am Analrand bzw. Analkanal mit Thrombosierung. Kann durch stark erhöhte Bauchpresse sowie langes Sitzen entstehen und anfangs sehr schmerzhaft sein. Therapie mit Salben und Antiphlogistika oder Entfernung nach Lokalanästhesie. Mariske Perianaler Hautwulst, häufig nach Analthrombose entstehend (. Abb. 4.36).
. Abb. 4.36. Marisken (Sammlung Prof. Frieling)
Therapie. Lokalhygiene unter Vermeidung sämtlicher Hautpflegemittel, Pasta zinc. moll. (DAB 10), bei störender Größe chirurgische Entfernung.
Hypertrophe Analpapillen Vergrößerte, oft prolabierte Analpapillen, das sind Vorwölbungen des Analepithels am Übergang in die Columnae rectales (. Abb. 4.37). Normale Analpapillen sind kaum sichtbar, vergrößerte sehr anfällig gegen Traumen und Infektionen (Papillitis). Therapie. Bei Entzündung Spaltung und Abtupfen mit 20%iger Phenol-Glyzerin-Lösung. Große Gebilde werden in Lokalanästhesie mit der elektrischen Schlinge abgetragen.
Analfissur Längsgerichtete Erosion oder Ulkus, typischerweise in posteriorer Lage oft von einer Mariske verdeckt, die deshalb als Wachtposten bezeichnet wird. Fissuren verursachen bei der Defäkation Schmerzen und Blutungen und gehen mit einem erhöhten Sphinktertonus einher. Therapie. Bei akuten Fissuren ist die lokale Applikation von 0,2– 0,5%iger Glycerolnitratsalbe in den Analkanal oder die 2-malige
. Abb. 4.37. Hypertrophe Analpapillen (Sammlung Prof. Frieling)
4
386
Kapitel 4 · Krankheiten der Verdauungsorgane
intrasphinktäre Injektion von 10 IE Botulinumtoxin effektiv. Bei chronischen Fissuren chirurgische Ulkusexzision unter Mitnahme der Narbenränder, der Vorpostenfalte und der hypertrophen Analpapille. Die laterale oder posteriore Sphinkterotomie ist obsolet.
4
Analekzem Perianale toxisch oder allergisch bedingte entzündliche Hautveränderungen, die häufig mit Juckreiz oder brennenden Schmerzen einhergehen. Als Ursachen kommen proktologische Erkrankungen (Inkontinenz, Hämorrhoiden, Prolaps, Marisken, Kondylome) und allergologische bzw. dermatologische Erkrankungen (Kontaktekzem, Neurodermitis) in Betracht. Nicht selten besteht eine mykotische Sekundärinfektion. Therapie. Allergenausschaltung, steroidhaltige Salben, Pasta zinc
moll. (DAB 10), lokale Antimykotika. Pruritus ani Idiopathische Form: Intensiver perianaler Juckreiz ohne ekzema-
töse oder sonstige Hautveränderungen, oft von Obstipation mit alkalischem Stuhl begleitet. Die Therapie besteht in Stuhlgangsregelung, Sedativa, subkutaner Injektion von Kortikoidkristallsuspension, im Notfall neurochirurgische Maßnahmen. Sekundäre Formen: Bei Obstipation oder Diarrhö, Proktitis und Kolitis, Hämorrhoiden, Parasiten (Oxyuren), Nahrungsund Arzneimittelallergie, Pilzinfektionen, Diabetes mellitus. Die Therapie richtet sich nach dem Grundleiden. Analprolaps Vorwölbung des sensiblen Anoderms. Versuch der Gummiligatur-Behandlung, sonst chirurgische Segmentresektion bzw. Analplastik. Periproktitischer Abszess Stark druckschmerzhafte entzündliche Schwellung, oft von einer Fistel ausgehend. Therapie durch chirurgische Eröffnung. Bei Perianalfisteln an Morbus Crohn denken. Analkarzinom Klinik. Unspezifische Beschwerden wie Blutung, Juckreiz, Schmerzen, häufig keine Symptome. Ausbreitung. Die Karzinome wachsen zunächst oralwärts und können als Rektumkarzinome imponieren. Sie infiltrieren das umgebende Gewebe und metastasieren ins Becken und die inguinalen Lymphknoten. Frühzeitig hämatogene Metastasen in Leber und Lunge. Therapie. Nach Staginguntersuchung (Sonographie, CT, MRT) Radiochemotherapie.
4.6
Passagestörungen des Darms
4.6.1 Obstipation Definition. Unterschieden wird zwischen verlangsamter Passage-
zeit des Dickdarms (slow transit constipation), Störungen der anorektalen Stuhlentleerung (outlet obstruction) und der Kombination beider Mechanismen. Ätiologie. Die Obstipation ist keine Krankheit, sondern ein Sym-
ptom, das viele Ursachen haben kann (. Tab. 4.11). Klinik. Anamnese: Dauer und Begleitumstände beim Auftreten der Ob-
stipation? Ernährungsweise? Häufige Stuhldrangunterdrückung? Abführmittel- und Medikamentengebrauch? Blut im Stuhl? Hinweise auf Grundleiden? Symptome: Weniger als 3 Stuhlentleerungen/Woche oder übermäßig starkes wiederholtes Pressen sowie das Gefühl der unvollständigen Entleerung. Als Begleiterscheinungen kommen Kopfschmerzen, Unwohlsein, schlechter Mundgeschmack und Völlegefühl im Abdomen vor. Diagnostik. Betastung des Abdomens, digitale reaktale Untersu-
chung. Nachweis des »slow transit« durch den Markertest, bei dem der Patient über mehrere Tage röntgendichte Pellets einnimmt mit abschließender Röntgenaufnahme des Abdomens und Beurteilung der Markerverteilung. Stuhluntersuchung auf okkultes Blut. Bei kurzer Anamnese Koloskopie. Bei »outlet obstruction« Proktoskopie, Defäkographie oder Defäko-MRT. Beckenbodenspastik lässt sich mittels anorektaler Manometrie nachweisen. Therapie. Ernährung und Lebensweise: Umstellung auf ballaststoffreiche
Kost (Obst, Gemüse). Zusätzlich nicht resorbierbare Quellmittel (Weizenkleie, Plantago-ovata-Samenschalen, Leinsamen) mit reichlich Flüssigkeit. Nach Weglassen des Abführmittels 2 Tage warten. Viel Bewegung, Gymnastik zu Kräftigung der Bauchmuskeln. Laxanzien: Sind bei Unwirksamkeit von Ernährungsumstellung und Veränderung der Lebensweise indiziert und auch wenn anstrengendes Pressen vermieden werden soll: 4 osmotische und saline Laxanzien: Laktulose, Sorbitol, Glyzerin, Magnesiumsulfat oder Karlsbader Salz in Wasser 4 stimulierende Laxanzien: wirken peristaltikanregend, stimulieren Sekretion und hemmen Resorption: Rizinusöl, Bisacodyl, Natriumpicosulfat, Aloe, Folia sennae 4 Prokinetika: Tegaserod (Serotoninrezeptoragonist, USA), Misoprostol (Prostaglandin-Analog). 4 Cholinergika: Prostigmin (i.v., i.m. oder p.o.) bei hochgradiger Darmatonie (nach Ausschluss eines Passagehindernisses
387 4.6 · Passagestörungen des Darms
. Tabelle 4.11. Ursachen der Obstipation Allgemeine Ursachen
faserstoffarme Ernährung Immobilität Schwangerschaft
Funktionelle Störungen
Reizdarmsyndrom idiopathische Obstipation
Psychische Störungen
Depression Anorexia nervosa Neurosen
Endokrine und Stoffwechselstörungen
Diabetes mellitus Hypothyreose Hyperkalzämie Hypokaliämie Porphyrie
Neurologische Krankheiten
Morbus Parkinson Rückenmarkläsionen Störungen des enterischen Nervensystems (Ganglionitis, Neuronverlust?)
Pharmaka
Calciumantagonisten (Verapamil) Anticholinergika Opiate Antidepressiva Eisenpräparate
Gastrointestinale Erkrankungen
intestinale Obstruktion und Pseudoobstruktion Kolontumoren Divertikel Morbus Hirschsprung Megarektum Analfissur schmerzhafte Hämorrhoiden Rektozele Rektalprolaps spastischer Beckenboden
4 Probiotika: lyophilisierte Darmbakterien (Laktobazillus, Bi-
Ätiologie und Pathogenese. Luftschlucken (Aerophagie): Bei hastigem Essen und Trinken,
am häufigsten nervös bedingt. Sekundär kann es zu Sodbrennen kommen. Aerophagie tritt auch im Vorstadium des Erbrechens bei Kinetosen auf. Die geschluckte Luft wird teils durch Aufstoßen, teils durch Resorption eliminiert. Gasbildung im Dünndarm: Freisetzung von CO2 aus Bikarbonat bei der Neutralisation von Magensäure und Fettsäuren im oberen Dünndarm durch das bikarbonatreiche Pankreassekret (etwa 3000 ml nach einer reichlichen Mahlzeit). Elimination durch die Lunge nach Diffusion in die Blutbahn. Vermehrte Gasbildung bei bakterieller Dünndarmfehlbesiedlung durch Zuckervergärung (hohe Nüchternkonzentration von Wasserstoff im Wasserstoffatemtest). Gasbildung im Dickdarm: Produktion von H2 und C02 durch die Bakterienflora aus nicht resorbierten Kohlenhydraten. Produktion von Methan (CH4) durch Bakterien aus unbekanntem Substrat; nur ein Drittel der Erwachsenen besitzt eine methanproduzierende Darmflora. Produktion stark riechender Gase (NH3, H2S, flüchtige Fettsäuren, Indole, Skatole, Merkaptane, Amine) in kleinen Mengen durch die Darmflora. Vermehrte Gasbildung auch bei Laktoseintoleranz (positiver Wasserstoffatemtest). Das gesamtes Gasvolumen im Darm beträgt etwa 200 ml. Klinik. Luftschlucken kann zur Vergrößerung der Magenblase mit Schmerzen am linken Rippenbogen und in der Herzgegend führen (Roemheld-Symptomenkomplex). Bei Blähbauchbeschwerden ist der intestinale Gasgehalt oft nicht gesteigert, sondern lediglich die Gaspassage durch eine Motilitätsstörung verlangsamt. Zugleich scheint die Schmerzschwelle für Dehnungsreize herabgesetzt zu sein. Vermehrte Gasbildung im Dünndarm bei Bakterienüberwucherung (Divertikel, Stase). Bei Flatulenz gelangen meistens unverdaute Kohlenhydrate ins Kolon (Laktasemangel, Malabsorption). Bedrohliche Gas- und Flüssigkeitsansammlung im Magen bei akuter Magenatonie nach Traumen und Operationen. Gasansammlungen proximal von Darmstenosen (überwiegend geschluckte Luft) bewirken Wandschädigung durch Überdehnung.
fidobakterium)
4 Dyscheziemittel: Entleerung des Rektum mit Mikroklistie-
®
ren, alternativ mit Lecicarbon -Supp. (CO2-Laxans).
> Laxanzienabusus beeinträchtigt die normale Kolonfunktion (Resorption, Sekretion, Motilität), Wasser- und Elektrolytverluste (Hypokaliämie, Hypokalzämie), Malassimilation, irritables Kolon.
4.6.2 Meteorismus
Therapie. Behandlung des Grundleidens. Symptomatische Verminderung des intestinalen Gasvolumens durch Simeticon. Bei Refluxbeschwerden Protonenblocker. Fettarme Kost und Beschränkung unverdaulicher, der bakteriellen Zersetzung anheim fallender Kohlenhydrate (Leguminosen, Kleie). Milchverzicht, da auch bei Patienten ohne Laktasemangel etwas Laktose in den Dickdarm gelangt.
4.6.3 Reizdarmsyndrom (irritable bowel
syndrome) Definition. Abnorme Gasansammlung im Gastrointestinaltrakt,
die zu Luftaufstoßen, Blähbauch, Leibschmerzen und Flatulenz führen kann.
Definition. Das Reizdarmsyndrom (IBS) ist durch seine Symptome
definiert: Veränderte Stuhlgangsgewohnheiten, verbunden mit ab-
4
388
Kapitel 4 · Krankheiten der Verdauungsorgane
dominalen Schmerzen oder Beschwerden im zeitlichen Zusammenhang mit dem Stuhlgang. Nach dem dominanten Symptom unterscheidet man Reizdarmsyndrom mit Diarrhö (D-IBS), Reizdarmsyndrom mit Obstipation (C-IBS) und Reizdarmsyndrom, bei dem Diarrhö und Obstipation alternieren (A-IBS). Epidemiologie. Die Angaben über die Prävalenz des IBS variie-
4
ren mit den diagnostischen Kriterien. Nach den allgemein anerkannten Rom-II-Kriterien von 1999 liegen die Prävalenzraten in westlichen Ländern zwischen 1,1 und 10,5%. In dieser Variationsbreite kommen wahrscheinlich Schwierigkeiten bei den Erhebungen zum Ausdruck. Ätiologie und Pathogenese. Mit den verfügbaren diagnostischen
Methoden konnten beim Reizdarmsyndrom keine regelmäßigen organischen Veränderungen nachgewiesen werden. Funktionell handelt es sich um intestinale Motilitätsstörungen, hauptsächlich des Kolons, kombiniert mit Schmerzen oder Beschwerden, die man als viszerale Hypersensitivität bzw. Hyperalgesie interpretiert. Die Pathogenese ist weitgehend ungeklärt und wahrscheinlich uneinheitlich bzw. multifaktoriell. Nachgewiesen ist das Auftreten eines Reizdarmsyndroms nach einer enteralen Infektion (Salmonellen, Shigellen, Campylobacter), korreliert mit der Schwere und Dauer der Infektion. Teilweise wurden in diesen Fällen unterschwellige Entzündungen in der Mukosa gefunden. Es wird auch an eine postinfektiöse Änderung in der Darmflora gedacht. Ein Untersucher hat beim Reizdarmsyndrom immunhistologische Anzeichen für eine Aktivierung des Mukosa-Immun-Systems beobachtet. Andere beschrieben eine Vermehrung der Gewebemastzellen. Unklar bleibt allerdings, wieso solche minimalen Veränderungen Schmerzen hervorrufen. Zur Erklärung der herabgesetzten Schmerzschwelle und der Dysmobilität werden neurohumorale und zentralnervöse Einflüsse auf die Darmwand diskutiert (gesteigerte oder herabgesetzte Serotoninwirkung). In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass viele Reizdarmpatienten psychische Auffälligkeiten zeigen, Ängstlichkeit, Karzinophobie, Hypochondrie oder neurotisches Verhalten. Auch Stress und diverse exogene psychische Belastungen kommen bei ihnen vor. Klinik. Dazu gehören Obstipation, Diarrhöen, Blähgefühl, Schmerzen und Missempfindungen im Abdomen, Stuhldrang, angestrengtes Pressen beim Stuhlgang und das Empfinden ungenügender Entleerung. Häufige zusätzliche Allgemeinbeschwerden: Kopfschmerzen, Rückenbeschwerden, Schlafstörungen, Mattigkeit, bei Frauen prämenstruelle und Menstrualbeschwerden. Es kann sich eine Karzinophobie entwickeln. Rom-II-Kriterien: In den zurückliegenden 12 Monaten während 12 Wochen, die nicht zusammenhängen brauchen, abdominale Beschwerden oder Schmerzen, die 2 von 3 Kennzeichen haben: 4 Nachlassen mit der Defäkation oder 4 Beginn mit einer Änderung der Stuhlfrequenz 4 Beginn mit einer Änderung der Stuhlform (appearance)
Die folgenden Symptome unterstützen kumulativ die Diagnose eines IBS: 4 abnorme Stuhlfrequenz (>3/Tag und 2 × normal: Behandlung mit INF-α, Lamivudin oder Adefovir. Bei Kontraindikation gegen INF-α ist Lamivudin vorzuziehen. 4 Konstellation HBeAg-negativ, HBV-DNS >105 Kopien/ml, GPT >2 × normal: Behandlung mit INF-α, alternativ mit Lamivudin oder Adefovir, Dauer >1 Jahr. 4 Konstellation HBsAg-positiv, HBeAg-negativ, HBV-DNS-negativ, GPT 105 Kopien/ml und Zirrhose: kompensiert: INF-α (streng überwacht), Lamivudin oder Adefovir; dekompensiert (normale Nierenfunktion): Lamivudin oder Adefovir, Kandidat für Lebertransplantation. 4 Konstellation HBeAg +/–, HBV-DNS-negativ und Zirrhose: kompensiert: Beobachtung, dekompensiert: Lebertransplantation.
Chronische Hepatitis D Epidemiologie. Über die Verbreitung des HDV wurde bei der akuten Hepatitis D informiert, die ebenso selten wie die akute Hepatitis B in eine chronische Hepatitis übergeht. Klinik. Durch die Superinfektion eines HBsAg-Carriers mit HDV, die in weniger als 5% der Fälle vorkommt, resultiert eine schwere Verlaufsform der chronischen Hepatitis mit häufigem Übergang in die Leberzirrhose. Diagnostik. Klinisch ist bei schweren Verlaufsformen der Hepatitis B an eine Superinfektion mit HDV zu denken. Der Nachweis gelingt durch das Auftreten von Anti-HDAg und HDV-RNS im Serum neben den Markern der HBV-Infektion. Therapie. Hochdosierte Behandlung mit INF-α (9 Mill. Einheiten 3-mal wöchentlich für 12 Monate) senkte die HDV-Replikation bei 50% der Patienten deutlich, doch kam es nach Absetzen des Mittels regelmäßig zum Rezidiv. Lamivudin erwies sich als unwirksam. Im Endstadium der chronischen Hepatitis kommt eine Lebertransplantation in Betracht. Wenn im Transplantat die Hepatitis D zurückkehrt, ohne dass wegen der Immunsuppression HBV produziert wird, hält sich die Leberschädigung in Grenzen.
Chronische Hepatitis C Epidemiologie. Weltweit sind annähernd 170–200 Millionen Menschen an chronischer Hepatitis C erkrankt. In den USA ist die chronische Hepatitis C die häufigste Ursache für Lebererkrankungen im Endstadium, hepatozelluläres Karzinom und die Indikation für die meisten Lebertransplantationen. Dort kommt es jährlich zu 10.000 HCV-abhängigen Todesfällen. Die höchste Prävalenz an chronischer Hepatitis C wird bei Personen im Alter zwischen 30 und 49 Jahren beobachtet. Verlauf: Nach der akuten HCV-Infektion ist in 85–90% der Fälle mit der Entwicklung einer chronischen Hepatitis C zu rechnen. Der Beginn ist oft nicht zu datieren, da das akute Stadium der HCV-Infektion und die ersten Jahre danach häufig asymptomatisch bleiben. Wegen der langsamen Progredienz kommt es erst nach 20–30 Jahren zu schwerwiegenden Komplikationen. Man hat die chronische Hepatitis C deshalb als »Krankheit von Dekaden« bezeichnet. Trotz des relativ »gutartigen« Verlaufes bedeutet sie eine große Gefährdung. Die Progredienz ist im höheren Alter, beim männlichen Geschlecht, bei Co-Infektion mit HIV und bei starkem Alkoholkonsum beschleunigt. Klinik. Die meisten Patienten sind asymptomatisch und fallen erst bei routinemäßiger Laboruntersuchung durch mäßig erhöhte Transaminasen auf, oder sie werden bei der Voruntersuchung für Blutspender erfasst. An eine akute Hepatitis besteht gewöhnlich keine Erinnerung. Stets ist nach möglicher parenteraler HCVExposition zu fragen (Drogenkonsum, Transfusionen), um den für die Prognose wichtigen Infektionszeitpunkt festzustellen. In
4
406
Kapitel 4 · Krankheiten der Verdauungsorgane
fortgeschrittenen Fällen wird hauptsächlich über Schwäche und Müdigkeit geklagt. Zum Ikterus kommt es selten, manchmal zu extrahepatischen Komplikationen (Porphyria tarda, essenzielle gemischte Kryoglobulinämie, Sjögren-Syndrom). Diagnostik. Immunserologisch (EIA) mit hoher Spezifität und
4
Sensitivität (98–99%). Es kommen aber falsch positive Tests vor. Ein positiver Befund ist deshalb mit dem HCV-RNS-Assay abzusichern. Vor einer Therapie sollte für die Erfolgskontrolle eine quantitative Bestimmung der HCV-RNS (mittels PCR) erfolgen. Zu ermitteln ist auch der für die Dosierung wichtige Genotyp des HCV (Typen 1a und 1b schwerer, Typen 2 und 3 leichter therapierbar). Ergänzende Untersuchungen: Bilirubin, Transaminasen. Die Höhe der GPT und der HCV-RNS korreliert nicht mit dem Schweregrad und der Progredienz der chronischen Hepatitis C. Bei gesicherter Diagnose ist daher eine Leberbiopsie erforderlich, die bei normaler GPT nicht selten fortgeschrittene Veränderungen aufdeckt. Therapie. Ziel: Eradikation des HCV bzw. Erzielung eines anhaltend nega-
tiven HCV-RNS-Assay. Indikation: Eindeutig bei Patienten mit positivem HCV-RNSTest, erhöhter GPT und einem Biopsiebefund mit nekroinflammatorischen und fibrotischen Veränderungen. Darunter auch bei Patienten mit kontrollierter Depression, bei Methadon-Konsumenten und bei Patienten, die erst seit kurzem alkoholabstinent sind. Bei Patienten mit normaler GPT wird individuell über eine Therapie entschieden. Sie haben mit der Kombination Interferon und Ribovirin gute Chancen auf einen anhaltenden Behandlungserfolg. Medikamente: 4 Für HCV-Genotyp 1: 48 Wochen einmal wöchentlich 180 μg
Peginterferon-alpha-2a (oder Peginterferon-alpha-2b 1,5 μg/ kg) subkutan und täglich 1000–1200 mg Ribavirin per os. 4 Für HCV-Genotypen 2,3: Gleiche Medikation über einen Zeitraum von 24 Wochen. Nach 12 Wochen sollte die HCV-RNS im Serum mindestens um den Faktor 100 (2 log-Stufen) zurückgegangen sein. Andernfalls ist der Patient als Nonresponder einzustufen und die Therapie zu beenden. Erfolgsquote (HCV-RNS-negativ) am Ende der Behandlung 50–60%. Abbruchquote 20–30%. Patienten mit einem Rezidiv nach einer effektiven INF-Monotherapie sollten mit obiger Kombination erneut behandelt werden. Für Rezidive nach Kombinationstherapie gibt es keine Empfehlungen. Nebenwirkungen: Reversible Hämolyse mit Hb-Abfall um 2–3 g/
dl, auch Lymphopenie und Thrombopenie (deshalb regelmäßige Blutbildkontrollen). Neuropsychiatrische Syndrome (Depres-
sion, Stimmungsschwankungen, Angstzustände, kognitive Störungen), Hautausschläge, Alopezie, Retinopathie, Schlafstörungen, gastrointestinale Störungen. Autoimmunhepatitis Definition. Die Autoimmunhepatitis ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung der Leber unbekannter Ätiologie. Da sie häufig mit extrahepatischen klinischen Manifestationen der Autoimmunität assoziiert ist und mit der Produktion diverser Autoantikörper einhergeht, liegt die Annahme einer autoimmunologischen Pathogenese sehr nahe. Ein weiteres Argument dafür ist das Ansprechen auf Glukokortikoide und immunsuppressive Substanzen (Azathioprin), die bei viralen Hepatitiden schädlich sind. Epidemiologie. Die Prävalenz der Autoimmunhepatitis ist nicht genau bekannt. Die Inzidenz wird mit 0,2–1/100.000 Einwohner angegeben. Man rechnet mit einem Anteil von 10–20% unter den chronischen Leberkrankheiten. Immunpathogenese. Wie bei den meisten Autoimmunkrank-
heiten ist mit den Zusammentreffen von genetischer Disposition und exogenen Faktoren zu rechnen. Die genetische Komponente manifestiert sich bei 60% der meist weiblichen Patienten in der Assoziation mit den HLA-Loci HLADRB3*0101 und HLADRB*0401. Die exogenen Kausalfaktoren sind weitgehend unbekannt. Eine typische, allerdings reversible »lupoide Hepatitis« wurde früher durch das Abführmittel Oxiphenisatin beobachtet. Die Leber ist mit CD8+-T-Zellen infiltriert, von denen die Hepatozyten angegriffen und zerstört werden. Auch Plasmazellen sind vorhanden. Offenbar reagieren die zytotoxischen CD8+T-Zellen mit Peptiden, die mit MHC-Molekülen an die Hepatozytenoberfläche exprimiert werden. Das Auftreten von Autoantikörpern u.a. gegen Zellkerne (ANA), glatte Muskelfasern (SMA), lösliches Leberprotein (SLA) und Mikrosomen in Leber und Nieren (LMK) zeigen, dass es sich in vielen Fällen um eine systemische Autoimmunreaktion handelt. Klinik. Zu beobachten sind zwei Manifestationsalter mit Unterschieden im klinischen Bild. Bei Frauen in der dritten Lebensdekade, wie bei Kindern beginnt die Krankheit akut mit ikterischer Hepatitis, Splenomegalie, Fieber und extrahepatischen Autoimmunprozessen (Pleuritis, Lungeninfiltrationen, Glomerulonephritis, Polyarthritis). Die andere Variante tritt vorwiegend in der Peri- und Postmenopause auf und beginnt schleichend mit Schwäche, Leberschwellung und erhöhten Transaminasen. Diagnostik. Auszuschließen sind die bekannten viralen Hepati-
tiden, Morbus Wilson, α1-Antitrypsinmangel, Leberschäden durch Medikamente oder Toxine und eine alkoholische Hepatitis. Das Serum weist unterschiedliche Muster von Autoantikörpern auf, die zur Unterscheidung von 3 Typen geführt haben:
407 4.7 · Leber und Gallenwege
4 Typ I: ANA, Anti-Aktin 4 Typ II: Anti LKM-1, Anti-Zytochrom p4502D6. 4 Typ III: SLA (SMA), kein ANA und LKM-1.
innerhalb von 6 Monaten ein, die histologische, durch Leberbiopsie zu bestätigende, aber viel später (bei 95% nach 2 Jahren).
Fast immer besteht eine Hypergammaglobulinämie (IgG). Im akuten Stadium können LE-Zellen gefunden werden. Vor einigen Jahren hat die Internationale Autoimmunhepatitisgruppe eine große Zahl von diagnostischen Kriterien zusammengestellt, dazu eine Punktskala zur Gewichtung der einzelnen Kriterien entwickelt. Daraus lässt sich ein Score ermitteln, der für oder gegen die Diagnose zu interpretieren ist. Man wird aber auch ohne ein solches Verfahren auskommen. Mitentscheidend ist das Ansprechen auf Glukokortikoide. Zum diagnostischen Programm gehört neben Laborchemie und Blutbild eine Leberbiopsie zu Klärung des Schweregrades der histologischen Veränderungen. Verlauf: Es handelt sich um eine chronische nekrotisierende Entzündung der Leber mit Fibrosierung und der Tendenz zum Übergang in eine Zirrhose, auf deren Boden auch ein HCC entstehen kann. In voll ausgeprägten schweren Fällen ist ohne Therapie innerhalb von 6 Monaten mit einer Mortalität von 40% zu rechnen. Vor Einführung der Glukokortikoidtherapie betrug die 5-Jahresüberlebensrate nur 50%. Jetzt ist sie auf durchschnittlich 70–80% gestiegen. Von den Patienten mit sehr schwerem Verlauf überleben nach 10 Jahren nur 10%. Im Endstadium der Erkrankung kommt eine Lebertransplantation in Betracht. Im Transplantat kann unter immunsuppressiver Therapie ein Rezidiv weitgehend verhindert werden.
Langzeitbehandlung: Zur Verhütung von Rezidiven (bei vorzei-
Therapie. Die Standardmedikamente sind Prednison und Azathioprin. Ersteres ist unverzichtbar, letzteres verstärkt den immunsuppressiven Effekt und dient als »Cortisonsparer« . Kontraindiziert ist Azathioprin in der Schwangerschaft. Initialbehandlung und im akuten Schub: Es gibt 2 gleichwertige
Programme, die in . Tab. 4.12 dargestellt sind. Remission: Die klinische und laborchemische Remission (Nor-
malisierung der Transaminasen) tritt bei 65% der Patienten schon
tigem Therapieabbruch in 80–90% der Fälle) muss die Behandlung mit der Erhaltungsdosis für 2–4 Jahre fortgesetzt werden, nicht selten während 5 und mehr Jahren. Bei Rezidiven ist das Therapieschema zu wiederholen. Osteoporoseprophylaxe mit Calcium und Vitamin D, nötigenfalls mit Biphosphonaten (7 Kap. 8). Therapieversager: Etwa 13% der Patienten sprechen auf die
Kombinationsbehandlung nicht an. Die Mehrzahl von ihnen verschlechtert sich sogar. Das gibt Anlass, die Diagnose zu überprüfen. Der Ersatz von Azathioprin durch Ciclosporin, Tacrolimus oder Mycophenolat hat noch nicht überzeugt. Letzter Ausweg bleibt in fortgeschrittenen Fällen die Lebertransplantation. 4.7.6 Toxische Leberkrankheiten Substanzklassen In den letzten Jahrzehnten wurden über 600 chemische Substanzen und Arzneimittel als potenziell leberschädigend erkannt. Viele wurden eliminiert, doch gibt es unter den Arzneimitteln immer noch zahlreiche in deren Prospekt auf mögliche Leberschäden hingewiesen wird. Es sind 3 Kategorien von Hepatotoxinen zu unterscheiden, die in . Tab. 4.13 dargestellt sind. Toxinbildung durch Biotransformation Chemische Substanzen erfahren in der Leber eine Transformation, deren 1. Phase unter Einwirkung von Cytochrom P-450 oxidativ ist und aktive Metaboliten liefert, die potenziell hepatotoxisch sind. In der 2. Phase werden die Metaboliten in nichttoxische, stärker hydrophile Produkte übergeführt, hauptsächlich durch Konjugation mit Glutathion, Glucuronsäure oder Sulfat. Die konjugierten Metaboliten werden dann über die Nieren oder mit der Galle ausgeschieden. In der Phase 1 können besonders
. Tabelle 4.12. Behandlung der Autoimmunhepatitis im akuten Schub
Zeitraum
1. Programm
2. Programm
1. Woche
60 mg Prednison/Tag (morgens in einer oralen Dosis)
30 mg Prednison/Tag 50 mg Azathioprin/Tag
2. Woche
40 mg Prednison/Tag
20 mg Prednison/Tag 50 mg Azathioprin/Tag
3. Woche
30 mg Prednison/Tag
15 mg Prednison/Tag 50 mg/Azathioprin/Tag
4. Woche
20 mg Prednison/Tag als Erhaltungsdosis bei Remission Azathioprin zugeben (von 50 auf 100 mg/Tag steigern) Prednison in kleinen Schritten auf 10–8 mg/Tag reduzieren
Erhaltungsdosis Prednison bis 10 mg/Tag Azathioprin 50–100 mg/Tag
4
408
Kapitel 4 · Krankheiten der Verdauungsorgane
. Tabelle 4.13. Hepatotoxine
Kategorie
Art
Beispiele
Arzneimittel (Beispiele)
Anästhetika
Enfluran, Halothan
Psychopharmaka
Hydrazide, Chlorpromazin, Trazodon, Diazepam
Antikonvulsiva
Phenytoin, Valproinsäure
Analgetika, Antiphlogistika, Gichtmittel
Acetaminophen, Salizylate, Diclofenac, Goldsalze, Allopurinol
Hormone und Hemmstoffe
Anabolika, orale Kontrazeptiva, Thyreostatika, orale Antidiabetika
Antiarrhythmika
Chinidin, Amiodaron, Propafenon, Chlortalidon
Antihypertonika
Methyldopa, Diltiazem, Verapamil, Captopril
Antibiotika
Tuberkulostatika, Sulfonamide, Makrolide, semisynthetische Penicilline, Cephalosporine, Antimykotika
antivirale Mittel
Zidovudin, Didanosin, Stavudin, Acyclovir, Lamivudin, Ribavirin
Zytostatika
Cisplatin, Cyclophosphamid, Etoposid, Fluorouracil, Vincristin, Tamoxifen
Pilzgifte
Knollenblätterpilz (Amatoxine, Phallotoxine)
Pyrrolizidin-Alkaloide
In Krotalaria-, Senecio- und Heliotropagewächsen (Südostasien, Zentralasien, Südafrika) verbreitet. Konsumiert in Buschtees, kontaminiertem Brot und Getreide
Aflatoxine
Stoffwechselprodukt von Aspergillus flavus (in verschimmelten Speisen)
Alkohol
abhängig von der Menge
Tetrachlorkohlenstoff sowie andere halogenierte Kohlenwasserstoffe
Exposition in der Farben-, Lack- und Gummiindustrie
Dinitrophenol und andere Nitroverbindungen und Amine aromatischer Kohlenwasserstoffe
Verwendung zur Holzimprägnierung und in der Farbenproduktion
Vinylchlorid
Exposition bei der Kunstfaserherstellung
anorganische Gifte
gelber Phosphor, Arsen, Kupfer, Blei
4
Nahrungstoxine
Industriechemikalien
toxische Metaboliten entstehen, die sofort Schäden setzen, z.B. CCl3 aus CCl4. Toxische Effekte resultieren aber auch, wenn die Konjugationsreaktionen durch große Mengen an Metaboliten überfordert werden oder durch unterschiedliche Einflüsse geschwächt sind. So wirken vom Paracetamol erst sehr hohe Dosen leberschädigend, weil dann das Glutathion nicht ausreicht, um den toxischen Metaboliten NAPQI zu binden. Disposition Man unterscheidet obligate Hepatotoxine, die dosisabhängig immer toxisch wirken und fakultative Toxine, die nur bei individueller Disposition toxisch wirken (Isoniazid, Halothan u.a.). Die individuelle Überempfindlichkeit nennt man Idiosynkrasie. Sie kann metabolisch bedingt sein, z.B. durch Isoenzyme, oder durch immunologische Sensibilisierung mit nachfolgender Immunreaktion. Letzteres geschieht, wenn Substanzen oder Metaboliten als Hapten wirken und Neoantigene erzeugen.
Wirkungsmechanismen und Angriffspunkte der Hepatotoxine Direkte zytotoxische Wirkung: Globalschädigung, die sich auf Membranen, subzelluläre Strukturen und Zytoplasma erstreckt → Nekrose, Fettinfiltration. Indirekte zytotoxische Wirkung: Hemmung spezifischer Stoffwechselprozesse → Steatose oder Nekrose. Indirekte cholestatische Wirkung: Hemmung der Gallensekretion → Cholestase mit und ohne Ikterus. Immunmechanismen: Immunreaktionen durch Antikörper oder Immunzellen gegen Hepatozyten → Nekrose oder Cholestase. Vorausgehen muss eine mehrwöchige Sensibilisierung. Klinik. Akute toxische Lebererkrankungen Unkomplizierte Cholestase: Induziert durch C-17-alkylierte
anabol-androgene Steroide und Ovulationshemmer. Bei disponierten Individuen dosisabhängiger Übergang von der anikterischen zur ikterischen Form. Symptome: Hautjucken, danach
409 4.7 · Leber und Gallenwege
Ikterus mit Inappetenz und Oberbauchbeschwerden. Im Serum AP und und Gallensäuren erhöht, Transaminasen kaum. Rückbildung nach Absetzen der Mittel.
Nichtzirrhotische portale Hypertension: Vinylchloridkrankheit mit hepatoportaler Sklerosierung und Milztumor. Bei VitaminA-Intoxikation mit zentrilobulärer Fibrose.
Cholestatische Hepatitis: Induziert durch Tuberkulostatika, Phe-
Leberadenome: Induziert durch Ovulationshemmer. Pathogene-
nothiazide, Thyreostatika u.a. Keine Dosisabhängigkeit. Prodromalstadium mit Fieber, Übelkeit, Leibschmerz, auch Arthralgien. Ikterus nicht obligatorisch. Cholestaseenzyme und Transaminasen sind erhöht. Ausheilung nach Absetzen der Mittel.
se unklar. Leberkarzinome: Entstehung auf dem Boden chronischer nekrotisierender Hepatitis.
Akute nekrotisierende Hepatitis: Induziert durch Isoniazid,
Angiosarkome: Komplikation der Vinylchloridkrankheit, selten
CCl4, Paracetamolüberdosis, Methyldopa und Halothan. Das klinische Bild entspricht dem der akuten Virushepatitis, nicht selten fulminante Verlaufsform. Bei Knollenblätterpilzvergiftung fulminante, meist tödliche Hepatitis, der eine choleraähnliche Diarrhö mit Leibschmerzen vorausgeht.
durch Arsen (Winzer).
Akute Fettleber: Kommt bei Tetracyclinüberdosierung (intravenös) und im letzten Trimenon der Schwangerschaft (durch Tetracyclin und Pyelonephritis begünstigt) vor. Schweres Krankheitsbild mit progredienter Leberinsuffizienz, die meistens zum Tode führt. Histologie: Diffuse feintropfige Verfettung, keine Nekrosen.
Diagnostik. In vielen Fällen sind vor allem Arzneimittelschäden
der Leber klinisch asymptomatisch. Nicht selten fallen sie durch unerwartet hohe Transaminasen oder Cholestaseenzyme auf. Es müssen dann alle vom Patienten eingenommenen Medikamente unter Verdacht gestellt und für wenige Wochen nach Möglichkeit komplett abgesetzt werden. Manchmal ist eine Revision der Hausapotheke angezeigt. Unerlässlich ist der Ausschluss anderer in Betracht kommender Krankheitsursachen. Auf allergische Reaktionen weisen Fieber, Hautausschläge, Eosinophilie und die vorausgegangene Sensibilisierung hin.
Die gleichen Substanzen, die akute Schäden hervorrufen, können in manchen Fällen, insbesondere bei permanenter oder intermittierender Exposition, progrediente chronische Schäden verursachen.
Therapie. Gute Regenerationschancen nach Absetzen bzw. Ausschaltung der toxischen Substanz. Bei Paracetamol-Hepatitis Infusionen mit Glukose-Acetylcystein-Lösungen. Bei Knollenblätterpilzvergiftung Thioctsäure und Penicillin (i.v.). Kortikoide nur bei allergischen Reaktionen.
Chronische Hepatitis: Induziert durch Methyldopa, Nitrofurantoin, und Sulfonamide. Histologie: nekrotisierende Entzündung.
4.7.7 Alkoholische Leberkrankheiten
Chronische toxische Lebererkrankungen
Klinische Zeichen der akuten hepatozellulären Schädigung oder latenter Verlauf bis zu den Manifestationen der Leberzirrhose. Stillstand des Prozesses bzw. Remission nach Absetzen des Medikamentes. Fettleber: Induziert durch Glukokortikoide, Methotrexat u.a. Histologie: großtropfige Steatose. Lebervergrößerung, geringe
klinische Erscheinungen. Vaskuläre Läsionen:
4 Budd-Chiari-Syndrom (Lebervenenthrombose) unter oralen Kontrazeptiva. 4 Venookklusive Lebererkrankung mit Verschluss der zentralen Lebervenüle (durch Pyrrolizidin-Alkoide im Fernen Osten, manchmal epidemisch auftretend). 4 Peliosis hepatis (blutgefüllte Lakunen durch Erweiterung der Sinusoide) durch orale Androgene und Anabolika. Klinisch Oberbauchbeschwerden und intraperitoneale Blutungen. Leberzirrhose: Makronodulärer Typ (Isoniazid, Methyldopa)
oder mikronodulärer Typ (Methotrexat).
Pathogenese. Direkte toxische Wirkungen hat der Alkohol
hauptsächlich auf das Zentralnervensystem. Sie sind depressorischer Natur und exzitatorisch nur dadurch, dass inhibitorische Neurone supprimiert werden. Für den Stoffwechsel ist Alkohol ein Nahrungsmittel mit relativ hohem Energiegehalt (7,1 kcal/g), das zu 98% in der Leber oxidativ abgebaut wird. Kleine Mengen werden mit der Atemluft und durch die Nieren ausgeschieden. Wenn Alkoholiker ihren Kalorienbedarf bis zur Hälfte mit Alkohol decken, werden normale Nahrungsbestandteile zurückgedrängt. Das kann zu einem für diverse Organe schädlichen Mangel an Folsäure, Thiamin und anderen Vitaminen führen. Leberschäden entstehen durch chronischen übermäßigen Alkoholkonsum, wobei die toxischen Effekte der gesteigerten Alkoholoxidation die entscheidende Rolle spielen. In der Leberzelle wird der Hauptanteil des Alkohols durch die zytosolische NAD+-abhängige Alkoholdehydrogenase zu Acetaldehyd oxidiert und dieser anschließend durch eine mitochondrale Aldehyddehydrogenase zu Essigsäure abgebaut. Bei beiden Reaktionen wird NADH gebildet, das im Überschuss produziert, metabolische Störungen verursacht:
4
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Kapitel 4 · Krankheiten der Verdauungsorgane
4 Hemmung der Fettsäureoxidation mit Neutralfettablagerung in der Leberzelle und Hyperlipämie durch gesteigerte Sekretion aller Lipoproteinklassen einschließlich HDL. 4 Hyperlaktatämie mit Azidose, die über eine Hemmung der renalen Harnsäureausscheidung zur Hyperurikämie führt. 4 Hemmung der Glukoneogenese mit Tendenz zur Hypoglykämie.
4
Hinzu kommen toxische Effekte des Acetaldehyds: 4 Reduzierung der O2-Utilisation der Mitochondrien 4 Abnahme des Glutathiongehalts der Zelle mit Begünstigung der Lipid-Peroxidation 4 Hemmung der Proteinsekretion durch Reaktion mit dem Tubulin der Mikrotubuli. Die Ansammlung von Fett, Proteinen und Wasser lässt die Hepatozyten ballonartig anschwellen. Außerdem stimulieren Acetaldehyd-Protein-Addukte die Kollagenbildung. > Das Enzym Alkoholdehydrogenase ist auch in der Magenschleimhaut enthalten und baut einen kleinen Teil der aufgenommenen Alkoholmenge ab. Aspirin und Cimetidin hemmen das Enzym. Unter diesen Medikamenten kann deshalb der Blutalkoholspiegel auf höhere Werte ansteigen.
Ein zweiter Weg des Alkoholabbaus, der bei chronischem Alkoholkonsum zunehmend beschritten wird, ist die Oxidation durch das mikrosomale Enzym Cytochrom-P-450-2E1. Sie erfolgt ebenfalls über Acetaldehyd zur Essigsäure und verbessert die metabolische Alkoholtoleranz der Alkoholiker. Dieses oxidierende System wird durch Alkohol zu höherer Aktivität induziert. Da es auch zahlreiche exogene Substanzen und Medikamente abbaut, ist deren Metabolisierung bei chronischen Alkoholkonsumenten beschleunigt und der Anfall toxischer Zwischenprodukte erhöht. Als Konsequenz daraus ergibt sich, dass die Verträglichkeit für Paracetamol und Narkosemittel (Enfluran, Methoxyfluran) abnimmt. Im Gegensatz dazu werden exogene Substrate des Cytochrom-P-450-2E1 bei kurzzeitigem Alkoholkonsum verzögert abgebaut, weil sie mit dem Alkohol um das Enzym konkurrieren müssen. Das führt bei gleichzeitiger Einnahme mit Alkohol, z.B. bei Tranquilizern und Barbituraten zu manchmal bedenklich erhöhten Blutspiegeln. Die zu Leberschäden führende Alkoholmenge ist von Individuum zu Individuum unterschiedlich. So erkranken nur etwa 20% der chronischen Trinker an alkoholischer Leberzirrhose. Diese Variabilität scheint überwiegend genetisch determiniert zu sein. Frauen tolerieren Alkohol schlechter als Männer, wahrscheinlich durch Einflüsse der Sexualhormone auf verschiedene Leberfunktionen. Bei ihnen ist auch die Aktivität der Alkoholdehydrogenase in der Magenschleimhaut niedriger. Bei Männern führt ein chronischer täglicher Alkoholkonsum von 40–60 g zu einem signifikanten Anstieg der Zirrhose-Inzidenz, bei Frauen schon eine Tagesmenge von 20 g. Als unbedenklich gilt für Män-
ner ein Tageskonsum von 2-mal 14 g Alkohol (345 ml Bier oder 148 ml Wein), für Frauen sind es 1-mal 14 g. Im Alter nehmen vor allem die psychotropen Effekte des Alkohols zu. Alkoholische Fettleber Die alkoholische Fettleber ist die früheste morphologische Manifestation der alkoholischen Leberschädigung mit großtropfiger (makrovesikulärer) Neutralfettablagerung in den Hepatozyten. Große Fetttropfen können den Kern an den Rand der Zelle drängen. Bei erheblichem Alkoholkonsum entwickelt sich eine Steatose schon innerhalb weniger Wochen. Es handelt sich aber nicht um eine alkoholspezifische Veränderung. Die großtropfige nichtalkoholische Fettleber (. Abb. 4.43) kommt bei Adipositas, Diabetes mellitus Typ 2, metabolischem Syndrom, Fettsucht und Hypertriglyzeridämie vor. Sie kann über Fettleberhepatits und Fibrose auch zur Leberzirrhose führen. Klinik. Die meisten Patienten sind asymptomatisch. Bei schneller Ausbildung der Steatose kann Druckgefühl im rechten Oberbauch auftreten. Die Leber ist tastbar vergrößert mit glatter Oberfläche. Von den Leberfermenten können die ãGT und die alkalische Phosphatase erhöht sein. Häufig besteht eine Hypertriglyzeridämie mit erhöhtem Gesamtcholesterin. Die Fettinfiltration lässt sich sonographisch (Echogenitätsvermehrung im Vergleich zur Echogenität des Nierenparenchyms) nachweisen. CT und MRT sind dazu meist entbehrlich. Beginnende entzündliche oder fibrotische Läsionen lassen sich durch die Leberblindpunktion ausschließen. Therapie. Unter Alkoholabstinenz bildet sich die Steatose inner-
halb weniger Monate vollständig zurück. Andere Maßnahmen
. Abb. 4.43. Minilaparoskopisches Bild einer nichtalkoholischen Fettleber (aus Internist 46; 2005: 1326)
411 4.7 · Leber und Gallenwege
helfen nicht. Zusätzlich empfehlenswert ist eine eiweiß- und vitaminreiche Kost. Alkoholische Hepatitis (Fettleberhepatitis) In der Fettleber kommt es durch toxische Effekte zu Leberzellnekrosen mit reaktiven polymorphkernigen Infiltraten. In manchen Hepatozyten treten Mallory-Körperchen auf, hyaline rötliche Einschlusskörper aus fibrillären Proteinen. Häufig sind um die terminale Venüle und perisinusoidal schon fibröse Stränge anzutreffen. An der Entzündungsreaktion wirken Zytokine mit, insbesondere der Tumornekrosefaktor α, der eine Kaskade weiterer Zytokine aktiviert. Klinik. Bei chronisch protrahiertem Verlauf können klinische Symptome ausbleiben. Eine akute alkoholische Hepatitis entwickelt sich oft nach schwerem Alkoholexzess. Sie geht mit Inappetenz, Übelkeit und Erbrechen, häufig auch mit Fieber einher. Die Patienten haben Oberbauchbeschwerden und werden ikterisch. Im Serum sind konjugiertes Bilirubin, Transaminasen und ãGT stärker erhöht. Manchmal besteht eine deutliche intrahepatische Cholestase mit starkem Ikterus, hoher alkalischer Phosphatase und acholischem Stuhl. Mitunter kommt es zum Ziewe-Syndrom, das durch die Trias Cholestase, Hyperlipämie und Hämolyse gekennzeichnet ist.
Fibrose zerlegt die Läppchen in Pseudoläppchen ohne Zentralvene. Die Folgen sind Perfusionsstörungen mit Beeinträchtigung der Parenchymfunktion, portale Hypertension und portokavale Kurzschlüsse. Klinik und Therapie. 7 Kap. 4.7.8.
4.7.8 Leberzirrhose Definition. Umbau der Leber durch knotige Leberzellregenerate
und Narben unter Aufhebung der normalen Läppchenstruktur nach ausgedehnten Parenchymverlusten. Als Aktivitätszeichen des destruktiven Prozesses sind häufig intralobuläre und portale entzündliche Infiltrationen und frische Nekrosen nachzuweisen. Ätiologie. Häufige Ursachen: 4 Virushepatitiden (B±D, C): weltweit an erster Stelle 4 Alkohol: in der westlichen Welt dominierend. Weitere Ursachen: 4 biliäre Zirrhose: Zerstörung des Leberparenchyms von den
septalen und interlobulären Gallenwegen aus: 5 primäre biliäre Zirrhose: Autoimmunologisch bedingte Cholangiolitis 5 sekundäre biliäre Zirrhose: durch kompletten oder inkompletten Choledochusverschluss
Diagnostik. Die Diagnose ergibt sich aus der Alkoholanamnese,
die durch Bestimmung des CDT (Carbohydrate-Deficient-Transferrin) verifiziert werden kann und den biochemischen Parametern. Virushepatitiden und andere Intoxikationen sind auszuschließen. Therapie. Die alkoholische Hepatitis kommt nicht nur auf dem Boden einer Fettleber vor, sondern auch als entzündliche Exazerbation einer Leberzirrhose. Der Schweregrad hängt vom Ausmaß der Leberzellnekrosen ab. Im schlimmsten Fall kann es zum akuten Leberversagen mit tödlichem Ausgang kommen.
4 Autoimmunhepatitis 4 hereditäre Hämochromatose: Eisenspeicherkrankheit 4 Lebervenenstauung: bei chronischer Herzinsuffizienz und 4 4 4 4
Perikarditis constrictiva Budd-Chiari-Syndrom: Lebervenenverschluss Morbus Wilson: hereditäre Kupferspeicherkrankheit toxische Hepatitis: durch Methotrexat α1-Antitrypsinmangel: Bildung und Speicherung eines de-
fekten Enzymproteins in den Hepatozyten
Verlauf. Akute Verlaufsformen sind stationär zu behandeln, mit
Infusionen, nötigenfalls Sondenernährung und Vitaminen (Thiamin, B6, Folsäure). Sofern keine Infektion vorliegt bzw. unter Antibiotikaschutz sind Glukokortikoide indiziert. Unter absoluter Alkoholkarenz ist auf Entzugssymptome zu achten, die mit Diazepam zu behandeln sind. Alkoholische Leberzirrhose Endstadium der alkoholischen Leberschädigung mit fibröser Narbenbildung und mikronodulärer Parenchymregeneration. Die Fibrosierung geht hauptsächlich von einer Stimulation der Sternzellen (Itozellen) aus, die in kollagenproduzierende Myofibroblasten transformiert werden. Diese Zellen werden schon in fortgeschrittenen Fettlebern aktiv und können ohne Zwischenschaltung einer alkoholischen Hepatitis den Übergang in eine Zirrhose bewirken. Die von den Periportalfeldern ausgehende
4 Galaktosämie 4 Glykogenspeicherkrankheit 4 kryptogene Zirrhosen: Sammelbegriff für ungeklärte Zirrhosen. Pathogenese und Pathologie. Parenchymverlust: Durch direkte Leberzellschädigung, entzünd-
liche bzw. immunologische Reaktionen und intrahepatische Perfusionsstörungen. Trotz Ausbildung von Regeneratknoten resultiert eine progrediente Funktionseinschränkung, die sich in einer Verminderung des Serumalbumins und des Plasmaprothrombins manifestiert (. Abb. 4.44). Fibrosierung: Sie verändert Struktur und Perfusion und trägt maßgeblich zur Schrumpfung und Verhärtung der Leber bei. Die Bindegewebebildung geht von den Sternzellen (Itozellen) aus, die
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Kapitel 4 · Krankheiten der Verdauungsorgane
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. Abb. 4.44. Laparoskopische Bilder von Vorläufern der Leberzirrhose. 1 persistierende chronische Hepatitis (glatte Oberfläche mit wenigen zarten Lymphgefäßen), 2 HBV-induzierte aktive chronische Hepatitis (unregelmäßige Oberfläche, ausgeprägte entzündliche Gefäßreaktionen),
3 inkomplette Leberzirrhose (mit sich anbahnenden flachen Regeneraten), 4 komplette Leberzirrhose (voll ausgeprägter mittel- bis grobknotiger Umbau (aus Internist 3/1993).
durch verschiedene Signale (Zytokine, PDGF, toxische O2-Radikale, Faktoren aus Hepatozyten und Kupffer-Zellen) aktiviert und in Myelofibroblasten (mit kontraktilen Eigenschaften) transformiert werden. Die Sternzellen verlieren ihre Retinoide und scheiden Kollagen (Typen 1 und 3) aus, das in den Disse-Räumen die Endothelfenster der Sinusoide verengt und so die Leberfunktion beeinträchtigt. Kollagenstränge schnüren auch die terminalen portalen Venülen ein und erhöhen dadurch den portalen Strömungswiderstand. Allmählich entwickeln sich hauptsächlich in der Azinusperipherie breite Narbenstränge, die von Zentralvenen zu Zentralvenen und von Zentralvenen zu Portalvenen verlaufen. Auf diese Weise verschwindet die normale Läppchenarchitektur. In den Bindegewebesepten entstehen Gefäßbrücken, die portale Venülen und Arterienaufzweigungen mit den Zentralvenen verbinden und zum portokavalen Shunt führen. Regenerate: Azinusreste regenerieren unter Knotenbildung aus Hepatozyten. Der Knotendurchmesser beträgt bei der mikronodulären Zirrhose 1000 n/ml anzunehmen. In der Leber, die am häufigsten betroffen ist, schreiten die Parenchymläsionen bis zum Vollbild der Leberzirrhose fort. Etwa 65% der Patienten erkranken an Diabetes mellitus, 15% an Kardiomyopathie. Es kommen auch Infertilität und Impotenz vor. Eine Arthropathie in großen und kleinen Gelenken durch Ablagerung von Calciumpyrophosphaten und Eisen tritt in 25–50% der Fälle auf. Bronzefarbene Hautpigmentierungen durch Melanin in der Basalschicht, die früher zur Bezeichnung Bronzediabetes geführt haben, sind durch die Therapie selten geworden.
Diagnostik: Zu bestimmen sind Eisen, Transferrinsättigung und
Ferritin im Serum, außerdem die Leberwerte und der Nüchternblutzucker. Auszuschließen sind Alkoholschädigung, hämolytische Anämien, hepatische Pophyrien, nichtalkoholische Fettleber und Virusinfektionen der Leber. Die erhöhte Dichte der Leber infolge der Eisenspeicherung lässt sich mittels CT oder MRT erfassen. Schweregrad der Eisenspeicherung und der Leberschädigung sind am zuverlässigsten durch eine Biopsie zu ermitteln. Definitiv kann die Diagnose erst nach gentechnologischer Erfassung der Mutation gestellt werden. Für den Patienten ist eine frühe Diagnose entscheidend, weil durch die Therapie mit Aderlässen Organschäden abgewendet werden können. Morbus Wilson (hepatolentikuläre Degeneration) Seltene autosomal-rezessiv vererbte Störung des Kupferstoffwechsels mit Kupferspeicherung in der Leber und im ZNS. Der genetische Defekt betrifft das Gen für die Kupferpumpe der Hepatozyten, eine P-Typ-ATPase (ATP7B). Pathogenese. Das Enzym transportiert Kupfer in das von der Le-
berzelle synthetisierte Apocaeruloplasmin, das dann als Caeruloplasmin mit der Galle ausgeschieden wird. Die mutierte ATPase ist zum Kupfertransport ungenügend befähigt, worauf das Apocaeroloplasmin katabolisiert wird und das Kupfer in der Zelle verbleibt. Wenn die Speicherkapazität der Hepatozyten für Kupfer überschritten wird, tritt vermehrt freies Kupfer in die Blutbahn über, während das Serum-Caeruloplasmin gegenüber der Norm stark erniedrigt bleibt. In der Leber kommt es zuerst zur Fettinfiltration und Glykogenablagerung. Elektronenmikroskopisch sind Mitochondrienläsionen nachzuweisen. Es folgen Nekrosen, Entzündung, Fibrose, Gallengangsproliferation und Zirrhose. Die Kupferablagerungen im Gehirn betreffen hauptsächlich die lentikulären Nuklei, weniger Pons, Medulla, Thalamus, Klein- und Großhirn. Klinik. Die klinischen Manifestationen beginnen nach dem 6. Lebensjahr, am häufigsten in der Mitte der Adoleszenz. Der Morbus Wilson kann sich unter 4 Typen von Lebererkrankungen verbergen: 4 selbstlimitierte akute Hepatitis 4 chronische aktive Hepatitis mit Übergang in eine Zirrhose 4 schleichende Entwicklung einer Zirrhose 4 fulminante Hepatitis.
Neurologische oder psychiatrische Manifestationen sind oft die frühesten Symptome: 4 neurologische Anomalien: Ruhe- und Intentionstremor, Spastik, Rigidität, Chorea, Dysarthrie 4 psychiatrische Anomalien: Verhaltensstörungen, Nachlassen der Schulleistungen, Affektausbrüche, Wesensveränderungen, Psychosen. Selten kommt es zu hämolytischen Anämien mit intravasaler Hämolyse und Hämoglobinurie.
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Kapitel 4 · Krankheiten der Verdauungsorgane
Lebervene
rechter Vorhof
4 TIPS Magenvene . Abb. 4.47. Kayser-Fleischer-Kornealring bei Morbus Wilson (aus N. Zöllner: Innere Medizin. Springer, Heidelberg 1991)
Diagnostik. Pathognomonischer goldbrauner Kayser-Fleischer-
Ring an der Hornhautperipherie (. Abb. 4.47) bei neurologischen Symptomen stets vorhanden. Caeruloplasmin im Serum erniedrigt. Gesamtkupfer im Serum (freies Kupfer + Caeruloplasmingebundenes) erniedrigt oder normal. Stark erhöhter Kupfergehalt des Lebergewebes (500–1000 mg/kg Trockengewicht. Kupfer im Harn erhöht (100–1000 mg/24 Std.). Familienscreening ermöglicht Frühdiagnose. Therapie bei Leberzirrhosen. Allgemeine Maßnahmen Lebensweise und Ernährung: Beschränkung der körperlichen
Aktivität, bei akuten Schüben und Dekompensation Bettruhe bzw. Klinikeinweisung sowie: 4 vitaminreiche, nicht blähende Kost mit 70 g Protein pro kg KG 4 Substitution von Folsäure und B-Vitaminen nach Bedarf 4 Alkoholabstinenz auch bei nichtalkoholischer Zirrhose 4 Medikamente auf das Nötigste beschränken. Bei Aszites: Bettruhe zur Verbesserung der Diurese. Strenge Kochsalzbeschränkung, Flüssigkeitsbeschränkung nur bei Hyponatriämie (100 μmol/l. 5-Jahresüberlebensrate >80% 4 chronische Hepatitis B (HBV-DNS-negativ): postoperative Reinfektion häufig, unter fortlaufender Immunglobulinprophylaxe Prognose ähnlich wie bei anderen Indikationen 4 chronische Hepatitis C: gute Prognose trotz regelmäßiger Reinfektion, eine antivirale Nachbehandlung verzögert Zirrhose des Transplantats 4 Autoimmunhepatitis: beim Versagen der immunsuppressiven Therapie, Rezidive möglich 4 alkoholische Leberkrankheit: für motivierte Patienten, die abstinent geworden sind 4 Morbus Wilson: beim Versagen der Chelat-Therapie indiziert 4 weitere hereditäre Stoffwechselkrankheiten wie α1-Antitrypsinmangel, Glykogenspeicherkrankheit und CriglerNajjar-Krankheit Typ I. Immunsuppression: Initial mit Ciclosporin oder Tacrolimus, die
beide aber nephrotoxisch sind. Akute Abstoßungsreaktionen werden mit einem Methylprednisolonstoß, nötigenfalls auch mit monoklonalen Antikörpern gegen T-Zellen (OKT3) behandelt. Als gut wirksames Immunsuppressivum steht auch Mycophenolsäure zur Verfügung. Nachbehandlung: Lebenslange Immunsuppression gegen Transplantatabstoßung. Energische Behandlung der unter Immunsuppression begünstigten Infektionen. Rückfällen einer Hepatitis B kann durch Langzeitprophylaxe mit HBIg begegnet
werden. Die HCV-Infektion rezidiviert regelmäßig, meistens aber verzögert und moderat. Die Monotherapie mit Interferon ist nur von zeitlich begrenztem Nutzen. Ergebnisse: Die Erfolge hängen entscheidend vom Kompensationszustand der Patienten zum Zeitpunkt der Transplantation ab. Bei guter Kompensation überleben nach einem Jahr 85–90% und nach 5 Jahren >60% der Patienten. Sie erreichen eine gute Lebensqualität und werden in der Mehrzahl wieder arbeitsfähig. Bei Patienten, die vor der Transplantation wegen schlechter Kompensation kontinuierlich stationär behandelt werden mussten, beträgt die 1-Jahresüberlebensrate 70% und in besonders schweren Fällen nur 50%. 4.7.9 Benigne Lebertumoren Hepatozelluläre Adenome Vorkommen. Überwiegend bei Frauen mittleren Alters, assoziiert mit der Einnahme oraler Kontrazeptiva. Erhöhtes Risiko besteht aber auch durch Einnahme anaboler Steroide und exogener Androgene. Klinik. Schmerzen und tastbarer Tumor im rechten Oberbauch.
Der Durchmesser kann >10 cm betragen. Bei Einblutung große Schmerzen, auch eine intraperitoneale Blutung kann auftreten. Eine maligne Entartung ist selten. Diagnostik. Kombinierte Anwendung von Sonographie, CT, MRT und selektiver Angiographie. Der Tumor ist hypervaskulär. Im 99mTechnetium-Scan zeigt sich ein Defekt, da speichernde Kupffer-Zellen fehlen. Therapie. Hormone absetzen. Bei Adenomen >2 cm besteht die Gefahr der Entartung. Bei fehlendem Rückgang ist daher die chirurgische Entfernung angebracht.
Hämangiome Vorkommen. Betroffen sind überwiegend Frauen. Prävalenz in der allgemeinen Bevölkerung 0,5–7,0%. Klinik. Häufige, meistens kleine Lebertumoren, die mitunter multipel auftreten. Die Entdeckung ist in der Regel ein sonographischer Zufallsbefund. Identifizierung durch MRT oder kontrastverstärkte CT. Therapie. Eine Resektion kommt nur bei ungewöhnlich großen Exemplaren in Betracht.
Fokale noduläre Hyperplasie (FNH) Vorkommen. Hauptsächlich bei Frauen auftretender knotiger Tumor mit fibrotischem Kern und sternförmigen Ausläufern, der einen Durchmesser von >15 cm erreichen kann. Das Tumorgewebe weist atypische Hepatozyten, Kupffer-Zellen und Gallen-
419 4.7 · Leber und Gallenwege
. Abb. 4.49. Schnell wachsendes hepatozelluläres Karzinom bei einem jüngeren südostasiatischen Patienten mit HBs-Antigenpersistenz. a 2 cm großer Herd im rechten Leberlappen, b nach 15 Monaten hat das Karzinom trotz 5 arterieller Chemoembolisationen den rechten Leberlappen weitgehend ersetzt und die Interkostalmuskulatur (Stern) und die V. cava (Pfeil) infiltriert (aus Internist 2/2000)
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gangsepithel auf. Kontrazeptiva sind nicht die Ursache, sollen aber die Größenzunahme begünstigen. Klinik. Große Tumoren können zu Druckgefühl im rechten Oberbauch und Blutungen führen. Diagnostik. Im 99mTechnetium-Scan stellt sich wegen der Spei-
cherung in den Kupffer-Zellen ein Hot Spot dar. Weitere Klärung bringen Spiral-CT und MRT. Der Sonographiebefund ist mehrdeutig. Therapie. Kontrazeptiva absetzen. Resektion nur in symptomatischen Fällen.
4.7.10 Maligne Lebertumoren Hepatozelluläres Karzinom (HCC) Vorkommen. Die Inzidenz ist hauptsächlich an die Verbreitung der Hepatitis B gebunden. Sehr hoch ist sie deshalb in den Endemiegebieten Asiens und Afrikas, wo das HBV bereits perinatal übertragen wird. Auf 100.000 Einwohner erkranken dort pro Jahr bis 500 Personen, während es in westlichen Ländern nur 2,4/100.000 sind (. Abb. 4.49). Etwa 90% der Patienten mit HCC sind HBV-infiziert und über 80% haben eine Zirrhose. Nicht geringer ist das HCC-Risiko für HCV-Infizierte im Zirrhosestadium. Das HCV wird aber erst bei Erwachsenen durch Bluttransfusionen und Injektionen übertragen. Das HCC ist auch mit alkoholischer Leberzirrhose (. Abb. 4.50) und Hämochromatose assoziiert.
. Abb. 4.50. Uninoduläres umkapseltes hepatozelluläres Karzinom in einer feinknotigen alkoholischen Leberzirrhose (aus Internist 10/1997)
ist ungeklärt. Genetisches Material wird nicht übertragen. Wie bei vielen anderen Karzinomen kann das Tumorsuppressorgen p53 durch Mutation inaktiviert sein. Klinik. Meistens erst im fortgeschrittenen Stadium treten Anorexie, Gewichtsverlust, rechtsseitige Oberbauchschmerzen, Aszites und Fieber auf. Durch die bei Zirrhosepatienten gebotenen regelmäßigen sonographischen Kontrollen werden Karzinome zunehmend häufiger im asymptomatischen Frühstadium erfasst. Vereinzelt kommt es zu paraneoplastischen Syndromen mit Erythrozytose, Hyperkalzämie, Hypercholesterinämie, Hypoglykämie oder Dysfibrinogenämie.
Pathogenese. Für die Tumorgenese bei HBV-Infizierten spielt
die Integration der HBV-DNS in das Genom der Hepatozyten eine wichtige Rolle. In China ist das mutagene Schimmelpilzprodukt Aflatoxin B weit verbreitet. Die Karzinogenese durch HCV
Diagnostik. Sonographischer Verdacht bei unscharf begrenzten Herden mit hyperdensem Echomuster. Weitere Abklärung mittels Spiral-CT, MRT und Arteriographie. Die gezielte Biopsie
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Kapitel 4 · Krankheiten der Verdauungsorgane
wird wegen möglicher Aussaat von Tumorzellen im Stichkanal zurückhaltend eingesetzt. Im Serum ist das Alphafetoprotein (AFP) bei 70–80% der Patienten stark erhöht (>500 μg/l).
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Therapie. Nur wenige Patienten haben einen resezierbaren Tumor. Bei einer Läsion von ≤5 cm Durchmesser oder bis zu 3 Läsionen von ≤3 cm Durchmesser ist eine Lebertransplantation erfolgversprechend. Mit systemischer Chemotherapie ist nichts auszurichten. Als Palliativmaßnahme kommt die Chemoembolisation mit Adriamycin und Lipiodol über die Leberarterie in Betracht. Prognose. Unbehandelt sterben die Patienten innerhalb von 3–6 Monaten. Nach Resektion im Gesunden oder Lebertransplantation kann die 5-Jahresüberlebensquote 50% erreichen.
Seltene primäre Lebermalignome Fibrolamelläre Karzinome Variantes, langsam wachsendes Leberzellkarzinom, mit guter Abgrenzung und fibrösen Lamellen, das bei jungen Erwachsenen ohne Leberzirrhose vorkommt. Zu behandeln durch Resektion oder Lebertransplantation mit einer 5-Jahresüberlebensrate von >50%. Hepatoblastome Solitäre Tumoren des Kindesalters mit hohen AFP-Werten. Mit relativ guter Prognose zu resezieren. Epitheloides Hämangioendotheliom Semimaligner, nicht vaskularisierter Tumor des frühen Erwachsenenalters, der Oberbauchbeschwerden verursacht. Lungenund Knochenmetastasen kommen vor. Auf die Leber beschränkte Geschwülste können mit Resektion oder Lebertransplantation behandelt werden. 4.7.11 Cholelithiasis Prävalenz. In europäischen Populationen nimmt die Cholelithiasis zwischen dem 20. und 50. Lebensjahr von 2,3–4,9% auf 6,7– 18% zu und erreicht zwischen dem 50. und 75. Lebensjahr 14,4– 37%. In mehr als 50% der Fälle sind Frauen betroffen. Die mit Abstand höchste Prävalenz findet sich in Norwegen, die niedrigste in Asien und Afrika. Sehr umfangreiche sonographische Feldstudien liegen allerdings nicht vor. In der Bundesrepublik Deutschland ist mit mehreren Millionen Gallensteinträgern zu rechnen. Klassifizierung. Man unterscheidet die folgenden 3 Haupttypen von Gallensteinen: 4 Cholesterinsteine: Häufigkeitsanteil >80%. Überwiegend aus kristallisiertem Cholesterinmonohydrat zusammengesetzt, mit einem Kristallisationskern aus muzinöser Matrix. Klei-
nere Bestandteile: Unkonjugiertes Bilirubin und Calciumphosphat. Letztes ergibt erst bei einem Anteil >15% Schattengebung im Röntgenbild. 4 Schwarze Pigmentsteine: Sie enthalten Calciumsalze von unkonjugiertem Bilirubin, Calciumphosphat und Calciumcarbonat in einer muzinösen Glykoproteinmatrix. Der Cholesterinanteil liegt unter 20%. Der Calciumgehalt bewirkt Schattengebung im Röntgenbild. 4 Braune Pigmentsteine: Charakteristisch ist die Zusammensetzung aus bakteriellen Zersetzungsprodukten der Gallenlipide, Calciumsalze aus unkonjugiertem Bilirubin und Fettsäuren, zusätzlich aus präzipitiertem Cholesterin. Pathogenese. Cholesterinsteine: Das Primäre bei ihrer Entstehung ist eine
Cholesterinhypersekretion in die Galle. Diese führt zur Hypomotilität der Gallenblase (ungenügende Füllung und Kontraktilität) und zu gesteigerter Muzinsekretion des Gallenblasenepithels. Dadurch fließt mehr Galle direkt in den Darm, was eine gesteigerte bakterielle Bildung von sekundären Gallensäuren zur Folge hat. Von diesen bewirkt das hydrophobe Deoxycholat eine vermehrte Cholesterinsekretion, womit sich ein Circulus vitiosus schließt. Das Deoxycholat begünstigt auch die Ausfällung des Cholesterins in der übersättigten stagnierenden Blasengalle, das zunächst oft in Form des Sludge geschieht, einer viskösen Mischung aus Mucinen und kleinen Cholesterinkristallen. Nachweislich ist die Cholesterinübersättigung der Galle meistens nicht auf eine verminderte Sekretion von Gallensäuren und Phospholipiden zurückzuführen. Die Hypomotilität und ein erhöhter Muzingehalt der Gallenblase wird mit einer Anreicherung von freiem Cholesterin am Blasenepithel erklärt. Für eine Cholesterinhypersekretion gibt es diverse Kausalfaktoren:
4 Östrogene: Durch Hochregulation der LDL-Rezeptoren steigern sie den Input von Cholesterin in die Hepatozyten und damit die Cholesterinausscheidung in die Galle. Mit Cholesterinsteinen assoziiert ist die gesteigerte Östrogenproduktion in der Pubertät und der Schwangerschaft und die exogene Zufuhr als Kontrazeptiva und in der Postmenopause. Progesteron (Schwangerschaft, Kontrazeptiva) steigert das Risiko der Konkrementbildung, weil es eine Hypomotilität der Gallenblase bewirkt. 4 Fettsucht und schneller Gewichtsverlust: Beide sind mit einem hohen Risiko für Gallensteinbildung verbunden. Bei Fettsucht ist die Cholesterinsynthese gesteigert, wahrscheinlich durch erhöhte Aktivität der HMG-CoA-Reduktase. Bei rapider Gewichtsabnahme wird die Galle durch Zunahme der Synthese und Nettosekretion von Cholesterin lithogen. Hinzu kommt infolge geringer Fettzufuhr eine Gallenblasenstase mit herabgesetzter Rezirkulation der Gallensäuren. 4 Alter: Im Alter geht die Gallensäurebildung aus Cholesterin allmählich zurück, da die Aktivität des Schlüsselenzyms Cholesterin-7-α-Hydroxylase abnimmt. Die Relation Gallen-
421 4.7 · Leber und Gallenwege
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säuren zu Cholesterin nimmt ab und macht die Galle lithogen. Intestinale Hypomotilität: Bei Diabetikern mit autonomer Dysfunktion begünstigen verzögerte Darmpassage und herabgesetzte Kontraktilität die Entstehung von Gallensteinen. Im Darm wird vermehrt Deoxycholat gebildet, das die Cholesterinpräzipitation fördert. Diät: Der Cholesteringehalt der Nahrung ist auf die Cholesterinsekretion der Leber und die Lithogenität der Galle ohne Einfluss, da das meiste Cholesterin endogen gebildet wird. Hyperlipidämie: Hypercholesterinämien sind ohne Einfluss, da die Cholesterinaufnahme in die Hepatozyten durch das Defizit an LDL-Rezeptoren gebremst wird. Im Gegensatz dazu ist das Gallensteinrisiko bei Hypertriglyzeridämie erhöht, weil die Hepatozyten für die Bildung von VLDL vermehrt Cholesterin synthetisieren. Außerdem haben Patienten mit familiärer Hyperlipämie eine Gallensäurenmalabsorption und folglich einen verkleinerten Gallensäurepool. Genetische Faktoren: Ethnische Unterschiede in der Häufigkeit von Cholesterinsteinen und das familiäre Vorkommen in verschiedenen Populationen weist auf genetische Kausalfaktoren hin. An den Kandidatengenen der Gallensäurentransportproteine konnten aber keine Mutationen festgestellt werden. Der Apolipoprotein-Genotoyp E4 ist mit einer Cholesterinübersättigung der Galle und starker Tendenz zur Steinbildung assoziiert. Man findet eine beschleunigte Aufnahme von Chylomikronen-Remnants in die Leber. Welchen Effekt das auf die Steinbildung hat, ist ungeklärt.
Klinik. Asymptomatische Gallensteine: Wahrscheinlich sind mehr als
die Hälfte der Gallensteinträger asymptomatisch, und die meisten von ihnen bleiben es für Jahre bis Jahrzehnte. Dagegen neigen symptomatische Gallensteinpatienten häufig zu Rezidiven und Spätkomplikationen. Gallenkolik: Ursache ist eine meist reversible Obstruktion des Zystikus durch einen Gallenstein, die zum Gallenstau und akutem Druckanstieg in der Gallenblase führt. Auslösend ist oft eine große fettreiche Mahlzeit, die eine intensive Gallenblasenkontraktion induziert. Auch rhythmische Erschütterungen des Abdomens können ein Konkrement in den Zystikus treiben. Es resultiert ein Anfall von heftigsten dumpfen Oberbauchschmerzen, die unter dem rechten Rippenbogen lokalisiert werden. Der Schmerz kann in die rechte Schulter und zum linken Oberbauch ausstrahlen (Pankreatitisverdacht). Es ist kein wellenförmiger, sondern ein Dauerschmerz, der mehrere Stunden andauern kann und manchmal mit Übelkeit und Erbrechen einhergeht. Die gestaute Gallenblase (Hydrops) ist oft gut zu tasten und äußerst druckempfindlich. Fieber weist auf eine begleitende Cholezystitis hin. Intervallsymptome: Zwischen Koliken, oft auch nicht vorhanden. Mitunter Völlegefühl nach dem Essen, Druckgefühl im Oberbauch, Flatulenz, Fettintoleranz, dyspeptische Beschwerden durch Zitrusfrüchte und blähende Gemüse. Komplikationen. Akute und chronische Cholezystitis, Schrumpfgallenblase, Choledocholithiasis mit Verschlussikterus oder Pankreatitis, Gallenblasenkarzinom.
Schwarze Pigmentsteine: Sie entstehen bei hämolytischen Anä-
mien und Alkoholismus infolge gesteigerter Sekretion von konjugiertem Bilirubin durch die Leber. Nach der bakteriellen Dekonjugation im Darm wird eine Fraktion des unkonjugierten Bilirubins in Gegenwart von Gallensäuren im Kolon zur enterohepatischen Zirkulation rückresorbiert. Bei hohem Gehalt der Galle an konjugiertem Bilirubin wächst der rezirkulierende Pool des unkonjugierten Bilirubins, das in der Galle nur begrenzt von Lipidvesikeln in Lösung gehalten wird. Schließlich kommt es in der übersättigten Galle zur Präzipitation von weitgehend unlöslichem Calciumbilirubinat. Unter Bedingungen erhöhter Gallensalzausscheidung ins Kolon (Morbus Crohn), kann der zirkulierende Pool des unkonjugierten Bilirubins auch ohne vermehrten endogenen Bilirubinanfall eine Größe erreichen, die zur Pigmentsteinbildung führt, zumal die Gallensäurenrückresorption herabgesetzt ist. Braune Pigmentsteine: Voraussetzung für die Entstehung dieses gemischten Steintyps ist eine Abflussbehinderung in den extrahepatischen Gallenwegen, kombiniert mit bakterieller Infektion. Bakterienenzyme dekonjugieren Gallensäuren und Bilirubin und verschlechtern so die Löslichkeit der Gallenlipide. Freie Gallensäuren, unkonjugiertes Bilirubin und Fettsäuren schlagen sich als Calciumsalze nieder, und unlöslich gewordenes Cholesterin präzipitiert.
Diagnostik. Sonographie: Standardverfahren zum Konkrementnachweis in
der Gallenblase (Schallschatten) und Erkennung der Gallenwegsstauung (. Abb. 4.51). Choledochussteine werden optimal mit der endoskopischen Sonographie erfasst. Bei Cholezystitiden ist die Gallenblasenwand verdickt und dreigeschichtet. CT und MRT: Ermöglichen den sicheren Nachweis von Gallenblasenkonkrementen (. Abb. 4.52). MRCP: Mit der Magnetresonanz-Cholangio-Pankreatographie lassen sich ohne Kontrastmittel und Strahlenbelastung Gallenblase und Gallenwege mit gutem Kontrast komplett darstellen. Röntgenuntersuchungen: Die Übersichtsaufnahme klärt, ob Gallensteine schattengebend sind oder nicht. Die orale Cholezystographie und die intravenöse Cholangiographie mit jodhaltigen Kontrastmitteln werden praktisch nicht mehr durchgeführt. Endoskopische retrograde Cholangiopankreatographie (ERCP): Exploration des Choledochus zum Nachweis bzw. Aus-
schluss einer Choledocholithiasis. Laboruntersuchungen: Bei unkomplizierter Gallenkolik sind keine pathologischen Werte zu erwarten. Dagegen werden Komplikationen angezeigt: 4 erhöhte BKS und Leukozytose bei Cholezystitis
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422
Kapitel 4 · Krankheiten der Verdauungsorgane
. Abb. 4.51. Sonographischer Nachweis von Gallenkonkrement. a Konkrement im Gallenblasenlumen mit echoreicher Struktur und typischem dorsalen Schallschatten, b großes obstruierendes Konkrement im Ductus choledochus, der aufgestaut ist (aus Internist 5/2003)
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. Abb. 4.52. MRT-Bild mit 3 Konkrementen in der Gallenblase und Nierentumor links (Sammlung Dr. Schneider, ATOS-Klinik Heidelberg)
4 Anstieg von Bilirubin, alkalischer Phosphatase und γGT bei Cholestase 4 erhöhte Werte für Amylase und Lipase bei Begleitpankreatitis. Therapie. Asymptomatische Gallensteine: Wenn anamnestisch nie Be-
schwerden bestanden, erfolgt in der Regel keine Therapie. Gallenkolik: Schmerzbekämpfung, zunächst mit einem Spasmolytikum: N-Butylskopolamin (20 mg i.v.), Metamizol (1–2,5 g i.v.) oder Nitroglycerin (0,8–1,2 mg sublingual). Bei ungenügender Schmerzstillung sind Opioide indiziert: Buprenorphin (0,3 mg i.v. alle 6 Stunden) oder Nalbuphin (10 mg i.v. oder i.m.). ! Morphin ist kontraindiziert, da 10 mg den Sphinkter Oddi für 2 Stunden kontrahiert und den Druck im Gallengang innerhalb von 15 Minuten auf das Zehnfache erhöht. Atropin hebt diesen Effekt ungenügend auf.
Cholezystektomie: Indiziert bei rezidivierenden Beschwerden und Koliken, kleinen potenziell wandernden und sehr großen Steinen. Eine dringliche Indikation besteht bei Komplikationen (Cholezystitis, Pankreatitis). 4 Laparoskopische Cholezystektomie: Mit der minimalinvasiven Methode werden primär 80–90% der Patienten operiert. Vorteile: Kurze Liegedauer (1–2 Tage), minimale postoperative Beschwerden, schnelle Mobilisierung, kosmetische Vorzüge. Nachteil: Meistens längere Narkosedauer. Die Konversion zum offenen Verfahren wird bei technischen Schwierigkeiten, Komplikationen (Blutungen, Gallenblasen- oder Darmverletzungen) und unklaren anatomischen Verhältnissen erforderlich, etwa in 5% der Fälle. Operationsletalität des elektiven Eingriff bei Patienten bis 60 Jahren 0,1%, im höheren Alter erheblich steigend. Bei akuter Begleitcholezystitis muss innerhalb von 72 Stunden operiert werden. 4 Laparoskopische Gallengangsexploration (LCBDE), Choledochotomie und Steinextraktion: Die Exploration erfolgt mittels Röntgendurchleuchtung nach Kontrastmittelinjektion durch den Zystikus. Kleine Konkremente werden in den Darm gespült, größere mit einem Korb extrahiert, den man mit einem Führungsdraht durch den Cholangiographiekatheter einführt. Die Steinextraktion kann auch nach Choledochostomie erfolgen. Das Verfahren konkurriert mit der ERCP und der endoskopischen Sphinkterotomie. 4 Offene Cholezystektomie mit Choledochusrevision: Die Indikation für diese konservative Methode ist hauptsächlich bei postoperativen Verwachsungen gegeben, auch in Fällen von starker Cholezystitis und beim Empyem.
Postcholezystektomiesyndrom Definition. Fortbestehende oder neu aufgetretene Beschwerden nach Cholezystektomie. Ursachen. Chirurgische Komplikationen: Zurückgelassener Choledochus-
stein, Steinrezidiv, übersehene oder postoperativ entstandene
423 4.7 · Leber und Gallenwege
Papillenstenose, Wundinfektionen, langer Zystikusstumpf, Verwachsungen, Cholangitis. Krankheitszustände außerhalb der Gallenwege: Diesbezügliche Beschwerden bestanden meistens schon vor der Operation und wurden irrtümlicherweise der Cholelithiasis zugeschrieben. In Betracht kommen: Aerophagie, gastroösophagealer Reflux, Hiatushernie, peptisches Ulkus, Pankreatitis, irritables Kolon, chronische Appendizitis. Diagnostik. Exploration der Gallenwege und gründliche gastro-
enterologische Untersuchung. Therapie. Nach Ursache. Auch psychogene Störungen sind zu berücksichtigen.
4.7.12 Akute Cholezystitis Ätiologie und Pathogenese. Der Entzündung der Gallenbla-
senwand liegt in 90% der Fälle eine Cholezystolithiasis zugrunde. Stasebedingt kommt es zur aufsteigenden Infektion der Gallenblase mit Darmbakterien. Gleichzeitig wird die Gallenblase infolge gesteigerter Sekretion gedehnt, was zu einer ischämischen Wandschädigung führen kann. In 10% der Fälle sind keine Konkremente nachzuweisen. Auch hier ist eine Stase mit Sekundärinfektion zu vermuten. Einige Patienten haben eine sog. »Erdbeergalle« , das sind stippchenförmige Ablagerungen von Cholesterinestern in den Makrophagen der Blasenwand. Klinik. Starke Schmerzen im Gallenblasenbett unter dem rechten Rippenbogen, das äußerst druckempfindlich ist. Abwehrspannung spricht für Penetration. Meist treten Übelkeit und Erbrechen auf. Rasch entwickelt sich Fieber. Komplikationen. Es handelt sich um eine durchaus bedrohliche
Erkrankung, denn kurzfristig kann es zu einer gedeckten oder freien Perforation in die Bauchhöhle oder in Darmschlingen kommen, begleitet von einer schweren Sepsis. Diagnostik. Sonographie: Sichert die Diagnose durch den Nachweis einer
Verdickung der Gallenblasenwand mit einem typischen pericholezystitischen Flüssigkeitssaum: Dreischichtung (. Abb. 4.53). Zugleich erfasst sie vorhandene Konkremente und Erweiterungen des Choledochus. Laboruntersuchungen: Als Indikatoren der Entzündung sind Leukozytose, beschleunigte Blutsenkung und erhöhtes CRP zu finden.
. Abb. 4.53. Sonographischer Nachweis einer akuten Cholezystitis mit verdickter Gallenblasenwand (o) und Flüssigkeitssaum um die Gallenblase (o) (aus Internist 5/2003)
Therapie. Allgemein: Dringliche Klinikeinweisung. Dort Nahrungskarenz,
Magenablaufsonde, parenterale Flüssigkeitszufuhr, Kreislaufüberwachung, nach Bedarf Analgesie. Antibiotika: Ciprofloxacin oder ein Breitspektrumpenicillin intravenös. Damit ist eine vorübergehende Besserung, aber keine Abheilung zu erwarten. Komplikationsgefahr besteht vor allem bei Steingallenblasen. Cholezystektomie: Diese soll möglichst 24–48 Stunden nach der Aufnahme (frühelektiv) erfolgen, um eine Perforation zu verhüten. Solange keine peritonitischen Zeichen bestehen, wird der Eingriff meistens laparoskopisch durchgeführt. 4.7.13 Chronische Cholezystitis Ätiologie und Pathogenese. Hauptursache ist die Cholezystolithiasis (90% der Fälle). Sie bewirkt eine chronische Entzündung durch mechanische Irritation, rezidivierenden Zystikusverschluss mit Stase und Sekundärinfektion. Weitere Ursachen sind hämatogene und lymphogene Infektionen, Parasitenbefall (Ascariden, Lamblien), Reflux von Pankreassekret, allergische Reaktionen, funktionelle Entleerungsstörungen. Klinik. Druckgefühl und Schmerzen im Oberbauch, Blähungen, Flatulenz, intermittierende Gallenkoliken, Fettintoleranz. Komplikationen. Schleichende Cholangitis und Cholangiohepa-
titis, Penetration mit Steinabgang ins Kolon. Akute Exazerbation (7 Kap. 4.7.12).
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424
Kapitel 4 · Krankheiten der Verdauungsorgane
Diagnostik. Druckempfindlichkeit der Gallenblasenregion ohne
Abwehrspannung, gelegentlich Hydrops. Nicht selten Blutsenkungsbeschleunigung, auch Leukozytose. Häufig negatives orales Cholezystogramm. Steinnachweis siehe 7 Kap. 4.7.11.
4
Differenzialdiagnostik. Ähnliche Beschwerden wie bei der nichtentzündlichen Cholesterose mit Cholesterinablagerung in der Schleimhaut. Ferner bei Gallenblasendivertikeln, peptischem Ulkus, chronischer Appendizitis, Kolondivertikulitis, Morbus Crohn, irritablem Kolon. Therapie. Symptomatische Behandlung: Schmerzbekämpfung, Diät evtl.
Antibiotika.
ERCP, MRCP oder perkutane transhepatische Cholangiographie (PTC): Zur weiteren Abklärung indiziert.
Bei Fieber sollte eine Bakteriämie erfasst oder ausgeschlossen werden. Komplikationen: Leberabszesse, gramnegative Sepsis mit disseminierter intravaskulärer Gerinnung, Endotoxinschock, Nierenversagen. Chronische Cholangitis Rezidivierende subfebrile Temperaturen, Subikterus, vergrößerte Leber. Laborbefunde: Erhöhte Cholestaseenzyme. Sonographie: Oft sind Choledochuskonkremente oder eine andere Abflussbehinderung nachzuweisen.
Cholezystektomie: Einzige kurative Maßnahme.
4.7.14 Cholangitis Ätiologie und Pathogenese. Cholangitis durch aszendierende Infektion: Erreger zu 90%
Aerobier (E. coli, Klebsiellen, Proteus), zu 10% Anaerobier (Clostridien, Bacteroides). Vorkommen bei: 4 Störungen des Gallenabflusses: Choledocholithiasis mit entzündlicher Papillenstenose, Tumoren der Papille oder des Pankreaskopfes, Verengung des Choledochus (Narbenstriktur, Tumor, Kompression durch papillennahes Duodenaldivertikel. Ein akuter inkompletter Steinverschluss führt fast immer, ein langsamer Tumorverschluss selten zur Cholangitis. 4 Reflux von Darminhalt in die Gallenwege: Nach Papillotomie und Choledochoduodenostomie. Hämatogene Cholangitis: Kommt bei Salmonelleninfektionen
vor. Ostasiatische Cholangiohepatitis: Durch Leberegelbefall.
Sekundäre Stein- und Narbenbildung kommen vor. Primär sklerosierende Cholangitis (PSC): Wahrscheinlich autoimmunologische Entzündung und Vernarbung der intraund extrahepatischen Gallenwege. Es besteht eine genetische Disposition durch den Haplotyp HLA A1-B8-D3. Etwa 80% der Patienten mit PSC entwickeln eine Colitis ulcerosa. Umgekehrt tritt bei 10% der Patienten mit Colitis ulcerosa eine PSC auf. Klinik. Akute Cholangitis
Bei Steinbefall oft kolikartige Schmerzen, gefolgt von Ikterus und hohem Fieber. In anderen Fällen, manchmal auch bei Konkrementen, weniger heftige Schmerzen. Laborbefunde: Alkalische Phosphatase und ãGT deutlich, Bilirubin und Transaminasen mäßig erhöht. Bei Totalverschluss verlängerte Prothrombinzeit. Sonographie: Nachweis eines erweiterten Gallenganges, Steine sind aber schlecht zu sehen.
Primär sklerosierende Cholangitis Zu ungefähr 70% sind Männer im mittleren Lebensalter betroffen. Der Prozess beginnt mit Degeneration und lymphozytärer Infiltration des Gallengangsepithels und schreitet über eine Entzündung zur Vernarbung fort. Intrahepatisch kommt es von den entzündeten Periportalfeldern aus zur Leberzirrhose mit Ikterus, extrahepatisch zu Strikturen des Choledochus. Laborbefunde: Im Gegensatz zur primären biliären Zirrhose treten keine antimikrosomalen Antikörper (AMA) auf. Leberbiopsie und Choledochusdarstellung: Führen zur Diagnose. Komplikationen: Erheblich ist die Gefahr eines sekundären cholangiozellulären Karzinoms (CCC), das bei langjährigem Verlauf in 8–15% der Fälle vorkommt. Treffsichere Methoden zur Früherkennung sind leider nicht bekannt. Therapie. Akute Cholangitis: Nahrungskarenz, Magensonde, parenterale
Ernährung. Hochdosierte Antibiotika intravenös (Ciprofloxacin, Cefotaxim). Endoskopische Choledochusdrainage, Steinextraktion nach Papillotomie. Alternativ kommt eine laparoskopische Cholezystektomie mit Choledochusrevision in Betracht. Bei Tumorverschluss muss offen operiert werden. Vorher kann der Choledochus endoskopisch durch transpapilläre Schienung entlastet werden. Chronische Cholangitis: Bei Steinbefall laparoskopische Cholezystektomie mit Choledochusrevision. Endoskopische Steinentfernung nach Papillotomie schließt Rezidive nicht aus. Primäre sklerosierende Cholangitis: Immunsuppressiva und Glukokortikoide sind von geringer Wirkung und halten den Verlauf nicht auf. Eine vorübergehende Besserung ist mit Ursodeoxycholsäure zu erzielen. Endoskopisch kann eine Dilatation von erreichbaren Stenosen mit Implantation von Kunstoffstents und 4-wöchigem Wechsel erfolgreich sein. Die einzige definitive Therapie besteht in der Lebertransplantation.
425 4.7 · Leber und Gallenwege
4.7.15 Tumoren der Gallenwege Gallenblasenpolypen Bei sonographischer Untersuchung werden sie in etwa 4% der Fälle gefunden. Die meisten sind kleiner als 5 mm und entzündlicher Genese. Unter den neoplastischen dominieren Adenome, deren Tendenz zur malignen Entartung gering ist. Eine Cholezystektomie wird bei Polypen mit einem Durchmesser von ≥ 10 mm empfohlen. Gallenblasenkarzinom Vorkommen. Relativ selten. Zu 90% mit Cholelithiasis assoziiert, in 1% der resezierten Gallenblasen anzutreffen. Häufigkeitsgipfel im 7. Lebensjahrzehnt. Frauen 4-mal häufiger betroffen als Männer. Klinik. Tumorwachstum in der funktionslosen Steingallenblase
oft lange Zeit latent und beim Auftreten von Symptomen bereits bis zur Inoperabilität fortgeschritten. Oft wird der Tumor anlässlich der Cholezystektomie wegen Lithiasis entdeckt. Ansonsten erfolgt die Manifestation mit anhaltendem rechtsseitigem Oberbauchschmerz, Übelkeit, Erbrechen, Gewichtsverlust, Ikterus und rezidivierender Cholezystitis.
Diagnostik. Lokalisation des Verschlusses am schonendsten mit der MRT-Cholangiographie. Etabliert ist weiterhin die endoskopisch-retrograde Cholangiographie (ERC). Gesteigert wird die Sensitivität durch die Cholangioskopie mit Biopsie (. Abb. 4.54). Sonographisch ist die Gallenstauung nachzuweisen und durch endoskopische Sonographie ein Choledochuskonkrement sicher auszuschließen. Ein Pankreaskopfkarzinom ist mittels CT abzugrenzen. Erhöht sind die Tumormarker CA19-9 und CEA. Angestiegen sind Bilirubin, alkalische Phosphatase und γGT. Bei distalen Tumoren ist eine endoskopische Biopsie möglich. Therapie. Kurativ: Tumoren des distalen Drittels sind in 10–60% der Fälle
operabel (Whipple-Operation) und relativ häufig kurabel. Tumoren des mittleren Drittels werden mit Cholezystektomie, Choledochusresektion und Hepatikojejunostomie behandelt. Die Tumoren an der Hepatikusgabel sind am schwierigsten zu entfernen, oft nur mit Hemihepatektomie. Die 5-Jahresüberlebenszeit bei resezierten Tumoren des distalen und mittleren Drittels beträgt 30–45%. Bei proximalen Tumoren beträgt die mittlere Überlebenszeit 2 Jahre. Palliativ: Bei inoperablen Tumoren verlangt der Ikterus eine
Diagnostik. Tastbarer Tumor. Erfassung durch Sonographie, die
auch ein Übergreifen auf die Leber erkennen lässt. Das orale Cholezystogramm ist negativ. Die Ausdehnung wird mittels CT bestimmt.
Drainage der Galle (endoskopisch oder transhepatisch mittels Stent). Mit Cisplatin und 5-Fluorourazil sind Tumorverkleinerungen zu erzielen.
Therapie. Bei der Cholezystektomie zufällig gefundene Tumoren bedürfen keiner weiteren Maßnahmen, wenn sie auf die Gallenblase beschränkt sind. Fortgeschrittene Tumoren erfordern eine Radikaloperation mit Teilresektion des Choledochus und Lymphknotenentfernung. Chemo- und Radiotherapie verbessern die Prognose nicht. Die 5-Jahresüberlebensrate bei Frühkarzinomen beträgt 80–90%, in fortgeschrittenen noch operablen Fällen bis 40%.
Cholangiokarzinom Vorkommen. In der westlichen Welt beträgt die jährliche Inzidenz 1,5/100.00. Erhöhte Disposition besteht bei primär sklerosierender Cholangitis (9–20%) und Cholangitis durch chinesischen Leberegel (Clonorchis sinensis). Pathologie. Es handelt sich um Adenokarzinome vom nodulären
oder sklerosierenden Typ. Letzterer breitet sich in der Wand aus, bevor er das Lumen verengt. Die Tumoren entwickeln sich im unteren, mittleren oder oberen Drittel, in mehr als der Hälfte der Fälle an der Leberpforte, wo sich linker und rechter Ductus hepaticus zum Ductus hepaticus communis vereinigen (Klatskin-Tumor). Klinik. Sehr suspekt ist ein schmerzlos entstandener Verschlussikterus mit gestauter tastbarer Gallenblase (Courvoisier-Zeichen). Hinzu kommen Gewichtsverlust, Schwäche und Juckreiz.
. Abb. 4.54. Cholangioskopisches Bild eines Cholangiokarzinoms mit intraluminalem Tumorwachstum und prominenten Tumorgefäßen (aus Internist 1/2004)
4
426
Kapitel 4 · Krankheiten der Verdauungsorgane
4.8
Pankreas
nimmt es an der Transformation der anderen Proenzyme teil, so dass alle Enzyme schnell für die Eiweißverdauung zur Verfügung stehen.
Exkretorische Pankreassekretion Enzymsekretion Sekretion von Natriumbikarbonat und Wasser Regulation der Pankressekretion
4
Untersuchungsmethoden Exkretorische Pankreasfunktion 5 Sekretin-Pankreozymin-(Sekretin-CCK-)Test 5 PABA-Peptid-Test 5 Stuhluntersuchung auf Nahrungsreste 5 Entgleisung der Enzymsekretion Inkretorische Pankreasfunktion 5 Nüchternblutzucker/Oraler Glukosetoleranztest 5 Radioimmunologische Hormonbestimmungen Bildgebende Verfahren 5 Sonographie 5 CT-Scan/Spiral-CT 5 MRT 5 MRCP/ERCP 5 Selektive Angiographie Erkrankungen Akute Pankreatitis Chronische Pankreatitis Pankreaskarzinom Endokrine Pankreastumoren 5 Insulinom 5 Gastrinom (Zollinger-Ellison-Syndrom) 5 Vipom (Verner-Morrison-Syndrom) 5 Glukagonom 5 Somatostatinom
4.8.1 Exkretorische Pankreassekretion Enzymsekretion Bildungsort sind die Azinuszellen, in denen die Enzyme oder Proenzyme in dichten Zymogengranula gespeichert werden. Die Sekretion erfolgt unter dem Einfluss von Cholezystokinin (CCK). Proteolytische Proenzyme Dazu gehören Trypsinogen (Hauptkomponente), Chymotrypsinogen, Procarboxypolypeptidasen A und B, Proelastasen. Bildungsort sind die Azini. Nach der Sekretion in das Duodenum werden der Proenzyme am Bürstensaum des Epithels durch das Enzym Enterokinase durch Abspaltung kleiner Peptide in die aktive Form zu Trypsin, Chymotrypsin Carboxypolypeptidasen und Elastasen transformiert. Sobald Trypsin entstanden ist,
Protektive Mechanismen: Innerhalb des Pankreas wirken der
Trypsinbildung mit ihren potenziell destruktiven Folgen mehrere Faktoren entgegen: 4 Enzymsynthese und -ausscheidung erfolgt in der Proenzymform. 4 Trennung des aktivierenden Enzyms (Enterokinase) vom Pankreas. 4 Trennung der in den Zymogengranula gespeicherten Proenzyme von den Lysosomen der Azinuszellen. 4 Niedrige intrazelluläre Calciumkonzentration zur Verzögerung der Trypsinogenaktivierung. Zur Ausschaltung des dennoch in kleinen Mengen im Pankreas freigesetzten Trypsins tragen bei: 4 Co-Sekretion von Trypsinogen mit einem Trypsininhibitor (PSTI). 4 Die Selbstverdauung des Trypsins (Autolyse). Gespalten wird dabei eine Kette zwischen den beiden Domänen des Moleküls. Wenn diese Kette an der Spaltungsstelle mutiert ist (wie bei der hereditären Pankreatitis), kann keine Trypsinautolyse stattfinden. 4 Synthese von 2 Proteaseinhibitoren in der Leber: α1-Antitrypsin und α2-Mikroglobulin. Beide hemmen sofort das aus Azinuszellen und Ductuli austretende Trypsin. Pankreasamylase Bildungsort sind die Azini. Das Enzym hydrolysiert Stärke, Glykogen und die meisten anderen Kohlenhydrate außer Zellulose. Es wird in aktiver Form sezerniert. Fettspaltende Enzyme Diese werden in den Azini gebildet: 4 Pankreaslipase: hydrolysiert Neutralfett 4 Cholesterinesterase: hydrolysiert Fettsäureester des Cholesterin 4 Phospholipase: spaltet Fettsäuren aus Phospholipiden. Sekretion von Natriumbikarbonat und Wasser Das Hauptvolumen des Pankreassekrets stammt aus den proximalen Ductuli, die unter der stimulierenden Wirkung von Sekretin Natriumbikarbonat und Wasser ausscheiden. Zunächst wird durch cAMP-aktivierte Chloridkanäle (CFTR: cystic fibrosis transmembran conductance regulator) Cl– in das Lumen der Ductuli sezerniert, passiv gefolgt von Na+ und Wasser. Stimuliert durch Cl– an der Lumenseite tritt dann ein in der Membran lokalisierter Bikarbonat/Chlorid-Austauscher in Aktion, der im Austausch gegen Chlorid Bikarbonat in das Lumen sezerniert. Nach Sekretinstimulation erreicht die Konzentration des Bikarbonats 145 mval/l. Es dient der Neutralisation der Magensäure und der
427 4.8 · Pankreas
Alkalisierung des Dünndarminhalts, die zur optimalen Wirksamkeit der Verdauungsenzyme erforderlich ist. Wenn die primäre Chloridsekretion (wie bei der zystischen Fibrose) durch Mutationen des CFTR gestört ist, wird ein dickflüssiger Pankreassaft sezerniert, der die Ductuli verstopfen kann. Regulation der Pankreassekretion Zephale Phase: Wird durch Sinneseindrücke und Vorstellungen ausgelöst. Über den Vagus wird Acetylcholin an den parasympathischen Nervenendigungen des Pankreas freigesetzt. Es stimuliert die Enzymsekretion der Azini in mäßigem Grade, die Wasser- und Elektrolytsekretion jedoch kaum. Gastrische Phase: Die nervale Stimulation des Pankreas wird nach Eintritt der Speisen in den Magen noch etwas verstärkt. Intestinale Phase: Hormonale Stimulation der Pankreassekretion: 4 Sekretin-Sekretion: Erfolgt durch enteroendokrine S-Zellen im Duodenum und proximalen Jejunum. Stimuliert hauptsächlich von der Magensalzsäure, auch von Gallensäure und Nahrungskomponenten (Fettsäuren, Peptide, Ethanol). Effekt: Selektive Stimulation der Wasser- und Bikarbonatsekretion des Pankreas. 4 Cholezystokinin-Sekretion: Erfolgt durch enteroendokrine I-Zellen im Duodenum und proximalen Jejunum. Stimulation durch langkettige Fettsäuren, Peptone, Peptide, teilweise auch durch Magensäure. Eingeschaltet ist der Cholezystokinin-Releasingfaktor (CCK-RP). Er wird im Duodenum sezerniert, aber sofort durch im Duodenalinhalt befindliches Trypsin inaktiviert, wenn keine Speisen aufgenommen wurden. Sobald das Trypsin von Nahrungsproteinen gebunden wird, unterbleibt die Zerstörung von CCK-RP, so dass es die Sekretion von Cholezystokinin stimulieren kann. Cholezystokinin stimuliert selektiv die azinöse Enzymsekretion des Pankreas. Durch exogene Zufuhr von Verdauungsenzymen wird die azinöse Pankreassekretion gedrosselt, ein Effekt, der mit der Inaktivierung des CCK-RP zu erklären wäre. 4 Cholinergischer Tonus: Er konditioniert die sekretorische Reaktion des Pankreas auf Cholezystokinin. Dieser wird durch Atropin blockiert, wobei die Plasmakonzentration von CCK auf erhöhten Werten bleibt. 4.8.2 Untersuchungsmethoden Exkretorische Pankreasfunktion
im Sekret gemessen. Die Testresultate korrelieren mit der Masse des funktionstüchtigen Drüsengewebes. PABA-Peptid-Test: Nach Testmahlzeit mit dem synthetischen Peptid Benzoyl-Tyrosyl-p-Aminobenzoesäure wird der von Chymotrypsin abgespaltene Marker PABA im Urin oder Blut gemessen. Stuhluntersuchung auf Nahrungsreste:
4 Mikroskopische Untersuchung: Nachweis von vermehrten Fetttropfen nach Sudanfärbung und von Muskelfasern. Positiv bei schwerer exkretorischer Pankreasinsuffizienz, aber auch bei Malabsorption. 4 Quantitative Stuhlfettbestimmung nach Testmahlzeit: Positiv bei Lipasemangel und Malabsorption. 4 Stickstoffbestimmung im Stuhl: Erhöhte Werte bei Mangel an proteolytischen Enzymen. Enzymbestimmungen im Stuhl: Chymotrypsin (Normalwerte >6 U/g Stuhl), Elastase (Normalwerte >200 ng/g). Entgleisung der Enzymsekretion: Bei entzündlichen und nekrotisierenden Pankreasaffektionen sind Amylase, Lipase und Trypsinogen im Serum erhöht, Amylase auch im Urin.
Inkretorische Pankreasfunktion Nüchternblutzucker evtl. oraler Glukosetoleranz-Test: Patholo-
gische Werte bei Einbeziehung des Inselapparates in destruktive Pankreasprozesse und nach Teilresektion. Radioimmunologische Hormonbestimmungen: Wird zur Erfassung von endokrinen Pankreastumoren wie Insulinom (Insulin), Gastrinom (Gastrin), Glukagonom (Glukagon), Somatostatinom (Somatostatin) und von diarrhogenen Tumoren (vasoaktive intestinale und pankreatische Polypeptide) durchgeführt. Bildgebende Verfahren Sonographie Abdominale Sonographie: Liefert Informationen über Ödeme, Entzündungen, Kalzifizierung, Zysten und raumfordernde Tumormassen. Erschwert bei Meteorismus. Endoskopische Sonographie: Ergibt vom Magen aus eine gute Pankreasdarstellung mit Erkennung auch kleiner Karzinome. Außerdem lassen sich Zysten und Läsionen der chronischen Pankreatitis gut erkennen. Es werden auch endoskopisch gesteuerte transgastrale oder transduodenale Punktionen durchgeführt. Vom Duodenum aus gelingt der Nachweis von Choledochussteinen.
Sekretin-Pankreozymin-(Sekretin-CCK-)Test: Bestimmt wird die
maximale Sekretionskapazität des Pankreas nach sukzessiver intravenöser Injektion von Sekretin und Cholezystokinin. Zur Analyse wird das Pankreassekret mit einer Sonde aus dem Duodenum abgesaugt. Zuerst bestimmt man nach Injektion von Sekretin Menge (pathologisch: 16000, CRP >3 mg/l, Blutzucker >200 mg/dl, LDH >700 U/l, GOT >200 U/l, Hypokalzämie (durch verkalkte Fettgewebsnekrosen), Hämatokritabfall, Azotämie, Azidose, Hypoxämie. Passagere Hyperbilirubinämie und Erhöhung der alkalischen Phosphatase. Auf Hypertriglyzeridämie als möglicher Ursache achten. Sonographie: Nachweis von Pankreasschwellung und Cholelithiasis. Mit endoskopischer Sonographie sind Pankreasveränderungen oder Choledochussteine zu erfassen. Abdomenleeraufnahme: Erkennung von paralytischem Ileus
und Perforationen. Pankreasverkalkung bei vorbestehender chronischer Pankreatitis. CT: Sichert die Diagnose und erfasst Pankreasnekrosen, Pseudo-
zysten und Abszesse mit großer Treffsicherheit. Erfasst Konkremente in den Gallenwegen.
4
430
Kapitel 4 · Krankheiten der Verdauungsorgane
Kriterien für eine nekrotisierende Pankreatitis
Innerhalb der ersten 4 Tage schweres klinisches Krankheitsbild, CRP-Anstieg auf >130 mg/l, Leukozyten >16000/μl, Nekrosenachweis durch kontrastmittelverstärkte Computertomographie (Goldstandard). Nachweis bzw. Ausschluss einer Sekundärinfektion durch CT- oder Sonographie-gesteuerte Feinnadelbiopsie, vor allem von Pseudozysten und Abszessen.
4
Therapie. Basisbehandlung: Stationäre Krankenhausaufnahme zur Inten-
sivbehandlung. Analgetika gegen die meist sehr starken Schmerzen (Morphin, Tramadol). Intravenöse Flüssigkeitszufuhr zur Erhaltung des intravaskulären Volumens. Nasogastrale Absaugung nur bei Erbrechen bzw. paralytischem Ileus. Enterale Nahrungsaufnahme bei Schmerzfreiheit ab 3. bis 4. Tag mit nasogastraler oder nasojejunaler Sonde, nach Möglichkeit und Verträglichkeit auch oral (wenn der Patient Hunger hat) mit vorsichtigem Diätaufbau. Wegen gestörter Pankreassekretion zunächst fettfrei, dann Butter oder Sahne verwenden (kurzkettige Fettsäuren). Gut wird Kartoffelsuppe vertragen. Parenterale Ernährung nur bei anhaltenden Schmerzen und Darmatonie. Auf erhöhte Amylasewerte und Entzündungszeichen im CT muss bei enteraler Nahrungszufuhr keine Rücksicht genommen werden. Nachdem nachgewiesen wurde, dass die Pankreassekretion bei akuter Pankreatitis sistiert, sind Maßnahmen zur »Ruhigstellung« überflüssig. Frühe Ernährung verbessert die Prognose. Keine Indikation für Säureblocker, Proteaseinhibitoren, Glukokortikoide und nichtsteroidale Antiphlogistika. Etwa 20% der Patienten haben eine schwere Form der akuten Pankreatitis mit Nekrosezeichen im CT und einem CRP-Wert >130 mg/l. Es können extrapankreatische Manifestationen (respirtorische und renale Insuffizienz und Kreislaufschock) auftreten, die eine komplexe Intensivtherapie erforderlich machen mit großen Infusionsmengen an Elektrolyt- und Kolloidlösungen sowie Beatmung. Bei Nachweis von Nekrosen ist eine Antibiotikaprophylaxe mit 3×500 mg Imipenem-Cilastatin/Tag für 2 Wochen erforderlich, da sonst eine Infektion der Nekrosen droht. Interventionen: Chirurgisches Eingreifen, wenn das CT nach 7 Tagen eine Ausdehnung der Nekrosen auf >50% des Pankreas erkennen lässt. Ist ein Choledochusstein die Ursache, umgehende endoskopische Papillotomie und Steinentfernung. Pseudozysten: Sind erst 6 Wochen nach Krankheitsbeginn nach-
zuweisen. Bei hohen Entzündungsmarkern (Leukozytose, CRP, BKS) ist wegen Infektionsverdacht gezielt zu punktieren. Bei positiver Kultur ist operatives Vorgehen angezeigt (Drainage, Nekrosektomie, retroperitoneale Lavage). Ansonsten unter sonographischer Kontrolle abwarten. Spontane Rückbildung möglich. Große konstante Zysten können endoskopisch oder perkutan drainiert werden.
Prognose. Heilungsquote bei der zahlenmäßig stark überwiegenden ödematösen Form 95%. Eitrige und nekrotisierend-hämorrhagische Pankreatitiden haben eine Letalität von 20–50%. Prognostisch ungünstig sind schwerer Schock, respiratorische Insuffizienz und Abszedierung mit Sepsis.
4.8.4 Chronische Pankreatitis Klassifizierung. Klinisch: 4 Chronische rezidivierende Pankreatitis: Mit schmerzhaften
Exazerbationen verlaufende chronisch-progrediente Pankreatitis, die auch im schmerzfreien Intervall fortschreitet und zur Pankreasinsuffizienz führt. 4 Chronische Pankreatitis: Schmerzlos verlaufende progrediente Pankreatitis, die erst im Stadium der exokrinen und endokrinen Insuffizienz manifestiert. Pathologisch-anatomisch: 4 Chronische kalzifizierende Pankreatitis: Klinisch mit und
ohne Exazerbationen verlaufend. Steinbildung aus verkalkenden Sekretpfröpfen mit azinokanalikulärer Dilatation, verstreuten kleinen autodigestiven Nekrosen und interstitieller Vernarbung. 4 Chronische obstruktive Pankreatitis: Bei Odditis mit und ohne Choledochusstein, oft nur den Pankreaskopf betreffend, nach Papillotomie abheilend. 4 Chronische entzündliche Pankreatitis: Sehr selten. Sklerosierender Entzündungsprozess mit mononukleären Infiltraten und geringer Parenchymdestruktion. Beschleunigte Blutsenkung und Hypergammaglobulinämie. Altersdurchschnitt 60 Jahre. Ätiologie und Pathogenese. Alkohol: Hauptursache der chronischen kalzifizierenden Pankre-
atitis. Kritische Tagesmenge für Männer 80 g, für Frauen 50 g. Expositionsdauer 8–10 Jahre. Zusätzlicher Dispositionsfaktor wahrscheinlich, da nur 2% der Alkoholiker an manifester Pankreatitis erkranken. Begünstigung der Konkrementbildung durch Eisenablagerung möglich. Chronischer Eiweißmangel: In Indien und Zentralafrika als Kausalfaktor vorkommend. Kwashiorkor führt schon bei Kindern zur chronischen Pankreatitis. Primärer Hyperparathyreoidismus: Kommt bei 5–10% der Pa-
tienten vor sowie bei anderen Formen der Hyperkalzämie. Stenose der Papilla vateri: Entzündlich, narbig oder durch Choledochusstein. Hereditäre Pankreatitis: Autosomal-dominant erblich mit inkompletter Penetranz. Punktmutationen am Trypsinogen mit Hemmung der Trypsin-Autolyse (7 Kap. 8.4.1).
431 4.8 · Pankreas
Idiopathische Form: 10–40% der Fälle. Unter diesen scheinen bis zu 25% Mutationen am Gen für den cAMP-aktivierten Chlorionenkanal der Azinuszellen zu haben (7 Kap. 8.4.1). Klinik. Chronisch rezidivierende Pankreatitis 4 Stadium I: Typische Pankreatitisattacken von mehrtägiger
Dauer, dazwischen monatelange beschwerdefreie Intervalle. Schmerzen von unterschiedlicher Intensität im rechten oder linken oberen Quadranten des Abdomens oder diffus, zusätzlich oder ausschließlich im Rücken. Oft nach dem Essen beginnend, über Stunden anhaltend, tiefsitzend, resistent gegenüber Antazida. Exokrine und endokrine Funktion normal, höchstens im Schub flüchtig gestört. Gewichtsreduktion infolge der Schmerzen. 4 Stadium II: Etwa ab dem 5. Jahr nach Krankheitsbeginn. Pankreatitisschübe werden seltener und schwächer, Pankreasverkalkungen sind auf der Übersichtsaufnahme erkennbar (70% der Fälle). Einschränkung der maximalen Sekretionsleistung im Sekretin-CCK-Test. 4 Stadium III: Keine Schübe und Schmerzen mehr (Pankreas »ausgebrannt«). Globale Pankreasinsuffizienz mit Steatorrhö, Diabetes mellitus und Gewichtsverlust.
Bildgebende Verfahren Sonographie: Zu erkennen sind inhomogene Fibrosierung, un-
regelmäßige Organoberfläche, perlschnurartige Aufweitung des Ductus pancreaticus, Pseudozysten. Mit der endoskopischen Sonographie lassen sich Choledochuskonkremente optimal nachweisen. Röntgenleeraufnahme: Ermöglicht den Nachweis von Pankreasverkalkungen und damit oft schon die Diagnose. Computertomographie: Gängigste Methode der Pankreasdarstellung. Dient vor allem dem Ausschluss eines Karzinoms. Bei Kontrastmittelallergie durch MRT zu ersetzen. MR-Cholangio-Pankreatographie: Stellt die Gallenwege und das
Gangsystem des Pankreas optimal dar. Chronische Pankreatitiden und Pankreaskarzinome lassen sich unterscheiden. Kann die diagnostische ERCP ersetzen. ERCP: Zeigt Stenosen und Erweiterungen des Pankreasganges
und erlaubt die Differenzialdiagnose zwischen chronischer Pankreatitis und Pankreaskarzinom. Biopsie
Komplikationen: Pseudozysten mit Dauerschmerzen und leich-
tem Fieber, gelegentlich mit Raumforderung (Obstruktion von Magenausgang , Duodenum und Kolon). Verschlussikterus, Milzvenenthrombose mit Splenomegalie und Ösophagusvarizen. Pankreatogener Aszites, Pleuraergüsse und Perikarderguss. Gesamthäufigkeit schwerer Komplikationen etwa 5%. Chronische Pankreatitis
Schmerzfreier Verlauf ohne Exazerbationen. Im Spätstadium Gewichtsabnahme, Steatorrhö, dyspeptische Beschwerden und Diabetes.
Gewinnung von Pankreasgewebe durch sonographisch oder CTgesteuerte Feinnadelpunktion. Therapie. Konservative Behandlung Akuter Pankreatitisschub: Behandlung wie bei akuter Pankreati-
tis (7 Kap. 4.8.3). Leichte Exazerbationen, mitunter als Gastritis, Ulkus oder Cholezystitis fehlinterpretiert, können ambulant behandelt werden (Teetage, Spasmoanalgetika, Diätaufbau, absolute Alkoholkarenz). Pankreatogene Steatorrhö: Fettbeschränkung, evtl. MCT-Fette,
Diagnostik. Anamnese: Periodizität und Lokalisation der Schmerzen, die in
vorgebeugter Haltung oft nachlassen. Gewichtsabnahme wegen postprandialer Schmerzen und Speisenunverträglichkeiten (Fett, Alkohol). Als disponierende Faktoren Gallensteinleiden und Alkoholabusus eruieren. Körperlicher Untersuchungsbefund: Im Schub lokale Druckempfindlichkeit. Bei großen Pseudozysten tastbarer Oberbauchtumor. Laborbefunde: Serumamylase und -lipase meistens nicht erhöht. Nachweis einer exkretorischen Insuffizienz durch Stuhlfettbestimmung und Sekretin-CCK-Test. Chympotrypsin und Elastase im Stuhl sind vermindert. Bei inkretorischer Insuffizienz erhöhter Nüchternblutzucker und abnormer oraler Glukosetoleranztest.
hochdosierte Substitutionsbehandlung mit Pankreasfermenten zu jeder Mahlzeit, dazu Protonenblocker oder Cimetidin zur Entlastung der Bikarbonatsekretion des Pankreas. Durch die exogenen Enzyme wird auch die Fermentsekretion des Pankreas entlastet, was sich schmerzlindernd auswirkt. Diabetes mellitus: Erfordert als pankreatopriver Diabetes neben der Diät meistens die Anwendung von Insulin. Chirurgische Behandlung Drainageoperationen: Bei großen Pseudozysten oder Zystenkomplikationen. Methoden: Pseudozystojejunostomie oder
Gangdrainagen (Pankreatikojejunostomie). Resektionen: Bei therapieresistenten Schmerzen und entzündlichen Tumoren. Methoden: Pankreaskopfresektion unter Erhaltung des Duodenums, der Gallenwege und des Magens. Alterna-
4
432
Kapitel 4 · Krankheiten der Verdauungsorgane
tiv: pyloruserhaltende Whipple-Operation. Die Inselzellen im Pankreasschwanz sollten weitgehend geschont werden. Daher wird die Linksresektion nur selten vorgenommen. Postoperativ ist auf exkretorische Pankreasinsuffizienz und Störungen der Glukosetoleranz zu achten. 4.8.5 Pankreaskarzinom
4
Epidemiologie. Die Inzidenzraten in Nordamerika, Nordeuropa
und Australien betragen 8–11/100.000 Frauen und 10–12,5/ 100.000 Männer. Etwa 40% der Fälle treten vor dem 75. Lebensjahr auf. Zunächst überwiegen die erkrankten Männer deutlich, im Alter gleichen sich die Geschlechtsunterschiede aus. Das mittlere Erkrankungsalter beträgt 67 Jahre. In der Bundesrepublik Deutschland verstarben im Jahr 2000 insgesamt 12.116 Personen am Pankreaskarzinom.
Beim Verschlussikterus ist häufig die gestaute Gallenblase (Courvoisier-Zeichen) zu fühlen. Man achte auf eine migratorische Thrombophlebitis und linksseitige supraklavikuläre Lymphknoten. Sonographie: Erfasst den Stau in den Gallenwegen und zu 75% den Tumor. Die endoskopische Sonographie erreicht eine Trefferquote von 90%. Nachweis von Lebermetastasen ist möglich. MR-Cholangio-Pankreatographie: Liefert Darstellung des Gallensystem und des Pankreasgangs und sichert die Diagnose oft auf schonende Weise. CT und MRT: Erfassen Karzinome und ihre Lokalisation (. Abb. 4.57). Kontrastverstärktes Spiral-CT: Ermöglicht die genaue Erfassung der Tumorausdehnung einschließlich des Gefäßbefalls. ERCP: Durch retrograde Kontrastmittelinjektion in den Pankreasgang wird der Tumor erfasst. MRT und Spiral-CT können die Methode entbehrlich machen.
Ätiologie. Das Pankreaskarzinom entsteht durch somatische Mu-
tationen, deren Ursachen ungeklärt sind. Zu den Risikofaktoren gehören das Rauchen und wahrscheinlich der Konsum hochgesättigter Fette. Bei chronischer Pankreatitis beträgt das Karzinomrisiko 5%, bei hereditärer Pankreatitis 40–70%. Auch familiäres Vorkommen erhöht das Risiko. Pathologie. Mit einem Anteil von 90% überwiegen duktale Ade-
nokarzinome, 1–2% gehen von den Azini aus. Der Rest hat eine unterschiedliche Histologie. Lokalisationen mit Häufigkeitsangabe sind in . Tab. 4.15 aufgeführt. Genetische Abnormitäten sind K-ras Onkogene (90–100%) und Mutationen der Tumorsuppressorgene p53 (60%), p16 (80%) und SMAD4 (50%). Staging nach dem TNM-System. a
Klinik.
Uncharakteristische Oberbauchbeschwerden, Rückenschmerzen, Appetitmangel und Gewichtsabnahme. Bei Pankreaskopfkarzinom schmerzloser Verschlussikterus mit Pruritus. Ein Pankreaskarzinom kann sich hinter einer Cholangitis, akuten Pankreatitis, einem Diabetes mellitus, Aszites und einer tiefen Beinvenenthrombose verbergen. Diagnostik. Körperlicher Untersuchungsbefund: Kachexie (70%), Hepato-
megalie (60%). Ein Oberbauchtumor ist relativ selten zu tasten.
. Tabelle 4.15. Lokalisation und Häufigkeit von Pankreaskarzinomen
Lokalisation
Häufigkeit in %
Pankreaskopf Pankreaskörper Pankreasschwanz
75 15 10
b . Abb. 4.57a, b. MRT-Bilder von Pankreaskarzinomen. a Pankreaskörperkarzinom, b Pankreasschwanzkarzinom (Sammlung Dr. Schneider, ATOS-Klinik Heidelberg)
433 4.8 · Pankreas
Tumormarker: CA19.9 hat eine hohe Sensitivität (80%), aber eine hohe Rate falsch-positiver Ergebnisse. CA242 hat eine niedrige Sensitivität, aber weniger als 10% falsch-positive Resultate. Weitere Methoden: Präoperative Angiographie evtl. Laparoskopie. Therapie. Chirurgische Behandlung
Einzige Heilungschance bietet die radikale Entfernung des Karzinoms. Zum Zeitpunkt der Diagnosestellung sind aber nur noch 20–30% der Tumoren resektabel, in speziellen Zentren über 50%. Standardeingriffe: Pyloruserhaltende partielle Duodenopankreatektomie (modifizierte Whipple-Operation), bei Infiltration von proximalem Duodenum und Antrum die klassische Whipple-Operation mit Entfernung von Pankreaskopf, Duodenum, Choledochus und Gallenblase. Stets erfolgt eine totale Lymphknotenresektion. Bei Korpus- und Kaudakarzinom ist eine Pankreaslinksresektion indiziert. Palliativeingriffe bei inoperablen Tumoren: Cholestasebeseitigung durch Choledochoduodenostomie oder endoskopisch eingeführtem Metallstent. Bei Duodenalverschluss wird eine Gastroenterostomie angelegt. Postoperativ sind Verdauungsenzyme zu substituieren und ein entstandener Diabetes mellitus einzustellen. Chemo- und Radiotherapie
Die sukzessive Anwendung von Radiotherapie und 5-Fluorourazil kann die Lebenserwartung inoperabler Patienten allenfalls um wenige Monate verlängern. Prognose. Die 5-Jahresheilungsrate beträgt nur 5–10%. In speziellen Zentren sind die Ergebnisse etwas besser. Radikal operierte Patienten, bei denen Tumorgewebe zurückbleibt, sterben nach 9–18 Monaten, inoperable Patienten nach 1–3 Monaten.
4.8.6 Endokrine Pankreastumoren Insulinom Ein seltener, von den B-Zellen der Pankreasinseln ausgehender Tumor, der autonom Proinsulin und Insulin sezerniert. Demnach erfolgt die Sekretion unabhängig vom Blutzuckerspiegel. Etwa 85% der Insulinome sind benigne, 15% setzen Metastasen. Insulinome treten isoliert und bei der MEN Typ 1 auf. Jährlich kommen 1–2 neue Fälle auf 1 Mill. Einwohner. Der Häufigkeitsgipfel liegt im 5. Dezennium. Die Lokalisation ist im Kopf, Körper und Schwanz gleich häufig. Klinik. Hypoglykämische Zustände von unterschiedlicher Schwe-
re und Häufigkeit (bis 50 pro Jahr), meistens nach einer längeren Pause der Nahrungsaufnahme, nicht selten in der zweiten Nachthälfte. Gegenregulatorische Adrenalinausschüttung bewirkt
Schweißausbrüche, Zittern, Angst, Tachykardie, Hungergefühl. Neuroglukopenie verursacht Kopfschmerz, Müdigkeit, Gähnen, Schwierigkeiten beim Denken und Sprechen, Agitiertheit, Aggressivität, Somnolenz und Koma. Komplikationen. Zerebrale Krampfanfälle, und Hemiparesen. Als Endzustand drohen Intelligenzverlust, Persönlichkeitsabbau und Psychosen. In 30% der Fälle resultiert ein Gewichtsanstieg. Diagnostik. Oft vergehen Jahre, bis sie gestellt wird. Suspekt sind
die klinischen Symptome, vor allem durch nächtliche Anfälle. Notwendig ist der Nachweis einer Hyperinsulinämie zum Zeitpunkt der Hypoglykämie. Standardtest: Fastenperiode bis zu 72 Stunden unter Bestimmung von Glukose, C-Peptid und Insulin im Serum alle 4–8 Stunden. Abbruch bei perisistierenden Glukosewerten Die permanente Hyperazidität führt zu peptischen Ulzera, hauptsächlich im Duodenum, zur Azidität im Duodenalsaft mit Inaktivierung der Verdauungsenzyme und infolgedessen zur Maldigestion mit Diarrhöen. Klinik. Betroffen sind alle Altersgruppen, manchmal auch Kinder. Es treten rezidivierende Duodenalulzera mit allen typischen Beschwerden und einer Tendenz zu Komplikationen (Perforation, Blutung) auf. Selten sind Erosionen und Ulzera im Magen. Nach
4
434
Kapitel 4 · Krankheiten der Verdauungsorgane
Billroth-II-Resektion kommt es zu Rezidiven. Die Patienten leiden an Diarrhöen und verlieren infolge Malabsorption an Gewicht. Diagnostik. Suspekt sind rezidivierende peptische Ulzera ohne
Helicobacterbefall. Beweisend ist eine Hypergastrinämie (>1000 ng/l) im Nüchternzustand. Protonenblocker müssen vorher abgesetzt werden, da sie das Serumgastrin erhöhen.
4
Tumorlokalisation: Oft schwierig, weil schon Tumoren von 2– 3 mm Durchmesser endokrin aktiv sein können. Zum Einsatz kommen alle sonographischen Verfahren, Spiral-CT und Angiographie. Da die Tumoren Somatostatinrezeptoren besitzen, die mit Octreotid (einem abgewandelten Somatostatinmolekül) reagieren, gelingt der Nachweis durch Szintigraphie mit einem markierten Octreotid. Therapie. Wenn möglich gezielte Tumorresektion. Bei metastasierenden oder nicht lokalisierbaren Tumoren wird eine Langzeitbehandlung mit Protonenblockern und Somatostatin oder Octreotid durchgeführt, die vor Ulzerationen schützt. Da auch bereits metastasierende Gastrinome langsam wachsen, werden lange Überlebenszeiten beobachtet.
lung nicht geeignet. Mit Chemotherapie (Streptozotocin plus 5Thiourazil) erreicht man bei >50% der Patienten Remissionen. Glucagonom Ein Glucagon-sezernierender, in 70% der Fälle maligner Inselzelltumor. Durch tumorspezifisches posttranslationales Processing entstehen außer Glucagon weitere Peptide, die zu den klinischen Manifestationen beitragen. Die jährliche Inzidenz liegt bei 1:20 Millionen. Die meisten Patienten sind zwischen 45 und 70 Jahre alt. Klinik. Pathognomonisch ist ein nekrolytisches migratorisches Erythem, das sich initial als gut markiertes Erythem in der Leistenregion etabliert und auf Gesäß und Beine übergreift. Die Schleimhäute sind mit Stomatitis und Vaginitis mitbetroffen. Hinzu kommen Glukoseintoleranz, Anämie, Diarrhöen, Thromboembolien und Gewichtsverlust. Diagnostik. Erhöhte Glucagonwerte im Serum (500 bis >1000 ng/ l). Die Tumoren wachsen langsam und haben bei der Diagnosestellung einen Durchmesser von 5–10 cm. Meistens liegen schon Metastasen vor. Lokalisierung mit Sonographie und CT. Therapie. Nur 5% der Tumoren sind kurativ zu resezieren. Sym-
Vipom (Verner-Morrison-Syndrom) Überwiegend bösartiger Inseltumor, der VIP (vasoactive intestinal polypeptide) sezerniert. Im Kindesalter kommen VIP-sezernierende Ganglioneuroblastome vor. VIP ist ein Peptid aus 28 Aminosäuren, das im ZNS und Darmtrakt als Neurotransmitter vorkommt. Es stimuliert die intestinale Chloridsekretion und die Kontraktilität der glatten Muskeln in der Darmwand. Entsprechend führt das Vipom zu einer schweren sekretorischen Diarrhö mit starken Verlusten an Wasser, Natrium und Kalium (pankreatische Cholera). Klinik. Typisch sind großvolumige, wässrige Diarrhöen von 1–3 Litern pro Tag, begleitet von Hypokaliämie, metabolischer Azidose (durch Bikarbonatverluste), Anazidität und Dehydratation. In 20% der Fälle tritt ein Flush auf. Eine Steatorrhö besteht selten. Viele Patienten haben eine Hyperglykämie (25–50%) und eine Hyperkalzämie (25–50%). Die Assoziation mit einer MEN-1 kommt vor. Diagnostik. Erhöhte Plasma-VIP-Werte. Falsch positive Werte
ptomatische Behandlung mit Octreotid. Palliative Chemotherapie mit Streptozotocin und 5-Fluorourazil, auch Chemoembolisation der Lebermetastasen, evtl. Lebertransplantation. Somatostatinom Sehr seltene endokrine Tumoren des Pankreas und Duodenums (Inzidenz 1:40 Mill.), die vermehrt Somatostatin sezernieren. Zu den physiologischen Effekten des Somatostatins gehört die Hemmung aller exokrinen und endokrinen Sekretionen von Pankreas, Darm und Gallenblase. Die meisten endokrinen Tumoren tragen Somatostatinrezeptoren und werden durch das Hormon oder seine Analoga (Octreotid) ebenfalls supprimiert. Der inhibitorische Effekt auf die Sekretion von GH und TRH wird im 7 Kap. 6 behandelt. Klinik. Die Pankreastumoren verursachen einen Diabetes melli-
tus leichteren Grades, Steatorrhö, Anämie und Cholelithiasis. Bei duodenalen Tumoren dominieren Völlegefühl, Oberbauchbeschwerden, Cholelithiasis, Anazidität und Anämie. Pankreastumoren sind meistens in der Kopfregion lokalisiert. Die Assoziation mit MEN-1 kommt vor.
bei starker Dehydratation. Die Tumoren sind gewöhnlich groß und mit sonographischen Methoden und Spiral-CT gut zu erfassen.
Diagnostik. Beweisend sind hohe Somatostatin-Konzentrationen
Therapie. Resektion des Tumors soweit möglich. Bei inoperablen
im Plasma. Der Tumornachweis gelingt mittels Sonographie und CT. Zu diesem Zeitpunkt sind oft schon Metastasen vorhanden.
Fällen ist auch eine Teilresektion zur Verkleinerung der Tumormasse von Vorteil. Mit Octreotid sind in 87% der Fälle langfristig gute symptomatische Effekte zu erzielen. Auch hochdosiertes Prednison beseitigt die Symptome, ist aber für die Dauerbehand-
Therapie. Nach Möglichkeit Resektion. In inoperablen Fällen
Chemotherapie mit Streptozotocin und 5-FU, auch Chemoembolisation der Leber.
5 5
Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten
5.1
Ernährungsstörungen – 436
5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4
Normale Ernährung – 436 Unterernährung – 441 Essstörungen – 444 Fettsucht – 446
5.2
Störungen des Kohlenhydratstoffwechsels – 450
5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.2.5 5.2.6 5.2.7 5.2.8
Hormone des Glukosestoffwechels – 451 Diabetes mellitus – 453 Typ-1-Diabetes – 454 Typ-2-Diabetes – 461 Komplikationen des Diabetes – 465 Diabetes und Schwangerschaft – 469 Metabolisches und Insulinresistenzsyndrom – 469 Hypoglykämie – 471
5.3
Störungen des Fettstoffwechsels – 473
5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4 5.3.5
Plasmalipide – 474 Primäre Hyperlipidämien – 477 Sekundäre Hyperlipidämien – 480 Therapie der Hyperlipidämien – 481 Familiäre Hypolipidämien – 482
5.4
Lysosomale Speicherkrankheiten – 484
5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4 5.4.5
Allgemeines – 484 Glykogenspeicherkrankheiten – 484 Galaktosämie – 486 Mukopolysaccharidosen (MPS) – 487 Lipidosen – 487
5.5
Störungen des Purinstoffwechsels – 490
5.5.1 5.5.2 5.5.3 5.5.4
Purinabbau – 490 Hyperurikämie – 491 Gicht – 492 Enzymdefekte des Purinstoffwechsels
5.6
Störungen des Porphyrinstoffwechsels – 495
5.6.1 5.6.2 5.6.3
Struktur der Porphyrine – 495 Hepatische Porphyrien – 496 Erythropoetische Porphyrien – 499
– 495
436
Kapitel 5 · Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten
5.1
Ernährungsstörungen Normale Ernährung Kalorienbedarf Hauptnährstoffe Nährstoffrelationen Mineralstoffe Vitamine Body-Mass-Index
5
Ernährungsstörungen Unterernährung Essstörungen 5 Anorexia nervosa 5 Bulimia nervosa Fettsucht
5.1.1 Normale Ernährung Kalorienbedarf Die organischen Nährstoffe werden zum größten Teil für die Energiegewinnung verbraucht. Ihr schrittweiser Abbau im Stoffwechsel ist mit der Synthese energiereicher Phosphate (ATP, GTP, CP) gekoppelt, die als Energiespeicher und als Energieüberträger auf die meisten funktionellen Systeme der Zellen dienen. Sie sind z.B. notwendig für die Synthese von Proteinen und anderen Substanzen, die Muskelkontraktion, den aktiven Transport durch Membranen, die Sekretion der Drüsen und die Erregungsleitung in den Nerven. Die zur Erhaltung der Körpertemperatur benötigte Wärme stammt überwiegend aus den durch die energiereichen Phosphate vermittelten chemischen Prozessen und aus der Muskelarbeit. Ein kleiner Teil der Wärmeproduktion erfolgt durch »ungekoppelte« Fettsäureverbrennung in den Mitochondrien, bei der alle Energie direkt in Wärme übergeführt wird. Diese Komponente der Thermogenese (nonshivering thermogenesis) unterliegt der Kontrolle durch das sympathische Nervensystem. Die ungekoppelte Wärmeproduktion ist in der Kälte, aber auch bei Überfütterung mit Kohlenhydraten und Fett gesteigert. Im letzteren Fall wirkt sie der Entstehung von Übergewicht entgegen. > Grundumsatz = Kalorienverbrauch in 24 Stunden unter absoluten Ruhebedingungen.
Die Bestimmung des Grundumsatzes erfolgt durch Messung des Sauerstoffverbrauchs im wachen, nüchternen Zustand auf dem Ruhebett. Die Normalwerte sind als Standardwerte in Tabellenwerken zu finden (z.B. wissenschaftliche Tabellen Geigy). > Faustregel: Der Energieverbrauch pro kg Körpergewicht und Stunde beträgt annähernd 1 Kilokalorie (kcal).
Der Mindestkalorienbedarf in Ruhelage pro Tag beträgt demnach: Körpergewicht × 24. Für einen 70 kg schweren Mann ergibt das 1680 kcal/Tag bzw. 7029 kJ/Tag. Der Kalorienbedarf steigt bei körperlicher Belastung an: bei leichter Belastung um 30%, bei mittelschwerer um 50% und bei schwerer Arbeit um 100% (oder mehr). Im Schlaf ist der Grundumsatz um 10% erniedrigt. Entsprechend fallen Pulsfrequenz und Blutdruck ab. Der erhöhter Kalorienbedarf besteht außerdem bei: 4 Fieber 4 Traumen 4 Verbrennungen 4 Sympathikusstimulation 4 Wachstums- und Schilddrüsenhormonausschüttung 4 kaltem Klima 4 einer eiweißreichen Mahlzeit. Der Kalorienbedarf ist herabgesetzt durch: 4 Schilddrüsenunterfunktion 4 Unterernährung (Kachexie). Die Energiequellen sind Fette, Kohlenhydrate, Proteine und Alkohol. Die physiologischen Brennwerte dieser Energieträger sind in . Tab. 5.1 dargestellt. Hauptnährstoffe Eiweiß Das Nahrungseiweiß deckt den Bedarf des Körpers an Aminosäuren für die eigene Eiweißsynthese. Von den 20 verschiedenen am Aufbau seiner Proteine beteiligten Aminosäuren sind für den Menschen 9 essenzielle Nahrungsbestandteile, weil sie vom Körper nicht gebildet werden können. Die übrigen 11 nichtessenziellen Aminosäuren sind untereinander austauschbar, denn sie können als Stickstoffverbindungen im Körper synthetisiert werden. Bei eiweißfreier Kost lässt sich aus der Stickstoffausscheidung im Stuhl und Urin der tägliche Eiweißverlust berechnen (N × 6,25). Er beträgt beim Erwachsenen 20–30 g und entspricht dem minimalen Eiweißbedarf. Ein Eiweißangebot in dieser Menge kann den Verlust nur ausgleichen, wenn darin die essenziellen Aminosäuren in bedarfsgerechten Proportionen enthalten sind. > Fehlt in der Nahrung eine einzige essenzielle Aminosäure, sind alle übrigen Aminosäuren für die Eiweißbildung nicht zu verwerten.
. Tabelle 5.1. Energiequellen und ihre Brennwerte
Energiequelle
Brennwert in kcal/g
Brennwert in kJ/g
Eiweiß Kohlenhydrate Fett Alkohol
4,1 4,1 9 7
17 17 38 30
437 5.1 · Ernährungsstörungen
Notwendig ist auch, dass die essenziellen Aminosäuren gleichzeitig zugeführt werden, ergänzt durch eine ausreichende Menge an Kalorienträgern. Wenn der Energiebedarf nicht gedeckt ist, wird Nahrungseiweiß zur Energiegewinnung verbrannt. Das geschieht auch mit überschüssig zugeführtem Eiweiß, wenn in den Zellen das Limit für die Eiweißspeicherung erreicht ist. Je näher das Nahrungseiweiß in der Mengenrelation seiner essenziellen Aminosäuren dem Bedarf des Körpers kommt, desto höher ist seine biologische Wertigkeit. Die besten Werte haben Milch plus Ei, gefolgt von Rindfleisch und mit größerem Abstand Kartoffeln, Leguminosen, Zerealien und Wurzelgemüse. Die Angaben über die wünschenswerte tägliche Eiweißzufuhr sind nicht einheitlich. Sie enthalten einen Zuschlag zum biologischen Minimum, um individuelle Unterschiede, Verwertungs- und Resorptionsstörungen auszugleichen. > Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt 0,8 g Eiweiß pro kg Körpergewicht. Der Eiweißbedarf ist gesteigert:
4 4 4 4 4 4 4 4
im Wachstumsalter in der Gravidität während der Laktation bei Fieber Infektionen Traumen Malabsorption bei der Behandlung eines Eiweißmangelzustands.
dar. Die im Körper unentbehrliche Glukose kann aus körpereigenen und mit der Nahrung zugeführten Proteinen, in begrenztem Umfang auch aus dem Glyzerin der Triglyzeride gewonnen werden (Gluconeogenese). Aus der aufgenommenen Nahrung werden die Kohlenhydrate zuerst verbrannt, dann folgen Fette und Proteine (fett- und proteinsparender Effekt). Überschüssige Glukose wird als Glykogen gespeichert und nach Auffüllung der Speicher in Neutralfett übergeführt. Die Menge der Nahrungskohlenhydrate muss so groß sein, dass sie zusammen mit dem Nahrungsfett und etwaigen Eiweißüberschüssen den Kalorienbedarf des Körpers deckt. Nährstoffrelationen Für die Relation der 3 Hauptnährstoffe in der Nahrung gibt es eine große Toleranzbreite. Unter dem Aspekt der Arterioskleroseprophylaxe wird bei isokalorischer Ernährung folgende Kalorienverteilung empfohlen: 4 15% Eiweiß 4 maximal 30% Fett ( Einprägsam sind die drei »D«: Dermatitis, Diarrhö, Demenz.
In früheren Jahrhunderten bei der vom Mais lebenden Bevölkerung Italiens und Nordamerikas sehr häufig. Nach Anreicherung der Zerealien mit Nikotinsäure kommt die Pellagra nur selten vor, überwiegend bei Tryptophanmangel (Karzinoidsyndrom, Hartnup-Krankheit). Die Substitution kann auch mit Nikotinamid erfolgen. Vitamin B6: Pyridoxin. Zur B6-Gruppe gehören Pyridoxol, Pyri-
doxamin und Pyridoxal. Die aus allen 3 Vorstufen im Organismus gebildete wirksame Substanz ist Pyridoxalphosphat und ist das Coenzym zahlreicher am Aminosäurestoffwechsel beteiligter Enzyme (Decarboxylasen, Transaminasen u.a.). Es ist der Cofaktor bei der Umwandlung von Tryptophan in Serotonin und von Serin in Glycin. Außerdem kann es mit Steroidrezeptorkomplexen reagieren und dadurch Steroidwirkungen beeinflussen.
Mangelerscheinungen sind:
4 seborrhöähnliche Hauterscheinungen um Augen, Nase und Mund, verbunden mit Stomatitis und Glossitis 4 periphere Neuritis und Schwellung und Druckempfindlichkeit synovialer Gewebe (Carpaltunnelsyndrom), EEG-Veränderungen und Krampfbereitschaft 4 Sideroblastenanämie. Spontane Avitaminosen scheinen nicht vorzukommen, obwohl Alkoholiker häufig ein Vitamindefizit aufweisen. Der Alkoholmetabolit Acetaldehyd spaltet den Coenzym-Apoenzym-Komplex. Zur Avitaminose können aber Medikamente mit antagonistischer Wirkung gegen Pyridoxin führen (Isoniazid, Penicillamin, Hydralazin). Einige genetisch bedingte Erkrankungen sprechen auf pharmakologische Pyridoxindosen an (Anfallsleiden bei Kindern, hereditäre Sideroblastenanämie), ebenso die Hyperhomozysteinämie. Pantothensäure.Ein Dipeptid aus β-Alanin und 2,4-Dihydroxy3,3-dimethylbutyrat. Pantothensäure ist eine Vorstufe des Coenzym A, das im Stoffwechsel der Acylübertragung, insbesondere der Acetylierung, dient und auf diese Weise bei der Glukoseoxidation, der Gluconeogenese, bei Synthese und Oxidation der Fettsäuren und bei der Steroidhormonsynthese etc. eine Schlüsselrolle spielt. Im Tierexperiment führt Pantothensäureentzug zu Zeichen der neuromuskulären Degeneration, zur Nebenniereninsuffizienz und zum Tod. Beim Menschen kommen anscheinend keine Defizite vor. Biotin: Vitamin H. Ein zyklisches Harnstoffderivat, das einen Thio-
phanring enthält. Es ist als Coenzym am Carboxyltransfer beteiligt und damit für den Kohlenhydrat- und Fettstoffwechsel sehr bedeutsam. Symptome von Mangelerscheinungen sind: Dermatitis, atrophische Glossitis, Hyperästhesie, Muskelschmerzen, Schwäche, Anorexie, Alopezie, EEG-Veränderungen. Ein sponta-
nes Vorkommen ist beim Menschen sehr selten. ! Eine Hypovitaminose kann durch reichlichen Konsum roher Eier entstehen, da rohes Eiereiweiß das biotinbindende Protein Avidin enthält.
Bei Kindern wurde ein Biotinmangel nach längerer parenteraler Ernährung wegen chronischer entzündlicher Darmerkrankungen beobachtet. Folsäure: Pteroylmonoglutaminsäure. Speicherkapazität 5– 20 mg, davon die Hälfte in der Leber. Nach Ausscheidung in die Galle unterliegt die Folsäure einem enterohepatischen Kreislauf. Soweit Folsäure in der Nahrung als Polyglutamat vorliegt, wird sie an der Darmwand durch eine spezifische Peptidase in die Monoglutamatform übergeführt. Nach der Resorption, noch in der Mukosa, erfolgt an 4 Positionen die Reduktion zur metabolisch aktiven Tetrahydrofolsäure (THF oder FH4). Diese nimmt Einkohlenstoffradikale (-CH3, -CHO, -CH-, -CH2, CHNH, C2OH)
441 5.1 · Ernährungsstörungen
auf und überträgt sie als Coenzym auf andere Substanzen, insbesondere auf die Methylgruppe von Vitamin B12, und wirkt an der Synthese von Proteinen und Nukleinsäuren mit. Als rasch proliferierendes Gewebe zeigt das Knochenmark als erstes die Folgen der gestörten DNA-Synthese. ! Die einzige klinische Manifestation von Folsäuremangel ist eine megaloblastäre Anämie, die der durch einen B12Mangel gleicht. Neurologische Störungen kommen nur bei B12-Hypovitaminose vor und sind progredient, wenn bei Vitamin-B12-Mangel nur mit Folsäure behandelt wird. Folsäuremangel kommt bei Alkoholikern (schlechte Ernährung, Hemmung der Folsäureaustritts aus den Leberzellen), Malabsorption, Hämodialyse, Methotrexat-Therapie, hämolytischen Anämien, Einnahme von Ovulationshemmern und antiepileptischen Mitteln. Vitamin B12: Cobalamin. Besteht aus 4 reduzierten und voll substituierten Pyrrolringen, die um ein zentrales Kobaltatom gelagert sind. Stoffwechsel: In der Nahrung ist Cobalamin an Proteine gebunden, aus denen es im Magen proteolytisch freigesetzt wird. Dann verbindet es sich mit einem Glykoprotein, dem sog. RBinder, der es ins Duodenum transportiert. Dort wird der RBinder verdaut und das abgetrennte Cobalamin fest an den von den Belegzellen der Magenschleimhaut sezernierten IntrinsicFakor (IF) gebunden. Der IF ist durch hohen Neuraminsäuregehalt gegen Proteolyse geschützt. Er transportiert das Cobalamin ins untere Ileum, dessen Enterozyten einen spezifischen Rezeptor für den Cobalamin-IF-Komplex besitzten und ihn per Endozytose aufnehmen. In den Enterozyten wird der Komplex durch lysosomale Enzyme abgebaut und das Cobalamin an das im Blutplasma zirkulierende Transcobalamin II (TC II) abgegeben. TC II schleust dann das Cobalamin in alle Körperzellen ein, ebenfalls über einen spezifischen Rezeptor. In den Zielzellen freigesetzt, wird Cobalamin in die beiden biologisch aktiven Derivate Methylcobalamin und Adenosyl-Cobalamin übergeführt. Im Blut ist das meiste Cobalamin an Transcobalamin I gebunden. Diese Fraktion scheint aus den Leukozyten zu stammen und hat eine lange Verweildauer im Blut, während TC II schnell umgesetzt wird. Wirkung: Methylcobalamin katalysiert als Coferment die Umwandlung von Homocystein in Methionin. Bei Störung dieser Reaktion ist der Folatstoffwechsel und damit die DNA-Synthese beeinträchtigt. Adenosylcobalamin ist als Coenzym am Abbau ungeradzahliger Fettsäuren beteiligt, die andernfalls in neuronale Lipide eingebaut werden. Vitamin B12 senkt erhöhte Serumkonzentrationen von Homocystein. Folgen eines Vitamin-B12-Mangels sind perniziöse Anämie (makrozytäre Anämie, Megaloblastose des Knochenmarks, Leukopenie, Thrombopenie), Glossitis und funikuläre Spinalerkrankung. Ursachen sind ungenügende orale Vitamin-B12-Zufuhr, Fehlen des Intrinsic-Faktors (autoimmunologische Läsion der
Belegzellen in der Magenschleimhaut, Gastrektomie), Malabsorption, Fischbandwurm und blinde Darmschlingen. Vitamin C: Ascorbinsäure. Klassisches Antioxydans, das u.a. Li-
pid-Peroxyd-Radikale eliminiert. Als Coenzym verschiedener Hydroxylasen ist Ascorbinsäure an der Synthese von Kollagen, Proteoglykanen und anderen Substanzen der interzellulären Matrix von Kapillaren, Knochen und Zähnen beteiligt. Mittels Hydroxylierungsreaktionen dient es auch zur Synthese von Adrenalin und Nebennierenrindenhormonen. Durch Amidierung wirkt es am Aufbau verschiedener Peptidhormone mit. Insgesamt sind bis jetzt 8 unterschiedliche Funktionen im Intermediärstoffwechsel nachgewiesen. Die als Skorbut benannte Hypovitaminose, die früher besonders in den Wintermonaten auftrat, ist durch rasches Ermüden, Körperschwäche, Hyperkeratose der Haarfollikel mit perifollikulären Hämorrhagien, kleinflächige Hautblutungen, Zahnfleischbluten mit nachfolgendem Zahnausfall, Anämie (sekundäre Störung der Eisenresorption) und hypochondrische Verstimmung gekennzeichnet. Unbehandelte Patienten sterben (wie vor allem Seeleute in früheren Jahrhunderten). Heute erkranken hauptsächlich Kinder, alte Menschen und Alkoholiker sowie schlecht ernährte Bevölkerungen in Entwicklungsländern. Wundheilungsstörungen und Infektanfälligkeit bei Skorbutkranken haben zur Anwendung pharmakologischer Dosen (1– 4 g/Tag) als Schutz gegen Erkältungskrankheiten geführt. Der Effekt ist umstritten. Body-Mass-Index Der Body-Mass-Index (BMI) dient der Berechnung des Körpergewichts nach folgender Formel: Körpergewicht (kg) dividiert durch das Quadrat der Körpergröße (m2). Körpergewicht (kg) BMI = 004 Körpergröße (in m2) Das Körpergewicht ist abhängig von der Energiezufuhr, bei unzureichender Zufuhr erfolgt eine Gewichtsabnahme, liegt die Energiezufuhr über dem Bedarf, so nimmt das Körpergewicht zu. Zur Beurteilung des Körpergewichtes wird die in . Tab. 5.5 dargestellte Klassifizierung vorgenommen. 5.1.2 Unterernährung Definition. Im weitesten Sinne bedeutet Unterernährung, dass
einer oder mehrere der 40 bisher bekannten essenziellen Nahrungsbestandteile im Körper nicht in ausreichender Menge vorhanden sind und dass dadurch Gesundheit und Leistungsfähigkeit beeinträchtigt werden. Im Folgenden werden die kalorische Unterernährung, die obligatorisch mit Eiweißmangel verbunden ist, und der Eiweißmangel bei isokalorischer Ernährung behandelt. Sekundäre Hypovitaminosen sind dabei häufig.
5
442
Kapitel 5 · Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten
. Tabelle 5.4. Wasserlösliche Vitamine
5
Vitamin
Quellen
Tagesbedarf
Überdosierungserscheinungen
Vitamin B1 (Thiamin)
in allen pflanzlichen und tierischen Nährstoffen, besonders reichlich in Hefe, Vollkornprodukten, Sonnenblumenkernen und Schweinefleisch
0,5 mg/1000 kcal
Vitamin B1-Hypervitaminosen sind nicht bekannt. Bei parenteraler Applikation kann es zu schockartigen Überempfindlichkeitsreaktionen kommen.
Vitamin B2 (Riboflavin)
reichlich enthalten in Milch, Käse, Leber, Eiern, Blattgemüse und Vollkornprodukten
0,5 mg/1000 kcal
nicht bekannt
Niacin
in Leber, Fleischwaren, Fisch, Geflügel, Vollkornprodukten, Nüssen und Leguminosen
6,6 mg/1000 kcal 60 mg Nahrungstryptophan entsprechen der Zufuhr von 1 mg Nikotinsäure
In pharmakologischen Dosen verursacht Nikotinsäure oft Flush, Pruritus, gastrointestinale Störungen und Leberschäden, während Nikotinamid gut verträglich ist. Nikotinsäure findet als Vasodilatator und zur Behandlung der Hypertriglyzeridämie Verwendung.
Vitamin B6 (Pyridoxin)
reichlich in Hefe, Weizen, Mais und Leber
1,5–2,0 mg
Bei Tagesdosen >50 mg können langfristig Parästhesien auftreten.
Pantothensäure
ubiquitäres Vorkommen, vor allem in Fleischsorten, Leber und Eidotter
4–7 mg
keine toxischen Effekte
Biotin
in Leber, Niere, Eigelb und Hefe, wird in großen Mengen von Darmbakterien gebildet
1,5–2 mg
nicht bekannt
Folsäure
besonders in frischen grünen Gemüsen, Leber, Hefe und Früchten (wird durch längeres Kochen bis zu 90% zerstört)
0,3 mg
nicht bekannt
Vitamin B12 (Cobalamin)
nur im Fleisch und in Milchprodukten, synthetisieren können es ausschließlich Mikroorganismen, zu denen die Darmbakterien gehören
0,003 mg
nicht bekannt
Vitamin C (Ascorbinsäure)
Zitronen, Orangen, Grapefruit, Erdbeeren und Kohlsorten. Wichtige Quelle sind auch Kartoffeln. Zerstörung durch Kochen, Oxydation an der Luft und durch Alkali
60 mg ab 10 mg besteht Skorbutschutz (mit dieser Menge wird im Körper ein konstantes Depot von 1500 mg gebildet)
Überschüssige Ascorbinsäure wird mit dem Urin ausgeschieden oder zu Oxalat metabolisiert. Bei Tagesdosen über 1000 mg über längere Zeit kann es daher zu Oxalatsteinen in den Harnwegen kommen.
Ursachen. Die Kausalfaktoren kommen nicht selten in Kombinationen vor und summieren sich dann in ihren Effekten auf den Ernährungszustand: 4 mangelhafte Nahrungsmittelversorgung: aus äußeren oder materiellen Gründen (Krieg, Gefangenschaft, Hunger in übervölkerten, verarmten Regionen etc.) 4 Nahrungsverweigerung: aus politischen oder religiösen Gründen, bei psychiatrischen Erkrankungen und Anorexia nervosa 4 Appetitmangel: bei organischen Erkrankungen, insbesondere Krebsleiden, Infektionen, schwere Herzinsuffizienz, Intoxikationen, Alkoholismus, Depressionen, Hospitalisation, sekundäre Anorexie bei Marasmus 4 Störungen der Nahrungsaufnahme: Bewusstseinsstörungen, Lähmungen, Erkrankungen des oberen Verdauungstraktes, rezidivierendes Erbrechen
4 Störungen der Nahrungsverwertung: Maldigestion und Malabsorption bei Erkrankungen der Verdauungsorgane.
4 erhöhte, durch die Nahrungsaufnahme nicht gedeckte Energie- und Eiweißverluste: bei Fieber, Hyperthyreose, Verletzungen, Operationen und großen körperlichen Belastungen 4 erhöhter Eiweißbedarf: Wachstumsalter. Pathophysiologie. Totaler Hunger: Völliger Entzug von Flüssigkeit und Nahrung
(z.B. bei Verschütteten). Maximale Toleranz 12 Tage. Exitus infolge Dehydratation. Totales Fasten: Völliger Kalorienentzug bei Zufuhr von Wasser, Salz und evtl. Vitaminen. Erschöpfung der Glykogenreserve innerhalb eines Tages. Absinken des Blutzuckers, starke Drosselung der Insulinsekretion. Dadurch Mobilisierung des Depotfet-
443 5.1 · Ernährungsstörungen
. Tabelle 5.5. BMI-Klassifizierung
BMI (kg/m2)
Krankheitsrisiko
Untergewicht
30% liegen, da er die Energiedichte der Nahrung maßgeblich bestimmt. Fettbeschränkung wirkt auch einer Hyperlipämie entgegen. Körperliche Aktivität
In keinem Programm zur Gewichtsreduktion sollte körperliches Training fehlen, weil es den Kalorienverbrauch erhöht, vom Es-
sen ablenkt und das Wohlbefinden steigert. Zu bevorzugen sind dynamische Sportarten unter Beteiligung großer Muskelgruppen wie Wandern (5,2 kcal/min), Radfahren (8,2 kcal/min), Schwimmen (11,2 kcal/min) und Jogging (19,4 kcal/min). Ein Mehrverbrauch von nur 300 Kalorien pro Tag ergibt in 4 Monaten einen Gewichtsverlust von etwa 4,5 kg. Verhaltensänderung
Ernährungsdisziplin lässt sich leichter einhalten, wenn nur 3-mal täglich eine Mahlzeit eingenommen wird und diese bereits portioniert auf den Tisch kommt. Die Angehörigen müssen mithelfen. Die Kost sollte schlackenreich sein, d.h viel Gemüse und Früchte enthalten. Mit Süßigkeiten und Alkohol ist wegen hohen Kaloriengehalts und appetitsteigernder Wirkung vorsichtig umzugehen. Tägliche Gewichtskontrollen ermöglichen es, vorübergehende Entgleisungen schnell durch strenge Tage zu korrigieren. Pharmakotherapie Synthetische Appetitzügler: Nach dem Debakel mit dem Am-
®
phetamin-Derivat Aminorex (Menocil ) Ende der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, das schwerste primäre pulmonale Hypertonien verursachte, werden synthetische Appetithemmer nur noch selten angewandt. Zugelassen ist noch Sibutramin, ein Inhibitor der Aufnahme von Noradrenalin, Serotonin und Dopamin in zentrale Neurone. In randomisierten, placebokontrollierten Studien wurden deutliche Gewichtsreduktionen erzielt, z.B. um 10 kg versus 4 kg während einer 24-Wochenperiode. Häufigste Nebenwirkungen: Mundtrockenheit, Kopfschmerzen, Obstipation, Blutdruckanstieg und Pulsbeschleunigung. > Da das Körpergewicht nach Absetzen von Appetitzüglern wieder ansteigt, kommen sie nur für kurzzeitigen Einsatz und in Kombination mit diätetischen Maßnahmen in Betracht. Natürliche Appetitzügler: Das von den Fettzellen sezernierte
Leptin erwies sich in rekombinanter Form bei den seltenen Fällen eines genetischen Leptindefizits als hochwirksam. Bei der gewöhnlichen Fettsucht hat das Serumleptin bereits eine erhöhte Konzentration, ohne wirksam zu sein. Mit extrem hohen Dosen ließ sich jedoch eine mäßige, praktisch kaum nutzbare Gewichtsreduktion erzielen. Kürzlich wurde das Peptid YY3-36 als rekombinantes Produkt bei Fettsüchtigen getestet. Es zeigte auch bei normaler Fettsucht eine deutliche anorexiegene Wirkung mit Gewichtsreduktion. Am unlimitierten Büfett entnahmen behandelte Patienten 30% weniger Kalorien als unbehandelte. Interessant ist, dass bei Fettsüchtigen eine erniedrigte Serumkonzentration von PYY gefunden wurde. Hemmung der enteralen Fettresorption: Zu diesem Zweck wurde aus Lipstatin, einem Produkt von Streptomyces toxytricini, der Lipaseinhibitor Orlistat synthetisiert. Orlistat blockiert die Verdauung der Nahrungstriglyzeride und damit die Resorption der
5
450
Kapitel 5 · Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten
langkettigen Fettsäuren. Mit einer Dosis von 3-mal täglich 120 mg verloren 60% der behandelten Patienten in einem Jahr 10% oder mehr des Ausgangsgewichts. In der Placebogruppe ging das Körpergewicht bei 30% der Untersuchten um 5% oder mehr zurück. Nachteile: Malabsorption mit Fettstühlen und Perioden von Leibbeschwerden, mögliches Defizit an fettlöslichen Vitaminen. Nach Absetzen des Mittels steigt das Gewicht wieder an. Chirurgische Therapie
5
Bei morbider, therapierefraktärer Fettsucht kommen als letztes Mittel chirurgische Eingriffe in Betracht. Vertikale Bandgastroplastie: Mit einer Heftklammertechnik
wird an der kleinen Kurvatur eine längliche Magentasche abgeteilt und am unteren Ende zur Entleerungsverzögerung durch ein zirkuläres Band eingeengt. Das kleine Magenvolumen reduziert die Nahrungsaufnahme durch schnelleren Eintritt des Sättigungsgefühls. Vom überschüssigen Gewicht verlieren die Patienten innerhalb von 2 Jahren und auf Dauer durchschnittlich mehr als 50%. Die Mortalitätsrate des Eingriffs liegt unter 1%. Magenbypass: Der Roux-en-Y-Magenbypass reduziert die Nah-
rungsaufnahme und bewirkt zugleich eine leichte Malabsorption.
Gastric Banding (Magenband): In Europa bevorzugt. Laparosko-
pisch wird der Magen dicht unter dem gastroösophagealen Übergang mit einem flüssigkeitsgefüllten Silikonband eingeschnürt (. Abb. 5.1). Der Grad der Einschnürung wird mit einem subkutan platzierten Ballon reguliert, der mit dem Band verbunden und perkutan aufzufüllen ist. Auf diese Weise lässt sich die Einschnürung im Verlauf justieren. Auch mit dieser schonenden Methode sind starke Gewichtsabnahmen zu erzielen. Komplikationen: Ösophagusdilatation, Dysphagie, Banderosion des Magens. 5.2
Störungen des Kohlenhydratstoffwechsels Hormone des Glukosestoffwechsels Insulin Glucagon Katecholamine Andere Hormone 5 Wachstumshormon 5 Cortisol
Störungen des Glukosestoffwechsels Diabetes mellitus Klassifizierung und diagnostische Kriterien des Diabetes mellitus Typ-1-Diabetes Typ-2-Diabetes 5 Monogener Typ-2-Diabetes 5 Polygener Typ-2-Diabetes Komplikationen des Diabetes 5 Mikrovaskuläre Komplikationen 5 Diabetische Retinopathie 5 Diabetische Nephropathie 5 Diabetische Neuropathie 5 Makrovaskuläre Komplikationen 5 Koronare Herzkrankheit 5 Periphere arterielle Verschlusskrankheit 5 Infektionen 5 Diabetischer Fuß Diabetes und Schwangerschaft 5 Schwangerschaftsdiabetes 5 Schwangerschaft bei vorbestehendem Diabetes mellitus Metabolisches und Insulinresistenz-Syndrom Hypoglykämie 5 Mechanismen der Gegenregulation 5 Postabsorptive Hypoglykämie
. Abb. 5.1. Magenband
451 5.2 · Störungen des Kohlenhydratstoffwechsels
5.2.1 Hormone des Glukosestoffwechels Insulin Synthese, Speicherung und Sekretion des Insulins finden in den β-Zellen der Langerhans-Inseln des Pankreas statt. Die β-Zellen machen etwa 80% der Zellmasse der Langerhans-Inseln aus. Insulinstruktur Das Insulinmolekül besteht aus 2 Polypeptidketten (A, B), die durch 2 Disulfidbrücken miteinander verbunden sind (MG 5800). Vorstufe des Insulins ist das einkettige Präproinsulin, aus dem im endoplasmatischen Retikulum der β-Zellen das Proinsulin entsteht. Im Golgi-Apparat und in den Sekretgranula der β-Zellen erfolgt die Spaltung des Proinsulins in Insulin und das C-Peptid (. Abb. 5.2). Bei der Sekretion werden Insulin und C-Peptid in äquimolekularen Konzentrationen freigesetzt. Durch radioimmunologische Bestimmung des C-Peptids im Serum oder Urin kann folglich auf die Sekretionskapazität für Insulin geschlossen werden. > Durch Definition ist festgelegt, dass 1 mg reines Insulin 24 IE (internationale Einheiten) enthält.
Insulinsekretion Beim normalen Erwachsenen beträgt die basale Insulinsekretionsrate etwa 1 IE/Std. Die Aufnahme von Nahrung bewirkt einen Anstieg auf das 5–10fache, stimuliert durch Glukose, Aminosäuren und GIP (gastric inhibitory polypeptid). Die pro Tag insgesamt sezernierte Insulinmenge beläuft sich auf durchschnittlich 40 IE. Insulinrezeptor Bindungsstelle für das Insulin an der Oberfläche seiner Zielzellen ist der Insulinrezeptor, ein tetrameres Glykoprotein mit 2 α- und 2 β-Untereinheiten, das alle zellulären Insulineffekte vermittelt. An den durch eine Disulfidbrücke verknüpften α-Untereinheiten dockt das Insulinmolekül an. Die mit ihnen verbundenen β-Ketten tauchen durch die Plasmamembran ins Zellinnere ein. Sie enthalten eine Tyrosinkinase, die durch den Kontakt des Insulins an den Rezeptor aktiviert wird und Tyrosinreste an den β-Ketten phosphoryliert. Über die Bindung verschiedener Rezeptorsubstratproteine an die Phosphatgruppen läuft die Signaltransduktion dann auf mehreren Wegen weiter und bewirkt den Glukosetransport in die Zelle, die Glykogensynthese, die Proteinsynthese und die Mitogenese. Insulinwirkungen Insulin ist ein Stoffwechselhormon. Seine lebenswichtige Bedeutung besteht darin, dass es dem Organismus ermöglicht, alle mit der Nahrung aufgenommenen Energieüberschüsse in Form von Glykogen und Triglyzeriden zu speichern und Proteine aufzubauen (anaboler Effekt). Während der Nahrungsaufnahme wird der Abbau von Körpersubstanz zur Energiegewinnung durch In-
sulin unterdrückt. Zwischen den Mahlzeiten, wenn der Glukosenachschub aufhört, sinkt mit der Plasmaglukose die Insulinsekretion, was zur Umkehrung aller Insulineffekte führt: Stabilisierung des Blutzuckers durch gesteigerte hepatische und renale Glukoseproduktion (Glykogenolyse und Gluconeogenese), Hemmung der peripheren Glukoseutilisation, Mobilisierung der Fettdepots durch Lipolyse und Eiweißreserven (Freisetzung glukogener Aminosäuren durch Proteolyse von Muskeleiweiß). Kohlenhydratstoffwechsel: Insulin senkt die bei Kohlenhydratzufuhr steigende Plasmaglukosekonzentration durch: 4 Hemmung der hepatischen und renalen Produktion und Freisetzung von Glukose 4 Stimulation der Glukoseaufnahme in die Muskulatur und das Fettgewebe.
Die postresorptive Glukoseaufnahme in die Leberzellen aus dem Pfortaderblut erfolgt insulinunabhängig. Insulin begünstigt aber die Glykogenspeicherung, indem es die Glykogenolyse unterdrückt. Gleichzeitig stoppt es die Gluconeogenese. Insulin kontrolliert den Glukosetransport in die Muskel- und Fettzellen. Im ruhenden Muskel wird die aufgenommene Glukose überwiegend zur Glykogensynthese verwendet, im arbeitenden Muskel verbrannt. Der arbeitende Muskel kann allerdings auch ohne Insulin Glukose aufnehmen. Im Fettgewebe dient die Glukose hauptsächlich zur Bildung von Glycerin-3-Phosphat für die Wiederveresterung aufgenommener Fettsäuren zu Triglyzeriden. Daneben entstehen kleine Mengen Glykogen. Fettstoffwechsel: Insulin vergrößert und konserviert die Fettdepots und damit die wichtigsten Energiespeicher des Organismus. Durch Induktion der Lipoproteinlipase stimuliert es die Aufnahme exogener und endogener Triglyzeride in die Fettzellen. Zugleich hemmt Insulin die Mobilisation der Fettsäuren aus dem Fettgewebe, indem es die Aktivität der hormonsensitiven Lipase herabsetzt. Dieser antilipolytische Effekt lässt die Konzentration der freien Fettsäuren im Plasma sinken und hebt deren Hemmwirkung auf den Glukoseeintritt in die Zellen auf. In der Leber bewirkt die erhöhte Insulinkonzentration nach der Nahrungsaufnahme eine Hemmung der Fettsäureoxidation, ein Effekt, der durch das herabgesetzte Fettsäureangebot noch verstärkt wird. Auf diese Weise werden zunächst bevorzugt die Nahrungskohlenhydrate metabolisiert. Eiweißstoffwechsel: Insulin vergrößert den Eiweißbestand des
Körpers, indem es postprandial die Eiweißsynthese steigert und den Eiweißabbau hemmt. Im Einzelnen sind folgende Effekte nachgewiesen: 4 Stimulation des aktiven Transports zahlreicher, vor allem der verzweigtkettigen Aminosäuren in die Muskelzellen 4 Steigerung der Translation der mRNS und damit der Proteinsynthese 4 Steigerung der Transkriptionsrate der DNA in den Zellkernen
5
452
Kapitel 5 · Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten
. Abb. 5.2. Die Insulinsynthese vom Gen zum sezernierten Molekül (aus Löffler-Petrides 2 (Hrsg.) Biochemie und Pathobiochemie, 7. Aufl., Springer 2003)
5
4 Hemmung des Eiweißabbaus (Proteolyse) durch die Lysosomen der Zellen 4 Hemmung der Gluconeogenese in der Leber aus Aminosäuren, wodurch diese vermehrt für die Proteinsynthese verfügbar werden.
Glucagon Synthese, Speicherung und Sekretion erfolgt in den α-Zellen der Langhans-Inseln des Pankreas.
453 5.2 · Störungen des Kohlenhydratstoffwechsels
Glucagonstruktur Glucagon ist ein einkettiges Peptid aus 29 Aminosäuren (MG 3485). Es wird aus dem Präproglucagon (MG 18000) über ein Zwischenprodukt (Glicentin) abgespalten. Glucagonwirkungen Glucagon ist ein Antagonist des Insulins und wirkt einer insulinbedingten Hypoglykämie entgegen. Es steigert die Glykogenolyse und die Gluconeogenese in der Leber und damit deren Glukoseproduktion. Die Glukoseproduktion beginnt schnell, kehrt aber trotz fortbestehender Hyperglukagonämie nach 30–90 Minuten zur Norm zurück, weil mit dem Blutzuckeranstieg die Insulinsekretion wieder einsetzt. Katecholamine Adrenalin, das Hormon des Nebennierenmarks, wird bei Hypoglykämie vermehrt sezerniert und lässt den Blutzucker innerhalb von Minuten wieder ansteigen. Dabei übt es indirekte und direkte Effekte aus: 4 Indirekt wirkt Adrenalin über eine Hemmung der Insulinsekretion (vermittelt durch α2-Rezeptoren) und eine Steigerung der Glucagonsekretion (vermittelt durch α-Rezeptoren). 4 Direkt bewirkt es (vermittelt durch β2-Rezeptoren) eine Stimulation der Glykogenolyse und der Neoglucogenese, wozu deren Vorstufen (Laktat, Alanin, Glycin) in der Peripherie mobilisiert werden. Ein β-adrenerger Effekt hemmt gleichzeitig die periphere Glukoseutilisation, was Glucagon nicht kann. ! Anhaltende Hyperadrenalinämie führt wegen ihrer kombinierten Effekte zu persistierender Hyperglykämie, was beim Phäochromozytom deutlich wird.
Andere Hormone Wachstumshormon und Cortisol hemmen bei langfristig erhöh-
ten Konzentrationen die Glukoseutilisation und steigern die Glukoseproduktion. Unter diesen Bedingungen wirken sie als Antagonisten zum Insulin. Kurzfristig hat Wachstumshormon einen glukosesenkenden (insulinähnlichen) Effekt. 5.2.2 Diabetes mellitus Definition. Der Diabetes mellitus ist eine Störung des Glukose-
stoffwechsels mit chronischer Hyperglykämie (und diversen Folgen) durch absoluten Insulinmangel oder Insulinresistenz mit inadäquater Insulinsekretion, die in absoluten Insulinmangel übergehen kann. Bei höheren Schweregraden führt die diabetische Stoffwechselstörung zu Glukosurie, Ketose und Eiweißverlust. Zu den Spätkomplikationen gehören eine Mikroangiopathie, insbesondere der Retina- und Glomerulusgefäße, eine Neuropathie und eine akzelerierte Atherosklerose. Das Spektrum der klinischen Erscheinungen reicht von einer asymptomatischen Stö-
rung der Kohlenhydrattoleranz bis zum lebensgefährlichen diabetischen Koma. Klassifizierung. Die frühere Einteilung des Diabetes mellitus in
jugendlichen und Altersdiabetes ist durch eine ätiologische bzw. pathogenetische Klassifizierung abgelöst worden. Die Bezeichnung MODY (maturity onset diabetes of the young) hat man durch den entsprechenden genetischen Defekt ersetzt (. Tab. 5.6). Von allen Fällen des Diabetes mellitus entfallen weltweit auf den Typ 1 5–25%, auf den Typ 2 75–95%, wobei deutliche regionale Unterschiede vorkommen. Die anderen spezifischen Diabetestypen sind demgegenüber selten. Diagnostische Kriterien (WHO) Repräsentiert werden sie von Glukosekonzentrationen im Blut bzw. venösen Plasma, die nach epidemiologischen Untersuchungen am Fußpunkt eines steilen Anstiegs der diabetischen Komplikationen (speziell der Retinopathie) liegen (. Tab. 5.7). > Pathologische Werte der Glukosebestimmung sind wegen der Tragweite der Diagnose Diabetes mellitus mindestens einmal zu wiederholen.
Da die Fasten-Plasmaglukose mit dem Ergebnis des oralen Glukosebelastungstests eng korreliert, wird letzterer für die Routinediagnostik nicht mehr empfohlen. Das Hämoglobin A1c korreliert eng mit der Glukose im venösen Nüchternplasma. Der normale Grenzwert liegt etwa bei 6,0%. Für die Diagnose Diabetes wird der Hb1c-Wert gegenwärtig aber nicht als Screening-Test empfohlen. Seine große Bedeutung liegt in der Kontrolle des Therapieerfolges. Der Typ-1-Diabetes ist obligatorisch insulinabhängig (IDDM: insulin dependent diabetes mellitus), der Typ-2Diabetes in der Mehrzahl der Fälle insulinunabhängig (NIDDM: non insulin depend diabetes mellitus), kann aber insulinabhängig werden. Insofern ist die Insulinabhängigkeit kein Kriterium für die Unterscheidung beider Typen. Kategorien der Glukosetoleranz Basierend auf den Glukosekonzentrationen im venösen Plasma nach 8-stündigem Fasten (FPG) werden 3 Kategorien der Glukosetoleranz unterschieden: 4 normal: FPG 20% Megakaryoblasten, die teils wie Lymphoblasten aussehen, teils die dreifache Größe haben mit Vakuolen und hellen Nukleolen im hellblauen Kern (lymphoides Aussehen). Die Knochenmarkbiopsie ergibt in 90% der Fälle eine Fibrose. Zytochemisch zeigen Megakaryoblasten eine negative MPO-, SBB- und meistens auch NSE-Reaktion. Neben den Blasten atypische Megakaryozyten. Im peripheren Blut Anämie und Leukopenie, Thrombozyten häufig noch >100×103/mm3, aber mit vermindertem Aggregationsvermögen.
3–5
3–5
Akute Erythroleukämie (FAB-Typ M6)
Akute Megakaryoblastenleukämie (FAB-Typ M7) (Früher als akute Myelofibrose oder maligne Myelosklerose angesehen.)
>80% der Zellen vom Monozytentyp: 5 Monoblasten 5 Promonozyten 5 Monozyten. Variante M5a: Ausschließlich große Monoblasten mit breitem basophilem, granulafreiem Plasmasaum (. Abb. 7.44). Variante M5b: Geringerer Blastenanteil, mehr Promonozyten und Monozyten. Eosinophile Variante: Mit atypischen Eosinophilen (5–30%).
2–9
Akute Monozytenleukämie (FAB-Typ M5)
Knochenmark
Anteil in %
CD42b, CD41 oder CD61. Positive Reaktion mit Antikörpern gegen v.-Willebrand-Faktor und die Glykoproteine IIb/IIIa, die zur Unterscheidung von Myeloblasten wichtig ist.
Anomalien an den Chromosomen 3 und 21
Translokationen t(9;11)(p22;q23)
CD11, CD14, CD64, CD68
Die Myeloblasten haben CD13 und CD33. Im Zytoplasma der Erythroblasten ist mit monoklonalen Antikörpern Glycophorin A nachzuweisen.
Zytogenetische Marker
Immunphänotyp
7
Typ
. Tabelle 7.11 (Fortsetzung)
Der AmegL gehen manchmal myeloprolifertative Erkrankungen voraus. Nur in diesen Fällen Splenomegalie. Die Ansprechbarkeit auf konventionelle Chemotherapie ist meistens schlecht. Eine Remission führt häufig zur Rückbildung der Fibrose, die auf einer Stimulation der Stromazellen durch Wachstumsfaktoren aus den Megakaryoblasten beruht.
Die überwiegend älteren Patienten haben Anämiesymptome und häufig einen rheumatischen Beschwerdekomplex mit polyklonaler Hypergammaglobulinämie. Manchmal sind Leber und Milz vergrößert. Auf die Chemotherapie sprechen sie relativ schlecht an.
Häufig Leber-, Milz- und Lymphknotenschwellung, bei Variante M5b zusätzlich Gingivahyperplasie. Bei 30–50% der Patienten Leukozytenzahlen im peripheren Blut bis >100×103/mm3, überwiegend Monozyten. Blastenanteil bei M5a höher als bei M5b. Relativ schlechtes Ansprechen auf die Chemotherapie.
Klinik
662 Kapitel 7 · Krankheiten des Blutes und der blutbildende Organe
663 7.4 · Myeloische Neoplasien
. Abb. 7.41. Knochenmarkausstrich bei akuter Myeloblastenleukämie Subtyp M0 mit undifferenzierten Blasten unterschiedlicher Größe mit deutlichen Nukleolen im Zellkern (aus Löffler et al. Atlas der klinischen Hämatologie. 6. Aufl., Springer, Berlin 2004)
. Abb. 7.43. Knochenmarkausstrich bei akuter Promyelozytenleukämie Subtyp M3. Dichte Ansammlung atypischer Promyelozyten mit Auerstäbchen im Zytoplasma (aus Löffler et al. Atlas der klinischen Hämatologie. 6. Aufl., Springer, Berlin 2004)
. Abb. 7.42. Knochenmarkausstrich bei akuter Myeloblastenleukämie Subtyp M2. Myeloblasten, einer mit Auerstäbchen, daneben Promyelozyten, Myelozyten und drei reife Neutrophile (aus Löffler et al. Atlas der klinischen Hämatologie. 6. Aufl., Springer, Berlin 2004)
. Abb. 7.44. Knochenmarkausstrich bei akuter Monoblastenleukämie Subtyp M5a. Unreife Monoblasten mit basophilem, granulafreiem Plasmasaum (aus Löffler et al. Atlas der klinischen Hämatologie. 6. Aufl., Springer, Berlin 2004)
Postremissionstherapie: Patienten, die nach der Induktionsphase
setzen, mit Idarubicin in Intervallen. In den ersten 3 Wochen kann eine fieberhafte Reaktion mit Lungen- und Perikardbeteiligung auftreten, die aber mit Dexamethason zu beherrschen ist. Falls Resistenz auftritt, ist eine Behandlung mit Arsentrioxid (ATO) Erfolg versprechend.
in einer kompletten Remission sind, erhalten das 7+3 Regime mit denselben Mitteln in unveränderter Dosierung einmal monatlich für die Dauer von 4–12 Monaten. Mit diesem Vorgehen beträgt die Remissionsdauer im Durchschnitt 1 Jahr. Etwa 10–20% erreichen ein rezidivfreies Überleben (RFS). Therapie der akuten Promyelozytenleukämie (FAB-Typ M3): Bei
dieser PML ist eine einzigartige Behandlungsmöglichkeit gegeben. Denn der defekte Retinsäurerezeptor spricht auf Gaben von All-trans-Retinsäure ATRA) an, das die Promyelozyten zur Differenzierung bringt. Die Remissionsinduktion erfolgt mit Idarubicin 12 mg/m2 KOF/Tag, an den Tagen 2, 4, 5, und 8 und mit ATRA 45 mg/m2 KOF/Tag fortlaufend. Nach der Remission ist die tägliche Einnahme von ATRA (Tretinoin) langfristig fortzu-
Prognostische Faktoren bei der Standardtherapie: Die Prognose wird zum einen durch die Therapie-induzierte Mortalität belastet, die zwischen 5 und 30% variiert. Sie nimmt mit dem Alter zu, ist bei hämatologischen Vorerkrankungen (Myelodysplasie) erhöht und steigt mit dem Grad der körperlichen Schwäche der Patienten. Zum anderen verschlechtert sich die Prognose mit dem Grad der Therapieresistenz. Diese äußert sich darin, das keine oder nur eine kurzfristige CR erreicht wird. Maßgebend für die Resistenz sind der Subtyp der Leukämie und die Art der zytogenetischen Anoma-
7
664
Kapitel 7 · Krankheiten des Blutes und der blutbildende Organe
plantation ist das Rezidivrisiko sehr niedrig, doch haben die Patienten ein höheres Therapie-induziertes Risiko, das den Überlebensvorteil gegenüber einer Chemotherapie häufig ausgleicht. Bei zytogenetischen Anomalien mit Resistenz gegen die Chemotherapie ist aber ein Vorteil zu erwarten, der vor allem auf der Graft-versus-Host-Reaktion beruht, die auch eine Graft-versusLeukämie-Reaktion ist. Bei autologen Stammzellentransfusionen entfällt dieser Effekt. Obwohl besser verträglich, ist deren Vorteil gegenüber der Chemotherapie fraglich.
Lymphoide Neoplasien
7.5
7
. Abb. 7.45. Knochenmarkausstrich bei akuter Erythroleukämie Subtyp M6b. Megaloblastoide Erythropoese, eine zweikernige Zelle (aus Löffler et al. Atlas der klinischen Hämatologie. 6. Aufl., Springer 2004)
Lymphoide Neoplasien Akute Lymphoblastenleukämie (ALL) Chronische lymphatische B-Zell-Leukämie (CLL) Haarzellen-Leukämie (HCL) Non-Hodgkin-Lymphome 5 B-Zell-Lymphome 5 T-Zell-Lymphome Morbus Hodgkin Plasmazelluläre Neoplasien Makroglobulinämie Waldenström H-Ketten-Krankheiten Amyloidosen
lien. Ein wichtiger Parameter für die Prognose ist die Dauer der ersten CR, die länger als ein Jahr betragen sollte. Intensivierte Therapie
Um Quote und Dauer der CR zu verbessern, werden zur Induktion der Remission und in der Postremissionsphase vielfach erheblich höhere Dosen von ara-C eingesetzt: 4 hochdosiertes ara-C (HDAC) mit 2–6 g/m2 KOF/Tag und 4 intermediäres ara-C (IDAC) mit 0,4–1,0 g/m2 KOF/Tag. Unter den erhöhten Dosierungen des ara-C nimmt die 4-Jahresüberlebensdauer zu, gleichzeitig aber auch die Therapie-induzierte Mortalität, so dass sich hinsichtlich der gesamten Überlebensquote keine signifikanten Unterschiede ergeben. Die Therapieresistenz konnte nicht durchbrochen werden.
7.5.1 Klassifizierung Die lymphoide Progenitorzelle bringt 2 Zelltypen hervor: 4 B-Zellen 4 T-Zellen.
Stammzellentransplantation
Die allogene Stammzellentransplantation wird bei Patienten 4 Wochen). Bei Kindern nach dem 2. Rückfall zu erwägen. Prognose. Heilung wenn nach 4 Jahren ohne Therapie kein Re-
zidiv aufgetreten ist. 7.5.3 Chronische lymphatische
B-Zell-Leukämie (CLL)
ließ sich eine Deletion an 13q14.3 nachweisen. Diese Region enthält zwei Mikro-RNA-Gene, von denen die Funktion zahlreicher Gene reguliert wird. Ihr Ausfall könnte den B-Zellklon zu weiteren Mutationen disponieren. Früher wurde angenommen, dass die Lymphozyten bei der CLL aus reifen naiven B-Zellen hervorgehen, also aus Zellen, die noch keinen Antigenkontakt hatten. In den letzten Jahren fand man heraus, dass die CLL in 2 Varianten vorkommt. Bei der einen sind die Gene für die variable Region der H-Kette (VH) mutiert, so dass ein Antigenkontakt stattgefunden haben muss. Bei der anderen liegen zwar keine signifikanten VH-Mutationen vor, doch exprimieren die Lymphozyten die als Aktivierungszeichen geltenden Marker CD38 und ZAP-70. Deshalb dürften auch sie mit einem Antigen in Berührung gekommen sein. Wichtig ist die Beobachtung, dass mutierten und nicht mutierten B-Zellen unterschiedliche Verlaufsformen der CCL zuzuordnen sind, die offenbar nicht ineinander übergehen. Patienten mit mutierten VH-Genen haben eine indolente CLL, die sich ohne Therapie über viele Jahre oder einige Jahrzehnte hinzieht. Dagegen verläuft die CLL bei Patienten mit unmutierten VH-Genen trotz aggressiver Therapie rasch progredient mit oft fatalem Ausgang innerhalb weniger Jahre. Als inhärente Eigenschaften wurden den B-Zellen bei der CCL eine geringe Proliferationsrate und eine verlängerte Lebensdauer zugeschrieben, letztere als Ursache für die Expansion des leukämischen Klons. Neue in-vitro-Untersuchungen haben jedoch kein herabgesetztes Proliferationsvermögen ergeben. Die Lebensdauer der B-Zellen kann nach der Antigenbindung infolge Apoptose durchaus kurz sein. Verlängert wird sie eher durch fortlaufende Antigenstimulation, als durch eine mutationsbedingte Suppression der Apoptose.
Definition. Lymphatische Neoplasie mit einer klonalen Popula-
tion reifer B-Lymphozyten, die sich auf Blut, Knochenmark, Lymphknoten, Milz und Leber erstreckt. Sie kommt in einer indolenten und in einer aggressiven Variante vor. Vorkommen und Häufigkeit. Die CLL ist in den westlichen Län-
dern die häufigste Leukämieform, im Orient und in Japan aber nur wenig verbreitet. In den USA beträgt die Inzidenz bei Männern und Frauen 3,9 bzw. 2,0 auf 100.000. Etwa 90% der Patienten sind älter als 50 Jahre. Kinder erkranken sehr selten. Ätiologie und Immunbiologie. Exogene Kausalfaktoren sind
nicht bekannt. Ionisierende Strahlen scheinen nach Beobachtungen an Hiroshima-Überlebenden keine ursächliche Rolle zu spielen. Zu erwähnen ist das gelegentliche familiäre Vorkommen der CLL. Abweichend von B-Zell-Lymphomen sind Translokationen bei der CLL selten. Es wurden auch keine einheitlichen Mutationen gefunden. Zytogenetische Anomalien sind im frühen Stadium der Erkrankung selten und können deshalb nicht von primärer Bedeutung sein. Dennoch ist wegen der Klonalität der CLL ein induzierender Faktor anzunehmen. Bei >50% der Patienten
Pathogenese. Die pathogenetischen Konsequenzen aus der Ex-
pansion der abnormen Lymphozyten sind eine Schwächung der Immunabwehr und die zunehmende Verdrängung der normalen Knochenmarkelemente. Zur Immunschwäche kommt es, weil sich der auf ein einziges Antigen festgelegte leukämische Zellklon nicht an der Abwehr beteiligen kann und die Produktion normaler immunkompetenter Lymphozyten unterdrückt. Häufigste Manifestation der gestörten Immunabwehr ist eine Hypogammaglobulinämie mit gesteigerter Anfälligkeit gegen bakterielle Infektionen, an denen etwa 50% der Patienten sterben. Hinzu kommen Autoimmunreaktionen und ein erhöhtes allgemeines Krebsrisiko. Im fortgeschrittenen Stadium der CLL kann das Knochenmark so stark lymphozytär infiltriert sein, dass es durch Verdrängung der normale Hämatopoese zu einer erheblichen Anämie, Neutropenie und Thrombopenie kommt. Eine zusätzliche Schädigung erfährt das Knochenmark durch die zytostatische Therapie. Klinik. Außer der Lymphozytose können im Frühstadium alle anderen Krankheitszeichen fehlen. Die Diagnose ist deshalb bei etwa 25% der Patienten das überraschende Resultat einer routi-
7
668
Kapitel 7 · Krankheiten des Blutes und der blutbildende Organe
nemäßigen Blutbildkontrolle. Erste Symptome sind Müdigkeit und Schwäche, geschwollene Lymphknoten oder ein Infekt. Mehr als 80% der symptomatischen Patienten haben eine generalisierte diskrete Lymphknotenvergrößerung und eine deutliche Splenomegalie, die Leibbeschwerden verursachen kann. Manchmal besteht Hustenreiz infolge Vergrößerung der mediastinalen Lymphknoten. Die Leber ist bei jedem zweiten Patienten mäßig vergrößert. Vereinzelt kommt es durch periportale Lymphome zu einem Verschlussikterus. Nicht selten treten lymphozytäre Hautinfiltrate auf, besonders im Gesicht, ferner Pruritus, Urtikaria und als Folge der Immunschwäche ein Zoster. Bei CLL-Patienten mit Herzrhythmusstörungen ist an myokardiale leukämische Infiltrate zu denken. Anämien und Thrombopenien treten erst bei fortgeschrittener CLL auf.
7
Diagnostik. Laborbefunde Blutbild: Die absolute Lymphozytenzahl ist bei der Erstuntersu-
chung meistens auf über 10×103/mm3 erhöht und steigt langsam weiter an, im Extremfall auf mehr als 500×103/mm3. Kennzeichnend für die CLL ist der klonale Charakter der Lymphozytose. Durch den Nachweis der Monoklonalität kann die Diagnose schon bei Lymphozytenzahlen zwischen 5.000 und 10.000/mm3 gesichert werden (7 unten). Im Blutausstrich lassen sich die leukämischen von normalen reifen Lymphozyten in der Regel nicht unterscheiden. Sie sind klein, haben einen dichten Kern mit verklumptem Chromatin ohne Nukleolen und einen schmalen Plasmasaum (. Abb. 7.47). Bei einigen Patienten treten im fortgeschrittenen Stadium zunehmend größere Lymphozyten auf, sog. Prolymphozyten, die reichlich Zytoplasma und einen Zellkern mit Nukleolen besitzen. Ein typischer Befund im Ausstrich sind die zahlreichen lädierten Zellen (Gumprecht-Kernschatten). Die absolute Zahl der Granulozyten ist normal oder mäßig erhöht. Das rote Blutbild zeigt anfangs keine Besonderheiten. Im Krank-
heitsverlauf kann es zu einer normochromen oder immunhämolytischen Anämie mit positivem Coombs-Test kommen. Auch die Thrombozytenzahl bleibt lange im Normbereich. Thrombopenien entstehen durch Autoantikörper oder infolge sekundärer Knochenmarkinsuffizienz. Knochenmark: Das prognostisch wichtige Ausmaß des Kno-
chenmarkbefalls lässt sich nur durch eine Biopsie feststellen. Man unterscheidet 4 Schweregrade: 4 interstitielle 4 noduläre 4 gemischt nodulär-interstitielle 4 diffuse lymphozytäre Infiltration. Bei der interstitiellen Infiltration beträgt der lymphozytäre Anteil etwa 30–40% der Knochenmarkzellen. Im diffus infiltrierten Mark sind die normalen Zellelemente schon weitgehend verdrängt. Lymphknoten: Für die Diagnose ist eine Lymphknotenbiopsie
meistens überflüssig. Der histologische Befund entspricht dem eines gut differenzierten lymphozytären Lymphoms mit Aufhebung der normalen Lymphknotenarchitektur durch eine meist diffuse Ansammlung kleiner reifer Lymphozyten. Immunphänotyp: Typisch ist die Kombination CD5, CD19, CD20, CD21, CD23 und CD24. Außerdem lässt sich an den Lymphozyten monospezifisches Immunglobulin (meistens IgM) mit einer einheitlichen L-Kette (κ oder λ) nachweisen. VH-Genmutation: Die notwendigen DNA-Analysen werden bis-
her nur in wissenschaftlichen Labors durchgeführt. Als Indikator für die CLL mit unmutierten VH-Genen der B-Zellen kann vorerst nur der Marker ZAP-70 dienen. Prognose. Sie hängt in erster Linie davon ab, welche der beiden
Varianten vorliegt (s. oben). Bisher erfolgt die Orientierung nach der Klassifikation von Rai (. Tab. 7.14). Therapie. Indikation: Die allgemein geübte Zurückhaltung mit dem Beginn
. Abb. 7.47. Blutausstrich bei chronischer lymphatischer Leukämie mit zahlreichen überwiegend reifen Lymphozyten, vereinzelt zerquetschte Zellkerne (Gumprecht-Schatten) (aus Löffler et al. Atlas der klinischen Hämatologie. 6. Aufl., Springer, Berlin 2004)
einer Chemotherapie ist bei der aggressiven Variante mit unmutierten VH-Genen nicht gerechtfertigt. Der Test auf ZAP-70 ist allerdings nicht 100%ig zuverlässig. Bei der indolenten Variante mit mutierten VH-Genen kann man warten. Notwendig sind regelmäßige Verlaufskontrollen mit Überprüfung von Lymphknoten, Leber und Milz, Blutbild, Serumelektrophorese und CoombsTest. Auch bei Lymphknotenschwellungen kann noch abgewartet werden. In den Rai-Stadien III und IV ist wegen verkürzter Lebenserwartung mit der Therapie zu beginnen. Zytostatika: Als Mittel der Wahl galt bisher Chlorambucil (Leukeran ), täglich in niedrigen Dosen (0,1 mg/kg) oder alle 3–4 Wochen als Stoß (0,7 mg/kg). Deutlich wirksamer und einziges
®
669 7.5 · Lymphoide Neoplasien
. Tabelle 7.14. Klassifikation der chronischen lymphatischen B-Zell-Leukämie von Rai
Kategorie
Symptome
Risiko
Mittlere Überlebenszeit
0 I II und III IV
Lymphozytose nur im Blut und Knochenmark Lymphozytose + Lymphadenopathie + Splenomegalie ± Hepatomegalie Lymphozytose + Anämie Lymphozytose + Thrombopenie
niedrig intermediär hoch hoch
>10 Jahre 7 Jahre 1,5 Jahre 1,5 Jahre
Mittel mit signifikanten Remissionsraten (50–60%) ist das neu eingeführte Fludarabin, ein Purinanalogon. Man gibt 25 mg/ m2 KOF/Tag i.v. an 5 konsekutiven Tagen für einen Zyklus von 28 Tagen. Ähnlich wirksam ist Chlorodeoxyadenosin. Die Kombination von Fludarabin mit Cyclophosphamid erzielt komplette Remission bei 69% der Patienten. Vergleichbare Resultate liefert die Kombination des monoklonalen Antikörpers Rituximab (Anti CD20) kombiniert mit Fludarabin. Die einzige potenziell kurative Therapie ist die allogene Stammzellen- bzw. Knochenmarktransplantation, die aber ein signifikantes Mortalitätsrisiko hat. Glukokortikoide sind bei immunhämolytischen Anämien und Thrombopenien indiziert. Auf der anderen Seite verstärken sie aber die ohnehin gesteigerte Infektanfälligkeit. Infektionen bedürfen sofort einer intensiven Antibiotikatherapie. Bei großer Infekthäufigkeit ist eine Prophylaxe mit intravenös injizierten Immunglobulinen möglich. Ausgeprägter Hypersplenismus und therapierefraktäre Immunhämolysen stellen eine Indikation zur Splenektomie dar. 7.5.4 Haarzellen-Leukämie (HCL) Definition. Seltene chronische lymphoproliferative Erkrankung
vom B-Zell-Typ, die durch Panzytopenie, Splenomegalie und Lymphozyten mit irregulären zytoplasmatischen Ausläufern (»Haarzellen«) gekennzeichnet ist. Bei 10–20% der Patienten kommen leukämische Phasen vor.
Klinik. Im Anfangsstadium sind die Patienten oft beschwerdefrei, haben aber eine deutliche Milzvergrößerung. Periphere Lymphknoten sind selten und nur gering vergrößert. Im Verlauf wird über Müdigkeit und Schwäche infolge der Anämie geklagt. Die Leukopenie führt zu gehäuften Infekten durch grampositive und gramnegative Bakterien, Mykobakterien und opportunistische Erreger (Legionellen, Toxoplasma gondii, Listerien). Die HCL ist häufig mit immunologischen Systemkrankheiten assoziiert (Sklerodermie, Polymyositis, Polyarteriitis nodosa). Selten werden Knochenläsionen mit Paraproteinämie beobachtet. Diagnostik. Hämatologische Befunde
Zum Zeitpunkt der Diagnosestellung haben 50% der Patienten eine Panzytopenie, die meisten anderen nur eine Suppression von 1–2 Zellreihen. Etwa 10–20% der Patienten sind leukämisch mit 10–20×103 Zellen/mm3. Im Blutausstrich sind Haarzellen gut zu erkennen (. Abb. 7.48). Sie haben die 2–3fache Größe normaler Lymphozyten und am Zellrand typische Ausläufer. Das oft schlecht zu aspirierende Knochenmark ist von Haarzellen infiltriert, die man auch in Biopsie erkennt. Die normalen Markelemente werden verdrängt. Zytopenie, Haarzellentyp der Lymphozyten und deutliche Splenomegalie ermöglichen die richtige Diagnose.
Vorkommen und Häufigkeit. Der Anteil an den Leukämien im Erwachsenenalter beträgt etwa 2%. In den USA werden jährlich 600–800 neue Fälle beobachtet. Das mittlere Erkrankungsalter liegt bei 52 Jahren. Männer sind 4-mal häufiger betroffen als Frauen. Ätiologie. Die Ursache ist ungeklärt. Chemikalien und Strahleneinwirkung spielen keine gesicherte Rolle. Pathogenese. Die Haarzellen sind reife B-Zellen mit rearrangierten H- und L-Ketten, letztere von einheitlichem Typ. Exprimiert werden die Oberflächenmarker CD19, CD20, CD22 und CD79b. Im Gegensatz zur CLL fehlt der Marker CD5. In den Zellen ist das Cyclin D1, ein Regulator der Zellteilung, überexprimiert. Zytogenetische Anomalien werden bei 70% der Patienten gefunden, am häufigsten an den Chromosomen 1, 2, 5, 6, 11, 14, 19 und 20.
. Abb. 7.48. Blutausstrich bei Haarzellen-Leukäme mit Lymphozyten, die haarförmige Plasmaausläufer aufweisen (aus Löffler et al. Atlas der klinischen Hämatologie. 6. Aufl., Springer, Berlin 2004)
7
670
Kapitel 7 · Krankheiten des Blutes und der blutbildende Organe
Therapie. Mittel der Wahl sind die Purinanaloga 2’-Deoxycoformycin (2’-DCF) oder 2-Chlorodeoxyadenosin (2-CdA). Vom 2’-DCF werden 4 mg/m2 KOF alle 2 Wochen infundiert in 6– 12 Zyklen. Die Anwendung von 2-CdA erfolgt z.B. als subkutane Bolusinjektion von 0,14 mg/kg/Tag über 5 Tage. Eine komplette Remission (CR) wird in 70–90% der Fälle erzielt. Prognose. Die 5-Jahresüberlebensrate beträgt rund 90%. Rezidive sprechen auf die Behandlung wieder an. In therapieresistenten Fällen wurden neuerdings rekombinante Antikörper bzw. Immuntoxine gegen die Marker CD 20, CD 22 und CD 25 mit einigem Erfolg eingesetzt.
7.5.5 Non-Hodgkin-Lymphome (NHL)
7
Definition. Monoklonale lymphozytäre Neoplasien vom B- oder
T-Zelltyp, die ihren primären Sitz in den lymphatischen Organen und Geweben haben und nur selten mit einer leukämischen Reaktion einhergehen. Mit einem Anteil von 90% dominiert der B-Zelltyp.
Antigenstimulation: Somatische Mutation von Ig-Genen, die für die antigengetriebene Proliferation zuständig sind. Es konnten Antigenspezifitäten für die Antigenrezeptoren der NHL-Zellen identifiziert werden. Störungen des Immunsystems: Angeborene und erworbene Defekte des Immunsystems sowie Autoimmunkrankheiten. Auf welche Weise sie zum NHL disponieren ist nicht geklärt.
Allgemeine klinische Charakteristika Manifestationen: Befallen werden periphere Lymphknoten und die Milz, das Knochenmark und ubiquitäre extranodale lymphatische Gewebe (Leber, Intestinum, Testes, ZNS, Haut). Das Wachstum der Lymphomzellen ist nodulär (relativ gutartig) oder diffus (bösartig). Histologisch werden kleine Zellen, kleine Zellen mit gekerbtem Kern und große Zellen unterschieden. Die Zugehörigkeit zur B- oder T-Zellreihe ergibt sich aus den immunologisch zu bestimmenden CD-Markern. Zytogenetische Untersuchungen decken Chromosomenanomalien auf. Mit DNA-Analysen werden modifizierte Immunglobulingene bzw. T-Zellrezeptorgene erfasst. Diagnostisches Programm:
Vorkommen und Häufigkeit. Auf die NHL entfallen etwa 5%
aller Malignome. Die Inzidenz beträgt 5/100.000. In den USA werden jährlich 56.200 neue Fälle beobachtet. Männer erkranken häufiger als Frauen. Klassifizierung. Die neue WHO-Klassifikation ist der . Tab. 7.13 zu entnehmen. Vom Morbus Hodgkin, der auch ein B-Zell-Lymphom ist, unterscheiden sich die NHL durch das Fehlen von Riesenzellen und entzündlicher Reaktion.
4 körperliche Untersuchung 4 Laboruntersuchungen: 5 komplettes Blutbild 5 Leberfunktionstests 5 Harnsäure 5 Serumelektrophorese 4 Röntgen: Thorax 4 CT: Abdomen, Becken, Thorax 4 Biopsie: Knochenmark, Lymphknoten 4 Lumbalpunktion (Tumorzellnachweis).
Ätiologie und Pathogenese. Non-Hodgkin-Lymphome (NHL)
entstehen aus Lymphozyten höheren Reifegrades der B- und TZellreihe, deren Genom neoplastisch transformiert worden ist. Die Ursachen dafür sind ungeklärt. An der heterogenen Pathogenese sind unterschiedliche Mechanismen beteiligt:
Ann-Arbor-Staging für Non-Hodgkin- und Hodgkin-Lymphome: Siehe . Tab. 7.15.
Genetische Läsionen: 4 Aktivierung von Proto-Onkogenen: Ein Mechanismus be-
4 4 4 4
trifft Translokationen, bei denen ein Proto-Onkogen in die Nachbarschaft regulatorischer Sequenzen gelangt, die es verstärkt exprimieren. Die Amplifikation von Proto-Onkogenen kann aber auch durch somatische Hypermutation erfolgen. 4 Inaktivierung von Tumorsuppressorgenen: Durch Deletionen werden häufig die Suppressorgene p53 und p16 ausgeschaltet. Deletionen an weiteren Suppressorgenen sind wahrscheinlich. 4 Infektion mit onkogenen Viren: Epstein-Barr-Virus (EBV), Human-Herpes-Virus Typ 8 (HHV-8) und Human-T-ZellLeukämie-Virus-1 (HTLV-1).
Chemotherapeutische Optionen Einzelwirkstoffe:
Chlorambucil Cyclophosphamid Fludarabin, Pentostatin Cladribin.
Wirkstoffkombinationen: 4 CVP: Cyclophosphamid + Vincristin + Prednison 4 COPP: Cyclophosphamid + Vincristin +
Procarbazin + Prednison Cyclophosphamid + Doxorubicin + Vincristin + Prednison 4 FND: Fludarabin + Mitoxantron + Dexamethason 4 CF: Cyclophophamid + Fludarabin 4 F-CNOP: Fludarabin + Cyclophosphamid + Mitoxantron + Vincristin + Prednison. 4 CHOP:
671 7.5 · Lymphoide Neoplasien
. Tabelle 7.15. Ann-Arbor-Staging für Non-Hodgkin- und HodgkinLymphome
Mantelzell-Lymphome Kleinzelliges Lymphom mit eingedellten Zellkernen, das IgM, IgD, CD5, CD19 und CD20 exprimiert. Der Anteil an den NHL beträgt 6%. Es präsentiert sich meistens disseminiert (Stadium IV) und hat eine ungünstige Prognose.
Stadium
Symptome
I
Beteiligung begrenzt auf eine Lymphknotenregion oder auf ein einzelnes extralymphatisches Organ.
II
Beteiligung von 2 oder mehr Lymphknotenregionen auf derselben Seite des Zwerchfells oder eines extralymphatischen Organs und eines oder mehrerer Lymphknoten auf derselben Seite des Zwerchfells.
Zytogenetische Anomalien: In fast allen Fällen Translokation
Beteiligung von Lymphknotenregionen auf beiden Seiten des Zwerchfells (III), zusätzliche Beteiligung der Milz (IIIS) oder lokalisierte Beteiligung eines extralymphatischen Organs (IIIE).
Klinik. Lymphknotenschwellungen verbunden mit Allgemein-
IV
Diffuse Beteiligung eines oder mehrerer extralymphytischer Organe oder Gewebe mit oder ohne Lymphknotenbeteiligung.
Symptomstatus A
keine Symptome
Symptomstatus B
unklares Fieber >38 °C nächtliche Schweißausbrüche Gewichtsverlust in den zurückliegenden 6 Monaten über 10% starker Juckreiz
Therapie. Eingesetzt werden CVP, CHOP und als einzelnes Mittel Fludarabin. Nach Konditionierung mit Hyper-CVAD (Cyclophosphamid, Vincristin, Doxorubicin [ein Anthrazyklin], Dexamethason, Methotrexat und Cytarabin) wurden allogene Stammzellentransplantationen durchgeführt. Danach hatten 37% der Patienten eine komplette Remission. Während kurzer Nachbeobachtung überlebten 72%. Transplantationen ohne myeloablative Vorbereitung werden erprobt.
III
B-Zell-Lymphome Extranodales Marginalzonen-B-Zell-Lymphom (MALT) Kleinzelliges Lymphom mit einem Anteil von 8% an den NHL. Lokalisationen sind hauptsächlich im Mukosa-assoziierten lymphatischen Gewebe (MALT): Magen, Dünndarm, Lunge, Orbita, Schilddrüse, Speicheldrüsen, Haut, Weichteile, Harnblase, Nieren und ZNS. Hauptlokalisation ist der Magen, dort assoziiert mit einer Helicobacter-pylori-Infektion. Zytogenetische Anomalien: Translokation t(11;18)(q21;q21),
Instabilität an den Chromosomen 3, 7, 12 und 18. Klinik. Lokalisiert bleiben 40% der Organlymphome, in 30% der
Fälle mit regionalem Lymphknotenbefall. Doch kommt der Übergang in ein diffuses großzelliges B-Zell-Lymphom vor (besonders bei Patienten mit Autoimmunkrankheiten und Helicobacter-Gastritis. Therapie. Bestrahlung oder Exstirpation kann Heilung bringen. Beim MALT-Lymphom des Magens führt die Helicobacter-Eradikation zur Remission. Wegen residualer Lymphomreste ist anschließend noch eine Chemotherapie indiziert. Diese wird generell mit Chlorambucil durchgeführt. Beim Marginalzonenlymphom liegt die 5-Jahresüberlebensquote zwischen 75 und 90%.
t(11;14), was eine Überproduktion von Cyclin D1 zur Folge hat. H- und L-Kettengene sind rearrangiert, aber nicht mutiert.
symptomen. Befall des Knochenmarks bei 60% und des Gastrointestinaltrakts bei 20% der Patienten.
Follikuläres Lymphom Reife neoplastische B-Zellen mit einem Anteil von 22% an den NHL, die aus Zentroblasten und Zentrozyten der Keimzentren der Follikel hervorgehen. Morphologisch ein Gemisch aus Zentroblasten- und Zentrozytenformen. Der Anteil der größeren zentroblastischen Zellen bestimmt den Schweregrad (I–III). Die Grade I und II verlaufen indolent, der Grad III ist aggressiver. Die Tumorzellen exprimieren CD10, CD19, CD22, CD29, (kein CD5), dazu oberflächliches monoklonales Immunglobulin, hauptsächlich IgM. Zytogenetische Anomalien: 90% der Lymphome sind BCL2-positiv und haben die Translokation t(14:18). H- und L-Kettengene sind rearrangiert und mutiert, womit die Herkunft aus den Keimzentren bewiesen ist. Klinik. Die meisten Patienten präsentieren sich mit lokalen oder generalisierten Lymphknotenschwellungen und Knochenmarkbefall. Die Milz ist häufig vergrößert. Nicht selten ist der Übergang in ein diffuses großzelliges B-Zell-Lymphom (7% der Patienten pro Jahr). Therapie. Follikuläre Lymphome sprechen gut auf Strahlen- und Chemotherapie an. Bei 25% der Patienten kommt es zu spontanen Remissionen. Wenn keine Symptome bestehen, kann unter Beobachtung ohne Therapie abgewartet werden. Im Stadium I werden 50%, im Stadium II 25% durch lokale Bestrahlung geheilt. Die Chemotherapie mit Chlorambucil, CVP oder CHOP führt in 50–75% der Fälle zur kompletten Remission. Die meisten werden aber nach 2 Jahren rückfällig. Neue Strategien sind zyto-
7
672
Kapitel 7 · Krankheiten des Blutes und der blutbildende Organe
dem Regime erzielt: kontinuierliche Infusion von Etoposid, Vincristin und Doxorubicin, dazwischen Stöße mit Cyclophosphamid und Prednison. Bei Rezidiven kommt als letzter Ausweg eine Hochdosis-Chemotherapie mit anschließender Stammzellentransplantation in Betracht. Burkitt-Lymphom
7
. Abb. 7.49. Lymphknotenpunktat bei diffusem großzelligem B-ZellLymphom mit polymorphen Tumorzellen vom Zentroblastentyp (aus Löffler et al. Atlas der klinischen Hämatologie. 6. Aufl., Springer, Berlin 2004)
toxische Substanzen wie Fludarabin und biologische Wirkstoffe, zu denen monoklonale Antikörper mit oder ohne Radionuklide gehören. Zentroblastenreiche Lymphome werden mit Kombinationen behandelt, die Antrazykline enthalten. Die mittlere Überlebensdauer beträgt bei 82% der Patienten >10 Jahre. Diffuses großzelliges B-Zell-Lymphom (DLBCL)
Es hat einen Anteil von 40% an allen NHL. Das mittlere Erkrankungsalter beträgt 64 Jahre, doch ist das Altersspektrum der Kranken relativ breit. Die großen Tumorzellen lassen sich im Lymphknotenpunktat nachweisen (. Abb. 7.49). Sie haben viel Zytoplasma und einen ovalen Kern mit multiplen Nukleolen. Sie stammen von reifen B-Lymphozyten ab, deren Typ wahrscheinlich nicht einheitlich ist. Exprimiert werden CD19, CD20, CD22 und CD45, mitunter auch CD5 und CD10, Immunglobulin nur unregelmäßig. Verstärkt exprimieren 25–80% der Patienten BCL2, einen Inhibitor der Apoptose. Manche dieser Lymphome enthalten reichlich T-Zellen. Zytogenetische Anomalien: Zahlreiche Chromosomen weisen Veränderungen auf, darunter 14q32, 18q21, 3q27 und 22q11. Klinik. Die Patienten erkranken mit rasch progredienten Lymphknotenschwellungen und häufig auch extranodaler Tumorausbreitung (Gastrointestinaltrakt, Haut, Knochen, ZNS, Schilddrüse, Hoden). In 28% der Fälle treten Allgemeinsymptome auf. Therapie. Im Stadium I/II mit 3–4 Zyklen CHOP plus Rituximab (humanisierter monoklonaler Antikörper gegen CD20) und anschließender Bestrahlung. Heilungsquoten 60–80%. CD20-negative Lymphome sprechen nicht auf Rituximab an. Im Stadium II– IV werden verschiedene Kombination eingesetzt, vor allem 7– 8 Zyklen CHOP plus Rituximab. Remissionsraten von 92% und Überlebensraten nach 62 Monaten von 70% wurden mit folgen-
Man unterscheidet 3 klinische Formen: 4 Endemischer Typ: Wird in Afrika bei Kindern zwischen 5 und 10 Jahren angetroffen und ist in 95% der Fälle mit dem Epstein-Barr-Virus assoziiert. Die Kinder haben massive Kieferwinkellymphome und intestinale Lymphadenopathie. 4 Sporadischer Typ: In den USA bei Erwachsenen selten (90%
kurativ. Die kombinierte Chemotherapie bei Patienten ohne BSymptome erzielt Heilungsquoten von >75%. Bei Patienten mit B-Symptomatik (siehe . Tab. 7.15) sind es 50–70%.
Staging
Nach der Klassifikation von Ann Arbor werden 4 Stadien unterschieden, die auch für Non-Hodgkin-Lymphome gelten (siehe . Tab. 7.15).
7.5.7 Plasmazelluläre Neoplasien
> Für den Patienten ist das Staging von größter Bedeutung, weil Therapie und Prognose des Morbus Hodgkin vom Krankheitsstadium abhängen, während die Therapie der Non-Hodgkin-Lymphome hauptsächlich vom histologischen Typ bestimmt wird.
monoklonale Immunglobuline bilden und häufig maligne entarten. Die Stammzelle des multiplen Myeloms ist sehr wahrscheinlich eine B-Memoryzelle oder ein Plasmoblast. Sie hat das Keimzentrum passiert und weist im VH-Gen multiple somatische Mutationen auf.
Therapie. Die Behandlung sollte stets kurativ ausgerichtet sein, da insgesamt etwa 75% der Patienten geheilt werden können. Mit der Sorge vor Nebenwirkungen ist eine suboptimale Therapie im Allgemeinen nicht zu rechtfertigen. Palliative Maßnahmen kommen erst nach dem Fehlschlagen wiederholter Behandlungsversuche in Betracht.
Klassifizierung. Multiples Myelom: Plasmazellenmalignom (vielfach noch als
Radiotherapie
Die hohe Strahlenempfindlichkeit des Hodgkin-Lymphoms ermöglicht seine Zerstörung durch gut tolerierte Dosen von Gammastrahlen. Bei lokalisierten, einseitigen Prozessen mit günstiger Histologie wird nach einer kurzer Chemotherapie die erweiterte Feldbestrahlung durchgeführt. Nach Thoraxbestrahlung kann sich eine Hypothyreose entwickeln. Außerdem besteht das Risiko einer Herzschädigung und der Entwicklung eines Mammakarzinom. Chemotherapie
Die Tendenz geht dahin, alle Stadien des Morbus Hodgkin initial chemotherapeutisch zu behandeln. Sie wird bei ausgedehnten Prozessen und B-Symptomen intensiv durchgeführt. Die chemotherapeutischen Strategien werden ständig weiterentwickelt. Mit der MOPP-Kombination (Mechlorethamin, Oncovin, Procarbazin, Prednison) wurden seit 1964 die ersten Heilungserfolge erzielt. Gegenwärtig werden in den USA am häufigsten folgende Kombinationen angewandt: 4 ABVD: Doxorubicin, Bleomycin, Vinblastin und Dacarbazin. 4 MOPP: Mechlorethamin, Vincristin, Procarbazin und Prednison. In Europa bevorzugt man die Kombination 4 BEACOPP: Bleomycin, Etoposid, Adriamycin, Cyclophosphamid, Vincristin, Procarbazin, Prednison, G-CSF. Während eines Behandlungszyklus von 14 Tagen werden die einzelnen Mittel unterschiedlich lange verabreicht. Das Intervall zwischen den Zyklen beträgt 21 Tage. Behandlungsdauer je nach Stadium 4–8 Monate.
Definition. Monoklonale Proliferation reifer Plasmazellen, die
Plasmozytom bezeichnet) mit diffuser Ausbreitung im Knochenmark, das Knochendestruktionen hervorruft und meistens ein monoklonales Immunglobulin bildet. Das multiple Myelom ist eine Erkrankung des höheren Lebensalters mit einer Inzidenz von 4:100.000 im Jahr. Das mittlere Erkrankungsalter beträgt 68 Jahre. Die monoklonale Gammopathie unklarer Signifikanz nimmt mit dem Alter deutlich zu und erreicht bei über 70-Jährigen eine Prävalenz von rund 5%. Plasmazellentumor: Maligner solitärer Tumor aus monoklonalen Plasmazellen der im Knochen (ossär oder medullär) oder außerhalb des Knochens lokalisiert sein kann. Monoklonale Immunglobuline sind bei diesen Varianten in weniger als 50% der Fälle nachzuweisen. Plasmazellenleukämie: Aussaat von Plasmazellen ins Blut (>2000/mm3) bei multiplem Myelom oder Plamazellentumor (prognostisch ungünstig). Monoklonale Gammopathie unklarer Signifikanz (MGUS):
Gutartige begrenzte Vermehrung monoklonaler Plasmazellen (im Knochenmark maximal 10%) ohne Skelettdestruktionen mit oft sehr geringer Konzentration monoklonaler Immunglobuline im Serum (rudimentäre Paraproteinämie). Maligne Transformation nach 20 Jahren in 20% der Fälle. Ätiologie und Pathogenese. Die Ursache der plasmazellulären Neoplasien ist nicht bekannt. Überlebende der Atombombenexplosionen in Japan erkrankten nach 20-jähriger Latenz gehäuft. Die maligne Transformation bewirkt, dass die Plasmazellen vermehrt produziert werden und eine verlängerte Lebensdauer haben. An den Myelomzellen sind diverse zytogenetische und DNA-Anomalien nachzuweisen: DNA-Aneuploidie (75%), Rearrangement der BCL-1- und BCL-2-Gene (15–20%), c-MYCÜberexpression (80%), Mutation oder Deletion des Tumorsuppressor-Gens p53, Translokation am Gen für die H-Kette, komplette oder partielle Deletion von Chromosom 13 (prognostisch ungünstig). Die Proliferation der Plasmazellen wird durch die Stromazellen des Knochenmarks gefördert. Sie sezernieren Inter-
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7
Kapitel 7 · Krankheiten des Blutes und der blutbildende Organe
leukin-6 für das die Plasmazellen einen Rezeptor exprimieren. Obwohl sie im lymphatischen Gewebe entstehen, siedeln sich die Myelomzellen ausschließlich im Knochenmark an. Das geschieht durch ihren Chemokinrezeptor CXCR4, der mit dem Liganden SDF1 (stroma derived factor 1) im Knochenmark reagiert. Die klinischen Manifestationen des multiplen Myelom basieren auf der Tumormasse sowie auf den pathogenetischen Effekten der Myelomzellen und der von ihnen sezernierten monoklonalen Immunglobuline. Skelettdestruktion: Osteolytische Myelomzellen zerstören das Knochengewebe indem sie die Osteoklasten aktivieren. Das geschieht durch Sekretion von RANKL, ein Faktor der den Rezeptor des Nuklearfaktors κB für seinen Liganden aktiviert. Zugleich hemmen sie die Osteoblasten durch Ausscheidung eines Inhibitor (DKK1) der Osteoblastendifferenzierung. Die erzeugten Osteolysen werden folglich nicht repariert. Bei intensiver Osteolyse kommt es zur Hyperkalzämie und Hyperkalziurie. Knochenmarkdysfunktion: Auf noch ungeklärte Weise wird die Erythropoese schon vor einer massiven plasmazellulären Infiltration des Knochenmarks supprimiert. Die Sekretion von Erythropoetin kann inadäquat sein, sinkt aber erst bei Niereninsuffizienz markant ab. Leukozyten und Thrombozyten sind selten vermindert, meistens erst im Spätstadium oder infolge einer zytostatischen Therapie. Infektanfälligkeit: Die normalen B-Zellen werden im Knochenmark teils verdrängt, teils supprimiert. Die Folge ist eine starke Herabsetzung der Antikörperbildung mit erniedrigten Konzentrationen der normalen Immunglobuline im Serum. Daraus resultiert eine oft bedrohlichen Abwehrschwäche, vor allem gegen pyogene Bakterien wie Pneumokokken, Hämophilus influenzae, Staphylococcus aureus und diverse gramnegative Erreger. Die T-Zellfunktion bleibt meistens normal, doch können die CD4+-Helferzellen vermindert sein. Effekte der monoklonalen Proteine (M-Komponenten oder Paraproteine): Die monoklonalen Proteine sind individualspezi-
fisch und besitzen von Fall zu Fall unterschiedliche Antigenbindungsstellen. Es kommt vor, dass monoklonale Immunglobuline zufällig gegen körpereigene Strukturen gerichtet sind. Zum Teil dürften darauf die renalen Komplikationen des multiplen Myeloms beruhen. Auch bei der hämatologisch noch benignen Gammopathie (MGUS) werden Läsionen durch monoklonales Immunglobulin (Paraprotein) beobachtet. Beispiele sind die primäre Amyloidose, das Skleromyxödem mit massiv verdickten Hautfalten und das Pyoderma gangränosum. Eine pathogenetische Bedeutung der MGUS ist nur anzunehmen, wenn sie mit einem Krankheitsbild regelmäßig assoziiert ist. Nierenerkrankung: Renale Manifestationen treten bei etwa 25% der Patienten auf. Hauptursache ist eine Tubulusschädigung durch die Rückresorption bestimmter L-Ketten (meistens vom Typ κ), die bei der Immunglobulinbildung im Überschuss produziert und glomerulär filtriert werden. Tubulusschäden entstehen auch durch obturierende Eiweißzylinder aus präzipitierten L-
Ketten. Ferner können sich L-Ketten an der glomerulären Basalmembran ablagern und zu einer Glomerulopathie mit unselektiver Proteinurie und progredienter Niereninsuffizienz führen. Als zusätzliche pathogenetische Faktoren kommen Hyperkalzämie und Hyperurikämie in Betracht, dazu Pyelonephritiden als Komplikation der Abwehrschwäche. Amyloidose: Manche monoklonalen L-Ketten, überwiegend vom κ-Typ, bilden Amyloidablagerungen, die durch eine Fibrillenstruktur und die Anfärbbarkeit mit Kongorot gekennzeichnet sind. Amyloidosen diesen Typs (AL) kommen nicht nur bei klinisch manifesten B-Zellneoplasien, sondern auch bei rudimentärer monoklonaler L-Kettenbildung vor und werden dann als primäre Amyloidosen bezeichnet. Betroffen ist in erster Linie die Niere mit Amyloidniederschlägen an der tubulären Basalmembran, den Blutgefäßen und im Interstitium, etwas seltener auch in den Glomeruli, wo sie zu einer starken, nichtselektiven Proteinurie und zum nephrotischen Syndrom führen. Weitere Amyloidablagerungen können in zahlreichen Organen und Geweben erfolgen (Haut, Herz, Leber, Milz, Gastrointestinal- und Respirationstrakt, Nebennieren, Karpaltunnel, Gelenke). Hyperviskositätsyndrom: Hohe Konzentrationen oder Aggregate monoklonaler Immunglobuline beeinträchtigen die Mikrozirkulation, wenn die Plasmaviskosität auf mehr als das Dreifache der Norm ansteigt. Das ist bei der Makroglobulinämie Waldenström häufig der Fall (7 Kap. 7.5.8), beim Plasmozytom nur selten. Man beobachtet es bei Immunglobulinen vom Typ IgG und IgA und freien λ-L-Ketten mit abnormer Aggregationsneigung. Durchblutungsstörungen treten hauptsächlich am Auge und ZNS, aber auch in der Peripherie auf. Kryoglobulinämie: Als Kryoglobuline werden Proteine oder Proteinkomplexe des Serums bezeichnet, die in der Kälte Präzipitate bilden und nach Erwärmung wieder in Lösung gehen. Man unterscheidet 3 Typen. Der erste besteht aus monoklonalen Immunglobulinen und ist bei 5–10% der Plasmozytompatienten anzutreffen. Der zweite, ein Mischtyp, stellt Komplexe aus monoklonalem Immunglobulin und polyklonalem IgG dar, gegen das die monoklonale Komponente Antikörperspezifität besitzt. Bei dem dritten handelt es sich um polyklonales IgM, das sich mit polyklonalem IgG verbunden hat. Jede Variante der Kryoglobulinämie kann zu Akrozyanose, Raynaud-Phänomen, Kälteurtikaria, trophischen Veränderungen und Nekrosen an den Extremitäten und zu Gefäßverschlüssen führen. Solitäres Knochenplasmozytom: Kommt in 3–5% der monoklonalen Plasmazellerkrankungen vor, gewöhnlich bei etwas jüngeren Patienten als das Myelom. Äußert sich in lokalen Schmerzen, die im Brustkorb mit Angina pectoris verwechselt werden können. Da keine M-Komponente gebildet wird, kann die Diagnose nur durch lokale Biopsie gestellt werden. Optimal ist eine lokale Strahlentherapie (4000–5000 cGy).
677 7.5 · Lymphoide Neoplasien
Klinik. Häufigste Beschwerden sind Knochenschmerzen und
Frakturen. Bei Kompression des Rückenmarks oder der Nervenwurzeln durch Plasmazelltumoren kommt es zu intensiven radikulären Schmerzen und Paresen. Ein Patient mit Ausstrahlung in den linken Brustkorb wurde zweimal koronarangiographiert ehe das umschriebene Plasmozytom auffiel. Etwa 50% der Patienten haben durch Anämie bedingte Beschwerden. Relativ selten sind schwere Infektionen, Neuropathien oder Störungen der Nierenfunktion das zum Arzt führende Symptom. Diagnostik. Laborbefunde Blutbild: Beim multiplen Myelom besteht gewöhnlich eine nor-
mochrome Anämie mit Hb-Werten zwischen 7 und 10 g/dl und niedriger oder inadäquat erhöhter Retikulozytenzahl. Leukozyten und Thrombozyten bleiben bis zur Chemotherapie in der Regel normal. Das Differenzialblutbild zeigt nicht selten eine Neutropenie mit relativer Lymphozytose, manchmal auch einige Plasmazellen. Plasmazellenleukämien kommen äußerst selten vor. Sie ähneln klinisch den anderen akuten Leukämieformen. Beckenkammpunktat: Beweisend für ein multiples Myelom ist
eine Plasmozytose von >30% (. Abb. 7.51). Oft haben die neoplastischen Plasmazellen unreife Zellkerne bei ausgereiftem basophilen Zytoplasma, auch Mehrkernigkeit ist häufig. Monoklonale Proteine: Neoplastische Plasmazellen sezernieren monoklonale Immunglobuline unterschiedlichen, aber jeweils einheitlichen Isotyps. Die Isotypen verteilen sich annähernd wie die normalen Immunglobulinklassen: IgG 57%, IgA 20%, IgD 1%, IgE 2,75 mmol/l erhöht. Bei weiteren 30% der Patienten wird diese Konzentration im Verlauf der Krankheit überschritten. M
Radiologische Befunde Röntgen: Aufnahmen des Schädels, der Wirbelsäule und der lan-
7
gen Röhrenknochen mit konventioneller Röntgentechnik zeigen oft typische ausgestanzte osteolytische Herde. Lokaler Druckoder Klopfschmerz kann auf die Läsionen aufmerksam machen. Die Wirbelsäule erscheint nicht selten osteoporotisch. MRT: Wirbelfrakturen und radikuläre Kompressionen werden am besten mit der Magnetresonanztomograhpie dargestellt. Die MRT kann auch bei normalem Röntgenbefund eine myelomatöse Knochenmarkinfiltration aufdecken, weil diese mit abnorm hoher Gefäßdichte einhergeht. Die Knochenszintigraphie mit 99mTechnetium ist für die Myelomdiagnose ungeeignet, da sich das Isotop nur in Regionen reaktiver Knochenneubildung ansammelt, die beim Myelom weitgehend fehlen. Die Diagnose des multiplen Myeloms ist nach Durie anhand der Kriterien in . Tab. 7.16 zu stellen. In der Praxis sind Knochenschmerzen, die monoklonale Komponente (TCM) in der Elektrophorese (. Abb. 7.53) und eine hohe Blutsenkung diagnostisch wegweisend und Anlass zur Komplettierung der Diagnostik. Stadieneinteilung nach Salmon und Durie: Der Schweregrad der Erkrankung ist für die Prognose maßgebend. Patienten im Stadium I überleben durchschnittlich 5 Jahre, im Stadium III nur 15–30 Monate (. Tab. 7.17). Da sich auch das Vollbild des multiplen Myelom mit einer Anlaufzeit von Monaten oder wenigen Jahren ausbildet, liegt es nahe, einen mehrstufigen Prozess der neoplastischen Transformation anzunehmen, der lange auf einer Stufe stehen bleiben kann. . Tabelle 7.16. Diagnostische Kriterien des multiplen Myeloms nach Durie Majorkriterien
Minorkriterien
I
Plasmazellentumor
II
Knochenmarkplasmozytose >30%
III
monoklonales IgG >35 g/l oder monoklonales IgA >20 g/l oder Bence-Jones-Proteinurie >1 g/24 h
a
Knochenmarkplasmozytose 10–30%
b
monoklonales IgG 110 mmHg). 4 Aktive Blutung oder hämorrhagische Diathese, orale Antikoagulanzientherapie. 4 Hohes Alter (>75 Jahre). 4 Vorausgegangene zerebrovaskuläre Insulte. 7.6.14 Vaskuläre hämorrhagische Diathesen
Allergische Purpura Ursachen. Durch Immunmechanismen induzierte aseptische Vaskulitis der Arteriolen und Venolen mit Schwellung und Degeneration der Endothelzellen. Vorkommen. Häufigste Form ist die überwiegend bei Kindern auftretende Purpura Schönlein-Henoch, der in der Regel ein Infekt der oberen Luftwege vorausgeht. Sie beginnt mit Fieber, Kopfschmerz und Abgeschlagenheit und befällt Haut, Gastrointestinaltrakt, Gelenke und häufig auch die Nieren. Die kutanen Manifestationen sind Purpuraeffloreszenzen, Ekchymosen und ein urtikarieller makulopapulöser Ausschlag, vorwiegend am Gesäß und an den Streckseiten der Extremitäten. An den Gelenken kommt es zu Schmerzen und Schwellungen, im Magen-DarmBereich zu Koliken, selten zu Invaginationen, Diarrhöen oder Blutungen. Die Nierenbeteiligung äußert sich in einer Herdnephritis, die nur in wenigen Fällen in eine progrediente diffuse Glomerulonephritis übergeht. Im Bereich der Gefäßläsionen sind immunhistologisch IgA-Niederschläge nachzuweisen. Mit welchem Antigen das IgA reagiert, ist ungeklärt. Im Blut können IgA und Eosinophile vermehrt sein. Meistens kommt es innerhalb weniger Wochen zur Spontanremission, nicht selten aber zu Rezidiven. Glukokortikoide lindern Gelenk- und Abdominalsymptome. Auf Haut- und Nierenläsionen haben sie wenig Einfluss. Fälle von allergischer Purpura wurden auch bei Allergie gegen Nahrungsmittel, Medikamente, Chemikalien und Insektengifte beschrieben. Exogene Kausalfaktoren sind aber nur selten zu eruieren.
Definition. Den vaskulären hämorrhagischen Diathesen wird
eine Blutungsneigung zugeordnet, wenn sie sich nicht auf qualitative oder quantitative Plättchendefekte, Gerinnungsstörungen oder einen Mangel an v.-Willebrand-Faktor zurückführen lässt. Ätiologie und Pathogenese. Als Ursachen kommen Anomalien
der Gefäße selbst oder der sie stützenden Strukturen in Betracht. Über die Pathogenese der meisten Formen ist nur wenig bekannt. Diagnostik. Da es keine zuverlässigen Tests für die vaskuläre
Funktion gibt, basiert die Diagnose auf den klinischen Fakten und auf dem Ausschluss anderer hämostatischer Defekte. Therapie. Die therapeutischen Möglichkeiten sind begrenzt. Sie beschränken sich auf die Ausschaltung erkennbarer Ursachen.
Atrophische Purpura Senile Purpura Neigung zu Hämatomem und Ekchymosen im Alter, bevorzugt an den Streckseiten der Unterarme und Hände. Hier ist die Vulnerabilität der kleinen Venen durch die Atrophie des subkutanen Gewebes gesteigert. Steroidpurpura Blutungsneigung an Unterarmen, Händen und Unterschenkeln durch Atrophie des perivaskulären Kollagens und der Epidermis. Kommt bei einer Langzeittherapie mit Glukokortikoiden undbeim Cushing-Syndrom vor.
Mechanische Purpura Ursachen. Auslösender Faktor ist ein erhöhter Gefäßinnendruck, der mit einer Wandschwäche kombiniert sein kann.
Skorbut Perifollikuläre Hämorrhagien und ödematöses, blutendes Zahnfleisch, bei Kindern subperiostale Hämatome. Die Ursache ist ein Vitamin-C-Mangel, der die Kollagensynthese in der Kapillarwand und im perivaskulären Gewebe beeinträchtigt.
Vorkommen. An Hals und Nacken nach starkem Husten oder Erbrechen, als orthostatische Purpura bei venöser Abflussbehinderung und bei der Purpura Majocchi, die mit einer pigmentierten Dermatose der Unterschenkel verbunden ist.
Purpura bei Infektionskrankheiten Eine vaskuläre Purpura kommt bei diversen Infektionen mit Bakterien, Viren, Rikettsien und Protozoen (Malaria, Toxoplasmose) vor und kann mit einer disseminierten intravaskulären Gerin-
7
710
Kapitel 7 · Krankheiten des Blutes und der blutbildende Organe
nung kombiniert sein. Die Gefäßschädigung entsteht durch die Organismen selbst, ihre Toxine oder durch Immunkomplexe. Hereditäre Purpuraformen Hereditäre hämorrhagische Teleangiektasie (Osler-Rendu-Weber-Syndrom) Definition. Dominant erbliche Erkrankung mit angiomatösen Teleangiektasien an Haut, Schleimhäuten und inneren Organen, die häufig zu Blutungen und sekundärer Anämie führen. Kapillaren und Venolen sind infolge abnorm dünner Wände an umschriebenen Stellen stark dilatiert und geschlängelt, neigen zur Ruptur und zur Bildung arteriovenöser Anastomosen.
7
Klinik. Die typischen Teleangiektasien bilden erhabene, rötliche Knötchen von Stecknadelkopfgröße bis zu 3 mm Durchmesser, die unter Glasspateldruck erblassen. Purpuraeffloreszenzen und Ekchymosen treten nicht auf. Die Teleangiektasien befinden sich hauptsächlich an den Handflächen, am Rumpf, an Lippen, Zahnfleisch, Gaumen und Nasenschleimhaut, aber auch im Gastrointestinal-, Respirations- und Urogenitaltrakt sowie in der Retina und im Gehirn. In der Lunge, im Gehirn und in der Retina können sich arteriovenöse Fisteln entwickeln. Die ersten Teleangiektasien entstehen im Kindesalter. Beim Erwachsenen werden sie zahlreicher und beginnen zu bluten. Häufigstes Symptom sind Nasenblutungen (80%), daneben kommen gastrointestinale Blutungen und Hämoptysen vor. Chronische Blutverluste lassen eine Eisenmangelanämie entstehen, falls das Eisen nicht substituiert wird. Therapie. Zur Blutstillung eignet sich die Elektrokoagulation. Eine kausale Therapie gibt es nicht.
Purpura bei hereditären Bindegewebeerkrankungen Zu nennen sind das Ehlers-Danlos-Syndrom (Typ IV), das Pseudoxanthoma elasticum, das Marfan-Syndrom und das FabrySyndrom. Die Blutungstendenz beruht bei diesen Krankheiten auf einem Mangel an Stützgewebe im Bereich der Gefäße oder auf einer defekten Interaktion des abnormen Gefäßkollagens mit den Plättchen. Verschiedene Formen Purpura simplex Harmlose, auf die Haut beschränkte Neigung zu Petechien und kleinen Ekchymosen, die meistens nur an den Beinen auftreten. Betroffen sind überwiegend weibliche Adoleszenten und junge Frauen. Die Blutungstendenz kann während der Menstruation exazerbieren. Vereinzelt wurde ein familiäres Vorkommen beobachtet. Purpura durch autoerythrozytäre und DNA-Sensibilisierung Schmerzhafte, mit einem Erythem verbundene Ekchymosen, denen lokaler Juckreiz oder ein Brennen vorausgeht. Betroffen sind fast ausschließlich Frauen mittleren Alters.
Patientinnen mit einer Sensibilisierung gegen die eigenen Erythrozyten haben in der Regel vor der Purpura ein größeres Trauma oder eine Operation durchgemacht, das zur Sensibilisierung geführt haben könnte. Die meisten von ihnen sind psychisch auffällig, neigen zu Hysterie, Depression und Angstzuständen, so dass man auch von einer psychogenen Purpura gesprochen hat. Das Vorhandensein einer Überempfindlichkeit gegen die eigenen Erythrozyten lässt sich aber mit positiven Kutantests beweisen. Purpura bei Fettembolie Das 24–72 Stunden nach großen Knochen- oder Fettgewebeverletzungen auftretende Fettemboliesyndrom geht mit Tachykardie, Dyspnoe, Hypoxie, zentralnervösen Symptomen und oft mit einer an Brustkorb und Armen lokalisierten Purpura einher. Wahrscheinlich kommt die Schädigung der Hautkapillaren überwiegend durch eine Verstopfung mit Fetttropfen zustande. Purpura bei Amyloidose Besonders bei dem durch monoklonale L-Ketten verursachten Typ AL. Man sieht kleine Hämatome im Bereich der Stirn und Wangen bei völlig normalem Gerinnungsstatus.
8 8
Krankheiten des Immunsystems
8.1
Immunität – 712
8.1.1 8.1.2
Angeborene Immunität – 712 Adaptive Immunität – 715
8.2
Allergie – 717
8.2.1 8.2.2 8.2.3
Allergische Grundphänomene – 718 Allergiediagnostik – 721 Allergische Krankheitszustände – 722
8.3
Transplantationsimmunologie – 729
8.3.1 8.3.2 8.3.3 8.3.4
Histokompatibilität – 729 Transplantatabstoßung – 730 Graft-versus-Host-Krankheit (GVHD) – 731 Immunsuppression – 731
8.4
Autoimmunkrankheiten – 732
8.4.1 8.4.2 8.4.3 8.4.4 8.4.5 8.4.6 8.4.7 8.4.8 8.4.9 8.4.10
Autoimmunität – 732 Systemischer Lupus erythematodes (SLE) Sklerodermie – 737 Sjögren-Syndrom – 740 Dermatomyositis – 742 Polyarteriitis nodosa (PAN) – 744 Churg-Strauss-Syndrom – 745 Wegener-Granulomatose – 745 Arteriitis temporalis – 747 Polymyalgia rheumatica – 748
– 734
8.5
Immunschwächekrankheiten – 749
8.5.1 8.5.2
Erbliche Immunschwächekrankheiten – 749 Stammzellentransplantation und Gentherapie bei erblichen Immundefekten – 755 Erworbenes Immunschwächesyndrom (AIDS) – 755
8.5.3
712
Kapitel 8 · Krankheiten des Immunsystems
8.1
Immunität Immunität
8
Angeborene Immunität Komponenten und Mechanismen 5 Epithelbarriere 5 Elimination eingedrungener Mikroben 5 Komplementsystem 5 Entzündungsreaktion 5 Abwehr von Virusinfektionen durch Interferon 5 Abwehr durch natürliche Antikörper 5 Infektabwehr durch natürliche Killerzellen Adaptive Immunität Komponenten 5 Antigenpräsentierende Zellen 5 dendritische Zellen 5 Makrophagen 5 B-Lymphozyten 5 Immunologische Effektorzellen 5 CD4+-T-Helferzellen 5 Zytotoxische CD8+-T-Zellen 5 Antikörper-bildenden B-Zellen Formen der Immunantwort 5 Zelluläre Immunantwort 5 Humorale Immunantwort Gedächtniszellen Immunologische Toleranz
8.1.1 Angeborene Immunität Definition. Die angeborene Immunität schützt den Körper durch
ein ständig einsatzbereites und sofort wirksames angeborenes Abwehrsystem (innate immunity) vor Krankheitserregern. Komponenten und Mechanismen Epithelbarriere Haut und Schleimhäute bilden mit ihrem dichten Epithel eine mechanische Schranke für Mikroorganismen. Sie produzieren außerdem Abwehrstoffe, die an ihrer Oberfläche wirksam werden: 4 Fettsäuren (Haut) 4 Lysozyme (Speichel, Schweiß, Tränen) 4 Pepsin (Darm) 4 antibakterielle Peptide (Defensine an der Haut und im Darmtrakt, Cryptidine im Dünndarm). Zusätzlichen Schutz gibt die normale Flora nichtpathogener Bakterien an den meisten epithelialen Oberflächen, indem sie pathogene Keime verdrängt, ihnen Nährstoffe entzieht und bakterizide Substanzen absondert.
Elimination eingedrungener Mikroben durch Phagozytose Mikroorganismen denen es gelungen ist, die Epithelbarriere zu überwinden, werden größtenteils durch Makrophagen und neutrophile Granulozyten abgefangen. Sie werden an bestimmten sich wiederholenden Oberflächenstrukturen, sog. PAMPS (pathogen-associate molecular patterns) erkannt, an passende Mannose- oder Scavengerrezeptoren der Leukozyten gebunden, phagozytiert und intrazellulär abgetötet. Die Makrophagen sind als Abwehrzellen bereits vor Ort und langlebig, Neutrophile wandern aus den Blutgefäßen ein gehen nach Zerstörung der Erreger schnell zugrunde (bei massiver Invasion unter Eiterbildung). Das Komplementsystem Als Komplement bezeichnete man ursprünglich einen hitzelabilen Serumfaktor, der sich bei der Abtötung einiger Bakterien durch Antikörper als unentbehrlich erwies. Im Laufe von Jahrzehnten wurde gezeigt, dass es sich beim Komplement um ein System aus zahlreichen Plasmaproteinen handelt, die ein wichtiges Instrument der spezifischen und unspezifischen Abwehr darstellen. Es sind die klassischen Komplementkomponenten C1–C9 und die Faktoren B, D und MBL. Die Aktivierung wird durch die Bindung eines Komplementfaktors an die Oberfläche von Bakterien eingeleitet. Dieser Faktor nimmt enzymatische Aktivität an und setzt eine proteolytische Kaskade in Gang, bei der aus jeder Komponente 2 Spaltprodukte entstehen. Das größere (b-Fragment) setzt als Protease den Spaltungsprozess fort, das kleinere (a-Fragment) entfernt sich und wirkt bei der Infektabwehr mit (7 unten). Endprodukt der Komplementaktivierung ist ein membranangreifender Proteinkomplex, der Bakterien durch Perforation ihrer Membran abtötet. Die Aktivierung des Komplementsystems kann auf 3 unterschiedlichen Wegen erfolgen, die aber in eine gemeinsame Endstrecke einmünden (. Abb. 8.1): 4 Klassischer Weg: Die Komplementbindung wird entweder durch ein Antikörpermolekül vermittelt, das am Bakterium haftet und nimmt in diesem Fall an einer adaptiven Immunreaktion (7 unten) teil. Oder sie findet direkt an der pathogenen Oberfläche statt und induziert eine angeborene Immunreaktion. Der zuerst gebundene Komplementfaktor C1 besteht aus 3 Komponenten: C1q, C1r, C1s (. Abb. 8.2). Die Komponente C1q hat 6 kugelförmige, als Bindungsstellen dienende Köpfe und einen kollagenartigen Stiel. Im Bereich der Gabelung liegen die Proenzyme C1r und C1s. Bei der Bindung von C1q an die Bakterienoberfläche wird C1r autokatalytisch aktiviert und aktiviert seinerseits C1s, das C4 in C4a und C4b und C2 in C2a und C2b spaltet. C4b und C2b vereinen sich an der Oberfläche des Pathogens zur C3-Konvertase, die größere Mengen von C3 in C3a und C3b spaltet. Vom entstehenden C3b wird der Hauptteil an die Bakterienoberfläche gebunden, wo er als Opsonin wirkt, d.h. die Phagozytose und Zerstörung des Bakterium, durch Makropha-
8
713 8.1 · Immunität
. Abb. 8.1. Aktivierungswege und Effekte des Komplementsystems (Erläuterungen im Text)
Klassischer Weg
B-Lectin-Weg
Alternativer Weg
Antigen-AntikörperKomplex an der Bakterienmembran
MB-Lectine binden Mannosemoleküle an der Bakterienmembran
Bakterienmembran
C1q, C1r C1s C4 C2
MBL, MASP-1, MASP-2 C4 C2
C3 B C
C3-Konvertase
C3a, C4a, C5a
C3b
Komplementkomponenten C5a, C6, C7, C8, C9
Mediatoren der Entzündung, Rekrutierung der Makrophagen
Bindung an Komplementrezeptoren der Makrophagen
Membranangreifender Komplex
Opsonisierung von Bakterien und Zellen Entfernung von Immunkomplexen
C1q
C1r
C1s
. Abb. 8.2. Der C1-Komplex des Komplements (C1q, C1r, C1s = Komplementfaktoren)
gen vermittelt. Der übrige Teil leitet durch Spaltung von C5 in C5a und C5b zur Bildung des membranangreifenden Komplexes über. 4 MBL-Weg: Das Mannan-bindende-Lectin (MBL) ist ein Plasmaprotein, das sich an Mannosereste auf der Mikrobenoberfläche heftet und in analoger Weise wie C1q das Komplementsystem aktiviert. MBL ist mit 2 zunächst inaktiven Serinproteasen (MASP1, MASP2) assoziiert, die nach der Bindung des MBL an den Erreger aktiviert werden und mit der Spaltung der Komponenten C4 und C2 die C3-Konvertase C4bC2b entstehen lassen. 4 Alternativer Weg: Er wird durch C3(H2O), ein partiell hydrolysiertes C3, eingeleitet, das im zirkulierenden Blut in schwacher Konzentration spontan entsteht und sich mit dem Plasmafaktor B verbindet. Der Faktor B wird dann vom Faktor D, einer Protease, in Ba und Bb gespalten. Das Fragment Bb bleibt an C3(H2O) gebunden. Dieser BbC3(H2O)-Komplex ist eine lösliche C3-Konvertase und spaltet C3 in C3a und C3b. Freies C3b wird schnell eliminiert. Etwas gelangt jedoch an Zelloberflächen und vereint sich dort mit Faktor B, der
714
Kapitel 8 · Krankheiten des Immunsystems
wiederum durch die Protease D in Bb und Ba gespalten wird. Es entsteht ein Komplex aus C3b und Bb, der durch den Faktor P stabilisiert wird und die definitive C3-Konvertase des alternativen Wegs darstellt. Sofern sich der Komplex C3bBb an körpereigenen Zellen bildet, wird er durch diverse regulatorische Faktoren (CR1, DAF, MCP und H) schnell inaktiviert. Wirkstoffe des Komplementsystems: Die kleinen Fragmente C3a,
8
C4a und C5a binden an unterschiedliche Komplementrezeptoren von Makrophagen, dendritischen Zellen, Neutrophilen Mastzellen und B-Zellen. Sie stimulieren die Phagozytose, induzieren die Kontraktion glatter Muskelzellen, erhöhen die Gefäßpermeabilität und bewirken die Expression von Adhäsionsmolekülen am Endothel. Das große Fragment C3b vermittelt die Phagozytose durch Makrophagen und auf diesem Weg auch die Elimination von Immunkomplexen. Alle genannten Fragmente haben proinflammatorische Wirkung und vermitteln dadurch die wichtige entzündliche Abwehrfunktion des Komplementsystems. Die terminalen Komplementfaktoren C5b bis C9 lösen keine entzündliche Reaktion aus, sondern bilden den membranangreifenden Komplex, der gezielt Bakterien abtötet. Er entsteht, indem sich 5b mit C6, C7, C8 und 10–16 C9-Molekülen zu einem zylinderförmigen Komplex assoziieren, der die bakterielle Zellmembran aufreißt. Genetische Defekte von Komplementfaktoren: Patienten mit C3-Mangel leiden regelmäßig an pyogenen Infektionen durch Steptococcus pneumoniae und Neisseria meningitidis und häufig an Kollagenkrankheiten. Der Mangel an C1q disponiert zur viralen und bakteriellen Infektion und ist fast immer mit einem systemischen Lupus erythematodes assoziiert. Auch Patienten mit C4-Mangel neigen zum SLE. Das Auftreten von Autoimmunkrankheiten bei Mangel an Komplementfaktoren wird unterschiedlich gedeutet. Plausibel erscheint es als Folge ungenügender Elimination von zirkulierenden Autoimmunkomplexen.
Entzündungsreaktion durch Zytokine aus Makrophagen Manche Erreger stimulieren Makrophagen nicht nur zur Phagozytose, sondern auch zur Sekretion proinflammatorischer Zytokine. Ein wichtiges Beispiel sind gramnegative Bakterien mit Lipopolysacchariden (LPS) in der äußeren Membran. Sie werden im Plasma vom LPS-bindenden Protein (LBP) bedeckt und zum Makrophagenrezeptor CD14 transportiert. Sobald dieser den Erreger gebunden hat, assoziiert er sich mit dem transmembranen Rezeptor TLR-4 (Toll-like receptor 4), der die Sekretion von Tumornekrosefaktor-α (TNF-α) und weiteren Zytokinen induziert. Der zweite Rezeptor heißt Toll-like weil ein analoger Rezeptor schon bei der Fruchtfliege existiert. Das pleiotrope Interleukin TNF-α aktiviert das Gefäßendothel, steigert die Gefäßpermeabilität und damit den Eintritt von Plasmaproteinen (Komplementfaktoren, Immunglobulinen und Blutzellen: Neutrophile, Monozyten und Lymphozyten) am Entzündungsherd. Dadurch ent-
steht Fieber und bei systemischer Freisetzung ein septischer Schock. Weitere von aktivierten Makrophagen freigesetzte Zytokine tragen durch entzündungsfördernde Effekte zur unspezifischen Infektabwehr bei: 4 Interleukin-1 (IL-1): Pleiotrop. Aktiviert Gefäßendothel, bewirkt lokale Gewebedestruktion und steigert den Zugang für Effektorzellen. Induziert Fieber und die Produktion von IL-6. 4 Interleukin-6 (IL-6): Induziert Fieber und in der Leber die Produktion der Akute-Phase-Proteine (CRP, MB-Lectin, Surfactans A und D, Serumamyloidprotein, Fibrinogen). 4 Interleukin-8 (IL-8): Chemotaktischer Faktor, der Neutrophile, Basophile und T-Zellen an den Ort der Entzündung lenkt. 4 Interleukin-12 (IL-12): Aktiviert NK-Zellen und stimuliert die Differenzierung von CD4-T-Zellen. 4 Chemokine: Es handelt sich um diverse chemotaktische Faktoren, die hauptsächlich Monozyten und Neutrophile zum Entzündungsherd dirigieren. Abwehr von Virusinfektionen durch Interferon Viele Zelltypen produzieren nach einer Infektion mit doppelsträngigen RNA-Viren Interferon-α und Interferon-β. Beide Interferone werden sezerniert und binden an Interferonrezeptoren infizierter und nicht infizierter Zellen. Das Signal der Rezeptoren bewirkt über die Transkription verschiedener Gene, dass mehrere Proteine, mit inhibierender Wirkung auf die Virusvermehrung gebildet werden. Eines der Proteine, das Enzym Oligoadenylatsynthetase, zerstört die Virus-RNA. Die Interferone bahnen auch die Immunreaktion gegen die Viren an, indem sie die für die Antigenpräsentation benötigten MHC-I-Moleküle hochregulieren. Schließlich aktivieren die Interferone natürlich Killerzellen zur Abtötung der infizierten Zellen. Abwehr durch natürliche Antikörper In der Milz gebildete B-Lymphozyten mit dem Marker CD5, bilden ohne Mitwirkung von T-Lymphozyten Antikörper von restriktiver Spezifität, die hauptsächlich gegen die Polysaccharidkapsel gerichtet sind und stehen bei einer Infektion ohne Immunisierungsprozess zur Verfügung (7 Kap. 7.1). Etwa 10% der zirkulierenden T-Lymphozyten haben einen γ/δT-Zellrezeptor und exprimieren weder CD4 noch CD8 als Co-Faktoren. Sie reagieren deshalb nicht mit MHC-Molekülen antigenpräsentierender Zellen. Einige erkennen intakte Proteine, andere Lipide, Kohlenhydrate oder Nukleotidreste. Die Antikörperbildung erfolgt schneller als bei α/βT-Zellen. Die γ/δT-Zellen bilden verschiedene Zytokine und scheinen vor bestimmten Mikroben zu schützen. Infektabwehr durch natürliche Killerzellen Die Killerfunktion ist hauptsächlich gegen virusinfizierte Körperzellen gerichtet und wird von aktivierenden Rezeptoren ausgeübt. Inhibierende Rezeptoren, die an den Oberflächenmolekülen der MHC-Klasse I angreifen, unterdrücken den Killereffekt voll-
715 8.1 · Immunität
ständig. Sie verlieren ihre Schutzwirkung jedoch, wenn die Zellen infolge der Infektion nur noch wenige MHC-Moleküle der Klasse I exprimieren. 8.1.2 Adaptive Immunität Definition. Schutz gegen Krankheitserreger durch einen antigenspezifischen Zellklon, der sich nach dem ersten Antigenkontakt entwickelt und durch Gedächtniszellen langfristig wirksam bleibt. Teilweise aktiviert dieser Zellklon die auch bei der angeborenen Immunität wirksamen Abwehrmechanismen.
Komponenten Träger der adaptiven Immunität sind auf der einen Seite die antigenpräsentierenden Zellen, zu denen dendritische Zellen, Makrophagen und B-Lymphozyten gehören. Auf der anderen Seite sind es die immunologischen Effektorzellen, darunter die CD4+T-Helferzellen mit den Typen Th1- und Th2-Zellen, die zytotoxischen CD8+-T-Zellen und die Antikörper-bildenden B-Zellen (7 Kap. 7.1.). Formen der Immunantwort Man unterscheidet zwischen zellulärer und humoraler Immunantwort. Erstere wird von T-Zellen und Makrophagen ausgeführt, letztere von zirkulierenden Antikörpern, deren Quelle die B-Zellen sind. Beide Antworten sind in ihrem Aktivierungsmechanismus miteinander verknüpft und treten häufig gemeinsam auf. Aktivierung des adaptiven Immunsystems Antigenpräsentation Zuerst wird antigenes Material von antigenpräsentierenden Zellen aufgenommen und proteolytisch gespalten. Dabei anfallende Peptide werden dann im Verbund mit neu gebildeten MHCMolekülen der Klasse I oder II an die Zelloberfläche transportiert, um von spezifischen T-Zellen erkannt werden zu können. Die 3 Typen antigenpräsentierender Zellen haben ihre Besonderheiten: 4 Dendritische Zellen: Dieser durch lange Fortsätze gekennzeichnete Phagozytentyp ist der wichtigste Vertreter. Er entstammt der myeloischen Progenitorzelle des Knochenmarks und wandert auf dem Blutweg in die Gewebe aus. Nur im unreifen Zustand können die dendritischen Zellen phagozytieren. Sie sind hauptsächlich oberflächennah lokalisiert, unter dem Epithel der Haut (Langerhans-Zellen) und der Schleimhäute. Nach der Antigenaufnahme wandern sie in die regionalen Lymphknoten aus, wo sie sesshaft werden, ihre Fähigkeit zur Phagozytose verlieren und unter Prozessierung der aufgenommen Proteine zu antigenpräsentierenden Zellen ausreifen. Peptide aus phagozytierten Mikroorganismen und Proteinen exprimieren sie zusammen mit MHC-Molekülen der Klasse I und II. Mit MHC-I-Molekülen werden vor allem Peptide aus Virusproteinen exprimiert. Am Standort
im lymphatischen Gewebe kommen die dendritischen Zellen mit den rezirkulierenden T-Zellen in engen Kontakt. 4 Makrophagen: Als Phagozyten von Fremdmaterial dienen sie sowohl der angeborenen als auch der erworbenen Immunität. Antigene Peptide aus phagozytierten Proteinen koppeln und präsentieren die Makrophagen hauptsächlich mit MHC-II-Molekülen. Sie müssen dazu aber durch das phagozytierte Material in einen höheren Aktivitätszustand versetzt werden. 4 B-Lymphozyten: Mit ihrem spezifischen Immunglobulinrezeptor binden sie das dazu passende Antigen. Zur Bildung eines Antikörper-produzierenden Zellklons müssen die BLymphozyten aber noch von spezifischen T-Helferzellen aktiviert werden. Das geschieht folgendermaßen: Der AntigenAntikörper-Komplex an der äußeren Membran wird ins Zellinnere aufgenommen (internalisiert) und der Proteolyse unterworfen. Peptide aus dem Antigen werden dann mit MHC-Molekülen der Klasse II assoziiert und an der Zelloberfläche verankert, wo sie von antigenspezifischen T-Helferzellen erkannt werden können. Es handelt sich um eine sehr selektive Antigenpräsentation. Aktivierung der T-Zellen Dazu bedarf es außer der Bindung des T-Zellrezeptors an den präsentierten Komplex aus antigenem Peptid und MHC-Molekül einer Co-Stimulation, die im Kontakt weiterer Oberflächenmoleküle besteht. Bei der Aktivierung der CD4+-T-Zellen muss das Antigen an MHC-Moleküle der Klasse II gebunden sein. Zur CoStimulation verbinden sich B7 der antigenpräsentierenden Zelle und CD28 der T-Zelle. Eine zusätzliche Co-Stimulation erfolgt zwischen dem CD40-Liganden auf der T-Zelle mit dem Oberflächenmolekül CD40 auf der antigenpräsentierenden Zelle. Die CD8+-T-Zellen werden nur von antigenen Peptiden aktiviert, die ihnen mit MHC-Molekülen der Klasse I präsentiert werden. Dazu und zur notwendigen Co-Stimulation sind nur dendritische Zellen befähigt. In manchen Fällen müssen die dendritischen Zellen simultan mit naiven CD4+Zellen reagieren, um eine ausreichende Co-Stimulation der CD8+-T-Zellen zu erreichen. Mit der Aktivierung gehen die naiven T-Zellen in armierte T-Zellen und zur klonalen Expansion über. Sie produzieren dazu den Wachstumsfaktor Interleukin 2 (IL-2) und exprimieren für diesen einen Rezeptor, so dass eine autokrin stimulierte Proliferation ablaufen kann. Aus den aktivierten CD4+-T-Zellen gehen 2 Typen von THelferzellen hervor: Th1- und Th2-Zellen. Welche Faktoren die Differenzierung bestimmen, ist nicht genau bekannt. Die Art des Antigens dürfte eine Rolle spielen. Th1-Zellen stimulieren eine zelluläre, Th2-Zellen die humorale Immunantwort. Zelluläre Immunantwort Aktivierte Makrophagen Zunächst binden armierte Th1-Zellen an die antigenen Peptide, die zusammen mit MHC-Molekülen der Klasse II von Makro-
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716
8
Kapitel 8 · Krankheiten des Immunsystems
phagen präsentiert werden. Die Th1-Zellen werden dadurch zur Sekretion von Interferon γ stimuliert, das die Makrophagen stark aktiviert. Die Makrophagen antworten mit der Sekretion von Interleukin 1 (IL-1) und wirken mit diesem Zytokin stimulierend auf die Th1-Zellen zurück. So kommt es zur Proliferation hochaktiver Makrophagen, die phagozytierte Erreger besser zerstören und einen Infektionsherd leichter bereinigen können. Wenn es ihnen nicht vollständig gelingt, proliferieren die Makrophagen weiter und bilden Granulome, was besonders deutlich bei der Tuberkulose zu beobachten ist, wo die Makrophagen die Form von Epitheloidzellen annehmen und teilweise nekrotisieren. Die Immunantwort durch Makrophagen wird auch als zelluläre Reaktion vom verzögerten Typ bezeichnet, weil sie einige Tage in Anspruch nimmt. Die durch Makrophagen vermittelte zelluläre Immunreaktion kann durch regulatorische CD4+-T-Zellen gedämpft werden. Dieser spezialisierte Zelltyp exprimiert als Besonderheit den Transkriptionsfaktor FOXP3. Er wird durch Antigene aktiviert. Ob seine Suppressorfunktion antigenspezifisch ist, erscheint fraglich. Die Suppressionswirkung kommt wenigstens teilweise durch Zellkontakt zustande, ergänzt durch die Sekretion von IL10 und TGF-β, die hemmend auf die Aktivität von Th1-Zellen einwirken. Im Experiment an Mäusen kam es bei Mutationen des FOXP3-Gens zum polyendokrinen Syndrom. Zytotoxische CD8+-T-Zellen Diese Effektorzellen töten keine Krankheitserreger, sondern prinzipiell nur Zellen, d.h.: 4 mit Viren und anderen Erregern infizierte Zellen 4 allogene Zellen (Transplantatabstoßung) 4 antigen gewordene autologe Zellen, zu denen auch Tumorzellen gehören können. Der Marker CD8 beschränkt ihre Reaktionsfähigkeit auf Peptide, die mit MHC-Molekülen der Klasse I präsentiert werden. Bis auf die Erythrozyten exprimieren alle Körperzellen an ihrer Oberfläche MHC-I-Moleküle, assoziiert mit Peptiden, die beim Eiweißabbau in den Zellen anfallen. Sie stellen Autoantigene dar, doch werden autoreaktive Zellen bei der Entwicklung der T-Lymphozyten im Thymus und später in der Peripherie weitgehend ausgeschaltet (7 Kap. 7.1). Zellen mit fremden antigenen Peptiden und MHC-I-Molekülen an ihrer Oberfläche werden nur von armierten CD8+-T-Zellen angegriffen. Diese haben zuvor mit dem gleichen Peptid an dendritischen Zellen reagiert und eine Co-Stimulation erhalten(7 oben). Nach Kontaktaufnahme entleeren die CD8+-T-Zellen an der Oberfläche der Zielzellen ihre Granula, die zytotoxische Substanzen enthalten. Eine davon, das Perforin, erzeugt eine Pore, durch die 3 verschiedene Proteasen, die sog. Granzyme, ins Zellinnere eindringen und den Zelltod herbeiführen. Die Abtötung antigener Zellen kann auch über den FAS-Liganden erfolgen, den aktivierte CD8+-T-Zellen exprimieren. Er verbindet sich mit dem Fas-Rezeptor der Zielzellen und induziert durch Fragmentierung
der DNA einen programmierten Zelltod (Apoptose). Von einer getöteten Zelle lösen sich die CD8+-T-Zellen ab und greifen weitere Zellen an. Ihren Eigenschaften entsprechend, werden sie als zytotoxische T-Zellen bezeichnet und ihre Reaktionen als zellvermittelte Zytotoxizität. Humorale Immunantwort Der zweite Weg, auf dem adaptive Immunität erzeugt wird, ist die Bildung humoraler Antikörper, die im Blut und durch die Gewebe zirkulieren und auch in die Sekrete gelangen. Im Rahmen der adaptiven Immunität sind es antigenspezifische Antikörper. Die weniger spezifischen dienen der angeborenen Immunität (7 Kap. 8.1.1). Aktivierung der B-Lymphozyten Im 7 Kapitel 7.1 wurde die Entwicklung der B-Zellen, die Struktur der Antikörper und der Übergang der B-Zellen in die Antikörper-sezernierenden Plasmazellen beschrieben. Es sei wiederholt, dass im Genom jeder B-Zelle die Spezifität des von ihr gebildeten Antikörpers festgelegt ist. Daher entspricht der riesigen Vielfalt spezifischer Antikörper die gleiche Vielfalt von B-Lymphozyten. Der erste Antigenkontakt reifer, aber noch naiver B-Zellen findet im lymphatischen Gewebe statt. Wenn sie den Antigen-Antikörper-Komplex internalisiert haben, werden sie zu Lymphoblasten. Zur klonalen Expansion und zur Differenzierung in Plasmazellen bedürfen die Blasten noch der Aktivierung durch T-Helferzellen. Zuständig sind die Th2-Helferzellen, denen die B-Zellen Peptide aus dem Antigen mit MHC-Molekülen der Klasse II präsentieren. Durch den Antigenkontakt werden die Th2-Zellen aktiviert und sezernieren die Zytokine IL-4, IL-5, IL-10 und TGF-β (transforming growth factor β). Das sind die Effektormoleküle, die den Lymphoblasten den nötigen Reifungs- und Differenzierungsschub geben. IL-4 stimuliert die Sekretion von IgE und IgG, IL-5 die Sekretion von IgA und die Produktion von Eosinophilen. IL4, IL-10 und TGF-b üben einen antagonistischen Effekt auf IL-2 und INF-γ aus und supprimieren die Aktivierung von Makrophagen durch Th1-Zellen. Funktionen der Antikörper Als Komponenten der adaptiven Immunität fallen den spezifischen Antikörpern hauptsächlich folgende Aufgaben zu: 4 Lokale Protektion gegen Mikroorganismen: IgA in den Sekreten bindet Mikroorganismen und verhindert oder erschwert deren Eindringen in den Organismus. 4 Opsonisierung extrazellulärer Bakterien: Antikörperbindung an die Bakterienmembran → Komplementaktivierung und Fixierung von Komplementproteinen am Antikörpermolekül → Phagozytose und Abtötung der so präparierten Bakterien durch Neutrophile und Makrophagen, die sich mit Fc- oder CR3-Rezeptoren an die Bakterienmembran heften. 4 Antikörpervermittelte komplementabhängige Zytotoxizität: Bindung spezifischer Antikörper an Viren, Mikroorganismen oder Fremdzellen → komplette Komplementaktivie-
717 8.2 · Allergie
rung mit Ausbildung des zytolytischen Komplexes C5b-9 (englisch membrane attack complex) → Zytolyse. 4 Antikörperabhängige zelluläre Zytotoxizität: Antikörperbindung an Parasiten (vorzugsweise IgE), Fremdzellen oder Tumorzellen → Anheftung von Monozyten, Makrophagen, NK-Zellen oder eosinophiler Leukozyten (bei Parasiten) an die Fc-Region der Antikörper mittels Fc-Rezeptoren → Abtötung der Zielzellen nach Perforation ihrer Zellmembran. 4 Neutralisierung zirkulierender Toxine: Schutz gegen giftige Bakterienprodukte (z.B. Botulinusantitoxin). Passive Immunisierung. Gedächtniszellen (memory cells) Zu den fundamentalen Eigenschaften des adaptiven Immunsystems gehört es, dass bei der primären Immunantwort Klone von T- und B-Zellen gebildet werden, die langlebig sind und im Fall eines erneuten Kontaktes mit dem gleichen Krankheitserreger eine schnellere und intensivere Abwehrreaktion bewirken. Diese sog. Gedächtniszellen gewährleisten dauerhaft verbesserten Schutz oder vollständige Immunität. Bei jeder Vakzination werden sie gebildet. Gedächtnis-T-Zellen Bei der primären Immunantwort kommt es zur Expansion spezifischer Effektor-T-Zellen, die das Pathogen zerstören. Die meisten dieser Zellen sind relativ kurzlebig und verschwinden, wenn die Abwehrreaktion beendet ist. Es bleibt aber ein Klon spezifischer Gedächtniszellen zurück, die schon bei der primären Armierung der T-Zellen abgezweigt werden und etwas veränderte Oberflächenmoleküle aufweisen. Es sind kleine ruhende Zellen, die ihren Standort im lymphatischen Gewebe haben. Es ist möglich, dass sie dort durch residuale kleinste Antigenmengen immer wieder stimuliert werden. Gegenüber den primär vorhandenen naiven T-Zellen gleicher Spezifität sind sie erheblich zahlreicher. Beim sekundären Antigenkontakt treten sie in Aktion. Gedächtnis-B-Zellen Bei der primären Immunantwort auf den ersten Antigenkontakt werden zunächst nur Antikörper vom Typ IgM sezerniert, später auch solche vom Typ IgG. Der zweiten Exposition mit dem gleichen Antigen folgt in kürzerem Zeitabstand eine viel intensivere sekundäre Immunantwort, weil das Antigen jetzt auf eine große Zahl antigenspezifischer Gedächtniszellen trifft. Die von diesen gebildeten Plasmazellen sezernieren kein IgM, sondern hauptsächlich IgG, daneben auch IgA und IgE. Gedächtnis-B-Zellen zirkulieren weiter durch die lymphatischen Gewebe, sind langlebig und produzieren spezifische Antikörper von hoher Antigenaffinität. Diese Antikörper fangen viele Erreger, insbesondere Viren, schon an den Eintrittspforten des Körpers ab und erzeugen Immunität. Immunologische Toleranz Unter immunologischer Toleranz versteht man die Eigenschaft des Immunsystems, körpereigene Strukturen weder mit Antikör-
pern noch mit reaktiven Immunzellen anzugreifen. Wenn es im Krankheitsfall doch geschieht, spricht man von Autoimmunität oder Autoaggression. Da alle Immunreaktionen von T-Zellen ausgehen, kommt es darauf an, autoreaktive T-Zellen nicht entstehen zu lassen bzw. sie unwirksam zu machen. Im 7 Kap. 7.1 wurde im Abschnitt über die Entwicklung der T-Lymphozyten dargelegt, dass T-Zellen mit starker Bindungskraft (Avidität) für körpereigene Antigene (Selbstantigene) pränatal im Thymus eliminiert werden. Dieser Vorgang trägt am meisten zur immunologischen Toleranz bei. Aus dem Thymus gelangen jedoch T-Zellen in Umlauf, die eine mittlere oder schwache Avidität zu Selbstantigenen besitzen. Da es erfahrungsgemäß nur selten zu Autoimmunkrankheiten kommt, muss es in der Peripherie Mechanismen geben, durch die sie inaktiviert oder eliminiert werden. Autoreaktive T-Zellen mit schwacher Antigenavidität können dadurch inaktiviert oder tolerant werden, dass bei ihrer Antigenbindung an dendritische Zellen die zur Aktivierung notwendige Co-Stimulation ausbleibt. Gefährlicher erscheinen autoreaktive zytotoxische CD8+-TZellen mit einer mittelgradigen Avidität für Selbstantigene, die ja alle Körperzellen exprimieren. Sie werden jedoch von neuerdings nachgewiesenen CD8+-Suppressor-T-Zellen ausgeschaltet. Dieser Zelltyp erkennt autoreaktive CD8+-T-Zellen mittlerer Antigenavidität an HLA-E-Molekülen, die diese an ihrer Oberfläche exprimieren, und zerstört sie. Die HLA-E-Moleküle gehören zur MHC-Klasse I. Sie erscheinen auch an der Oberfläche von aktivierten CD8+-Zellen mit mittlerer Avidität für Fremdantigene. Indem sie ebenfalls von den Suppressorzellen eliminiert werden, bleiben nur die CD8+-T-Zellen mit hoher Avidität gegen das Fremdantigen übrig, was die Abwehr begünstigt. Wahrscheinlich entstehen Autoimmunkrankheiten wie multiple Sklerose, Typ-1-Diabetes und rheumatoide Arthritis, wenn die Kontrolle durch CD8+-Suppressorzellen verloren gegangen ist. Methoden zur Aktivierung von diesen Zellen auf dem HLA-E-abhängigen Weg könnten zu neuen therapeutischen Möglichkeiten führen, ohne dass man das provozierende Antigen kennen müsste.
Allergie
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Allergie Allergische Grundphänomene 5 Sensibilisierung 5 Allergische Sofortreaktion (Anaphylaxie) 5 Allergische Spätreaktion 5 Chronische allergische Entzündung 5 Zytotoxische allergische Raktionen 5 Allergische Immunkomplexreaktionen 5 Zellvermittelte allergische Reaktionen
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Kapitel 8 · Krankheiten des Immunsystems
Allergiediagnostik Anamnese Klinische Manifestationen Hauttests zur Bestimmung der Allergenspezifität von IgE-Antikörpern in vitro 5 RAST (Radioallergosorbenttest) 5 EAST (Elisaallergosorbenttest) Provokationstests Laboruntersuchungen Allergische Krankheitszustände Allergische Rhinitis Allergisches Asthma Nahrungsmittelallergie Arzneimittelallergie Allergische Hautreaktionen 5 Urtikaria und Angioödem 5 Hypersensitivitätsvaskulitis 5 Atopische Dermatitis (Neurodermitis diffusa, endogenes Ekzem) 5 Allergische Kontaktdermatitis 5 Insektenstichallergie Anaphylaktischer Schock
8.2.1 Allergische Grundphänomene Definition. Unter Allergie versteht man eine abnorme immuno-
logische Reaktivität gegenüber harmlosen Substanzen, die bei den meisten Personen nicht zu symptomatischen Immunreaktionen führen. Ätiologie. Genetische Disposition: Die erbliche Veranlagung zur Allergie wird als Atopie bezeichnet. Evident ist sie nur bei den allergi-
schen Formen der Rhinitis und des Asthma bronchiale sowie bei einigen allergischen Hauterkrankungen (atopische Urtikaria und Dermatitis). > Kennzeichen der Atopie sind familiäres Vorkommen und pathogene Immunreaktionen durch Antikörper vom Typ IgE.
Genetische Determinanten werden auch bei Allergien gegen Nahrungsmittel, Arzneimittel und Insektengifte angenommen, obwohl diese Manifestationen der Allergie oft keine Erblichkeit erkennen lassen. Vielleicht spielen noch nicht erfasste Strukturvarianten des HLA-Systems eine disponierende Rolle. Allergene: Antigene die bei individueller Empfänglichkeit allergische Reaktionen hervorrufen, werden Allergene genannt. Chemisch handelt es sich meistens um einfache oder zusammengesetzte Proteine, seltener um Polysaccharide. Allergencharakter besitzen auch zahlreiche niedermolekulare Substanzen. Sie
heißen Haptene, weil sie kovalent an Proteinmoleküle gebunden werden müssen, um eine Immunantwort auslösen zu können. Allergene besitzen eine große Vielfalt. Nach dem Eintrittsmodus in den Körper lassen sich folgende Kategorien unterscheiden: 4 Inhalationsallergene: Hautschuppen und Haare von Tieren, Federn, Hausstaub, Milben, Schimmelpilze, Pollen von Blumen, Gräsern, Bäumen und Getreidearten, Mehle, enzymhaltige Waschmittel, Arzneimittelstäube, Aerosole mit allergenen Proteinen, Kolophonium, Isozyanate, Platinsalze etc. 4 Ingestionsallergene: Fleisch, Fisch, Krabben, Hummer, Milch, Molkereiprodukte, Eier, Mais, Tomaten, Früchte, Kakao, Pharmaka etc. 4 Kontaktallergene: Wolle, Seide, Kunststoffe, Latex, Leder, Pflanzen, Metalle, Chemikalien, Pharmaka etc. 4 Invasionsallergene: Insektengift, Impfstoffe, Pharmaka etc. Die Immunreaktionen mit IgE und Eosinophilen gegen Parasiten (Askariden, Trichinen) sind nicht an eine Atopie gebunden. Pathogenese der allergischen Reaktionen Sensibilisierung Jede allergische Reaktivität wird durch eine spezifische Immunisierung gegen das induzierende Allergen erworben. Dieser als Sensibilisierung bezeichnete Prozess findet beim ersten Zusammentreffen mit einem Antigen statt und verläuft klinisch symptomlos. Er führt dazu, dass spezifische Antikörper und/oder immunologische Gedächtniszellen bereitgestellt werden, die mit dem Antigen in Reaktion treten, wenn es erneut in den Körper gelangt oder nach Abschluss der Sensibilisierung noch vorhanden ist. Im Falle einer Allergie treten dabei Symptome auf, die vom Grad der Sensibilisierung sowie von der Art und der Lokalisation der Immunantwort abhängig sind. Die besondere Reaktionsweise vieler Allergiker äußert sich darin, dass sie gegen Allergene überwiegend Antikörper der Klasse IgE bilden, die sonst nur bei der Immunabwehr von Helminthen in Erscheinung treten. Dieser Antikörpertyp bewirkt einen sehr hohen Grad der Sensibilisierung, weil sich die IgE-Moleküle an den mediatorreichen Gewebemastzellen und Basophilen langfristig festsetzen und sie bei Allergenkontakt in die AllergenAntikörper-Reaktion einbeziehen (s. unten). Induziert wird die IgE-Synthese durch Interleukin 4, ein von aktivierten TH2-Helferzellen sezerniertes Zytokin. Normale Individuen scheinen auf Allergene überwiegend mit TH1-Zellen anzusprechen. Dieser Helferzelltyp bewirkt hauptsächlich die Bildung von Immunglobulinen der Klasse IgG, die nur selten allergische Symptome hervorrufen. Außerdem sezernieren TH1-Zellen Interferon-γ, das neben anderen Effekten die IgE-Synthese unterdrückt. Für die gesteigerte IgE-Produktion der Allergiker könnte von Bedeutung sein, dass TH2-Zellen neben IL-4 ein Zytokin (IL-10) mit supprimierender Wirkung auf die INFγ-Produktion der TH1-Zellen bilden. Ein weiteres Sekretionsprodukt der TH2-Zellen ist IL-5. Es führt durch Stimulation der eosinophilen Progenitorzellen zur Eosinophilie und aktiviert die ausgereiften Eosinophilen, die ebenso wie die Mastzellen zu Effektoren der allergischen Reaktion werden, da sie
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toxische und entzündungsfördernde Inhaltsstoffe ausschütten. Ohne IgE-Beteiligung verläuft die Sensibilisierung bei der allergischen Kontaktdermatitis, die generell von Haptenen induziert wird. Diese dringen als kleine Moleküle leicht in die Haut ein, verbinden sich mit einem Carrierprotein zum Vollantigen und werden dann von den subepithelial gelegenen dendritischen Langhans-Zellen aufgenommen und passenden T-Helferzellen präsentiert. Dabei handelt es sich um Th1-Zellen, die eine Immunantwort rein zellulären Typs induzieren. Allergische Sofortreaktion (Anaphylaxie) Sie kommt durch schnell wirkende Mediatoren zustande, die das Allergen aus IgE-sensibilisierten Gewebemastzellen und Basophilen freisetzt. Um die Mastzellen zu aktivieren, muss das Allergen mindestens 2 benachbarte IgE-Moleküle an der Zelloberfläche überbrücken. Das Aktivierungssignal entsteht wahrscheinlich durch ein Zusammenrücken der IgE-Rezeptoren in der Zellmembran. Es bewirkt, dass sich die zytoplasmatischen Speichergranula nach außen entleeren, zu deren Inhalt die präformierten Mediatoren Histamin, Adenosin, Tryptase, Heparin sowie chemotaktische Faktoren für Eosinophile und Neutrophile gehören. Weitere Aktivierungseffekte sind die rasche Neubildung und Sekretion zusätzlicher Mediatoren aus Phospholipiden der Zellmembran (Plättchenaktivierungsfaktor [PAF], Prostaglandin D2, Leukotriene C4, D4 und E4, HETEs, Leukotrien B4) und die Freisetzung zytotoxischer Sauerstoffderivate (O2–, H2O2, OH–). Über den IgE-Rezeptor stimuliert, sezernieren die Mastzellen auch diverse Zytokine (IL-3, IL-4, IL-5, IL-6). Mit diesen unterschiedlichen Substanzgruppen greifen die Mastzellen teils in die Frühphase, teils in die Spätphase der IgE-vermittelten allergischen Reaktionen ein. An der Frühreaktion sind in erster Linie Histamin, Plättchenaktivierungsfaktor PAF, Leukotriene, Prostaglandin D2 und Kinine beteiligt, die von der Tryptase aus Plasmaproteinen abgespalten werden. Haupteffekte dieser Substanzen sind Vasodilatation, Permeabilitätssteigerung der kleinen Blutgefäße mit Flüssigkeitsaustritt ins Gewebe, Kontraktion der glatten Muskulatur, Stimulation der Schleim- und Drüsensekretion und Reizung von Nervenenden. Folgende klinische Symptome können daraus resultieren:
4 4 4 4 4
Blutdruckabfall bis zum Kreislaufschock Urtikaria (. Abb. 8.3) Angioödem Hautjucken und -brennen Niesen, Augentränen sowie Spasmen und Verschleimung der Bronchien.
In der Regel verschwinden die akuten Symptome innerhalb einer Stunde, da die frühen Mediatoren im Gewebe ziemlich schnell abgebaut werden und keine Läsionen hinterlassen. Parallel zur Reaktion mit den IgE-besetzten Mastzellen aktiviert das Allergen bei jeder Reapplikation auch die spezifischen Th2-Gedächtniszellen des sensibilisierten Organismus und regt sie zur Prolifera-
. Abb. 8.3. Urtikaria mit geröteten erhabenen Quaddeln (aus Lexikon Medizin. Springer, Berlin 2004)
tion und Zytokinsekretion an. Auf diese Weise kommt es zu beschleunigter und verstärkter Neubildung von allergenspezifischem IgE. Das Allergen reagiert mit den Th2-Zellen aber nicht direkt, sondern muss ihnen wieder von den antigenpräsentierenden Zellen zugeführt werden, die dazu einige Zeit benötigen. Allergische Spätreaktion Sie manifestiert sich erst mehrere Stunden nach einer abgeklungenen Sofortreaktion, ohne dass eine erneute Allergenexposition stattgefunden hat. Die späte Reaktion ist meistens intensiver und dauert erheblich länger als die frühe, stellt aber kein obligatorisches Phänomen dar. Das Auftreten beider Reaktionen lässt sich am besten bei Provokationstests mit Allergenen verfolgen, z.B. beim Intrakutan- und Inhalationstest. Auch die Spätreaktion ist IgE-abhängig, weist aber im Gewebe schon zelluläre Elemente auf. Am Ort der Allergeneinwirkung sammeln sich Eosinophile, Basophile, Lymphozyten und Monozyten an und geben der allergischen Reaktion ein entzündliches Gepräge. Für diese zelluläre Infiltration sind von den Mastzellenmediatoren hauptsächlich die chemotaktischen Faktoren für Eosinophile und Neutrophile, der PAF und die Zytokine verantwortlich. Nach ihrer Aktivierung setzen Eosinophile und Neutrophile zytotoxische Substanzen frei, die zur Gewebeschädigung führen und damit den Entzündungsprozess unterhalten. Glukokortikoide können weder die Mastzellendegranulation noch die Sofortreaktion verhindern. Sie unterdrücken lediglich die Spätreaktion, was deren entzündlichen Charakter unterstreicht. Chronische allergische Entzündung Bei allergischer Rhinitis, allergischem Asthma und atopischer Dermatitis führt die langdauernde intermittierende Allergenex-
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Kapitel 8 · Krankheiten des Immunsystems
position zu einem chronischen allergischen Entzündungsprozess, an dem vor allem Eosinophile, Monozyten und Makrophagen beteiligt sind. Akute Symptome werden dann nicht mehr allein durch IgE-vermittelte Mastzellendegranulation ausgelöst, sondern auch durch diverse unspezifische Reize, gegen die sich auf dem Boden der Entzündung eine Überempfindlichkeit entwickelt. Hinzu kommt, dass Mastzellen durch Toxine aus Eosinophilen direkt degranuliert werden können. > Die Chronizität der allergischen Entzündung ist wahrscheinlich in erster Linie auf die anhaltende Sekretion von Zytokinen seitens der Th-Zellen, Mastzellen und mononukleären Zellen zurückzuführen.
Einige Zytokine und PAF senken die Reizschwelle für die Mediatoren der Sofortreaktion (z. B. für Histamin) schon bevor Gewebeveränderungen eingetreten sind.
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Zytotoxische allergische Reaktionen Die beteiligten Antikörper gehören in der Regel den Klassen IgG oder IgM an. Sie zerstören Zellen, an denen sich Allergene oder Haptene festgesetzt haben. Das kann auf zweierlei Weise geschehen. Zum einen durch Fixierung und vollständige Aktivierung des lytischen Komplementsystems, zum anderen indem die Antikörper mit ihrem Fc-Segment Makrophagen oder NK-Zellen an die Zielzellen binden, die dann der Phagozytose oder Lyse anheimfallen. Solche zytotoxischen allergischen Reaktionen manifestieren sich hauptsächlich in zytopenischen Blutbildveränderungen. Allergische Immunkomplexreaktionen Antigen-Antikörper-Komplexe, die bei der humoralen Immunantwort entstehen und als lösliche Immunkomplexe im Blut zirkulieren können, richten gewöhnlich keinen Schaden an, da sie normalerweise vom Monozyten-Makrophagen-System schnell aus der Zirkulation eliminiert werden. Die Phagozyten besitzen dazu spezifische Rezeptoren für die Fc-Komponenten der Antikörper und für die Komplementkomponenten, die an den meisten Immunkomplexen haften. Von großen Immunkomplexen, die sich bei annähernd äquivalenten Konzentrationen von Antigenen und Antikörpern der Klassen IgM, IgG und IgA bilden, geht jedoch Gefahr aus. Derartige Komplexe können sich ubiquitär im Bereich der postkapillaren Venolen ablagern und Entzündungsreaktionen auslösen. Das geschieht vor allem, wenn sie in Mengen anfallen. Durch partielle Komplementaktivierung an den adsorbierten Immunkomplexen kommt es zur Freisetzung der Komplementfragmente C3a, C4a und C5a, die eine Entzündungsreaktion in Gang setzen. Sie degranulieren Gewebemastzellen und Basophile, steigern die Gefäßpermeabilität, kontrahieren glatte Muskelzellen und locken chemotaktisch Neutrophile an. Die Neutrophilen phagozytieren die Immunkomplexe, setzen danach durch Sekretion oder Zerfall lysosomale Fermente und weitere Entzündungsmediatoren frei, die zu Endothelläsionen, fibrinoider Nekrose, Thrombose und Hämorrhagien führen.
Lokale Reaktion: Injiziert man einem sensibilisierten Individuum
mit zirkulierenden Antikörpern das Allergen lokal, kommt es an der Applikationsstelle durch Immunkomplexbildung zu einer umschriebenen nekrotisierenden Entzündung, dem sog. ArthusPhänomen. Generalisierte Reaktion: Klassisches Beispiel für eine generalisierte allergische Immunkomplexreaktion ist die Serumkrankheit, die nach einmaliger oder wiederholter Injektion eines
Fremdserums vorkommt (Diphtherieantitoxin vom Pferd, heterologes Antithymozytenglobulin). Das zirkulierende Antigen wird nach mehreren Tagen mit langsam steigenden Antikörpermengen konfrontiert, mit denen es im Antigenüberschuss kleine, später große pathogene Immunkomplexe bildet, die sich in den Gefäßen niederschlagen. Die klinischen Manifestationen der Serumkrankheit sind Fieber, urtikarielle oder morbilliforme Hauteruptionen, Arthralgien, Lymphknotenschwellungen und Albuminurie. Sie bilden sich vollständig zurück, wenn das Anti-
gen eliminiert ist. Vaskulitis: Eine Immunkomplexkrankheit stellt auch die durch Pharmaka, Mikroorganismen oder Autoantigene induzierte Hypersensitivitätsvaskulitis dar, eine entzündliche Affektion der
Venolen, die mit neutrophilen Infiltraten, Leukoklasie, Gewebsdestruktionen, Fibrinoidbildung und Blutextravasaten einhergeht. Sie befällt am häufigsten die Haut, kann aber auch generalisiert auftreten. Zellvermittelte allergische Reaktionen (Allergie vom verzögerten Typ) Sie gehen von allergenspezifischen T-Helferzellen aus, die keine Antikörperbildung, sondern entzündliche Infiltrate aus Makrophagen und Monozyten induzieren. Ein typisches Beispiel ist die Tuberkulinreaktion, die bei sensibilisierten Personen nach einigen Tagen zur umschriebenen Hautinfiltration mit Rötung und Schwellung führt (. Abb. 8.4). Zum rein zellulären allergischen
. Abb. 8.4. Positive Tuberkulinreaktion am Unterarm (aus Lexikon Medizin. Springer, Berlin 2004)
721 8.2 · Allergie
Reaktionstyp gehört hauptsächlich die Kontaktdermatitis (7 unten). Bei der Reapplikation trifft das Allergen auf spezifische Th1Zellen, die durch den Sensibilisierungsprozess entstanden sind. Es muss diesen Gedächtniszellen aber erneut durch antigenpräsentierende Zellen offeriert werden, bevor sie aktiv werden können. Der Zeitbedarf für diesen Vorgang und die anschließende Proliferation der mononukleären Effektorzellen hat zur Folge, dass die allergischen Hautmanifestationen erst 2–3 Tage nach dem Allergenkontakt in Erscheinung treten. Dagegen binden die IgE-Antikörper an den Mastzellen das Allergen direkt und entfalten ihre aktivierende Wirkung innerhalb von Minuten oder wenigen Stunden. 8.2.2 Allergiediagnostik Anamnese > Bei der Allergensuche ist nach einem Zusammenhang der allergischen Erscheinungen mit Pflanzen, Nahrungsmitteln, Medikamenten, kosmetischen Präparaten, Farben, Freizeitbeschäftigungen, beruflichen Expositionen oder einem Arbeitsplatzwechsel zu fahnden.
Saisonabhängiges Auftreten der Symptome im Frühjahr oder Herbst spricht für Luftpollen als Ursache, eine Exazerbation der Beschwerden in der Nacht und am Morgen für Allergie gegen Hausstaubmilben. Allergische Erkrankungen in früheren Lebensjahren weisen auf eine allergische Diathese hin, die bei familiärem Vorkommen eine erbliche Grundlage hat. Klinische Manifestationen Zu den allergieverdächtigen Symptomen gehören juckende Hautausschläge, generalisierte Ödeme, Bindehautreizungen, Rhinorrhoe, Niesen, Husten, Kurzatmigkeit mit pfeifendem Atem und Durchfälle. Diese Erscheinungen können allerdings auch nichtallergische Ursachen haben und bedürfen der weiteren Abklärung. Hauttests Nachweis der IgE-vermittelten Sofortreaktion Das zu testende Allergen löst 15–20 Minuten nach der Einbringung in die Haut eine Quaddel-Erythem-Reaktion aus, wenn die Mastzellen mit allergenspezifischem IgE besetzt sind. An der Kontaktstelle entsteht ein scharf begrenztes Ödem mit gerötetem Saum. Der Durchmesser der Effloreszenz ist ein Maß für die Intensität der Reaktion. Simultan werden eine Histaminlösung (zum Nachweis der Reaktivität der Haut) und das Lösungsmittel des Allergens (zum Ausschluss unspezifischer Effekte) mitgetestet. Auf die Ablesung einer Spätreaktion nach 8 Stunden wird verzichtet, weil nur die Sofortreaktion diagnostisch relevant ist. Zur Anwendung gelangen 2 Methoden: 4 Pricktest (Stichtest): Zuerst wird ein Tropfen der unverdünnten Allergenlösung auf die Haut gebracht. Danach sticht man
mit einer Spezialnadel durch den Tropfen hindurch in die Haut ein. Analog wird mit einer 1%igen Histaminlösung und dem Lösungsmittel des Allergens verfahren. Spezielle Applikatoren erlauben die gleichzeitige Testung mehrerer Allergene. 4 Intrakutantest: Die Allergenapplikation erfolgt durch intrakutane Injektion von 0,02 ml einer 1:1000 oder stärker verdünnten Allergenlösung. Zur Kontrolle werden gleiche Volumina Pufferlösung und 0,01%ige Histaminlösung injiziert. Die Sensitivität ist 100 bis 1000-mal größer als die des Pricktests. Dafür kommen systemische Reaktionen und falsch positive Resultate häufiger vor. Epikutantest zum Nachweis der Kontaktallergie Dieser Allergietyp ist IgE-unabhängig und führt ausschließlich zu einer zellulären Spätreaktion (. Abb. 8.5a–d). Der natürlichen Exposition entsprechend werden die Testallergene blockweise mit einem beschichteten semipermeablen oder Okklusivpflaster für 48 Stunden auf die Haut gebracht. Die Ablesung erfolgt 72– 96 Stunden nach der Applikation des Pflasters. Dabei sind 2 Reaktionsformen zu unterscheiden: 4 Allergische Reaktion: 5 schwach positiv (1+): Erythem, Infiltration aus diskreten Papeln 5 stark positiv (2+): Erythem, Infiltration, Papeln, Bläschen 5 extrem positiv (3+): intensives Erythem, Infiltration, zusammenfließende Bläschen 5 fraglich bis zweifelhaft: Schwaches diffuses Erythem. 4 Irritative Reaktion: Unspezifische nichtallergische Hautreaktion, gekennzeichnet durch variable Veränderungen, wie trockene, zerknitterte Oberflächentextur (Seidenpapierstruktur), Verfärbungen (Kobaltblau, Chromatgelb), homogenes oder fleckförmiges Erythem ohne Infiltration und Papeln, follikuläre Petechien oder Pusteln, bullöse Reaktion, Nekrosen. Bestimmung der Allergenspezifität von IgE-Antikörpern in vitro Radioallergosorbenttest (RAST) Bei diesem Test wird IgE-haltiges Patientenserum zur AntigenAntikörper-Reaktion mit allergenbeschichteten Zellulosepartikeln (oder einem anderen Träger) inkubiert. Danach wäscht man die Partikel, um das Serum mit dem nicht gebundenen IgE zu entfernen und fügt radioaktiv markierte Antikörper gegen Human-IgE hinzu, die sich mit dem auf den Partikeln verbliebenen IgE verbinden. Die nach erneutem Waschen gemessene Radioaktivität der Partikel zeigt die Menge des allergenspezifischen IgE im Patientenserum an (0 bis + + + +). Als Suchtest können Gruppenantigene verwendet werden. Zur genauen Bestimmung der IgE-Spezifität ist der Test mit Einzelallergenen durchzuführen. Elisaallergosorbenttest (EAST) Das Testprinzip gleicht dem des RAST. Die zur Messung des gebundenen IgE verwendeten Antikörper gegen Human-IgE sind
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. Abb. 8.5a–d. Epikutantest. a Aufkleben des Teststreifens, b fixierte Teststreifen auf der Haut, c Abnahme der Teststreifen nach 2 Tagen und Markierung der Testfelder, d kontaktallergisiche Reaktionen in 2 Testfel-
dern (aus Braun-Falco et al.: Dermatologie und Veneralogie. Springer, Berlin 2005)
aber nicht radioaktiv markiert, sondern kovalent mit einem Enzym verbunden, dessen Aktivität nach Substratzusatz kolorimetrisch oder fluorometrisch bestimmt wird. Nach dem gleichen Prinzip können auch allergenspezifische Antikörper der Klassen IgG und IgM bestimmt werden.
Eosinophilenzählung: Floride atopische Reaktionen gehen fast immer mit einer Eosinophilenvermehrung im Blut (>450/mm3) einher. Daneben lässt sich bei allergischer Rhinitis eine Eosinophilie im Nasenabstrich und beim atopischen Asthma bronchiale das gleiche im Sputumausstrich nachweisen. Allergieverdächtig ist jede Eosinophilie mit erhöhtem Serum-IgE, da diese Konstellation sonst nur bei Helminthenbefall vorkommt. Mastzellenmediatoren im Serum: Von den Mediatoren der allergischen Sofortreaktion, die aus aktivierten Mastzellen freigesetzt werden, lässt sich bisher nur die Tryptase quantitativ bestimmen. Ihre Konzentration im Serum steigt bei systemischen anaphylaktischen Reaktionen vorübergehend an und kann zu deren Erkennung dienen, bei plötzlichen Todesfällen im anaphylaktischen Schock auch noch postmortal.
Provokationstests Ein positiver Hauttest und allergenspezifisches IgE im Serum beweisen im Einzelfall noch nicht, dass die klinischen Manifestationen der Allergie auf das betreffende Allergen zurückzuführen sind. Zweifel an einem Kausalzusammenhang kann die kontrollierte Exposition mit dem Allergen beseitigen. Bei allergischer Rhinitis wird das Allergen mit einem Spray appliziert und der Effekt rhinomanometrisch gemessen. Die Bronchoprovokation bei Asthmatikern erfolgt durch Allergeninhalation mit anschließender Lungenfunktionsprüfung. Die bronchiale Provokation mit Methacholin erfasst nur die unspezifische Hyperreaktivität der Bronchien. Der Provokation bei Nahrungsmittelallergien hat eine Eliminationsdiät vorauszugehen, durch die das Allergen aus der Nahrung entfernt wird. Wenn die allergischen Symptome aufgehört haben, setzt man potenzielle Allergene sukzessive zu, bis eine erneute Reaktion eintritt.
8.2.3 Allergische Krankheitszustände Allergische Rhinitis Definition. Atopische allergische Reaktion der Nasenschleimhaut gegen exogene Allergene. Synonyme. Heuschnupfen oder Pollinosis für pollenbedingte
Laboruntersuchungen IgE im Serum: Bei Atopikern in der Regel erhöht, manchmal nur während der Allergenexposition. Bei hohen IgE-Konzentrationen ist mit dem RAST-Verfahren eine Klärung der Allergenspezifität anzustreben.
Rhinitis. Häufigkeit. Die Prävalenz der allergischen Rhinitis wird in Eu-
ropa und den USA auf 5–10% geschätzt.
723 8.2 · Allergie
Ätiologie und Pathogenese. Die häufigsten Allergene sind Pflanzenpollen, Hausstaubmilben, Hautschuppen und Haare von Tieren und Pilzsporen. Auf dem Boden einer genetischen Disposition induzieren sie eine IgE-vermittelte allergische Reaktion vom Soforttyp, aber auch chronische entzündliche Schleimhautveränderungen. Die akuten allergischen Symptome fallen zeitlich mit der Allergenexposition zusammen und zeigen deshalb die gleiche Saisonabhängigkeit. Frühkatarrhe zwischen Februar und April beruhen meistens auf Blütenpollen von Haselnuss, Weide, Pappel, Birke oder Platane. Die Saison der Gräserpollen reicht von Anfang Mai bis Ende Juli. In den USA und auch in Europa folgt ihr eine weitere durch Ragweedpollen (von Traubenkraut, eine Ambrosia-Art, die sich in Europa ausgehend von Bahndämmen sehr verbreitet hat und ein sehr wirksames Pollenallergen besitzt), die vom Spätsommer bis zum Kälteinbruch dauert. Ganzjährige allergische Rhinitiden sind vorwiegend durch Hausstaubmilben und Allergene tierischer Herkunft bedingt. Klinik. Die Erkrankung beginnt in jedem Lebensalter, gewöhnlich vor dem zwanzigsten, selten schon im ersten Lebensjahr. Am heftigsten sind die Symptome bei den Pollenallergien: Verstopfung der Nase, anfallsweises Niesen, wässeriger oder schleimiger Nasen- und Rachenkatarrh. Hinzu kommen oft Konjunktivitis, Rötung der Lider, Tränenfluss, Augenbrennen, Lichtempfindlichkeit. Diagnostik. Klinisches Bild, Saisonabhängigkeit, erhöhtes Se-
rum-IgE, Eosinophilie im Blut und Nasensekret, positiver Hauttest und RAST-oder EAST-Verfahren ergeben zusammen den eindeutigen Hinweis auf eine allergische Rhinitis. Wenn diese Kriterien nicht erfüllt sind, liegt eine der ebenso häufigen anderen Formen der Rhinopathie vor. Differenzialdiagnosen. Eosinophile chronische nichtallergische Rhinitisyndrome, die mit Sinusitiden, Polyposis und nichtallergischem Asthma plus Aspirinintoleranz einhergehen können und sich von der allergischen Rhinitis durch normales Serum-IgE und negative Hauttests unterscheiden. Therapie. Nach Möglichkeit Vermeidung der Allergenexposition.
Mittel der ersten Wahl sind die H1-Antihistaminika, da sie die H1-Rezeptoren in der Schleimhaut blockieren. Einige wirken außerdem deutlich anticholinergisch (sekretionshemmend) und sedierend (Carbinoxamin, Clemastin, Diphenhydramin, Doxylamin). Die Einnahme sollte deshalb abends erfolgen. Neuere H1Antihistaminika sind etwas weniger potent, sedieren aber kaum noch (Astemizol, Azelastin, Cetirizin, Loratidin, Loratadin, Terfenadin). Bewährt haben sich auch Mastzellenstabilisatoren, die der Mediatorfreisetzung entgegenwirken (Cromoglycinsäure intranasal und als Augentropfen, Ketotifen mit seinem zusätzlichem Antihistamineffekt per os). Zum Abschwellen der Nase und zur Drosselung des Katarrhs eignen sich oral applizierte Vasokonstriktoren (Phenylpropanolamin, Pseudoephedrin). Sie
stimulieren die α-adrenergen Rezeptoren der Schleimhautgefäße. Vorübergehend können auch topische nasale halogenierte Glukokortikoidpräparate (Beclometason, Triamcinolon, Flunisolid) angewandt werden. Bei unvermeidbarer beruflicher Allergenexposition kommt eine Desensibilierung in Betracht. Allergisches Asthma bronchiale Siehe 7 Kap. 2.5. Nahrungsmittelallergie Definiton. Nahrungsmittelunverträglichkeit durch Immunreaktionen gegen Allergene in der Nahrung. Ätiologie und Pathogenese. Die am häufigsten zur Allergie führenden Nahrungsmittel sind Erdnüsse, Walnüsse, Sojabohnen, Fische, Schalentiere, Milch und Hühnerei. Darüber hinaus gibt es weitere Nahrungsmittel, die zur Allergie führen können. In den einzelnen Nahrungsmitteln sind jeweils mehrere unterschiedliche Allergene enthalten. Nahrungsmittelallergien kommen hauptsächlich im frühen Kindesalter vor, weil die Mukosabarriere gegen Fremdantigene im kindlichen Darm noch nicht ausgereift ist. Nahrungsallergene wehrt der Gastrointestinaltrakt zum einen auf unspezifische Weise ab, mit intraluminaler Proteolyse und einem für Makromoleküle weitgehend undurchlässigen Schleim, der das Epithel bedeckt. Zum anderen erfolgt die Abwehr durch notwendige immunologische Mechanismen, da die Epithelzellen in begrenzten Mengen antigene Proteine resorbieren. Allergene werden nach der Passage des Epithels in der Lamina propria von dendritischen Zellen und Makrophagen aufgenommen und passenden Th-Zellen präsentiert, die vor Ort die Produktion allergenspezifischer Antikörper der Klasse IgA induzieren. Gleichzeitig supprimieren diese oder andere T-Zellen die Bildung von Antikörpern der Klassen IgG, IgM und IgE und verhindern auch Immunreaktionen zellulären Typs. Das IgA wird als Dimer mit protektiver sekretorischer Komponente (s-IgA) in das Darmlumen ausgeschieden, bindet dort das Allergen und führt es dem proteolytischen Abbau zu. Durch die Kombination von lokaler IgA-Reaktion und gedrosselter systemischer Immunantwort entsteht gegenüber den oral zugeführten Nahrungsallergenen eine Toleranz, die bei Erwachsenen nur selten durchbrochen wird. Wenn es zur symptomatischen Immunreaktion gegen Nahrungsallergene kommt, ist sie meistens durch Antikörper der Klasse IgE und damit durch die Mediatoren aus aktivierten Mastzellen bedingt. Es resultieren dann neben kutanen und respiratorischen auch gastrointestinale allergische Manifestationen. Unklar ist der immunpathogenetische Mechanismus der allergischen eosinophilen Gastroenteritis. Klinik. Die IgE-vermittelten allergischen Sofortreaktionen folgen der Allergenaufnahme im Abstand von wenigen Minuten bis zu 2 Stunden (. Abb. 8.6). Sie können einzeln oder kombiniert folgende Symptome hervorrufen: Urtikaria, Angioödem, Pruritus, morbilliformen Hautausschlag, Augenbrennen, Tränenfluss, Ver-
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Kapitel 8 · Krankheiten des Immunsystems
4 4 4 4
. Abb. 8.6. Angioödem durch allergische Reaktion auf Haselnüsse (aus Braun-Falco et al.: Dermatologie und Veneralogie. Springer, Berlin 2005)
8 stopfung der Nase, Bronchospasmus, juckende Anschwellung von Lippe, Zunge und Gaumen, Larynxödem mit Stridor. Relativ selten sind abdominale Krämpfe, Übelkeit, Erbrechen und Diarrhö. Diagnostik. Eine Nahrungsmittelallergie ist zu vermuten, wenn
allergische Hauterscheinungen kurz nach der Mahlzeit auftreten. Es kann sich aber auch um eine anaphylaktoide Reaktion, d.h. um eine nicht durch IgE vermittelte Mastzellenaktivierung handeln, z.B. durch Medikamente, Konservierungsmittel (Sulfitverbindungen) oder Farbzusätze. Postprandiale Intoleranzerscheinungen, die nicht mit allergischen Symptomen der Haut oder der Atemwege einhergehen, sind meistens nicht durch eine Allergie bedingt. Gesichert ist die Diagnose aber erst, wenn die Symptome unter Eliminationsdiät ausbleiben und nach Provokation mit dem verdächtigten Nahrungsmittel erneut auftreten. Therapie. Wichtigste Maßnahme ist die Prävention durch Umstellung der Ernährung. Bei akuten Symptomen sind H1-Antihistaminika indiziert. Glukokortikoide schwächen die IgE-vermittelte Spätreaktion ab. In der Regel kommt es nach wenigen Stunden zur spontanen Remission. Die eosinophile Gastroenteritis ist mit oralen Glukokortikoiden zu behandeln.
Arzneimittelallergie Definition. Arzneimittelunverträglichkeit durch immunologische Mechanismen. Ätiologie und Pathogenese. Allergische Reaktionen machen nur etwa 5% aller unerwünschten Arzneimittelwirkungen aus, können aber durch zahlreiche Pharmaka induziert werden (Penicillin, sonstige γ-Lactamantibiotika, Sulfonamide, Lokalanästhetika, Muskelrelaxanzien, Narkotika, Heparin, Streptokinase usw.).
Abzugrenzen ist die Arzneimittelallergie von: Pseudoallergien mit ähnlichen klinischen Manifestationen pharmakologischen Nebenwirkungen Intoxikationen durch Überdosierung der Idiosynkrasie, einer Unverträglichkeit durch toxische Metaboliten, die infolge abnormer Biotransformation entstehen.
Die Seltenheit der Arzneimittelallergien spricht dafür, dass sie eine individuelle Disposition voraussetzen. Proteine wie Blutprodukte, heterologe Antiseren oder Proteohormone stellen Vollantigene dar. Die meisten Pharmaka sind jedoch Haptene, also erst nach fester Koppelung an ein Protein immunogen. Zur kovalenten Verknüpfung mit einem Protein ist eine besondere chemische Reaktionsfähigkeit erforderlich, die viele Arzneimittel selbst nicht besitzen, sondern nur ihre in vivo gebildeten Metaboliten. Die Haptenbindung kann an lösliche oder an Membranproteine erfolgen. Letzteres scheint häufiger und von stärkerer immunogener Wirkung zu sein. Um eine Sensibilisierung herbeizuführen, müssen die Hapten-Protein-Konjugate von immunstimulatorischen dendritischen Zellen aufgenommen, präpariert und passenden T-Helferzellen präsentiert werden. Als Immunantwort induzieren die antigenstimulierten ThZellen entweder die Bildung spezifischer Antikörper oder eine zelluläre Immunreaktion durch die von ihnen mobilisierten Makrophagen und Monozyten. Allergische Sofortreaktionen nach Arzneimitteleinnahme sind stets durch Mediatoren aus aktivierten Mastzellen oder Basophilen bedingt. Die Stimulation dieser Zellen kann über membrangebundenes IgE, aber auch durch Komplementfragmente (C3a, C5a) erfolgen, die bei der Komplementaktivierung an diversen Immunkomplexen entstehen. Eine rein zelluläre Immunreaktion liegt der allergischen Kontaktdermatitis zugrunde. An einer allergischen Arzneimittelreaktion können auch mehrere Immunmechanismen beteiligt sein. Manchmal lässt sich nicht erkennen, welcher immunologische Reaktionstyp zu den Allergiesymptomen geführt hat. Klinik. Es kommen generalisierte und diverse lokalisierte klini-
sche Manifestationen vor (. Tab. 8.1). Diagnostik. Allergieverdächtig sind Unverträglichkeitsreaktionen, die frühestens 7–10 Tage nach Behandlungsbeginn oder bei der Zweitexposition mit einem Arzneimittel auftreten. Sie sollten außerdem einem der bekannten allergischen Reaktionsmuster entsprechen. Oft wird ein Arzneimittel erst durch intensive Patientenbefragung oder nach Vorlage aller zuletzt eingenommenen Präparate als Allergieursache erkannt. Bei seiner Identifizierung können Hinweise in den Packungsbeilagen hilfreich sein. Eine exakte immunologische Diagnostik der Arzneimittelallergie ist vielfach nicht möglich, weil die immunogenen Metaboliten der meisten Arzneimittel nicht oder nur unvollständig bekannt sind und ein Trägerprotein benötigen, um voll reaktionsfähig zu sein.
725 8.2 · Allergie
. Tabelle 8.1. Klinische Manifestationen des Arzneimittelexanthems
Immunreaktion
Klinische Manifestationen
Generalisierte Reaktionen
Mastzellen-vermittelt
Reaktionen an einzelnen Organen
5 Urtikaria 5 Angioödem 5 anaphylaktischer Schock
Fieber
durch Zytokine aus Makrophagen und Lymphozyten
Autoimmunreaktionen
Induktion eines systemischen Lupus erythematodes
Hypersensitivitätsvaskulitis
durch komplementaktivierende Immunkomplexe
Haut
5 5 5 5 5 5 5
allergische Kontaktdermatitis Photodermatitis makulopapuläre oder exanthematöse Eruptionen fixierte Eruptionen Erythema multiforme toxische epidermale Nekrolyse kutane Hypersensitivitätsvaskulitis
Blut
5 5 5 5
Eosinophilie Aämie Granulozytopenie Thrombozytopenie
Lunge
5 Obstruktion der Atemwege 5 Eosinophile und andere Infiltrate 5 fibrotische Reaktionen
Leber
5 Cholestase 5 Parenchymschädigung
Magen-Darm-Trakt
5 Nausea 5 Diarrhöen 5 Schleimhautblutungen
Niere
interstitielle Nephritis
Herz
Myokarditis
Der Pricktest eignet sich zum Nachweis einer IgE-vermittelten Sensibilisierung gegen Penicillin (mit Penicilloyl als Hapten), Muskelrelaxanzien, Barbiturate, Insulin, Streptokinase und verschiedene andere Medikamente. Mit dem RAST-Verfahren lassen sich Antikörper der Klasse IgE gegen diese Mittel erfassen. Der Patch-Test ermöglicht die Klärung einiger arzneimittelbedingter allergischer Kontaktdermatitiden. Antikörper der Klassen IgG und IgM gegen Arzneimittelhaptene lassen sich mit einem modifizierten ELISA-Verfahren nachweisen, sind jedoch oft eine harmlose Nebenerscheinung. In vielen Fällen ist das auslösende Agens nur durch einen Eliminationsversuch mit anschließender Provokation zu identifizieren. Pseudoallergie Von der echten Allergie sind die durch Arzneimittel induzierten Pseudoallergien abzugrenzen, die ähnliche Symptome hervorrufen.
> Sie beruhen aber nicht auf Immunreaktionen und treten deshalb schon bei erstmaliger Applikation des unverträglichen Mittels auf.
Außerdem ist die Wirkung der Pseudoallergene konzentrationsabhängig, während Allergene schon in sehr kleinen Mengen eine Reaktion auslösen. Die pathogenetischen Mechanismen der Pseudoallergie sind unterschiedlich. Bestimmte polybasische Substanzen (Somatostatin, Protamin, Polymyxin, VIP), Opiate, Pentamidin, Desferrioxamin und Röntgenkontrastmittel können die Mastzellen auf direktem Weg zur Histaminfreisetzung stimulieren. Bei den Kontrastmitteln kommt eine Kontaktaktivierung des Faktor XII hinzu, die zur Bildung von Kallikrein und vasoaktivem Bradykinin führt. In hohen Konzentrationen aktivieren die Kontrastmittel auch das Komplementsystem. Den gleichen Effekt haben aggregiertes Gammaglobulin und Protamin-Heparin-Komplexe. Die dabei anfallenden Komplementfragmente C3a und C5a degranulieren die Mastzellen und haben zusätzliche systemische Effekte.
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Kapitel 8 · Krankheiten des Immunsystems
Pseudoallergische Reaktionen durch Acetylsalizylsäure und nichtsteroidale antiinflammatorische Drogen (NSAID) manifestieren sich in akuten Schüben vorbestehender intrinsischer Formen von Rhinokonjunktivitis, Asthma oder Urtikaria. Diese Patienten reagieren abnorm stark auf Leukotriene, die vermehrt anfallen, wenn der Metabolismus der Arachidonsäure durch ASS oder NSAD weitgehend auf den Lipoxygenaseweg umgelenkt wird. Diagnostik. Der Nachweis der ASS-Sensitivität ist nur durch ei-
nen Provokationstest zu erbringen.
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Therapie. Als Allergen erkannte Medikamente sind abzusetzen und im Bedarfsfall gegen ein wirkungsgleiches Mittel mit anderer Struktur auszutauschen. Bis zum Abklingen der Symptome ist Linderung durch H1-Antihistaminika möglich. Bei IgE-vermittelten Allergien ist in manchen Fällen eine Desensibilisierung mit vorsichtig gesteigerten Dosen des Allergens möglich, z. B. bei Penicillin und Insulin.
Allergische Hautreaktionen Definition. Hauterscheinungen, die durch Immunmechanismen zustande kommen. Urtikaria und Angioödem Die Urtikaria ist die klinische Manifestation einer Mastzellendegranulation in der Haut. Sie ist durch scharf begrenzte, juckende Quaddeln mit blassem Zentrum und rotem Randsaum gekennzeichnet. Das Angioödem stellt eine subkutane oder submuköse Schwellung dar, die oft von normal aussehender Haut bedeckt ist und häufiger mit einem Prickeln oder Brennen als mit Juckreiz einhergeht. Es entsteht entweder durch Mastzellendegranulation oder durch die Vermittlung von Kininen. Akute Form: Urtikaria und Angioödem treten am häufigsten im Rahmen einer generalisierten oder lokalen IgE-vermittelten Sofortreaktion gegen diverse Allergene auf. Zur Mastzellendegra-
nulation mit identischen Hauterscheinungen können aber auch nichtimmunologische Stimuli führen (Komplementfragmente, Kontrastmittel, körperliche Belastung, Kälte, Wärme, Druck, Sonnenlicht). Die Hautveränderungen beginnen innerhalb von Minuten (. Abb. 8.7) und bilden sich im Laufe weniger Stunden restlos zurück. Zur Therapie wendet man H1-Antihistaminika, bei Rezidivneigung und in schweren Fällen Prednison an. ! Nur ein bedrohliches Larynxödem erfordert die subkutane Injektion von Adrenalin (0,5 ml der 1:1000 verdünnten Lösung). Chronische Form: Urtikaria und Angioödem bleiben 12–24 Stunden bestehen, jucken sehr intensiv und rezidivieren gewöhnlich länger als 6 Wochen, manchmal einige Jahre lang. Der Nachweis
. Abb. 8.7. Urtikaria mit einer Vielfalt von Quaddeln (aus Braun-Falco et al.: Dermatologie und Veneralogie. Springer, Berlin 2005)
einer IgE-vermittelten Pathogenese stößt in der Regel auf Schwierigkeiten, ebenso der des auslösenden Antigens. Viele Fälle werden deshalb als idiopathisch eingestuft. Auslösendes Agens scheinen nach neueren Untersuchungen nicht selten Autoantikörper gegen die IgE-Rezeptoren der Mastzellen zu sein. Histologisch weisen die Läsionen vermehrt Mastzellen, T-Helferzellen und Monozyten auf. > Hitze, Alkohol, Aspirin und körperliche Anstrengung aggravieren die Symptome und sollten deshalb gemieden werden.
Kombiniert angewendet, können H1- und H2-Antihistaminika Linderung bringen. Effektiv sind die Glukokortikoide. Chronisch rezidivierendes Angioödem durch C1-Esterasemangel: Diese vom allergischen Angioödem abzugrenzende
Form, lässt sich durch Bestimmung der C1-Esterase (C1-Inhibitor) im Serum erfassen. Das Enzym C1-INH hemmt aktivierte Komplementfragmente, einen aktivierten Hagemann-Faktor (Faktor XIIa) und Kallikrein. Wenn dieser Inhibitor fehlt oder vermindert ist, kommt es zur Überproduktion verschiedener Kinine (Bradykinin, C3a, C5a), die ein Angioödem, aber keine Urtikaria induzieren. Dem Mangel an C1-INH können genetische Defekte, lymphatische Malignome mit hohem Komplementum-
727 8.2 · Allergie
8
satz oder eine Autoantikörperbildung gegen C1-INH zugrunde liegen. Therapie: Bei angeborenem Mangel sind Anabolika, Antifibrinolytika oder eine Substitution des C1-INH angezeigt. Im Fall eines lymphatischen Malignoms richtet sich die Behandlung gegen die Grundkrankheit. Autoantikörper erfordern eine Immunsuppression. Hypersensitivitätsvaskulitis Durch Immunkomplexe in den Venolen induzierte leukozytoklastische Vaskulitis, die überwiegend an den unteren Extremitäten eine palpable schmerzhafte Purpura hervorruft. Die Effloreszenzen können zu größeren Läsionen mit Blasen oder zentraler Nekrose konfluieren. Manchmal kommt es zu einer urtikariellen Vaskulitis, die im Gegensatz zur IgE-vermittelten Urtikaria schmerzhaft ist, länger als 24 Stunden dauert und Pigmentierungen hinterlässt. In 10% der Fälle treten zusätzlich systemische Manifestationen auf, namentlich Arthritiden, gastrointestinale Läsionen mit Schleimhautblutungen, Hämaturie und Proteinurie, Lungeninfiltrate und periphere Neuropathien. Als Ursachen sind Virusinfektionen, Malignome, Kollagenkrankheiten und Medikamentenallergie zu nennen. Therapie: In einigen Fällen helfen nichtsteroidale Antiphlogistika oder Colchicin. Bessere Effekte erzielt man mit Glukokortikoiden, die oft langfristig gegeben werden müssen. Atopische Dermatitis (Neurodermitis diffusa, endogenes Ekzem) Definition. Entzündliche allergische Hauterkrankung auf genetischer Basis, deren klinische Manifestationen durch exogene Allergene induziert werden. Häufig kommen bei den Patienten und in deren Familien auch andere Atopien wie allergisches Asthma und allergische Rhinitis vor. Pathogenese. An der Pathogenese der Hautläsionen dürften
neben einer IgE-vermittelten Mastzellenaktivierung langwirkende Zytokine aus Th2-Zellen und weitere Faktoren beteiligt sein. In jedem Fall hat die chronische allergische Entzündung eine erhöhte unspezifische Irritabilität der Haut zur Folge. Insofern besteht zwischen der atopischen Dermatitis und den allergischen Formen des Asthmas und der Rhinitis eine deutliche Analogie. Klinik. Die atopische Dermatitis ist hauptsächlich eine Erkrankung des Kindesalters mit Beginn in den ersten Lebensmonaten. Sie bildet sich gewöhnlich während der Pubertät zurück, kann aber fortbestehen und bei Erwachsenen neu auftreten (. Abb. 8.8). Das Initialstadium ist bei den Kindern durch ein symmetrisches Erythem an den Wangen und auf dem behaarten Kopf gekennzeichnet, das in nässende Läsionen mit Bläschen und Krusten (Milchschorf) übergeht und sich bevorzugt an den Streckseiten der Extremitäten ausbreitet. Später und bei Erwachsenen dominieren chronische lichenifizierte ekzematöse Veränderungen an
a
b
. Abb. 8.8a, b. Endogenes Ekzem. a Isolierter Lidbefall, b unscharf begrenzte Ekzeme im Stammbereich (aus Lexikon Medizin. Springer, Berlin 2004)
Ellenbeugen, Kniekehlen und am Hals sowie eine trockene Dermatitis an Händen und Füßen. Durch heftigen Juckreiz entstehen oft Kratzeffekte. Diagnostik. Histologie: Akute Läsionen weisen ein Ödem, Infiltrate aus T-
Lymphozyten (überwiegend CD4) und eine normale Anzahl von Mastzellen auf, die in unterschiedlichem Grad degranuliert sind, während es an Eosinophilen, Basophilen und Neutrophilen mangelt. In den chronischen Läsionen sind vermehrt granulierte Mastzellen, Lymphozyten, Monozyten, Makrophagen und Langerhans-Zellen anzutreffen. Laborbefunden: Über 80% der Patienten haben erhöhtes Serum-IgE mit Antikörperspezifität gegen diverse Allergene. Pricktest: Bei positivem Pricktest kommt es zur Früh- und Spätreaktion. Therapie. Vordringlich ist eine sorgfältige Hautpflege (Verwendung alkalifreier Seifen, Nachfetten mit Salben oder Wasser-inÖl-Emulsionen). Mechanische Irritationen durch raue Kleidung
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Kapitel 8 · Krankheiten des Immunsystems
und Wollekontakt ist zu vermeiden. Glukokortikoide lokal in Salbenform oder systemisch wirken prompt. Sie sollten jedoch wegen ihrer Nebenwirkungen nur befristet eingesetzt werden. ! Lokaler Applikation kann bei dauerhafter Anwendung zur Hautatrophie führen.
Allergische Kontaktdermatitis Definition. Entzündliche immunologische Hautreaktion rein zellulären Typs gegen lokal einwirkende Allergene meistens vom Haptencharakter, aber auch gegen Proteinantigene wie Latex. Klinik. An den exponierten Stellen entstehen juckende Erytheme
mit Schuppenbildung und tiefsitzenden Bläschen. Nach Sensibilisierung durch perkutan resorbierte Allergene kann eine orale Allergenzufuhr disseminierte kontaktallergische Hautreaktionen auslösen, z.B. gegen Nickel, Chrom und Kobalt.
8
Differenzialdiagnose. Zu ähnlichen ekzematösen Veränderun-
gen führt die irritative, nicht immunologisch bedingte Kontaktdermatitis, die der Kontaktallergie manchmal vorausgeht und durch diverse unspezifische Hautreize hervorgerufen wird.
Haut hervorrufen. Als Fremdproteine wirken sie auch immuno-
gen und induzieren bei etwa 0,4% der Bevölkerung IgE-vermittelte allergische Reaktionen vom Soforttyp, die etwa 15 Minuten nach dem Einstich beginnen und ein lebensgefährliches Ausmaß erreichen können. Am häufigsten manifestiert sich die Anaphylaxie in einer generalisierten Urtikaria mit Angioödem und Flush. ! In schweren Fällen kann es durch ein Pharynx- oder Epiglottisödem zu Respirationsstörungen und durch Hypovolämie zum Blutdruckabfall und Kreislaufschock kommen.
Die meisten anaphylaktisch reagierenden Patienten sind unter 20 Jahre alt. Rund ein Drittel gibt in der Vorgeschichte eine atopische Erkrankung an. Vielen Patienten bleibt die Sensibilisierung durch frühere Insektenstiche verborgen, so dass sie von der allergischen Reaktion überrascht werden. Andererseits klingt die Sensibilisierung nicht selten spontan ab. Stark exponierte Personen wie die Imker bilden oft spezifische Toxinantikörper der Klasse IgG und bleiben dadurch vor anaphylaktischen Reaktionen geschützt. Denn das lösliche IgG bindet die Toxine und hält sie von den IgE-besetzten Mastzellen fern.
Diagnostik. Allergische und irritative Kontaktdermatitis lassen
sich mit Hilfe des Patchtests unterscheiden. Beide Formen treten am häufigsten als Berufsdermatose auf und sind bevorzugt an den Händen lokalisiert (chronisches Handekzem, . Abb. 8.9). Die Kontaktallergie spricht gut auf Glukokortikoide an, heilt aber erst nach Elimination des Allergens aus. Insektenstichallergie Bienen- und Wespengift enthalten verschiedene Toxine, die an der Einstichstelle eine schmerzhafte Rötung und Schwellung der
Diagnostik. Am empfindlichsten lässt sich die Insektengiftaller-
gie mit dem Hauttest nachweisen. Das RAST-Verfahren ermöglicht eine etwas weniger sensitive Erfassung der Toxin-spezifischen IgE-Antikörper in vitro. Therapie. Auf der Induktion von IgG-Antikörpern gegen die allergenen Toxine beruht auch der gute Effekt der Immuntherapie gegen die Insektenstichallergie, bei der das Insektengift zunächst in steigender und dann über 2–3 Jahre in konstanter Dosis wöchentlich injiziert wird. Angezeigt ist diese Behandlungsmethode bei allen Patienten, die nach einer mittelschweren oder schweren Anaphylaxie, im Hauttest noch positiv reagieren. Im akuten Stadium genügen in leichteren Fällen die Antihistaminika vom Typ H1 und H2. > Bei Schockverdacht ist Adrenalin indiziert.
Anaphylaktischer Schock Definition. Lebensbedrohliche allergische Reaktion, die zum Versagen des Herz-Kreislauf-Systems führt. Ätiologie und Pathogenese. Anaphylaktische Reaktionen wer-
. Abb. 8.9. Chronisches allergisches Kontaktekzem durch Hilfsstoffe in Gummihandschuhen (aus Braun-Falco et al.: Dermatologie und Veneralogie. Springer, Berlin 2005)
den von Mediatoren aus degranulierten Gewebsmastzellen und Basophilen hervorgerufen. Sind andere Mechanismen für die Freisetzung der Mediatoren verantwortlich, wird von anaphylaktoiden Reaktionen gesprochen. Diese gehen mit den gleichen Symptomen einher, bedürfen aber keiner vorausgehenden Sensibilisierung. Da es in der akuten Schocksituation meistens nicht möglich ist, zwischen anaphylaktischer und anaphylaktoider Pa-
729 8.3 · Transplantationsimmunologie
thogenese zu unterscheiden, wird im klinischen Sprachgebrauch oft nur der Terminus anaphylaktischer Schock verwendet. Zu den relativ häufigen schockauslösenden Allergenen gehören Penicillin und andere β-Laktam-Antibiotika, Insektengifte und Fremdproteine (Pferdeserum, Chymopapain, Latex). Gewöhnliche Inhalationsallergene können bei der Bronchoprovokation gefährlich werden, ebenso andere Antigene nach subkutaner Injektion bei der Immuntherapie. IgE-vermitttelte Anaphylaxie Voraussetzung ist eine hochgradige Sensibilisierung, durch die ein großer Pool von Basophilen und Mastzellen mit den spezifischen IgE-Antikörpern besetzt sind.
freisetzung aus Mastzellen und Basophilen. Zusätzlich und schnell wirken H1-Antihistaminika (z.B. 4 mg Dimetindenmaleat i.v.). Ebenfalls sofort ist mit Volumenzufuhr durch Infusion von physiologischer Kochsalzlösung und mit Sauerstoffbeatmung zu beginnen. Glukokortikoide (120–160 mg Methylprednisolon i.v. im Abstand von 6 Stunden) wirken nicht sofort, helfen aber, den Kreislauf zu stabilisieren. Nach der Erstversorgung ist die Weiterbehandlung auf einer Intensivstation durchzuführen, nötigenfalls mit mechanischer Beatmung. Im Fall einer Insektenstichanaphylaxie sollten betroffene Extremitäten noch vor der Stachelentfernung für einige Zeit abgebunden werden. 8.3
Transplantationsimmunologie
Immunkomplex-vermittelte Anaphylaxie: Bei dieser seltenen,
meistens durch Blut und Blutprodukte verursachten Form entstehen zirkulierende oder zellständige Antigen-Antikörper-Komplexe, die Komplement aktivieren. Dabei werden die als Anaphylatoxine bezeichneten Komplementfragmente C3a und C4a freigesetzt. Anaphylaktoide Reaktionen: Die Auslöser sind Substanzen mit direkter, konzentrationsabhängiger Wirkung auf Mastzellen und das Komplementsystem, da keine immunologischen Me-
chanismen beteiligt sind. Zu den Histaminliberatoren aus Mastzellen gehören Röntgenkontrastmittel, Muskelrelaxanzien, Narkotika, Polymyxin B, Vancomycin, Protaminsulfat und und aggregiertes Gammaglobulin (bei intravenöser Applikation). Man spricht von idiopathischer Anaphylaxie, wenn das auslösende
Agenz nicht gefunden wird. Wirkungsmechanismus der Schockmediatoren: 1. Vasodilatation → Verminderung des venösen Rückflusses →
Blutdruckabfall
Transplantationsimmunologie Histokompatibilität 5 Histokompatibilitäts- oder Transplantationsantigene 5 HLA-System 5 MHC-Klasse-I-Moleküle 5 MHC-Klasse-II-Moleküle 5 Nicht-HLA-Antigene 5 Kompatibilitätstestung 5 HLA-Matching 5 Bestimmung der ABO-Blutgruppe 5 Kreuzprobe Transplantatabstoßung Graft-versus-Host-Krankheit (GVHD) Immunsuppression
8.3.1 Histokompatibilität
2. Permeabilitätssteigerung der kleinen Blutgefäße → Flüssig-
keitsaustritt in die Gewebe → Hypovolämie 3. Kontraktion der glatten Muskulatur → Bronchospasmus, ins-
besondere der Bronchien → Hypoxäme. Klinik. Die Schocksymptome setzen meistens wenige Minuten
nach dem Allergenkontakt ein. Häufig beginnen sie mit einem Wärmegefühl oder Flush und dem Empfinden einer nahen Bedrohung. Der plötzliche Blutdruckabfall führt zum Kreislaufkollaps mit Bewusstseinsverlust, und reflektorischer Tachykardie. Er wird durch den Volumenverlust verstärkt und mündet in ein Schocksyndrom mit kritischem Sauerstoffmangel im Gewebe. Initialsymptom können auch ein Larynxödem oder ein Status asthmaticus sein. Therapie. Sofortige subkutane, notfalls intravenöse Injektion von 0,3–1 mg Adrenalin (1 mg = 1 ml einer 1:1000 verdünnten Adrenalinlösung). Adrenalin wirkt vasokonstriktorisch, antiödematös, und bronchodilatorisch. Außerdem hemmt es die Mediator-
Definition und Determinanten Unter Histokompatibilität versteht man die immunologische Verträglichkeit eines Transplantats im Empfängerorganismus. Sie richtet sich nach dem Grad der genetischen Verwandtschaft zwischen Spender und Empfänger. Diesbezüglich unterscheidet man syngene (isogene), allogene (homologe) und xenogene Transplantate. Syngene Transplantate stammen von einem genetisch identischen Spender, also von einem monozygoten Zwilling, allogene von einem artgleichen, xenogene von einem artfremden Spender. Nur syngene Transplantate werden vollständig toleriert. > Je größer der genetische Unterschied zwischen Spender und Empfänger ist, desto heftiger ist der Trend zur Transplantatabstoßung.
Wenn inkompatible Allotransplantate immunkompetente Lymphozyten enthalten und die Immunabwehr des Empfängers geschwächt ist, kommt es zur Immunreaktion des Transplantats
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730
Kapitel 8 · Krankheiten des Immunsystems
gegen den Wirt (Graft-versus-Host-Reaktion). Diese Konstellation ist nur bei der Transplantation von hämatopoetischen Stammzellen bzw. von Knochenmark gegeben. Histokompatibilitäts- oder Transplantationsantigene HLA-System Die wichtigsten Transplantationsantigene wurden beim Menschen zuerst an den Leukozyten nachgewiesen. Man bezeichnete sie deshalb als HLA(human leucocyte antigen)-Moleküle. Kodiert werden sie von den HLA-Genen am Chromosom 6, wo sie gemeinsam mit anderen Genen den sog. Haupthistokompatibilitätskomplex (MHC: major histocompatibility gene complex) bilden. Die HLA-Gene werden als Haplotyp vererbt, so dass 2 von 4 Geschwistern die Chance haben, HLA-identisch zu sein. Durch eine Vielzahl von Allelen erhält das Muster der HLAGene eine hohe Individualspezifität.
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> Die HLA-Genprodukte sind die MHC-Moleküle der Klassen I und II. Bei Transplantationen stellen sie die maßgeblichen Antigene dar, die zur Vermeidung von Abstoßungsreaktionen möglichst gut übereinstimmen sollten.
Viel größere Bedeutung als im Transplanationswesen haben die MHC-Moleküle jedoch für die adaptive Immunität, bei der sie nicht als Antigene, sondern als antigenpräsentierende Moleküle fungieren (7 Kap. 8.1.2). In dieser Funktion sind sie auch bei den Autoimmunkrankheiten wichtig, weil sie die Autoantigene den autoreaktiven Th-Zellen präsentieren. Mit der Struktur der MHC-Moleküle variiert auch ihre Affinität für antigene Peptide. Daher ist es verständlich, dass diverse Autoimmunkrankheiten mit bestimmten HLA-Genen assoziiert sind (7 unten). MHC-Klasse-I-Moleküle Mit Ausnahme der Erythrozyten weisen alle Körperzellen und die Thrombozyten an ihrer Oberfläche MHC-Moleküle der Klasse I auf. Sie bestehen aus einer von den Loci A, B oder C kodierten hochpolymorphen (d.h. in vielen gentischen Varianten vorkommenden) α-Kette und dem nicht polymorphen β2-Mikroglobulin, dessen Gen auf dem Chromosom 15 liegt. Daraus resultieren auf beiden Allelen zusammen pro Individuum 6 differente MHCGene der Klasse I. Die beiden äußeren Domänen des Moleküls bilden eine Spalte in der ein Peptid aus dem Zellinnern liegt. In den Wänden und am Boden des Spalts ist die Sequenz der Aminosäuren variabel und damit auch die Bindungsfähigkeit für Peptide. MHC-Klasse-II-Moleküle Im Gegensatz zu den MHC-Molekülen der Klasse I werden sie nur von B-Zellen, aktivierten T-Zellen, Monozyten, Makrophagen und dendritischen Zellen exprimiert. Die MHC-II-Moleküle setzen sich ebenfalls aus einer α- und einer β-Kette zusammen. Sie werden von den MHC-Subregionen DR, DQ und DP kodiert, die in dieser Reihenfolge angeordnet sind. Jede der Subregionen hat mehrere funktionale Loci, darunter einen für eine α-Kette.
Für die β-Kette gibt es in der DR-Subregion 2 unterschiedliche Loci, in den Subregionen DQ und DP jeweils nur ein funktionales β-Gen. Jedes Individuum hat demnach auf beiden Allelen zusammen 8 verschiedene Genloci für MHC-II-Moleküle. In der Subregion DQ sind die Gene für beide Ketten polymorph, in den Subregionen DR und DP hauptsächlich die β-Kettengene. Auch die MHC-II-Moleküle bilden mit den äußeren Domänen einen Spalt mit polymorphen Aminosäuresequenzen für die Aufnahme von Peptiden. Nicht-HLA-Antigene Neben den MHC-Genen der Klassen I und II gibt es Minor-Histokompatibilitätsantigene (MiHA), die trotz geringerer antigener Potenz zu Abstoßungsreaktionen führen. Ihre Existenz wird durch die Beobachtung bewiesen, dass auch von HLA-identischen Geschwistern gespendete Allotransplantate abgestoßen werden. Als Fremdantigen wirkt in diesen Fällen das von den kompatiblen MHC-Molekülen präsentierte fremde Peptid. Kompatibilitätstestung HLA-Matching Klinisch relevant sind bei der Organtransplantation die Klasse-IAntigene HLA-A, HLA-B, HLA-C und die KLasse-II-Antigene HLADR, die an Spender- und Empfängerlymphozyten bestimmt werden. Das geschieht hauptsächlich bei der Spenderauswahl für Nierentransplantationen. Wegen des Spendermangels einerseits und der Eilbedürftigkeit der Transplantation andererseits wird bei anderen Organtransplantationen auf das HLA-Matching verzichtet. Dieses Vorgehen ist möglich geworden, seit ein großes Arsenal immunsuppressiver Pharmaka zur Verfügung steht, die Abstoßungsreaktionen unterdrücken. Bestimmung der ABO-Blutgruppen Die Übereinstimmung der ABO-Gruppen ist bei jeder Transplantation obligatorisch. Kreuzprobe In jedem Fall ist das Empfängerserum auf transplantationsrelevante Antikörper zu testen. Das geschieht mit dem Mikrolymphozytentoxizitätstest (LCT). Bei positivem Testergebnis muss die Transplantation unterbleiben, weil sonst eine hyperakute Abstoßungsreaktion droht. 8.3.2 Transplantatabstoßung Hyperakute Abstoßung Beginnt innerhalb von Minuten oder Stunden, stets vor Ablauf des ersten Tages nach der Transplantation. Verantwortlich für die stürmische Abwehrreaktion sind präformierte, komplementaktivierende HLA-Antikörper des Empfängers, die sich z.B. nach vorausgegangenen Bluttransfusionen oder Schwangerschaften gebildet haben können.
731 8.3 · Transplantationsimmunologie
Solche Antikörper greifen das Gefäßendothel des Transplantats an, aktivieren die Gerinnungskaskade und führen durch Thrombosierung der Gefäße schnell zu ischämischen Transplantatnekrose. Durch Immunsuppressiva ist dieser Ablauf nicht zu stoppen. Akute Abstoßung Setzt gewöhnlich zwischen dem 5. und 90. Tag nach der Transplantation, in den meisten Fällen mit Fieber ein. Das Transplantat reagiert mit lokalen Entzündungszeichen (Ödem, zelluläre Infiltration, Funktionsverlust und Nekrose). In diesem Fall handelt es sich nicht um eine humorale, sondern um eine zelluläre Abwehrreaktion. Zwei Wege gibt es, auf denen dazu Antigene des Spenders den T-Zellen des Empfängers präsentiert werden können: 4 Ein Weg ist die Übertragung antigenpräsentierender dendritischer Zellen des Spenders auf den Empfänger, bei dem sie im lymphatischen Gewebe sesshaft werden und mit allogenen MHC-Molekülen spezifische CD8+-T-Zellen des Empfängers aktivieren. Diese treten dann ins Transplantat über und verrichten ihr Zerstörungswerk. 4 Der zweite Weg ist die Aufnahme von Proteinen, inklusive MCH-Molekülen des Spenders durch antigenpräsentierende dendritische Zellen des Empfängers. Nach Prozessierung des antigenen Materials werden daraus den spezifischen T-Zellen des Empfängers Peptide präsentiert. Mit immunsuppressiven Pharmaka lässt sich die akute Abstoßungsreaktion meistens beherrschen. Chronische Abstoßung Man erkennt sie an einem allmählichen Nachlassen der Transplantatfunktionen, das Monate oder Jahre nach der Übertragung beginnt und sich durch Immunsuppressiva schlecht beeinflussen lässt. Im Transplantat sind meistens keine Zellinfiltrate zu finden, nicht selten aber Gefäßobliterationen und Narben. An der Niere entwickelt sich eine ausgeprägte Arteriolosklerose, die oft mit interstitieller Fibrose, Glomerulopathie und fokaler Tubulusatrophie verbunden ist. Am Herzen resultiert eine der Arteriosklerose ähnliche koronare Gefäßerkrankung. Die Lunge zeigt eine Bronchiolitis obliterans. Die Leber entwickelt eine progressive Cholestase. Die Pathogenese der chronischen Abstoßung ist nicht genau geklärt. Teils dürfte es sich um Vernarbungsprozesse nach rezidivierenden akuten Abstoßungsschüben, teils um schleichende Immunreaktionen handeln.
bilisiert und durch Leukopherese aus dem peripheren Blut gewonnen. Pathomechanismus. Die GVHD ist Ausdruck einer immunolo-
gischen Reaktion des Transplantats gegen den Empfänger und damit das Gegenstück zur Transplantatabstoßung. Induziert wird sie durch reife Spender-T-Zellen, die das Transplantat kontaminieren und von antigenpräsentierenden Zellen des Empfängers aktiviert werden. Die dabei notwendige Co-Stimulation wird durch Zytokine begünstigt, die sich bei der Konditionierung des Spenders in den Geweben angesammelt haben. Es kommt zum immunologischen Angriff von zytotoxischen CD8+-T-Zellen und T-Helferzellen auf HLA- und Minor-Antigene an körpereignen Strukturen, ganz ähnlich wie bei den Autoimmunkrankheiten. Patienten mit Leukämie oder lymphatischen Neoplasien können von einer Graft-versus-Leukämie-Reaktion profitieren. Klinik. Akute GVHD: Sie beginnt meistens zwischen dem 10. und 28. Tag
nach der Transplantation und befällt die Haut, den Gastrointestinaltrakt und die Leber. Der klinische Schweregrad reicht von einem leichten Hautausschlag an Handflächen und Fußsohlen, verbunden mit geringen Leberfunktionsstörungen und Abdominalbeschwerden, bis zu einem lebensbedrohlichen Krankheitsbild mit generalisierter exfoliativer Dermatitis, profusen Diarrhöen, schweren Bauchkrämpfen und Ulzerationen im distalen Dünndarm sowie einem Ikterus, dem eine nekrotisierende Cholangiolitis zugrunde liegt. Chronische GVHD: Die Symptome setzen 3–15 Monate nach der Transplantation ein, entweder im Anschluss an eine akute GVHD oder de novo. Die klinischen Manifestationen differieren von denen der akuten GVHD und erinnern an verschiedene Kollagenkrankheiten mit autoimmunologischer Pathogenese. Betroffen sind 30–40% der transplantierten Patienten. In der Reihenfolge abnehmender Häufigkeit kommt es zu Hautveränderungen (Pigmentanomalien, Erythem, Sklerodermie), Leberfunktionsstörungen (Entzündung der Periportalfelder mit Cholestase), oraler Mukositis, okularem Sicca-Syndrom, Ösophagitis, Serositis und Myositis. Als Spätfolgen drohen Gelenkkontrakturen und Verkrüppelung. Besonders gefährdet sind die Patienten durch Infektionen mit einigen Viren (CMV, Herpes simplex, Varizellen-Zoster-Virus) und mit grampositiven Bakterien. ! Bedrohlichste Komplikation ist eine meistens durch das CMV verursachte interstitielle Pneumonie.
8.3.3 Graft-versus-Host-Krankheit (GVHD)
8.3.4 Immunsuppression
Definition. Es handelt sich um eine häufige immunologische Komplikation, die nur nach Transplantation von Knochenmark oder hämatopoetischen Stammzellen auftritt. Letztere werden mit dem Wachstumsfaktor G-CSF aus dem Knochenmark mo-
Indikationen. Bei Organtransplantationen zur Prophylaxe und
Therapie der Transplantatabstoßung. Bei der Transfusion von Knochenmark oder hämatopoetischen Stammzellen zur Prophylaxe und Therapie der Graft-versus-Host-Krankheit.
8
732
Kapitel 8 · Krankheiten des Immunsystems
Immunsuppressive Medikamente Glukokortikoide: Schalten die Gene der meisten Zytokine aus und hemmen dadurch die Proliferation aktivierter T-Lymphozyten. Eine längere Überdosierung führt zum Cushing-Syndrom. Calineurin-Inhibitoren: Ciclosporin und Tacrolimus. Beide hemmen Calcineurin, eine calciumabhängige Proteinphosphatase, und damit die Signaltransduktion in den T-Zellen. Auf diese Weise werden T-Zell-abhängige Immunreaktionen unterdrückt. In der Anwendung sind beide durch Nephrotoxizität limitiert. Antiproliferative und antimetabolische Pharmaka:
8
4 Sirolimus (Rapamycin): Hemmt die Aktivierung der T-Zellen durch Zytokine. Seine Wirkung dauert nach dem Absetzen lange an. Es könnte demnach Immuntoleranz erzeugen. Da es nicht nephrotoxisch ist, kann es in Kombinationen die Calcineurin-Inhibitoren ersetzen. 4 Everolimus: Dem Sirolimus chemisch und in der Wirkung ähnlich. Erreicht aber wegen kürzerer Halbwertszeit schneller konstante Spiegel. 4 Azathioprin: Seine Metaboliten hemmen die Purin-Neusynthese und damit die Zellproliferation. Es wird bei der Prävention der Transplantatabstoßung als Zusatzmittel eingesetzt. 4 Mycofenolatmofetil (MMF): Der Metabolit Mycophenolsäure hemmt das Enzym Inosinmonophosphat-Dehydrogenase und damit die Synthese von Guaninnukleotid. Besonders unterdrückt wird die Proliferation von B- und T-Zellen. Das Mittel wird zur Prophylaxe der Transplantatabstoßung eingesetzt. Antikörper: Mit ihnen lassen sich wichtige Oberflächenmoleküle
der T-Lymphozyten ausschalten. 4 Antithymozytenglobulin (ATG): Es wird vom Kaninchen gewonnen und enthält zytotoxische Antikörper gegen die Marker CD2, CD3, CD4, CD8, CD11a, CD25, CD44, CD45 und gegen MHC-Moleküle der Klassen I und II. Es wird bei akuter Abstoßung von Nierentransplantaten eingesetzt. Es kann als Fremdprotein Antikörper gegen sich induzieren und zur Serumkrankheit führen. 4 Muromonab-CD3 (OKT3): Der monoklonale Mäuseantikörper ist gegen eine Kette im Proteinkomplex CD3 gerichtet, der neben dem T-Zellrezeptor liegt und der Signalübertragung dient. Der T-Zellrezeptor wird internalisiert und damit ausgeschaltet. Die T-Zellen verschwinden innerhalb von Minuten aus der Zirkulation. Es kommt dabei zu einem »cytokine releasing syndrome« mit Schüttelfrost und Fieber, dem mit Glukokortikoiden vorzubeugen ist. Anwendung bei akuten Abstoßungsreaktionen. Humanisierte monoklonale Antikörper: 4 Anti-CD3-Antikörper: Sie sind besser verträglich als die Mäu-
seantikörper gegen CD3. 4 Anti-CD25-Antikörper: Die beiden etwas unterschiedlichen Präparate heißen Daclizumab und Basiliximab. Beide greifen am Rezeptor für Interleukin-2 an. Anwendung bei akuter Abstoßung.
Immunsuppression bei Organtransplantation Zu unterscheiden ist zwischen: 4 Basisimmunsuppression und 4 Therapie bei akuter Abstoßung. Zu Beginn wird eine höher dosierte Induktionsbehandlung durchgeführt, um das Angehen des Transplantats zu sichern. Dazu werden hochdosiertes Methylprednisolon i.v. in Kombination mit Ciclosporin oder Tacrolimus eingesetzt. In der Basistherapie werden z.B. niedrig dosierte Glukokortikoide mit Ciclosporin oder MMF kombiniert. Bei Abstoßungszeichen wird hochdosiertes Methylprednisolon injiziert und mit einem der Antikörperpräparate kombiniert. Gegen die Abstoßung sind in zweiter Linie Azathioprin und Sirolimus wirksam. Bei den verschiedenen Organtransplantationen variieren die Behandlungsprotokolle. Immunsuppression bei Graft-versus-Host-Krankheit In der Induktionsphase ist hoch dosiertes Methylprednisolon das Mittel der Wahl, nötigenfalls ergänzt durch einen der humanisierten monoklonalen Antikörper. In der Langzeitbehandlung werden Prednison und Ciclosporin im täglichen Wechsel gegeben. Anders als nach Organtransplantationen ist bei Knochenmarktransplantierten keine unbefristete immunsuppressive Behandlung erforderlich. Nach 2–3 Jahren macht die chronische GVHD allmählich einer immunologischen Toleranz gegen den Empfänger Platz, deren Mechanismus nicht geklärt ist. Vermutlich werden reaktive T-Zellen, die aus den transplantierten Stammzellen hervorgehen, dann bereits vor der Ausreifung eliminiert. 8.4
Autoimmunkrankheiten Autoimmunkrankheiten Systemischer Lupus erythematodes (SLE) Sklerodermie Sjögren-Syndrom Dermatomyositis Polyarteriitis nodosa (PAN) Churg-Strauss-Syndrom Wegener Granulomatose Arteriitis temporalis Polymyalgia rheumatica
8.4.1 Autoimmunität Definition. Unter Autoimmunität versteht man humorale und
zelluläre Immunreaktionen gegen Antigene der eigenen Körpersubstanz.
733 8.4 · Autoimmunkrankheiten
Ätiologie. Genetische Disposition: Viele Autoimmunkrankheiten treten
familiär gehäuft auf und sind mehr oder weniger eng mit bestimmten HLA-Genotypen assoziiert. Da monozygote Zwillinge im Höchstfall zu 60% erkranken, müssen bei der Entstehung dieser Krankheiten erbliche und Umweltfaktoren zusammenwirken. Es ist naheliegend anzunehmen, dass die HLA-Moleküle keine unbeteiligten genetischen Marker sind, sondern selbst an der Autoimmunisierung teilnehmen. Denn von ihnen werden alle antigenen Peptide präsentiert, wobei es von ihrer sehr polymorphen Proteinstruktur abhängt, welche Peptide sie binden können. Für einige Autoimmunkrankheiten sind die mit ihnen assoziierten HLA-Antigene und das mit diesen Markern verbundene relative Erkrankungsrisiko in . Tab. 8.2 angegeben. Mit verfeinerter gentechnologischer Typisierung lassen sich die assoziierten HLAAllele noch differenzierter erfassen. Ein zweites Allel kann in manchen Fällen die genetische Disposition verstärken oder wieder aufheben. Exogene Kausalfaktoren: Die äußeren Bedingungen, unter denen Autoimmunität auftritt bzw. die immunologische Selbsttoleranz aufgehoben wird, sind noch weitgehend ungeklärt. In Betracht kommen Virusinfekte, Gewebezerstörungen (wie beim Dressler-Syndrom nach Herzinfarkt) und einige Pharmaka, wie Procainamid und Methyldopa, die Autoimmunphänomene induzieren können. Pathogenetische Mechanismen. Da die klinischen Manifestationen der Autoimmunität stark voneinander abweichen, dürfte . Tabelle 8.2. Assoziation von HLA-Antigenen und Autoimmunkrankheiten
Krankheit
HLA-Marker
Relatives Risiko (in %)
Typ-1-Diabetes
DQ3.2(DQw8) DR3
8,0 3,3
Systemischer Lupus erythematodes
DR2/DQ DR3
3,5 3,0
Sjögren-Syndrom
DR3
6,0
Rheumatoide Arthritis (RA)
Dw4(DR4) Dw14(DR4)
6,1 4,6
Juvenile RA
Dw4(DR4) Dw14(DR4)
12,9 11,3
Morbus Bechterew
B27
87,0
Morbus Reiter
B37
37,0
Zöliakie
DR3 oder DR 5/7
10,8
Morbus Basedow
DR3
3,3
Multiple Sklerose
Dw2(DR2)
2,7
Myasthenia gravis
DR3
3,3
Pemphigus vulgaris
Dq10(DR4)
14,4
auch ihre Pathogenese uneinheitlich sein. Einige Hypothesen zur Autoimmunisierung seien genannt. Persistierende autoreaktive T-Zellen: Im Abschnitt über die immunologische Toleranz wurde dargelegt, dass autoreaktive Tund B-Lymphozyten zum großen Teil schon pränatal im Thymus bzw. lymphatischen Gewebe eliminiert werden (7 Kap. 8.1.2). Es bleiben aber postnatal Immunzellen mit mittlerer und schwacher Bindungskraft für Autoantigene zurück, die in der Peripherie eliminiert oder supprimiert werden müssen. Das geschieht hauptsächlich durch Suppressor-CD8+-T-Zellen. Man kann sich vorstellen, dass Störungen der peripheren Kontrolle autoreaktiver T-Zellen zu diversen Autoimmunkrankheiten führen. Unspezifisch gefördert werden Autoimmunreaktionen von Zytokinen (NF-γ und TNF-α) in Entzündungsherden. 4 Abkapselung oder ungenügende Expression des Autoantigens: Die korrespondierenden T-Zellen würden erhalten bleiben, wenn im vulnerablen Stadium ihrer Differenzierung im Thymus der zur Elimination notwendige Antigenkontakt unterbleibt oder zu schwach ist. 4 Störung des Deletionsmechanismus: Autoantigene T-Zellen erleiden im Thymus beim Antigenkontakt einen programmierten Zelltod (Apoptosis). Dazu ist anscheinend ein CoSignal nötig, das von der antigenpräsentierenden Zelle auf ein bestimmtes Oberflächenmolekül der T-Zelle übertragen wird. Defekte der Co-Stimulation könnten das Überleben diverser autoreaktiver T-Zellen erklären. Entstehung autoreaktiver B-Zellen durch somatische Mutation:
In naiven B-Zellen findet nach dem Antigenkontakt an den Genen für die variablen Abschnitte der Antigenbindungsstellen eine Hypermutation statt, bei der autoreaktive B-Zellen entstehen könnten. Veränderung körpereigener Antigene: Ebenso wie auf Fremdantigene spricht das Immunsystem auf neue Antigendeterminanten in der körpereigenen Substanz an. Diese entstehen wahrscheinlich bei der Denaturierung von Zellen und Geweben durch exogene Faktoren (Bestrahlung, Chemikalien, Hitze, Krankheitserreger) und bei Nekrosen. Mit der Bildung von Neoantigenen ist auch bei der Karzinogenese zu rechnen. Dem Immunsystem obliegt es dann, die mutierten Zellen zu vernichten. Bei persistierenden Viruserkrankungen werden virusinfizierte Zellen durch zytotoxische CD8+-T-Zellen abgetötet. Immunologische Kreuzreaktionen: Bei Immunreaktionen gegen exogene Antigene, die mit körpereigenen strukturverwandt sind (molekulare Mimikry), kann es vorkommen, dass die produzierten Antikörper und zytotoxischen T-Zellen auch mit Autoantigenen in Reaktion treten, selbst wenn sie zu ihnen nicht so genau passen wie das induzierende Fremdantigen. Klinik. Die Immunabwehr von Infektionen geht meistens mit Allgemeinsymptomen wie Krankheitsgefühl, Schwäche, Fieber, Blutsenkungsbeschleunigung und Blutbildveränderungen ein-
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734
8
Kapitel 8 · Krankheiten des Immunsystems
her. Ähnlich in Mitleidenschaft gezogen ist bei den meisten systemischen Autoimmunkrankheiten der Allgemeinzustand der Patienten. Da die organlimitierten Autoimmunprozesse nicht mit entzündlichen Allgemeinerscheinungen verbunden sind, hat es lange gedauert und experimenteller Untersuchungen bedurft, bevor ihre Immunpathogene erkannt wurde.
8.4.2 Systemischer Lupus erythematodes (SLE)
Diagnostik. Die meisten Autoimmunkrankheiten sind durch das
Vorkommen und Häufigkeit. In den USA und in Nordeuropa
Auftreten bestimmter Autoantikörper gekennzeichnet. Viele der Autoantikörper tragen durch eine Reaktion mit Oberflächenund Matrixantigenen oder durch die Bildung komplementaktivierender Immunkomplexe entscheidend zur Pathogenese bei. Doch üben nicht alle eine schädigende Wirkung aus. Viele stellen nur Indikatoren des autoimmunologischen Geschehens dar, das sowohl die Produktion von Autoantikörpern als auch zellvermittelte Immunreaktionen umfassen kann. Auf zellvermittelte Immunreaktionen weisen Ansammlungen von Makrophagen und T-Zellen im Gewebe hin. Die Identifizierung autoreaktiver T-Zellen bereitet aber große Schwierigkeiten und spielt in der diagnostischen Praxis keine Rolle.
variiert die Prävalenz des SLE zwischen 15 und 50 Fällen auf 100.000 Einwohner. Frauen erkranken 9-mal häufiger als Männer. Die meisten weiblichen Patienten sind im gebärfähigen Alter.
Autoimmunkrankheiten Die wichtigsten Autoimmunkrankheiten sind in . Tab. 8.3 zusammengestellt.
. Tabelle 8.3. Autoimmunkrankheiten Organspezifische Autoimmunkrankheiten
5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
Morbus Basedow Hashimoto-Thyreoiditis Diabetes mellitus Typ 1 autoimmuner Morbus Addison Polyglanduläres Autoimmunsyndrom Autoimmunhepatitis Goodpasture-Syndrom perniziöse Anämie autoimmunhämolytische Anämie autoimmune Thrombozytopenie Pemphigus vulgaris Myasthenia gravis multiple Sklerose sympathische Ophthalmie
Systemische Autoimmunkrankheiten (7 Kap. 8.4.2 bis 8.4.10)
5 5 5 5 5 5 5 5 5
systemischer Lupus erythematodes Sklerodermie Sjögren-Syndrom Dermatomyositis Polyarteriitis nodosa (PAN) Wegener-Granulomatose rheumatoide Arthritis Polymyalgia rheumatica Arteriitis temporalis
Definition. Generalisierte Autoimmunkrankheit, die mit fieber-
haften Schüben verläuft und durch Autoantikörper und Immunkomplexe zu entzündlichen Läsionen an Haut, Gelenken, inneren Organen und am Nervensystem führt.
Ätiologie und Pathogenese. Genetische Disposition: Sehr deutlich ist sie an den Konkordanz-
raten des SLE bei monozygoten Zwillingen abzulesen, die 50–60% betragen. Die HLA-Konstellation DR3/DQ auf einem Haplotyp erhöht das Risiko für SLE zweifach, auf beiden Haplotypen vierbis sechsfach. Anomalien an den Genen der Komplementfaktoren Clq, C2 und C4 beeinträchtigen die Funktion des Komplementsystem bei der Clearance von Immunkomplexen und Zelldetritus. Am Chromosom 16 ist ein weiteres disponierendes Gen vorhanden. Anscheinend ist auch die periphere Suppression von autoreaktiven Immunzellen gestört. Exogene Faktoren: Durch UV-Licht werden häufig Schübe des SLE ausgelöst. Diesen Effekt erklärt man mit gesteigerter Apoptose von Keratinozyten und der damit verbundenen Freisetzung von Kernmaterial. Diverse Pharmaka (Hydralazin, Propafenon, Betablocker, ACE-Blocker, Carbamazepin u.a.) können ein Lupus-Syndrom induzieren. Hormonale Einflüsse: Besondere Bedeutung kommt den Östrogenen zu, da Frauen, die im gebärfähigen Alter sind oder Östrogene einnehmen eklatant häufiger an SLE erkranken als Männer. Östrogene binden an T- und B-Zellen und scheinen sie zu stimulieren. Pathogene Immunphänomene: Durch Th2-Zellen aktivierte B-Lymphozyten produzieren diverse Autoantikörper gegen Gewebestrukturen. Außerdem entstehen Immunkomplexe, die lange zirkulieren und durch Komplementaktivierung zur Freisetzung von Chemotaxinen und vasoaktiven Peptiden führen. Die meisten Autoantikörper sind gegen Kernmaterial aus zerstörten Zellen gerichtet. Etliche dieser Antigene werden mit dem Test auf antinukleäre Faktoren (ANA) erfasst, der bei 98% der Patienten positiv ausfällt. Spezifische Antikörper sind gegen Histone sowie gegen Komplexe aus DNA/Protein und RNA/Protein gerichtet. Insgesamt konnten über ein Dutzend unterschiedlicher Autoantikörper identifiziert werden. Klinik. Initialsymptome
In vielen Fällen beginnt der SLE akut mit Fieber, Abgeschlagenheit, Gewichtsverlust, Arthralgien, typischen Hautveränderungen und anderen Organmanifestationen. Nicht selten geht dem
735 8.4 · Autoimmunkrankheiten
fieberhaften Ausbruch der Krankheit aber ein längeres oligosymptomatisches Stadium voraus. So kann sich ein SLE hinter einer chronischen Polyarthritis, einem makulopapulösen Hautausschlag, einer Alopezie und einem Raynaud-Phänomen verbergen. Auch Thrombozytopenie, Anämie, renale Hypertonie und neurologische Störungen kommen als Frühsymptome vor. Organmanifestationen
Das Spektrum der Organmanifestationen ist variabel, ebenso der Schweregrad der Erkrankung, der leicht, mittelschwer, schwer oder fulminant sein kann. Oft nimmt die Zahl der betroffenen Organe im Krankheitsverlauf zu. Haut: Folgende Erscheinungsbilder sind zu unterscheiden: 4 Akuter kutaner LE: Schmetterlingsförmiges Gesichtserythem, fixierte urtikarielle Plaques oder makulopapulöse Effloreszenzen an sonnenexponierten Stellen, selten auch bullöse Läsionen (. Abb. 8.10) und stets mit systemischen Manifestationen verbunden. 4 Subakuter kutaner LE: Kleinknotiger, schuppender, psoriasiformer oder annulärer Ausschlag, überwiegend an lichtexponierten Stellen. Die Mehrzahl der Patienten hat systemische Manifestationen und antinukleäre Antikörper, doch ist der
klinische Verlauf relativ gutartig, da Nieren und Nervensystem verschont bleiben. 4 Chronisch-diskoider LE: Scheibenförmige Herde an Wangen, Ohrmuscheln und auf dem behaarten Kopf, die 3 Stadien durchlaufen (. Abb. 8.11): 5 erhabenes, infiltriertes Erythem 5 Schuppung und Hyperkeratose 5 Atrophie mit Vernarbung der Haarfollikel und Depigmentierung. Analoge Läsionen kommen in 5–15% der Fälle an der Mundschleimhaut vor. Der diskoide LE bleibt bei 90% der Patienten auf die Haut beschränkt, bei den übrigen erfolgt der Übergang in einen SLE. 4 Unspezifische kutane Läsionen: Raynaud-Phänomen, Livedo reticularis (netzförmige Hautzyanose), Vaskulitis mit kleinen nekrotischen Ulzera an Handflächen und Fußsohlen, Nagelwallveränderungen (Rötungen mit Atrophien und Teleangiektasien), nicht vernarbende diffuse Alopezie, Pannikulitis mit subkutanen schmerzhaften Knoten unter intakter Haut. Gelenke: Fast alle Patienten leiden an Arthralgien und Myalgien. Hinzu kommen oft sehr schmerzhafte Arthritiden, hauptsächlich der Finger-, Hand- und Kniegelenke. Im Gegensatz zur rheumatoiden Arthritis bleiben Knorpelerosionen aus. Die Läsionen betreffen vorwiegend Gelenkkapseln und Sehnenscheiden und können zu reponiblen Deviationen führen. Als Komplikation der Steroidtherapie kommen schmerzhafte ischämische Knochennekrosen vor, namentlich im Bereich der großen Gelenke. Nieren: Bioptisch sind fast immer Läsionen festzustellen, doch
werden sie nur bei 50% der Patienten klinisch manifest. Man findet mesangiale, fokale, segmentale, diffuse und membranöse Glomerulonephritiden mit Niederschlägen von Immunkomplexen. Klinische Manifestationen sind Albuminurie (auch mit ne-
. Abb. 8.10. Systemischer Lupus erythematodes. Schmetterlingsförmiges entzündliches Erythem der Gesichtshaut mit Schuppung (aus BraunFalco et al.: Dermatologie und Veneralogie. Springer, Berlin 2005)
. Abb. 8.11. Diskoider Lupus erythematodes. Hyperkeratotische Herde, Hypopigmentierung und Mutilation im Gesicht (aus Braun-Falco et al.: Dermatologie und Veneralogie. Springer, Berlin 2005)
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736
Kapitel 8 · Krankheiten des Immunsystems
phrotischem Syndrom), Hypertonie, Azotämie und fortschreitende Niereninsuffizienz. Zum terminalen Nierenversagen kommt es in 5–10% der Fälle. Nervensystem: Zu den Symptomen der ZNS-Beteiligung gehören Depressionen, Angstzustände, Wahrnehmungsstörungen, Psychosen, Krampfanfälle, fokale Hirninfarkte und Hirnnervenlähmungen. Am Rückenmark kann es zur Querschnittsmyelitis, am peripheren Nervensystem zur sensomotorischen Neuropathie kommen. Von schweren neuropsychiatrischen Komplika-
tionen sind etwa 35% der Kranken betroffen. Augen: Beteiligt in annähernd 15% der Fälle mit retinaler Vaskulitis, Konjunktivitis, Episkleritis oder Sicca-Syndrom. Lungen: Pleuritis und Pneumonitis im Akutstadium häufig. Re-
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lativ selten resultiert eine Arteriitis pulmonalis mit pulmonaler Hypertonie. Lungenembolien bei Lupus-Antikoagulanz-Thrombose-Syndrom (7 Kap. 7.4). Herz: Perikarditis und Pleuritis sind als kombinierte Manifesta– tionen einer Serositis oft die Initialsymptome und stets von hohem Fieber begleitet. Myokarditis und Endokarditis (Libman-
Sacks) kommen selten vor. Letztere erzeugt meistens nur diskrete Klappenläsionen, disponiert aber zur infektiösen Endokarditis. Gefäße: Erhöhtes Thromboembolierisiko in Arterien und Venen aller Größen durch Antiphospholipid-Antikörper einschließlich Lupusantikoagulanz (7 Kap. 7.4). Vaskulitische Läsionen in diversen Organen. Arteritiden großer Arterien entwickeln sich selten. Gastrointestinaltrakt: Peritonitis im Rahmen einer Serositis, Vas-
kulitis mit ischämischen Darmnekrosen und Pankreatitis. In 30% der Fälle leichte Leberfunktionsstörungen. Blutbildendes und lymphatisches System: In akuten Phasen Anämie der chronischen Krankheiten (7 Kap. 7.2). Selten immunhä-
molytische Anämien mit positivem Coombs-Test. Bei etwa 50% der Patienten Leukopenie ( Die Fibrosierung von Sehnenscheiden und Bändern
kann zu peripheren Nervenschäden und zum Karpaltunnelsyndrom führen. Viszerale Manifestationen: 4 Gastrointestinaltrakt: Dieser ist bei 80% der Patienten be-
troffen, oft schon in einem frühen Stadium beider Formen der SSc. Am häufigsten sind Motilitätsstörungen des Ösophagus durch Fibrosierung seiner unteren zwei Drittel. Sie lassen sich schon vor den ersten Symptomen radiologisch nachweisen und haben häufig eine Refluxösophagitis mit Ulzerationen und stenosierenden Narben zur Folge.
sitiv, auch bei der lokalisierten Sklerodermie. Hohe Spezifität haben für die diffuse SSc Antikörper gegen SCL-70 (Abbauprodukt der DNA-Topoisomerase 1), für die limitierte SSc, insbesondere die CREST-Variante, Anti-Centromeren-Antikörper (gegen Proteinkomponenten des Centromers gerichtet). Antikörper gegen SCL-70 kommen nur sehr selten zusammen mit Antikörpern gegen Centromere vor. BKS, Serumelektropherogramm, Rheumafaktor: Die BKS ist oft beschleunigt. Eine Hypergammaglobulinämie haben 50% der Patienten, einen positiven Rheumafaktor-Test etwa 20%. Blutbild: Oft besteht eine hyporegeneratorische Anämie wie bei anderen chronischen Krankheiten. Der Nierenbefall kann
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Kapitel 8 · Krankheiten des Immunsystems
durch Fibringerinnsel in den Arteriolen zu einer mikroangiopathischen hämolytischen Anämie führen, der Befall des Gastrointestinaltrakts zum Eisenmangel und durch sekundäre Malabsorption zu einem Defizit an Vitamin B12 und Folsäure. Bei der lokalisierten Sklerodermie, insbesondere der generalisierten Morphaea besteht oft eine Eosinophilie. Urinanalyse und Serumkreatinin: Hämaturie, Proteinurie und progredienter Anstieg des Serumkreatinins zeigen eine renale Manifestation der diffusen SSc an.
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Diagnostik. Das vollständige Krankheitsbild mit Raynaud-Phänomen, typischen Hautläsionen und viszeralen Manifestationen ist leicht zu erkennen. Beim isolierten Raynaud-Phänomen, das diverse Ursachen haben kann, zeigen Anti-Centromeren-Antikörper eine beginnende Sklerodermie an. Die lokalisierte gutartige Sklerodermie lässt sich durch ihre herdförmigen asymmetrischen Läsionen abgrenzen. Im Frühstadium kann die SSc mit einem systemischem Lupus erythematodes, einer rheumatoiden Arthritis oder einer Polymyositis ähneln. Ausnahmsweise treten die viszeralen Manifestationen der SSc auch ohne Hauterscheinungen auf. Zu einer starken diffusen Hautverdickung führt das Skleromyxödem Arndt-Gottron, das auf einer Paraproteinämie beruht, durch die Ablagerung saurer Mukopolysaccharide gekennzeichnet ist und in ein Myelom übergehen kann. Therapie. Bisher gibt es keine bewährte Strategie, die Progredienz
der SSc aufzuhalten. Potente Immunsuppressiva wie hoch dosierte Glukokortikoide, Methotrexat, Ciclosporin, Azathioprin und Chlorambucil haben enttäuscht und Zweifel an einer ausschließlich immunpathologischen Genese der SSc geweckt. Ungesichert ist auch die Wirkung von Colchicin, γ-Interferon, Thymopentin, Isoretinoid, N-Azetylcystein und D-Penicillamin. Apherese und Photopherese werden erprobt. Bei langfristiger Anwendung der meisten dieser Mittel fallen erhebliche Nebenwirkungen ins Gewicht. Die meisten Behandlungsversuche werden mit D-Penicillamin (0,5–1 g tgl.) unternommen. Im ödematösen Initialstadium, bei Arthritiden und Lungenfibrose haben Glukokortikoide einen günstigen Effekt. Eine Erweichung der Skleroseherde kann mit der PUVA-Therapie gelingen, wobei sich die Applikation des Photosensibilisators (8-Methoxy-Psoralen) von außen als Badezusatz bewährt hat. Manchmal werden therapeutische Effekte durch passagere Spontanremissionen und durch den Übergang in die atrophische Spätphase vorgetäuscht. Wichtig und hilfreich sind für die Patienten folgende palliative Maßnahmen: Physiotherapie zur Verhinderung von Kontrakturen, Schutz vor Abkühlung und Verletzung der Hände, optimale Wundversorgung bei Ulzerationen an den Fingern, Kalziumantagonisten (Nifedipin, Diltiazem) oder α-Rezeptorenblocker (Prazosin, Doxazosin) gegen das Raynaud-Phänomen, Protonenblocker (Omeprazol u.a.) bei Refluxbeschwerden und Ösophagitis. Eine sich entwickelnde Hypertonie bedarf konsequenter Behandlung mit ACE-Blockern.
Verlauf und Prognose. Der Verlauf ist variabel und zu Beginn der
Sklerodermie nicht sicher vorherzusehen. Patienten mit limitierten SSc haben eine gute Prognose bis auf jene 10%, die nach 10–20 Jahren an primärer pulmonaler Hypertonie erkranken. Bei der diffusen SSc ist die Prognose vom Ausmaß der viszeralen Beteiligung abhängig und deutlich schlechter. In einer Studie betrug die kumulative 10-Jahresüberlebensrate bei Nierenbefall 30%, bei Lungenfibrose 50% und bei Patienten ohne Herz-, Lungen- und Nierenbeteiligung 71%. Haupttodesursachen sind kardiale, renale und pulmonale Komplikationen. Nach langer Krankheitsdauer kommt ein spontanes Erweichen der Hautläsionen vor, doch kann die Sklerodaktylie bestehen bleiben. 8.4.4 Sjögren-Syndrom Definition. Chronische Autoimmunkrankheit der Tränen- und
Speicheldrüsen mit Trockenheit der Augen und des Mundes, die weitere exokrine Drüsen, aber auch extraglanduläre Organe und Gewebe befallen kann. Vorkommen und Häufigkeit. Prävalenz und Inzidenz des Sjögren-Syndroms sind nicht bekannt. Die primäre und die sekundäre Form kommen etwa gleich häufig vor, letztere bei 10–30% der Patienten mit den genannten anderen Autoimmunkrankheiten. Das Sjögren-Syndrom kann in jedem Lebensalter auftreten. Frauen erkranken häufiger als Männer (9:1). Betroffen sind alle Altersklassen, in erster Linie Frauen im Klimakterium. Klassifizierung. Primäres Sjögren-Syndrom: Eigenständige Erkrankung, die bei ungefähr jedem dritten Patienten mit systemischen Manifestationen einhergeht. Sekundäres Sjögren-Syndrom: Mit anderen Autoimmunkrankheiten assoziiert: systemischem Lupus erythematodes, rheumatoider Arthritis, Sklerodermie oder Dermatomyositis. Ätiologie und Pathogenese. Die Assoziation des Sjögren-Syndroms mit den HLA-Antigenen DR3 und DQA1*0501 lässt auf eine genetische Disposition schließen, die durch unbekannte exogene Kausalfaktoren realisiert wird. Die betroffenen Drüsen sind lymphozytär infiltriert, überwiegend von T-Helferzellen, die anscheinend durch antigenpräsentierende Epithelzellen aktiviert werden. Antigenität könnte das Drüsenepithel durch die Infektion mit einem Retrovirus erlangen. Der lymphozytäre Entzündungsprozess führt allmählich zur Atrophie und Fibrose der Drüsen und zu einer erheblichen Reduzierung ihrer Sekretionsleistung. Ein weiteres Autoimmunphänomen ist die Produktion diverser Autoantikörper. Zu diesen gehören die bei 60% der Patienten vorhandenen Antikörper gegen extrahierbare nukleäre Antigene (ENA), darunter Ro/SS-A und La/SS-B. Bei 80% der Patienten ist der Rheumafaktor nachzuweisen. Ferner wurden Autoantikörper gegen Speicheldrüsengänge, Magenschleimhaut und Schilddrüse gefunden. Ausdruck einer gesteigerten Immun-
741 8.4 · Autoimmunkrankheiten
globulinproduktion ist die häufig anzutreffende Hypergammaglobulinämie. Die extraglandulären (systemischen) Manifestationen dürften in erster Linie durch Antikörper und Immunkomplexe bedingt sein. Im Spätstadium entwickeln sich nicht selten maligne Lymphome vom B-Zelltyp, die oft monoklonale Immunglobuline produzieren und als neoplastische Entgleisung der langdauernden Immunstimulation aufgefasst anzusehen sind. Klinik. Initialsymptome
Dem Drüsenbefall kann ein jahrelanges Vorstadium mit Arthralgien, Körperschwäche und einem Raynaud-Phänomen vorausgehen. Glanduläre Manifestationen Augen: Fremdkörpergefühl, Brennen und Jucken der Augen
Respirations- und Gastrointestinaltrakt: Seltener ist auch hier die Sekretion der exokrinen Drüsen herabgesetzt. Es resultieren dann Trockenheit der Nase, des Kehlkopfes und der Trachea sowie Dysphagie und atrophische Gastritis. Außerdem kann die exokrine Pankreassekretion vermindert sein. Extraglanduläre Manifestationen
In der Reihenfolge ihrer Häufigkeit sind es beim primären Sjögren-Syndrom Arthralgien/Arthritiden (60%), Raynaud-Phänomen (37%), Lymphadenopathie (14%), interstitielle Lungenfibrose (14%), Vaskulitis mit Purpura, Urtikaria, Ulzerationen, neurologischen oder psychiatrischen Ausfallerscheinungen (11%), interstitielle Nephritis mit tubulären Funktionsstörungen (9%), Leberbeteiligung (6%), Lymphome (6%), Splenomegalie (3%) und Myositis (15%).
durch Austrocknung infolge ungenügender Tränenbildung (Xerophthalmie). Durch den mangelhaften Tränenfilm entstehen an Kornea und bulbärer Konjunktiva Epitheldefekte und fadenförmige Epithelabschilferungen (Keratoconjunctivitis sicca). Die Tränendrüsen können anschwellen.
Diagnostik. Kennzeichnend für das Sjögren-Syndrom ist das Zusammentreffen von: 4 Keratoconjunctivitis sicca 4 Xerostomie und 4 rheumatoider Arthritis oder anderer Kollagenkrankheiten.
Mundhöhle: Mundtrockenheit durch Versiegen der Speichelund Schleimsekretion (Xerostomie), die das Schlucken fester Speisen und kontinuierliches Sprechen erschwert. Die Mundschleimhaut sieht trocken, klebrig und gerötet aus. Auf dem Zungenrücken sind die filiformen Papillen atrophiert. Beim primären Sjögren-Syndrom kommt es in 70% der Fälle zur Parotisschwellung, die manchmal als Mumps fehlgedeutet wird (. Abb. 8.14).
Die primäre Form hat mit dem SLE die Zellkernantikörper AntiRo und Anti-LA gemeinsam, ihr fehlen aber Anti-dsDNA. Eine leichte normochrome Anämie und eine deutliche Blutsenkungsbeschleunigung werden in 70% der Fälle gefunden. Die Xerophthalmie ist mit dem Schirmer-Test zu sichern, der Speicheldrüsenbefall durch Sialometrie, Sialographie und Szinitgraphie. Lymphknotenschwellungen müssen auf sekundäre Lymphome bioptisch untersucht werden. Monoklonale Serum- und Harnproteine zeigen eine Neoplasie an. Sicca-Symptome können verschiedene Ursachen haben. Mundtrockenheit entsteht durch diverse Pharmaka, Virusinfektionen, bei Diabetes mellitus und psychogen. Augentrockenheit leichteren Grades ist eine häufige Alterserscheinung. Sie kommt außerdem bei chronischen Bindehautentzündungen, Störungen des Lidschlusses und Hypovitaminose A vor. Therapie. Das primäre Sjögren-Syndrom nimmt gewöhnlich einen langsamen gutartigen Verlauf. Eine kausale Therapie gibt es nicht. Die Xerophthalmie wird symptomatisch mit Tränenersatzmitteln (Hypromellose), die Xerostomie mit reichlicher Flüssigkeitszufuhr zu jeder Mahlzeit behandelt. Die Trockenheit der Atemwege lässt sich mit Bromhexin per os lindern. Hypergammaglobulinämie, Blutsenkungsbeschleunigung und Anämie scheinen auf Antimalariamittel (Hydroxychloroquin) anzusprechen. Glukokortikoide und andere Immunsuppressiva sind nur bei schweren extraglandulären Manifestationen indiziert. Beim sekundären Sjögrensyndrom richtet sich die Therapie nach der Grundkrankheit.
. Abb. 8.14. Parotisschwellung bei einer Patientin mit SjögrenSyndrom (aus Zeidler et al.: Interdisziplinäre klinische Rheumatologie. Springer, Berlin 2001)
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742
Kapitel 8 · Krankheiten des Immunsystems
8.4.5 Dermatomyositis
tase (Jo-1). Patienten mit Anti-Jo-1-Antikörpern neigen vermehrt zur interstitiellen Lungenerkrankung.
Definition. Generalisierte chronische Entzündung der quergestreiften Muskulatur und der Haut. Der isolierte Muskelbefall wird als Polymyositis bezeichnet. Vorkommen und Häufigkeit. Die Inzidenz liegt in der Größen-
ordnung von 5 Neuerkrankungen pro Jahr auf 1 Million Einwohner. Die Häufigkeitsverteilung weist zwei Gipfel auf, den ersten zwischen dem 8. und 9. Lebensjahr, den zweiten in der fünften und sechsten Dekade. Frauen erkranken etwa doppelt so häufig wie Männer. Klassifizierung.
Die Dermatomyositis kann in 5 Gruppen eingeteilt werden, die in . Tab. 8.4 dargestellt sind. Ätiologie und Pathogenese. Das Erkrankungsrisiko ist bei be-
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stimmten HLA-Antigenen erhöht (DR3, DQA1*0501). Auch über familiäres Vorkommen der Polymyositis wurde berichtet. Man geht deshalb wie bei anderen Autoimmunkrankheiten von einer genetischen Disposition aus, die noch unbekannte exogene Faktoren pathogen werden lässt. Die Hautläsionen weisen eine atrophische Epidermis mit Vakuolen in der Basalschicht und perivaskuläre Infiltrate aus Lymphozyten, Makrophagen und Plasmazellen auf. Im Bereich der Papeln ist die Epidermis hyperkeratotisch und papillomatös verändert. In der betroffenen Muskulatur findet man perivaskuläre Infiltrate gleicher Zusammensetzung wie in der Haut, dazu untergehende Muskelfasern, Faseratrophie und Regenerationszeichen. Auch kleine Muskelinfarkte sind anzutreffen. Myositis und Muskelfasernekrosen kommen wahrscheinlich teils durch zytotoxische T-Zellen, T-Helferzellen und Makrophagen zustande, teils durch eine Immunkomplexvaskulitis an den kleinen intramuskulären Gefäßen. Autoantikörper werden gegen verschiedene zytoplasmatische Ribonukleoproteine gebildet, hauptsächlich gegen das Enzym tRNA-Synthe-
Klinik. Initialsymptome
Die Dermatomyositis kann akut beginnen und ist dann von Fieber und ausgeprägtem Krankheitsgefühl begleitet. Häufiger setzt sie jedoch schleichend mit allmählich zunehmender Muskelschwäche ein und erreicht erst nach Wochen oder Monaten ihren Höhepunkt. Später können sich akute Schübe wiederholen. Kutane Manifestationen Die beiden Kardinalsymptome sind erstens ein rot-violettes Exanthem im Gesicht mit deutlichem Lidödem und oft trauriger Mimik (. Abb. 8.15), zweitens zahlreiche erythematöse oder violette in Schuppung übergehende Papeln an den Fingerknöcheln, Kniescheiben oder Ellenbogen. Das Erythem kann sich
auch über Schultern, Rücken und Brustausschnitt erstrecken. Im Verlauf kommen an den Fingern periunguale Erytheme, Teleangiektasien und unregelmäßige geformte Verdickungen des Nagelwalls vor. Im Spätstadium entstehen nicht selten knotenförmige Hautverkalkungen. Muskuläre Manifestationen Charakteristisch ist der symmetrische Befall des Becken- und Schultergürtels und der proximalen Extremitätenmuskulatur
mit fortschreitendem Kräfteschwund, der sich beim Aufrichten, Aufstehen, Treppensteigen und Heben der Arme bemerkbar macht. Bei Beteiligung der Nackenmuskeln wird es schwierig, den Kopf hochzuhalten. Über Myalgien wird selten geklagt, am ehesten im akuten Schub. Die Muskeln sind dann auch druckschmerzhaft. Die Sehnenreflexe bleiben erhalten. Als Endzustand der Myositis resultieren narbige Schrumpfung, Atrophie und Kontrakturstellungen, allerdings nicht in dem Ausmaß wie bei Muskeldystrophien und neuromuskulären Erkrankungen. Bei
. Tabelle 8.4. Klassifizierung der Dermatomyositis
Gruppe
Form
Klinik
I
Primäre idiopathische Polymyositis
Entzündliche Muskelerkrankung des Erwachsenenalters ohne Hautbeteiligung und ohne Assoziation mit anderen Krankheiten.
II
Primäre idiopathische Dermatomyositis
Entzündliche Muskelerkrankung mit Hautbeteiligung, die dem Muskelbefall vorausgehen oder folgen kann.
III
Polymyositis oder Dermatomyositis mit Neoplasie
Bei Erwachsenen ist die Dermatomyositis in 20–25% der Fälle mit einem Malignom assoziiert, besonders bei Männer über 50 Jahren. Es bestehen identische Haut- und Muskelläsionen wie in den anderen Gruppen.
IV
Kindliche Dermatomyositis oder Polymyositis assoziiert mit Vaskulitis
Die zusätzliche Vaskulitis manifestiert sich an Haut, Muskeln, Gastrointestinaltrakt, Herz und Nieren, selten auch am Gehirn.
V
Polymyositis oder Dermatomyositis assoziiert mit Kollagenkrankheiten
Systemischer Lupus erythematodes, systemische Sklerodermie, rheumatoide Arthritis.
743 8.4 · Autoimmunkrankheiten
pe V (. Tab. 8.4) weisen entsprechend der assoziierten Kollagenose gemischte klinische Bilder auf. Diagnostik.
Für die Diagnose Dermatomyositis gelten 5 Kriterien: 4 typischer Hautausschlag 4 proximale Muskelschwäche 4 Erhöhung der Muskelenzyme im Serum 4 im Elektromyogramm Zeichen einer Myopathie 4 Entzündungsnachweis in der Muskelbiopsie. Meistens genügt es, wenn 3 dieser Kriterien erfüllt sind. Etwa 10% der Muskelbiopsien fallen falsch negativ aus. Bei Patienten in der zweiten Lebenshälfte ist ein allgemeines Tumor-Screening indiziert. Assoziierte Kollagenosen lassen sich an ihren Symptomen und spezifischen serologischen Befunden erkennen. Laborbefunde Serumenzyme: Anstieg der Enzyme CK, LDH, Aldolase und
SGOT durch Freisetzung aus zerstörten Muskelfasern. Bei kardialer Beteiligung ist auch die CKMB erhöht. Autoantikörper: In 40–50% der Fälle krankheitsspezifische Antikörper gegen das Antigen Jo-1. Bei assoziierten Kollagenosen zusätzlich Anti-SRP-Antikörper (SRP: signal particle). BKS und Serumproteine: BKS, C-reaktives Protein und die α2-Globuline sind während akuter Phasen erhöht. . Abb. 8.15. Dermatomyositis mit diffusem Erythem im Gesicht, am Hals und in der oberen Brustpartie (aus Braun-Falco et al.: Dermatologie und Venerologie. Springer, Berlin 2005)
25% der Patienten kommt es durch einen Befall der quer gestreiften Muskulatur des oberen Ösophagusdrittels und des Pharynx zur Dysphagie, bei 5% zu signifikanten Störungen der Atmung. Als Zeichen einer Herzmuskelbeteiligung findet man in 20–30% der Fälle EKG-Anomalien (ST/T-Veränderungen, Blockierungen) und Arrhythmien, bei 3–10% führt die Myokarditis zur Herzinsuffizienz mit tödlichem Ausgang. Weitere Manifestationen
Bis zu 40% der vor allem älteren Patienten bekommen eine prognostisch ungünstige interstitielle Lungenerkrankung, meistens in Assoziation mit Anti-Jo-Antiköpern. Auch eine Proteinurie mit pathologischem Sedimentbefund kommt vor. Vereinzelt wurde über Autoimmunthrombopenien berichtet.
Therapie. Immunsuppression: Therapie der ersten Wahl sind hochdosierte Glukokortikoide (60–80 mg/Tag) über mehrere Wochen. Die
meisten Patienten sprechen darauf gut an, im akuten Stadium und im Kindesalter schon nach einigen Tagen, bei chronischer Polymyositis innerhalb weniger Wochen. Die nach der Akutphase zu ermittelnde Erhaltungsdosis muss unter Osteoporoseprophylaxe über Monate oder einige Jahre fortgesetzt werden. Unterdosierung führt zu neuen Schüben mit Wiederanstieg von CK und BKS. Im Verlauf wird häufig mit Azathioprin (bis 3 mg/kg/Tag) oder Mexotrexat (7,5 mg/Woche) kombiniert, um Steroide zu sparen. Cyclophosphamid ist von begrenztem Nutzen. Bei refraktärer Dermatomyositis wurden günstige Ergebnisse mit intravenös injiziertem Gammaglobulin erzielt (2 g/kg, verteilt auf 2–5 Tage in Abständen von 6–8 Wochen). Physiotherapie: Bettruhe nur in der akuten Phase. Langzeitbetreuung mit Krankengymnastik und rehabilitativen Maßnahmen. Verlauf und Prognose. Vor Einführung der Glukokortikoide sind
Überschneidungssyndrome
In der Gruppe III (. Tab. 8.4) können zusätzlich klinische Symptome des assoziierten Malignoms auftreten. Oft ist dieses aber noch latent und muss systematisch gesucht werden. Häufigste Neoplasmalokalisationen sind Lunge, Ovarien, Mammae, Gastrointestinaltrakt und blutbildendes System. Patienten der Grup-
von den an juveniler Dermatomyositis erkrankten Kindern ein Drittel gestorben, ein Drittel blieb höhergradig behindert und ein Drittel überlebte mit geringen oder keinen Residuen. Heute behalten 10–15% größere Schäden zurück, 50–75% heilen aus, nur wenige sterben. Bei Erwachsenen beträgt die 5-Jahresüberlebensrate 75%. Die Entfernung von Malignomen kann zur Abheilung
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744
Kapitel 8 · Krankheiten des Immunsystems
führen. Prognostisch ungünstig sind pulmonale Manifestationen, Anti-Jo-1-Antikörper und assoziierte Kollagenosen.
befalls wie Bauchkrämpfe, Arthralgien, Myalgien oder Mononeuritiden auf. Organmanifestationen
8.4.6 Polyarteriitis nodosa (PAN) Definition. Generalisierte nekrotisierende Vaskulitis kleiner und
mittlerer Arterien mit Einbeziehung der Adventitia, ohne Befall von Arteriolen, Kapillaren und Venolen. Synonyme. Periarteriitis nodosa, Panarteriitis nodosa. Vorkommen und Häufigkeit. Die PAN ist selten und befällt Män-
ner etwa doppelt so häufig wie Frauen. Das durchschnittliche Lebensalter bei Erkrankungsbeginn beträgt 48 Jahre. In der Literatur sind über tausend Fälle beschrieben.
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Ätiologie und Pathogenese. Über eine genetische Disposition zur Polyarteriitis nodosa (PAN) ist nichts bekannt. Ein Kausalfaktor scheint das Hepatitis-B-Virus zu sein, denn 10–50% der Patienten haben eine HBV-Antigenämie. Bei ihnen konnten im zirkulierenden Blut und in der Gefäßwand Immunkomplexe aus HBV-Antigen und Antikörpern nachgewiesen werden, im Gewebe auch fixiertes Komplement. Gemessen an der Häufigkeit der Hepatitis B ist die PAN allerdings äußerst selten. Andere Virusinfektionen, die mit Vaskulitiden assoziiert sein können, sind die Hepatitis A und C sowie die HIV-Infektion. Viren können anscheinend auch durch direkte Einwirkung auf das Endothel Läsionen an der Gefäßwand hervorrufen. Neben Hinweisen auf eine Virusätiologie gibt es bei der PAN deutliche Indizien für pathogene Autoimmunreaktionen. Man findet Autoantikörper unklaren Ursprungs, die teils gegen die Endothelmembran gerichtet sind, teils gegen neutrophile Granulozyten (ANCA). Erstere lassen komplementaktivierende lokale Immunkomplexe entstehen, letztere setzen aus aktivierten Neutrophilen entzündungsfördernde lytische Enzyme frei. Antinukleäre Autoantikörper werden nicht gebildet. Die Läsionen der PAN treten segmental auf, bevorzugt an Bifurkationen und Abgangsstellen von Seitenästen. Histologisch sind sie im akuten Stadium durch dichte, alle Wandschichten durchsetzende polymorphkernige Infiltrate, fibrinoide Nekrosen und sekundäre Thrombosen gekennzeichnet, die zu Gefäßverschlüssen und Infarkten führen können. Nach Abklingen der Entzündung kommt es zur Fibrosierung, mit narbigen Stenosen, Mikroaneurysmen und knotigen Verdickungen am Gefäßrand. Von überwiegend ischämischen Läsionen sind alle Organsysteme betroffen, hauptsächlich Nieren, Herz, Leber, Gastrointestinaltrakt, Testes, Bewegungsapparat, Haut und Nervensystem. Klinik. Initialsymptome
Zum Auftakt meistens Fieber, Kopfschmerz, Gewichtsverlust und Körperschwäche. Zusätzlich treten erste Zeichen des Organ-
Charakteristisch für die PAN ist das Zusammentreffen nachstehender klinischer Manifestationen, für die als gemeinsamer Nenner nur ein Gefäßleiden in Frage kommt: 4 Nieren: Renale Hypertonie, Niereninfarkt, Niereninsuffizienz durch Ischämie der Glomeruli und Glomerulonephritis. 4 Muskeln und Gelenke: Arthritis, Arthralgie, Myalgie. 4 Peripheres Nervensystem: Periphere Neuropathie, Mononeuritis multiplex durch Befall der Vasa nervorum. 4 Gastrointestinaltrakt: Abdominalschmerz, Übelkeit, Erbrechen, Blutungen, Darminfarkt, Perforation. Cholezystitis, Leber- und Pankreasinfarkt. 4 Haut: Petechien, Papeln, subkutane Knötchen, RaynaudPhänomen, kutane Infarkte mit Nekrosen (. Abb. 8.16). 4 Herz: Kongestive Kardiomyopathie, Perikarditis, Herzinfarkt durch Koronaritis. 4 Urogenitaltrakt: Hoden- und Ovarialschmerz. 4 Zentralnervensystem: Zerebraler Krampfanfall, Hirninfarkt, mentale Störungen. Diagnostik. Allgemeinsymptome, Konstellation der Organbetei-
ligungen und hohe Blutsenkung sind für die Verdachtsdiagnose PAN wegweisend. Sie wird durch den Nachweis von HBsAg und ANCA im Serum gestützt. Zur Sicherung der Diagnose ist eine Biopsie erkrankter Regionen vorzunehmen (Hautknoten, Wadenmuskulatur, Leber, Niere, Rektum, Testes), ergänzend oder ersatzweise auch eine Arteriographie (A. mesenterica, A. renalis, Extremitätenarterien). Das Angiogramm lässt Mikroaneurysmen, Stenosen und Verschlüsse erkennen.
. Abb. 8.16. Polyarteriitis nodosa. Ischämische Nekrosen am Fuß (aus Zeidler et al.: Interdisziplinäre klinische Rheumatologie. Springer, Berlin 2001)
745 8.4 · Autoimmunkrankheiten
Laborbefunde
Starke Blutsenkungsbeschleunigung als Hinweis auf Entzündung und Nekrosen, C-reaktives Protein erhöht, im Verlauf oft Hypergammaglobulinämie. Neutrophile Leukozytose mit Linksverschiebung, allenfalls mäßige Eosinophilie. Hyporegeneratorische Anämie. In 10–50% der Fälle HBsAg-Nachweis im Serum. ANCA im Serum oft positiv, ANA negativ. Albuminurie und Hämaturie bei Nierenbeteiligung. Therapie und Prognose. Therapie der Wahl ist die Kombination
von Prednison (1 mg/kg pro Tag) mit Cyclophosphamid (2 mg/ kg/Tag), Letzteres ergänzt durch Mesna. Erreicht werden damit 5-Jahresüberlebensraten bis 90% und langdauernde, auch nach Unterbrechung der Behandlung anhaltende Remissionen. Bei HBV-assoziierter PAN wird über ähnliche Erfolge mit antiviraler Therapie (Vidarabin) plus Plasmaaustausch berichtet, sowohl mit als auch ohne zusätzliches Prednison. Mit Prednison allein werden nur 5-Jahresüberlebensraten bis 50% erzielt. 8.4.7 Churg-Strauss-Syndrom
Asthmaattacken. Hautläsionen mit tastbarer Purpura, kutanen und subkutanen Knoten kommen in 70% der Fälle vor. Die Läsionen am Herzen, am Gastrointestinaltrakt und am Nervensystem führen zu den gleichen Symptomen und Komplikationen wie bei der PAN. Der Nierenbefall ist dagegen seltener und deutlich weniger schwer. Diagnostik. Die Annahme eines Churg-Strauss-Syndroms liegt nahe, wenn bei einem schweren Asthma Fieber, Lungeninfiltrate und typische Hautveränderungen auftreten, dazu eine starke Senkungsbeschleunigung, Leukozytose und eine erhebliche Eosinophilie (>1000/mm3). Zu Sicherung der Diagnose ist eine Biopsie aus der Haut oder einem anderen der befallenen Organe indiziert. Therapie und Prognose. Glukokortikoide steigern die 5-Jahresüberlebensrate von 25 auf 50%. Einige Fälle verlaufen milde und erreichen nach initialer Prednisontherapie langdauernde Remissionen. Bei ungenügender Wirkung und in schweren Fällen gibt man wie der PAN Prednison plus Cyclophosphamid und erreicht damit ähnliche Behandlungserfolge.
Definition. Systemische nekrotisierende Vaskulitis, die sich von
8.4.8 Wegener-Granulomatose
der PAN durch eine enge Assoziation mit Bronchialasthma und peripherer Eosinophilie und den bevorzugten Befall der pulmonalen Gefäße unterscheidet.
Definition. Systemische nekrotisierende Vaskulitis mit vaskulä-
ren und extravaskulären Granulomen, die hauptsächlich den oberen und unteren Respirationstrakt und die Nieren befällt.
Synonyme. Churg-Strauss-Granulomatose, allergische granulo-
matöse Angiitis. Vorkommen und Häufigkeit. Die seltene Erkrankung tritt in je-
dem Lebensalter auf, am häufigsten im vierten Dezennium. Unter den Patienten dominieren die Männern im Verhältnis 1,3:1 über die Frauen. Zur Inzidenz gibt es keine Daten. Die Raten dürften in der gleichen Größenordnung liegen wie bei der PAN. Ätiologie und Pathogenese. Die Ursache ist ungeklärt. Für die
Pathogenese wird eine entgleiste Immunreaktion verantwortlich gemacht. Dem Churg-Strauss-Syndrom geht in der Regel ein länger bestehendes Asthma bronchiale voraus, das mit Beginn der Vaskulitis an Intensität zunimmt. Ein bestimmtes exogenes Allergen konnte der Krankheit aber nicht zugeordnet werden. Im Gegensatz zur PAN sind von der Vaskulitis nicht nur mittlere und kleine Arterien, sondern auch Arteriolen, Kapillaren und Venolen betroffen. Histologisch findet man granulomatöse Reaktionen in der Gefäßwand und im Gewebe, das zusätzlich von Eosinophilen infiltriert ist. Im Vordergrund steht der Befall der Lungen, doch zeigen Organmanifestationen an Haut, Herz, Nieren, peripherem Nervensystem und Gastrointestinaltrakt den systemischen Charakter der Krankheit an. Klinik. Die Erkrankung setzt mit Krankheitsgefühl, Fieber, Gewichtsverlust und Schwäche ein. Im Vordergrund stehen schwere
Vorkommen und Häufigkeit. Die Wegener-Granulomatose (WG) ist selten, aber keine Rarität. Beide Geschlechter sind gleich häufig betroffen. In einer Serie von 158 Fällen betrug das Durchschnittsalter bei Krankheitsbeginn 40 Jahre. Ätiologie und Pathogenese. Der dominierende Befall der oberen
Luftwege, dem häufig ein Erkältungsinfekt vorausgeht, hat zu der Hypothese geführt, dass die Wegener-Granulomatose durch ein inhaliertes Antigen oder Pathogen verursacht wird. Ein exogenes Agens wurde bisher aber nicht ermittelt. Die Granulombildung, ist Ausdruck einer zellulären Immunreaktion vom verzögerten Typ, an der T-Helferzellen und die von ihnen aktivierten Makrophagen beteiligt sind (7 Kap. 7.1). Sie könnte gegen ein endogenes Antigen gerichtet sein, denn humorale Autoimmunphänomene kommen vor. Im generalisierten Stadium der Wegener-Granulomatose bilden über 90% der Patienten antineutrophile zytoplasmatische Autoantikörper (cANCA), die durch ihren Aktivierungseffekt auf Neutrophile wahrscheinlich zur Pathogenese beitragen. In manchen Fällen wurden außerdem Autoantikörper gegen Endothelzellen und gegen die glomeruläre Basalmembran gefunden. Die Wegener-Granulomatose beginnt meistens im Bereich der oberen oder unteren Luftwege, wo das granulomatöse Gewebe proliferiert und Läsionen setzt. Es kann dort längere Zeit lokal begrenzt bleiben. Die Granulome weisen Riesenzellen und fokale Nekrosen auf. Sie sind teils perivaskulär, teils extravaskulär
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Kapitel 8 · Krankheiten des Immunsystems
lokalisiert. Bei den systemischen Herden, die praktisch in allen Organen auftreten können, handelt es sich ausschließlich um nekrotisierende vaskulitische Läsionen mit und ohne Granulome. Im Gegensatz zur PAN werden neben kleinen Arterien auch Kapillaren und kleine Venen befallen. In den Nieren, die nach dem Respirationstrakt am häufigsten erkranken, kommt es zur segmental nekrotisierenden Glomerulonephritis, häufig mit Halbmondbildung, in der Lunge mitunter zur nekrotisierenden Alveolitis. Klinik. Initialsymptome
Bei den meisten Patienten tritt eine chronische Rhinitis mit reichlich eitrigem, auch blutigem Sekret oder Husten auf sowie Dyspnoe, Stridor und intermittierende Hämoptysen, oft begleitet von diffusen Myalgien und Arthralgien. Dazu kommen Krankheitsgefühl, Schwäche, Gewichtsverlust und Fieber.
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Augen: Läsionen in 40–60% der Fälle, von leichter Konjunktivitis
und Episkleritis bis zur granulomatösen Sklerouveiitis und Vaskulitis der Ziliargefäße. Protrusio bulbi durch retroorbitales Granulationsgewebe. Unterer Respirationstrakt: Tracheitis mit Ulzerationen und nar-
biger Trachealstenose. Lumeneinengung der Hauptbronchien durch Granulationsgewebe. Lunge: Asymptomatische Infiltrate, in schweren Fällen hämorrhagische Alveolitis mit progredienter respiratorischer Insuffizienz. Nieren: Sie sind initial bei 20% und im Verlauf bei 80% der Pa-
tienten mit den Zeichen einer Glomerulonephritis beteiligt, die zur fortschreitenden Niereninsuffizienz führt. Kombiniert mit hämorrhagischer Pneumonie ergibt sich ein Goodpasture-Syndrom.
Organmanifestationen
Den ersten und späteren Krankheitserscheinungen liegen die folgenden Organläsionen zugrunde.
Gelenke: Polyarthralgien, aber auch ausgeprägte Synovitiden in
Oberer Respirationstrakt: Erythematöse Schwellung der Nasenschleimhaut mit Krusten und Ulzera, die das Septum perforieren und den knorpeligen Nasenrücken zerstören können, so dass eine Sattelnase entsteht (. Abb. 8.17). Daneben liegt in der Regel eine Pansinusitis vor, nicht selten auch eine Otitis. Das Granulationsgewebe kann bis zur Hirnbasis vordringen und zu Hirnnervenläsionen mit Gehörverlust, Schwindel und Augenmuskellähmungen führen.
Nervensystem: Durch ischämische Läsionen multiple Mononeuropathien, auch der Hirnnerven, mitunter symmetrische periphere Polyneuropathien.
60–70% der Fälle. Der Rheumafaktor kann dabei positiv sein.
Gastrointestinaltrakt: Viel seltener betroffen als bei der PAN, aber auch mit Abdominalschmerz und blutigen Diarrhöen auf dem Boden einer nekrotisierenden Enteritis, die zur Perforation und Peritonitis führen kann. Gelegentlich Vaskulitis der Speicheldrüsen und des Pankreas. Haut: Als Manifestationen der Vaskulitis treten Purpura, Petechien, vesikuläre und urtikarielle Eruptionen auf, durchschnittlich in der Hälfte der Fälle.
. Abb. 8.17. Wegener-Granulomatose. Sattelnase nach Knorpelzerstörung (aus Zeidler et al.: Interdisziplinäre klinische Rheumatologie. Springer, Berlin 2001)
Diagnostik. An eine Wegener-Granulomatose ist zu denken, wenn bei einer chronischen therapieresistenten Sinusitis oder Bronchitis plötzlich Fieber, Schleimhautblutungen, Petechien, Zeichen der Nierenaffektion und neurologische Störungen auftreten oder wenn eine Glomerulonephritis mit Entzündungserscheinungen am Respirationstrakt einhergeht. Der Verdacht ist im Fall einer Wegener-Granulomatose durch den cANCANachweis zu erhärten und durch eine Biopsie der Nasenschleimhaut, der Lunge oder der Nieren zu bestätigen. In Zweifelsfällen spricht der Behandlungserfolg für eine Wegener-Granulomatose. Laborbefunde: Beschleunigte Blutsenkung und erhöhtes Creaktives Protein. Im Blutbild mäßige, bei Hämorrhagien deutliche Anämie, geringe bis starke Leukozytose mit Linksverschiebung, keine oder geringe Eosinophilie. Thrombozyten oft vermehrt. Im Urin Auftreten von Eiweiß (Proteinurie) und Blut (Hämaturie). Bei Nierenbeteiligung Kreatininanstieg im Serum.
747 8.4 · Autoimmunkrankheiten
Wichtiger Indikator: Nachweis von cANCA im Serum in über 90%, bei lokal begrenzter Wegener-Granulomatose nur in 65% der Fälle. Keine antinukleären Autoantikörper. Therapie und Prognose. Unbehandelt nimmt die Wegener-Granulomatose innerhalb mehrerer Monate einen letalen Verlauf. Sie spricht im Gegensatz zur PAN und zu vielen Fällen von ChurgStrauss-Syndrom auf Glukokortikoide allein nicht an. Dagegen ist mit der Kombination von Cyclophosphamid und Prednison bei 90% der Patienten eine markante Verbesserung und bei 75% eine komplette Remission zu erreichen. Bei Rückfällen scheint sich die zusätzliche Gabe von Trimethoprim-Sulfamethoxazol zu bewähren. Die Prognose ist umso günstiger, je früher die Therapie einsetzt.
8.4.9 Arteriitis temporalis Definition. Granulomatöse, vorwiegend die A. temporalis und
andere Äste der A. carotis befallende Riesenzellarteriitis älterer Personen, die häufig mit einer Polymyalgia rheumatica assoziiert ist. Vorkommen und Häufigkeit. Die Arteriitis temporalis ist vor
dem 50. Lebensjahr eine Seltenheit und nimmt danach mit dem Alter an Häufigkeit zu. In Nordeuropa und den USA beträgt die Inzidenz etwa 18 Fälle auf 100.000 der über 50 Jahre alten Einwohner. Das durchschnittliche Erkrankungsalter liegt bei 70 Jahren. Frauen und Männer sind im Verhältnis von 2:1 betroffen. Ätiologie und Pathogenese. Die Ursache ist ungeklärt. Das Antigen HLA-DR4 kommt überdurchschnittlich häufig vor. Der Entzündungsprozess befällt nur mittelgroße Arterien und scheint primär die Lamina elastica interna anzugreifen. Diese ist im Bereich der meist segmentalen panarteriitischen Läsionen fragmentiert und von einer mit Riesenzellen durchsetzten Ansammlung aktivierter Makrophagen (mononukleärer Zellen) und CD4+-T-Zellen umgeben. Der histologische Befund spricht für eine Immunreaktion zellulären Typs, die sich vermutlich gegen ein Autoantigen in den elastischen Strukturen richtet. Koronargefäße und abdominale Äste der Aorta können mitbetroffen sein. Intimaproliferation und sekundäre Thrombosen engen das Gefäßlumen zunehmend ein und führen zur Ischämie im Versorgungsgebiet. Klinik. Allgemeinsymptome: Die Arteriitis temporalis beeinträchtigt
das Allgemeinbefinden und geht häufig mit subfebrilen Temperaturen, Appetitmangel, Gewichtsverlust und depressiver Verstimmung einher. Lokale Symptome: Sie treten abrupt oder einschleichend nacheinander auf. Kennzeichnend ist die Trias:
. Abb. 8.18. Arteriitis temporalis. Schmerzhafte verdickte Arterie (aus Braun-Falco et al.: Dermatologie und Venerologie. Springer, Berlin 2005)
4 Kopfschmerz 4 Verdickung, Verhärtung und Druckempfindlichkeit einer oder beider Schläfenarterien (. Abb. 8.18) 4 Symptome der kranialen Ischämie: Sehstörungen (Amaurosis fugax, plötzliches Erblinden, Gesichtsfeldausfälle, Doppelsehen, verschwommenes Sehen), oft mit Augenschmerzen einhergehend und Claudicatio-Schmerzen beim Kauen, Schlucken oder Sprechen in den Kiefermuskeln, im Rachen und in der Zunge. Manifestationen am Ohr äußern sich in Schmerzen, Abschwächung des Gehörs und Schwindel. Seltenere Lokalsymptome sind Hemiparesen und bei Generalisierung des Gefäßprozesses Herzinfarkt, Aorteninsuffizienz und periphere Neuropathie. Etwa 50% der Patienten haben neben der Arteriitis temporalis eine Polymyalgia rheumatica, die vorher, zeitgleich oder im Verlauf einsetzen kann (7 Kap. 8.4.10). Diagnostik. An eine Arteriitis temporalis ist bei allen über 50jährigen Patienten zu denken, die über kürzlich aufgetretene Kopfschmerzen und Sehstörungen klagen und eine stark beschleunigte Blutsenkung haben. Eine verdickte, druckschmerzhafte A. temporalis bestätigt den Verdacht weitgehend. Weitere diagnostisch wertvolle Hinweise sind Claudicatio-Beschwerden beim Kauen und Sprechen, eine gleichzeitig bestehende Polymyalgia rheumatica, Störungen des Allgemeinbefindens und subfebrile Temperaturen unklarer Genese. Eine Wandverdickung ist sonographisch nachzuweisen. Zu Sicherung der Diagnose ist die Biopsie der A. temporalis erforderlich. Ihre Sensitivität beträgt 90%, ihre Spezifität 100%. Bei unauffälligem Tastbefund und fehlendem Schmerz an den Temporalarteien kommt eine Angiographie in Betracht. Laborbefunde: Starke Beschleunigung der BKS (>50 mm in der ersten Stunde), CRP erhöht. Im Serumelektropherogramm Vermehrung der α2-Globuline, häufig auch der α1- und γ-Globuline. Normochrome Anämie wie bei entzündlichen Prozessen.
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Kapitel 8 · Krankheiten des Immunsystems
Weißes Blutbild und Thrombozyten in der Regel normal. Rheumafaktoren und ANA negativ. Biopsie: Einschnitt an der Haargrenze in Lokalanästhesie. Exzision eines nicht zu kurzen Segmentes der A. temporalis (3– 5 cm), da die Läsionen gesunde Gefäßabschnitte überspringen können. Eine Nekrose der Kopfschwarte ist nicht zu befürchten. Typischer histologischer Befund: Panarteriitis mit riesenzellhaltiger Granulombildung in dichter Nachbarschaft zur rupturierten Lamina elastica interna. Lumeneinengung durch Intimaproliferation. In der Adventitia mononukleäre Zellen und neutrophile Granulozyten, später Fibrose.
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Therapie und Verlauf. Die Behandlung duldet bei klinisch fundiertem Verdacht keinen Aufschub, da jederzeit eine irreversible Erblindung eintreten kann. Das Mittel der Wahl ist hochdosiertes Prednison. Man beginnt mit 2×40 mg täglich per os, in bedrohlichen Fällen mit 2×50 mg täglich Methylprednisolon intravenös. Die Biopsie muss nicht in jedem Fall sofort durchgeführt werden, sollte aber innerhalb von 5 Tagen nach Therapiebeginn erfolgen. Manche Therapeuten halten sie nicht für obligatorisch. Im Hinblick auf die Risiken der notwendigen Langzeitbehandlung mit Glukokortikoiden sollte die Diagnose jedoch gesichert sein. In der Regel kommt es nach 3–7 Tagen zu einer dramatischen Besserung des Krankheitsbildes mit schnellem Abfall der BKS-Beschleunigung. Die Steroidgabe wird dann sukzessive auf eine Erhaltungsdosis von 5–7,5 mg täglich reduziert und für etwa 2 Jahre beibehalten. Dabei soll die BKS nicht über 20 mm steigen. Das Absetzen muss ausschleichend erfolgen. Spätere Rezidive sind nicht auszuschließen und erfordern eine Wiederholung des Therapieschemas. In schweren Fällen mit hohem Prednisonbedarf hat sich die zusätzliche Gabe von Azathioprin als effektiv und steroidsparend erwiesen. Bei einzelnen Patienten wurde auch eine Kombination von Prednison und Methotrexat mit Erfolg angewandt. Stets erfordert die langfristige Steroidtherapie eine Osteoporoseprophylaxe mit Kalzium (500 mg täglich), Vitamin D (10.000 IE wöchentlich) und Risidronsäure.
8.4.10 Polymyalgia rheumatica Definition. Klinisches Syndrom jenseits des 50. Lebensjahres, das
gekennzeichnet ist durch rheumatische Schmerzen im Schulterund Beckengürtel sowie im Nackenbereich, eine starke Blutsenkungsbeschleunigung und promptes Ansprechen auf niedrig dosierte Glukokortikoide. Begleitend können ein leichts Fieber, Gewichtsverlust und allgemeiner Schwäche auftreten. Auch ein Übergang in eine Arteriitis temporalis ist möglich. Vorkommen und Häufigkeit. Die Polymyalgia rheumatica ist viermal häufiger als die Arteriitis temporalis. Sie tritt ebenfalls erst nach dem 50. Lebensjahr und dann mit einer von Dekade zu Dekade steigenden Inzidenz auf. Frauen erkranken annähernd doppelt so häufig wie Männer.
Ätiologie und Pathogenese. Der Symptomenkomplex ist offensichtlich entzündlicher Genese, ätiologisch jedoch ungeklärt. Bioptisch weist das Muskelgewebe weder myositische noch arteriitische Läsionen auf. Man findet nur atrophische Veränderungen an Muskelfasern des langsamen Zuckungstyps. Die Muskelenzyme im Serum (Aldolase, Kreatininkinase) sind nicht erhöht. Für einen Entzündungsprozess sprechen die stark beschleunigte Blutsenkung und der Anstieg des C-reaktiven Proteins. Wahrscheinlich gehen Entzündung und Schmerzen weniger von den Muskeln als von den periartikulären Strukturen (Bursae, Sehnen, Gelenkkapseln) und den Gelenken aus, denn bioptisch lassen sich hier unspezifische lymphozytäre Infiltrate erkennen. Der Übergang in eine Arteriitis temporalis scheint für die Mehrzahl der Patienten vorprogrammiert zu sein und nur durch die Therapie verhindert zu werden. Schon bei Ausbruch der Polymyalgia rheumatica deckt die histologische Untersuchung der Temporalarterien in 15% der Fälle erste, klinisch noch stumme arteriitische Läsionen auf. Klinik. Allgemeinsymptome: Auffallend starke Beeinträchtigung des
Gesamtbefindens durch Körperschwäche, Appetitmangel, Gewichtsverlust, leichtes Fieber und depressive Verstimmung. Lokale Symptome: Plötzlich oder protrahiert einsetzende Steifigkeit und Schmerzen im Nacken sowie in den proximalen Muskeln des Schulter- und Beckengürtels. Zunehmend beschwerlich werden Aufsetzen, Aufstehen und Treppensteigen und die zum Frisieren oder Rasieren nötigen Bewegungen. Schmerzen treten auch in der Nacht und besonders am Morgen auf. Die betroffenen Muskeln und periartikulären Gewebe sind druckempfindlich. Im Gegensatz zur Polymyositis ist die Muskelkraft nicht herabgesetzt. Im Verlauf kann es zur Inaktivitätsatrophie kommen. Manchmal entwickelt sich eine ausgeprägte Polyarthritis mit Befall der Finger-, Hand- und Kniegelenke. Sie unterscheidet sich von einer seronegativen rheumatoiden Arthritis nur durch das Fehlen von Knorpelerosionen und periartikulärer Osteoporose. Diagnostik. Man kann sie nur klinisch und erst nach Ausschluss
anderer Erkrankungen mit ähnlichen Symptomen stellen. Zu diesen gehören die rheumatoide Arthritis, die Kollagenosen, okkulte Karzinome und verschiedene Infektionen. Laborbefunde: Mit stark beschleunigter BKS, vermehrten α2-Globulinen, erhöhtem CRP und normochromer Anämie gleichen sie denen der Arteriitis temporalis. Rheumafaktoren und ANA sind nicht nachzuweisen. Bis zu 70% der Patienten haben im Serum eine erhöhte alkalische Phosphatase. Auch die Transaminasen können etwas ansteigen. Biopsie: Die Leberbiopsien ergeben bisweilen eine periportale und interlobuläre Entzündung mit fokalen Leberzellnekrosen und kleinen epitheloidzelligen Granulomen. Eine Muskelbiopsie ermöglicht die Unterscheidung von einer Polymyositis, ist jedoch meistens überflüssig. Wenn die Temporalisbiopsie po-
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sitiv ausfällt, hat bereits der Übergang in eine Arteriitis temporalis stattgefunden. > Diagnostisch wegweisend sind meistens das Alter der Patienten, die Lokalisation der rheumatischen Schmerzen und eine hohe BKS. Sie rechtfertigen in jedem Fall einen Behandlungsversuch mit Glukokortikoiden. Therapie. Die meisten Patienten sprechen schnell auf orale Tagesdosen von 10–20 mg Prednison an. Die Beschwerden verschwin-
den oft innerhalb 1 Woche. Ebenso prompt normalisiert sich die beschleunigte Blutsenkung. Wenn eine deutliche BKS-Beschleunigung bestehen bleibt, ist nach zusätzlichen Entzündungsprozessen zu fahnden bzw. die Diagnose in Frage zu stellen. Zur Verhinderung von Rezidiven und arteriitischen Läsionen ist eine Langzeitbehandlung mit Prednison erforderlich, die 2 Jahre oder länger dauern kann. Meistens genügt eine tägliche Erhaltungsdosis von 5–7,5 mg Prednison. Zur Osteoporoseprophyalaxe gibt man zusätzlich Kalzium und Vitamin D. Auch nichtsteroidale Antiphlogistika wirken schmerzlindernd, verhüten aber das Entstehen arteriitischer Läsionen nicht. 8.5
Immunschwächekrankheiten Immunschwächekrankheiten Erbliche Immunschwächekrankheiten 5 Defekte der Antikörperbildung 5 Defekte der zellulären Immunreaktion 5 Kombinierte Immundefekte 5 Immunschwäche durch Komplementdefekte 5 Immunschwäche durch Phagozytendefekte Stammzellentransplantation und Gentherapie bei erblichen Immundefekten Erworbenes Immunschwächesyndrom (AIDS) 5 Primärstadium der HIV-Infektion 5 Latenzstadium der HIV-Infektion
8.5.1 Erbliche Immunschwächekrankheiten An der Immunabwehr sind T-Lymphozyten, B- Lymphozyten, dendritische Zellen, Makrophagen, sowie diverse Sekretionsprodukte der Immunzellen und das Komplementsystem beteiligt. Alle diese Komponenten können genetische Defekte erleiden, die zur Immunschwäche führen. Bei den erblichen Formen der Immunschwäche handelt es sich um seltene Krankheiten, auf die aber näher einzugehen ist, weil sie wichtige Einblicke in die Funktionsweise des Immunsystems vermitteln. Vom funktionellen Standpunkt ist zwischen Defekten der humoralen und der zellulären Immunantwort zu unterscheiden.
Erstere ist an die B-Zellen, letztere an die T-Zellen gebunden. Da die B-Zellen zur Antikörperbildung gegen die meisten Antigene der Aktivierung durch T-Zellen bedürfen, können Störungen der humoralen Immunabwehr auf Defekten der B-Zellen oder der T-Zellen beruhen. Einige T-Zelldefekte beeinträchtigen nur die Kooperation mit den B-Zellen andere nur die zellulären Immunreaktionen. Die meisten Defekte der T-Zellen haben jedoch kombinierte Störungen der humoralen und zellulären Immunabwehr zur Folge. Eine globale Immunschwäche resultiert selbstverständlich bei genetischen Defekten, die beide Lymphozytenpopulationen betreffen. Aus klinischer Sicht erscheint folgende Einteilung der erbliche Immunschwäche sinnvoll: 4 selektive Defekte der Antikörperbildung 4 Defekte der zellulären Immunreaktionen 4 kombinierte Immundefekte. Klinische Manifestationen Im klinischen Bild der Immunschwächekrankheiten treten immer wieder die gleichen Symptome des Antikörpermangels und der zellulären Immundefekte auf, entweder selektiv oder kombiniert. Sie werden deshalb der Beschreibung der verschiedenen Krankheitsformen vorangestellt. Antikörpermangel: Das typische klinische Korrelat des Antikörpermangels ist ein sinubronchiales Syndrom mit rezidivierenden Sinusitiden, Otitiden, Bronchitiden, Bronchopneumonien und sekundären Bronchiektasen. Es wird von bekapselten pyogenen Bakterien verursacht, die der Opsonierung durch Antikörper und Komplementkomponenten bedürfen, damit sie von Makrophagen phagozytiert und abgetötet werden können. Zu diesen Erregern gehören Haemophilus influenzae, Streptococcus pneumoniae, Staphylococcus aureus, Streptococcus pyogenes und Pseudomonas aeruginosa. Für die beim Antikörpermangel häufigen Arthritiden sind wahrscheinlich Mykoplasmen verantwortlich. Virusinfektionen werden mit einigen Ausnahmen normal überstanden, hinterlassen aber keine langfristige Immunität, so dass Windpocken und Masern mehrmals rezidivieren können. Beispiele für schlecht tolerierte Virusinfektionen sind die Hepatitis B, die nach Poliomyelitisschutzimpfung mit Lebendvakzine vorkommenden Lähmungen und eine durch Echoviren hervorgerufene chronische Meningoenzephalitis. Defekte der zellvermittelten Immunreaktionen: Häufigste Komplikation sind schwere, meist tödlich verlaufende Viruskrankheiten (Masern, auch nach Impfung mit Lebendvakzine, Windpocken, Vaccinia nach Pockenimpfung, Infektionen mit Herpes-, Adeno- und Zytomegalievirus). Die virusinfizierten Körperzellen, die an ihrer Oberfläche Virusantigene exprimieren, können nicht eliminiert werden, weil die Patienten keine oder zu wenig antigenspezifische zytotoxische CD8+-T-Zellen bilden. Eine hochgradige Abwehrschwäche besteht auch gegen Infektionen mit Pilzen (Candida, Aspergillus), Protozoen (Toxoplasma, Pneumocystis carinii, Cryptosporidium), Mykobakterien, Listeria, Legionella und Nokardia. Die Abtötung dieser Erreger, die den Makrophagen obliegt, wird durch das Fehlen antigen-
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Kapitel 8 · Krankheiten des Immunsystems
spezifischer TH1-Helferzellen verhindert, die zur maximalen Aktivierung der Makrophagen notwendig sind. Da T-Lymphozyten nicht nur Krankheitserreger abwehren, sondern auch Tumorzellen vernichten, sind T-Zelldefekte nicht selten mit einer erhöhten Inzidenz von Neoplasien verbunden, unter denen maligne Lymphome vorherrschen.
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Defekte der Antikörperbildung X-chromosomale Agammaglobulinämie (Bruton 1952) Dem Immunglobulinmangel liegt ein isolierter B-Zelldefekt zugrunde. Er betrifft das Gen für eine Thyrosinkinase (btk) der BZellen, das unterschiedliche Mutationen aufweisen kann. Der Ausfall des Enzyms bewirkt, dass die Entwicklung der B-Zellen im Knochenmark auf der Stufe der Prä-B-Zellen stehen bleibt. Nur ganz wenige reife B-Zellen gelangen ins zirkulierende Blut. Tonsillen und Lymphknoten sind unterentwickelt. Im Serumelektropherogramm fehlt die Gammaglobulinbande. Die Konzentration des immunologisch bestimmten IgG liegt unter 100 mg/dl (Normbereich 800–1500 mg/dl), IgM und IgA sind nicht nachzuweisen. Nach Antigenstimulation mit Diphtherie-PertussisTetanus-Vakzine erfolgt keine Antikörperbildung. Das Serum enthält auch keine oder sehr wenig Isohämagglutinine. Die klinischen Symptome des Antikörpermangels beginnen zwischen dem 6. und 12. Lebensmonat, wenn die Antikörper mütterlicher Herkunft verbraucht sind. Zur Prophylaxe intravenöse Gabe von Immunglobulin (IVIG) in einer Dosis von 300–400 mg/IgG/kg pro Monat, verteilt auf zwei Applikationen im Abstand von 14 Tagen. Unter der Erhaltungsdosis sollte die IgG-Konzentration des Plasmas nicht unter 400 mg/dl sinken. Zur Therapie von akuten und chronischen Infektionen Verabreichung von Antibiotika gemäß der Erregerempfindlichkeit. X-chromosomales Hyper-IgM-Syndrom Bei dieser Erkrankung ist die Antikörperbildung durch einen Defekt der T-Zellen gestört, der ihre Interaktion mit den B-Zellen, aber nicht die zellulären Immunreaktionen beeinträchtigt. Infolge eines Gendefektes am X-Chromosom fehlt den T-Helferzellen der Ligand für das Oberflächenmolekül CD40 der B-Zellen. Sie können deshalb mit den B-Zellen keinen direkten Kontakt aufnehmen und sie nicht zum Immunglobulin-Switching, d.h. zur Umstellung der Immunglobulinsynthese vom Typ IgM und IgD auf die wirksameren Isotypen IgG, IgA und IgE stimulieren (7 Kap. 7.1). Die aus den B-Zellen hervorgehenden Plasmazellen der Patienten sezernieren nur IgM und IgD, beide sogar vermehrt, weil die Feedback-Hemmung der IgM-Synthese durch IgG entfällt. Das lymphatische Gewebe ist nicht reduziert, eher hyperplastisch. In den Lymphknoten fehlen allerdings die Keimzentren, in denen die B-Zellen nach dem Switching proliferieren und somatisch mutieren, um hochaffine Antikörper zu bilden. Im Blut zirkulieren reife B-Lymphozyten, aber nur solche mit membranständigen Immunglobulinen vom Typ IgM und IgD. Das Serum der Patienten enthält oft über 1000 mg/dl IgM, aber
weniger als 150 mg/dl IgG und keine messbaren Mengen von IgE und IgA. Trotz der gesteigerten IgM-Produktion resultiert eine frühmanifeste Immunschwäche, da die IgM-Antikörper nur schwach mit Antigenen reagieren. Das klinische Bild ähnelt dem der X-chromosomalen Agammaglobulinämie. Hinzu kommt eine Anfälligkeit gegen opportunistische Infektionen insbesondere gegen Pneumocystis carinii, und eine Tendenz zu autoimmunologischen Anämien, Neutropenien und Thrombopenien. Neutropenien steigern das Infektionsrisiko zusätzlich. Auf eine Dauersubstitution mit intravenösem Immunglobulin sprechen Infektanfälligkeit und Neutropenie befriedigend an. In der zweiten Lebensdekade kann eine unkontrollierbare polyklonale Proliferation IgM-bildender Plasmazellen einsetzen und durch eine massive Infiltration von Leber, Gallenblase und Gastrointestinaltrakt zum Tode führen. Patienten mit X-chromosomalem Hyper-IgM-Syndrom haben auch ein erhöhtes Risiko, an Darmkarzinomen zu erkranken. Selektiver Immunglobulin A-Mangel Dem genetischen Defekt der IgA-Produktion liegt eine terminale Differenzierungsstörung der IgA tragenden B-Zellen zugrunde. Ihr Isotyp-Switching scheint unvollständig zu sein, da sie an ihrer Oberfläche neben dem IgA weiterhin IgM und IgD exprimieren. Durch In-vitro-Stimulation konnten solche B-Zellen zu aktiver IgA-Sekretion gebracht werden, was für eine inadäquate Stimulation durch T-Helferzellen spricht. Der unterschiedliche Erbgang, er kann autosomal dominant oder autosomal rezessiv sein, weist auf das Vorkommen differenter Mutationen mit gleichem Phänotyp hin. Mit einer Prävalenz von 1:600 ist der IgA-Mangel der häufigste Immundefekt. Die Konzentration des Serum-IgA (überwiegend Isotyp IgA1) liegt unter 5 mg/dl (Normalwert 300 mg/dl). Bei einigen Patienten mit IgA-Mangel im Serum ist die Bildung des sekretorischen IgA2 in den intestinalen Plasmazellen nicht gestört. Doch betrifft der Defekt meistens beide IgA-Isotypen. Am häufigsten wird der IgA-Mangel beim Screening von Blutspendern entdeckt. Die Mehrzahl der Patienten bleibt asymptomatisch, obwohl das IgA für die Mukosaimmunität wichtig ist. Offenbar kann es in dieser Funktion durch andere Isotypen zu ersetzt werden. Rezidivierende, schon in der Kindheit beginnende sinupulmonale Infektionen erreichen gewöhnlich keinen höheren Schweregrad. Nicht selten liegt in den symptomatischen Fällen zusätzlich ein IgG-Subtypdefekt vor. Mehrfach erhöht ist die Inzidenz von allergischem Asthma, Kollagenkrankheiten und gluteninduzierter Enteropathie. Es liegt nahe, dafür die gestörte Abwehr exogener Noxen an den Schleimhäuten verantwortlich zu machen. Intravenöses Immunglobulin enthält zu wenig IgA, um therapeutisch wirksam zu sein. Bei Patienten mit vollständigem IgA-Mangel ist es sogar kontraindiziert, da sie gegen übertragenes IgA Antikörper bilden, die zu schweren anaphylaktischen Reaktionen führen können.
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! Wegen dieser Gefahr sollten diesen Patienten niemals Blutkonserven, sondern nur gewaschene Erythrozyten transfundiert werden.
Selektiver Mangel an IgG-Subklassen Die 4 Subklassen des IgG unterscheiden sich in der konstanten Region C ihrer γ-Ketten. Zum Mangel an einer Subklasse kommt es, wenn das Gen für die betreffende C-Region durch Deletion ausfällt. Größere Deletionen können mehrere IgG-Subklassen gleichzeitig ausschalten. Dabei ist die Gesamtkonzentration des IgG im Serum oft nicht signifikant herabgesetzt, da auf IgG2, IgG3 und IgG4 zusammen nur 30–40% der Antikörper entfallen. Selbst der Mangel an IgG1 kann durch kompensatorische Zunahme der übrigen Subklassen maskiert werden, lässt sich aber durch isolierte Messungen aufdecken. Der IgG-Subklassenmangel ist selten und bleibt oft asymptomatisch. Gehäufte Infekte werden hauptsächlich bei Patienten mit zusätzlichem IgA-Mangel beobachtet. In diesen Fällen scheint eine kombinierte Differenzierungsstörung der B-Zellen vorzuliegen. Zur Therapie und Prophylaxe klinischer Manifestationen des IgG-Subklassenmangels ist intravenöses Immunglobulin geeignet. ! Bei gleichzeitigem totalen IgA-Defekt darf wegen der Sensibilisierungsgefahr nur Immunglobulin aus IgAMangelplasma verabreicht werden.
Variabler Immundefekt Phänotypisch handelt es sich bei dieser Kategorie der Immunschwäche um eine Hypogammaglobulinämie des Erwachsenenalters, die beide Geschlechter befällt und mit gestörter Antikörperbildung einhergeht. Die genetische Basis ist offenbar heterogen, denn der Erbgang kann autosomal-rezessiv, autosomal dominant oder X-chromosomal sein. Da die meisten Fälle sporadisch auftreten, wurde auch an erworbene Ursachen gedacht, etwa eine Autoimmunisierung gegen B- oder T-Zellen. Im Gegensatz zur klassischen X-chromosomalen Agammaglobulinämie sind die B-Zellen im Blut nicht vermindert, aber unreif. Sie scheinen nach neueren Untersuchungen keinen Intrinsic-Defekt zu haben, sondern von den T-Helferzellen ungenügend aktiviert zu werden. Man fand, dass die Stimulation der T-Zellrezeptoren nur ein schwaches Signal zur Gentranskription der Zytokine Interleukin-2, Interleukin-4, Interleukin-5 und Interferon-γ auslöst, die zur Interaktion von T-Helferzellen- und B-Zellen erforderlich sind. In manchen Fällen wird die Differenzierung der BZellen anscheinend durch CD-8-positive T-Suppressorzellen gehemmt. Der variable Immundefekt tritt gewöhnlich erst in der zweiten bis dritten Lebensdekade in Erscheinung. Für die späte Manifestation gibt es bisher keine Erklärung. Im Vordergrund des klinischen Bildes stehen wie bei der Xchromosomalen Agammaglobulinämie rezidivierende pyogene sinupulmonale Infektionen. Auch Meningoenzephalitiden
durch Echoviren und Lamblienfall des Darmes kommen vor. In wenigen Fällen lassen Erreger wie Mykobakterien, Pneumocystis carinii und Pilze auf eine zusätzliche Störung der zellulären Immunabwehr schließen. Viele Patienten leiden an rezidivierenden Herpes-simplex-Infektionen, ein Fünftel erkrankt an Herpes zoster. Im Gegensatz zur X-chromosomalen Agammaglobulinämie kommt es nicht selten zur einer diffusen Lymphadenopathie und zur Milzvergrößerung, wahrscheinlich durch persistierende Proliferation der unreifer B-Zellen, die auch maligne entarten können. Die Inzidenz von Lymphomen ist 300-fach erhöht, die des Magenkarzinoms 50-fach. Patienten mit variablem Immundefekt neigen außerdem zu diversen Autoimmunkrankheiten (Kollagenosen, Perniziosa, immunhämolytische Anämien, Thrombopenien, Neutropenien) und zu nicht verkäsenden Granulomen in der Haut, im Darm und in anderen Organen. Im Serumelektropherogramm ist keine oder nur eine ganz flache Gammaglobulinbande zu erkennen. Die Konzentration des IgG liegt unter 250 mg/dl, die der Immunglobuline A und E gewöhnlich unterhalb der Nachweisgrenze. Nach Applikation von Tetanustoxoid und anderen Vakzinen bleibt eine Antikörperbildung aus. Die Substitutionsbehandlung mit intravenösem Immunglobulin korrigiert die infektiösen Komplikationen. Sie beseitigt auch Lymphadenopathie, Milzschwellung und intestinale Störungen. Anaphylaktische Reaktionen lösen die zugeführten Immunglobuline nicht aus, da die Patienten diese Proteine früher gebildet haben und immuntolerant gegen sie geworden sind. Lamblien müssen antibiotisch eliminiert werden. Defekte der zellulären Immunreaktionen T-Zelldefekte, die sich allein auf die zellvermittelten Immunreaktionen und nicht auf die Antikörperbildung der B-Zellen auswirken, sind sehr selten. Sie betreffen die CD4+-T-Helferzellen vom Typ TH1 und die zytotoxischen CD8+-T-Zellen. Die CD4+-Helferzellen vom Typ TH2 bleiben bei diesen Defekten offenbar funktionstüchtig, denn andernfalls könnte die Antikörperbildung nicht in normaler Weise stattfinden. DiGeorge-Syndrom Kongenitale, aber nicht erbliche Thymushypoplasie, die mit weiteren Fehlbildungen (Hypoplasie der Nebenschilddrüsen, Fehlbildungen des Aortenbogen, des Herzens und des Gesichtes) verbunden ist. Das Syndrom entsteht durch eine Entwicklungsstörung der 3. und 4. Schlundtasche. Als Ursachen kommen eine Monosomie 22, eine fetale Alkoholintoxikation und andere Keimschädigungen vor. Der Mangel an Thymusgewebe führt zu einem selektiven Defekt der zellulären Immunreaktionen, denn die residuale Aktivität der T-Helferzellen reicht aus, um die BZellen zu normaler Immunglobulin- und Antikörperbildung zu stimulieren. Das Ausmaß des zellulären Immundefekts hängt vom Grad der Thymushypoplasie ab. In schweren Fällen erkranken die Kinder 2–3 Monate nach der Geburt an Candidiasis, rezidivierenden
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Kapitel 8 · Krankheiten des Immunsystems
Virusinfektionen und Pneumonien durch Pneumocystis carinii. Sie sterben im ersten Lebensjahr, wenn keine Transplantation von fetalem Thymusgewebe oder Knochenmark erfolgt. Bei weniger ausgeprägter Thymushypoplasie können sich im Laufe der Zeit genügend funktionstüchtige T-Zellen entwickeln. > Im Vordergrund steht bei den meisten Kindern die 2 Tage post partum auftretende Hypokalzämie.
Herz- und Gefäßfehlbildungen sind die häufigste frühe Todesursache.
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Purinnukleosid-Phosphorylasemangel Autosomal-rezessiv erblicher Enzymdefekt, der zu einer selektiven T-Zellenschädigung und zum Ausfall der zellvermittelten Immunreaktionen führt. Das Enzym PNP hat im Nukleinsäurestoffwechsel die Funktion, Inosin und Desoxyinosin zu Hypoxanthin und Guanosin und Desoxyguanosin zu Guanin abzubauen. Diese Nukleoside häufen sich bei PNP-Mangel an und werden durch Kinasen teilweise in Triphosphate übergeführt. T-Zellen bilden vor allem das für sie toxische Desoxyguanosintriphosphat (dGPT). Zahl und Funktion der T-Zellen nimmt erst nach der Geburt ab, während B-Zellen, Immunglobuline im Serum und Antikörperbildung normal bleiben. Die klinische Manifestation der Immunschwäche erfolgt gegen Ende des ersten Lebensjahres oder später und ist durch rezidivierende virale, bakterielle und Pilzinfektionen gekennzeichnet. Mit keinem Antigen lassen sich Hautreaktionen vom verzögerten Typ induzieren. ! Nach Bluttransfusionen kommt es zu Graft-versus-HostReaktionen.
Als Komplikationen treten autoimmunhämolytische Anämien und Lymphome auf. Therapie: Ohne Knochenmarktransplantation sterben die Kinder innerhalb einiger Jahre. Mit einem Enzymersatz durch Erythrozytenübertragungen gelingt nur eine befristete Besserung. Defekt der T-Zellrezeptorexpression der CD8+-Lymphozyten Bei diesem autosomal-rezessiv vererbten Defekt können die CD8+-T-Zellen keinen Antigenrezeptor (TCR) exprimieren, weil in dem dazu benötigten CD3-Komplex, der aus den Untereinheiten α, β und γ besteht, die Komponente CD3γ fehlt. Die Folge ist ein selektiver Ausfall der zellvermittelten Zytotoxizität mit Immunschwäche gegen Virus- und Pilzinfektionen. Gleichzeitig besteht eine Tendenz zu autoimmunhämolytischen Anämien. Die CD4+-T-Helferzellen sind nicht betroffen, da der CD3-Komplex bei ihnen aus den Untereinheiten α, β und δ zusammengesetzt ist. Von ihnen werden die B-Zellen zu effektiver Antikörperbildung stimuliert. Aus unklaren Gründen wird aber die Subklasse IgG2 vermindert gebildet.
Autosomal-rezessiver ZAP-70-Mangel Das Fehlen der Thyrosinkinase ZAP-70 (Zeta-assoziiertes Protein, MG: 70 dalton) in der Zellmembran bewirkt bei CD8+-Zellen und der TH1-Helferzellen eine Störung der Signalübertragung vom T-Zellrezeptor ins Zellinnere zur Aktivierung des IL-2-Gens und damit einen Funktionsausfall dieser Zellen. Da der ZAPDefekt ihre Ausreifung im Thymus verhindert, erscheinen keine CD8+-Zellen im Blut. CD4+-Zellen und B-Zellen sind nicht vermindert. Offenbar findet eine Stimulation der B-Zellen durch TH2-Helferzellen statt, denn die Antikörperbildung ist nicht gestört. Auch die Konzentration der Immunglobuline ist normal. Die betroffenen Kinder erkranken im ersten Lebensjahr an einer schweren, durch den selektiven Ausfall aller zellulären Immunreaktionen bedingten Immunschwäche, die nur durch Knochenmarktransplantation zu beheben ist. MHC-Klasse-I-Mangel Bei diesem Defekt können die CD8+-T-Zellen ihre zytotoxische Funktion nicht ausüben, da ihnen keine Antigene präsentiert werden. Zur Expression von Molekülen der MHC-Klasse I an ihrer Oberfläche sind alle kernhaltigen Körperzellen befähigt. Sie verankern mit ihnen antigene Peptide, die im Zytosol aus abgebauten Virus- und Bakterienproteinen entstehen (7 Kap. 7.1). Im Komplex mit den MHC-I-Molekülen werden diese Peptide ausschließlich von den CD8+-Zellen erkannt, deren Funktion darin besteht, die infizierten Zellen abzutöten. Beim selektiven MHCI-Mangel ist der Transport der MHC-I-Peptid-Komplexe aus dem endoplasmatischen Retikulum an die Zelloberfläche gestört, weil das dafür zuständige Carrierprotein TAP wegen eines Gendefektes nicht gebildet wird. Die Zahl der MHC-I-Moleküle an der Zelloberfläche erreicht nur 1–3% der Norm. Im Blut sind die α/βCD8-Zellen vermindert. Anscheinend ist ihre Produktion von MHC-I-Molekülen an den Thymusepithelien abhängig. Klinisch resultieren sinubronchiale Infektionen, die erst im späten Kindesalter auftreten und erkennen lassen, dass die Präsentation von Bakterienantigenen durch die MHC-Klasse I von physiologischer Bedeutung ist. B-Zellen und Immunglobuline werden normal gebildet. Der Antikörpertiter gegen Bakterien und Viren ist sogar hoch. Die ausgeprägte humorale Immunantwort scheint schwere Virusinfektionen zu verhindern. Chronische mukokutane Candidiasis Autosomal-rezessiver T-Zelldefekt, der eine selektive Immunschwäche gegen Candida bewirkt. Während Antikörper gegen Candida gebildet werden, kommt es nicht zu Hautreaktionen vom verzögerten Typ gegen Candida-Antigene. Offenbar unterbleibt die Mobilisierung der Makrophagen. Im Übrigen funktionieren T- und B-Lymphozyten normal. Der Candidabefall ist ziemlich therapieresistent, bleibt aber in der Regel auf Haut und Schleimhäute begrenzt. Die genaue Charakterisierung des Defekts steht noch aus.
753 8.5 · Immunschwächekrankheiten
Kombinierte Immundefekte Schwerer kombinierter Immundefekt (SCID) Die Inzidenz liegt in der Größenordnung von 1 Fall auf 100.000 Lebendgeburten. Der klinische Phänotyp ist einheitlich: Normale Entwicklung bis zum 3. Lebensmonat. Dann Auftreten einer persistierenden oralen und kutanen Moniliasis, gefolgt von therapieresistenter Diarrhöe und einer durch Pneumocystis carinii verursachten interstitiellen Pneumonie. Fulminante Virusinfektionen (mit Herpes-, Adeno-, Zytomegalie- oder Varizellenvirus) treten häufig hinzu. Durch plazentar übertragene Lymphozyten der Mutter kann es zu einer Graft-versus-Host-Reaktion mit masernähnlichem Exanthem kommen. Mit allogenen Stimuli lassen sich weder zellvermittelte Immunreaktionen noch Antikörper induzieren. Unbehandelt sterben die Säuglinge im ersten Lebensjahr. Genetische Ursache und Pathogenese der kongenitalen globalen Immunschwäche sind unterschiedlich. Nachstehende Varianten kommen vor: 4 Aplasie der lymphoiden Stammzellen: Sehr seltener autosomal-rezessiv erblicher Defekt, bei dem die gemeinsame Stammzelle der T- und B-Lymphozyten fehlt. Es resultiert eine Alymphozytose mit schwerer globaler Immunschwäche. Nur eine rasche Knochenmarktransplantation kann die Kinder retten. 4 X-chromosomaler Defekt des Interleukin-2-Rezeptors: Mit einem Anteil von 60% häufigste Form des SCID. Der Defekt betrifft die γ-Kette des IL2-Rezeptors, die auch eine Komponente der Rezeptoren für Interleukin-4, Interleukin-7, Interleukin-11 und Interleukin-15 ist. Er hat zur Folge, dass die Entwicklung der T-Zellen schon in der Frühphase gestört wird und die der B-Zellen in der Spätphase. Der Thymus reift nicht zu einem lymphatischen Organ aus. Es resultiert eine Lymphopenie, denn das Blut enthält keine T-Zellen, sondern nur B-Zellen. Deren Zahl ist zwar normal, doch bleiben sie unreif und bilden keine Antikörper. Im Serum ist die Konzentration aller Immunglobuline stark herabgesetzt. In seltenen Fällen findet man eine M-Komponente. Bei obligat heterozygoten weiblichen Merkmalsträgern zeigen T-Zellen, natürliche Killer-Zellen und reife B-Zellen keine randomisierte X-Chromosomeninaktivierung. Als Zeichen für die schwere des Defektes überleben nur die Zellen mit normalem XChromosom. 4 Adenosindesaminase-(ADA-)Mangel: Von den Patienten mit autosomal-rezessiv vererbtem SCID haben etwa 50% einen ADA-Mangel. Wenn das Enzym ausfällt, werden Adenosin und Desoxyadenosin ungenügend desaminiert. Letzteres führen die mit hoher Kinaseaktivität ausgestatteten Vorstufen der T-Zellen und der B-Zellen in toxisches Desoxy-Adenosintriphosphat (dATP) über. Das klinische Bild gleicht dem des X-chromosomalen SCID. Alle Patienten sind lymphopenisch, und die meisten haben eine Panhypogammaglobulinämie. Bei 15% der Fälle sind die Immunglobulinspiegel zunächst normal, fallen aber progredient ab. Eine palliative Substitutionstherapie ist mit wöchentlicher intravenöser Ap-
plikation von polyäthylenglykol-modifizierter Rinder-ADA möglich. Heilungschancen bietet die Knochenmarktransplantation. Versuche mit der Gentherapie sind noch im präklinischen Stadium. 4 Defekt der Interleukin-2-Produktion: Antigenstimulierte TZellen bilden in diesem Fall zwar IL-2-Rezeptoren, aber kein Interleukin-2. Wahrscheinlich fehlt ein DNA-bindendes Protein, das für die Aktivierung des IL-2-Gens erforderlich ist. Trotz normaler Lymphozytenzahl resultiert eine frühmanifeste schwere Störung der humoralen und zellulären Immunabwehr. MHC-Klasse-II-Mangel Der Defekt betrifft die antigenpräsentierenden Zellen (dendritische Zellen, Monozyten, Makrophagen, B-Zellen). Sie können keine MHC-Moleküle der Klasse II bilden und deshalb auch keine antigenen Peptide exprimieren. Daraus folgt, dass die zur Einleitung der humoralen und zellulären Immunantwort notwendige Aktivierung der CD4+-T-Zellen unterbleibt (7 Kap. 7.1). Die Ursache für den Mangel an MHC-Klasse-II-Molekülen kann der Defekt eines Promotorproteins sein oder das Fehlen eines Transaktivators, der die Promotoren für die Expression des MHC-II-Genkomplexes koordiniert. Die MHC-I-Moleküle werden exprimiert, häufig aber in subnormaler Zahl. Die Kinder leiden an chronischen Diarrhöen, Candidiasis und Infektionen der Atemwege, überstehen aber die BCG-Impfung und bekommen nach Bluttransfusionen keine Graft-versus-Host-Reaktion. Die Erkrankung verläuft nicht so dramatisch wie der schwere kombinierte Immundefekt, führt aber in der ersten oder zweiten Dekade zum Tode, falls keine Knochenmarktransplantation erfolgt. Ataxia teleangiectatica Kombinierter Immundefekt infolge mangelhafter Differenzierung der T- und B-Lymphozyten. Gestört ist die Rekombination der TCR- und der Ig-Gene (7 Kap. 7.1) durch einen allgemeineren Defekt der DNA-Verknüpfung, der auch die DNA-Reparatur beeinträchtigt und deshalb zur Chromosomeninstabilität und zu Chromosomenbrüchen führt. Zu den Manifestationen der autosomal-rezessiv vererbten Krankheit gehören neben der Immunschwäche eine progrediente zerebelläre Ataxie, Teleangiektasien im Bereich der Konjunktiven und der lichtexponierten Haut sowie eine hohe Inzidenz maligner Neoplasmen, unter denen Hodgkin-Lymphome und akute lymphatische Leukämien die häufigsten sind. Zuerst tritt Ende des 2. Lebensjahres die Ataxie auf, einige Jahre später die Teleangiektasie. Der Immundefekt äußert sich in sinupulmonalen Infektionen durch Bakterien und Viren mit progredienter sekundärer Bronchiektasie. Der Thymus ist hypoplastisch, die Zahl der T-Zellen vermindert. Es überwiegt der ineffiziente T-Zelltyp mit einem d/γTCR ohne die CoRezeptoren CD4 und CD8. Immunreaktionen vom verzögerten Typ bleiben aus, die Antikörperbildung ist gestört. Bei normaler Anzahl der B-Zellen sind die Konzentrationen des IgM und IgD
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Kapitel 8 · Krankheiten des Immunsystems
im Serum normal oder erhöht, die des IgA und IgE meistens stark herabgesetzt. Auch die Subklassen IgG2 und IgG4 können vermindert sein. Eine effektive Behandlung ist nicht bekannt. Vorübergehend hilft die intravenöse Immunglobulinsubstitution. Kinder, die das 10. Lebensjahr erreichen, sterben danach oft an Neoplasien.
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Wiskott-Aldrich-Syndrom (WAS) Das X-chromosomal-rezessive Erbleiden ist durch die Trias Thrombopenie, rezidivierende Infekte und Ekzem gekennzeichnet. Es basiert auf einem Defekt des sog. WAS-Proteins, das nach Aktivierung durch eine Membran-GTPase die Aktinpolymerisation und damit die Anordnung des Zytoskeletts der Lymphozyten und Megakaryozyten kontrolliert. Dem Mangel an PAS-Protein können unterschiedliche Mutationen des kodierenden Gens zugrunde liegen. Er verändert die Zytoarchitektur und damit auch die Funktion von T-Zellen, B-Zellen und Thrombozyten. Die Patienten bilden keine Antikörper gegen Polysaccharidantigene, keine Isohämagglutinine und reagieren auch auf Proteinantigene schwach. Sie haben ausgedehnte Ekzeme und neigen zu bakteriellen und opportunistischen Infektionen. Bei niedrigem IgM sind IgA und IgE im Serum erhöht und die IgG-Subklassen meistens normal. Im Verlauf nimmt die Zahl der T-Zellen im Blut ab, die der B-Zellen steigt. Initialsymptom im ersten Lebensjahr sind blutige Diarrhöen und eine Thrombopenie mit kleinen Thrombozyten. Die Strukturanomalie der Plättchen bewirkt eine Entfernung von Membranfragmenten in der Milz und eine beschleunigte Sequestration. Nach Splenektomie werden Zahl und Größe der Plättchen normal. Früher starben die Patienten innerhalb der ersten Dekade. Splenektomie und Immunglobulinsubstitution haben die Lebenserwartung verbessert. Heilungschancen bietet die Knochenmarktransplantation. Immunschwäche durch Komplementdefekte Das Komplementsystem hat wichtige Abwehrfunktionen. Es greift Krankheitserreger direkt an, verstärkt die humorale Immunantwort und stimuliert durch freigesetzte Mediatoren die Entzündungsreaktion. Seine Aktivierung erfolgt ähnlich der Blutgerinnung über eine proteolytische Kaskade, die zum einen durch Immunkomplexe aus IgM, IgG1, IgG2 oder IgG3 und ihren Antigenen (klassischer Weg), zum anderen durch Polysaccharide der Bakterienwand (alternativer Weg) in Gang gesetzt wird. Eine Schlüsselposition nimmt die Komponente C3 ein. Sie wird auf beiden Wegen in die Komponente C3b übergeführt, die als Opsonin die Phagozytose antikörperbesetzter Bakterien fördert und die Präzipitation zirkulierender Immunkomplexe verhindert. Außerdem ist C3b die essenzielle Komponente der Enzymkomplexe C3- und C5-Konvertase, die den terminalen Abschnitt der Komplementaktivierung einleiten, die Bildung des membranangreifenden Komplexes aus den Komponenten C5–C9, der Bakterien zerstört. Die genetischen Defekte der Komplementfaktoren haben unterschiedliche Auswirkungen:
4 Fehlt eine der Komponenten des klassischen Aktivierungsweges (C1, C2, C4), resultiert keine oder eine beherrschbare Infektanfälligkeit, weil das Komplementsystem auf dem alternativen Weg weiterhin aktiviert werden kann. 4 Dagegen führt der sehr seltene Mangel an C3 zu lebensbedrohlichen Infektionen, denn in diesem Fall werden weder C3b noch der membranangreifende Komplex gebildet. 4 Defekte der Komponenten C5, C6, C7, C8 oder C9 haben einen Ausfall des membranangreifenden Komplexes und eine Abwehrschwäche gegen selektive Bakterien (Meningokokken und Gonokokken) zur Folge, deren Abtötung diesem Faktorenkomplex obliegt. Immunschwäche durch Phagozytendefekte Leukozytenadhäsionsdefekt Gestört ist das Anheften der Neutrophilen und Monozyten an das Gefäßendothel, der Durchtritt durch die Gefäßwand und die Aufnahme opsonierter Bakterien, da den Phagozyten die dazu notwendigen β2-Integrine fehlen. Das sind die heterodimeren Oberflächenmoleküle CD11a/CD18, CD11b/CD18 und CD11c/ CD18. Der autosomal-rezessiv vererbte Defekt betrifft ihre gemeinsame Komponente CD18, die vollständig fehlt oder stark vermindert ist. Die Unfähigkeit der Neutrophilen, den Entzündungsort zu erreichen, führt hauptsächlich zu chronischen nekrotisierenden Haut- und Weichteilinfektionen und zu Pneumonien und Hepatomegalie. Beim totalen CD18-Mangel resultieren lebensbedrohliche systemische Infektionen (Peritonitis, Sepsis, aseptische Meningitis). Einige Patienten sterben an Virusinfektionen. Die Neutrophilen sind im Blut stark vermehrt, in den Wunden aber nur spärlich vertreten, so dass die Eiterbildung unterbleibt. Therapie: Die Patienten werden antibiotisch und mit Granulozytentransfusionen behandelt. Sie können durch Knochenmarktransplantation geheilt werden. Septische Granulomatose Das Syndrom basiert auf einem autosomal-rezessiv erblichen Defekt des NADPH-Oxidasesystems der Phagozyten, der ihnen die Fähigkeit nimmt, intrazelluläre und phagozytierte extrazelluläre Bakterien abzutöten. Jede der 4 Komponenten der Neutrophilenoxidase kann von einer Mutation betroffen sein. Am häufigsten ist es die Untereinheit p91phox des Cytochrom b, deren Gen am X-Chromosom lokalisiert ist. Die klinischen Manifestationen sind Candidabefall und bakterielle Infektionen mit Katalase-positiven Erregern wie Staphylococcus aureus, Serratia marcescens, Pseudomonas cepacia und Salmonellen. Es kommt zu Granulomen in der Lunge, im Gastrointestinaltrakt und in den Harnwegen, die nicht abgetötete Bakterien enthalten. Prophylaktisch und therapeutisch sind Antibiotika wirksam, speziell Trimethoprim plus Sulfamethoxazol. Injektionen von γ-Interferon können die Häufigkeit der Infektionen reduzieren.
755 8.5 · Immunschwächekrankheiten
8.5.2 Stammzellentransplantation und
Gentherapie bei erblichen Immundefekten Die schweren, einst letalen Formen der erblichen Immunschwäche sind durch Knochenmarktransplantation oder Stammzellenübertragung aus Nabelschnurblut zu heilbaren Krankheiten geworden. > Die Transplantation ist möglichst frühzeitig vorzunehmen, da fortgeschrittene infektiöse Organläsionen die Prognose verschlechtern.
Beim schweren kombinierten Immundefekt (SCID) konnten mit Transplantaten von HLA-identischen Geschwistern Erfolgsquoten bis zu 90% erzielt werden. In diesen Fällen kommt es wegen der Immunschwäche nicht zur Transplantatabstoßung, sondern nur zu meist leichten Graft-versus-Host-Reaktionen. Da höchstens 20% der Patienten HLA-identische Geschwister haben, überträgt man auch Transplantate von HLA-haploidentischen Eltern und von nicht verwandten Spendern mit partieller HLAÜbereinstimmung. Damit solche Transplantate optimal angehen, wird der Empfänger mit Busulfan und Cyclophosphamid vorbehandelt (»konditioniert«). Außerdem ist es notwendig, aus dem Transplantat die reifen T-Zellen durch spezifische Agglutinationsmethoden weitgehend zu eliminieren, weil es sonst zu starken Graft-versus-Host-Reaktionen kommt. Eine Konditionierung des Empfängers und T-Zellentfernung aus dem Transplantat sind unerlässlich, wenn Patienten mit Wiskott-Aldrich-Syndrom, MHC-II-Defekt und Phagozytendefekten transplantiert werden, denn die T-Zellen der Empfänger sind bei diesen Erkrankungen immunkompetent. Die Heilungsraten der Transplantationstherapie mit partiell kompatiblen Spendern variieren je nach Immunschwächetyp und Vorbedingungen zwischen 20 und 80%, der Mittelwert beträgt 50%. Die neueste Entwicklung geht dahin, den Stammzellen aus dem Knochenmark oder Nabelschnurblut der Patienten in vitro für das fehlende oder defekte Gen ein normales, mittels Klonierung hergestelltes Gen zu übertragen. Als Vektoren können dazu Retroviren und das adenoassoziierte Virus (ein nicht pathogenes Parvovirus) verwendet werden. Erste präklinische Versuche bei ADA-Mangel ergaben, dass im Blut der Kinder nach dem Gentransfer ADA-haltige T-Zellen erschienen. Die ADA-Aktivität der gesamten T-Zellpopulation stieg unter wiederholten Stammzellübertragungen fortlaufend an und erreichte in einem Fall 2 Jahre nach der letzten Infusion 25% der Norm. Wahrscheinlich haben die transduzierten T-Zellen gegenüber den ADA-negativen einen Überlebensvorteil. Wie lange die Wirkung des Gentransfers anhält bzw. wie oft dieser im Laufe der Zeit wiederholt werden muss, bleibt abzuwarten. Komplikationen traten bei dieser Behandlungsmethode nicht auf.
8.5.3 Erworbenes Immunschwächesyndrom
(AIDS) Definition. AIDS (aquired immunodeficiency syndrome) ist eine
erworbene, tödliche Immunschwächekrankheit, die als Spätmanifestation einer Infektion mit dem menschlichen Immunschwächevirus (human immunodeficiency virus = HIV) auftritt. Epidemiologie. Vorkommen und Häufigkeit: Die ersten AIDS-Fälle wurden 1981
in den USA bei homosexuellen Männern beobachtet. Zwei Jahre später hat man das HIV-Virus als Krankheitsursache erkannt. Weltweit gab es 2003 ungefähr 40 Millionen HIV-Infizierte, in Europa 600.000, Nordamerika 995.000, Südostasien 6.400.000, Ostasien 1.000.000 und im Sub-Sahara-Afrika 26.600.000. Vom AIDS-Zentrum im Robert-Koch-Institut in Berlin wurden für die Bundesrepublik mit Stand Ende 2004 folgende, auf anonymen Meldungen basierende Zahlenangaben gemacht: 4 Gesamtzahl der Infizierten seit Beginn der Epidemie 65.000 4 Gesamtzahl der HIV-Todesfälle seit Beginn der Epidemie 22.000 4 Gesamtzahl der derzeit HIV-Infizierten 43.000 4 Neue HIV-Infektionen pro Jahr 2.000 4 Neue AIDS-Erkrankungen pro Jahr 700 4 AIDS-Todesfälle pro Jahr 600. Übertragung: Das HIV wird durch homosexuellen und heterosexuellen Geschlechtsverkehr, durch Blut und Blutprodukte und von infizierten Müttern – pränatal, perinatal oder durch die Muttermilch – auf Kinder übertragen. Infizierte Sexualpartner sind die weitaus häufigste Ansteckungsquelle. Beim Analverkehr ist die Ansteckungsgefahr wegen der fragilen Rektumschleimhaut besonders groß. Zunächst waren die meisten AIDS-Kranken homosexuelle Männer. Inzwischen ist der heterosexuelle Sexualkontakt zum häufigsten Übertragungsmodus der HIV-Infektion geworden, besonders in den Entwicklungsländern. Eine Risikogruppe mit hohem Anteil HIV-Infizierter sind die intravenös spritzenden Drogenabhängigen, weil sie oft unsterile Nadeln und Spritzen benutzen. Das Erkrankungsrisiko des medizinischen Personals nach der Stichverletzung mit einer durch das Blut eines HIV-Infizierten verunreinigten Nadel beträgt nur 0,3%, während die gleiche Exposition im Fall einer Hepatitis B in 30% der Fälle zur Ansteckung führt. Bevor es möglich war, die HIV-Infektion serologisch nachzuweisen, ist das HIV häufig durch kontaminierte Blutkonserven und Produkte aus Blutplasma übertragen worden. So wurden tausende von Blutern mit HIV-haltigen Faktor-VIII-Präparaten infiziert. Zu einer Übertragung der HIV-Infektion von der Mutter auf den Feten bzw. das Kind kommt es mit einer Wahrscheinlichkeit von 30%. Am häufigsten ist die perinatale Ansteckung des Säuglings. Keine Infektionsgefahr besteht durch körperliche Berührung, Speichel (Küssen), Tränen, Schweiß und Urin.
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Kapitel 8 · Krankheiten des Immunsystems
Ätiologie. Die beiden Erreger sind HIV-1 und HIV-2. Das 1983
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isolierte HIV-1 ist am weitesten verbreitet. Von ihm sind 8 Subtypen bekannt. HIV-2 wurde erst 1986 in Westafrika gefunden, später auch in Europa, Kanada, Nord- und Südamerika. Es handelt sich um ein Retrovirus (. Abb. 8.19), dessen RNA-Genom in der infizierten Zelle von einer viruseigenen Transkriptase in eine DNA-Kopie übersetzt wird. Anschließend fügt eine Integrase die als Provirus bezeichnete DNA-Kopie in das Zellgenom ein, wo sie dauerhaft als Matritze für die Synthese viraler RNA dient. Diese wird teils als Genom in neue Viruspartikel verpackt, teils als Messenger-RNA in virusspezifische Proteine translatiert. Die aus RNA und viralen Proteinen zusammengefügten Viren gelangen an die Zellmembran, bilden hier kleine Knospen und werden durch Abschnürung freigesetzt. Das HIV besitzt eine Hülle mit dem Oberflächenprotein gp120 (gp für Genprodukt) und dem transmembranen Protein gp41. In die Virushülle werden bei der Ausstülpung auch Membrankomponenten der Wirtszelle aufgenommen. Unter der Hülle liegt das Strukturprotein p17 der Virusmatrix. Das Kapsid wird vom Protein p24 gebildet. Es umschließt das aus zwei identischen RNA-Kopien bestehende Genom, das mit dem Protein p7 assoziiert ist. Das HIV ist ferner mit verschiedenen Regulatorproteinen ausgestattet, von denen das Transaktivator-Protein Tat die Expression des Virusgenoms stimuliert. Die inneren Strukturproteine und die reverse Transkriptase werden durch eine Virusprotease aus einem Fusionsprotein freigesetzt. Diese späte Phase der Virusreplikation kann durch Proteinaseinhibitoren gehemmt werden, ein therapeutisch nutzbarer Effekt (7 unten). Der Zellrezeptor für das HIV ist das Oberflächenmolekül CD4. An ihm setzt das Virus mit seinem Hüllenprotein gp120 an. Nur Zellen, die diesen Rezeptor tragen, werden infiziert. Das sind
p6gag
p17gag
Reverse Transkriptase
gp120env Protease gp41env
p9gag Einzelstrang HIV-1 RNS p24gag Membranproteine der Wirtzszelle
Lipid-Doppelschicht
. Abb. 8.19. Aufbau des HIV-1 (aus Lexikon Medizin. Springer, Berlin 2004)
in erster Linie die CD4-T-Lymphozyten, die im Immunsystem eine Schlüsselstellung einnehmen, aber auch Monozyten, Makrophagen und die antigenpräsentierenden dendritischen Zellen. Einige CD4-negative Zellen (fetale Astrozyten, Hautfibroblasten, Neuroblastomzellen) kann das HIV zwar infizieren, vermehrt sich in ihnen aber nur schwach. Zum Eindringen des HIV in die Zelle ist neben dem CD4-Rezeptor ein als Fusin bezeichneter Co-Faktor erforderlich, der ebenfalls an der Zellmembran exprimiert wird. Pathogenese. Die HIV-Infektion führt durch eine progrediente
Vernichtung der CD4-T-Lymphozyten zum Zusammenbruch des Immunsystems. Zerstört werden die CD4-Zellen teils durch den eingedrungenen Virus, teils durch Immunreaktionen, denen sie durch Virusantigene an ihrer Oberfläche ausgesetzt sind. An ihrer immunologischen Elimination wirken zytotoxische CD8-T-Lymphozyten, natürliche Killerzellen und Makrophagen mit, letztere indem sie antikörperbesetzte CD4-T-Zellen phagozytieren. Nicht nur die Zahl der CD4-Zellen nimmt ab, sondern auch ihre Funktionstüchtigkeit. Das zeigt sich schon relativ früh an einer Abschwächung der Immunantwort gegen lösliche Antigene. Die B-Lymphozyten werden vom Virus oder seinen Produkten auf direktem Wege zur polyklonalen Proliferation stimuliert. Dadurch kommt es zu einer Hypergammaglobulinämie und zu Autoantikörpern. Die von den CD4-T-Zellen abhängige spezifische humorale Immunantwort der B-Zellen gegen Proteine und bakterielle Antigene ist jedoch abgeschwächt. Es resultiert also ein kombinierter Immundefekt. Auf Monozyten und Makrophagen hat das HIV nur einen geringen zytopathologischen Effekt. Es kann sich in diesen Zellen reichlich vermehren. Die zirkulierenden Monozyten sind zunächst kaum infiziert, ihre Anzahl bleibt normal. Eine fortlaufende Vermehrung des HIV findet dagegen in den Makrophagen der Lymphknoten und Gewebe statt. Hauptsächlich etabliert sich das Virus in den Keimzentren der Lymphknoten. Hier wird es von Makrophagen und CD4-Zellen produziert und vom Netzwerk der dendritischen Zellen zurückgehalten, an deren Fortsätzen es sich anlagert. An der Virusreplikation scheinen die dendritischen Zellen wenig beteiligt zu sein. Im Spätstadium der HIV-Infektion werden die dendritischen Zellen vom Virus zerstört. Weil die Lymphknoten dadurch ihre Filterfunktion verlieren, kommt es zu einer massiven Virämie und jetzt auch zu einem verstärkten Virusbefall der zirkulierenden Monozyten. Primärstadium der HIV-Infektion Auf dem Blut- oder Lymphweg eingedrungenes HIV gelangt zunächst in die Lymphknoten. Dort vermehrt es sich mit hoher Replikationsrate und tritt dann in großen Mengen in die Blutbahn über. Kinetische Untersuchungen ergaben, dass die Hälfte des im Blut zirkulierenden Virus in 2 Tagen eliminiert und wieder aufgefüllt wird. Die initiale Virämie erreicht nach 6 Wochen ihren Höhepunkt und klingt gegen Ende der 12. Woche ab. Die Über-
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windung der Virämie ist das Ergebnis einer humoralen und zellulären immunologischen Abwehrreaktion. Von der 5. Woche an werden neutralisierende Antikörper gegen das HIV gebildet, andere Antikörper vermitteln die Zerstörung virusinfizierter CD4T-Zellen durch Makrophagen oder natürliche Killerzellen (7 oben). An den zellulären Immunreaktionen sind CD4-Zellen, CD8-Zellen, natürliche Killerzellen und Makrophagen beteiligt. Obwohl die Virusproduktion nach der Serokonversion stark abnimmt, reicht die Aktivierung des Immunsystems nicht aus, um das HIV aus dem Körper zu eliminieren. Schon während der initialen Virämie fällt die Zahl der CD4-Zellen im Blut deutlich ab. Sie steigt dann noch einmal und liegt zu Beginn der Latenzphase gewöhnlich im unteren Normbereich (>500/mm3). Klinik. Das Primärstadium der HIV-Infektion dauert 10–12 Wochen und kann völlig symptomlos verlaufen. In 50–70% der Fälle kommt es 3–6 Wochen nach der Ansteckung durch die immunologische Abwehrreaktion zum akuten HIV-Syndrom mit einem der Mononukleose ähnlichen Krankheitsbild. Es ist durch Lethargie, Fieber, Kopfschmerz, Pharyngitis, Lymphadenopathie, Arthralgien, Übelkeit, Erbrechen und Durchfälle gekennzeichnet. Häufig tritt auch ein makulopapulöser Hautausschlag auf (. Abb. 8.20), während neurologische Manifestationen wie Meningitis, Enzephalitis, Hirnnervenlähmungen (V, VII, VIII) und periphere Neuropathie relativ selten sind. Die meisten klinischen Symptome bilden sich im Laufe von 2–4 Wochen spontan zurück. Eine asymptomatische generalisierte Lymphknotenvergrößerung kann längere Zeit bestehen bleiben und ist nicht als prognostisch ungünstig anzusehen.
. Abb. 8.20. Exanthem bei akuter HIV-Infektion (aus Lexikon Medizin. Springer, Berlin 2004)
Diagnostik. Der anamnestisch oder klinisch begründete Ver-
dacht auf eine HIV-Infektion kann nur durch serologische Untersuchungen bestätigt oder widerlegt werden. Standard-Screening-Test: Diese Funktion hat der ELISA (enzyme linked immunosorbent assay) mit einem Kit, der Antigene von HIV-1 und HIV-2 enthält. Der Test wird 4–8 Wochen, spätestens 3 Monate nach der Primärinfektion positiv und bleibt es während des ganzen Krankheitsverlaufes. Da er eine Sensitivität von 99,5% besitzt, bedeutet ein negatives Testergebnis bei fehlender Exposition während der letzten 3 Monate, dass keine HIVInfektion vorliegt. Bei Verdacht auf eine kürzlich erfolgte Ansteckung ist der Test innerhalb von 3 Monaten zu wiederholen. Ein positiver oder zweifelhafter ELISA ist gleichfalls wiederholungsbedürftig. Fällt er zweimal nacheinander negativ aus, kann das erste Ergebnis als falsch positiv angesehen werden. Bestätigungstest Western-Blot: Wegen der geringen Spezifität der ELISA-Reaktivität muss jeder bei der Wiederholung positive oder zweifelhafte ELISA-Befund mit dem Western-Blot auf HIV überprüft werden. Bei diesem Verfahren werden die HIV-Antigene nach elektrophoretischer Auftrennung mit dem Patientenserum zur Reaktion gebracht. Ein positiver Western-Blot sichert die Diagnose HIV-Infektion. Ein negativer Western-Blot schließt bei positivem oder zweifelhaftem ELISA eine HIV-Infektion aus. Jeder zweifelhafte Western-Blot ist zu wiederholen und durch einen direkten HIV-Test zu ergänzen. Direkter HIV-Nachweis: Die aufwendige Isolierung des HIV aus Plasma oder Blut durch Zellkulturen wird nur zu Forschungszwecken durchgeführt. In der klinischen Diagnostik beschränkt man sich auf den Nachweis der Nukleinsäuren des HIV. Mittels der Polymerase-Kettenreaktion (PCR) lassen sich provirale DNA und virale RNA erfassen. Neuerdings bevorzugt man die bDNATechnik, die über eine Hybridisierung mit verzweigter (branched) DNA eine hoch empfindliche Messung der HIV-RNA im Plasma erlaubt. Mit dem Nachweis von HIV-Provirus oder HIVRNA ist die Diagnose HIV-Infektion bestätigt. Im Latenzstadium der HIV-Infektion kann der Test auf HIV-Nukleinsäuren negativ ausfallen. In der Regel sind dann aber HIV-Antikörper nachzuweisen. Wird ein zweifelhafter Western-Blot bei negativem PCRoder dDNA-Test im Verlauf nicht positiv, liegt keine HIV-Infektion vor. Nachweis des p24-Antigens: Das Kapsidprotein p24 des HIV-1 wird von zahlreichen HIV-Patienten reichlich produziert und lässt sich mit einem ELISA im Plasma bestimmen. Sein Nachweis kann zur Frühdiagnose dienen, da es im Plasma vor den ersten Antikörpern erscheint. Später liegt es teils in freier Form, teils im Komplex mit p24-Antikörpern vor, aus dem es sich durch Ansäuerung freisetzen lässt. Ein positiver Befund hat die gleiche diagnostische Bedeutung wie eine positive PCR- oder dDNAReaktion auf virale Nukleinsäuren. Wenn man p24-Antigen fin-
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Kapitel 8 · Krankheiten des Immunsystems
det, besteht immer eine HIV-Infektion. Ein negatives Testergebnis schließt eine HIV-Infektion allerdings nicht aus.
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Latenzstadium der HIV-Infektion Dem Primärstadium der HIV-Infektion folgt ein Stadium der klinischen Latenz von durchschnittlich 8- bis 10-jähriger Dauer. In dieser Zeit kommt die HIV-Infektion aber nicht zur Ruhe, sondern schwelt im lymphatischen Gewebe langsam weiter. Während Blutplasma und zirkulierende Monozyten das Virus nur in geringer Menge enthalten, ist es in den Lymphknoten reichlich vorhanden und fährt dort mit der Zerstörung des CD4-T-Zellenpools fort. Indikator dieses Prozesses ist die kontinuierliche Verminderung der CD4+-Zellen im peripheren Blut, die zusammen mit der Dysfunktion infizierter CD4-Zellen zu einer progredienten Schwächung des Immunsystems führt. Das Ende der Latenzzeit ist erreicht, wenn die für eine Immunschwäche typischen opportunistischen Infektionen auftreten. Meistens ist bis dahin die Zahl der CD4-Zellen unter die kritische Grenze von 200/mm3 gesunken. Klinik. Die klinische Manifestation der Immunschwäche fällt zeitlich mit einer massiven Virämie zusammen, der eine Zerstörung der Lymphknotenstruktur zugrunde liegt. Diagnostik. Der serologische Nachweis der HIV-Infektion gelingt im Latenzstadium immer. Um feststellen zu können, wie weit die Erkrankung fortgeschritten ist, müssen zusätzlich die CD4+-Zellen im Blut und die HIV-RNA im Plasma bestimmt werden. Prognose. Sie hängt nach neueren Beobachtungen weniger von der Zahl der CD4-Zellen im Blut als vom Grad der Virämie ab. Letzterer ist auch für die Therapie maßgebend (7 unten).
Stadium der manifesten Immunschwäche AIDS Der zeitliche Abstand zwischen HIV-Infektion und AIDS variiert beträchtlich. Perinatal infizierte Kinder erreichen das AIDS-Stadium schon früh, zu 33% nach 12 Monaten, zu 50% nach 2 Jahren und nur selten erst nach 10 Jahren oder später. Bei Erwachsenen schwankt die Zeitspanne zwischen 5 Jahren (20%) und 20 Jahren (12%). Im Durchschnitt beträgt sie 8–10 Jahre. Frühphase AIDS beginnt häufig mit uncharakteristischen Symptomen wie Anorexie, Gewichtsabnahme Unwohlsein, Lethargie und Schwäche. Erste Anzeichen der Immunsuppression sind ein CandidaBefall der Mundschleimhaut, fadenförmige Leukoplakien am Zungenrand durch den Epstein-Barr-Virus, ein Herpes zoster infolge Reaktivierung des Varizellenvirus und ein oraler oder genitaler Herpes simplex. Bei etwa 10% der Patienten sinkt die Thrombozytenzahl unter 150×103/mm3, wahrscheinlich durch einen Virusbefall der Megakaryozyten. Schwere Thrombozytopenien ( Bei Komplikationen sind die krankheitsbedingten von den therapieinduzierten abzugrenzen, die viele Organe betreffen können.
Behandlung der erworbenen Immunschwäche Antiretrovirale Therapie Indikationen für den Therapiebeginn: Jeder Patient mit frisch diagnostizierter HIV-Infektion muss eingehend über seine Krankheit aufgeklärt werden, über das Ansteckungsrisiko, das von ihm ausgeht und über die Notwendigkeit einer lang dauernden Behandlung und deren Komplikationen. Das geschieht am besten in einem spezialisierten Behandlungszentrum. Mit einer medikamentösen Therapie muss nicht in jedem Fall sofort begonnen werden, sondern erst, wenn die in . Tab. 8.5 aufgeführten Kriterien gegeben sind. Angriffspunkte der antiretroviralen Therapie Eine kurative Behandlung der HIV-Infektion gibt es bislang nicht. Mit der gegenwärtigen HAART (highly active anti-retroviral therapy) gelingt es jedoch, die Virusvermehrung zu hemmen und den Ablauf der Erkrankung zu verzögern. Zur Verfügung stehen 3 Substanzklassen (. Tab. 8.6): 4 diverse Blocker der reversen Transkriptase 4 Inhibitoren der Protease des HIV 4 Eintritt-Inhibitoren. Die Transkriptase-Blocker verhindern die Infektion gesunder Zellen, sind aber gegen infizierte Zellen, in denen die Transkription bereits abgelaufen ist, unwirksam. Dagegen üben ProteaseInhibitoren ihre Wirkung in den infizierten Zellen aus. Sie hemmen die translationale Prozessierung der Virusproteine und damit die Bildung neuer Viruspartikel. Die Eintritt-Inhibitoren (entry inhibitors), eine neue Klasse antiretroviraler Substanzen, interferieren mit der Bindung des HIV an seinen Rezeptor oder
761 8.5 · Immunschwächekrankheiten
. Tabelle 8.5. Indikationen für den Beginn der antiretroviralen Therapie I
Akutes Infektionssyndrom
II
Chronische Infektion
III
symptomatische Erkrankung asymptomatische Erkrankung 5 Zahl der CD4+-T-Zellen 50.000 Kopien/ml oder ansteigend
Postexpositionsprophylaxe
Nukleosid-Analoga
Nichtnukleoside
Nebenwirkungen der antiretroviralen Therapie (HAART) Mit der Lebensverlängerung, die durch die neue Therapie erreicht wurde, gewinnen die Nebenwirkungen der Medikamente an Bedeutung. Metabolische Nebenwirkungen: 4 Lipodystrophie: Verlust des Unterhautfettgewebes im Be-
. Tabelle 8.6. Substanzen der antiretrovirale Therapie (HAART) Inhibitoren der reversen Transkriptase
Nach 1–2 Monaten sollten folgende Ergebnisse erreicht sein: 4 Reduktion der HIV-RNA um eine Zehnerpotenz, möglichst auf Als gutes Mittel gegen alle gastrointestinalen Komplikationen der NSAR hat sich das Prostaglandin-E1-Analogon Misoprostol erwiesen. Protektiv gegen Erosionen und Ulzera sind auch die Protonenblocker und in geringerem Maße die H2-Antagonisten.
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An den Nieren bewirkt die Blockade der Prostaglandinsynthese durch die NSAR eine Zunahme der Rückresorption von Wasser und Salz, die manchmal zu Ödemen und zum Anstieg des Blutdrucks führt. Der Wegfall des vasodilatorischen Effekts der Prostaglandine beeinträchtigt die Nierenfunktion normalerweise nicht, kann aber bei herabgesetzter Nierendurchblutung durch chronische Nierenkrankheiten, Herzinsuffizienz oder Leberzirrhose mit Aszites ein Nierenversagen zur Folge haben. Einige Patienten, vor allem Asthmatiker, reagieren auf Aspirin und die übrigen NSAR mit Unverträglichkeitserscheinungen wie vasomotorischer Rhinitis, angioneurotischen Ödemen, Urtikaria, Asthmaanfällen, Larynxödem und Schock. Diese Reaktionen sind nicht allergischer Natur, sondern eine Folge der Cyclooxygenase-Hemmung durch die NSAR. Wahrscheinlich steigern disponierte Individuen den Abbau der Arachidonsäure zu den proinflammatorischen Leukotrienen, wenn die Prostaglandinsynthese blockiert wird. ! Bei der Kombination der NSAR mit oralen Antikoagulanzien besteht ein erhöhtes Blutungsrisiko.
Von den neuen selektiven COX-2-Inhibitoren wurden bereits zwei von den Herstellern zurückgezogen, weil unter den behandelten Patienten Myokardinfarkte und Schlaganfälle signifikant zunahmen. Anderen Präparaten wurde die Zulassung durch die FDA bisher verwehrt. Die noch im Handel befindlichen sollten nicht als erstes Mittel, zeitlich befristet und nur bei Patienten mit gastrointestinalen Nebenwirkung eingesetzt werden, sofern sie keinerlei kardiovaskuläre oder Thromboserisiken aufweisen. Glukokortikoide Ihre hohe entzündungshemmende und immunsuppressive Wirkung beruht darauf, das sie die Gene der meisten proinflammatorischen Zytokine abschalten (7 Kap. 6.3.1). Wegen ihrer einzig-
artigen Wirksamkeit werden die Glukokortikoide bei allen
schweren Schüben und systemischen Manifestationen der RA eingesetzt. Die initiale Tagesdosis (40–100 mg p.o.) wird im Laufe einiger Wochen schrittweise auf eine möglichst niedrige Erhaltungsdosis reduziert. Diese Stoßtherapie ist unbedenklich, denn unter Stress kann auch die endogene Cortisolsekretion auf das Zehnfache steigen. In der Regel bilden sich die akuten klinischen Symptome schnell zurück. Auch BKS-Beschleunigung, erhöhte CRPWerte und Rheumafaktoren nehmen ab. Für eine Langzeitbehandlung der RA kommen die Glukokortikoide nur in niedriger Dosierung (5–7,5 mg/Tag) in Betracht. Ihr Nutzen zeigte sich kürzlich in einer Studie an Patienten mit aktiver RA, die 2 Jahre lang zu ihrer sonstigen Behandlung täglich 7,5 mg Prednisolon erhielten und danach deutlich weniger radiologische Gelenkveränderungen aufwiesen als die Placebogruppe. Auf die zahlreichen Nebenwirkungen der Glukokortikoide, die ihre langfristige Anwendung limitieren, wird im endokrinologischen Kapitel eingegangen (7 Kap. 6.3.10). Auch bei niedriger Dosierung ist eine Osteoporoseprophylaxe mit Calciumsalzen (500–1000 mg Ca2+/Tag) und Vitamin D3 (1000 IE/Tag) indiziert. Hohe Glukokortikoiddosen erfordern Biphosphonate (z.B. Risedronsäure). Ob Glukokortikoide ulzerogen wirken, ist umstritten. Ohne Zweifel erhöhen sie aber die Blutungs- und Perforationsgefahr bestehender peptischer Ulzera erheblich und sollten deshalb nicht mit den potenziell ulzerogenen NSAID kombiniert werden. Bei akuter Entzündung einzelner Gelenke haben sich intraartikuläre Corticoidinjektionen (z.B. mit 5–20 mg Triamcinolonhexacetonid) bewährt. Dabei gilt als Regel, die Injektion am selben Gelenk nicht früher als nach 3 Monaten zu wiederholen. Basistherapeutika
Unter diesem Begriff fasst man diverse Pharmaka zusammen, die auf unterschiedliche Weise den rheumatischen Grundprozess hemmen (disease modifying antirheumatic drugs = DMARD). Sie sind gegen akute Schmerzen und Entzündungssymptome unwirksam, können aber nach Wochen oder Monaten zu klinischen Remissionen mit Normalisierung der Entzündungsparameter führen und das Auftreten destruktiver Gelenkveränderungen verzögern. Häufig werden die Basistherapeutika zusammen mit NSAR oder Prednison schon im Frühstadium der RA eingesetzt, um eine Intervention zu erreichen, bevor irreversible Gelenkläsionen aufgetreten sind, deren Progredienz sie verlangsamen, aber nicht verhindern können. Methotrexat (MTX): Der Folsäureantagonist wird von den meisten Therapeuten als erstes Basistherapeutikum eingesetzt. Es wirkt schneller und besser als die anderen DMARD, ist relativ gut verträglich und bequem einzunehmen (7,5–30 mg einmal/Woche). Die maximale Wirkung tritt nach 6 Monaten ein. In prospektiven Studien setzten nach mehrjähriger MTX-Dauertherapie noch 56–78% der Patienten mit schwerer RA die Behandlung
771 9.1 · Entzündliche Erkrankungen der Gelenke und der periartikulären Gewebe
fort. Sie waren klinisch deutlich gebessert, die Blutsenkung blieb aber beschleunigt. Nebenwirkungen: Ulzerationen der Mundschleimhaut, gastrointestinale Symptome (Anorexie, Übelkeit, Erbrechen, Dyspepsie, Diarrhö); Hautausschläge (Exantheme, Urtikaria), Alopezie; Anstieg der Leberenzyme auf das 2- bis 3-fache (reversibel), selten Leberfibrose; reversible Myelosuppression (Leukopenie, Thrombopenie); Pneumonitis (auf Steroidtherapie ansprechend). Wahrscheinlich erhöhtes Lymphomrisiko. Kontrollen: Blutbild, Transaminasen und Kreatinin zunächst alle 2 Wochen, nach 6 Monaten alle 3–4 Wochen. Röntgen-Thorax und Lungenfunktion halbjährlich.
intramuskuläre Injektion hydrophiler Präparate (Natrium-Aurothiomalat, Aurothioglukose) oder oral mit dem hydrophoben, resorptionsfähigen Auranofin erfolgen. Gold besitzt eine besondere Affinität zum lymphatischen Gewebe und reichert sich in den Lysosomen der Makrophagen an, wo es die Antigenprozessierung und damit die Aktivierung der Makrophagen durch THelferzellen hemmt. Die parenterale Goldtherapie ist erheblich wirksamer als die orale, dafür aber viel toxischer. Deshalb kommt sie nur in Betracht, wenn besser tolerable Basistherapeutika versagen. Nebenwirkungen: Exantheme, Mundgeschwüre, Kolitiden (15%), Nierenschäden mit starker Albuminurie (1–3%), Thrombopenien (1%), die irreversibel sein können, Granulozytopenien und aplastische Anämien sowie Segmentpneumonien mit Übergang in Lungenfibrose.
Leflunomid: Die Substanz ist ein Immunsuppressivum, das die Pyrimidinsynthese inhibiert und die Proliferation der T-Lymphozyten supprimiert. Die Wirksamkeit auf den rheumatischen Prozess ist der des Methotrexat vergleichbar. Nebenwirkungen: Anstieg der Leberfermente im Serum, Alopezie, Gewichtsverlust, Hautexantheme. Dosis: 5–25 mg/Tag. Anwendung bei Unverträglichkeit von Methotrexat. Beide Mittel werden bei aggressiver RA auch kombiniert.
D-Penicillamin (DPA): Bevor die antirheumatische Wirksamkeit des DPA entdeckt wurde, hatte die Substanz als Chelatbildner schon lange Eingang in die Therapie der Schwermetallvergiftungen gefunden. Die Ansprechraten betragen 53–70%, die Abbruchraten wegen toxischer oder allergischer Reaktionen liegen bei 20–40%. Heute wird DPA kaum noch eingesetzt.
Antimalariamittel (Chloroquin, Hydroxychloroquin): Sie haben
Antizytokine
sich in leichteren Fällen von RA als wirksames, überwiegend gut verträgliches Basistherapeutikum bewährt. Wirkungsmechanismus: Gehemmt werden die Antigenpräsentation und andere Funktionen der Makrophagen. Tagesdosis 250 mg, Wirkungseintritt meistens nach 2 Monaten. Nebenwirkungen: Reversible Ablagerungen in Kornea und Linse, deshalb augenärztliche Kontrolle vor Therapiebeginn und alle 6 Monate.
Das sind neue Substanzen mit starker antiinflammatorischer Wirkung.
Sulfasalazin (SASP): Das Mittel wurde in den vierziger Jahren des
vergangenen Jahrhunderts als Antirheumatikum konzipiert, in der Folgezeit aber hauptsächlich bei der Colitis ulcerosa und beim Morbus Crohn eingesetzt. Erst nach 1980 konnte es sich als Basistherapeutikum der RA etablieren. Die Substanz ist eine Azoverbindung aus einem Antiphlogistikum (5-ASA = 5-Aminosalicylsäure) und einem Antibiotikum (SP = Sulfapyridin). Der antirheumatische Wirkungsmechanismus ist unbekannt. Es wird bevorzugt bei leichter bis mittelschwerer rheumatischer Aktivität angewandt. Dosierung: Initial 500 mg/Tag, wöchentliche Dosissteigerung um 500 mg/Tag bis zur Erhaltungsdosis von 2×1000 mg/Tag. Wirkungseintritt: Innerhalb von 4–12 Wochen, später nicht mehr. Nebenwirkungen: Manchmal Blutbildveränderungen durch die Sulfonamidkomponente. Deshalb Blutbildkontrollen in den ersten Monaten. Gold: Die Behandlung der RA mit einwertigen organischen
Goldsalzen hat eine lange Tradition. Sie kann parenteral durch
Antikörper gegen Tumornekrosefaktor α (TNF-α): Mit der Neutralisierung von TNF-α wird eine ganze Kaskade von Zytokinen supprimiert und meistens eine deutliche Besserung erzielt. Indiziert bei therapierefraktärer RA. Präparate (sehr teuer): 4 Infliximab (monoklonaler Maus/Human-Antikörper): Dosis: 3 mg/kg i.v. über 2 Stunden, Wiederholung nach 2 und 6 Wochen, anschließend alle 8 Wochen in Kombination mit Methotrexat. 4 Adalimumab (monoklonaler Human-Antikörper): Dosis: 40 mg s.c. alle 2 Wochen. Nebenwirkung: Erhebliche Infektanfälligkeit, Reaktivierung ei-
ner Tuberkulose. IL-1-Rezeptorantagonist (Anakinra): Hemmt das pleiotrope Zytokin und damit den rheumatischen Entzündungsprozess nachhaltig. Gentechnologisch hergestellt aus E. coli. Dosis: 100 mg/ Tag s.c. Nebenwirkungen: Neutropenie, Infekte, schmerzt an der Einstichstelle. Krankengymnastische und physikalische Therapie
Bei Bettlägerigen: 4 funktionsgerechte Lagerung der Gliedmaßen ohne Kissen, Ellbogen leicht gebeugt, Hand in Dorsalflexion, Stützung der Fußsohlen etc.
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772
Kapitel 9 · Krankheiten des Bewegungsapparates
4 Gelenkmobilisierung bzw. Erhaltung der Gelenkbeweglichkeit durch aktive und passive Bewegungsübungen 4 Durchblutungsförderung durch Massagen 4 Muskelkräftigung bzw. Verhütung der Muskelatrophie durch isometrische Übungen 4 Entzündungs- und Schmerzdämpfung durch Kühlung.
9.1.2 Varianten der rheumatoiden Arthritis Still-Syndrom Definition. Juvenile rheumatoide Arthritis mit systemischem Beginn. Häufigkeit. Bei Erwachsenen selten. Häufigkeitsgipfel 4.–6. Le-
Im chronischen Stadium: 4 Schmerzlinderung und Mobilisierung durch lokale Wärmeapplikation (feuchtwarme Wickel, Peloide) und Niederfrequenztherapie 4 Bäderbehandlung zur Muskelentspannung und Mobilisierung (im akuten Stadium der Entzündung kontraindiziert) 4 Kompensation irreversibler Behinderungen durch Funktionshilfen. Orthopädisch-chirurgische Therapie Offene oder arthroskopische Frühsynovektomie in therapierefraktären Fällen zur Verhütung der Gelenkdestruktionen. Plastische Operationen zur Verbesserung der Funktion (Lösung von
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Kontrakturen, Sehnenverlagerungen, Exzision von Sehnenscheiden, Osteotomie zur Stellungskorrektur, Arthrodese, Gelenkersatz). Verlauf und Prognose. Die RA ist ein chronischer Entzündungsprozess mit Fluktuationen, für den es noch keine kurative Behandlung gibt. Das klinische Spektrum reicht von leichten, nichterosiven bis zu schweren, rasch progredienten Verlaufsformen mit ausgedehnten Gelenkdestruktionen und extraartikulären Manifestationen. Im Frühstadium lässt sich die weitere Entwicklung der Krankheit nicht voraussehen. Bei akutem Beginn der Gelenkerscheinungen mit hoher Aktivität der Entzündung kann die Prognose günstiger sein als bei schleichend einsetzenden Symptomen. Auch der initiale Rheumafaktortiter ist kein zuverlässiger Prognoseindikator. Seronegative Fälle können später seropositiv werden und den gleichen Schweregrad erreichen wie primär seropositive. Höheres Alter, weibliches Geschlecht und viszerale Manifestationen disponieren zu einem akzelerierten Verlauf. Nach 3 Jahren haben etwa 70% der Patienten radiologisch nachweisbare Erosionen, die den Beginn der degenerativen Phase markieren. Wenn die entzündliche Aktivität zurückgeht, treten die Symptome der Gelenkdestruktion stärker hervor, so dass die Behinderung eher zunimmt. In fortgeschrittenen Fällen kommt es auch ohne Steroidtherapie häufig zu einer allgemeinen Osteoporose, die hauptsächlich inaktivitätsbedingt sein dürfte. In einer größeren Studie waren 20% der Patienten nach 10 Jahren funktionell normal, 41% hatten im Alltag einige Behinderungen, 20% deutliche Funktionseinbußen und nur 11% waren schwer behindert. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Rheumatiker ist um 3–18 Jahre verkürzt.
bensjahr. Klinik und Verlauf. Initial wochenlange intermittierende Fieber-
schübe von septischem Charakter, makulopapulöses Exanthem, Hepatomegalie, Splenomegalie, Lymphadenopathie, Polyserositis, Anfangs nur Arthralgien. Innerhalb von 6 Wochen tritt eine Polyarthritis der großen und kleinen Gelenke, bevorzugt an Fußund Handgelenken auf. Im Akutstadium sterben einige Kinder (1–2%) an Myokarditis oder Infektionen. Nach 6 Monaten heilen die meisten Fälle (83%) ohne bleibende Gelenkschäden aus. Die Übrigen gehen in eine chronische deformierende Polyarthritis über. Diagnostik. Normochrome Anämie, Leukozytose (bis 50.000/
mm3), Thrombozytose und maximale Blutsenkungsbeschleunigung. Der Rheumafaktortest bleibt negativ. Therapie. Wie bei akuter RA.
Felty-Syndrom Definition. Seltene Kombination der rheumatoiden Arthritis mit einer Splenomegalie und Neutropenie. Thrombopenie und Anämie können hinzukommen. Klinik. Vorwiegend betroffen sind Patienten mittleren Alters mit lange bestehender schwerer RA. Die meisten haben hohe Rheumafaktortiter und antinukleäre Faktoren, viele weisen Rheumaknoten und andere systemische Manifestationen auf. Diagnostik. Die Neutropenie ist ausgeprägt (800–4200/mm3). Eo-
sinophile und Monozyten können normal oder vermehrt sein. Das Knochenmark ist meistens hyperzellulär mit reichlich myeloischen Elementen, manchmal normozellulär, selten hypozellulär. Zur Pathogenese der Neutropenie scheinen gesteigerter Zelluntergang mit reduzierter Knochenmarkreserve, Margination in der Blutbahn, Sequestration in der Milz und verminderte Granulozytopoese beizutragen. Es resultiert eine erhöhte Infektanfälligkeit. Therapie. Glukokortikoide.
9.1.3 Ankylosierende Spondylitis
(Morbus Bechterew) Definition. Chronische, entzündliche überwiegend HLA-B27-
assoziierte Erkrankung des Achsenskeletts mit fakultativer Betei-
773 9.1 · Entzündliche Erkrankungen der Gelenke und der periartikulären Gewebe
ligung der peripheren Gelenke, von inneren Organen (Aorta, Herz, Lunge, Pleura, Darmtrakt) und den Augen.
fizierung bemerkbar macht. Im Bereich der viszeralen Manifestationen kommt es zu unspezifischen Entzündungsreaktionen und Narbenbildung.
Vorkommen und Häufigkeit. Die ankylosierende Spondylitis
(AS) ist weltweit verbreitet. Ihre Prävalenz in den verschiedenen Populationen und die des Allels HLA-B27 verlaufen ungefähr parallel. In Europa ist mit 1–2 AS-Fällen auf 1000 Einwohner zu rechnen, während rund 8% der Bevölkerung HLA-B27-positiv sind. Männer erkranken 5–8 mal häufiger als Frauen, rund 80% aller Patienten zwischen dem vollendeten 16. und 40. Lebensjahr. Je einen Anteil von 10% haben die vor dem 16. Lebensjahr beginnende juvenile AS und die AS der über Vierzigjährigen. Ätiologie und Pathogenese. Die AS ist bis zu 90% mit dem Histokompatibilitätsantigen B27 und dem männlichen Geschlecht as-
soziiert. Da monozygote männliche Zwillinge mit Konkordanzraten bis 60% an AS erkranken, von den HLA-B27-positiven Männern aber nur 1–2%, ist mit weiteren erblichen Determinanten zu rechnen. Auf dieser genetischen Basis wird die AS wahrscheinlich durch einen noch ungeklärten Infekt hervorgerufen. Die Annahme einer infektiösen Genese liegt nahe, weil ähnliche, ebenfalls überwiegend HLA-B27-assoziierte Krankheitsbilder nachweislich durch bakterielle Erreger verursacht werden (7 unten). Das HLA-B27 scheint nicht nur ein Marker der AS, sondern direkt an der Pathogenese beteiligt zu sein. Ein gewichtiges Argument dafür ist die Beobachtung, dass transgene Ratten, die humanes HLA-B27 exprimieren, spontan an einem klinischen Syndrom erkranken, das der AS weitgehend ähnelt. Das HLA-B27 befindet sich an MHC-Molekülen der Klasse I, die in infizierten Zellen mit Erregerpeptiden Komplexe bilden und sie an der Zelloberfläche den zytotoxischen T-Lymphozyten (CD8+-T-Zellen) präsentieren (7 Kap. 7.1.4). Man kann sich vorstellen, dass nur MHC-I-Moleküle mit der HLA-B27-Struktur imstande sind, Peptide aus dem vermuteten Erreger der AS zu binden und als Antigen zu präsentieren. Warum nicht mehr HLA-B27-positive Menschen an AS erkranken, ist ungeklärt. Möglicherweise besitzen nur wenige die zum Antigen-HLA-B27-Komplex passenden CD8+-T-Zellen. Dass es hauptsächlich die zytotoxischen CD8+T-Zellen sind, von denen die Immunreaktion bei der AS ausgeht, ist sehr wahrscheinlich, weil CD4+ T-Zellen nicht mit MHC-Molekülen der Klasse I reagieren. Als Indiz für die Fähigkeit der CD8+-Zellen, Gelenkstrukturen anzugreifen, können die schweren HLA-B27-assoziierten Arthritiden gelten, die bei AIDSKranken mit stark reduzierten CD4+-Zellen, aber normalen CD8+-Zellen vorkommen. Pathologie. Von anderen rheumatischen Erkrankungen unterscheidet sich die AS durch eine ausgeprägte Tendenz zur Ossifizierung entzündeter Gewebe, die sich an den Gelenken, Zwi-
schenwirbelscheiben, Bändern und Sehnenansätzen manifestiert. Während die Entzündung an den Gelenken meistens deutlich in Erscheinung tritt, kann sie an den übrigen Stellen des Bewegungsapparates so blande verlaufen, dass sich dort erst die Ossi-
Achsenskelett
An der für die AS typischen Versteifung und Deformierung der Wirbelsäule sind folgende Prozesse beteiligt: Sakroiliitis: Früheste Manifestation der AS ist eine Erosion der knöchernen Grenzlamellen der Sakroiliakalgelenke durch ein subchondrales Granulationsgewebe aus Lymphozyten, Plasmazellen, Makrophagen und Mastzellen. Es bewirkt eine reaktive Sklerosierung der angrenzenden Spongiosa und zerstört auch den Gelenkknorpel, der durch ein knorpelhaltiges Fasergewebe ersetzt wird. Zwischen den destruierten Gelenkflächen bilden sich dann Knorpel- und Knochenbrücken aus, bis es im weiteren Verlauf zur vollständigen knöchernen Ankylose kommt, zu der auch Kapsel- und Bandverknöcherungen beitragen. Ankylosierung der Wirbelbogengelenke: Hier spielt sich der Ent-
zündungsprozess zunächst in der Kapsel ab, so dass der Gelenkspalt noch erhalten sein kann, wenn das Gelenk durch Kapselverknöcherung bereits versteift ist. Im fortgeschrittenem Stadium kommt es teils von der Kapsel, teils von subchondral aus zur Synchondrose und Synostose der Gelenkflächen. Analoge Veränderungen erleiden die Kostovertebral- und Kostotransversalgelenke. Syndesmophyten, Bandscheibenverknöcherung: Von der knöchernen Randleiste der Wirbelkörper dringen Knochensporne (Syndesmophyten) in den äußeren Ring des Annulus fibrosus der Bandscheiben vor und vereinigen sich zu spangenförmigen Brücken zwischen den Wirbelkörpern, die der Wirbelsäule das Aussehen eines Bambusstabes geben. Zusätzlich kann im Spätstadium der AS eine von der Wirbelspongiosa ausgehende herdförmige oder komplette enchondrale Ossifikation der zentralen Bandscheibenpartie erfolgen. Verknöcherung der Wirbelsäulenbänder: Das vordere Längs-
band, das an den Wirbelkörpern haftet und die Zwischenwirbelräume überspringt, verknöchert entgegen einer früheren Annahme nur selten. Auch das hintere Längsband, das an den Bandscheiben haftet und die Wirbelkörper überbrückt, bleibt in der Regel frei. Ossifiziert werden dagegen die zwischen den Wirbelbogen ausgespannten Ligamenta flava und die Supra- und Interspinalbänder. Kontur- und Strukturveränderungen der Wirbelkörper: Beob-
achtet werden eine durch Osteoklastenaktivierung bedingte Frühosteoporose und eine Spätosteoporose als Inaktivitätsfolge. Durch Osteolyse der Randleisten (Romanus-Läsion) können Tonnenwirbel, durch periostitische Knochenanlagerung an der Vorderfläche sog. Kastenwirbel entstehen. Entzündung und Destruktion führen an der Bandscheiben-Deckplatten-Grenze zu
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774
Kapitel 9 · Krankheiten des Bewegungsapparates
Defekten (Andersson-Läsion oder Sponylodiszitis), die an bakterielle Spondylitiden erinnern. Im Kyphosebereich kann eine ventrale und subkortikale Sklerose der Wirbelkörper auftreten, die man früher als Verknöcherung des vorderen Längsbandes fehlgedeutet hat. Periphere Gelenke
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Im Gegensatz zur rheumatoiden Arthritis werden hauptsächlich die großen Gelenke befallen, bei 40% der Kranken die Hüftgelenke, bei 30% die Schulter- und Kniegelenke. Die periphere Arthritis kann symmetrisch oder asymmetrisch auftreten. Eine seltene bösartige Variante ist die Panarthritis ankylosans, in deren Verlauf nahezu alle axialen und peripheren Gelenke knöchern ankylosieren. Die entzündlichen Veränderungen in der Gelenkkapsel ähneln denen der RA. Sie führen zur Pannusbildung, aber zu geringerer Zottenwucherung und weniger tiefen Defekten der Synovialmembran. Am Gelenkknorpel entstehen oberflächliche fibrinoide Nekrosen, während in der Tiefe die Knorpelzellen proliferieren. Allmählich kommt es zur Synchondrose und knöchernen Ankylose, wobei die Gelenkform weitgehend erhalten bleibt. Der juvenilen AS geht nicht selten eine relativ akute Arthritis der Kniegelenke mit Ergussbildung voraus, die jedoch meistens ohne Residuen abheilt. Bänder- und Sehnenansatzstellen
Eine häufige Manifestation der AS ist die Enthesopathie. Darunter versteht man entzündliche, erosive, in Ossifikation übergehende Läsionen an den Einstrahlungsstellen von Sehnen und Bändern. Sie treten als Knochenvorsprünge oder Rarefizierungen in Erscheinung. Von der Insertionstendopathie sind vor allem Fersen-, Sitz- und Schambein, Darmbeinkamm, Trochanter major, Schulterblatt und Patella betroffen. Nicht selten manifestiert sich die Enthesopathie auch an den kostosternalen und manubriosternalen Übergängen. Augen
In 25% der Fälle tritt im Krankheitsverlauf eine akute vordere Uveitis vom Typ der nichtgranulomatösen Oberflächeniritis auf, die nach rezidivierenden Attacken narbige Veränderungen und eine verstärkte Vaskularisierung hinterlässt. Viszerale Organe Herz: In bis zu 4% der Fälle kommt es durch eine Aortitis mit Erweiterung des Klappenringes zur Aorteninsuffizienz. Ent-
zündliche und narbige Läsionen im Reizleitungssystem können diverse Erregungsleitungsstörungen verursachen. Lunge: Seltene Manifestationen sind eine zystische Oberlappenfibrose oder eine Pleurafibrose. Darm: Bei der Mehrzahl der Kranken sind im Kolon und an der
Ileozökalklappe mikroskopische Schleimhautläsionen zu finden,
die histologisch denen des Morbus Crohn ähneln. Obwohl sie im Verlauf eine größere Ausdehnung annehmen können, bleiben sie klinisch in der Regel stumm. Nieren: Wiederholt wurde in letzter Zeit das Vorkommen einer IgA-Nephropathie beschrieben. In seltenen Fällen entwickelt sich eine Amyloidose. Klinik. Initialstadium: Es umfasst die Zeit, in der schon Beschwerden
und klinische Symptome des Entzündungsprozesses vorhanden sind, aber noch keine radiologisch nachweisbaren Läsionen. Typisch ist ein schleichender Krankheitsbeginn mit Episoden von tiefen Kreuz- und Gesäßschmerzen, die morgens im Bett und bei längerem Liegen auftreten. Beim Aufstehen macht sich Rückensteifigkeit bemerkbar. Die Beschwerden verschwinden aber beim Umhergehen oder bei körperlichen Übungen. Sie dürften auf der Entzündung der Wirbelbogengelenke und damit verbundenen reflektorischen Muskelspasmen beruhen. Die beginnende Enthesopathie führt zur Druckempfindlichkeit oder zu Schmerzen an Sternoklavikulargelenken, vorderen Rippenansätzen, Dornfortsätzen der Wirbelkörper, Darmbeinkämmen, Sitzbeinen, Trochanteren oder Fersen. Frühsymptom kann auch eine periphere Arthritis sein. Bei der juvenilen AS geht sie den Manifestationen am Achsenskelett oft um Jahre voraus. Eine Uveitis und die viszeralen Manifestationen stellen sich gewöhnlich erst später ein. Höhere Grade der entzündlichen Aktivität sind oft von Allgemeinerscheinungen wie Krankheitsgefühl, Schwäche, Anorexie, Gewichtsverlust und leichtem Fieber begleitet. Manifestes Stadium: Seinen Beginn markieren die ersten radiologisch nachweisbaren Läsionen, die man in 99% der Fälle an den Sakroiliakalgelenken findet. Nur selten treten schon vorher Syndesmophyten oder Kastenwirbel in Erscheinung. Die schmerzhafte Bewegungseinschränkung und die Läsionen der betroffenen Skelettabschnitte nehmen kontinuierlich oder in kleinen Schüben zu, nicht selten von Allgemeinsymptomen begleitet. Dazwischen kann es längere stationäre Phasen geben. Endstadium: Entzündungsprozess und Ossifikation sind weitgehend zum Stillstand gekommen. Durch Syndesmophyten, Bandscheibenverknöcherung, Bänderverknöcherung und knöcherne Ankylose der Wirbelsäulengelenke ist die Wirbelsäule in einen starren Bambusstab umgebildet, mit aufgehobener Lordose der LWS, verstärkter Brustkyphose und Ventralneigung der HWS. Die thorakale Atmung ist hochgradig eingeschränkt, das Abdomen vorgewölbt. Die Verlagerung des Körpers nach vorn wird durch eine Beugestellung der Hüftgelenke kompensiert, die wegen der ankylosierende Arthritis oft in eine Kontraktur übergeht. Nicht selten sind auch die Schultergelenke versteift. Die Patienten sind sturzgefährdet. Infolge ihrer Osteoporose erleiden sie bei Wirbelsäulentraumen leicht Wirbelkörperfrakturen, die im HWS zu Querschnittslähmungen führen können.
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775 9.1 · Entzündliche Erkrankungen der Gelenke und der periartikulären Gewebe
Diagnostik. An eine AS ist vor allem bei Männern unter 40 Jahren
mit Schmerzen im unteren Rückenabschnitt zu denken, die schleichend begannen, seit mindestens 3 Monaten bestehen, mit morgendlicher Steifigkeit einhergehen und bei Bewegung nachlassen. Der Verdacht wird durch den Nachweis des HLA-B27 gestützt und sollte Anlass zum Einsatz bildgebender Verfahren sein, mit denen die Diagnose zu sichern ist. Andere seronegative HLA B27-assoziierte Spondylarthritiden lassen sich durch zusätzliche klinische Symptome abgrenzen (7 Kap. 9.1.4). Bei der körperlichen Untersuchung sind im manifesten Stadium folgende Befunde zu erheben: 4 Wirbelsäule als Ganzes: Typische Fehlform mit aufgehobener Lordose der LWS und verstärkter Kyphose der BWS, Versteifung von LWS und BWS und Einschränkung der Kopfdrehung (. Abb. 9.5). 4 Sakroiliakalgelenke: Druckschmerzpunkte am Kreuzbein, Schmerzauslösung durch manuelle Verschiebung der Gelenkflächen (Streckung der Hüftgelenke in Bauchlage) und bei Kompression des Beckens in Seitenlage. 4 Lendenwirbelsäule: Einschränkung der Beweglichkeit und Entfaltung (Beugungshemmung nach seitwärts, vorwärts
und rückwärts). Positives Schober-Zeichen: Hautmarken über dem Dornfortsatz des 5. LWK und 10 cm oberhalb davon rücken beim Vorneigen auf weniger als 15 cm auseinander. Der Finger-Boden-Abstand wächst. Mit zunehmender Versteifung verschwindet die Lordose der LWS. Der untere Wirbelsäulenabschnitt wird brettartig flach. Die Rumpfbeugung findet dann überwiegend in den Hüftgelenken statt. 4 Brustwirbelsäule: Der Befall der Kostovertebral- und Kostotransversalgelenke schränkt die Atembreite ein, die in Höhe des 4.–5. Interkostalraumes unter 6 cm sinkt. Kompensatorisch nimmt die Bauchatmung zu. Die Versteifung der BWS geht mit einer Verstärkung der Kyphose und einer Einschränkung der Rumpfdrehung einher. Das Schober-Zeichen der BWS wird positiv: Beim Vorneigen rücken Hautmarken am Dornfortsatz C7 30 cm unterhalb davon auf weniger als 38 cm auseinander. 4 Halswirbelsäule: Die zervikalen Manifestationen führen zur Bewegungseinschränkung des Halses, der schließlich in vorgebeugter Haltung versteift, da die HWS aus der physiologischen Lordose in eine Streckstellung übergeht. Die damit verbundene Senkung der Blickachse engt das Gesichtsfeld
b
a . Abb. 9.5a, b. Morbus Bechterew. a Hyperkyphose mit Wirbelkompressionsfraktur bei Osteoporose, b im MRT-Bild Ventralverschiebung
des Wirbelkörpers oberhalb der Fraktur (aus Falkenbach: Morbus Bechterew. Springer, Berlin 2005)
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Kapitel 9 · Krankheiten des Bewegungsapparates
ein. Als seltene Komplikationen kommen eine ventrale Atlasdislokation, eine atlantodentale Synostose und knöcherne Atlantookzipitalankylose vor. 4 Periphere Gelenke: Mit fortschreitender Erkrankungsdauer treten immer häufiger Arthritiden der stammnahen Hüftund Schultergelenke auf. Die überwiegend symmetrische Hüftgelenksaffektion führt zu erheblichen Gangstörungen und schließlich zur Beugekontraktur. Eine Befall der Hand-, Finger- und Zehengelenke ist selten. 4 Augen: Die Uveitis kann im Verlauf der AS zu jedem Zeitpunkt auftreten und rezidivieren. Sie setzt akut mit heftigen Schmerzen ein. Das Stroma der Regenbogenhaut sondert ein gelatinöses Exsudat ab und berührt die Linsenkapsel, so dass eine saumförmige Synechie entsteht. 4 Viszerale Manifestationen: Nach mehr als 10-jähriger Krankheitsdauer haben annähernd 30% der Patienten kardiale Komplikationen, davon 8% eine oft progrediente Aorteninsuffizienz, 12% diverse intermittierende Reizleitungsstörungen und 4% Perikardergüsse. Die Lungenbeteiligung in Form einer langsam progredienten Oberlappenfibrose, teilweise mit Zystenbildung, stellt eine seltene Späterscheinung der AS dar.
a
Laborbefunde
In aktiven Phasen mäßig bis stark beschleunigte Blutsenkung und erhöhte CRP-Werte. IgA-Konzentration im Serum meistens erhöht. Bei anhaltender starker Entzündungsreaktion normochrome Begleitanämie. Rheumafaktor und antinukleäre Faktoren negativ, HLA-B27 überwiegend positiv. In schweren Fällen Anstieg der alkalischen Phosphatase. Bildgebende Verfahren Konventionelle Röntgendiagnostik: An den Sakroiliakalgelenken zuerst verwaschene Begrenzung, dann kettenförmige Usuren
b . Abb. 9.6a, b. Sakroiliitis. a Ausgeprägte bilaterale Sakroiliitis mit Erosionen und iliumseitigen Sklerosierungen, rechts Ankylosierung links Pseudoerweiterung des Gelenkspalts, b Spätstadium einer Sakroiliitis mit kompletter Ankylose, an der kaudalen LWS typische Zeichen eines »Bambusstabes« (aus Falkenbach: Morbus Bechterew. Springer, Berlin 2005)
der subchondralen knöchernen Grenzlamelle mit Sklerosierung der subchondralen Spongiosa. Knöcherne Ankylose der Sakroiliakalgelenke erst im Spätstadium (. Abb. 9.6). An der Wirbelsäule Syndesmophyten (. Abb. 9.7), die im äußeren Teil der Bandscheiben liegen und sich im Verlauf zu intervertebralen Knochenspangen vereinigen. Sie sind abzugrenzen gegen Spondylophyten, die unterhalb der Wirbelkörperkannte beginnen und henkelförmig gegen das vordere Längsband vorspringen. Nach Jahren Ossifikation der Ligamenta flava, der Supraspinal- und Interspinalbänder. An den Wirbelbogengelenken zunächst Kapselverknöcherung, später Ankylosen.
Therapie. Übungsprogramm und physikalische Maßnahmen Vom Frühstadium an tägliche gymnastische Übungen nach fachkundiger Anleitung zur bestmöglichen Erhaltung der Form und Beweglichkeit der Wirbelsäule. Bei fortschreitender Erkran-
Magnetresonanztomographie: Beste Methode zur Erkennung von Frühveränderungen an den Sakroiliakalgelenken und zur quantitativen Erfassung der Entzündungsaktivität (Ödemzeichen).
kung sollte der Versteifungsprozess in die funktionell günstigere aufrechte Position gelenkt werden. Massagen, Elektrotherapie, Packungen und Bäder können die Gymnastik wirksam unterstützen.
Computertomographie (. Abb. 9.8): Erfasst sehr empfindlich kleine ossäre Veränderungen an den Sakroiliakalgelenken und pulmonale Manifestationen.
Medikamente NSAID: Zur Schmerzlinderung und Entzündungshemmung wird bevorzugt Indomethacin verordnet. Im akuten Schub gibt man
777 9.1 · Entzündliche Erkrankungen der Gelenke und der periartikulären Gewebe
. Abb. 9.8. Morbus Morbus Bechterew. MRT einer Sakroiliitis im Frühstadium. Einwandfreie Darstellung der zahlreichen Erosionen, Sklerosezone noch schmal (aus Falkenbach: Morbus Bechterew. Springer, Berlin 2005)
TNF-α führt schnell zu einer profunden und anhaltenden Besserung aller klinischen und laborchemischen Aktivitätszeichen. Auch Patienten mit lange bestehender AS und spinaler Ankylose bessern sich hinsichtlich Beweglichkeit, Morgensteifigkeit, Schmerz und peripheren Gelenkschwellungen eindrucksvoll. Blutsenkungsbeschleunigung und erhöhte CRP-Werte gehen zurück. Noch ist nicht klar, ob die Progredienz der Erkrankung aufzuhalten und die Ankylose teilweise rückbildungsfähig ist. Präparate sind: 4 Infliximab (chimärer monoklonaler Maus/Human Antikörper gegen TNF-α), Dosis: 5 mg/kg i.v. über 2 Std., Wiederholung in der 2. und 6. Woche, bei Ansprechen alle 6–8 Wochen. 4 Etanercept (lösliches p75-TNF-α-Rezeptor-IgG-Fusionsprotein), Dosis: 50 mg s.c. 1-mal/Woche. . Abb. 9.7. Morbus Bechterew. Syndesmophytäre Überbrückung der Wirbelkörper am thorakolumbalen Übergang (aus Zeidler et al.: Interdisziplinäre klinische Rheumatologie. Springer, Berlin 2001)
An Nebenwirkungen sind besonders Infektanfälligkeit, Serumkrankheit (bei Infliximab) und Reaktionen an der Injektionsstelle zu verzeichnen. Operationen
2–3×50 mg/Tag, anschließend kleinere Dosen nach Bedarf. Bei Unverträglichkeit können andere nichtsteroidale Antirheumatika gegeben werden. Gegen die Begleitarthritis der peripheren Gelenke kann Sulfasalazin eingesetzt werden, nötigenfalls auch Methotrexat. Die systemische Anwendung von Glukokortikoiden ist allenfalls zur Suppression schwerer therapierefraktärer entzündlicher Schübe indiziert, aber nicht zur Langzeitbehandlung.
Die Basistherapeutika Gold, Penicillamin und Chloroquin haben sich bei der AS als unwirksam erwiesen. TNF-α-Antagonisten: Mit ihrer Einführung ist in der Behandlung
der AS ein großer Fortschritt gelungen. Die Ausschaltung des
Eine fortgeschrittene Versteifung der Hüftgelenke kann durch Prothesenimplantation versorgt werden. Bei hochgradiger Kyphosierung kommen Wirbelosteotomien in Betracht, insbesondere im LWS- seltener im HWS-Bereich. Verlauf und Prognose. Die AS ist eine langsam fortschreitende Krankheit, die in mehr oder weniger deutlichen Schüben verläuft. Das Initialstadium kann zwischen 6 Wochen und 3 Jahren dauern. Das manifeste Stadium geht nach 10–20 Jahren ins Endstadium über. In manchen Fällen bleibt der Entzündungsprozess auf die Iliosakralgelenke beschränkt. Der Wirbelsäulenbefall erfolgt in der Regel aszendierend, kann aber von der LWS auf die HWS überspringen. Nicht selten kommt er schon an der LWS zum Still-
9
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Kapitel 9 · Krankheiten des Bewegungsapparates
stand. Die extraspinalen Manifestationen nehmen mit der Dauer und dem Schweregrad der Krankheit zu. Diese verläuft jedoch bei der Mehrzahl der Patienten relativ gutartig, denn annähernd 75% bleiben trotz Behinderung arbeitsfähig. In einer Untersuchungsreihe von 220 Patienten waren nach mehr als 20-jähriger Beobachtungszeit 18% bettlägerig oder an den Rollstuhl gebunden. Die Sterblichkeitsrate der AS-Patienten ist erst nach mehr als 10-jähriger Krankheitsdauer erhöht. Zu den lebensverkürzenden Komplikationen der AS gehören traumatische Frakturen der rigiden, osteoporotischen Wirbelsäule, die im HWS-Bereich zur Querschnittslähmung führen können, ferner die Aorteninsuffizienz und die Lungenfibrose mit sekundärem Aspergillusbefall. 9.1.4 Sekundäre Spondylarthritiden
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Arthritis psoriatica Die Psoriasis ist in 5–8% der Fälle mit einer chronischen Arthritis assoziiert, von der periphere Gelenke und Achsenskelett befallen werden. Die Hauterscheinungen gehen bei 75% der Patienten den Gelenkmanifestationen voraus, bei 15% treten beide gleichzeitig auf und bei 10% erkranken die Gelenke zuerst.
. Abb. 9.9. Daktylitis der Hand mit diffuser Fingerschwellung bei Psoriasisarthritis (Zeidler et al.: Interdisziplinäre Rheumatologie. Springer, Berlin 2001)
Ätiologie und Pathogenese: Zur Psoriasis besteht eine geneti-
sche Disposition. Bei monozygoten Zwillingen betragen die Konkordanzraten 65–72%, bei dizygoten nur 15–30%. Der häufigste mit der Psoriasis assoziierte Marker HLA-Cw6 steigert das relative Erkrankungsrisiko 24fach. Bei peripherer Arthritis ist zusätzlich die Frequenz der Marker HLA-A26, -B38 und -DR4 erhöht, bei der Spondylitis die des HLA-B27. Welche exogenen Kausalfaktoren zur Entstehung der Psoriasis beitragen, ist ungeklärt. Einmal etabliert, lässt sich die Psoriasis durch diverse Provokationen wie Infektionen (Streptokokken, Retroviren), Traumen, Pharmaka (Lithium, Betablocker, Antimalariamittel) und Stress an nicht betroffenen Hautstellen zur Exazerbation bringen. Auch Traumen scheinen Gelenkmanifestationen induzieren zu können. Die Läsionen in der Haut und in der Synovialis beginnen offenbar mit Endothelveränderungen und perivaskulären Infiltraten aus Lymphozyten, Plasmazellen, Monozyten und Makrophagen. Danach kommt es an den Hautstellen durch eine abnorme Stimulation des kutanen Immunsystems mit Freisetzung diverser Zytokine aus Lymphozyten und Keratinozyten zur epidermalen Hyperplasie mit Hyperkeratose, Parakeratose und sterilen spongiformen Pusteln oder Mikroabszessen. In der Synovialis überwiegt eine fortschreitende Fibrosierung. Im Gegensatz zur rheumatoiden Arthritis bleibt eine Hypertrophie und Hyperplasie des synovialen Epithels weitgehend aus.
. Abb. 9.10. Mutilierender Typ einer Psoriasisarthritis (Braun-Falco et al.: Dermatologie und Veneralogie. Springer, Berlin 2005)
proximalen Interphalangealgelenke und der Metatarsophalangealgelenke an Händen und Füßen, meistens kombiniert mit psoriatischen Nagelveränderungen (punktgroße Vertiefungen, rötlich-braune Verfärbungen, Onychodystrophie). Manchmal kommt es zur Entzündung aller Gelenke eines Finger- oder Zehenstrahls (Daktylitis), der dann wurstförmig verdickt erscheint (. Abb. 9.9). Infolge Zerstörung des gelenknahen Knochens kann eine Arthritis mutilans einzelner Finger oder Zehen resultieren (. Abb. 9.10), die über den Gelenken Hautfalten aufweisen und sich teleskopartig auf die frühere Länge strecken lassen. Die relativ seltene Oligoarthritis der großen Gelenke tritt oft zusammen mit der Arthritis eines Interphalangealgelenkes auf.
Klinik. Bei den Gelenkmanifestationen der Psoriasis sind ver-
schiedene Subtypen zu unterscheiden. Asymmetrische Oligoarthritis: Männer und Frauen sind im Ver-
hältnis 1:1 betroffen. Am häufigsten ist der Befall der distalen und
Symmetrische Polyarthritis: Frauen erkranken doppelt so häufig wie Männer. Das klinische Bild ist von dem der rheumatoiden Arthritis nicht zu unterscheiden. Der Rheumafaktortest fällt jedoch negativ aus.
779 9.1 · Entzündliche Erkrankungen der Gelenke und der periartikulären Gewebe
Spondylarthritis: Bis zu 30% der Psoriasispatienten, überwiegend
die männlichen, haben eine nicht selten asymptomatische Sakroiliitis, mit oder ohne Beteiligung der peripheren Gelenke. Sie ist im Gegensatz zur AS oft einseitig und kann mit einer Spondylitis assoziiert sein, die sich häufiger als bei der AS in der HWS etabliert. Ein Unterscheidungsmerkmal ist die Form der Syndesmophyten, die bei der Psoriasisspondylitis als Parasyndesmophyten bezeichnet werden, weil sie als grobe Spangen von den Wirbelkörpern ausgehen und vor den Bandscheiben verlaufen. Zur spondylitischen Variante der Arthritis psoriatica gehören wie bei der AS Enthesopathien an zahlreichen Ansatzstellen von Sehnen und Bändern. Außerdem wird bei Patienten mit Psoriasisarthritis eine Augenbeteiligung beobachtet, bei 20% eine Konjunktivitis und bei 7% eine vordere Uveitis. Diagnostik. Sie ergibt sich aus dem Zusammentreffen der Ge-
lenksymptome mit der Psoriasis, die aber an versteckter Stelle lokalisiert sein kann (Kopfhaar, Nabel). Laborbefunde: Blutsenkung und CRP reflektieren den Grad der entzündlichen Aktivität. Die Immunglobulinkonzentrationen sind normal. Der Rheumafaktor ist im Allgemeinen negativ, jedenfalls nicht häufiger positiv als in der normalen Bevölkerung. Den Marker HLA-B27 findet man bei 50% der Patienten mit Psoriasisspondylitis. Therapie und Prognose. Die Arthritis psoriatica spricht auf die
üblichen antirheumatischen Mittel gewöhnlich unbefriedigend an. Mit den TNF-α-Antagonisten Etanercept und Infliximab wurden hochwirksame Substanzen gefunden. Hautläsionen und Arthritis sprechen eindrucksvoll an. Auch Patienten mit lange bestehender Krankheit und Resistenz gegen andere Mittel wurden erheblich gebessert. Dosierungen und Nebenwirkungen wurden bei der AS (7 Kap. 9.1.3) angegeben. Ob auch die Progredienz aufgehalten wird, bleibt abzuwarten. In leichteren Fällen ist mit den NSAID auszukommen. Bei akuten Schüben sind Glukokortikoide indiziert. Zum Einsatz kommen auch Methotrexat und Sulfasalazin. Arthritis bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen Gelenkentzündungen sind die häufigste extraintestinale Komplikation des Morbus Crohn (Enteritis regionalis) und der Colitis ulcerosa. Sie befallen die peripheren Gelenke oder das Achsenskelett. Periphere Arthritis Bei 9–20% der Patienten kommt es während eines Schubes der Darmerkrankung zu einer akuten Oligo- oder Polyarthritis, die auch migratorisch verlaufen kann. Betroffen sind hauptsächlich Knie-, Knöchel-, Ellbogen und Handgelenke, die anschwellen und schmerzen. In leichten Fällen treten nur Arthralgien auf. Gewöhnlich bildet sich die Arthritis innerhalb von 6 Monaten zurück und hinterlässt keine Destruktionen. Männer und Frauen
erkranken gleich häufig. Eine Assoziation mit dem HLA-B27 besteht nicht. Die Synovialflüssigkeit enthält reichlich segmentkernige Leukozyten aber keine Bakterien. Therapeutisch wirksam sind die gleichen Mittel wie gegen die Darmerkrankung (Glukokortikoide, Sulfasalazin, Kolektomie). Auch nichtsteroidale Antiphlogistika lindern die Symptome, sollten jedoch wegen ihrer gastrointestinalen Nebenwirkungen mit Vorsicht eingesetzt werden, sicherheitshalber in Kombination mit Misoprostol. Spondylarthritis Der Wirbelsäulenbefall betrifft überwiegend das männliche Geschlecht, ist in 50–75% der Fälle HLA-B27-assoziiert und korreliert nicht mit der Aktivität der Darmentzündung. Er kann den intestinalen Symptomen vorausgehen und nach Remission der Darmerkrankung fortschreiten. Bei etwa 25% der Patienten entwickelt sich eine im Röntgenbild nachweisbare Sakroiliitis, die klinisch nicht selten stumm bleibt, ansonsten aber die krankheitstypischen Rückenbeschwerden hervorruft und bei manchen Patienten in eine ankylosierende Spondylarthritis übergeht. Hüftund Schultergelenke können mitbetroffen sein, auch Enthesopathien kommen vor. Die Abgrenzung gegen die idiopathische AS kann vor dem Auftreten der intestinalen Manifestationen schwierig sein. In der Therapie müssen einerseits die Nebenwirkungen der nichtsteroidalen Antiphlogistika auf den Magen-Darm-Trakt, andererseits die nachteiligen Steroideffekte auf die Wirbelsäule beachtet werden. Wahrscheinlich sind auch hier TNF-α-Antagonisten nützlich. Reaktive Arthritis (Reiter-Syndrom) Definition. Reaktive Spondylarthropathie, Konjunktivitis und Urethritis nach bestimmten gastrointestinalen und urogenitalen Infektionen. Vorkommen und Häufigkeit. Die Inzidenzrate wird auf 30 Fälle pro 100.000 Einwohner geschätzt. Das Erkrankungsalter liegt meistens zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr. Die Häufigkeit des Reiter-Syndroms beträgt nach Chlamydienurethritiden 1%, nach Darminfektionen mit Shigellen, Salmonellen und Camphylobacter 2–3%, nach Yersiniosen bis zu 33%. Auf dem venerischen Weg erkranken überwiegend Männer, auf dem enteralen beide Geschlechter ungefähr im Verhältnis 1:1. Von den HLAB27-positiven Patienten befällt das Reiter-Syndrom immer nur eine Minderheit, was bei den Betroffenen auf zusätzliche disponierende Faktoren schließen lässt. Ätiologie und Pathogenese. Das Reiter-Syndrom ist eine postin-
fektiöse Systemkrankheit mit sterilen entzündlichen Organmanifestationen, die sich von anderen Krankheiten dieses Typs durch eine enge Assoziation mit dem HLA-B27 unterscheidet. Exogene Verursacher sind entweder Darminfektionen durch Shigellen, Salmonellen, Yersinien, Camphylobacter und C. difficile oder venerische Infektionen durch Chlamydia trachomatis und bisher nicht identifizierte Erreger. Anscheinend disponieren das HLA-
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Kapitel 9 · Krankheiten des Bewegungsapparates
B27 und strukturverwandte HLA-B-Allele, die bei HLA-B27-negativen Patienten gefunden wurden, zu einer ungewöhnlichen Immunantwort auf die genannten Erreger. Sie könnten als spezifische antigenpräsentierende Moleküle dem Immunsystem besondere Erregerproteine zugänglich machen, aber auch Angriffspunkt einer Kreuzreaktion antibakterieller Immunglobuline sein. Einige Untersucher haben in der Synovialis persistierende Antigene von Chlamydien, Yersinien und Salmonellen nachgewiesen, die vielleicht eine lokale Immunreaktion unterhalten. Definitives ist über den immunpathogenetischen Mechanismus des ReiterSyndroms nicht bekannt. Klinik. In über 80% der Fälle tritt das Reiter-Syndrom innerhalb
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von 30 Tagen nach den ersten Symptomen der infektiösen Vorerkrankung auf, die zu diesem Zeitpunkt in der Regel schon abgeklungen ist. Ein Erregernachweis ist dann meistens nicht mehr möglich. Manchmal, insbesondere bei Rezidiven, verläuft die triggernde Infektion so blande, dass der Patient sie nicht registriert. Auch der postinfektiöse Entzündungsprozess erreicht unterschiedliche Schweregrade und bleibt häufig auf die Gelenke beschränkt. In diesen Fällen spricht man von einer HLA-B27assoziierten reaktiven Arthritis. Sie lässt sich nur bei typischer Vorerkrankung als inkomplettes Reiter-Syndrom identifizieren. Das klassische Reiter-Syndrom setzt plötzlich ein mit Krankheitsgefühl, Schwäche und Fieber. Die 3 Kardinalsymptome sind: 4 Der Gelenkbefall, der im Vordergrund steht und in Form einer akuten Monoarthritis oder asymmetrischen Oligoarthritis mit bevorzugter Lokalisation an Knie-, Sprung- und Vorfußgelenken auftritt. Hand- und Fingergelenke können ebenfalls betroffen sein. Nicht selten zeigt die Arthritis migratorischen Charakter. Sie ist sehr schmerzhaft und geht oft mit Ergussbildung einher. Bei einem Drittel der Patienten kommt es zur Sakroiliitis mit tiefsitzenden Rückenschmerzen, die nach häufigen Rezidiven in eine ankylosierende Reiter-Spondylitis übergehen kann. Letztere unterscheidet sich von der primären AS durch atypische Syndesmophyten. Neben den Gelenkmanifestationen weisen 5–20% der Kranken Enthesopathien (Fersen- oder Sitzbeinschmerz), Tendovaginitiden oder Bursitiden auf. 4 Die Symptome der Urethritis sind Dysurie, Ausfluss und Hämaturie. Bei den venerisch übertragenen Fällen geht sie von einer bakteriellen in eine unspezifische Urethritis über. Als urogenitale Vorerkrankung kommt bei Männern eine Prostatitis, bei Frauen eine Zervizitis vor. 4 Am Auge manifestiert sich der Entzündungsprozess überwiegend als benigne beidseitige mukopurulente Konjunktivitis. In schweren Fällen von Reiter-Syndrom mit rezidivierender Arthritis und Sakroiliitis kann eine vordere Uveitis mit Hypopyon und intraokulären Hämorrhagien auftreten. Außer den 3 Kardinalsymptomen kommen bei 5–13% der Patienten EKG-Veränderungen (Arrhythmien, verlängertes AV-In-
tervall) vor, die auf karditische Läsionen hinweisen. In einigen Fällen entsteht eine Aorteninsuffizienz. Das durch Shigellen und urogenitale Infektionen verursachte Reiter-Syndrom geht bei 23% der Patienten mit einer Balanitis circumscripta einher, bei 2–10% mit oralen Ulzera, die sich auch nach CamphylobacterInfektionen bilden. In etwa 12% der Fälle von venerisch übertragenem Reiter-Syndrom sieht man psoriasiforme, pustulöse Hautveränderungen, vorwiegend an Handflächen und Fußsohlen. Diagnostik. Das Reiter-Syndrom gibt sich durch eine der typischen Vorerkrankungen und das klinische Bild zu erkennen. Manche Erreger sind im Gelenkpunktat nur mit der PCR oder mit einem Enzym-Immunassay (Toxine des C. difficile) nachzuweisen. Laborbefunde: In der Akutphase sind Blutsenkung und C-reak-
tives Protein erhöht. Der Rheumafaktor-Test ist negativ. Das HLA-B27 findet man in 60–90% der Fälle, bei spondylitischen Läsionen fast immer. Die stets sterilen Gelenkpunktate enthalten vermehrt Granulozyten. Erregernachweis: Der Nachweis von Chlamydia trachomatis im Harn (Kultur, Antigennachweis) und pathogener Enterobakterien im Stuhl (kulturell) sollte in jedem Fall versucht werden. Zuverlässiger lassen sich die Erreger durch erhöhte Antikörpertiter im Serum erfassen. Biopsie: Die Synovialisbiopsie ergibt unspezifische leukozytäre Infiltrate und im Gegensatz zur rheumatoiden Arthritis keine Hyperplasie der äußeren Zellschicht. Differenzialdiagnosen. Auszuschließen sind vor allem eine gonorrhoische Arthritis (durch Erregernachweis im Urin oder Gelenkpunktat) und eine Arthritis psoriatica, die sich überwiegend
an den oberen Extremitäten manifestiert, aber auch HLA-B27positiv ist. Durch Untersuchung der Gelenkflüssigkeit ist eine Kristallathropathie (Gicht, Pseudogicht) auszuschließen. Therapie. Mittel der Wahl gegen die rheumatische Entzündung ist Indomethacin (3×25–50 mg/Tag). Alternativ kommen andere nichtsteroidale Antiphlogistika, in refraktären Fällen Methotrexat, Azathioprin oder Sulfasalazin zum Einsatz. Bei Befall einzelner Gelenke bieten sich lokale Steroidinjektionen an. Eine systemische Steroidtherapie bleibt schweren Fällen vorbehalten. Krankengymnastik und physikalische Maßnahmen gehören selbstverständlich ins therapeutische Programm. Der Nutzen einer Antibiotikatherapie ist bisher nicht gesichert. Nachgewiesene Erreger wird man in jedem Fall gezielt ausschalten. Beim Chlamydia-induziertem Reiter-Syndrom scheinen Tetrazykline die Arthritis zu bessern. Am besten sprechen diese Erreger auf Clarithromycin an, das deshalb einen Therapieversuch wert ist. Verlauf. Das Krankheitsbild entwickelt sich gewöhnlich während
einer Periode von rund 3 Wochen. Bei 70% der Patienten bilden
781 9.1 · Entzündliche Erkrankungen der Gelenke und der periartikulären Gewebe
sich die klinischen Erscheinungen innerhalb von 6 Monaten vollständig zurück, bei 15% dauern sie länger als ein Jahr an. Rezidive der Arthritis und Enthesopathie kommen bei mehr als 50% der Patienten vor. Nicht immer gehen ihnen Reinfektionen voraus. Am häufigsten ist der erneute Chlamydienbefall, gegen den die Erstinfektion erfahrungsgemäß keine anhaltende Immunität hinterlässt. In 16% der Fälle entwickeln sich destruktive Gelenkläsionen oder eine Spondylitis mit entsprechenden radiologischen Befunden. Bei 5–10% der Patienten bleiben schwere Fußdeformierungen zurück. Eine ungenügend oder zu spät behandelte Uveitis kann zur Erblindung führen. 9.1.5 Rheumatisches Fieber Definition. Systemische Immunkrankheit nach einer durch AStreptokokken verursachten Pharyngitis mit Fieber, Polyarthritis, Karditis, Chorea, subkutanen Knötchen und Erythema marginatum. Vorkommen und Häufigkeit. In den westlichen Industrieländern ist die Inzidenz des rheumatischen Fiebers während der letzten Jahrzehnte auf annähernd 5 Fälle pro 100.000 Einwohner gesunken. Gründe dafür sind die Verbesserung der sozialen und hygienischen Verhältnisse, der Antibiotikaeinsatz bei Halsinfekten, aber wohl auch ein qualitativer Erregerwandel. Einige neuere Endemien in den USA wurden durch die mukoiden M-Typen 3 und 18 hervorgerufen. Der Häufigkeitsgipfel des rheumatischen Fiebers liegt zwischen dem 4. und 9. Lebensjahr. Auch ältere Kinder und junge Erwachsene erkranken relativ oft, über 45-Jährige äußerst selten. Wer ein rheumatisches Fieber durchgemacht hat, muss nach erneuten Streptokokkeninfekten mit Rezidivquoten der rheumatischen Entzündung bis zu 50% rechnen, ein Zeichen für die besondere Anfälligkeit der Erkrankten, die eine konsequente antibiotische Sekundärprophylaxe notwendig macht. Ätiologie und Pathogenese. Von den über 60 Serotypen der AStreptokokken, die man nach den Antigenen ihrer M-Proteine unterscheidet, haben sich mit wenigen Ausnahmen nur die MTypen 1, 3, 5, 6, 14, 18, 19 und 24 als rheumatogen erwiesen. Dabei muss die Infektion über die pharyngeale Eintrittspforte erfolgen. Die Beobachtung, dass nach einer Streptokokkenangina nur 3% der Menschen ein rheumatisches Fieber bekommen, lässt auf eine individuelle Disposition zu dieser Komplikation schließen. Genetische Faktoren allein können nicht ausschlaggebend sein, da von eineiigen Zwillingen lediglich 20% konkordant erkranken. Ob bestimmte HLA-Subtypen zur Anfälligkeit beitragen, ist noch ungeklärt. Bisher fiel nur eine Assoziation des rheumatischen Fiebers mit einigen HLA-unabhängigen B-Zellantigenen auf. Die rheumatische Entzündung beginnt 2–5 Wochen nach dem Streptokokkeninfekt und ist zweifellos auf die Immunantwort des Körpers zurückzuführen. Diese richtet sich primär
gegen Antigene der Streptokokken, doch lassen sich in den Gewebeläsionen keine Streptokokkensubstanzen als Reaktionspartner von Antikörpern und Immunzellen nachweisen. Diverse Streptokokkenantikörper reagieren jedoch mit körpereigenen Strukturen im Myokard (Myosin, Sarkolemm), im Herzklappengewebe und im Zytoplasma subthalamischer Neurone, so dass als pathogenetischer Mechanismus des rheumatischen Fiebers eine immunologische Kreuzreaktion anzunehmen ist, die auf molekularer Mimikri von Körpersubstanzen und bestimmten Streptokokkenantigenen beruht. Unklar ist noch, warum der rheumatische Entzündungsprozess manchmal weiterschwelt, nachdem die akuten Erscheinungen abgeklungen und alle Streptokokken eliminiert worden sind. In diesen Fällen könnten versteckte Streptokokkenantigene, die sich dem Nachweis durch Immunfluoreszenz entziehen, weiter stimulierend wirken oder Autoimmunreaktionen in Gang gesetzt worden sein. Zunächst hat die rheumatische Entzündung exsudativen Charakter mit Ödemen und interstitiellen, überwiegend lymphozytären Infiltraten. Etwas später entwickeln sich im Gewebe die typischen Aschoff-Knötchen, herdförmige Infiltrate aus Lymphozyten, Monozyten und zum Teil mehrkernigen Makrophagen, die ein fibrinoid-nekrotisches Material umschließen und in Vernarbung übergehen. Klinik. Die Organmanifestationen des rheumatischen Fiebers treten kombiniert oder einzeln auf und erreichen unterschiedliche Schweregrade. In seltenen Fällen kommt es nach einer Streptokokkenangina nur zu einem Zweitfieber ohne sonstige klinische Symptome. Bei Rezidivinfekten kann die Pharyngitis relativ blande verlaufen und der Temperaturanstieg gering sein. Polyarthritis
Etwa Dreiviertel der Patienten erkranken an einer rheumatischen Gelenkentzündung. Sie beginnt stets akut und zeigt oft migratorischen Charakter, indem sie ein Gelenk nach dem anderen befällt. Betroffen sind vorwiegend Knie-, Fuß-, Ellbogen- und Handgelenke. Die Arthritis führt zu sehr schmerzhaften Schwellungen und starker Bewegungseinschränkung der Gelenke, klingt aber in wenigen Wochen spontan ab und hinterlässt keine Deformierungen. In manchen Fällen treten nur wandernde Arthralgien auf, die bald vorübergehen. Rezidive des rheumatischen Fiebers verlaufen oft ohne signifikante Gelenkbeteiligung, gehen aber fast immer mit einem karditischen Schub einher. Karditis
Bei 40–50% der Patienten greift der rheumatische Entzündungsprozess auf das Herz über und erfasst alle Wandschichten, auch wenn das klinisch nicht immer deutlich wird. In schweren Fällen sind sämtliche Zeichen der Pankarditis vorhanden. Die Myokarditis manifestiert mit Tachykardie, Dilatation der Ventrikel und Insuffizienzzeichen, die Endokarditis, die hauptsächlich eine Valvulitis ist, mit Klappenfehlersymptomen. Oft sind die klinischen Erscheinungen der Karditis so diskret, dass sie erst retrospektiv diagnostiziert wird, nachdem sich ein ausgeprägtes Vitium ent-
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Kapitel 9 · Krankheiten des Bewegungsapparates
wickelt hat. Ausführlich wird die rheumatische Karditis im Kardiologiekapitel beschrieben (7 Kap. 1.11.1). Subkutane Knötchen
Während der aktiven Phase des rheumatischen Fiebers treten bei 7–21% der Patienten an druckbelasteten Stellen (Hinterkopf, Streckseiten der Arme und Knie, Knöchelregion, Rücken) indolente, derbe, gut verschiebliche subkutan gelegene Rheumaknoten auf, die histologisch von den bei der rheumatoiden Arthritis vorkommenden nicht zu unterscheiden sind. Sie werden vor allem bei Kindern mit prolongierter rheumatischer Karditis angetroffen und bilden sich erst im Laufe einiger Wochen vollständig zurück. Erythema marginatum
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Der bei 1–2% der Patienten an den Oberarmen und am Stamm vorkommende Hautausschlag ist ein zwar seltenes, aber charakteristisches Zeichen des rheumatischen Fiebers, das in Zweifelsfällen die Diagnose sichert. Es handelt sich um nicht juckende, blassrote Flecken mit einem girlandenförmigen, intensiv roten Rand, die auf Druck erblassen. Das Erythema marginatum kann über einige Monate rezidivieren, wenn bereits alle anderen Zeichen rheumatischer Aktivität verschwunden sind und steht einer Mobilisierung der Patienten nicht im Wege. Chorea (Sydenham)
Diese sehr selten gewordene neurologische Manifestation des rheumatischen Fiebers tritt erst nach einer Latenzzeit von 1–6 Monaten und niemals gleichzeitig mit der Polyarthritis auf. Die Entzündungsparameter Blutsenkung und CRP sind meistens schon wieder normal. Als weitere rheumatische Manifestation besteht in 25% der Fälle eine Mitralstenose. An der Chorea erkranken in der Regel nur Kinder und Jugendliche, nach der Pubertät ausschließlich die Mädchen. Initialsymptome sind Müdigkeit, psychische Labilität, Reizbarkeit und eine gewisse Zappeligkeit. Danach kommt es zu den typischen unwillkürlichen, plötzlich einschießenden, ausfahrenden und ziellosen, choreiformen Bewegungen, die alle Muskeln erfassen können. Betroffen sind vorwiegend Gesicht (Grimassieren, Schmatzen), Arme und Beine. Willkürliche Bewegungsabläufe wie Sprechen und Schreiben können erheblich gestört sein. Die Chorea verliert allmählich an Intensität. Sie dauert 5–15 Wochen, nur selten länger als 2 Jahre und heilt ohne Spätfolgen ab. Diagnostik. Laboruntersuchungen Bestimmung des Aktivitätsgrades: Zeichen der rheumatischen
Aktivität sind Blutsenkungsbeschleunigung, erhöhte CRP-Werte, α2-Globulinvermehrung im Serumelektropherogramm und Leukozytose. Im Verlauf kann sich eine normochrome Anämie entwickeln. Diagnostische Tests: Zum Nachweis der vorausgegangenen Streptokokkeninfektion bestimmt man im Patientenserum die
Antikörper gegen verschiedene Streptokokkensubstanzen: Antistreptolysin O, Antihyaluronidase, Antistreptolysin, Anti-DPNase und Anti-DNAse B. Während die Anzüchtung der A-Streptokokken vom Rachenabstrich bei Ausbruch des rheumatischen Fiebers nur selten gelingt, hat die Antikörperproduktion zu diesem Zeitpunkt schon ihr Maximum erreicht. Man findet deshalb stets erhöhte Antikörpertiter, die in den folgenden Monaten schnell und danach langsam weiter sinken. Der Titerabfall ist ein wichtiges Kriterium für eine frische Infektion. Am häufigsten wird der Antistreptolysin-O-Titer bestimmt. Seine obere Normgrenze liegt bei 200 U/l. In Zweifelsfällen ist zusätzlich der Antihyaluronidasetiter (oberer Grenzwert 80 U/l) heranzuziehen. Bei einer Chorea empfiehlt sich die Bestimmung der Anti-DNAse B, da deren Titer langsamer zurückgeht als der des Antistreptolysin O. Als Screeningtest eignet sich ein kombinierter Antistreptokokken-Antikörpertest (Streptozyme), der Antikörper gegen mehrere Streptokokkenantigene erfasst. Sind bei wiederholter Untersuchung mit keiner Methode erhöhte Streptokokkenantikörper nachzuweisen, ist ein florides rheumatisches Fieber auszuschließen. In diesen Fällen kann eine der zahlreichen anderen Infektarthritiden (7 unten) vorliegen oder eine akute Variante der rheumatoiden Arthritis, die gewöhnlich am positiven Rheumafaktortest zu erkennen ist. Therapie. Allgemeine Maßnahmen: Im akuten Stadium Bettruhe und La-
gerung der betroffenen Extremitäten. Bei Karditis Bettruhe bis zur Normalisierung der Pulsfrequenz, danach weitgehende körperliche Schonung bis zum Rückgang der Entzündungsparameter (Blutsenkung, CRP, Leukozytenzahl). Analgetische und antiphlogistische Therapie: Das Standardmedikament gegen Fieber, Schmerzen und Entzündung ist die Acetylsalicylsäure. Erwachsene erhalten 4–6 g/Tag, verteilt auf 4–5 Einzeldosen. Bei Unverträglichkeit kann man Erwachsenen andere nichtsteroidale Antirheumatika geben (Naproxen, Indometacin). Der therapeutische Effekt setzt schon nach 12–24 Stunden ein. Glukokortikoide sind bei isolierter Polyarthritis entbehrlich, bei Karditis indiziert (initial 40–120 mg Prednisonäquivalent in 3 Einzeldosen). Zu frühes Reduzieren oder Absetzen der Antiphlogistika kann zur Rückkehr des Fiebers und der Arthritis führen. Die Behandlungsdauer beträgt 4–10 Wochen. Antibiotische Therapie: Das Mittel der Wahl zur Eradikation der A-Streptokokken ist Penicillin, gegen das β-hämolytische Streptokokken keine Resistenz entwickeln. Bakterizide Dosen müssen 10 Tage lang gegeben werden, auch bei negativem Rachenabstrich. Am sichersten ist die parenterale Applikation des Depotpräparates Benzathin-Penicillin G (Kinder 600.000 IE, Erwachsene 1.200000 IE/Tag i.m.). Exakte Einnahme vorausgesetzt, hat orales Penicillin V (4×250.000 IE/Tag auf leeren Magen) den gleichen Effekt. Bei Penicillinallergie sind Erythromycin und Sulfonamide akzeptable Alternativen.
783 9.1 · Entzündliche Erkrankungen der Gelenke und der periartikulären Gewebe
Prophylaxe. Die hohe Rezidivrate des rheumatischen Fiebers macht eine Dauerprophylaxe gegen A-Streptokokken erforderlich. Dazu genügen monatlich eine i.m. Injektion von 1.200000 E Benzithin, Penicillin G oder 2×200.000 IE/Tag Penicillin V oral auf leeren Magen. Bei Penicillinallergie gibt man täglich in einer Dosis 1 g Sulfadiazin. Nach dem ersten Schub einer rheumatischen Karditis sollte die Penicillin-Prophylaxe bei Kindern bis zu ihrem 18. Lebensjahr, bei Erwachsenen während der nächsten 5 Jahre fortgesetzt werden. Der Antibiotikaschutz hat sich als sehr wirksam erwiesen. Sicherheitshalber ist er im späteren Leben bei Umgebungserkrankungen an Streptokokkenangina zu erneuern. Im Allgemeinen ist zur Rezidivprophylaxe nach dem ersten Krankheitsschub auch die Tonsillektomie angezeigt.
9.1.6 Infektiöse Arthritiden Definition. Akute oder chronische Arthritiden durch in die Ge-
der Therapie nach 2–4 Wochen verschwindet und deshalb für die Anwesenheit lebender Spirochäten spricht. Die Lyme-Arthritis dürfte somit durch eine im Gelenk ablaufende Immunreaktion gegen den Erreger entstehen. Klinik. Der Schweregrad der Lyme-Arthritis variiert von subjektiven Gelenkbeschwerden über intermittierende Attacken von Gelenkschwellungen bis zur chronischen Synovitis (. Abb. 9.11). Es kommen sowohl Mono- als auch und Oligoarthritiden vor. Befallen werden hauptsächlich die Kniegelenke, weniger häufig Kiefer-, Schulter-, Ellbogen-, Hand- und Fußgelenke, nur selten die kleinen Gelenke an Händen und Füßen. Die arthritischen Schübe können in monatelangem Intervallen über Jahre rezidivieren. Sie dauern mehrere Wochen oder einige Monate, gehen oft mit starker Ergussbildung, aber nur moderaten Schmerzen einher und klingen allmählich ab. In wenigen Fällen entwickelt sich eine chronische Entzündung großer Gelenke mit Knorpelund Knochenerosionen.
lenke eindringende Krankheitserreger. Diagnostik. Auf eine Lyme-Arthritis weisen mono- oder oligoar-
Lyme-Arthritis Vorkommen und Häufigkeit. Infektionen mit B. Burgdorferi
kommen in einigen Regionen Nordamerikas und in Europa nicht selten vor, hauptsächlich in den Sommermonaten. Bei etwa 20% der Infizierten beschränken sich die klinischen Manifestationen auf ein passageres Erythema migrans. An einer Borrelien-Arthritis erkranken in Nordamerika über 50% der Patienten, in Europa deutlich weniger. Betroffen sind alle Altersgruppen und beide Geschlechter gleich häufig.
tikulärer Befall großer Gelenke, insbesondere des Kniegelenkes, Exposition in einem Endemiegebiet, Zeckenstich und ein vorausgegangenes Erythema migrans hin. Zur Bestätigung der Diagnose genügt in der Regel der positive serologische Befund. Letzte diagnostische Sicherheit gibt ein positiver PCR-Test auf B.-Burgdorferi-DNA in der Gelenkflüssigkeit.
Ätiologie und Pathogenese. Die erstmals 1975 in der Ortschaft
Laborbefunde: Im Gelenkpunktat werden 500–110.000 Zellen/ mm3 Zellen gefunden, überwiegend Segmentkernige. Auch bei großen Gelenkergüssen können Blutsenkung und Leukozyten im Blut normal sein. Die Tests auf Rheumafaktoren und ANA sind
Lyme (Connecticut) beobachtete Gelenkerkrankung wird durch die von Zecken (Ixodes ricinus, Ixodes dammini) übertragene Spirochäte Borellia Burgdorferi verursacht. An der Einstichstelle entsteht nach 3–32 Tagen als Frühreaktion ein Erythema migrans. Einige Tage oder Wochen später disseminiert der Erreger in viele Organe und Gewebe, darunter auch in die Gelenke. Im Generalisationsstadium können Kopfschmerzen, Fieber, wandernde Gliederschmerzen, sekundäre annuläre Hautläsionen, neurologischen Symptome (Meningitis, sensorische und motorische Radikuloneuropathien) und eine Karditis auftreten. Das Generalisationsstadium verläuft jedoch nicht selten stumm. Ihm folgt erst nach einer Latenzzeit von Monaten oder wenigen Jahren das tertiäre oder Spätstadium der Infektion, zu dessen Manifestationen die Lyme-Arthritis, neurologische Ausfallerscheinungen (Enzephalopathie mit Gedächtnisstörungen, axonale Polyneuropathie, Leukoenzephalitis) und die Acrodermatitis chronica atrophicans zählen. Die Immunantwort gegen die B. Burgdorferi kommt nur langsam in Gang, vermutlich wegen entzündungshemmender Substanzen im Zeckenspeichel. Zum Zeitpunkt des Gelenkbefalls haben die Spirochätenantikörper im Serum ihren höchsten Titer erreicht. Zugleich ist im Synovialisgewebe mit der PCR regelmäßig B.-Burgdorferi-DNA nachzuweisen, die unter
. Abb. 9.11. Rechtsseitige Lyme-Arthritis bei einem 35-jährigen Mann (aus Huppertz u. Krause. Internist 2/2003)
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Kapitel 9 · Krankheiten des Bewegungsapparates
negativ. Positiv ist der ELISA-Test auf IgG-Antikörper gegen B. Burgdorferi. Er bedarf wegen möglicher falsch-positiver Resultate der Kontrolle durch Westernblotting. Für einen positiven IgG-Blot müssen mindestens 5 der möglichen 10 IgG-Banden Reaktivität zeigen. Therapie. Sie ist abhängig vom Stadium der Borreliose: Primärinfektion (Erythema migrans): Doxycyclin 2×100 mg/Tag per os für 10 Tage. Bei Kindern statt dessen Amoxicillin 4×500 mg/ Tag per os für 10 Tage; bei Penicillinallergie 2×500 mg/Tag Cefuroxim per os für 10 Tage. Generalisationsstadium: Wie bei Primärinfektion, jedoch für
20–30 Tage. Lyme-Arthritis: Mittel der Wahl Ceftriaxon 1×2 g/Tag als intrave-
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nöse Kurzinfusion für 10 Tage. Alternativ, aber gegen Neuroborreliose weniger zuverlässig, 1-mal tgl. 10–20 Mill. IE intravenöses Penicillin G für mindestens 10 Tage. Die Lyme-Arthritis spricht auch auf orales Doxycyclin (30 Tage 2×100 mg/Tag) und auf orales Amoxicillin (30 Tage 4×500 mg/Tag) an, die Neuroborreliose nur in 50% der Fälle. Verlauf. In den meisten Fällen bildet sich die Lyme-Arthritis 1– 2 Monate nach der Antibiotikatherapie definitiv zurück. Auch Spontanheilungen sind möglich, doch droht unbehandelten Patienten eine nachfolgende Neuroborreliose, da die Infektion nicht beseitigt ist. Bei einem kleinen Prozentsatz der Therapierten bleibt über Monate oder Jahre hinweg eine persistierende Arthritis bestehen, obwohl der Test auf B.-Burgdorferi-DNA im Gelenkpunktat negativ geworden ist. Die meisten dieser Patienten sind entweder HLA-DR4-positiv oder bilden Antikörper gegen das Borrelien-Antigen OspA. Beide Faktoren scheinen zu einer sekundären Autoimmunarthritis zu disponieren. An Therapiemöglichkeiten verbleiben für die antibiotikaresistenten Fälle nichtsteroidale Antiphlogistika, intraarterielle Steroidinjektionen oder eine arthroskopische Synovektomie.
Gonokokken-Arthritis Zur Arthritis kommt es bei der Gonorrhö durch eine hämatogene Gonokokkeninfektion der Gelenke, die in unbehandelten Fällen vom primären genitalen, rektalen oder oropharyngealen Krankheitsherd ausgeht. Frauen erkranken häufiger als Männer, weil sie das Initialstadium der Gonorrhö weniger leicht wahrnehmen. Die disseminierte Gonokokkeninfektion beginnt meistens mit leichtem Fieber, wandernden Arthralgien, einer Polyarthritis an den Interphalangealgelenken der Hände und Füße und oft mit einem papulösen, vesikulären oder pustulösen Hautausschlag. Zu diesem Zeitpunkt sind die urogenitalen Symptome trotz positiver Urethraabstriche bei vielen Patienten schon abgeklungen. Der bakteriämischen Phase folgt eine lokalisierte Mono- oder Oligoarthritis (. Abb. 9.12), bevorzugt in den Hand-, Knie- und
. Abb. 9.12. Gonokokkenarthritis mit Tendosynovitis und Daktylitis (aus Zeidler et al.: Interdisziplinäre klinische Rheumatologie. Springer, Berlin 2001)
Sprunggelenken, die mit Rötung, Schwellung und Schmerzen einhergeht. Im Gelenkpunktat findet man eine deutliche Zellvermehrung, aber nur bei 30% Gonokokken. Wahrscheinlich tragen Immunkomplexe zu Pathogenese der Arthritis bei. Der mikroskopische oder kulturelle Erregernachweis und damit die Sicherung der Diagnose gelingt am zuverlässigsten aus dem Harnröhren- bzw. Zervixabstrich, häufig auch in den Hautläsionen und während der Bakteriämie in der Blutkultur. Die Behandlung erfolgt mit Ceftriaxon (1 g/Tag i.v. für 10 Tage). In therapieresistenten Fällen ist an eine Begleitinfektion mit Chlamydia trachomatis zu denken, die auf Clarithromycin anspricht. Nichtgonorrhoische septische Arthritiden Ätiologie und Pathogenese. Die Krankheitserreger sind bei 75% der Patienten grampositive Kokken (Staphylococcus aureus, Pneumokokken, β-hämolytische Streptokkoken der Gruppe A, Streptococcus viridans, Staphylococcus epidermidis), bei 20% gramnegative Bakterien (Pseudomonas aeruginosa, Hämophilus influenzae u.a.). Dispositionen zur septischen Arthritis sind: Kindesalter, alle Formen der Immunschwäche, Alkoholismus, Drogenmissbrauch (durch Einschleppung von Erregern), Vorschädigung der Gelenke durch Traumen oder chronische Arthri-
tis. Die Gelenkinfektion erfolgt hämatogen oder direkt (Arthroskopie, offene Traumen), begünstigt durch die starke Vaskularisierung der Synovialis. Das Fehlen einer Basalmembran erleichtert den Übertritt der Keime in die Gelenkhöhle. Infektionsquellen können eiternde Hautläsionen, Infektionen des Nasen-Rachen-Raumes, des Urogenitalsystems und des Darmtraktes sein. Der Entzündungsprozess im Gelenk wird durch Bakterientoxine ausgelöst und durch lokale Immunreaktionen verstärkt. Klinik. Die septische Arthritis tritt in der Regel als Monoarthritis auf und befällt hauptsächlich Knie- und Hüftgelenke, gelegentlich auch Schulter-, Ellbogen-, Hand- oder Fußgelenke, aber nur
785 9.1 · Entzündliche Erkrankungen der Gelenke und der periartikulären Gewebe
selten die Interphalangealgelenke. Das Krankheitsbild variiert mit dem Erreger. Die Monoarthritis durch grampositive Kokken beginnt akut mit Fieber, schlechtem Allgemeinbefinden und einer äußerst schmerzhaften, die Beweglichkeit einschränkenden Gelenkschwellung, während eine Gelenkinfektion mit gramnegativen Bakterien eher indolent verläuft und deshalb oft erst nach einigen Wochen diagnostiziert wird. Diagnostik. Laborbefunde: Das trübe bis eitrige Gelenkpunktat enthält über 100.000 Leukozyten pro mm3 (>90% Neutrophile). Der Erregernachweis im Ausstrich gelingt bei grampositiven Kokken in 75–
90%, bei gramnegativen Bakterien in 50% der Fälle. Die genaue Diagnose ergeben sich aus der aeroben und anaeroben Bakterienkultur. Gleichzeitig sind Blutkulturen anzusetzen. Röntgen: Radiologische Veränderungen wie Erosionen an den Gelenkflächen und juxtaartikuläre Osteoporose treten erst nach einigen Wochen auf. Ein osteomyelitischer Ausgangsherd ist dagegen gleich nachweisbar, evtl. nur mittels CT oder MRT. Therapie. Zur Verhinderung von Destruktionen ist unverzüglich mit einer parenteralen erregerspezifischen Antibiotikatherapie zu beginnen, die bei Streptokokkenarthritis 10–14 Tage, bei Staphylokokken- und gramnegativer Arthritis 3–6 Wochen dauert. Bei fortbestehender Gelenkschwellung sind nach 3 Tagen zusätzlich Entlastungspunktionen oder Drainagen und Spülungen erforderlich. In der akuten Entzündungsphase wird das Gelenk ruhig gestellt und zwecks Abschwellung gekühlt. Zur Schmerzstillung und Entzündungshemmung gibt man nichtsteroidale Antiphlogistika. Verlauf. Die Streptokokkenarthritis heilt gewöhnlich folgenlos ab, während sich an eitrige Arthritiden durch Staphylokokken oder gramnegative Bakterien über längere Zeit sterile Arthritiden anschließen können, die den Heilungsprozess verzögern. Bleibende Gelenkschäden treten vor allem bei verspätetem Einsatz der Antibiotika auf.
Chronische bakterielle Monoarthritiden Tuberkulöse Arthritis Selten gewordene Komplikation der Tuberkulose. Entsteht durch Reaktivierung eines ruhenden hämatogenen Gelenkherdes oder durch Übergreifen einer tuberkulösen Osteomyelitis. Die primäre Lungentuberkulose ist zu diesem Zeitpunkt gewöhnlich schon inaktiv. Von der tuberkulösen Monoarthritis werden am häufigsten die gewichttragenden Hüft- und Kniegelenke befallen, von einer Spondylitis ausgehend auch die kleinen Wirbelgelenke. In der Synovialis entwickelt sich ein spezifisches Granulationsgewebe mit Riesenzellen, das auf die periartikulären Strukturen und auf den gelenknahen Knochen übergreift. Klinik. Der Gelenkprozess beginnt schleichend mit langsam zunehmenden lokalen Schmerzen ohne Fieber und Allgemein-
symptome. Die Diagnose wird deshalb oft erst nach Wochen gestellt. Diagnostik. Die Röntgenbilder zeigen eine subchondrale Osteoporose und periartikuläre Knochendestruktionen mit reaktiver
Periostverdickung. Das Gelenkpunktat enthält 1000 bis >100.000 Leukozyten pro mm3, überwiegend Neutrophile. Säurefeste Stäbchen sind in den Ausstrichen selten, in der Kultur fast regelmäßig nachzuweisen. Sicherer Nachweis mittels PCR. Therapie. Sie erfolgt mit einer Kombination antituberkulöser Mittel.
Mykotische Arthritis Chronische indolent verlaufende Monoarthritiden granulomatösen Charakters kommen bei Kokzidioidomykose, Kryptokokkose und Sporotrichose vor. Sie befallen hauptsächlich Knie- und Hüftgelenke. In 50% der Fälle ist ein osteomyelitischer Ausgangsherd vorhanden. Akute Arthritiden werden im Disseminationsstadium der Blastomykose und der Candidiasis beobachtet. Diagnostik. Die Diagnose wird durch die Synovialisbiopsie und die kulturelle Untersuchung des Gelenkpunktats gestellt. Therapie. Drainage, Spülung, antifungale Mittel je nach Pathoge-
nese. Zusätzlich Instillation von Amphothericin B. Virale Arthritiden Arthralgien und Arthritiden sind ein Begleitsymptom zahlreicher Viruskrankheiten. Sie treten in der Regel im Prodromalstadium oder bei Krankheitsbeginn auf, setzen akut ein und heilen gewöhnlich nach wenigen Wochen ab. Bei chronischen Virusinfektionen kann es über längere Zeit zu wiederholten arthritischen Schüben kommen. Die Gelenkentzündung entsteht teils durch direkte Infektion des synovialen Gewebes, teils durch zirkulierende oder lokal gebildete Immunkomplexe, die sich im Gelenk niederschlagen und das Komplementsystem aktivieren. Hepatitis B Im Prodromalstadium sowohl der ikterischen als auch der anikterischen Hepatitis B erkranken 10–25% der Patienten an Arthralgien oder einer symmetrischen Arthritis, die vorwiegend die kleinen Gelenke der Hände und die Kniegelenke befällt. Die Gelenkmanifestationen gehen oft mit leichtem Fieber und einem urtikariellen oder makulopapulösen Hautausschlag einher. Sie bilden sich nach dem Ausbruch der Gelbsucht gewöhnlich schnell zurück und hinterlassen keine Destruktionen. Für die Arthritis sind komplementfixierende Komplexe aus HBsAg und antiHBsAg verantwortlich. Bei den chronischen aktiven Verlaufsformen der Hepatitis B können solche Immunkomplexe infolge persistierender viraler Antigenämie laufend weiter entstehen und über lange Zeit per-
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Kapitel 9 · Krankheiten des Bewegungsapparates
manente oder rezidivierende Arthralgien und Arthritiden verursachen. Röteln und Rubella-Vakzine Die Infektion mit dem Rötelnvirus oder den Vakzinestämmen führt oft zu rheumatischen Manifestationen. Anscheinend besitzt das Virus einen besonderen Tropismus zum Gelenkgewebe, denn es konnte aus Gelenkpunktaten isoliert werden. Etwa 30% der Frauen und 6% der Männer mit Röteln haben Gelenksymptome, die zwischen dem 1. Tag und dem 6. Tag nach dem Hautausschlag auftreten. Von Arthralgien und Arthritiden sind hauptsächlich die Finger-, Hand- und Kniegelenke betroffen, nicht selten auch die Sehnenscheiden an den Händen und im Karpaltunnel. Die gleichen Symptome treten bei 10–20% der vakzinierten Personen auf, gewöhnlich 2 Wochen nach der Impfung. Im Allgemeinen bestehen die rheumatischen Erscheinungen sowohl bei der natürlichen Infektion als auch nach der Vakzination nur für kurze Zeit. Arthralgien können aber länger als ein Jahr andauern.
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Ringelröteln (Erythema infectiosum) Das überwiegend im Kindesalter auftretende Krankheitsbild entsteht durch eine Infektion mit dem Parvovirus, das bei Erwachsenen statt des Hautausschlags oft eine akute periphere Polyarthritis mittleren Schweregrades hervorruft. Symptome und Lokalisation der Gelenkerscheinungen sind denen der rheumatoiden Arthritis ähnlich. Die Gelenkerscheinungen können auch längere Zeit persistieren. Der Rheumafaktor-Test bleibt jedoch negativ. Um die Diagnose nicht zu verfehlen, empfiehlt es sich, bei seronegativen Polyarthritiden das Serum auf Antikörper gegen Parvovirus zu untersuchen. Wegen des hohen Durchseuchungsgrades der meisten Bevölkerungen ist allerdings nur eine Vermehrung der IgM-Antikörper von diagnostischer Signifikanz. Alphavirusinfektionen Unter den 20 bekannten Serotypen des Alphavirus gibt es 5, die durch Insekten übertragen werden und Krankheiten mit rheumatischen Manifestationen hervorrufen: Chikungunya, O’nyongnyong, Mayaro, Ross River und Sindbis. Verbreitungsgebiete sind Ostafrika, Indien, Südostasien, die Philippinen, Australien Neuseeland und Südamerika. > In Europa und Nordamerika kommen Alphavirusinfektionen nicht vor.
Die Erkrankungen beginnen mit Fieber und Gelenkerscheinungen. Meistens tritt wenige Tage später ein morbilliformes Exanthem auf. Die Arthritis kann intensiv sein und befällt bevorzugt die kleinen Gelenke an Händen und Füßen, dazu Hand-, Ellbogen- und Sprunggelenke. Sie dauert oft nicht länger als eine Woche, zieht sich aber mitunter über Wochen und Monate hin. Gelenkdestruktionen entstehen nicht.
Weitere Virusinfektionen Flüchtige Arthralgien und Arthritiden leichteren Grades kommen als seltene Begleiterscheinung bei Hepatitis A, Mumps, Varizellen, und Herpes simplex vor, ferner bei Infektionen mit Coxsackievirus, Echovirus, Adenoviren und Epstein-Barr-Virus. 9.2
Degenerative Gelenk-, Wirbelsäulenund Weichteilerkrankungen Degenerative Gelenk-, Wirbelsäulen- und Weichteilerkrankungen Arthrose der Extremitätengelenke Arthropathien durch Calciumkristallablagerungen 5 CPPD-Kristallarthropathie (Pseudogicht) 5 BCP-Kristallarthropathie Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule Weichteilrheumatismus
9.2.1 Arthrose der Extremitätengelenke Definition. Die Arthrose ist eine chronische deformierende Ge-
lenkerkrankung, die von einer Degeneration des Knorpels ausgeht, auf Knochenenden und Kapsel übergreift und zur Detritussynovialitis führen kann. Synonyme. Arthrosis deformans, Polyarthrose (engl. osteoar-
throsis). Ätiologie und Pathogenese. Die oft zusammenwirkenden Kausalfaktoren der Arthrose sind Überbelastung und Schwäche des Gelenkknorpels. Ursachen der Überbelastung: Adipositas, berufliche oder sportliche Überbeanspruchung bestimmter Gelenke, Dauerbelastung durch schweres Heben und Tragen, Fehlstellung der Gelenke nach Traumen, Entzündungen oder entwicklungsbedingt (Genu varum/valgum), Fehlbelastungen nach Nervenlähmungen und Amputationen. Ursachen der Knorpelschwäche: Altersabnutzung, Läsionen durch Traumen oder vorausgegangene Arthritiden, subchondrale Knochenprozesse, Ablagerungen in der Knorpelmatrix (Hämochromatose, Morbus Wilson, Ochronose, Niederschläge von Calciumpyrophosphatdihydrat [CPPD]), Ruhigstellung der Gelenke. Genetisch bedingt sind die Fingerpolyarthrosen. In seltenen Fällen wurden mutationsbedingte Anomalien des Kollagen-II-Moleküls nachgewiesen. Bei der häufigen idiopathischen Arthrose steht eine Erklärung für den Knorpelschwund noch aus. Mechanismus und Morphologie der Knorpel- und Gelenkläsionen: Der hyaline Gelenkknorpel leistet der Druck- und
787 9.2 · Degenerative Gelenk-, Wirbelsäulen- und Weichteilerkrankungen
Scherbelastung der Gelenke elastischen Widerstand, verteilt den Druck über die Gelenkflächen und setzt deren Reibungswiderstand herab. Die Integrität des Knorpels wird von den Chondrozyten aufrechterhalten. Sie bilden die Knorpelmatrix, die hauptsächlich aus Kollagenfibrillen (Typen II, IX und XI) und einem stark wasserbindenden hochmolekularen anionischen Proteoglykan besteht. Es wird als Aggrekan bezeichnet, weil etwa 200 Moleküle davon mit einem Molekül Hyaluronsäure zu einem Komplex aggregieren. Der Wassergehalt des Knorpels beträgt 80%. Bei jeder Druckbelastung wird interstitielles Wasser ausgepresst und bei der Entlastung Synovialflüssigkeit angesaugt. Der Gelenkknorpel enthält weder Blut- und Lymphgefäße noch Nervenfasern. Er wird über die Synovialflüssigkeit ernährt. Der Stofftransport erfolgt teils durch Diffusion, teils durch den Pumpeffekt der alternierenden Kompression und Relaxation. Für die Nährstoffversorgung des Knorpels ist also eine physiologische Gelenkbelastung notwendig. Sie fördert zugleich die Durchblutung des synovialen Gewebes und damit die Sekretion von Gelenkflüssigkeit. > Dem Gelenkknorpel schadet nicht nur Überlastung, sondern auch Immobilisierung.
Im normalen Gelenkknorpel halten sich Neubildung und Abbau der Knorpelmatrix die Waage. Am Knorpelabbau sind diverse Metallproteinasen (Stromelysin, Kollagenase, Gelatinase) beteiligt. Sie werden von den Chondrozyten als Proenzyme sezerniert und erst extrazellulär durch Peptidabspaltung aktiviert. Limitiert wird ihre Aktivität durch spezifische Inhibitoren (TIMP) in der Knorpelmatrix, die gleichfalls von den Chondrozyten gebildet werden. Bei der Arthrose ist der Knorpelschwund teils durch Abrieb, teils durch gesteigerten proteolytischen Abbau der Matrix bedingt. Wahrscheinlich werden die Metalloproteinasen durch mechanische Stimuli und aus zerfallenden Chondrozyten vermehrt freigesetzt. Die Knorpelzerstörung löst eine Funktionssteigerung der intakt gebliebenen Chondrozyten aus. Sie proliferieren zu mehrzelligen Chondronen und steigern die Matrixproduktion. Der neu gebildete Knorpel ist jedoch von minderer Qualität und kann die Verluste nur vorübergehend kompensieren. Makroskopisch schreitet die Arthrose von umschriebenen Rauigkeiten über Einrisse und Usuren zu größeren Defekten fort, bis es schließlich zum vollständigen Knorpelverlust und damit zur Freilegung des subchondralen Knochens kommt. Als reparative Reaktion des Knochengewebes wachsen an der Knorpelknochengrenze Osteophyten aus. Ferner entwickelt sich eine subchondrale Sklerose der Spongiosa. Nicht selten kommt es zu Deckplatteneinbrüchen und danach unter dem Druck der Gelenkflüssigkeit zu zystischen Osteolysen (Geröllzysten). Vom Knorpel abgestoßener Detritus kann von den Deckzellen der Synovialis phagozytiert werden und in der Gelenkkapsel Entzündungen hervorrufen. Klinik. Arthrosen sind die häufigste Erkrankung der Extremitä-
tengelenke. Als Folge angeborener oder posttraumatischer De-
formitäten kommen sie schon bei Jugendlichen vor. Nach dem 40. Lebensjahr nimmt die Zahl der Betroffenen stetig zu. Im höheren Alter bleiben die wenigsten Menschen verschont. Erste Beschwerden sind ein Gefühl der Steifigkeit in den Gelenken, Muskelschmerzen im Ansatzbereich der Sehnen und »Anlaufschmerzen« früh nach dem Aufstehen und nach längerem Sitzen. Später treten nach längerem Gehen und Arbeiten Ermüdungsschmerzen auf, durch die es bei Befall der Hüft- oder Kniegelenke zum Schmerzhinken kommt. > Typisch ist der belastungs- und bewegungsabhängige Schmerzcharakter.
Dauer,- Ruhe- oder Nachtschmerz weisen auf eine sekundäre Entzündung der Gelenkkapsel hin. Das gilt auch für Gelenkergüsse. Langsam fortschreitend führt der arthrotische Prozess zur Deformierung und Fehlstellung der Gelenke mit Einschränkung der Beweglichkeit bis hin zur weitgehenden Versteifung. > Die Schmerzhaftigkeit der degenerativen Gelenkveränderungen variiert erheblich. Sie kann bei wenig ausgeprägten Läsionen hochgradig sein und bei schwer deformierten Gelenken gering.
Die Schmerzen entstehen durch Reizung der Nozizeptoren (Schmerzrezeptoren) der Gelenkkapsel, des Periosts oder der periartikulären Strukturen. Sie gehen nicht vom lädierten Knorpel aus, da dieser keine Innervation aufweist. Die Nozizeptoren sind freie Nervenenden, die bei ihrer Stimulation nicht nur afferente Schmerzimpulse aussenden, sondern auch entzündungsfördernde Polypeptide freisetzen, darunter die Substanz P. Dieses Peptid aus 11 Aminosäuren ist ein potenter Vasodilatator, degranuliert Mastzellen, wirkt chemotaktisch auf Leukozyten und stimuliert die Bildung und Freisetzung von Entzündungsmediatoren. Die lokale Entzündung steigert wiederum die Reizung der Nozizeptoren. Diese Zusammenhänge erklären den guten analgetischen Effekt, den Antiphlogistika auch bei primär nicht entzündlichen Läsionen haben. Diagnostik. Körperliche Untersuchung Die Inspektion ergibt anfangs nichts Auffälliges. Später erkennt
man Deformierungen, Kapselauftreibungen und Fehlstellungen der Gelenke, auch Atrophien der zugeordneten Muskeln. Das typische Symptom bei der manuellen Untersuchung ist die Krepitation, die man mit der aufgelegten Hand bei passiver Bewegung des Gelenkes spürt. Über dem Gelenk, in der Muskulatur und an denen Sehnenansätzen können druckschmerzhafte Zonen zu tasten sein. Die aktive und passive Beweglichkeit ist in fortgeschrittenen Stadien eingeschränkt. Mitunter führt die Insuffizienz des Kapsel-Band-Apparates zur Instabilität und abnormen Beweglichkeit des betroffenen Gelenkes. Es können auch freie Gelenkkörper auftreten, die durch Einklemmung starke Schmerzen verursachen.
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Kapitel 9 · Krankheiten des Bewegungsapparates
Bildgebende Verfahren Sonographie: Kommt an allen großen Gelenken zum Einsatz,
wobei stets mehrere Ebenen anzuloten sind. Erfasst werden vor allem Gelenkergüsse, Zysten, Synovitiden und Bursitiden, auch Usuren. Röntgenbefunde: Früheste Arthrosezeichen sind meistens die an der Knorpel-Knochen-Grenze entstehenden Osteophyten, die man auch Randwülste nennt. In der Druckaufnahmezone kommt es zu einer dem Knorpelschwund entsprechenden Gelenkspaltverschmälerung. Gleichzeitig entwickelt sich hier beiderseits des Gelenkspaltes eine Spongiosaverdichtung, oft mit angrenzenden Geröllzysten. Im fortgeschrittenen Stadium werden die artikulierenden Knochen durch Umbauvorgänge entrundet, begradigt, verplumpt und verbreitert. Schließlich können die Menisken und Disken verkalken. In der Kapsel treten manchmal knorpelige oder knöcherne Metaplasien auf. Computertomographie und MRT: Sie kommt häufig zur Anwen-
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dung, weil sie generell Weichteilveränderungen erfasst, wie Läsionen an Menisken, Kapseln, Sehnen und Bändern. Auch Knorpelläsionen werden deutlich abgebildet. Szintigraphie mit 99mTechnetium: Sie ermöglicht die Erkennung
von Frühveränderungen der Arthrose, wird aber in der Praxis kaum angewendet. Arthroskopie
Invasives Verfahren zum Nachweis von knorpeligen und knöchernen Läsionen, freien Gelenkkörpern, Bridenbildung sowie Veränderungen an Menisken, Bändern und Sehnen. Zugleich können intraartikuläre operative Eingriffe vorgenommen werden. Laborbefunde
Blutsenkung, Blutbild und die üblichen Serumanalysen sind normal. Die Synovialflüssigkeit enthält L4/L5 > L3/L4). Wenn gleichzeitig eine Lumbalgie besteht, spricht man vom Lumboischialgie. Die Schmer-
Klinik. Spondylosen und Spondylarthrosen auf dem Boden einer Bandscheibendegeneration sind häufiger anzutreffen als die Arthrosen der Extremitätengelenke. Im Alter von 50 Jahren werden sie bei 50% der Menschen gefunden, nach dem 65. Lebensjahr fast bei jedem. Aus Statistiken der AOK geht hervor, dass annähernd 17% der Arbeitsunfähigkeitstage und 50% aller Fälle von Frühinvalidität auf Wirbelsäulenerkrankungen zurückzuführen sind. Die degenerativen Veränderungen an der Wirbelsäule gehen allerdings keineswegs immer mit Beschwerden einher. Oft sind sie nur im Röntgenbild zu erfassen. Die Hauptmanifestationen treten im Bereich der Lendenund der Halswirbelsäule auf. Dabei ist zwischen vertebralen und radikulären bzw. medullären Symptomen zu unterscheiden. Die vertebralen Syndrome entstehen bei Gefügelockerung in den Bewegungssegmenten durch Irritation der Schmerzrezeptoren (Nozizeptoren) im Bandapparat und in den Kapseln der Intervertebralgelenke sowie durch schmerzhafte reflektorische Kontrakturen der Rückenmuskeln. Die radikulären und medullären Syndrome werden durch Läsionen der Nervenwurzeln bzw. des Rückenmarks hervorgerufen. Sie sind im lumbalen Bereich gewöhnlich durch die Protrusio oder den Prolaps einer Bandscheibe bedingt, im zervikalen Bereich häufiger durch eine hochgradige spondylotische Einengung der Formamina intervertebralia. Die Ursache für Kompressionen des Halsmarks ist stets ein Diskusprolaps. Ein Thorakalsyndrom durch Bandscheibendegeneration kommt selten vor, weil der Rippenverbund die Brustwirbelsäule gegen Gefügelockerungen und Wirbelkörperverschiebungen stabilisiert.
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Lumbalgie
Vertebrales Syndrom im lumbosakralen Bereich mit akutem oder chronischem Kreuzschmerz ohne Nervenwurzelsymptomatik. Für den plötzlich einschließenden Schmerz ist der Ausdruck Hexenschuss (Lumbago) gebräuchlich. Dieser entsteht
c
. Abb. 9.16a–c. Bandscheibenvorfall. a MRT eines großen mediolateralen Vorfalls L5/S1 links, b schematische Darstellung eines medianen Vorfalls mit Kompression der Cauda equina, c lateraler intraforaminaler Vorfall mit Kompression der austretenden Nervenwurzel (aus Zeidler et al.: Interdisziplinäre klinische Rheumatologie. Springer, Berlin 2001)
795 9.2 · Degenerative Gelenk-, Wirbelsäulen- und Weichteilerkrankungen
zen setzen akut ein, meistens nach einer brüsken Bewegung oder einem Trauma. Sie sind im Dermatom der betreffenden Wurzel lokalisiert. Das radikuläre Syndrom kann durch Parästhesien, Sensibilitätsstörungen (Hypästhesie oder Hyperästhesie), Reflexausfälle und motorische Ausfälle einzelner Muskeln komplettiert werden. Reflexabschwächungen oder -ausfälle weisen auf Läsionen folgender Wurzeln hin: 4 Achillessehnenreflex: S1 4 Tibialis-posterior-Reflex: L5 4 Patellarsehnenreflex: L4 oder L3 Zu den Wurzelsymptomen gehören ferner: 4 das Lasègue-Phänomen: scharfer Schmerz an der Hinterseite des Oberschenkels bei Anheben des gestreckten Beines 4 das Bragard-Zeichen: gleicher Schmerz, bei Dorsalflexion des Fußes am gestreckt angehobenen Bein 4 die Valleix Druckpunkte: Schmerz bei Druck auf den Ischiadikusverlauf an der Hinterseite des Oberschenkels
gung der Foramina intervertebralia durch eine Unkovertebralarthrose oder eine zervikale Spondylarthrose. Bevorzugt betrof-
fen ist die untere HWS (zervikobrachiales Syndrom) mit den Wurzeln C5–C8. Symptome: Schmerzhafte Bewegungseinschränkung und ziehende Schmerzen, die vom Nacken in eine Schulter bis zum Oberarm, manchmal zum Ellbogengelenk, in den Unterarm und die Hand ausstrahlen. Die Schmerzlokalisation deckt sich mit den Dermatomen weniger genau als bei den lumbalen Wurzelreizungen. Bei kompletter isolierter Wurzelläsion beobachtet man Sensibilitätsausfälle und Atrophien einzelner Muskeln: Brachialgie, Hypästhesie und Daumenballenatrophie bei Läsion der 7. Wurzel, Atrophie im Kleinfingerballen bei C8-Syndrom. Medulläre Symptome: Der sehr seltene akute dorsomediane
Die Ischalgie kann zu einer Entlastungs- oder Schonskoliose der LWS mit der Konvexität zu schmerzfreien Seite führen.
Bandscheibenprolaps führt durch Kompression der A. spinalis anterior zum plötzlichen Querschnittssyndrom, meistens ohne prodromale Organ- oder Wurzelschmerzen. Bei allmählich fortschreitender medianer oder paramedianer Protrusio kommt es zu einer chronischen zervikalen Myelopathie mit Parästhesien und Pyramidenbahnstörungen (Para- oder Hemispastik).
Kauda-Syndrom
Vegetative und vaskuläre Symptome: Von den Processus unci-
Kompression der Cauda equina durch einen dorsomedialen Bandscheibenprolaps. Symptome: Unter heftigen Schmerzen einsetzende schlaffe Lähmung der Beine mit Areflexie, Reithosenanästhesie, Blasen- und Mastdarminkontinenz.
nati oder den Wirbelgelenken ausgehende Knochensporne können zu Irritationen des Halssympathikus führen und dadurch zu vasomotorischen Störungen im Ausbreitungsgebiet der A. vertebralis (Ohrensausen, Schwindel, Nystagmus, Übelkeit, Sehstörungen, zervikale Migräne). Manchmal wird die A. vertebralis an umschriebener Stelle komprimiert. In diesen Fällen kommen transitorische zerebrale Ischämien vor. Durch die Reizung der afferenten Nervenfasern im Sympathikusgeflecht entstehen bohrende, dumpfe Schmerzen viszeralen Charakters im Kopf-Schulter-Arm-Bereich (zervikozephales Syndrom).
Zervikale Syndrome
Ebenso wie im lumbalen sind im zervikalen Bereich vertebrale und radikuläre bzw. medulläre Syndrome zu unterscheiden. Hinzu kommen als Besonderheit vegetative Syndrome mit vaskulären Störungen. Ihre Ursache ist eine Reizung der Sympathikusäste, die aus dem Ganglion stellatum mit der A. vertebralis durch die Foramina der Seitenfortsätze des 1. bis 6. Halswirbels kopfwärts ziehen. Sie führen efferente postgangionäre Symathikusfasern, aber auch afferente schmerzleitende Fasern aus der Halsregion. Ein zervikales Schmerzsyndrom weist oft mehr als eine der pathogenen Komponenten auf. Vertebrale Symptome: Bei Gefügelockerungen der HWS können Reizungen der Nozizeptoren im Bandapparat und in den Kapseln der Wirbelgelenke Schmerzen und reflektorische Muskelverspannungen hervorrufen. Das Analogon zum Hexenschuss ist der akute Tortikollis, eine hochschmerzhafte Nackensteife mit reflektorischer Schiefhaltung des Kopfes. Auslösend sind Traumen oder abrupte Bewegungen. Die Schmerzausstrahlung erfolgt anders als bei den Wurzelreizungen nicht in bestimmte Dermatome. Radikuläre Symptome: Irritationen der Spinalnervenwurzeln
kommen an der HWS nur selten durch einen dorsolateralen Bandscheibenvorfall zustande. Häufigste Ursache ist die Einen-
Diagnostik. Körperliche Untersuchung: Zu achten ist auf Fehlhaltungen und
segmentale Fehlstellungen der Wirbelsäule sowie auf Einschränkungen der aktiven und passiven Beweglichkeit der einzelnen Wirbelsäulenabschnitte. Durch Palpation sind Druckempfindlichkeit der Dornfortsätze und Querfortsätze, sowie Tonus, Druckschmerz und Kontrakturen der paravertebralen Muskulatur zu erfassen. Bei Wurzelreizungen ist nach neurologischen Ausfallerscheinungen zu suchen (Sensibilität, Motorik, Reflexe). Röntgenuntersuchung: Standardaufnahmen a.p. und seitlich (. Abb. 9.17) lassen Höhenminderungen der Zwischenwirbelräu-
me, Osteochondrosen, spondylotische Randzacken, Arthrosen der Intervertebralgelenke und Wirbelverschiebungen erkennen. Isolierte Streckstellung eines Segmentes und dorsales Klaffen des Zwischenwirbelraumes zeigen eine Ruhigstellung oder Blockierung dieses Segmentes an. Sie kommen ebenso wie die abnorme Streckstellung mehrerer Wirbel oberhalb eines gelockerten Segmentes durch reflektorischen Muskelzug zustande. Einengungen
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Kapitel 9 · Krankheiten des Bewegungsapparates
der Foramina intervertebralia stellen sich an der HWS und LWS auf Schrägaufnahmen dar. Ein Bandscheibenvorfall ist auf dem einfachen Röntgenbild nicht sichtbar. Oft ist die Höhenminderung des Zwischenwirbelraumes nur geringfügig. In hochgradig zermürbten Bandscheiben fehlt dem geschrumpften Nucleus pulposus die Sprengkraft für einen Prolaps. Computertomographie: Das CT-Verfahren erlaubt die sichere
Erkennung und Lokalisation der Protrusio und des Prolapses der Bandscheiben in allen Wirbelsäulenabschnitten, insbesondere Kompressionen des gut abgebildeten Rückenmarks. Erfasst werden auch Veränderungen der Intervertebralgelenke und der Knochenstruktur der Wirbelkörper. Magnetresonanztomographie: Die MRT leistet bei der Darstel-
lung von Bandscheibenprotrusio und -prolaps das Gleiche wie die CT, bildet aber die Bandscheibenstruktur deutlicher ab und erfasst deren degenerative Veränderungen direkt. Sie hat vor allem den Vorteil, dass eine Strahlenbelastung entfällt. Myelographie: Zur Darstellung des Wirbelkanals wird wasserlösliches, nichtionisiertes Röntgenkontrastmittel in den Subarachnoidalraum injiziert und der Abfluss mit Röntgenaufnahmen oder einem CT verfolgt. Indikation: Diagnostisch unzureichende MRT-Aufnahmen bei zervikaler Spondylose und Diskushernie.
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Therapie. Vertebraler Syndrome Bei akuten Schmerzen lokale Wärmeapplikation zur Muskelent-
. Abb. 9.17. Osteochondrose L3/4 mit Randzacken an den vorderen Wirbelkörperkanten (aus Zeidler et al.: Interdisziplinäre klinische Rheumatologie. Springer, Berlin 2001)
spannung, Analgetika wie Paracetamol und Tramadol, zusätzlich nichtsteroidale Antirheumatika, die abschwellend und über eine Entzündungshemmung im Bereich der stimulierten Nozizeptoren indirekt analgetisch wirken (7 Kap. 9.2.1). Wenn nötig paravertebrale Infiltration der Schmerzquellen mit 1%igem Scandicain. Bei Wirbelblockierungen kann die Manualtherapie oft schnelle Hilfe bringen. Gegen chronische Schmerzen sind vorwiegend physiotherapeutische und physikalische Maßnahmen angezeigt. Wichtig ist die Kräftigung der Bauch- und Rückenmuskulatur (»Muskelkorsett«). Straffe Leibbinden tragen zur Stabilisierung der LWS bei. Stützkorsetts schwächen längerfristig die Muskulatur. Bei zervikalen Syndromen ist eine Extensionsbehandlung am Schlingentisch oder mit der Glisson-Schlinge indiziert. Für das notwendige Haltungs- und Verhaltenstraining gibt es die Rückenschule. Bei hartnäckigen, unerträglichen, invalidisierenden Beschwerden kommt eine Spondylodese in Betracht. Für die operative Verblockung instabiler Bewegungssegmente sind 3 Verfahren gebräuchlich. Die Wirbel können dorsal mit Spongiosaspänen zwischen Dornfortsätzen und Bögen verspannt werden oder ventral mit massiven kortikospongiösen Spänen (aus dem Darmbein) zwischen den angefrischten Wirbelkörpern. Bei der dritten, technisch schwierigsten Methode verbindet man die Wirbel nach dem Prinzip der Osteosynthese mit Platten oder
797 9.2 · Degenerative Gelenk-, Wirbelsäulen- und Weichteilerkrankungen
Stangen. Zu deren Verankerung dienen durch die Bogenwurzeln in die Wirbelkörper getriebene Schrauben. Radikulärer und medullärer Syndrome Bei akuter Ischialgie ist die entspannte Lagerung mit gebeugten Knie- und Hüftgelenken (Stufenbett) oft schmerzlindernd. Bettruhe kann für eine bis mehrere Wochen notwendig sein. Die medikamentöse Schmerzstillung erfolgt wie bei vertebralen Syndromen (7 oben). Mit Extensionstechniken bringt die krankengymnastische Behandlung meistens rasche Besserung. Die Ma-
nualtherapie ist beim Bandenscheibenvorfall von fraglichem Nutzen und vor allem im HWS-Bereich nicht ungefährlich. In der Mehrzahl der Fälle bilden sich die Wurzelsymptome durch narbige Schrumpfung des prolabierten Gewebes allmählich zurück. Das Verschwinden von Diskushernien kann im CT nachgewiesen werden. ! Eine absolute Indikation zur sofortigen Bandscheibenoperation besteht beim medullären und beim Kaudasyndrom.
Verzögerungen verschlechtern die Aussicht auf eine Rückbildung der Symptome. Indiziert ist die Operation auch beim Auftreten von Paresen, bei Erfolglosigkeit der konservativen Therapie und bei häufigen Rezidiven. Nach Entfernung eines prolabierten Nucleus pulposus hören die ausstrahlenden Schmerzen auf. Durch die Ausräumung des Bandscheibengewebes wird das Bewegungssegment instabil, die benachbarten Wirbelkörper rücken zusammen. In der Regel kommt es aber mit der Zeit zur bindegewebigen Ankylose. Bis dahin können Kreuzschmerzen weiter bestehen. Bei der offenen Bandscheibenoperation wird der Intervertebralraum von dorsal unter Resektion des Lig. flavum, und wenn erforderlich unter Erweiterung des knöchernen Zugangs (Hemilaminektomie), eröffnet. Danach werden das prolabierte Gewebe, die gelockerten Teile der Bandscheibe und falls vorhanden auch komprimierende Osteophyten abgetragen. Ein alternatives Verfahren ist die perkutane Diskektomie mit einem Endoskop, das in den Zwischenwirbelraum eingeführt wird und die Entfernung des Nucleus pulposus mittels Stanzen und Absaugung ermöglicht. Die Indikation für diese Methode ist hauptsächlich die Protrusio mit Kompression einer Nervenwurzel, weniger der Prolaps des Nucleus pulposus. Bei Protrusio einer Bandscheibe mit intaktem Annulus fibrosus wird auch die Chemonukleolyse angewandt. Dabei verflüssigt man den Nukleus pulposus durch eine Chymopapain-Injektion in die betreffende Bandscheibe. Die Methode ist gefährlich (Rückenmarkschädigung durch Ausfließen des Wirkstoffs in den Wirbelkanal) und hat sich deshalb nicht durchgesetzt. 9.2.4 Weichteilrheumatismus Definition. Krankheitszustand mit anhaltenden generalisierten
Schmerzen an multiplen Stellen von Muskeln, Sehnen, Bändern
oder Gelenken ohne pathologisch-anatomische Strukturveränderungen, meistens begleitet von Schlafstörungen, Wetterfühligkeit, Kopfschmerzen, diffusem Taubheitsgefühl und ängstlicher Verstimmung. Synonyme. Primäre Fibromyalgie, Fibrositis-Syndrom, chronisches Schmerzsyndrom. Ätiologie und Pathogenese. Die Ursache der primären Fibro-
myalgie ist unbekannt. Sekundäre Formen mit ähnlichem Beschwerdebild kommen bei Arthrosen, Osteochondrosen der Wirbelsäule, entzündlichen rheumatischen Erkrankungen und nach Traumen vor. Da man bei der primären Fibromyalgie keine eindeutigen schmerzauslösenden Gewebeläsionen gefunden hat, wird eine zentralnervöse Genese erwogen. Man stützt sich dabei auf die Beobachtung, dass es bei Gesunden durch die Unterdrückung der Stadien 3 und 4 des Non-REM-Schlafes mit einem Summer gelingt, ein der Fibromyalgie entsprechendes Schmerzsyndrom hervorzurufen. Nach diesem Experiment, das den Einfluss der neuronalen Schlafzentren auf die schmerzhemmenden Neuronen des Mittelhirns belegt, ist ein Kausalzusammenhang zwischen der Fibromyalgie und der mit ihr assoziierten Störung des Tiefschlafes nicht unwahrscheinlich. Ein weiteres Indiz dafür, dass Schlafstörungen und die sie verursachenden Stressformen aller Art maßgeblich zur Entstehung der Fibromyalgie beitragen könnten, ist der schmerzstillende Effekt, den Medikamente wie Chlorpromazin haben, die den Non-REM-Schlaf in den Stadien 3 und 4 vertiefen. Kritisch anzumerken bleibt allerdings, dass Schmerzen ihrerseits Schlafstörungen bewirken und dass ein Schlafmittel in diesem Fall durch Unterbrechung eines Circulus vitiosus ebenfalls schmerzlindernde Wirkung haben könnte. Klinik. Oft werden die Versteifungen nur morgens, manchmal
während des ganzen Tages empfunden. Die Symptome verstärken sich bei Angst, psychischem Stress, feucht-kaltem Wetter und Überanstrengung. Diagnostik. > Diagnostisches Kriterium: Schmerzen oder schmerzhafte Verspannungen bestehen an mindestens 3 Körperstellen über mindestens 3 Monate.
Bei der körperlichen Untersuchung findet man in der Regel mehr als 5 schmerzhafte Druckpunkte, hauptsächlich im Nacken, medial der Schulterblätter, am Sternalrand und über den Gelenken, die stets frei beweglich sind. In jedem Fall sind traumatische Schäden, rheumatische Strukturläsionen, infektiöse Arthritiden, Wirbelsäulenerkrankungen und Neuritiden auszuschließen. Die Laborbefunde sollten normal sein. Therapie. Analgetika und nichtsteroidale Antiphlogistika helfen meistens nur vorübergehend, in der Kombination mit Tranquilizern oft nachhaltiger. Trizyklische Antidepressiva haben über
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798
Kapitel 9 · Krankheiten des Bewegungsapparates
eine Verbesserung des Nachtschlafes in vielen Fällen einen ausgezeichneten Effekt. Dringend zu empfehlen ist ein regelmäßiges aerobes körperliches Training. Es hat sich besonders in Verbindung mit einer auf Entspannung und Stressbewältigung ausgerichteten Verhaltenstherapie bewährt. 9.3
Krankheiten der Knochen und der Nebenschilddrüsen
9.3.1 Funktion und Entwicklung
des Skelettsystems Funktionen des knöchernen Skeletts Mechanische Stützfunktion: Bildet das tragende Grundgerüst des Körpers und ist an seinen Bewegungen beteiligt. Metabolische Funktion: Mineralspeicher für Calcium- und
Phosphationen, der mit dem Extrazellularraum im Gleichgewicht steht. Reservoir auch für Magnesium-, Natrium- und andere Ionen.
Physiologische Grundlagen
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Funktion und Entwicklung des Skelettsystems 5 Funktionen des knöchernen Skeletts 5 Skelettentwicklung 5 Wachstum und Anpassung 5 Bildung und Struktur des Knochengewebes 5 Abbau und Remodellierungszyklus des Knochens Calcium- und Phosphatstoffwechsel – Wirkstoffe – Parathormon – Vitamin D – Calcitonin 5 Gesamtregulation der extrazellulären Ca++-Konzentration Krankheiten der Knochen und der Nebenschilddrüsen Primärer Hyperparathyreoidismus Sekundärer Hyperparathyreoidismus 5 Renale Osteodystrophie 5 Osteomalazie und Rachitis 5 Pseudohypoparathyreoidismus Hypoparathyreoidismus Osteoporose Osteomalazie Osteopetrosis Morbus Paget Hereditäre Skelett- und Bindegewebeerkrankungen 5 Osteogenesis imperfecta 5 Ehlers-Danlos-Syndrom 5 Chondrodystrophie – Achondroplasie – Diastrophischer Zwergwuchs – Hypochondroplasie – Spondyloepiphysäre Dysplasie 5 Marfan-Syndrom Entzündliche Knochenkrankheiten 5 Osteomyelitis 5 Knochentuberkulose
Blutbildung: Beherbergt in der Markhöhle der Knochen das blut-
bildende Gewebe. Skelettentwicklung Chondrale Ossifikation Knöcherner Ersatz der knorpelig vorgebildeten Knochen durch: 4 Perichondrale Ossifikation: Das Perichondrium bildet um die Diaphyse eine Knochenmanschette, die den Knorpelstab versteift. 4 Enchondrale Ossifikation: Beginnend in der Diaphysenmitte wird der Knorpel von innen abgebaut und durch spongiöses Knochengewebe ersetzt. Später entsteht ein Knochenkern in der Epiphyse, der den Knorpel in zwei Abschnitte zerlegt, den Gelenkknorpel und die Epiphysenfuge, die bis zum Abschluss des Längenwachstums erhalten bleibt. Desmale Ossifikation Knochenbildung im Bindegewebe ohne knorpelige Präformierung, bei der aus pluripotenten Mesenchymzellen Osteoblasten hervorgehen. Nach diesem Mechanismus gebildete Deckknochen sind das Schädeldach, der Gesichtsschädel und die Klavikula. Das spätere Dickenwachstum der Röhrenknochen (periostale Ossifikation) erfolgt ebenfalls ohne vorausgehende Knorpelbildung. Wachstum und Anpassung Das Längenwachstum der Röhrenknochen vollzieht sich durch enchondrale und perichondrale Ossifikation. Schrittmacher ist der Knorpel der Epiphysenfuge, dessen Proliferation zum Säulenknorpel der Verknöcherung vorausgeht und vom Wachstumshormon und verschiedenen Zytokinen (IGF I und II, TGF-β) gesteuert wird. Mit dem Schluss der Epiphysenfugen, der unter dem Einfluss der Keimdrüsenhormone erfolgt, hört das Längenwachstum auf. > Anbau und Abbau von Knochengewebe und der damit verbundene Umbau gehen aber zeitlebens weiter. Mechanische Belastung steigert eine funktionsgerechte Knochenneubildung, körperliche Inaktivität begünstigt den Knochenabbau.
799 9.3 · Krankheiten der Knochen und der Nebenschilddrüsen
Bildung und Struktur des Knochengewebes Die Knochenbildung obliegt den von mesenchymalen Stromazellen abstammenden Osteoblasten. Sie synthetisieren und sezernieren die zu 95% aus Typ-I-Kollagen bestehende organische Matrix, auch Osteoid genannt, die außerdem verschiedene Proteine, darunter Osteocalcin, Osteopontin und Osteonectin enthält. Letztere scheinen als Chelatbildner an der Mineralisation der Matrix beteiligt zu sein. Ein weiteres Sekretionsprodukt der Osteoblasten ist die Skelettform der alkalischen Phosphatase, die auch ins Blutplasma übertritt und dort bei gesteigerter Osteoblastenaktivität ansteigt. Ihre Funktion im Knochengewebe besteht vermutlich darin, das die Mineralisation hemmende anorganische Pyrophosphat zu spalten. Die Mineralphase setzt sich aus Calcium und Phosphat zusammen. Initial wird amorphes Calciumphosphat (CaHPO4 • 2 H2O) abgelagert, das im Verlauf der Mineralisation in Kristalle übergeht, die sich weitgehend dem Hydroxidapatit [Ca10(PO4)6(OH)2] annähern. Das Calcium an der Oberfläche der Kristalle steht mit dem Calcium des Extrazellularraumes im Gleichgewicht. Austauschbar sind allerdings nur 0,5% des gesamten knöchernen Calciumpools. Im Kristallgitter des Hydroxidapatits befinden sich auch Carbonationen (6%), Nitrationen (1%), Natriumionen (0,7%), Magnesiumionen (0,7%) und Spuren von Fluorionen. Die Matrix ist so strukturiert, dass ihre Mineralisation bei normalem Ionenmilieu der extrazellulären Flüssigkeit spontan erfolgt, bei subnormalen Konzentrationen von Calcium- und Phosphationen jedoch gestört ist. Die meisten Knochen haben eine lamellenförmige Struktur. In den Knochenlamellen, deren Dicke 3–7 μm beträgt, verlaufen die Kollagenfasern annähernd parallel, ändern aber von Lamelle zu Lamelle ihre Richtung. An den Lamellengrenzen liegen in kleinen Lakunen die aus den eingeschlossenen Osteoblasten hervorgegangenen Osteozyten. Sie bleiben mit ihren zahlreichen dünnen Fortsätzen untereinander verbunden und durch feine Canaliculi an die Blutversorgung angeschlossen. Die Diaphyse der Röhrenknochen weist als besondere Strukturelemente 0,5–1 cm lange Osteone auf. Diese bestehen aus 4–20 Speziallamellen, die um einen gefäßführenden Canalis centralis (Havers-Kanal) konzentrisch angeordnet sind. Abgegrenzt wird jedes Osteon von seiner Umgebung durch eine kollagenfaserarme Zementlinie. Zwischenräume werden durch Schaltlamellen ausgefüllt, äußere und innere Oberflächen von mehrschichtigen Generallamellen eingenommen. Der beim Erwachsenen nur an wenigen Stellen vorkommende, besonders zug- und biegungsfeste Geflechtknochen (Felsenbein, Zahnalveolen, in der Umgebung der Schädelnähte) besitzt grobe und feine Faserbündel, die ohne besondere Orientierung verlaufen. Er entsteht regelmäßig bei der Knochenbruchheilung. Abbau und Remodellierungszyklus des Knochens Für den Abbau der Knochensubstanz sind die Osteoklasten zuständig, mehrkernige Phagozyten, deren im Blut zirkulierende Vorstufen zu den hämatopoetischen Stammzellen der monozytä-
ren Reihe gehören. Die Osteoklasten lagern sich mit ihrem Bürstensaum der Knochenoberfläche an. Mit einer Protonenpumpe und einer Carboanhydrase produzieren sie zunächst ein saures Milieu, das die Mineralphase auflöst. Danach bauen sie mit sauren Hydrolasen die Grundsubstanz ab. Wenn die Resorptionslakunen eine Tiefe von 60–70 μm erreicht haben, sistiert die Aktivität der Osteoklasten. Sie gehen durch Apoptose zugrunde und machen Platz für Osteoblasten. Diese besiedeln die Lakunen und sorgen für den Aufbau der Knochensubstanz. > Den gekoppelten Wechsel von Resorption und Neubildung bezeichnet man als Remodellierungszyklus. Durch ihn nimmt das Skelett in der Wachstumsperiode seine funktionsgerechte Form an. Der Remodellierungsprozess geht aber mit unterschiedlicher Aktivität lebenslang weiter.
Pro Jahr werden rund 18% vom gesamten Calciumbestand des Skeletts resorbiert und wieder deponiert. Ständig sind etwa 4– 10% der Knochenoberflächen im Umbau begriffen. Vom Beginn der Resorptionsphase bis zur vollständigen Mineralisierung des neu gebildeten Knochens dauert ein Remodellierungszyklus annähernd 8 Monate. Da der weitaus längere Zeitabschnitt auf die Knochenbildung entfällt, ist stets ein Teil des resorbierten Knochens noch nicht ersetzt. Dieses Defizit nennt man die Remodellierungslücke (remodeling space). Es wird im Alter größer, weil mehr Remodellierungszyklen in Gang gesetzt werden, und führt zur Altersatrophie des Knochens. Die Schlüsselposition beim Knochenumbau nehmen die Osteoblasten ein. Sie sind mit Rezeptoren für Parathormon (PTH) und 1,25(OH)2D (Dihydroxycalciferol) ausgestattet, während Osteoklasten nur Rezeptoren für Calcitonin besitzen. Erster Schritt beim Knochenabbau ist die Einwirkung von Parathormon auf die Osteoblasten. Daraufhin sezernieren diese einen Faktor, den sog. RANK-Liganden, der auf der Oberfläche der Osteoklasten mit einem Rezeptor, dem sog. RANK (receptor for activating Nuclear factor κB) reagiert. Auf diese Weise werden die Osteoklasten zur Proliferation gebracht und zur Osteolyse aktiviert. Die Osteoblasten produzieren auch den Faktor Osteoprotegerin (OPG), der den sezernierten RANK-Liganden bindet und inaktiviert. Damit können die Osteoblasten hemmend auf die Osteoklasten einwirken. Wie das Auf und Ab des Remodellierungszyklus genau reguliert wird, bedarf noch der Klärung. 9.3.2 Calcium- und Phosphatstoffwechsel Wirkstoffe Parathormon (PTH) Das Hormon der Nebenschilddrüsen ist ein einkettiges Polypeptid aus 84 Aminosäuren, dessen biologische Wirkungen an die aminoterminalen Aminosäuren 1–34 gebunden sind. Es wird sowohl von den Hauptzellen als auch von den oxyphilen Zellen des Drüsenepithels gebildet. Seine Funktion ist die Regulation
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800
Kapitel 9 · Krankheiten des Bewegungsapparates
der Calciumionenkonzentration in der extrazellulären Flüssigkeit. Dazu hat es folgende Angriffspunkte: Knochen: Durch Stimulation der Osteoklasten (7 oben) be-
wirkt PTH eine gesteigerte Freisetzung von Calciumsalzen aus der Knochensubstanz. Nieren:
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4 PTH steigert die Calciumrückresorption im aufsteigenden Teil der Henle-Schleife und im distalen Tubulus. Da große Mengen an Calcium (7–10 g/Tag ultrafiltriert werden, von denen 10% in den distalen Tubulus gelangen, kann schon eine geringe prozentuale Steigerung der Rückresorption erhebliche Defizite in der Calciumbilanz ausgleichen. 4 PTH hemmt die Rückresorption von Phosphat im proximalen Tubulus. Dadurch fördert es die Ausscheidung des bei der Knochenresorption anfallenden Phosphats, dessen Anstieg im Serum freigesetzte Calciumionen binden würde. 4 PTH aktiviert im proximalen Tubulusepithel das Enzym 1-α-Hydroxylase und stimuliert damit die Umwandlung von 25-(OH)D in den wirksamen Vitamin D-Metaboliten 1,25(OH)2D, der die enterale Calciumresorption steigert. Die PTH-Wirkung auf den Darm ist also eine indirekte. Reguliert wird die Parathormonsekretion direkt durch die Calciumionenkonzentration des Plasmas. Dazu besitzen die Nebenschilddrüsenzellen an ihrer Oberfläche einen Calcium-sensitiven Rezeptor. Hypokalzämie steigert, Hyperkalzämie drosselt die PTH-Sekretion. Die kurze Halbwertszeit des PTH im Plasma (2–3 min) gewährleistet eine schnelle Anpassung der PTH-Konzentration an den Bedarf. Im Sinne einer Feedback-Kontrolle wird die PTH-Sekretion bei steigender Konzentration des 1,25(OH)2D supprimiert. An den Erfolgsorganen reagiert PTH mit einem spezifischen Rezeptor, der an ein G-Protein aus den Untereinheiten α, β und γ gekoppelt ist. Nach der Reaktion löst sich vom PTH-RezeptorProtein G-Komplex die stimulierende Untereinheit αs (verbunden mit GTP) ab und aktiviert das Adenylatcyclase-System. Dieses katalysiert dann die Umwandlung von AMP in cAMP, den Second Messanger, der Hormonwirkung. Nach Injektion von PTH wird cAMP vermehrt im Urin ausgeschieden. Dieser Effekt bleibt bei dem durch PTH-Resistenz der Erfolgsorgane gekennzeichneten Pseudohypoparathyreoidismus aus. Vitamin D Die biologisch wirksame Form des Vitamin D entsteht aus Calciferol (Vitamin D3), das in der Haut unter Einwirkung von UV-BStrahlung (390–310 nm) aus 7-Dehydrocholesterin gebildet oder mit der Nahrung zugeführt wird. Die Umwandlung in den aktiven Metaboliten erfolgt in zwei Hydroxylierungsschritten. Der erste geschieht in der Leber zu 25-Hydroxyvitamin D, der zweite zu 1,25-Dihydroxyvitamin D im Nierengewebe, gesteuert durch PTH. Unabhängig vom PTH wird die Produktion von 1,25-
(OH)2D durch erhöhtes Serumphosphat gedrosselt, z.B. bei der chronischen Niereninsuffizienz Hauptangriffspunkt des 1,25-(OH)2D ist der Darm. Es beschleunigt den aktiven Transport von Calciumionen durch die Mukosazellen und steigert damit die sehr niedrige spontane Resorptionsrate des Calciums im Darm. Sekundär nimmt dabei, wenn auch in geringerem Grad, die intestinale Phosphatresorption zu. Denn das Phosphatanion liegt im Darminhalt teilweise als Calciumphosphat vor und wird leicht resorbiert, nachdem das Calciumion die Darmwand passiert hat. Am Knochen gewährleistet 1,25-(OH)2D durch die Aufrechterhaltung einer normalen extrazellulären Calciumkonzentration die Mineralisation des Osteoids, ohne sich an diesem Prozess zu beteiligen. Direkt reagiert es mit den Osteoblasten, die Rezeptoren für 1,25-(OH)2D besitzen, und stimuliert über sie synergistisch mit PTH die Osteoklasten zur Knochenresorption. Die Matrixsynthese der Osteoblasten scheint teils gehemmt, teils gefördert zu werden. An den Nieren steigert 1,25-(OH)2D die Phosphatrückresorption im proximalen Tubulus, ein Effekt der aber größtenteils durch die gleichzeitige Zunahme der intestinalen Phosphatresorption rückgängig gemacht wird. Denn je mehr Phosphat der Darm resorbiert, desto stärker nimmt die renale Phophatausscheidung zu. Die tubuläre Calciumrückresorption wird durch 1,25-(OH)2D nur indirekt gefördert, indem es die Tubuluszellen für PTH sensibilisiert. Calcitonin (CT) Das von den parafollikulären oder C-Zellen der Schilddrüse gebildete Hormon ist ein monomeres Polypeptid aus 32 Aminosäuren mit einer zyklischen Struktur am aminoterminalen Ende durch eine Disulfidbrücke zwischen Cysteinen an den Positionen 1 und 7. Seine Halbwertszeit im Plasma beträgt 2–15 min. Calcitonin senkt die extrazelluläre Calciumkonzentration und steigert die renale Calciumausscheidung. Damit ist es ein Antagonist des Parathormons. Der hypokalzämische Effekt kommt durch direkte Hemmung der Osteoklasten zustande, die nach der Reaktion mit dem CT schrumpfen und sich von der Knochenoberfläche ablösen. An den proximalen Nierentubuli setzt CT im Gegensatz zum PTH die Calciumrückresorption herab, erhöht aber ebenso wie PTH die Phosphatausscheidung. Da vom CT mit der Knochenresorption auch die Mobilisierung von Phosphat unterdrückt wird, resultiert neben der Hypokalzämie eine Hypophosphatämie. Die Regulation der CT-Sekretion erfolgt durch die Ca++-Konzentration des Plasmas. Hyperkalzämie steigert, Hypokalzämie drosselt die Freisetzung des Hormons. Obwohl CT bei intravenöser Injektion den Calciumspiegel des Plasmas deutlich senkt, dürfte es für den Calciumhaushalt kaum von physiologischer Bedeutung sein. Zum einen sind die normalen Plasmakonzentrationen sehr niedrig. Zum anderen führt weder die totale Thyreoidektomie, noch die massive CT-Sekretion medullärer Schilddrüsenkarzinome vom C-Zelltyp zu Veränderungen der Calcium- und Phosphatkonzentration des Plasmas.
801 9.3 · Krankheiten der Knochen und der Nebenschilddrüsen
> Beim chronisch erhöhten CT-Spiegel nimmt das Remodeling der Knochen ab.
In pharmakologischen Dosen wird CT erfolgreich bei der Behandlung der Tumorhyperkalzämie, beim Morbus Paget und bei einigen Formen der Osteoporose eingesetzt. Statt des humanen CT wird häufig das CT vom Lachs verwendet, das eine längere Plasmahalbwertszeit und eine höhere Affinität zum CT-Rezeptor hat. Gegen Lachs-CT gebildete Antikörper neutralisieren die Wirkung nicht. Gesamtregulation der extrazellären Ca++-Konzentration Die extrazelluläre Calciumkonzentration, speziell das Plasmacalcium, wird in engen Grenzen konstant gehalten. Abweichungen nach unten führen zur Steigerung der neuromuskulären Erregbarkeit, zur Tetanie und zur Verlängerung des QT-Intervalls im EKG. Geringe Abweichungen nach oben bleiben symptomlos, stärkere haben ein Hyperkalzämiesyndrom zur Folge, das durch Übelkeit, Erbrechen, Polyurie, Exsikkose, Hypotonie, Verkürzung des QT-Intervalls und psychische Störungen gekennzeichnet ist (s. unten). Eine persistierende Hyperkalzämie kann, vor allem bei normalem oder erhöhtem Phosphatspiegel, Kalkablagerungen in der Arterienwand, im gelenknahen Bindegewebe, in der Magenschleimhaut, der Kornea und im Nierenparenchym verursachen. Die normale Calciumkonzentration des Plasmas beträgt 2,2–2,6 mmol/l (8,8–10,4 mg/dl). Davon liegen nur 50% in ionisierter Form vor. Etwa 40% sind an Proteine (hauptsächlich an Albumin) gebunden, 10% bilden diffusible Komplexe mit Citrat und Phosphat. Bei Eiweißmangel nimmt nur das proteingebundene Calcium ab. Für jedes g/dl, um das die Serumalbuminkonzentration 4 g/dl unterschreitet, ist zur Calciumkonzentration 1 mg/dl zu addieren. Reaktionen auf Absinken der Calciumionenkonzentration: 4 Sofort-Regulation: Übertritt von Ca++ aus dem leicht aus-
tauschbaren Calciumpool des Knochensystems. Steigerung der PTH-Sekretion, die innerhalb von Minuten durch Zunahme der renalen Calciumrückresorption zum Anstieg des Calciumspiegels im Plasma führt. Hemmung der Calcitoninsekretion von fraglicher Effizienz. 4 Mittelfristige Reaktion: Freisetzung von Calcium aus der Knochensubstanz durch PTH-induzierte Aktivierung der Osteoklasten. 4 Längerfristige Reaktion: Steigerung der intestinalen Calciumresorption durch Zunahme der PTH-induzierten Bildung von 1,25-(OH)2D aus 25-(OH)D in den proximalen Nierentubuli. Erreicht wird ein Ausgleich des Calciumdefizits im Körper. Reaktionen auf Anstieg der Calciumionenkonzentration: 4 Sofortregulation: Übertritt von Ca++ aus der extrazellulären
Flüssigkeit in den austauschbaren Calciumpool der Knochen,
der eine Pufferfunktion ausübt. Herabsetzung der Parathormonsekretion, die innerhalb von Minuten zur Steigerung der renalen Calciumausscheidung führt. Von fraglicher Effizienz: Steigerung der Calcitoninsekretion, die eine Hemmung zur osteoklastischen Knochenresorption und eine Kalziurie bewirkt. 4 Mittel- und langfristige Regulation: Drosselung der Parathormonsekretion mit der Folge, dass die Bildung von 1,25(OH)2D in den proximalen Nierentubuli und damit die enterale Calciumresorption abnimmt. 9.3.3 Primärer Hyperparathyreoidismus Definition. Nebenschilddrüsenüberfunktion mit gesteigerter Pa-
rathormonsekretion durch monoklonale Adenome (85%), Karzinome (3,2 mmol/l (13 mg/dl) kann es zu Niederschlägen von Calciumphosphaten in folgenden Organen kommen: Niere, Lunge, Magen, periartikuläres Gewebe, Konjunktiven, Herzklappen und Leber. Peptische Ulzera und Pankreatitis: Eine Hyperkalzämie erhöht über eine Stimulation der Säuresekretion des Magens das Ulkusrisiko. Calciumsteine im Pankreasgang können eine Pankreatitis hervorrufen. Klinik. Das Screening der Serumelektrolyte in größeren Popula-
tionen hat ergeben, dass 88% der Fälle von frisch entdecktem Hyperparathyreoidismus asymptomatisch sind, 10% haben Nierensteine und nur 2% eine Ostitis fibrosa. Dementsprechend wird die Diagnose meistens bei einer routinemäßigen Laboruntersuchung gestellt. Die Mehrzahl der asymptomatischen Patienten bleibt auf Dauer beschwerdefrei. Mit einer Progredienz der Erkrankung muss aber gerechnet werden. Deshalb sind regelmäßige Kontrolluntersuchungen erforderlich. Unspezifische Symptome: Unwohlsein, Vergesslichkeit, depressive Verstimmung, gesteigerte Ermüdbarkeit, Schwäche und Atrophie der proximalen Extremitätenmuskeln, leichte Übelkeit, Obstipation, Polydypsie. Nach der Parathyreoidektomie bleibt ein Teil dieser Beschwerden bestehen, so dass ein Kausalzusammenhang mit der Hyperkalzämie zweifelhaft erscheint. Symptome der Skelettmanifestationen: Initial Rücken-, Kreuz-, Hüft- und Beinschmerzen nach Anstrengungen, oft als Rheumatismus, Lumbalgie oder beginnende Koxarthrose fehlgedeutet. Langsame Entwicklung einer Kyphoskoliose mit Hühnerbrust (Vorspringendes Brustbein und Eindellung der seitlichen Thoraxpartien), Verschwinden der Lendenlordose. Verkürzung und Auftreibung der Fingerendglieder. Abnorme Knochenbrüchigkeit, Spontanfrakturen der Extremitätenknochen und Wirbelkörper. Bei Kieferbeteiligung Lockerung und Verlust gesunder Zähne. Im Spätstadium heftige nächtliche Knochenschmerzen, außerdem Gangstörungen durch Muskelschwäche. Diagnostik. Röntgenbefunde: Kortikalisatrophie und subperiostale Kno-
chenresorption an den Phalangen der Finger mit pathognomonischer diaphysärer Zähnelung oder Muldenbildung an den Mittelphalangen II und III. (. Abb. 9.18). Später oft weitgehende Strukturauflösung der Endphalangen. Mattglasaspekt und spongio-
803 9.3 · Krankheiten der Knochen und der Nebenschilddrüsen
erkrankungen der Nieren vorliegt. Sie ist Folge der chronischen Hyperkalziurie und kann zur chronischen Pyelonephritis mit Einschränkung der Nierenfunktion führen. Eine Nephrokalzinose mit Urämie entwickelt sich nur in fortgeschrittenen schweren Fällen. Hyperkalzämische Krise > Lebensbedrohlicher Zustand, der bei Serumcalciumwerten über 12,5 mg/dl (3,1 mmol/l) eintreten kann. Pathogenese: Eine kritische Hyperkalzämie entsteht seltener
durch eine plötzliche Steigerung der PTH-Sekretion, als durch ein Nachlassen der Hyperkalziurie, die das Ansteigen der extrazellulären Calciumkonzentration bremst. Ursache für ein Absinken der renalen Calciumexkretion können eine Niereninsuffizienz oder eine Herabsetzung der Nierenperfusion sein. Letztere ist meistens auf extrazelluläre Flüssigkeitsverluste durch Erbrechen, Diarrhöen, starkes Schwitzen oder ungenügende Trinkmengen zurückzuführen. Einmal etabliert, nehmen höhere Grade der Hyperkalzämie durch einen doppelten Circulus vitiosus weiter zu: Hyperkalzämie → renale Salz- und Wasserverluste durch Herabsetzung der Konzentrationsfähigkeit → Hypovolämie → Herabsetzung der glomerulären Filtrationsrate und damit der renalen Calciumausscheidung → Zunahme Hyperkalzämie → Anorexie, Übelkeit, Erbrechen → Hypovolämie → weitere Drosselung der renalen Calciumausscheidung und Erhöhung der extrazellulären Calciumkonzentration. . Abb. 9.18. Hyperparathyreoidismus. Typische Zyste (Pfeil), einem »braunen Tumor« entsprechend (aus Zeidler et al.: Interdisziplinäre klinische Rheumatologie, Springer 2001)
sierte Kortikalis am Schädeldach. Fortschreitender Kortikalisschwund der Gesichtsknochen. An den langen Röhrenknochen einzelne oder multiple Zysten, überwiegend in Gelenknähe, fibrotische Knochentumoren oder polyzyklisch begrenzte Osteoklastome. Fischwirbelform und Kompressionsfrakturen an der Wirbelsäule. Kalkeinlagerungen im Gelenkknorpel. Messung des Knochenmineralgehaltes (Osteodensitometrie): Die Bestimmung der Knochendichte mit der quantitativen Computertomographie (QCT) oder der dualen Röntgenabsorptiometrie (DXA) der Lendenwirbelsäule und des Radius
erfasst frühzeitig eine Abnahme des Mineralisationsgrades der Kompakta und Spongiosa. Für die Verlaufskontrolle genügt die weniger aufwendige Messung der Kompaktadichte des Radius mit der SPA (single photon Absorptiometrie). Beckenkammbiopsie: Kortex und Trabekel sind verdünnt und von Lakunen mit zahlreichen Osteoklasten rarefiziert. Die Stelle des resorbierten Knochens wird von fibrotischem Gewebe eingenommen. Symptome der renalen Manifestationen: Eine Nephrolithiasis mit Calciumsteinen ist nicht selten das erste Symptom eines Hyperparathyreoidismus, der in 7% aller Fälle von Calciumstein-
Symptome: Polydipsie, Polyurie, Exsikkose, Azotämie, Hypotonie, Übelkeit, Erbrechen, paralytischer Ileus, Apathie, psychotische Zustände, Somnolenz, Koma mit finalem Herz- und Kreislaufversagen. Differenzialdiagnosen. Der primäre Hyperparathyreoidismus ist gegen diverse andere hyperkalzämische Krankheitszustände abzugrenzen. Dabei sind nachstehende diagnostische Kriterien zu beachten. Primärer Hyperparathyreoidismus: Zur Sicherung der Diagnose genügt der Nachweis einer Hyperkalzämie von >10,4 mg/dl (2,6 mmol/l) und einer erhöhten Serumkonzentration des intakten PTH (>60 pg/ml), gemessen mit dem zweiseitigen Radioimmunassay IRMA (immunradiometric assay). Im EKG ist die QTZeit verkürzt, mitunter als erster Hinweis auf eine Hyperkalzämie. Kardiale Symptome entstehen dadurch nicht. Zur Beurteilung des Schweregrades sind eine Nierenleeraufnahme (Konkremente?) und folgende Parameter erforderlich: Serumkreatinin (Niereninsuffizienz?), Knochendichte (Osteopenie?) und die Calciumausscheidung im 24-Stunden-Harn (Operationsindikation bei >400 mg). In Fällen eines hereditären Hyperparathyreoidismus ist nach einer MEN-1 und MEN-2A zu fahnden. Eine präoperative Tumorlokalisation kann mittels Ultraschall, venöser Katheterisierung und PTH-Messung, Thallium-/TechnetiumSzintigrapie und CT versucht werden. Alle Methoden liefern aber
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Kapitel 9 · Krankheiten des Bewegungsapparates
nicht selten falsch positive und falsch negative Resultate. In der Regel hat die Exploration der Nebenschilddrüsen bei der Operation zu erfolgen. Ektopische Nebenschilddrüsenadenome werden in der Schilddrüse, hinter dem Ösophagus, im Thymus und im Perikard gefunden. Familiäre hypokalziurische Hyperkalzämie (FHH): Die sehr seltene Erkrankung ist autosomal-dominant erblich und beruht auf einer Mutation des Calciumrezeptors der PTH-sezernierenden Zellen. Die Strukturanomalie macht diesen Rezeptor zu einem weniger empfindlichen Ca++-Sensor, so dass die PTH-Sekretion erst bei höheren Serumcalciumwerten supprimiert wird. Bei erhöhtem Serumcalcium ist die Calciurie um zwei Drittel niedriger als beim primären Hyperparathyreoidismus. Das PTH im Serum ist normal oder leicht erhöht. Die Nebenschilddrüsen können gering hyperplastisch sein, Adenome fehlen. Die Hyperkalzämie besteht von Geburt an, ist bei heterozygoten Merkmalträgern asymptomatisch und bleibt es. Eine Therapie erübrigt sich. Homozygote Neugeborene haben dagegen ein bedrohliches Hyperkalzämie-Syndrom, das mit subtotaler Parathyreoidektomie zu behandeln ist.
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Malignom-induzierte Hyperkalzämie: Nach dem Hyperparathyreoidismus die zweithäufigste Ätiologie der Hyperkalzämie. Vorkommen: Hauptsächlich bei Lungen-, Mamma-, Nieren-, Blasen- und Ovarialkarzinomen, Myelomen, Lymphomen und Leukämien. Zum Zeitpunkt des Auftretens der Hyperkalzämie sind diese Malignome in 98% der Fälle klinisch schon evident. Pathogenese: Bei ausgedehnten Skelettmetastasen (Mammakarzinom, Myelom) liegt der Hyperkalzämie eine lokale Aktivierung der Osteoklasten durch Zytokine aus den Tumorzellen zugrunde. Nur sehr selten findet in Malignomen eine ektopische PTH-Bildung statt. In den meisten Fällen von Malignom-induzierter Hyperkalzämie produzieren die Tumorzellen ein dem PTH wirkungsgleiches Peptid (PTHrP: PTH related peptide), das sich fest mit dem PTH-Rezeptor verbindet, obwohl es in seiner Aminosäurensequenz nur am aminoterminalen Ende dem PTH ähnlich ist. Geringe Mengen von PTHrP werden normalerweise in der glatten Muskulatur der Gefäße, des Uterus und der Harnblase gebildet. Für die Regulierung des Calciumhaushalts scheinen sie aber ohne Bedeutung zu sein. Bei den Lymphomen und bei der Sarkoidose entsteht die Hyperkalzämie durch die 1-α-Hydroxylation von 25-(OH)D in den abnormen Lymphzellen. Symptome: Die humorale Hyperkalzämie durch PTHrP ist oft höhergradig, da es im Gegensatz zum PTH nur die Osteoklasten und nicht die Osteoblasten stimuliert. Es kommt zu Anorexie, Übelkeit, Polyurie, Verwirrtheit oder Koma. Im Serum ist bei 80% der Patientin mit soliden Tumoren PTHrP nachweisbar und PTH stark supprimiert. Bei Patienten mit Lymphomen ist die Konzentration des 1,25-(OH)2D im Serum erhöht.
Toxisch bedingte Hyperkalzämie: Kommt bei Überdosierung
bestimmter Vitamine und Pharmaka vor. 4 Vitamin D: Intoxikation bei fortgesetzter Einnahme von über 50.000 IE Vitamin D3 pro Tag. Kann bei der Behandlung des Hypoparathyreoidismus und übertriebener Selbstmedikation vorkommen. Im Serum ist das 25-(OH)D (Calcifediol) auf das 5- bis 10fache des Normalwertes erhöht, während PTH und 1,25-(OH)2D3 (Calcitriol) supprimiert sind. Die Hyperkalzämie ist ein Effekt des Calcifediol, das in extrem hoher Konzentration mit dem Calcitriol-Rezeptor reagiert und auf diesem Weg die intestinale Calciumresorption und die Knochenresorption steigert. 4 Vitamin A: Intoxikationen treten bei Erwachsenen nach längerer Einnahme von mehr als 30 mg Vitamin A pro Tag auf und nach Einmaldosen von 500 mg oder darüber. Wenn es zur Hyperkalzämie kommt, resultieren neben den übrigen Symptomen der A-Hypervitaminose Schwäche, Anorexie, Muskel- und Knochenschmerzen. Der Serumcalciumspiegel kann auf 12–14 mg/dl ansteigen. PTH und Calcitriol sind erniedrigt. Toxische Vitamin A-Dosen steigern wahrscheinlich die Knochenresorption. Die Diagnose ergibt sich aus der erhöhten Vitamin-A-Konzentration des Serums. 4 Lithium: Bei der chronischen Lithiumbehandlung in therapeutischen Dosen ist der Calciumspiegel nicht selten etwas erhöht. Etwa 10% der Patienten haben eine deutliche Hyperkalzämie bei leicht erhöhten PTH-Werten im Serum und eine Hypokaliurie. Ähnlich wie bei der familiären hypokalziurischen Hyperkalzämie (s. oben) ist die Empfindlichkeit des Calciumrezeptors der PTH-sezernierenden Zellen herabgesetzt. Nur bei klinischen Manifestationen der Hyperkalzämie ist die Lithiumbehandlung abzubrechen. 4 Thiazide: Verursachen eine leichte, gewöhnlich vorübergehende Hyperkalzämie und eine Hypokalziurie, die auf eine Empfindlichkeitssteigerung des Knochens und der proximalen Nierentubuli gegenüber PTH zurückgeführt wird. Der hypokalziurische Effekt wird bei der Behandlung der Nephrolithiasis und des Hypoparathyreoidismus genutzt. 4 Milch-Alkali-Syndrom: Der Konsum großer Mengen Calcium zusammen mit einem resorbierbaren Antazidum (Milch und Calciumcarbonat) kann zur Trias Hyperkalzämie, Alkalose und Niereninsuffizienz führen. Dieses Syndrom kam früher bei der Ulkusbehandlung mit der Sippy-Diät (MilchSahne-Gemisch mit Natriumbikarbonat oder Wismutsubcarbonat) vor. Es setzt eine individuelle Disposition zu gesteigerter enteraler Calciumresorption voraus. Wahrscheinliche Kausalkette: Leichte Hyperkalzämie → PTH-Suppression → Bikarbonatretention → Alkalose → renale Calciumretention → schwere Hyperkalzämie → Polyurie, Hypovolämie, Azotämie. Hyperkalzämie bei Endokrinopathien: 4 Hyperthyreose: Etwa 20% der Hyperthyreosepatienten ha-
ben ein hochnormales oder leicht erhöhtes Serumcalcium.
805 9.3 · Krankheiten der Knochen und der Nebenschilddrüsen
Noch häufiger ist eine Hyperkalziurie. PTH und 1,25-(OH)2D sind supprimiert. Der Knochenumsatz wird durch die Schilddrüsenhormone gesteigert, wobei die Resorption überwiegt. Es kann zu einer deutlichen Osteopenie kommen. 4 Phäochromozytom: Wenn eine Hyperkalzämie besteht, liegt meistens eine hereditäre multiple endokrine Neoplasie vom Typ 2A mit primärem Hyperparathyreoidismus vor. In den anderen Fällen handelt es sich um solitäre Phäochromozytome, die PTHrP sezernieren, obwohl es sich nicht um Karzinome handelt. 4 Vipome (Verner-Morrison-Syndrom): Etwa 40% der Patienten haben eine Hyperkalzämie, die vermutlich durch die Bildung von PTHrP zustande kommt und nach Entfernung des Tumors verschwindet. Hyperkalzämie durch Immobilisierung: Die Knochenneubildung lässt mangels mechanischer Stimulation der Osteoblasten nach, während die Knochenresorption leicht gesteigert wird. Die resultierende Hyperkalzämie supprimiert die PTH-Sekretion und damit auch die Bildung von 1,25-(OH)2D. Eine Osteopenie ist die Folge. Kommt bei Querschnittsgelähmten in den ersten Monaten und langer Bettlägerigkeit bei anderen Krankheiten vor. Hyperkalzämie bei chronischer Niereninsuffizienz: Die chronische Niereninsuffizienz führt zum sekundären Hyperparathyreoidismus, der die Normokalzämie annähernd aufrechterhält. Zur Hyperkalzämie kommt es, wenn der kompensatorische sekundäre Hyperparathyreoidismus in einen tertiären entgleist. Das kann erstens durch die Entwicklung eines autonomen Adenoms in einer der hyperplastischen Nebenschilddrüsen geschehen. Eine zweite Möglichkeit ist das Persistieren der gesteigerten PTH-Sekretion nach erfolgreicher Nierentransplantation, weil der nicht durch Ca++ supprimierbare Anteil der PTH-Sekretion zu groß geworden ist. Drittens resultiert eine Hyperkalzämie, wenn die renale Osteodystrophie mit zu hohen Dosen von 1,25(OH)2D behandelt wird. Therapie. Konservative Behandlung
Indiziert bei asymptomatischen Patienten mit geringer Hyperkalzämie (90%), die Mortalität und die postoperative Morbidität sind sehr gering. Indikationen sind: 4 Asymptomatische Patienten mit deutlicher Hyperkalzämie (>11,4–12 mg/dl bzw. 2,8–3,0 mmol/l), einer Kreatininclearance unter 30% der Norm, Nierensteinen im Röntgenbild (auch symptomlosen), einer Hyperkalziurie über 400 mg/Tag oder einer Knochendichte von mehr als 2 Standardabweichungen unterhalb der Norm für Alter und Geschlecht. 4 Alle symptomatischen Patienten in operablem Allgemeinzustand. 4 Patienten mit einem tertiären Hyperparathyreoidismus. Operation: Adenome werden reseziert, ebenso Karzinome, deren Kapsel wegen Gefahr der lokalen Tumoraussaat nicht verletzt werden darf. Bei Hyperplasie entfernt man 3 Epithelkörperchen komplett und eines partiell oder alle 4 und reimplantiert etwas Drüsengewebe zwischen die Muskel des Unterarmes, um im Rezidivfall leichteren Zugang zu haben. Postoperative Phase: Nach 3–5 Tagen transitorische Hypokalz-
ämie, meistens nur auf niedrig normale Werte, bis die vorher supprimiert gewesenen Epithelkörperchen bzw. Autotransplantate ihre Funktion wieder aufnehmen. Bei Ostitis fibrosa ist durch den postoperativen Calciumsog des Skeletts mit einer höhergradigen Hypokalzämie zu rechnen. Symptomatische Hypokalzämien werden mit oralen Calciumgaben (1–2 g/Tag), nötigenfalls zusätzlich mit Vitamin D-Analogen (s. unten) und nur in schweren Fällen mit intravenösen Calciuminfusionen behandelt. Therapie des postoperativen Hypoparathyreoidismus (7 Kap. 9.3.5). Behandlung der hyperkalzämischen Krise In allen Fällen sind die Patienten hochgradig exsikkotisch, weil
eine anhaltende starke Hyperkalziurie, analog der Glukosurie beim entgleisten Diabetes mellitus, zwangsläufig zu massiven Salz- und Wasserverlusten führt. Folgende Maßnahmen sind zu ergreifen: 4 Rehydratisierung: Infusion großer Mengen Kochsalzlösung (bis zu 4 Liter in 6 Stunden). 4 Forcierte Diurese: Mit Schleifendiuretika (Furosemid oder Etacrynsäure) intravenös zur Steigerung der renalen Calciumausscheidung. 4 Biphosphonate: Pamiduronsäure oder Zolendronsäure intravenös für 2 Wochen. 4 Calcitonin: 100 IE i.v. oder i.m. alle 6–12 Stunden. Der Calciumspiegel sinkt schnell, doch geht die Wirksamkeit nach 4–6 Tagen stark zurück (Tachyphylaxie durch Downregulierung der Rezeptoren). 4 Dialyse: Bei Niereninsuffizienz und in lebensbedrohlichen Fällen. Wirksam nach Stunden.
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Kapitel 9 · Krankheiten des Bewegungsapparates
4 Parathyroidektomie: Nach Absinken des Serumcalciums unter 12,5 mg/dl, sofern keine Kontraindikation und kein inoperables Nebenschilddrüsenkarzinom vorliegt. 4 Zytostatika (Plicamycin): Zur Langzeithemmung der Knochenresorption bei Nebenschilddrüsenkarzinomen. Therapie der nichtparathyreoidalen Hyperkalzämie Hyperkalzämische Krisen: In allen Fällen Rehydratisierung mit
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Kochsalzinfusionen, Schleifendiuretika, Biphosphonate und Calcitonin wie bei hyperparathyreoidaler Krise (7 oben). Malignom-induzierte Hyperkalzämie: Aggressive Chemotherapie, Bestrahlung oder Resektion des Tumors können zur Senkung der TPHrP führen. Hohe Dosen Corticosteroide (40– 80 mg/Tag) senken das Serumcalcium bei multiplen Myelomen, Lymphomen, Leukämien, bei der Sarkoidose und beim Mammakarzinom. Der Effekt tritt allerdings mit einer Verzögerung von 2–3 Wochen ein. Für die Langzeitbehandlung sind das Zytostatikum Plikamycin (Mithromycin) und Biphosphonate geeignet. Sie blockieren die Knochenresorption durch die Osteoklasten, ohne die Osteoblasten zu hemmen. Toxische Hyperkalzämie: Absetzen der verursachenden Drogen. Bei Vitamin D-Intoxikation Corticosteroide in hohen Dosen. Hyperkalzämie bei Endokrinopathien: Behandlung der Grundkrankheit. 9.3.4 Sekundärer Hyperparathyreoidismus Definition. Adaptive Funktionssteigerung der Nebenschilddrü-
sen zum Ausgleich extrazellulärer Calciummangelzustände. Ätiologie und Pathogenese. Chronische Niereninsuffizienz: Steigerung der PTH-Sekretion infolge renal bedingter Hypokalzämie mit folgenden Kausalketten:
1. Renaler Parenchymverlust → verminderte Bildung des Vitamin D-Metaboliten Calcitriol durch Mangel an 25-(OH)-1αHydroxylase, die außerdem durch die Hyperphosphatämie supprimiert wird → Herabsetzung der intestinalen Calciumresorption → Hypokalzämie → Steigerung der PTH-Sekretion → Calciummobilisierung durch Knochenresorption. 2. Renaler Parenchymverlust → Herabsetzung der renalen Phosphatausscheidung bei erhöhtem Phosphatanfall durch die PTH-induzierte Knochenresorption → Hyperphosphatämie → Bildung von Calciumphosphatkomplexen in der extrazellulären Flüssigkeit → Hypokalzämie → Steigerung der PTH-Sekretion → Calciummobilisierung durch Knochenresorption. Vitamin D-Mangel: Steigerung der PTH-Sekretion zur Aufrecht-
erhaltung der Normokalzämie bei ungenügender intestinaler Calciumresorption. 4 Ursachen: 5 ungenügende Sonnenlichtexposition
5 Vitamin D-arme Ernährung 5 Fettresorptionsstörungen (Malabsorptionssyndrome). 4 Kausalkette: Vitamin D-Mangel → verminderte Bildung von
Calcitriol (1,25-(OH)2D) → Herabsetzung der intestinalen Calciumresorption → Hypokalzämie → Steigerung der PTHSekretion → Calciummobilisierung durch Knochenresorption und Hypophosphatämie. Pseudohypoparathyreoidismus: Steigerung der PTH-Sekretion
bei genetisch bedingter Endorgan-Resistenz gegen PTH. Die klinischen Manifestationen resultieren aus gesteigerter osteoklastischer Knochenresorption und mehr oder weniger ausgeprägter Mineralisationsstörung des neu gebildeten Knochens. Renale Osteodystrophie Klinik. Knochenschmerzen, Muskelschwäche, Spontanfrakturen, Osteofibrose, Osteoporose, Osteomalazie, bei Kindern Rachitis, Osteopetrose und extraossäre Kalkablagerungen. Zur Osteomalazie disponieren insbesondere die renale Azidose und bei Dialysepatienten Aluminiumablagerung im Knochen und Hypophosphatämie. Diagnostik. Laborbefunde: PTH und Phosphor im Serum erhöht, Calcium
im unteren Normbereich oder etwas erniedrigt, harnpflichtige Substanzen erhöht. Therapie. Aluminiumfreie Phosphatbinder (Selvelamer-Hydrochlorid) und Calcimimetica (Paricalcitol) zur Drosselung der PTH-Sekretion. Bei tertiärem Hyperparathyreoidismus Parathyreoidektomie.
Osteomalazie und Rachitis 7 Kap. 9.3.7.
Pseudohypoparathyreoidismus 7 Kap. 9.3.5.
9.3.5 Hypoparathyreoidismus Definition. Unterfunktion oder Funktionsausfall der Neben-
schilddrüsen. Ätiologische Klassifizierung. Hereditärer Hypoparathyreoidismus: Zu unterscheiden sind
nachstehende, insgesamt seltene Formen: 4 Isolierter hereditärer Hypoparathyreoidismus: Erbgang autosomal-dominant, autosomal-rezessiv oder X-gebunden. Entsprechend uneinheitlich ist der genetische Defekt. Es kann eine Strukturanomalie im PTH-Gen vorliegen, ein Gendefekt, der den Transkriptionsfaktor für das PTH-Gen betrifft oder ein Splicing-Defekt, der die Bildung der mRNA
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für PTH verhindert. Zur Hypokalzämie führt auch eine aktivierende Mutation am Calcium-Sensing-Rezeptor (gain of function mutation). 4 Hypoparathyreoidismus bei polyglandulärem Autoimmunsyndrom Typ I: Autosomal-rezessiv-erbliches Leiden, das sich in der ersten Lebensdekade der Reihe nach mit mukokutaner Candidiasis, Hypoparathyreoidismus und Morbus Addison manifestiert. Es ist nicht an bestimmte HLA-Typen gebunden und in seiner Pathogenese ungeklärt. 4 DiGeorge-Syndrom: Kongenitale, nicht erbliche Entwicklungsstörung der 3. und 4. Schlundtasche mit Hypoplasie des Thymus und der Nebenschilddrüsen sowie Fehlbildungen des Aortenbogens, Herzens und des Gesichts (7 Kap. 8.4). Erworbener Hypoparathyreoidismus: 4 Postoperativer Hypoparathyreoidismus: Häufig als transito-
rische, seltener als irreversible Unterfunktion nach Parathyreoidektomie und Strumektomie vorkommend. 4 Hypoparathyreoidismus durch Strahlenschaden: Seltene Komplikation der Radiojodtherapie bei Hyperthyreose. 4 Hypoparathyreoidismus durch Metallablagerungen: Eisenspeicherung bei Hämochromatose und Hämosiderose polytransfundierter Patienten (Thalassämie, aplastische Anämie). Kupferspeicherung bei Morbus Wilson. Aluminiumablagerung bei chronischer Niereninsuffizienz. 4 Hypoparathyreoidismus bei Hypomagnesiämie: Starkes Absinken der Magnesiumkonzentration des Serums ( Beweisend ist die Trias Hypokalzämie, Hyperphosphatämie und erniedrigtes oder fehlendes Serum-PTH.
Zur Trias Hypokalzämie, Hyperphosphatämie und erhöhtes Serum PTH kommen ein erhöhter Kreatininspiegel und die übrigen Zeichen der chronischen Niereninsuffizienz. Siehe unter sekundärer Hyperparathyreoidismus (7 Kap. 9.3.4). Akute Komplexbildung oder Ablagerung von Calcium
Laborchemisch sind Magnesiummangel und pathologische Eisenspeicherung zu erfassen.
Hypokalzämie durch massive Calciumverluste, die nicht schnell genug kompensiert werden können. Ursachen sind: 4 Akute Hyperphosphatämie: Phosphateinstrom in die extrazelluläre Flüssigkeit beim Crush-Syndrom durch verletzungsbedingten Zerfall großer Muskelmassen. Hinzu kommt meistens eine akute Einschränkung der Nierenfunktion mit Phosphatretention. 4 Akute Pankreatitis: Bildung von Calciumseifen mit Fettsäuren, die durch Lipolyse im Pankreasbett freigesetzt werden. Indiz für eine ausgedehnte Pankreasnekrose.
Pseudohypoparathyreoidismus
Sepsis und kritische Krankheitszustände
Genetisch bedingte Erfolgsorganresistenz gegen PTH.
Hypokalzämie mit Verminderung des ionisierten Calciums bei gramnegativer Sepsis. Die Pathogenese ist unbekannt. Auf Intensivstationen haben bis zu 20% der Patienten eine meistens multifaktorielle Hypokalzämie ( Niereninsuffizienz, Magnesiummangel, Citratbluttransfusionen, Hypothermie, Leberinsuffizienz etc.).
Weiteren Aufschluss gibt die Anamnese: 4 Bei hereditären Formen Krankheitsbeginn im Kindesalter, familiäres Vorkommen, zusätzliche angeborene Anomalien. 4 In erworbenen Fällen Zustand nach Parathyreoidektomie oder Strumektomie.
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Chronische Niereninsuffizienz
> Kennzeichnende Befundkonstellation: Hypokalzämie, Hyperphosphatämie, und erhöhtes Serum-PTH bei normaler Nierenfunktion. Typ IA: Häufigste, autosomal-dominant erbliche Form des Pseudohypoparathyreoidismus bei der neben den klinischen Manifestationen der Hypokalzämie ein abnormer Phänotyp, die hereditäre Albright-Osteodystrophie, vorliegt: Kleinwuchs, rundes Gesicht, Brachydaktylie, paraartikuläre Ossifikation in der Subkutis, Strabismus, Oligophrenie. Als molekularer Defekt wurde eine Verminderung des mit dem PTH-Rezeptor assoziierten GProteins nachgewiesen, die sich aber nicht auf die Erfolgsorgane des PTH beschränkt. Gestört ist dadurch offenbar die cAMP-Synthese, denn nach PTH-Injektion nimmt die renale cAMP-Ausscheidung nicht zu (positiver Ellsworth-Howard-Test). Zur Entwicklung einer PTH-Resistenz reicht aber die Verminderung des G-Proteins nicht aus. Zusätzlich muss ein weiterer Defekt vorliegen, denn es gibt eine Variante des Protein-G-Mangels, bei der keine PTH-Resistenz, sondern nur eine hereditäre Albright-Osteodystrophie auftritt. In diesem Fall spricht man von Pseudopseudohypoparathyreoidismus. Typ IB: PTH-Resistenz ohne hereditäre Albright-Osteodystrophie und ohne Mangel an G-Protein. Vermutet wird ein molekularer Defekt des PTH-Rezeptormoleküls. Typ II: Sehr seltene Variante, bei der PTH eine Zunahme der renalen cAMP-Ausscheidung bewirkt, aber nicht die Phosphatausscheidung steigert. Die resultierende Hyperphosphatämie führt dann zur Hypokalzämie. Der molekulare Defekt ist ungeklärt. Vitamin D-Mangel oder Vitamin D-Resistenz In diesem Fall besteht eine milde Hypokalzämie, verbunden mit einer Hypophosphatämie und einem erhöhten Serum-PTH
(7 Kap. 9.3.4).
Normokalzämische Tetanie
Steigerung der neuromuskulären Erregbarkeit bei normaler Calciumkonzentration des Serums durch eine respiratorische oder metabolische Alkalose. Diese lässt auf Kosten der freien die proteingebundene Calciumfraktion ansteigen. Wie bei der Hypokalzämie kommt es zu tetanischen Anfällen oder einer latenten Tetanie. Zum Nachweis und zur Differenzierung der Alkalose dienen Blutgasanalyse und pH-Bestimmung im Blut. Folgende Formen werden am häufigsten beobachtet. 4 Hyperventilationstetanie: Akuter tetanischer Anfall mit Parästhesien, Karpopedalspasmen, Verkrampfung des Mundes, Beklemmungs- und Angstgefühl infolge respiratorischer Alkalose bei psychogener alveolärer Hyperventilation. Missempfindungen und Angst verstärken die Hyperventilation im Sinne eines Circulus vitiosus. Schließlich kommt es zur Benommenheit, da der Abfall des pCO2 die zerebrale Durchblutung drosselt. Betroffen sind überwiegend psychoneurotische Patienten weiblichen Geschlechts. Zwischen den Anfällen kann eine diskrete Hyperventilation mit Symptomen der latenten Tetanie bestehen. 4 Tetanie bei metabolischer Alkalose: Ursachen der Alkalose sind vor allem rezidivierendes Erbrechen und reichliche perorale oder parenterale Zufuhr von alkalischen Salzen, speziell von Bikarbonat. Die Tetaniesymptomatik ist gewöhnlich schwächer ausgeprägt als bei der respiratorischen Alkalose. Die Patienten sind auch weniger erregt.
809 9.3 · Krankheiten der Knochen und der Nebenschilddrüsen
Therapie. Akute Hypokalzämie
Langsame, streng intravenöse Injektion von 10–20 ml einer 10%igen Calciumgluconatlösung innerhalb einiger Minuten. Im Bedarfsfall anschließende Dauerinfusion von 500–1000 mg Calcium pro Tag. Parallel dazu Dihydrotachysterol (DHT): 4 zu Beginn 4 mg tgl. für 2 Tage 4 danach 2 mg tgl. für 2 Tage 4 danach 1 mg tgl. oder weniger als Erhaltungsdosis. Alternativ kann Calcitriol in einer Startdosis von 40 μg gegeben werden, die ab dem 2. Tag entsprechend dem Calciumspiegel zu reduzieren ist. Chronische Hypokalzämie Hypoparathyreoidismus: Eine dauerhafte Normokalzämie ist
durch Steigerung der enteralen Calciumresorption mit oralen Calciumgaben und D-Vitaminen oder deren Metaboliten zu erreichen. Unbeeinflusst bleibt die durch den PTH-Mangel bedingte Hyperkalziurie. Sie kann bei zu hoher Calciumzufuhr zur Nephrolithiasis führen. Calcium wird als Lactogluconat oder Carbonat in Tagesdosen von 500–1500 mg Ca++ verabreicht. Die Tagesdosis für Vitamin D (Cholecalciferol) beträgt 1–3 mg (40.000–120.000 IE), für 25-(OH)D (Calcifediol) 75–225 μg und für 1,25-(OH)2D (Calcitriol) 0,75–2,25 μg. Besonders geeignet ist DHT (>AT 10®), ein Reduktionsprodukt des nur in UV-bestrahlten Pflanzen vorkommenden Vitamin D2. Es wird in der Leber zu OH-DHT hydroxyliert, das ohne 1-α-Hydroxylierung wirksam ist und sich gegenüber Vitamin D3 durch schnelleren Wirkungseintritt, kürzere Wirkungsdauer und größeren Effekt auf die Knochenmobilisierung auszeichnet. Es ist besser steuerbar und billiger als das schneller wirkende Calcitriol. Thiazide können den Calciumbedarf reduzieren, und vor Steinbildung schützen, da sie die Calciurie herabsetzen. Pseudohypoparathyreoidismus: Therapie wie bei Hypoparathy-
reoidismus, jedoch mit kleineren Dosen von Calcium und DHT, da keine vollständige PTH-Resistenz besteht. Magnesiummangel: In akuten Fällen 500–1000 mg Mg++ als
Sulfat langsam i.v. (maximal 15 mg/Std.). Größere Defizite erfordern längere orale Substitution mit 500–1000 mg Mg++ tgl., am besten als Oxid, das weniger Diarrhöen verursacht als Magnesiumsulfat. Vitamin D-Mangel oder Vitamin-D-Resistenz: Bei inadäquater Ernährung bzw. Sonnenlichtexposition Tagesdosen von 1000– 2000 IE Vitamin D, kombiniert mit 1–1,5 g Calcium pro Tag per os. Bei Malabsorption 50.000 IE Vitamin D i.m. alle 3 Monate. Bei Störung des Vitamin-D-Stoffwechsels unter antikonvulsiver Therapie (Phenytoin) 50.000 IE Vitamin D3 pro Woche und 1 g Calcium pro Tag. Bei Vitamin-D-abhängiger Rachitis Typ I (De-
fekt der 1-Hydroxylierung von 25-(OH)D) Substitution mit physiologischen Dosen von Calcitriol (0,75–2,25 μg/Tag). Bei Vitamin D-abhängiger Rachitis Typ II (Endorganresistenz gegen Calcitriol) Versuch mit Extremdosen von Calcitriol, bei totaler Resistenz parenterale Langzeitbehandlung mit Calcium. Chronische Niereninsuffizienz: Phosphatbinder Selvelamer, phosphatarme Diät, Calcitriol in kontrollierten Dosen. Akute Hyperphosphatämie: Phosphatbinder Selvelamer oder
Dialyse. Vorsicht mit Calciuminjektionen wegen der Gefahr von extraossären Kalkablagerungen. Normokalzämische Tetanie Hyperventilationstetanie: Beruhigung des Patienten, Aufforde-
rung zu langsamer oberflächlicher Atmung, Sedierung mit Diazepam (2–10 mg). Nach Blutentnahme für die Calciumbestimmung langsame Injektion von 10 ml 10%iger Calciumgluconatlösung, die auch bei Normokalzämie meistens prompt wirkt. Prophylaxe mit 2–5 mg Diazepam zu Beginn der dem Anfall vorausgehenden Aura. Metabolische Alkalose: Behandlung des Grundleidens.
9.3.6 Osteoporose Definition. Systemische, mit Veränderungen der Mikroarchitek-
tur einhergehende Knochenatrophie, die zu abnormer Knochenbrüchigkeit bzw. erhöhtem Frakturrisiko führt. Bei gleichbleibendem Volumen der Skelettstücke nimmt der Markanteil zu. Solange noch keine Frakturen vorliegen, spricht man auch von Osteopenie. Vorkommen und Häufigkeit. Nach Schätzungen, die auf ameri-
kanischen und niederländischen Studien beruhen, leiden in Deutschland rund 4,2 Mill. Menschen an einer Osteoporose. Hiervon entfallen etwa 3,1 Mill. auf das weibliche und 1,1 Mill. auf das männliche Geschlecht. Ätiologie und Pathogenese. Kausalfaktoren: Die Bedingungen für die Entstehung einer Osteo-
porose sind komplex und häufig erst beim Zusammentreffen mehrerer Faktoren gegeben, die für sich allein lediglich ein erhöhtes Osteoporoserisiko darstellen. Die wesentlichsten Faktoren sind in . Tab. 9.2 zusammengestellt. Pathogenese. Die Osteoporose ist überwiegend eine Alters-
krankheit. Sie kommt in erster Linie durch eine Steigerung der Knochenresorption und die damit verbundene Zunahme der Remodellierungslücke zustande (7 Kap. 9.3.1). Das Ausmaß der Altersinvolution des Skeletts hängt von der maximalen Knochenmasse ab, die in der Mitte des 4. Lebensjahrzehnts erreicht wird.
9
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Kapitel 9 · Krankheiten des Bewegungsapparates
. Tabelle 9.2. Risikofaktoren für die Entwicklung einer Osteoporose Höheres Lebensalter Endokrine Anomalien
5 Östrogenmangel (Postmenopause) 5 Testosteronmangel 5 Cushing-Syndrom oder Glukokortikoidtherapie 5 Thyreotoxikose 5 primärer Hyperparathyreoidismus 5 Diabetes mellitus
Immobilisierung oder Schwerelosigkeit Genetische Faktoren
5 5 5 5
Juvenile Osteoporose
Spontanremission in der Pubertät, spricht auf Calcitriol an
Osteogenesis imperfecta Ehlers-Danlos-Syndrom Homozystinurie Marfan-Syndrom
Renale Hyperkalziurie
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Chronischer Alkoholismus Zigarettenrauchen Mangelernährung
5 Calciummangel 5 Vitamin-C-Mangel 5 Eiweißmangel
Antikonvulsive Therapie Heparin-Langzeittherapie Rheumatoide Arthritis Chronische Leberkrankheiten Hämatologische Malignome
5 multiple Myelome 5 Leukämien 5 Lymphome
Idiopathische Fälle
Bei schwacher Skelettstatur durch konstitutionelle Faktoren, Entwicklungsstörungen im Kindesalter, verzögerte Pubertät, Gonadendysfunktion und chronisches Untergewicht erreicht der altersbedingte Knochenabbau eher den Grad einer Osteoporose als wenn er von einem kräftig gebauten Knochen ausgeht. Die Altersosteoporose Typ I kommt bei einer relativ kleinen Gruppe von Frauen im Alter zwischen 51 und 65 Jahren vor, betrifft hauptsächlich die Spongiosa der Wirbelkörper und ist größtenteils durch Östrogenmangel bedingt. Dieser führt zur Steigerung der Knochenresorption, weil der Hemmeffekt des Östrogens auf die PTH-induzierte Osteoklastenaktivierung nachlässt. Östrogene scheinen direkt auf die Osteoblasten einzuwirken und sie daran zu hindern, nach der Reaktion mit PTH Zytokine wie IL-1, IL-6 und TNF-α zur Stimulation der Osteoklasten im Übermaß freizusetzen.
Der Typ II wird bei vielen Männern und Frauen jenseits des 75. Lebensjahres angetroffen und erstreckt sich auf die kortikalen und Spongiosaknochen (Radius, Schenkelhals, Wirbelkörper). Das Gleichgewicht zwischen Neubildung und Resorption des Knochengewebes kann durch Immobilisierung infolge Gelenkerkrankungen oder Bettlägerigkeit, durch mangelhafte Calciumresorption, ungenügende Ernährung und Einschränkung der Nierenfunktion gestört werden. Die Abnahme der enteralen Calciumresorption im Alter ist wahrscheinlich auf eine relative Resistenz gegen Calcitriol zurückzuführen. Bei primärer oder sekundärer Steigerung der PTH-Sekretion nimmt die Knochenresorption proportional mit der Überproduktion des Hormons zu. Thyreotoxikosen disponieren zur Osteoporose, da Schilddrüsenhormone den Turnover des Knochens beschleunigen. Die osteoporotische Wirkung der Glukokortikoide beruht hauptsächlich auf einer Blockade der im Alter ohnehin nachlassenden enteralen Calciumresorption. Calciummangel jeglicher Genese kann über einen sekundären Hyperparathyreoidismus zur Osteoporose führen. Klinik. Die Osteoporose manifestiert sich in Frakturen, die nach einem längeren subklinischen Stadium meistens zuerst an der Wirbelsäule auftreten. Häufiges Initialsymptom sind akute, heftige Rückenschmerzen beim Heben, Bücken oder nach inadäquaten Traumen. Sie werden durch Kompressionsfrakturen der Wirbelkörper verursacht, deren Prädilektionsstellen zwischen der mittleren Brustwirbelsäule und der oberen Lendenwirbelsäule liegen. Oft handelt es sich dabei nur um Mikrofrakturen der Spongiosa, die dennoch sehr schmerzhaft sind. Manche Patienten haben chronische, weniger intensive Rückenschmerzen, die sich im Stehen und bei plötzlichen Bewegungen verstärken. Rezidivierende Frakturen führen schließlich zur Keilwirbelbildung und dadurch zu einer hohen thorakalen Kyphose, dem typischen Altersrundrücken. Weitere Schwachstellen für osteoporosebedingte Frakturen sind Oberschenkelhals, Handgelenk und Radius. Diagnostik. Röntgenbefunde: Die typischen Osteoporosezeichen an den
Wirbelkörpern sind Spongiosaaufhellung, verstärkte Randleisten und eine überwiegend vertikale Trabekelzeichnung. Die horizontal orientierten Trabekel werden relativ stärker rarefiziert (. Abb. 9.19). Unter dem Quellungsdruck der Bandscheiben nehmen die geschwächten Wirbelkörper allmählich eine bikonkave Form an. Deckplatteneinbrüche lassen sie schließlich keilförmig zusammensintern. An den Phalangen und langen Röhrenknochen wird die Kortikalis dünner und verliert an Dichte. Im Gegensatz zum Hyperparathyreoidismus bleibt der Außenrand jedoch scharf, weil die Resorption vom Endost her erfolgt. Bestimmung der Knochendichte: Auf konventionellen Röntgenbildern wird die Osteoporose erst sichtbar, wenn der Mineralgehalt des Knochens um 30–50% abgenommen hat. Sie sind deshalb zur Beurteilung der Knochendichte ungeeignet. An quanti-
811 9.3 · Krankheiten der Knochen und der Nebenschilddrüsen
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. Abb. 9.19a, b. Osteoporose der Wirbelsäule mit multiplen Kompressionsfrakturen der Wirbelkörper. a LWS, b BWS. »Rahmenstruktur« der Wirbelkörper mit Rarefizierung der Spongiosastruktur. Während in der LWS (a) die grobbogigen Impressionen der Grund- und Deckplatten überwiegen (Fischwirbel), fallen in der BWS (b) keilförmige Kompressionsfrakturen auf, die zur Zunahme der Brustkyphose führen (aus Reiser u. Stäbler: Internist 8/2000)
a
tativen Bestimmungsmethoden der Knochendichte stehen zur Verfügung: 4 Duale Röntgenabsorptiometrie (DXA = DRA): Mit der im Routinebetrieb häufig eingesetzten Methode wird die Absorption von 2 Röntgenenergien in der LWS oder im proximalen Femur gemessen. Es handelt sich um eine Zweidimensionale Scanningtechnik, die nicht die Knochentiefe erfasst. Die Befunde werden zu denen von Normalpersonen in Beziehung gesetzt. 4 Quantitative Computertomographie (QCT): Die Methode ermöglicht eine echte Dichtemessung (Masse pro Volumeneinheit). Gemessen wird im LWS-Bereich, hier aber nur die Spongiosadichte (ohne kortikale Elemente). Die Ergebnisse sind mit denen der DAX-Methode nicht vergleichbar, zumal sie nicht am Femur gewonnen wurden. 4 Ultraschall: Gemessen wird die Abschwächung des Schallstrahls durch den Knochen oder die Geschwindigkeit mit der er den Knochen passiert. Nur mit Hilfe der Dichtemessungen ist es möglich, das asymptomatische Frühstadium bzw. ein erhöhtes Osteoporoserisiko zu erkennen. Das Risiko einer Schenkelhalsfraktur wird am besten mit der DXA-Methode erfasst, das einer Wirbelkörperfraktur am sichersten mit der QCT. Laborbefunde: Die Serumkonzentrationen von Calcium, anorganischem Phosphor, alkalischer Phosphatase, intaktem Para-
b
thormon, 1,25-(OH)2D und Calcitonin liegen im Normbereich. Damit sind ein Hyper- und ein Hypoparathyreoidismus auszuschließen. Nach osteoporotischen Frakturen kann die alkalische Phosphatase vorübergehend erhöht sein. Als Indiz für eine Steigerung der Knochenresorption werden Abbauprodukte des TypI-Kollagens, die sog. Crosslinks (Pyridinolin, Deoxypyridinolin), die C- und N-Telopeptide sowie Hydroxyprolin vermehrt im Urin ausgeschieden. Die postmenopausale Osteoporose geht bei 20% der Patientinnen mit einer Hyperkalziurie einher. Beckenkammbiopsie: Als diagnostischer Eingriff nur in Zweifelsfällen indiziert, vor allem zum Ausschluss eines Plasmozytoms und einer Mastozytose, ferner zur Abgrenzung gegen eine Osteomalazie sowie bei Verdacht auf eine renale Osteodystrophie oder einen Morbus Paget. Die Knochenbälkchen sind bei der Osteoporose verschmälert, aber normal mineralisiert und haben keinen verbreiterten Osteoidsaum. Differenzialdiagnosen. Bei Abnahme der Knochendichte und Spontanfrakturen der Wirbelkörper ist eine idiopathische oder altersbedingte Osteoporose erst anzunehmen, wenn hämatologische Systemerkrankungen (Plasmozytom, Lymphome, Leukämien, Mastozytose), primäre oder metastatische Knochentumoren (Mammakarzinom, Prostatakarzinom etc.), primärer Hyperparathyreoidismus, renale Osteopathie, Glukokortikoidtherapie bzw. Morbus Cushing, Osteomalazie und Morbus Paget auszuschließen sind. Benötigt werden dazu Anamnese, körperliche
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Kapitel 9 · Krankheiten des Bewegungsapparates
Untersuchung, Laboruntersuchungen, bildgebende Verfahren und evtl. eine Knochenbiopsie. Therapie. Behandlung osteoporotischer Frakturen Oft tritt die Osteoporose erst durch Schenkelhals- oder vertebrale Kompressionsfrakturen in Erscheinung. Erstere sind eine Domäne der Chirurgie und werden meistens mit Hüftgelenksersatz behandelt. Spongiosafrakturen, die gewöhnlich auf die LWS beschränkt
sind, verursachen sehr intensive Schmerzen. Die Patienten benötigen für einige Zeit Bettruhe und Schmerzmittel. Wenn NSAID nicht ausreichen, müssen Opioide gegeben werden. Manchmal wird durch intravenöse Injektionen von Calcitonin eine Linderung erreicht. Calcitonin wirkt dabei als Analgetikum. Die sofort einzuleitende spezifische Osteoporosebehandlung wird erst nach längerer Zeit wirksam. Gewöhnlich hören die intensiven Beschwerden nach 4–8 Wochen auf. Unter den Analgetika sollte schon vorher mit mobilisierender Physiotherapie begonnen werden. Ernährung, Calcium, Vitamin D
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Im Alter nimmt die enterale Calciumresorption ab. Hinzu kommt oft ein relativer Mangel an Vitamin D, teils durch ungenügende Zufuhr mit der Nahrung (Heimverpflegung), teils durch verminderte Sonnenlichtexposition. Als Calciumquellen sollten mehr Milch und Milchprodukte konsumiert werden. Zur Prophylaxe und Basisbehandlung der Osteoporose sind pro Tag 500 mg Calcium und 500–1000 IE Vitamin D3 (Cholecalciferol) angezeigt. > Eine Überdosierung von Vitamin D3 muss wegen der Gefahr von Nebenwirkungen (z.B. Hyperkalzämie, Weichteilverkalkungen, Nephrokalzinose) vermieden werden.
Eine laborchemische Überwachung (Serumcalcium, Serumphosphat und evtl. PTH) der Patienten mit eventuell norwendiger Anpassung der Dosierung ist erforderlich. Medikamente Östrogene: Zahlreiche Studien belegen, dass eine Östrogensubs-
titution die Knochenresorption in der Postmenopause hemmt und die Frakturrate herabsetzt. Die Östrogene greifen an den Osteoblasten an und drosseln deren stimulierenden Einfluss auf die Osteoklasten. Andererseits wird das Risiko, an koronarer Herzkrankheit und Mammakarzinom zu erkranken, durch die Östrogenersatztherapie signifikant erhöht. Deswegen hat sich die Women’s Health Initiative in den USA kürzlich gegen jede längerfristige Östrogenbehandlung in der Postmenopause gewandt. Alternativ kommen selektive Estradiol-Rezeptor-Modulatoren (SERMs) für die Osteoporosetherapie in Betracht. Raloxifen ist eine Substanz diesen Typs. Als Östrogenagonist wirkt es nur auf Knochen und Leber, nicht aber auf den Uterus. An der Brustdrüse hat es sogar einen antiöstrogenen Effekt.
Biphosphonate: Es handelt sich um Analoga des anorganischen Pyrophosphats, die im Knochen durch direkte inhibitorische Effekte auf die Osteoklasten antiresorptiv wirken und in der Osteoporosetherapie zum Standard geworden sind. Präparate sind: 4 Alendronsäure: Dosis morgens 10 mg/Tag oder 70 mg 1mal/Woche. 4 Risedronsäure: Dosis morgens 5 mg/Tag.
Beide Medikamente müssen 30 Minuten vor dem Frühstück eingenommen werden, gefolgt von einem Glas Wasser. Danach soll für 30 Minuten eine aufrechte Körperhaltung eingenommen werden, um Ösophagusreizungen zu vermeiden. Parathormon: In hohen Dosen kontinuierlich appliziert, bewirkt
Parathormon Demineralisierung und Osteopenie. Intermittierend verabreicht, stimuliert es jedoch die Knochenbildung. In mehreren Studien wurde gezeigt, das die Knochenmasse der Spongiosa zunimmt, während sich an der Kompacta nichts ändert. Kandidaten für die Parathormontherapie sind Frauen mit vertebralen Kompressionsfrakturen. Im Handel ist ein humanes PTH-Fragment (1–34) mit voller Wirksamkeit (Teriparatid). Davon werden 20 μg/Tag s.c. injiziert. Behandlungsdauer maximal 18 Monate. Gleichzeitig sollen Calcium und Vitamin D gegeben werden. 9.3.7 Osteomalazie Definition. Knochenerweichung im Erwachsenenalter durch mangelhafte Mineralisation der organischen Grundsubstanz. Die Mineralisationsstörung des wachsenden Skeletts (bis zum Epiphysenschluss) und ihre Auswirkungen auf die Skelettentwicklung fallen unter den Begriff der Rachitis. Vorkommen und Häufigkeit. Osteomalazie und Rachitis sind in den westlichen Industrieländern durch Vorbeugungsmaßnahmen und gute Ernährung selten geworden. In China, Indien, Nordafrika und im Mittleren Osten trifft man sie noch relativ häufig an. Hauptursache ist ein Vitamin-D-Mangel infolge ungenügender kutaner Vitamin-D-Synthese (dunkles Hautkolorit, zu wenig Sonnenlichtexposition durch Verschleierung und Verbleiben in Wohnzelten). Hinzu kommen Vitamin-D-arme Ernährung und vielleicht eine Calciumresorptionsstörung durch den Phytinsäuregehalt der reichlich konsumierten Zerealien. Mit subklinischen D-Hypovitaminosen ist auch in westlichen Breiten zu rechnen. So fand man in Boston bei der Mehrzahl der stationären Patienten einer medizinischen Klinik mäßig bis stark erniedrigte Serumkonzentrationen von 25-Hydroxy-Vitamin-D. Im Erwachsenenalter begünstigt leichter bis mittelgradiger Vitamin-D-Mangel das Entstehen einer Osteoporose. Zur Osteomalazie kommt es erst, wenn das Vitamin-D-Defizit so groß wird, dass eine Hypophosphatämie resultiert.
813 9.3 · Krankheiten der Knochen und der Nebenschilddrüsen
Ätiologie. Die Mineralisation der Knochenmatrix erfordert am Osteoid ausreichende Konzentrationen von Calcium- und Phosphationen sowie die Ausschaltung von Inhibitoren der Calciumphosphatablagerung. Aus unterschiedlichen Ursachen sind bei der Osteomalazie und bei der Rachitis einzelne oder mehrere dieser Bedingungen nicht erfüllt. Ausfall des Vitamin D: Folgende Ursachen kommen in Betracht: 4 Vitamin-D-Mangel: Aufgrund von spärlicher Sonnenlichtexposition (inadäquate endogene Synthese), Vitamin-D-armer Ernährung oder Resorptionsstörungen des fettlöslichen Vitamin D (intestinale Malabsorption, hepatobiliäre Erkrankungen, exkretorische Pankreasinsuffizienz). 4 Störungen des Vitamin-D-Stoffwechsels: 5 Mangelhafte 25-Hydroxylierung von Vitamin D in der Leber: Bei fortgeschrittener Leberzirrhose (selten). 5 Beschleunigter Abbau von Vitamin D in der Leber zu inaktiven Metaboliten: Bei langzeitiger Kombinationsbehandlung mit antiepileptischen Medikamenten (Primidon, Phenytoin, Carbamazepin). 5 Mangelhafte renale 1-Hydroxylierung von 25-(OH)D zu Calcitriol: Bei autosomal-rezessiv erblichem Defekt der 25-(OH)D-1α-Hydroxylase und erworbenem Defizit des Enzyms bei chronischer Niereninsuffizienz. 5 Calcitriol-Resistenz: Unwirksamkeit des Calcitriols infolge unterschiedlicher autosomal-rezessiv erblicher Defekte seines intrazellulären Rezeptor-Proteins. Hypophosphatämie: Sie kann folgende Ursachen haben: 4 Phosphatmangel: Vorkommen bei jahrelanger Einnahme
phosphatbindender Antazida. Ein nutritives Phosphatdefizit entsteht nur durch Hunger, da Phosphate in den Nahrungsmitteln weit verbreitet sind. Auch chronische Diarrhöen führen nicht zur Hypophosphatämie. 4 Renale Phosphatverluste: Häufigste Ursache sind tubuläre Nierenerkrankungen mit gesteigerter Ausscheidung von anorganischem Phosphat. 5 X-chromosomale Hypophosphatämie (Phosphatdiabetes, Vitamin-D-resistente Rachitis): Dominantes, familiär
und sporadisch auftretendes Erbleiden. Es besteht eine Störung der Phosphatrückresorption im proximalen Tubulus. Besonderheiten dieser Rachitisform sind das Fehlen einer proximalen Myopathie und eine Zunahme der Knochenmasse, die im Erwachsenenalter fortschreitet und mit einer kalzifizierenden Enthesopathie an der Wirbelsäule und den Gelenken assoziiert ist. 5 Autosomal-rezessive Hypophosphatämie mit Hyperkalziurie: Es besteht ein tubulärer Defekt der Phosphatrück-
resorption. Manifestationen: Rachitis mit Myopathie, Hypophosphatämie, Normokalzämie, erhöhtem Plasmaspiegel von 1,25-Dihydroxy-Vitamin-D und vermehrter renaler Calciumausscheidung.
5 Idiopathische hypophosphatämische Osteomalazie im Erwachsenenalter: Seltenes Krankheitsbild mit klinisch
ausgeprägter Osteomalazie, proximaler Myopathie und Enthesopathie. 5 Onkogene hypophosphatämische Osteomalazie:
Kommt bei benignen oder malignen Geschwülsten überwiegend mesenchymalen Ursprungs (Hämangiome, Fibrome, Riesenzelltumoren) vor. Sie sezernieren ein Polypeptid (Phosphatonin), das an der Niere angreift. Nach totaler Tumorentfernung heilt die Osteomalazie vollständig aus. Renale tubuläre Azidosen: (7 Kap. 3.3.2) Zur Entstehung einer Rachitis bzw. Osteomalazie tragen bei diesen teils hereditären, teils erworbenen Azidoseformen mehrere Mechanismen bei. 4 Erstens wird durch die Azidose die renale Hydroxylierung von 25-(OH)D zu 1,25-(OH)2D und damit die enterale Resorption von Calcium und Phosphat gehemmt. 4 Zweitens nimmt bei der Azidose die proximale Calciumrückresorption ab, während der Calciumbestand des Skeletts vermehrt als Säurepuffer in Anspruch genommen wird. 4 Drittens liegt beim Typ II der renalen tubulären Azidose meistens ein Fanconi-Syndrom mit herabgesetzter proximaler Phosphatrückresorption und daraus resultierender Hypophosphatämie vor, die den Mineralisationsprozess stark beeinträchtigt. Pathogenese. Mangel an Vitamin D: Der für die Mineralisation notwendige Vitamin-D-Metabolit Calcitriol wird entweder in zu gerin-
ger Menge gebildet oder er trifft auf einen defekten Rezeptor. Konsequenzen: Ungenügende Aktivierung des Calcitriolrezeptors → Rückgang der intestinalen Calciumresorption → Hypokalzämie → sekundärer Hyperparathyreoidismus → Steigerung der Knochenresorption (Osteopenie), Wiederanstieg des Plasmacalciums (in schweren Fällen persistierende Hypokalzämie), Hyperphosphaturie → Hypophosphatämie → verzögerte und mangelhafte Mineralisation des Osteoids. Bei der Rachitis ist auch die Mineralisation der Knorpelmatrix in der Epiphysenfuge inadäquat. Es kommt zur Elongation, Desorganisation und Auftreibung des Säulenknorpels in der Wachstumszone und zur Störung der enchondralen Ossifikation. Die Kortikalis wird durch den sekundären Hyperparathyreoidismus demineralisiert. Die Folgen sind Epiphysendysplasie, verzögerter Fontanellenschluss und Knochenverbiegungen. Die Ursache des Versagens der Vitamin-D-abhängigen Calciumresorption kann eine Hypophosphatämie sein. Bei isolierter chronischer Hypophosphatämie verhindert der Mangel an Phosphationen eine normale Mineralisation des Osteoids. Da kein Calciumdefizit besteht, kommt es im Gegensatz zum Vitamin-D-Mangel nicht zum sekundären Hyperparathyreoidismus und folglich zu keiner Osteopenie. Die Knochendichte, zu der auch das Osteoid beiträgt, steigt sogar häufig an.
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Kapitel 9 · Krankheiten des Bewegungsapparates
Klinik. Schleichend beginnende Skelettschmerzen, die bei Belastung zunehmen und mit der Zeit große Heftigkeit erreichen können. Sie treten bei der Osteomalazie generalisiert auf, während der Schmerz bei der Osteoporose eher lokalisiert mit den Prädilektionsstellen Wirbelsäule, Schultern, Becken, Oberschenkel und Fersen auftritt. Schmerzauslösend wirkt die Zerrung und Dehnung des Periosts durch Muskeln und Bänder. Nur in schweren Fällen kommt es zu Deformierungen wie O-Beinen, Glockenthorax, Kyphoskoliose oder Kartenherzbecken. Unabhängig von den Skelettveränderungen entwickelt sich eine proximale Muskelschwäche, die zu Gangstörungen (Watschelgang) führen kann. Die Ursache dieser Myopathie ist ungeklärt. Die klinischen Erscheinungen der Rachitis seien hier kurz zusammengefasst: 4 Nachgeben der Schädelknochen bei Fingerdruck (Kraniotabes) 4 unproportional großer Schädel mit plattem Hinterkopf (Caput quadratum) 4 verzögerter Fontanellenschluss 4 Auftreibung der Knorpel-Knochengrenze der Rippen (»Rosenkranz«) 4 becherförmige Auftreibung der distalen Enden von Radius, Ulna, Tibia und Fibula 4 Brustkorbdeformitäten 4 Sitzbuckel 4 O-Beine.
Hinzu kommen Adynamie der Muskulatur, »Froschbauch« durch Hypotonie der Bauchmuskeln, verzögertes Gehen lernen und in schweren Fällen eine hypokalzämische Tetanie. Diagnostik. Röntgenbefunde: Eine generalisierte Abnahme der Knochendichte (Osteopenie) und Verschmälerung der Kortikalis haben
Osteomalazie und Osteoporose gemeinsam. Abweichend von der Osteoporose findet man bei der Osteomalazie eine Konturunschärfe trabekulärer und kortikaler Grenzflächen, die den Knochenaufnahmen ein verwaschenes Aussehen gibt. Durch die Ablagerung von überschüssigem Osteoid können trotz gestörter Mineralisation Bezirke mit erhöhter Knochendichte entstehen. Pathognomonisch sind die Looser-Umbauzonen, Aufhellungsbänder mit Rändern höherer Dichte, die senkrecht zur Kortikalis verlaufen und nicht den gesamten Schaft durchziehen (. Abb. 9.20). Dabei handelt es sich um Infraktionen, deren Spalt mit Osteoid ausgefüllt ist. Ein ausgeprägter sekundärer Hyperparathyreoidismus führt zur subperiostalen Knochenresorption an den Phalangen, ferner zur Verbreiterung des Symphysenspaltes und der Sakroiliakalgelenke. Zu den typischen Röntgenzeichen der Rachitis gehören verbreiterte Epiphysefugen und becherförmige Metaphysen mit ausgefranster Begrenzung. Laborbefunde: Sie lassen sich in nachstehende Kategorien unterteilen.
. Abb. 9.20. Osteomalazie mit Looser-Umbauzonen in der Ulna (aus Zeidler et al.: Interdisziplinäre klinische Rheumatologie. Springer, Berlin 2001)
4 Konstellation bei Vitamin D-Mangel, Störungen des Vitamin D-Stoffwechsels und Vitamin D-Resistenz: Hypokalzämie, Hypophosphatämie, erhöhte Aktivität der alkalischen Serumphosphatase und Hypokalziurie. Als Zeichen des sekundären Hyperparathyreoidismus erhöhtes Serum-PTH und gesteigerte Ausscheidung von cAMP in den Urin. Bei Mangel an Vitamin D ist sein Hauptmetabolit im Serum, das 25(OH)D erniedrigt, während das 1,25-(OH)2D (das durch PTH-Stimulation erhöht sein müsste) niedrig-normal oder ebenfalls erniedrigt ist. 4 Konstellation bei chronischer Hypophosphatämie: Normokalzämie, erhöhte Aktivität der alkalischen Serumphosphatase, Hyperphosphaturie. Keine Erhöhung des SerumPTH. 4 Konstellation bei renaler glomerulärer Osteodystrophie: Hypokalzämie, Hyperphosphatämie, erhöhte Aktivität der alkalischen Serumphosphatase, Harnstoff und Kreatinin im Serum erhöht, 25-(OH)D normal oder erniedrigt, 1,25-
815 9.3 · Krankheiten der Knochen und der Nebenschilddrüsen
(OH)2D erniedrigt oder niedrig normal. Serum-PTH erhöht, Hypokalziurie. 4 Konstellation bei azidotischen Formen der Osteomalazie und Rachitis: Hypokalzämie, Hypophosphatämie, erhöhte Aktivität der alkalischen Serumphosphatase, Kreatinin und Harnstoff im Serum hoch normal oder normal. Serum PTH erhöht, Hyperkalziurie. Knochenbiopsie mit Tetrazyklinmarkierung: Sichert in Zweifelsfällen die Diagnose Osteomalazie. Im histologischen Bild unentkalkter Knochenstanzen aus dem Beckenkamm tragen im Normalfall weniger als 27% der Knochenbälkchen einen Osteoidsaum. Bei der Osteomalazie sind bis zu 100% der Bälkchenoberfläche mit einer verbreiterten Osteoidschicht bedeckt. Tetrazyklin markiert im gesunden Knochen die Kalzifizierungsfront, nach einmaliger Gabe in Form eines dünnen unter UV-Licht sichtbaren Fluoreszenzstreifens. Eine zweite Gabe nach 10–21 Tagen erzeugt parallel dazu einen zweiten Streifen, dessen Abstand zum ersten ein Maß für die Mineralisationsrate darstellt. Bei der Osteomalazie findet man keine scharf abgegrenzte Tetrazyklineinlagerung. Therapie. Exogener Vitamin-D-Mangel (Fehlernährung, Sonnenlichtdefizit): Die prophylaktisch effektiven Dosen von 100 IE für Erwach-
sene und 400 IE (10 μg) für Kinder sind während 6–12 Wochen auf Tagesdosen von 800–4000 IE zu erhöhen. Alternativ können über den gleichen Zeitraum einmal wöchentlich 50.000 IE gegeben werden. Calcium und Phosphat sind ausreichend zuzuführen. Meistens genügen die in der Nahrung enthaltenen Mengen. Die Heilung erfolgt innerhalb einiger Wochen. Vitamin-D-Malabsorption: Orale Applikation von Vitamin D in Tagesdosen von 50.000–100.000 IE, kombiniert mit großen Calciumdosen (täglich 4 g Calciumcarbonat). Alternative: 10.000 IE/Tag intramuskulär. Stoffwechselstörungen des Vitamin D: Substitution mit hohen Dosen von 25-Hydroxy-Vitamin-D, zuverlässiger mit Calcitriol (0,25–1,0 μg/Tag). Vitamin-D-Resistenz: Auf Höchstdosen von Calcitriol spricht nur die Hälfte der Patienten an. Bei den übrigen ist eine fortlaufende intravenöse Calciumsubstitution erforderlich. Hypophosphatämie: Orale Phosphatsubstitution, kombiniert mit 1,25-(OH)2D in angepasster Dosierung, um eine Hypokalzämie mit sekundärem Hyperparathyreoidismus zu vermeiden. Alkaligaben bei renalen tubulären Azidosen. Tumorresektion bei onkogener Osteomalazie. 9.3.8 Osteopetrosis Definition. Seltene erbliche Störungen der Osteoklastenfunktion, verbunden mit einer Massen- und Dichtezunahme des knöchernen Skeletts, teilweise auch mit Knochenmarkinsuffizienz.
Synonyme. Albers-Schönberg- oder Marmorknochenkrank-
heit. Ätiologie und Pathogenese. Die maligne infantile Form wird autosomal-rezessiv, die benigne adulte Form autosomal-dominant übertragen. Eine intermediäre, autosomal-rezessiv erbliche Form, ist mit einer renalen tubulären Azidose vom Typ I assoziiert. In unterschiedlichem Grad liegt bei allen Formen eine Funktionsstörung der Osteoklasten vor, deren Zahl normal oder herabgesetzt sein kann. Die Folge ist eine Hemmung der Knochenresorption, während die Knochenbildung normal verläuft und das Knochenmark verdrängt. Primär handelt es sich um genetische Defekte der hämatopoetischen Stammzellen, von denen die Osteoklasten über die Monozytenreihe abstammen. Bei der infantilen Form ist auch die Fähigkeit der zirkulierenden Monozyten zur Produktion von Superoxiden defizitär und dadurch die Infektresistenz herabgesetzt. Klinik und Therapie. Infantile Osteopetrosis: Manifestation bei der Geburt oder im
Säuglingsalter. Die Vermehrung und Verdichtung der Knochensubstanz führt zur Schädelvergrößerung mit Verengung der Austrittsstellen für die Hirnnerven. Komplikationen: Optikusatrophie mit Erblindung, Gehörnervenschädigung mit Schwerhörigkeit bis zur Taubheit. Die Verdrängung des Knochenmarks stimuliert die extramedulläre Hämatopoese mit Hepatosplenomegalie. Eine Remission aller Veränderungen ist durch frühe Stammzellentransplantation von einem HLA-kompatiblen Spender möglich. Damit ist die Schlüsselrolle der hämatopoetischen Stammzellen für die infantile Osteopretosis erwiesen. Vorübergehende palliative Wirkung hat Calcitriol. Adulte Form: In 50% der Fälle asymptomatisch. Die Diagnose wird bei diesen Patienten im Jugend- oder Erwachsenenalter erst bei einer Röntgenuntersuchung aus anderem Anlass gestellt. Manifestationen sind Frakturen, Osteomyelitiden und Hirnnervenlähmungen. Extramedulläre Hämatopoese und Blutbildveränderungen kommen nicht vor. Im Serum sind Calcium, Phosphor und alkalische Phosphatase normal. Dagegen ist die saure Serumphosphatase häufig erhöht. Der Verlauf ist gutartig, eine Therapie nicht erforderlich. Intermediäre Form: Der genetische Defekt betrifft das in den Osteoklasten und Tubuluszellen vorkommende Enzym Carboanhydrase II. Die Osteoklasten können folglich keine Salzsäure zur Knochenresorption sezernieren und die Tubulusepithelien nur vermindert H-Ionen ausscheiden. Hauptmanifestation der Osteopterosis sind rezidivierende Frakturen. Auch Osteomyelitiden kommen vor. Die Basalganglien weisen Kalkeinlagerungen auf. Die Therapie beschränkt sich auf die Korrektur der Azidose.
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Kapitel 9 · Krankheiten des Bewegungsapparates
9.3.9 Morbus Paget Definition. Chronische Skeletterkrankung mit herdförmigem Knochenumbau unter starker Beschleunigung des lokalen Knochenumsatzes. Von Paget (1877) als Osteitis deformans bezeichnet. Vorkommen und Häufigkeit. Die Verbreitung des Morbus Paget ist wegen der zahlreichen asymptomatischen Fälle schwierig zu bestimmen. Sie scheint unter der weißen Bevölkerung ziemlich gleichmäßig zu sein. In Europa ergaben Autopsieserien, dass von den Männern im mittleren Alter 3–4% und im höheren Alter 10–15% befallen waren. Das Verhältnis von Männern zu Frauen unter den Erkrankten wird mit 3:2 angegeben. In 14% der Fälle ist die Familienanamnese positiv, was auf eine genetische Disposition hinweist. In Asien und Schwarzafrika kommt der Morbus Paget offenbar selten vor. Ätiologie und Pathogenese. Die Krankheitsursache ist unge-
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klärt, wenngleich es Hinweise auf einen Virusbefall der Osteoklasten gibt. Ihre Zellkerne enthalten Einschlüsse, in denen Antigene, mRNA und Nukleokapside verschiedener Paramyxoviren nachgewiesen wurden. Der Knochenumbauprozess im befallenen Skelettareal durchläuft 3 Phasen, die im einzelnen Knochen auch nebeneinander angetroffen werden können: 4 Initiale osteolytische oder osteoporotische Phase: Abnorme Steigerung der Knochenresorption durch überaktive vielkernige Osteoklasten, die nicht durch eine entsprechende Zunahme der Osteoblastenaktivität kompensiert wird. Es kommt zu einer zirkumskripten Osteoporose, die am Schädeldach gut zu erkennen ist, an anderen Stellen jedoch übersehen werden kann. 4 Gemischte Phase: Folgt im Abstand von Jahren mit einer bis zu 20fachen Steigerung der Turnoverrate des Knochens, wobei sich exzessive Resorption und Neubildung entsprechend ihrer physiologischen Koppelung (7 Kap. 9.3.1) annähernd die Waage halten. Da neben lamellärem viel ungeordneter Geflechtknochen gebildet wird, verändert sich die Knochenarchitektur erheblich. Das Trabekelmuster wird grobsträhnig und unregelmäßig. Die Knochen nehmen an Umfang zu, ihre Kortikalis ist ungleichmäßig verdickt, das hämatopoetische Knochenmark wird durch ein lockeres, stark vaskularisiertes Stroma ersetzt. Der erkrankte Knochen verliert an Stabilität. Bei der Remodellierung kommt es unter dem Zug der Muskeln zu Deformierungen. Traumen führen leicht zu Infraktionen oder Querbrüchen. Infolge der gesteigerten Osteoblastenfunktion ist die Aktivität der alkalischen Serumphosphatase stark erhöht. 4 Osteoplastische oder sklerotische Phase: Nachlassen der osteoklastischen im Verhältnis zur osteoblastischen Aktivität mit Übergang in den ruhenden »ausgebrannten« Paget-Knochen. Durch Überwiegen der Knochenneubildung entstehen harte, sehr dichte und weniger vaskularisierte Skelettareale, deren Mark hauptsächlich aus Fettzellen besteht.
Sekundäre Tumoren: Im Paget-Knochen entstehen bei 2–4% der symptomatischen und Biphosphonate sind mit oralem Calcium (500 mg/Tag) und Vitamin D (1000 IE/Tag) zu kombinieren, um einer Osteoporose vorzubeugen.
4 Calcitonin: Wegen seiner zum Teil zentralen analgetischen Wirkung kommt es bei Nervenkompressionsschmerz in Betracht, Dosis: 50–100 IE Salm-CT subkutan, zunächst täglich. Zur Basistherapie wird es nicht mehr verwendet. Orthopädisch-chirurgische Eingriffe: Osteotomien bei Deformierungen von Femur und Tibia, Verschraubung von Frakturen, Gelenkersatz bei Destruktion der Hüft- und Kniegelenke.
9.3.10 Hereditäre Skelett- und Bindegewebe-
erkrankungen Erbliche Skeletterkrankungen betreffen primär die organische Knochenmatrix und damit vor allem die Kollagensynthese, deren Defekte sich zugleich am Bindegewebe des Knorpels, der Haut,
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Kapitel 9 · Krankheiten des Bewegungsapparates
der Augen und Gefäße sowie an Basalmembranen manifestieren können. Bisher sind 19 Kollagentypen bekannt. Das Osteoid besteht zu 90% aus dem Typ-I-Kollagen, während im Knorpel TypII-Kollagen vorherrscht. Neben verschiedenen Kollagentypen enthält das Bindegewebe von Haut, Bändern, Sehnen und Aorta elastische Fasern aus Elastin, assoziiert mit dem Glykoprotein Fibrillin. Die hydrophilen Proteoglykane sind im Knorpel reichlich, in den übrigen Bindegeweben und im Knochen nur spärlich vorhanden. Osteogenesis imperfecta Ätiologie und Pathogenese: Die überwiegend autosomal-domi-
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nant vererbte oder sporadisch auftretende Störung der Knochenbildung wird durch unterschiedliche Mutationen der für das TypI-Kollagen zuständigen Gene verursacht. Das Kollagenmolekül vom Typ I besteht aus zwei α1-Ketten und einer α2-Kette, die zu einer Tripelhelix verdrillt sind. Durch Anlagerung und Quervernetzung bilden jeweils 5 Moleküle pentamere Mikrofibrillen, die in der Längsrichtung verknüpft werden. In Osteoblasten bzw. Fibroblasten entstehen als primäre Genprodukte die Typ-I-Prokollagenketten α1 und α2. Erst nach der Tripelhelixbildung wird das Prokollagen in die extrazelluläre Matrix ausgeschieden, wo durch Abspaltung der endständigen Peptide von den drei Ketten das fertige Typ-I-Kollagenmolekül entsteht. Mutationen können am Gen für die α1-Kette oder am Gen für die α2-Kette des Prokollagens erfolgen. Insgesamt wurden bei der Osteogenesis imperfecta an den beiden Genen mehr als 150 unterschiedliche Mutationen gefunden. Vom Locus der Genmutation hängt es ab, welches Ausmaß die Synthesestörung und die klinischen Manifestationen erreichen. Klinik. Nach dem Schweregrad lassen sich in einer vereinfachten Klassifizierung 3 Erkrankungstypen unterscheiden: 4 Typ I: Häufigkeit unter Neugeborenen 1:30.000. Symptome: Blaue Skleren (verdünnte Kollagenschicht auf den Skleren), leicht erhöhte Knochenbrüchigkeit, die den Betroffenen verborgen bleiben kann, progrediente Schwerhörigkeit nach dem 30. Lebensjahr, bei manchen Patienten braun-gelbe Zahnflecken durch ungenügende Dentinbildung. 4 Typ II: Häufigkeit unter Neugeborenen 1:60.000. Letale Form mit Exitus in utero oder kurz nach der Geburt infolge multipler Knochenbrüche und Pneumonie. 4 Typ III: Häufigkeit unter Neugeborenen 1:20.000. Symptome: Weiße oder blaue Skleren, die im Erwachsenenalter weiß werden. Mittelschwere bis schwere Knochenbrüchigkeit bei herabgesetzter Knochendichte, die sich häufig nach der Pubertät bessert und erst im Alter wieder zunimmt, vor allem bei Frauen in der Postmenopause. Multiple Frakturen führen zu Deformierungen der Gliedmaßen und zur Kyphoskoliose mit Beeinträchtigung der Lungenfunktion. Die Zähne sind normal oder defekt. Schwerhörigkeit tritt fast immer ein. Durch basale Impression entsteht mitunter ein Hydrozephalus.
Weitere Auswirkungen sind habituelle Gelenkluxationen, Aorteninsuffizienz, Mitralklappenprolaps und Fragilität der großen Blutgefäße. Diagnose. Sie ergibt sich aus der typischen Befundkonstellation und der positiven Familienanamnese. Der Schweregrad der Erkrankung kann innerhalb einer Sippe variieren. Nicht wenige Fälle entstehen durch Neumutationen in den Keimzellen phänotypisch gesunder Väter oder Mütter. Schwere Skelettveränderungen lassen sich mit der pränatalen Sonographie von der 16. Woche ab nachweisen. Mutationen der Prokollagenketten sind mittels DNA-Sequenzierung in Chorionbiopsien schon in der 8–12 Woche zu erfassen. Therapie. Die Frakturen sind bei Kindern wenig disloziert und heilen unter üblicher Behandlung normal. Das Längenwachstum lässt sich mit Wachstumshormon verbessern, die Schwerhörigkeit durch eine Stapedektomie. Die Behinderung durch Deformierungen schließt erfolgreiche berufliche Karrieren nicht aus.
Ehlers-Danlos-Syndrom Ätiologie und Pathogenese. Das Syndrom umfasst erbliche Entwicklungsstörungen des Bindegewebes, die sich hauptsächlich in einer Überdehnbarkeit der Haut und Überstreckbarkeit Gelenke manifestieren. In den meisten Fällen liegen genetische Defekte der Kollagensynthese vor, die erst teilweise aufgeklärt sind. Einige betreffen die Prokollagene I, III und V. Auch das für die Kollagenvernetzung wichtige Enzym Lysyl-Hydroxylase kann mutationsbedingt defizitär sein. Klinik. Nach dem Erbgang, den klinischen Manifestationen und dem biochemischen Defekt lassen sich 10 Typen unterscheiden, mit einer Inzidenz von zusammen rund 1:5000. Viele leichte Fälle werden nicht erfasst. Die Organsymptome sind in variabler Ausprägung und Kombination anzutreffen. Haut: Überdehnbar, kann weit abgezogen werden, legt sich beim Loslassen wieder elastisch der Unterlage an. Durchscheinend mit sichtbaren Venen, leicht verletzlich, besonders an druckbelasteten Stellen (Ellenbogen, Knie), heilt mit atrophischen, pigmentierten Narben ab. Ekchymosen bei geringfügigen Traumen. Bänder und Gelenke: Überdehnbare Bänder, Gelenke schlaff und
überstreckbar, zu Spontanluxationen neigend. Leichte bis nicht reponierbare Dislokationen der Hüft- und Schultergelenke. Es kommen rasch progrediente Skoliosen vor. Senkfußbildung. Gefäße und Herz: Varikosis, Aneurysmen und Ruptur großer
Arterien (Aorta), Mitralklappenprolaps. Abdomen: Hernien, Divertikelrupturen, Uterusrupturen unter der Geburt, Blutungsgefahr bei Sektio und Episiotomie.
819 9.3 · Krankheiten der Knochen und der Nebenschilddrüsen
Augen: Kegelförmige Vorwölbung der Hornhautmitte (Kerato-
konus), Myopie, selten Fragilität der Sklera und Perforation des Augapfels. Therapie. Vermeidung von Traumen. Sorgfältige Wundnähte ohne Gewebespannungen. Operative Bänderverkürzung bei Luxationen problematisch, weil die Nähte schlecht halten. Prophylaxe. Sonographische Kontrolle der Aorta zur Früherkennung von Aneurysmen. Schwangerschaftsüberwachung. Prognose. Trotz der verschiedenen Komplikationen ist die Le-
entwicklung. Da der Rumpf eine normale Länge erreicht, resultiert ein disproportionierter Zwergwuchs. 4 Spondyloepiphysäre Dysplasie: Mangelhafte Entwicklung der epiphysären Knochenkerne und der Knochenkerne in den Wirbelkörpern. Folgen: Wachstumshemmung und Deformierung der Wirbelsäule, Achsendeviationen der Gliedmaßen, Gelenkschäden. 4 Spondylometaphysäre Dysplasie: Gestörtes Längenwachstum der Gliedmaßen und der Wirbelsäule. Folgen: Zwergwuchs mit Verkürzung von Rumpf und Gliedern.
benserwartung meistens normal. Osteochondrodysplasie Ätiologie und Pathogenese. Es handelt sich um eine Gruppe erblicher Skeletterkrankungen mit Störungen der enchondralen Ossifikation, die zu Zwergwuchs, abnormen Körperproportionen und zur Verkürzung der knorpelig vorgebildeten Schädelbasis führen. Gaumenspalten und bestimmte Augenveränderungen (Netzhautablösung, Katarakt, Phthisis bulbi) können hinzukommen. Der Erbgang ist autosomal-dominant oder autosomal-rezessiv, vereinzelt X-chromosomal. In der Mehrzahl der Fälle liegen Mutationen des Gens für einen Rezeptor des Fibroblastenwachstumsfaktors (FGFR3) vor. Häufig betroffen ist auch das Gen für das im Knorpelgewebe vorherrschende Kollagen vom Typ II. Die über 40 bekannten Mutationen dieses Gens rufen Krankheitsbilder unterschiedlichen Schweregrades hervor. Weitere Mutationen wurden an den Genen für die Kollagen-Typen IX, X und XI nachgewiesen. Es sind aber noch längst nicht alle Gendefekte bekannt. Den resultierenden enchondralen Ossifikationsstörungen liegen Anomalien der Proliferation, Reifung und Degeneration der Chondrozyten zugrunde. Die bindegewebige und periostale Knochenbildung (desmale Ossifikation) ist nicht beeinträchtigt. Klassifizierung. Nach genetischen, klinischen und radiologischen
Kriterien werden mehr als 150 einzelne Typen der Chondrodystrophie unterschieden, von denen die meisten sehr selten vorkommen. Auf das Befallsmuster von Gliedmaßen und Wirbelsäule nimmt folgende Einteilung Bezug: 4 Epiphysäre Dysplasie: Mangelhafte Entwicklung der epiphysären Knochenkerne an den Enden der langen Röhrenknochen und an den Endflächen der Wirbelkörper, wo sie im 12. Lebensjahr als platte ringförmige Knochenkerne auftreten. Folgen: Deformierungen der Wirbelsäule, Achsendeviationen der Extremitäten, Gelenkschäden. 4 Metaphysäre Dysplasie: Störung der metaphysären Ossifikation infolge mangelhafter Proliferation der Knorpelzellen in den Wachstumsfugen. Folgen: Gehemmtes Längenwachstum bei normalem Dickenwachstum der Gliedmaßen und ungestörter Epiphysen-
Von den zahlreichen Varianten der Chondrodystrophie können hier nur einige wichtige aufgeführt werden. Achondroplasie Mit 5 Fällen auf 100.000 Geburten ist es die häufigste Form. Vererbung autosomal dominant, bei 80% normaler Phänotyp der Eltern, also Spontanmutation. Symptome sind Zwergwuchs mit verhältnismäßig langem Rumpf und Verkürzung der Gliedmaßen. Schädel vergrößert mit verstärkt gewölbter Stirn und Sattelnase. Ausbildung einer lumbalen Hyperlordose mit Kippung des Beckens, die zusammen mit O-Beinen zum Watschelgang führt. Diastrophischer Zwergwuchs Autosomal-rezessiv erblicher, Minderwuchs mit verkürzten und verbogenen Gliedmaßen, Beugekontrakturen der großen Gelenke, Klumpfuß und abgespreizten Daumen (»Anhalterdaumen«). Der Kopf ist im Gegensatz zur Achondroplasie normal. Im Verlauf entstehen eine Hyperlordose der Lendenwirbelsäule und eine Kyphose der Hals- und Brustwirbelsäule. Etwa 10% der Patienten sind mental retardiert. Die Körpergröße im Erwachsenenalter beträgt 70–128 cm. Hypochondroplasie Autosomal-dominant vererbter, meistens sporadisch auftretender disproportionierter Minderwuchs. Bei der Geburt klinisch nicht erkennbar. Manifestiert sich erst im 2. oder 3. Lebensjahr. Schädel und Rumpflänge sind normal, die Gliedmaßen kurz und plump mit geringer Auftreibung der Metaphysen. Die Wirbelkörper haben eine normale Höhe. Körpergröße im Erwachsenenalter 130–148 cm. Spondyloepiphysäre Dysplasie Milde Form des disproportionierten Minderwuchses mit überwiegend X-chromosomal-rezessivem Erbmodus, die sich erst ab dem 10. Lebensjahr manifestiert. Symptome sind Kleinwüchsigkeit mit kurzem Rumpf, Rundrücken mit abgeflachten Wirbelkörpern, dazu Wachstumsstörungen und sekundäre Arthrose der Hüftgelenke. Maximale Körpergröße 130–152 cm.
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Kapitel 9 · Krankheiten des Bewegungsapparates
Marfan-Syndrom Definition. Erbliche Erkrankung des Bindegewebes mit Anomalien am Skelett, an den Augen und am kardiovaskulären System. Häufigkeit. Die Inzidenz beträgt bei den meisten Rassen und Völkern 1:10.000. Ätiologie und Pathogenese. Der Erbgang ist autosomal-dominant. Die meisten Patienten sind heterozygot für eine Mutation am Chromosom 15, die das Fibrillin-1-Gen betrifft. Das Glykoprotein Fibrillin-1 bildet zusammen mit dem amorphen Elastin die elastischen Fasern. Klinik. Der Schweregrad der Erkrankung, die im Kindesalter ma-
nifest wird, variiert erheblich. Skelettveränderungen: Graziler Hochwuchs, dünne, lange Fin-
ger und Zehen (»Spinnenfingrigkeit«), Dislokation des Sternums nach innen = Pectus excavatum (Trichterbrust) oder nach außen = Pectus carinatum (Hühnerbrust,), Kyphoskoliose, überstreckbare Gelenke, Plattfüße, spärliches Fettgewebe, Hernien.
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Kardiovaskuläre Veränderungen: Dilatation der Aortenwurzel und Sinus valsalvae. Komplikationen: Aorteninsuffizienz, Aortendissektion, Sinusruptur. Schon bei Jugendlichen Mitraklappenprolaps, zur Mitralinsuffizienz fortschreitend. Augenveränderungen: Subluxation oder Dislokation der Linse, nachweisbar nach Pupillenerweiterung und mit der Spaltlampe. Begünstigt die Katarktbildung. Meistens besteht eine Myopie, die bei höheren Graden zur Netzhautablösung disponiert. Das Sehvermögen bleibt in der Regel normal. Diagnostik. Bei Ausprägung aller drei Manifestationen und po-
sitiver Familienvorgeschichte unschwer zu stellen. Detaillierten Aufschluss ergibt die DNA-Analyse. Bei Mutationen, die in der Mitte des Fibrillin-1-Gens liegen, ist ein schwerer Phänotyp zu erwarten. Therapie. Kardiologische (echokardiographische) Überwachung.
Betarezeptorenblocker gegen die Progredienz von Aneurysmen. Die zur Progredienz neigende Kyphoskoliose bedarf physiotherapeutischer Behandlung. 9.3.11 Entzündliche Knochenkrankheiten Osteomyelitis Ätiologie und Pathogenese. Die häufigsten Erreger der infektiösen Knochenerkrankungen sind pyogene Bakterien und Mykobakterien. Am Inokulationsherd entsteht eine nekrotisierende eitrige Entzündung mit Ödem, die sich über die Havers- und Volkmann-Kanäle ausbreitet. Die darin verlaufenden Gefäße
werden durch den erhöhten intraossären Druck komprimiert oder durch Thromben verschlossen, so dass außer der entzündlichen eine ischämische Gewebeschädigung eintritt. Enzyme aus aktivierten Phagozyten entkalken die Knochensubstanz und bauen sie ab. Abgestorbene, devaskularisierte Fragmente (Sequester) werden aus dem Knochen herausgelöst. Wenn der Eiter die Kortikalis durchsetzt, kommt es zum subperiostalen Abszess, der bei Kindern durch Stimulation der Osteoblasten des Periosts manchmal eine schalenförmige Knochenauflagerung (Totenlade) erhält. Periostale Abszesse können in die Weichteile durchbrechen, falls sie von einer intrakapsulär gelegenen Metaphyse ausgehen auch in die Gelenke. Klinik. Nach der Eintrittspforte der Erreger lassen sich 3 Formen der akuten Osteomylitis unterscheiden, die auch bakteriologi-
sche und klinische Besonderheiten aufweisen: 4 Hämatogene Osteomyelitis: Überwiegend eine Erkrankung des Kindesalters. Prädilektionsstellen sind die gut perfundierten Regionen, weil dort die Erregerabsiedlung begünstigt ist, bei Kindern die Metaphysen der langen Röhrenknochen, bei Erwachsenen die markhaltigen Wirbelkörper. Letztere werden von Krankheitserregern über die A. spinalis oder retrograd über den paravertebralen venösen Plexus erreicht. Der primäre Infektionsherd, von dem die Bakteriämie ausging, bleibt bei Kindern nicht selten unerkannt. Symptome: Fieber, allgemeines Krankheitsgefühl, Schmerzen, Rötung und Schwellung an der betroffenen Extremität, bei vertebraler Osteomyelitis umschriebener Schmerz und reflektorische Muskelverspannung. Diagnostik: Initial nur Weichteilschwellung. Röntgenbefund: Nach 10 Tagen Periostreaktion, nach 2– 6 Wochen Osteolysen. Laborbefunde: Starke Beschleunigung der Blutsenkung und Leukozytose mit Linksverschiebung im Differenzialblutbild. Erregernachweis durch Aspiration aus dem Knochen. Bei Kindern dominiert Staphylococcus aureus, bei primären Infektionen des Urogenital- und des Gastrointestinaltraktes sind es gramnegative Erreger, bei Drogenabhängigen meistens gramnegative aerobe Bakterien (Pseudomonas aeruginosa). 4 Osteomyelitis durch direkte Inokulation: Nach offenen Frakturen, Schussverletzungen, Sternotomie und operativer Frakturbehandlung mit Nagelung. Symptome: Die Lokalsymptome können gering sein. Eindeutige Zeichen sind Schmerz, Schwellung und Rötung, auch die Lockerung eingebrachter Nägel oder Schrauben. Die häufigsten Erreger sind Staphylococcus aureus und Pseudomonas aeruginosa. 4 Osteomyelitis per continuitatem: Durch übergreifende Infektionen aus Weichteilverletzungen, Phlegmonen und Ulzera, besonders wenn diese auf dem Boden von Durchblutungs- und Stoffwechselstörungen entstanden sind (diabetischer Fuß). Am Schädel können Sinusitiden und Zahnherde
821 9.4 · Knochentumoren
in den Knochen vordringen. Im Erregerspektrum dominieren Staphylococcus aureus und Staphylococcus pyogenes. Bei Mitbefall des Knochens heilt der Entzündungsprozess nicht ab und bleibt meistens schmerzhaft. Röntgenbefund: Periostreaktion und Osteolyse. Chronische Osteomyelitis
Entwickelt sich meistens aus einer akuten Osteomyelitis, selten schleichend. Mark, Kompakta und Periost sind betroffen. Die Knochenstruktur ist unregelmäßig verdichtet, das Mark fibrosiert. Abszesshöhlen sind mit Granulationsgewebe ausgekleidet und enthalten oft Sequester, Fisteln führen nach außen, wo die angrenzenden Weichteile narbig verschwartet sind. Komplikationen: Rezidivierendes Erysipel, Anämie, Amyloidose. Therapie. Bei akuter hämatogener Osteomyelitis kann eine sofortige intensive Antibiotikabehandlung die Vereiterung verhindern. Am wirksamsten sind Cephalosporine der 3. Generation. Stets sollte ein Empfindlichkeitstest der Erreger vorausgehen. Im eitrigen Stadium Knochentrepanation zur Druckentlastung und Eiterentleerung. In jedem Fall Ruhigstellung, Analgetika nach Bedarf. Bei chronischer Osteomyelitis Aufmeißeln und Ausräumen des Herdes, Sequestrotomie, Spüldrainage mit Antibiotikazusatz, Ruhigstellung. An den Phalangen ist die Amputation oft nicht zu umgehen.
Knochentuberkulose Die hämatogene Aussaat in das Skelett erfolgt bereits im Primärstadium der Tuberkulose. Die Knochenerkrankung mit Periostitis, Ostitis und Osteomyelitis bricht aber erst nach einer Latenzzeit von 2–3 Jahren aus. Prädilektionsstellen sind die Wirbelsäule und die spongiösen Enden der Röhrenknochen, wo sich eine proliferierende, verkäsend-einschmelzende Entzündung ausbreitet. Charakteristisch ist die Tendenz zum Übergreifen auf die angrenzenden Weichteile (Senkungsabszesse, Fisteln) und Gelenkeinbrüche. Diagnostik. Das Allgemeinbefinden kann ungestört sein. Schmerzen treten bei Druck, Stauchung und Belastung auf. Die Röntgenuntersuchung mit Schichtaufnahmen und CT deckt Einschmelzungen, Sequester und Randsklerosen auf. Im Gegensatz zu unspezifischen Osteomyelitiden bleibt eine ausgeprägte reaktive Periost- und Kortikalisverdickung aus. Die Diagnose ergibt sich aus dem lokalen Befund und der begleitenden Lungenoder Urogenitaltuberkulose. Therapie. Tuberkulostatika in Dreierkombination (Isoniazid, Rifampin, Pyrazinamid), zusätzlich Streptomycin bei der Notwendigkeit einer operativen Herdausräumung. Behandlungsdauer 6–12 Monate. Ruhigstellung mit Lagerungsschiene bzw. Liegeschale.
9.4
Knochentumoren Benigne Tumoren 5 Chondrom 5 Chrondrobastom 5 Osteochondrom (Kartilaginäre Exostose) 5 Osteoidostom 5 Osteoblastom 5 Osteoklastom (Riesenzelltumor) 5 Hämangiome Maligne Tumoren 5 Osteosarkom 5 Chondrosarkom 5 Fibrosarkom 5 Ewing-Sarkom Skelettmetastasen
9.4.1 Benigne Tumoren Chondrom Lappig-knolliger Tumor aus hyalinem Knorpel. Das Chondrom kann weiterwachsen und bösartig werden. Röntgenbefund: Scharf begrenzte Aufhellung zentral im Knochen (Enchondrom) oder mehr exzentrisch gelegen (periostales Chondrom). Chondroblastom Rundlicher Tumor aus relativ undifferenziertem Gewebe. Entsteht bei Kindern vor dem Schluss der Epiphysenfugen. Immer gutartig bleibend. Röntgenbefund: Exzentrisch gelegene scharf begrenzte Aufhellung in der Epiphyse langer Röhrenknochen. Therapie. Bei Gelenkreizung auszuräumen und mit autologer Spongiosa aufzufüllen. Osteochondrom (kartilaginäre Exostose) Solitäre, große unregelmäßige Wucherung von teils knorpeligem, teils knöchernem Aufbau. Wächst von den Epiphysenfugen aus, manchmal als rein knorpelige Exostosen (Ekchondrom). Die Epiphysen bleiben frei. Durch Verdrängung oder Zerstörung der Wachstumsfugen können die betroffenen Extremitäten deformiert werden. Nach Abschluss des Körperwachstums keine weitere Größenzunahme. Osteoidosteom Der Kompakta aufsitzende umschriebene Knochenverdichtung mit einem strahlendurchlässigen Herd (Nidus), der histologisch aus teilweise verkalkten Osteoidbälkchen besteht, umgeben von
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822
Kapitel 9 · Krankheiten des Bewegungsapparates
Osteoblasten und sklerosiertem kompakten Knochen. Kommt bevorzugt bei Adoleszenten und jungen Männern vor. Lokalisation: In den Meta- und Diaphysen. Therapie. Bei anhaltendem Spontanschmerz operative Entfer-
nung des Nidus. Keine maligne Entartung, Spontanheilung möglich. Osteoblastom Großer osteoblastischer Tumor, histologisch dem Osteoidosteom ähnlich, mit größerem Nidus, aber weniger sklerosierend. Kommt bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen vor. Lokalisation: Wirbel (40%), Femur, Tibia, Humerus. Diagnostik. Biopsie. Therapie. Exkochleation oder Segmentresektion.
9
Osteoklastom (Riesenzelltumor) Epiphysär-metaphysär gelegene Osteolyse, die bis unter den Gelenkknorpel reichen kann. Die Kortikalis ist dünn und aufgetrieben. Kommt im Alter von 25–40 Jahren vor. > Nicht verwechseln mit den Osteoklastomen beim Hyperparathyreoidismus. Lokalisation: Hauptsächlich distaler Femurkopf, Schienbeinkopf
und distales Radiusende. In der Hälfte der Fälle gutartig bleibend, bei einem Drittel semimaligne, bei 15% bereits histologische Malignitätszeichen. Klinik. Schmerzen und Bewegungseinschränkungen am benachbarten Gelenk treten frühzeitig ein. Therapie. Möglichst radikale Ausräumung.
Hämangiome Wabig-zystische Auftreibungen der Hohlräume zwischen den Knochenbälkchen an Wirbelsäule, Schädel und anderen Knochen. Sie stellen kavernöse Blutdepots dar oder sind mit Bindegewebe durchbaut. Verursachen an der Wirbelsäule manchmal Beschwerden und neurologische Symptome. Meistens ist keine Therapie erforderlich. 9.4.2 Maligne Tumoren Osteosarkom Häufigster, sehr bösartiger vom primitiven Stroma abzuleitender Knochentumor mit zweigipfliger Altersverteilung (Adoleszenz und jenseits des 50. Lebensjahres). Lokalisation: Vorwiegend an den Metaphysen der langen Röhrenknochen, bei 50% in der Nachbarschaft des Kniegelenkes. Wächst teils osteoblastisch, teils osteolytisch, durchbricht die
Knochengrenzen und infiltriert die Weichteile. Frühe Metastasierung, häufig Mikrometastasen in der Lunge. Diagnostik. Röntgenbefund: Verdichtete (osteoblastische) und osteolytische
(osteoklastische) Bezirke, unscharf begrenzt, angenagte Konturen. Weichteilanteil im Angiogramm abgrenzbar. Beste Darstellung des Tumors im Kernspintomogramm, der Metastasen im Knochenszintigramm. Die Diagnose wird durch eine Biopsie gestellt. Therapie. Nach Biopsie Chemotherapie und danach Radikaloperation (Amputation mit Sicherheitsabstand) gefolgt von nochmaliger Chemotherapie. Überlebensraten nach 5 Jahren 50% und darüber.
Chondrosarkom Von differenziertem Knorpelgewebe ausgehender Tumor, langsamer wachsend und später metastasierend als das Osteosarkom. Häufigkeitszunahme mit dem Lebensalter. Lokalisation: Becken, Schultern, stammnahe Röhrenknochen. Diagnostik. Röntgenbefund: Mehr strahlendurchlässiges Tumorgewebe von
wabig-blasiger Transparenz, auch dichte, amorph verkalkte Areale. Nach Durchwachsen der Kortikalis extraossäre Ausbreitung. Therapie. Wegen Resistenz gegen Bestrahlung und Chemotherapie kommt nur die Radikaloperation in Betracht.
Fibrosarkom Seltenes bindegewebiges Malignom, in zentralen Bereichen des Knochens (zentrales Fibrosarkom) oder im Periost (paraossales Fibrosarkom) gelegen. Bevorzugt befallen sind die Metaphysen der langen Röhrenknochen. Diagnostik. Röntgenbefund: Osteolysen mit geringer oder keiner Randskle-
rose. Langsames Wachstum und späte Metastasierung. Therapie. Gegen Chemotherapie weitgehend resistent.
Ewing-Sarkom Sehr bösartiges, undifferenziertes Rundzellensarkom des Knochens mit Ursprung im Knochenmark, das Kinder und bevorzugt männliche junge Erwachsene befällt. Klinik. Die weiche, von Nekrosen und Blutungen durchsetzte Geschwulst führt örtlich zu Schmerz und Schwellung. Begleitsymptome wie Fieber, Blutsenkungsbeschleunigung und Leukozytose können eine Osteomyelitis vortäuschen. Hauptlokalisation sind die Meta- und Diaphysen der langen Röhrenknochen.
823 9.4 · Knochentumoren
Diagnostik. Röntgenbefund: Osteolyse mit streifiger und gesprenkelter Ma-
serung (»Mottenfraß«), spindelförmige »Knochenauftreibung« und »Zwiebelschalenformation« durch Periostabhebung. Frühzeitige multilokuläre Aussaat. Therapie. Gutes Ansprechen auf Chemotherapie und Gammastrahlen. Reihenfolge des Procedere: 1. Chemotherapie 2. Operation 3. Bestrahlung
9.4.3 Skelettmetastasen Die sekundären Knochentumoren sind häufiger als die primären. Hauptsächlich gehen sie von Karzinomen der Mamma, der Bronchien, der Prostata, der Schilddrüse und der Nieren aus. Die Aussaat erfolgt meistens auf dem Blutweg, bei Urogenitalkarzinomen auch lymphogen oder per Kontakt. Nach Lunge und Leber liegt das Skelett als Absiedlungsort an dritter Stelle. Multiple Metastasen dominieren gegenüber solitären. Betroffen sind in erster Linie Wirbelsäule, Becken, Rippen, proximales Femurende und Humerus. Diagnostik. Röntgenbefund einschließlich CT und Kernspintomogramm:
Osteolytische Defekte mit unscharfer Randbegrenzung (Hypernephrom, Schilddrüsenkarzinom) oder mehr osteoblastische Verdichtungsherde (Prostatakarzinom). Es kommen auch gemischt osteolytisch-osteoblastische Metastasen (Mamma- und Bronchialkarzinom) vor. Therapie. Behandlung der Grundkrankheit. Operative Eingriffe haben bis auf die Entfernung eindeutig solitärer Metastasen nur palliativen Charakter.
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10 10
Infektionskrankheiten
10.1
Virusinfektionen – 827
10.1.1 10.1.2 10.1.3 10.1.4 10.1.5 10.1.6 10.1.7 10.1.8 10.1.9 10.1.10 10.1.11 10.1.12 10.1.13 10.1.14 10.1.15 10.1.16 10.1.17 10.1.18
Masern – 827 Röteln (Rubeolen) – 828 Varizellen Herpes zoster – 829 Infektionen durch Herpes-simplex-Viren – 831 Infektiöse Mononukleose – 832 Zytomegalie – 834 Pocken – 835 Virusinfektionen des Respirationstraktes – 835 Influenza – 837 Mumps – 839 Virusdysenterie – 840 Poliomyelitis – 841 Coxsackie-Virus-Infektionen – 842 ECHO-Virus-Infektionen – 843 Tollwut (Rabies) – 843 Von Arthropoden übertragene virale Zooanthroponosen – 844 Von Nagetieren übertragene virale Zooanthroponosen – 850 Infektionen durch Filoviren – 852
10.2
Bakterielle Infektionen – 852
10.2.1 10.2.2 10.2.3 10.2.4 10.2.5 10.2.6 10.2.7 10.2.8 10.2.9 10.2.10 10.2.11 10.2.12 10.2.13 10.2.14 10.2.15 10.2.16 10.2.17 10.2.18 10.2.19 10.2.20
Chlamydien-Infektionen – 853 Rickettsiosen – 855 Mykoplasma-Infektionen – 858 Staphylokokkeninfektionen – 859 Streptokokkeninfektionen – 862 Diphtherie – 865 Listeriose – 866 Tetanus – 868 Botulismus – 869 Meningokokkeninfektionen – 870 Gonorrhö – 872 Bartonellosen – 874 Legionellose – 875 Pertussis (Keuchhusten) – 876 Salmonellosen – 877 Shigellose (Bakterienruhr) – 880 Escherichia-coli-Infektionen – 881 Yersinien-Infektionen – 882 Cholera – 884 Campylobacter-Enteritis – 886
10 10.2.21 10.2.22 10.2.23 10.2.24 10.2.25 10.2.26
Brucellosen – 886 Tularämie – 887 Leptospirose – 887 Lyme-Borreliose – 888 Rückfallfieber – 890 Syphilis (Lues) – 891
10.3
Infektionen durch Protozoen – 894
10.3.1 10.3.2 10.3.3 10.3.4 10.3.5 10.3.6 10.3.7 10.3.8 10.3.9 10.3.10
Trypanosomiasis – 894 Leishmaniosen – 897 Malaria – 898 Toxoplasmose – 902 Amöbiasis – 904 Giardiasis – 905 Kryptosporidiose – 906 Isosporiasis – 907 Cyclosporiasis – 907 Mikrosporidiose – 907
10.4
Infektionen durch Helminthen – 908
10.4.1 10.4.2 10.4.3 10.4.4 10.4.5 10.4.6 10.4.7 10.4.8 10.4.9 10.4.10 10.4.11 10.4.12 10.4.13 10.4.14 10.4.15
Schistosomiasis (Bilharziose) – 908 Befall mit Leber- und Darmegel – 909 Paragonimiasis – 911 Taeniasis – 911 Diphyllobothriose – 912 Hymenolepiasis – 913 Echinokokkose – 913 Askaridiasis – 914 Enterobiasis – 915 Trichuriose – 916 Ancylostomatidose – 916 Strongyloidose – 917 Filariasis – 917 Dracunculiasis – 920 Trichinellose – 920
10.5
Pilzinfektionen – 921
10.5.1 10.5.2 10.5.3
Primäre Systemmykosen – 921 Opportunistische Systemmykosen Pneumozystis-Infektion – 925
10.6
Prionenkrankheiten – 926
10.6.1 10.6.2
Allgemeines – 926 Klinische Syndrome – 927
– 923
827 10.1 · Virusinfektionen
10.1
Virusinfektionen
Virusinfektionen Masern Röteln (Rubeolen) Varizellen (Herpes zoster) Infektionen durch Herpes-simplex-Viren Infektiöse Mononukleose Zytomegalie Pocken Virusinfektionen des Respirationstraktes 5 Rhinovirus-Infektionen 5 Coronavirus-Infektionen 5 RSV-Infektionen 5 Parainfluenzavirus-Infektionen 5 Adenovirus-Infektionen Influenza Mumps Virusdysenterie Poliomyelitis Coxsackie-Virus-Infektionen ECHO-Virus-Infektionen Tollwut (Rabies) Von Arthropoden übertragene Zooanthroponosen 5 Zentraleuropäische Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) 5 Weitere Virus-Enzephalitiden 5 Gelbfieber 5 Dengue-Fieber 5 Weitere Virusinfektionen mit hämorrhagischem Fieber – Rift-Valley-Fieber – Krim-Kongo-Fieber – Kyasanur-Forest- und Omsk-Fieber 5 Pappataci-Fieber (Sandfly Fever) 5 Weitere virale Fieber-Myalgie-Syndrome 5 Virale Polyarthritis-Rash-Syndrome Von Nagetieren übertragene virale Zooanthroponosen 5 Lymphozytäre Choriomeningitis 5 Lassa-Fieber 5 Südamerikanische hämorrhagische Fiebersyndrome 5 Hanta-Fieber 5 Pumonales Hanta-Virus-Syndrom Infektionen durch Filoviren 5 Marburg-Viruskrankheit 5 Ebolavirus-Infektion
10.1.1
Epidemiologie. Verbreitung weltweit. Durchseuchungsgrad früher sehr hoch, seit Einführung der Schutzimpfung in westlichen Ländern stark rückläufig. Am häufigsten erkranken Kinder im Vorschulalter. Ansteckungsmodus: Tröpfcheninfektion. Kontagiosität: 2 Tage vor Symptombeginn bis 4 Tage nach Auftreten des Exanthems. Klinik. Inkubationszeit: 10 Tage. Prodromalstadium: Fieber bis 40,6 °C, Unwohlsein, Appetit-
mangel, Konjunktivitis mit Lichtscheu, Rhinitis, Laryngitis, trockene Tracheobronchitis, zuletzt kalkspritzerartige weiße KoplikFlecken an der Wangenschleimhaut. Exanthemstadium: Beginnt 14 Tage nach der Infektion. Dunkelroter, grobfleckiger, auch konfluierender, makulopapulöser, nicht juckender Hautausschlag, der sich von kranial nach kaudal über den ganzen Körper ausbreitet (. Abb. 10.1). Klingt nach 4 Tagen in der Ausbreitungsrichtung unter bräunlicher Verfärbung allmählich ab, zuletzt schuppend. Das Fieber geht am 5. Tag des Exanthems zurück, bei Komplikationen verzögert. Krankheitsdauer insgesamt 10 Tage. Milder Verlauf bei partieller Immunität durch aktive oder passive Vakzination.
Masern
Erreger. Morbilli-Virus, ein RNA-Virus aus der Familie der Paramyxoviren.
10
. Abb. 10.1. Masernexanthem (aus Braun-Falco et al. Dermatologie und Venerologie. Springer, Berlin 2005)
828
Kapitel 10 · Infektionskrankheiten
Komplikationen: Häufiger bei Erwachsenen und immunsup-
primierten Patienten. Virusbefall der T-Lymphozyten schwächt die Immunabwehr und begünstigt bakterielle Superinfektionen.
10.1.2
Röteln (Rubeolen)
Erreger. Rötelnvirus, ein RNA-Virus aus der Familie der Togavi-
ren. Organmanifestationen: 4 Respirationstrakt: Sekundäre bakterielle Otitis media. Virale
oder sekundäre bakterielle Pneumonie. Reaktivierung einer Tuberkulose. 4 Gastrointestinaltrakt: Gastroenteritis, Hepatitis (Transaminasenanstieg), Adenitis mesenterialis, Appendizitis, Ileocolitis. 4 Zentralnervensystem: Parainfektiöse Enzephalitis zwischen dem 3. und 9. Tag nach Beginn des Exanthems. Wahrscheinlich durch eine immunologische Kreuzreaktion gegen Myelinproteine, nicht direkt durch das Virus bedingt. Mentale Retardierung und Epilepsie können zurückbleiben, Letalität 10%. Sehr selten ist eine subakute sklerosierende Panenzephalitis bei Kindern unter 2 Jahren, verbunden mit extrem hohen Antikörpertitern im Serum und Liquor. Diagnostik. Resultiert aus dem typischen klinischen Bild mit
10
Prodromie und Umgebungserkrankungen. Allergische Exantheme verursachen Juckreiz. Laboruntersuchung: Nachweis des Masernvirus im Sputumausstrich mit monoklonalen fluoreszierenden Antikörpern. Antikörperanstieg (IgM) 1–2 Tage nach Exanthembeginn.
Epidemiologie. Verbreitung weltweit, seit Einführung der Schutzimpfung rückläufig. Wegen geringer Anfälligkeit ist das epidemische Auftreten selten. Befällt überwiegend Schulkinder. Subklinische Infektionen sind häufig. Ansteckungsmodus: Tröpfcheninfektion, aber nur bei engem Kontakt, da das Virus außerhalb des menschlichen Körpers schnell inaktiv wird. Kontagiosität: 7 Tage vor und 7 Tage nach dem Auftreten des Exanthems. Klinik. Inkubationszeit: 12–23, im Durchschnitt 18 Tage. Prodromalstadium: Für 1–2 Tage Mattigkeit, Kopfschmer-
zen, leichte katarrhalische Erscheinungen, geringes Fieber. Bei Kindern bleiben Prodromi häufig aus oder unbemerkt. Exanthemstadium: Hellroter, diskreter, diffuser makulöser Hautausschlag. Am ersten Tag am deutlichsten im Gesicht und am Oberkörper, am zweiten Tag auf die Extremitäten und in die Peripherie übergehend (. Abb. 10.2). Schon am 3. und 4. Tag ab-
Differenzialdiagnosen. Scharlach, Mononukleose, Toxoplasmo-
se und Infektionen mit Mycoplasma pneumoniae sind bakteriologisch bzw. serologisch abzugrenzen. Prophylaxe. Passive Immunisierung: Zur Postexpositionsprophylaxe von
Säuglingen ab dem 4. Lebensmonat und schwächlichen Kleinkindern mit Standard-Gammaglobulin (0,25 ml/kg) oder frischem Elternblut intramuskulär. Aktive Immunisierung: Erstimpfung im 15. Lebensmonat, Zweitimpfung im 4. bis 5. Lebensjahr mit vermehrungsfähigem, virulenzabgeschwächtem Masernvirus, am besten in Form der kombinierten Maser-Mumps-Röteln-Vakzine. Die Restvirulenz kann zu Temperaturerhöhung und leichtem Exanthem führen. Kontraindikationen: Gravidität, Allergie gegen Hühnereiweiß, aktive Tuberkulose. Therapie. Vitamin A senkt bei Kindern, besonders in den Ent-
wicklungsländern Morbidität und Mortalität. Dosis 30–60 mg je nach Alter als Einmalgabe. Bei Patienten mit primärer Immunschwäche kommt Ribavirin in Betracht. Bei Sekundärinfektionen Antibiotika. Im Übrigen nur unterstützende Maßnahmen. . Abb. 10.2. Exanthem bei Röteln (aus Braun-Falco et al. Dermatologie und Venerologie. 5. Aufl., Springer, Berlin 2005)
829 10.1 · Virusinfektionen
blassend. Diskrete rote Flecken am Gaumen. Gleichzeitig Anschwellung der nuchalen, okzipitalen und retroaurikulären Lymphknoten, die schon vor dem Exanthem beginnt. Die Temperatur kann auf 38–38,5 °C ansteigen oder normal bleiben. Der Verlauf ist meistens leicht. Komplikationen: 4 Rubeolenembryopathie: Mütterliche Infektionen im ersten
Trimester der Schwangerschaft führen in 50% der Fälle zur Infektion des Feten mit Fehlbildungen an den gerade in Entwicklung begriffenen Organen: Katarakte (5. Woche), Herzund Gefäßfehlbildungen (5.–7. Woche), Innenohrschwerhörigkeit (8.–9. Woche), nach der 20. Woche noch isolierte Taubheit. Abortrate bei Infektion in den beiden ersten Monaten 14%. Beim Nachweis einer Rötelinfektion im ersten Trimester (IgM-Nachweis oder Titeranstieg) ist eine Interruption angezeigt. Wenn die Exposition weniger als 5 Tage zurückliegt, kann eine passive Immunisierung durchgeführt werden. 4 Arthritis: An Finger-, Hand- und Kniegelenken, fast nur bei Frauen. Spontanheilung nach einigen Wochen. 4 Thrombopenische Blutungen: In einem von 3000 Fällen, Dauer bis zu einigen Monaten. 4 Enzephalitis: Fünfmal seltener als nach Masern. Letalität 20–50%. Diagnostik. Klinisches Bild und Antikörpernachweis (ELISA): Im Serum IgM-Antiköper oder 4-facher Titeranstieg von IgGAntikörpern. Bei Verdacht auf konnatale Rötelinfektion Virusisolierung aus dem Nasensekret. Im Blutbild Leukopenie und atypische Lymphozyten. Prophylaxe. Passive Immunisierung: Mit Rötel-Immunglobulin zur Postex-
positionsprophylaxe in der Schwangerschaft. Zur Prophylaxe bzw. Mitigierung der Röteln und ihrer Komplikationen in jedem Lebensalter, möglichst kurz nach der Exposition. Aktive Immunisierung: Mit Röteln-Vakzine, am besten in Kombination mit Lebendimpfstoffen gegen Masern und Mumps (MMR) bei allen Kindern zwischen dem 12. und 15. Lebensmonat. Zur Verhütung der Embryopathie Impfung aller seronegativen Mädchen im Alter zwischen 11 und 14 Jahren. Keine Impfung 3 Monate vor und während einer Schwangerschaft. 10.1.3
Varizellen Herpes zoster
Erreger. Varizellen-Zoster-Virus (VZV), DNA-Virus aus der Familie der Herpesviren. Verursacht bei der Primärinfektion die Varizellen (Windpocken), bei der endogenen Reaktivierung den Herpes zoster (Gürtelrose).
10
Epidemiologie. Varizellen: Verbreitung weltweit, bei allen Rassen endemisch auf-
tretend, sehr ansteckend. Betroffen sind hauptsächlich Kinder zwischen dem 2. und 6. Lebensjahr. Herpes zoster: Reaktivierung des in Spinalganglien latent persistierenden Virus bei Immunitätsverlust im Alter (zwischen dem 60. und 80. Lebensjahr, 5–10 Fälle auf 1000 Personen) oder bei krankheitsbedingter Immunschwäche (z.B. Lymphome, Leukämien, immunsuppresive Therapie, Zustand nach Knochenmarktransplantation). Klinik. Varizellen Inkubationszeit: Im Durchschnitt 14–17 Tage. Symptome: Krankheitsbeginn meistens ohne Prodromi mit Fieber (37,8–39,4 °C) und einem juckenden, makulopapulösen Exanthem, dessen Effloreszenzen schnell vesikulär und vesikopustulär werden und nach dem Aufkratzen verkrusten (. Abb. 10.3). Typisch ist das schubweise Fortschreiten des Exanthems über einige Tage und das dadurch bedingte Nebeneinander von Effloreszenzen unterschiedlichen Alters. Am stärksten befallen werden Gesicht und Oberkörper. Läsionen treten auch am behaarten Kopf, an der Rachenschleimhaut und der Vagina auf. Der Schweregrad variiert erheblich. Nach 2–3 Wochen fallen die Krusten ab. Das Allgemeinbefinden ist gewöhnlich nur wenig beeinträchtigt. Komplikationen: Bakterielle Superinfektion der Haut nach Aufkratzen der Läsionen. Parainfektiöse Meningoenzephalitis 3– 10 Tage nach Beginn des Exanthems, meistens gutartig verlaufend. Varizellenpneumonien, bevorzugt bei Erwachsenen, mit hohem Fieber, Hämoptysen und pleuritischem Brustschmerz. Auch Myokarditiden, Nephritiden, Arthritiden und asymptomatische Hepatitiden kommen vor. Diagnostik. Zu sichern durch das typische Exanthem, eine zurückliegende Exposition und den Antikörpernachweis. Herpes Zoster Prodromi: Intensive, manchmal von Fieber begleitete Schmerzen
in einem Dermatom, in das die Viren aus dem entzündeten Spinalganglion entlang der sensiblen Nerven einwandern. Symptome: 48–72 Stunden nach Einsetzen der Schmerzen entsteht im Bereich eines Dermatoms ein makulopapulöses, oft bandförmiges Exanthem, dessen Effloreszenzen, schnell in Bläschen und Pusteln übergehen und später verkrusten (. Abb. 10.4). Nach dem Abfallen der Krusten kann die Haut normal oder atropisch sein. Am häufigsten sind die Dermatome T3–L3 betroffen, nicht selten aber auch die Trigeminusäste (hauptsächlich der N. ophthalmicus). Beim Zoster oticus treten Otalgien, Hypooder Hyperakusis, Drehschwindel und Erbrechen auf. Bei
830
Kapitel 10 · Infektionskrankheiten
. Abb. 10.4. Zoster im Segment Th6 links (aus Braun-Falco et al. Dermatologie und Venerologie. 5. Aufl., Springer, Berlin 2005)
Fällen die einzige Manifestation des Zosters bleiben, der dann nur serologisch zu erfassen ist.
10
. Abb. 10.3. Varizellen (aus Braun-Falco et al. Dermatologie und Venerologie. 5. Aufl., Springer, Berlin 2005)
schlechter Abwehrlage (in etwa 2–5% aller Fälle) kann sich ein generalierter Zoster mit kutaner Dissemination, Pneumonitis und Hepatitis entwickeln. Normalverlauf: Abheilung der Hautveränderungen in 10 Tagen bis 4 Wochen. Komplikationen: Hauptsächlich jenseits des 50. Lebensjahres monatelange quälende Neuralgien im betroffenen Dermatom nach Abheilung der Hautläsionen. Bakterielle Superinfektion der Effloreszenzen. Meningoenzephalitiden mit Fieber, Kopfschmerz und Erbrechen. Selten zerebrale granulomatöse Angiitis mit kontralateraler Hemiplegie. Diagnostik. Ergibt sich aus dem schmerzhaften Prodromalsta-
dium und der Begrenzung des Exanthems auf ein einzelnes Dermatom. In Zweifelsfällen Virusnachweis im Pustelabstrich mittels fluoreszierender monoklonaler Antikörper. Im neuralgischen Vorstadium ist die Diagnose kaum möglich. Es kann in seltenen
Prophylaxe. Isolierung erkrankter Personen. Möglichkeiten der Immunprophylaxe sind: 4 Passive Immunisierung: Mit Varizellen-Zoster-Immunglobulin vom Menschen innerhalb von 96 Stunden nach Exposition durch Personen mit Varizellen oder Zoster. Indikation: Bei immungeschwächten Kindern, immunkompetenten, empfänglichen Erwachsenen und Neugeborene frisch erkrankter Mütter. 4 Aktive Immunisierung: In den USA wird die Impfung mit abgeschwächter Varizellenvakzine (OKA) empfohlen bei: 5 Kindern vom vollendeten 1. bis zum 12. Lebensjahr, sofern sie noch keine Infektion hatten (eine Dosis) 5 seronegativen Erwachsenen (2 Dosen im Abstand von 4–6 Wochen). Das Ziel ist eine starke Eindämmung der Varizellen und des Zosters im Alter und bei Immungeschwächten. Die in Deutschland verfügbare Vakzine soll erst ab dem 12. Lebensjahr verwendet werden. 4 Medikamentöse Prophylaxe: Bei Risikopatienten jenseits der 96-Stunden-Grenze bis zu 7 Tagen nach der Exposition mit Valacyclovir oder Famciclovir. Therapie. Varizellen
Bettruhe während des Fiebers. Gute Hygiene mit täglichem Baden, Feuchtigkeit lindert Juckreiz. Kürzung der Fingernägel. Lokaltherapie mit Nebacetin- oder Thyrothricin-Puder gegen bakterielle Sekundärinfektion. Eine orale Behandlung mit Acyclovir (Zovirax ) kommt bei Erwachsenen (5×800 mg/Tag für 5–7 Tage) und Kindern 70%. Neu ist die Prophylaxe und Therapie mit Neuraminidase-Inhibitoren. Sie zerstören den Rezeptor für das Hämagglutinin des Virus und damit seine Ausbreitung. Präparate: 4 Oseltamivir (Tamiflu ) Dosis 2-mal 75 mg/Tag p.o. für 5 Tage 4 Zanamivir (Relenta ) Dosis pro Tag 2-mal 2 Inhalationen des Pulvers (3,6 mg) mit dem Diskhaler über 5 Tage. Für beide Präparate gilt, dass die Behandlung in den ersten 48 Stunden nach Symptombeginn erfolgen muss.
®
®
10
Antibiotika: Indiziert bei begründetem Verdacht auf eine bakte-
rielle Superinfektion, die meistens auch gut anspricht. In Betracht kommen Makrolide, Tetracycline, Aminopenicilline und penicillinasefeste Penicilline. Die Wirksamkeit sollte durch Resistenzprüfung in einer vor Therapiebeginn angelegten Bakterienkultur überprüft werden. Maßnahmen bei Komplikationen: Intensivbehandlung mit Sauerstoffzufuhr und Sekretabsaugung bei Schwerkranken. Nach Bedarf Herz- und Kreislaufmittel sowie Infusionen. Bei bedrohlicher exspiratorischer Dyspnoe durch ein Larynxödem Tracheotomie. 10.1.10
Mumps
Erreger. Mumpsvirus, ein RNA-Virus aus der Familie der Para-
myxoviren, von dem nur ein Antigentyp bekannt ist. Epidemiologie. Die auch als Parotitis epidemica oder Ziegenpeter bezeichnete Krankheit kommt weltweit vor. Ihre Häufigkeit ging in den Ländern mit verbreiteter aktiver Schutzimpfung der Kinder stark zurück, so in den USA von 152.209 berichteten Fällen im Jahre 1968 auf 1.537 im Jahre 1994. Früher traten Epidemien alle 2–5 Jahre auf, meistens im Winter und Frühjahr. Betroffen waren hauptsächlich Kinder im Alter zwischen 5 und 15 Jahren. Gegenwärtig herrschen kleinere Endemien vor, in Schulen, Lagern, beim Militär und in Populationen mit großer Wohndichte. Dabei sind die Erkrankten bis zu 50% junge Erwachsene. Kinder bleiben im ersten Lebensjahr gewöhnlich verschont. Übertragung: Tröpfcheninfektion und Kontakt mit kontaminierten Gegenständen in der Umgebung der Infizierten. Die Erregerausscheidung beginnt 6 Tage vor und endet 3 Wochen nach Krankheitsausbruch. Während dieser Zeit besteht Kontagiosität. In einem Drittel der Fälle, die trotzdem ansteckend sind, verläuft die Infektion subklinisch. Klinik. Inkubationszeit: 14–18 Tage. In dieser Zeit Virusreplikation im
Epithel des oberen Respirationstraktes und Virämie mit Drüsenund ZNS-Befall. Prodromi: Mattigkeit, Kopf- und Gliederschmerzen, Anorexie, subfebrile Temperaturen. Dauer meistens einen Tag, selten bis zu einer Woche. Die entzündlichen Manifestationen der Mumpsinfektion erstrecken sich einzeln oder kombiniert auf die Parotis, das Pankreas, die Hoden und das ZNS. Nur sehr selten sind weitere Organe betroffen. Parotitis: Leitsymptom des Mumps mit meistens doppelseitiger,
oft im Abstand von 1–2 Tagen nacheinander auftretender Schwellung der Parotiden, die nach 2–3 Tagen ihr Maximum erreicht und den Raum zwischen Mastoid und Unterkiefer ausfüllt. Ver-
840
Kapitel 10 · Infektionskrankheiten
bunden mit Schmerzen beim Kauen, Schlucken und Sprechen sowie starker lokaler Druckempfindlichkeit. Die Temperatur kann für einige Tage auf 39 °C steigen. Manchmal Mitbeteiligung der submandibulären und sublingualen Speicheldrüsen. Allmählicher Rückgang der Schwellungen innerhalb einer Woche ohne Spätfolgen. Pankreatitis: Seltene Komplikation gegen Ende der ersten Woche
mit Übelkeit, Erbrechen und Oberbauchschmerzen. Bei Mitbeteiligung des Inselzellsystems flüchtige diabetische Stoffwechselstörung. Spontanremission in 1–2 Wochen. Orchitis: Vorkommen erst nach der Pubertät, in etwa 20% der Fälle. Manchmal einzige Manifestation des Mumps. Beginn der Orchitis eine Woche nach der Parotitis mit erneutem Temperaturanstieg und sehr schmerzhafter Anschwellung meistens nur eines Hodens auf das Mehrfache der normalen Größe. Eine Hodenatrophie kann zurückbleiben, betrifft aber nicht die Hormonbildung. Infertilität droht nur bei dem seltenen Befall beider Hoden. Bei Patientinnen bleibt eine Gonadenbeteiligung meistens verborgen, weil sie weitaus geringere Beschwerden verursacht.
10
Neurologische Manifestationen: Zwischen 5 und 15% der Kinder und Erwachsenen erkranken an aseptischer Mumps-Meningitis, die vor oder während der Parotitis auftritt, mitunter auch isoliert. Symptome sind Nackensteifigkeit, Kopfschmerzen und Benommenheit, im Liquor initial Segmentkernige und niedrige Zuckerwerte, kurz darauf nur Lymphozyten. Seltene Vorkommnisse: Fazialisparese, Diplopie, Optikusneuritis, Enzephalitis mit hohem Fieber, zerebelläre Ataxie und Querschnittsmyelitis. Meningitis und Paresen heilen folgenlos ab. Enzephalitiden können Defekte hinterlassen. Diagnostik. Kein Problem bei evidenter Ansteckungsquelle und
akuter doppelseitiger Parotitis. Virusnachweis im Speichel mittels Anzüchtung auf Gewebekulturen und immunologischer Identifizierung. Serologisch: Antikörpernachweis vom Typ IgM mit dem hochspezifischen Immunadsorptionstest (ELISA). Differenzialdiagnosen. Parotitiden durch andere Viren (Parainfluenzavirus Typ 3, Coxsackieviren, Influenzavirus A). Bakterielle Parotitis hinfälliger Patienten. Nichtentzündliche doppelseitige Parotisschwellungen bei Diabetes mellitus, chronischem Alkoholismus und Urämie, granulomatöse bei Sarkoidose und SjögrenSyndrom. Einseitige Parotisschwellung durch Parotismischtumoren, Zysten und bei Strikturen oder Speichelsteinen im Ausführungsgang. Prophylaxe. Vorbeugung gegen Ansteckung durch Isolierung der
Patienten bis zum Abklingen der Parotisschwellung. Aktive subkutane Schutzimpfung: Erfolgt mit abgeschwächter Lebendvakzine bei Kindern im Alter von 15 Monaten, am
besten zusammen mit der Masern-Mumps-Rötel-Vakzine. Zweitimpfung vor Schuleintritt. Die Impfung kann bei älteren Kindern und Erwachsenen nachgeholt werden. Junge Männer sollten so vor der Orchitis geschützt werden. In 95% der Fälle wird Dauerimmunität erzielt. Rekonvaleszenten sind lebenslang immun. Kontraindikationen gegen die Impfung: Behandlung mit Glukokortikoiden, immungeschwächte Empfänger, Schwangerschaft. HIV-Infizierte vertragen die Impfung. Therapie. Bettruhe bis nach der Entfieberung. Kalte oder warme
Kompressen auf die Parotisschwellungen, Analgetika, flüssigbreiige Kost, Mundpflege. Bei Orchitis Hochlagerung mit einem Kissen unter dem Skrotum, Alkoholumschläge. Bei Meningitis nur pflegerische Maßnahmen und Analgetika. Glukokortikoide werden bei schweren Entzündungsreaktionen empfohlen, sind aber umstritten. 10.1.11
Virusdysenterie
Erreger. Rotaviren: RNA-Viren mit 4 humanpathogenen Serotypen aus
der Familie der Reoviridae. Caliciviren: RNA-Viren, benannt nach kelchartigen Vertiefungen (calices) an ihrer Oberfläche. Darunter hauptsächlich das Norwalk-Virus aus dieser Familie. Die Dyenterieviren zerstören im Dünndarm die reifen Zellen an der Zottenspitze, deren Ersatz durch ungenügend resorbierende unreife Zellen zu osmotischen Diarrhöen führt. Epidemiologie. Verbreitung weltweit, Auftreten epidemisch, endemisch und sporadisch. Die meisten Menschen erwerben Antikörper gegen diese Viren, überwiegend im frühen Kindesalter. Die Mehrzahl der Infektionen verläuft subklinisch. Am häufigsten erkranken Säuglinge und Kinder unter 3 Jahren, Erwachsene vor allem im Alter und bei Immunschwäche. Rotaviren verursachen etwa 10% der Reisediarrhöen. Wegen unvollständiger und zeitlich begrenzter Immunität kommen Rezidive vor. Die Virusausscheidung im Stuhl kann lange persistieren, auch nach subklinischer Infektion. Übertragung: Fäkal-orale Schmierinfektion. Klinik. Inkubationszeit: 1–4 Tage. Prodromi: Unwohlsein, Kopfschmerzen, abdominale Miss-
empfindungen, mitunter Erkältungserscheinungen. Symptome: Bei Kleinkindern akuter Beginn mit Erbrechen, subfebrilen Temperaturen und wässerigen Diarrhöen. In schweren Fällen 10–40 Entleerungen pro Tag, die zur Exsikkose mit Leibkrämpfen führen können. Todesfälle im Kreislaufschock kommen vor. Dauer der Durchfälle 4–5 Tage, danach spontane Besserung. Häufiger sind die mittelschweren und leichteren Fälle, besonders bei Infektionen mit dem Norwalk-Virus.
841 10.1 · Virusinfektionen
Diagnostik. Im Gegensatz zu bakteriellen Dysenterien sind die
reichlichen wässrigen Stühle geruchlos und enthalten weder Erythrozyten noch Leukozyten. Bei Nahrungsmittelvergiftungen durch Staphylokokken beginnt der Brechdurchfall schon wenige Stunden nach dem Essen. Rotaviren lassen sich per Immunassay direkt im Stuhl nachweisen, da dieser das Virus in hoher Konzentration enthält. Das Norwalk-Virus ist im Stuhl schwieriger zu erfassen (zuverlässig mit der Polymerase-Kettenreaktion). Serologie: Spezifischer Antikörpernachweis im Serum für beide Virusarten. Therapie. In schweren Fällen Bettruhe. Orale bzw. intravenöse
Rehydratation. Bei Kindern ist manchmal die Klinikeinweisung erforderlich. Schutz vor Ansteckung durch sorgfältige Hygiene. Vakzine sind nicht verfügbar und wegen der befristeten Immunität fragwürdig. 10.1.12
Poliomyelitis
Erreger. Polioviren der Serotypen I, II und III mit einem
RNA-Genom, zugehörig den Enteroviren aus der Familie der Picornaviren. Die Enteroviren, zu denen auch Coxsackie- und Echoviren zählen, sind nach ihrer Eigenschaft benannt, sich im Darm zu vermehren. Darmerkrankungen verursachen sie nicht. Epidemiologie. Durch flächendeckende Vakzination konnte die
früher weltweite Verbreitung der Poliomyelitis auf wenige regionale Vorkommen in Afrika unterhalb der Sahara, im indischen Subkontinent und in einigen südlichen Republiken der früheren Sowjetunion reduziert werden. Einzelne in Europa und Nordamerika aufgetretene Fälle wurden aus diesen Regionen eingeschleppt. Die Kontagiosität ist sehr hoch, doch verlaufen die meisten Infektionen inapperent. Von einer Epidemie sprach man bei 5–10 Paralysefällen pro Jahr auf 100.000 Einwohner. Paralytische Formen werden begünstigt, wenn in der Inkubationszeit folgende exogene Faktoren einwirken: Traumen, Überanstrengung, Durchnässung, Sonnenbrand, Operationen (Tonsillektomie) und Gravidität. Ansteckungsmodus: Direkte Übertragung von Mensch zu Mensch über Fäzes und Rachensekret; indirekte Übertragung durch kontaminierte Fliegen, die Speisen und Getränke verunreinigen. Vereinzelte paralytische Fälle von Poliomyelitis kommen heute noch nach der oralen Impfung mit Lebendvakzine vor, bei den Empfängern, aber auch bei ungenügend geimpften Personen in deren Umgebung. Das Risiko erwies sich bei Säuglingen als erhöht, die während 30 Tagen nach Applikation des Impfstoffs irgendwelche intramuskulären Injektionen (z.B. Antibiotika) erhalten hatten. Klinik. Inkubationszeit: 7–9 Tage bis zum Beginn der Prodromi.
10
Prodromi: Fieber bis 39 °C, Kopf- und Gliederschmerzen, Mattigkeit, auch Halsweh und Husten, manchmal Erbrechen und Leibschmerzen. Dauer etwa 3 Tage. Die abortiven Verlaufsformen sind damit schon überstanden. Aseptische Meningitis: 5–6 Tage nach Beginn und 3 Tage nach dem Ende der Prodromi erneuter Fieberanstieg bis 39 °C, heftige Kopf- und Rückenschmerzen, Nackensteifigkeit, Erbrechen und Benommenheit. Auf dieser Stufe ist innerhalb von 4– 10 Tagen eine Abheilung der Poliomyelitis möglich (meningeale Form). Paralytisches Stadium: Von 100 Infizierten erreicht es bei Epidemien nur einer. Es beginnt nach dreitägiger Meningitis auf der Höhe des Fiebers, aus einer adynamischen Phase heraus. Durch Ganglienzellschädigung im Vorderhorn des Rückenmarks kommt es zu nicht streng symmetrischen schlaffen Paresen überwiegend proximaler Muskelgruppen, verbunden mit Tonusverlust, Muskelschmerz und Aufhebung der Eigenreflexe. Auch höhere Regionen des ZNS können befallen werden. Lokalisationstypen: 4 Spinale Form: Lähmung einzelner Muskelgruppen bis zur
Tetraplegie. Atemmuskellähmung (Zwerchfell und Interkostalmuskeln) bei Befall des Zervikalmarks. 4 Bulbopontine Form: Hirnnervenlähmung mit Schluckstörungen (Aspirationsgefahr) und zentraler Atemlähmung (Befall des Atemzentrums). Final auch Lähmung des Vasomotorenzentrums. 4 Bulbospinale Form: Kombination von spinalen und bulbären Lähmungen. 4 Enzephalitische Form: Hohes zentrales Fieber, Agitiertheit, Somnolenz, Krämpfe, extrapyramidale Zeichen, daneben häufig noch spinale und bulbäre Symptome. Verlauf: Neue Lähmungen treten 14 Tage nach Krankheitsbeginn nicht mehr hinzu. Die Rückbildung der Paresen nimmt Wochen oder Monate in Anspruch. Bei 50% der Patienten bleiben keine Residuen zurück, bei 25% leichte bis mittelschwere, bei 25% schwere Beeinträchtigungen. Mortalität bei Kindern 1–4%, bei Erwachsenen bis zu 10%. Diagnostik. Erregernachweis durch Anzüchtung aus Stuhl, Rachenabstrich oder Liquor in Gewebekulturen. Serologie: Titeranstieg der Antikörper (Neutralisationstest und Komplementbindungsreaktion) nach 8–14 Tagen. Polyneuritiden lassen sich klinisch durch den symmetrischen Befall peripherer Muskeln und zusätzliche Sensibilitätsstörungen von der Poliomyelitis unterscheiden. Prophylaxe. Durch aktive Immunisierung ist ein 100%iger Schutz
vor der Infektion mit dem Wildtyp-Stamm des Poliovirus zu erzielen, in absehbarer Zeit voraussichtlich auch die vollständige Eradikation der Poliomyelitis. Zur Verfügung stehen die trivalente orale Poliovirus-Vakzine (OPV) aus abgeschwächten Lebend-
842
Kapitel 10 · Infektionskrankheiten
viren und die inaktivierte Poliovirus-Vakzine (IPV), die i.m. appliziert wird. Im Jahr 2001 gab es nur noch 11 Länder, in denen WildtypPoliovirus übertragen wurde, hauptsächlich in Indien, Pakistan, Nigeria, Afghanistan und Somalia (insgesamt 476 Fälle). Neuerdings sind nun Poliomyelitisausbrüche durch Poliovirus aus der oralen Poliovakzine beobachtet worden (Haiti, Dominikanische Republik, Ägypten, Philippinen). Daraufhin wurde in den USA ein Programm zur Impfung aller Kinder mit IVP-Impfstoff aufgelegt. Schutzimpfung mit oraler Poliovirus-Vakzine (OPV): Wird heute nicht mehr empfohlen (7 oben). Schutzimpfung mit inaktivierter Poliovirus-Vakzine (IPV-e):
10
Gewährleistet Schutz vor Impfpoliomyelitis, da die Vakzine kein vermehrungsfähiges Virus enthält. Grundimmunisierung: Ab dem 3. Lebensmonat 2-mal im Abstand von 8 Wochen eine Impfdosis. Noch bessere Schutzimpfung, wenn die zweite Impfung 6 Monate nach der ersten erfolgt. Auffrischimpfungen: Im Abständen von 10 Jahren. Neuerdings wird zur Vermeidung der Impfpoliomyelitis empfohlen, Kindern ab 3. Lebensmonat im Abstand von 8 Wochen 2 Dosen IPV-e zu geben, gefolgt von 2 Dosen OPV. Die Impfung mit IPV-e ist auch für Erwachsene sicherer. Geeignet ist IPV-e für Patienten mit geschwächter Immunabwehr und HIV-Infektion. Kontraindikation: Schwangerschaft. Therapie. Antivirale Chemotherapeutika gegen die Poliomyelitis
gibt es nicht. Immunglobuline kommen zu spät. Bei Prodromi und Meningitis pflegerische Maßnahmen und Analgetika. Im paralytischen Stadium Lagerung, Überwachung der Atmung (cave: Lungenatelektase), heiße Packungen auf die gelähmten Muskelgruppen zur Schmerzlinderung. Bei bulbären Störungen Sondenernährung, bei respiratorischer Insuffizienz Tracheotomie und künstliche Beatmung. Orthopädische Nachbehandlung der Lähmungen. Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation. 10.1.13
Coxsackie-Virus-Infektionen
Erreger. Coxsackie-Viren der Gruppe A (24 Serotypen) und der Gruppe B (6 Serotypen), beide Enteroviren aus der Familie der Picornaviren mit einem RNS-Genom. Epidemiologie. Weltweite endemische Verbreitung mit hohem
Durchseuchungsgrad der Bevölkerung. Die meisten Infektionen verlaufen klinisch inapperent. Ansteckungsmodus: Fäkal-orale Schmutz- und Schmierinfektion. Die klinischen Manifestationen sind für beide Coxsackie-Virus-Gruppen unterschiedlich. Klinik. Infektionen mit Coxsackie-Virus A Inkubationszeit: 3–6 Tage.
Klinische Manifestationen:
4 Herpangina: Vorkommen am häufigsten bei Säuglingen und Kindern. Akuter Beginn mit Fieber, Kopf- und Muskelschmerzen. Dann stecknadelkopf- bis linsengroße Bläschen am vorderen Gaumenbogen, weichen Gaumen, an der Uvula und an den Tonsillen. 4 Sommergrippe: 2–5 Tage anhaltendes Fieber mit Kopf- und Gliederschmerzen während der Sommermonate. 4 Aseptische Meningitis bzw. Meningoenzephalitis: Nach 2– 5-tägigem Prodromalstadium mit den Symptomen der fieberhaften Sommergrippe folgt ein 1–2-tägiges Latenzstadium. Danach wieder Temperaturanstieg, starke Kopfschmerzen, Erbrechen und Nackensteifigkeit. Im Liquor lymphozytäre Pleozytose (50/3–500/3 Zellen) und leicht erhöhte Eiweißwerte. In 10% der Fälle leichte bis schwere enzephalitische Manifestationen (Bewusstseinsverlust, Tremor, Krämpfe, spastische Paresen). 4 Paralytische Erkrankung: Der Poliomyelitis ähnliches Krankheitsbild, meistens mit monophasischem Fieberverlauf und vorwiegendem Befall des Schultergürtels. Bessere Rückbildungstendenz der Lähmungen als bei der Poliomyelitis, keine ausgeprägten Muskelatrophien. 4 Fieberhafte Exantheme: Isoliert oder zusammen mit aseptischer Meningitis auftretend. Der Ausschlag ist rötelfömig, masernähnlich oder makulopapulös, auch hämorrhagisch und vesikulär. In manchen Fällen Bläschenbildung an Handtellern und Fußsohlen, kombiniert mit einer Stomatitis. Vorkommen hauptsächlich bei Kindern. Infektionen mit Coxsackie-Virus B Inkubationszeit: 2–6 Tage. Klinische Manifestationen: 4 Epidemische Pleurodynie (Bornholmer Krankheit): Akuter
Beginn mit Fieber und plötzlich auftretenden heftigen, oft intermittierenden Muskelschmerzen im unteren Thoraxbereich und Epigastrium, die sich bei tiefem Durchatmen und Husten verstärken. Die betroffenen Muskeln sind druckschmerzhaft und verhärtet. Zusätzlich bestehen Kopfschmerzen hinter den Augen. Auch die Kombination mit einer Meningitis ist möglich. Abklingen der Beschwerden nach 2– 4 Tagen. Rezidive nach Tagen oder Wochen kommen vor. Die Diagnose ist bei Epidemien nicht schwierig. In isolierten Fällen sind Oberbaucherkrankungen, Herzinfarkt und Pleuritis auszuschließen. 4 Myokarditis oder Perikarditis: Coxsackie-B-Viren (Typen B2 und B4) verursachen etwa ein Drittel der akuten Myokarditiden. Am häufigsten sind Neugeborene, Adoleszenten und junge Erwachsene betroffen. Den kardialen Manifestationen geht gewöhnlich ein fieberhafter Infekt der oberen Atemwege voraus. 5 Myokarditissymptome: Tachykardie, Zyanose, Kardiomegalie; im Echokardiogramm abnorme linksventrikuläre Wandbewegungen; im EKG abnorme ST-Segmente
843 10.1 · Virusinfektionen
und T-Zacken, Extrasystolie, Vorhofflimmern, Reizleitungsstörungen; in schweren Fällen, besonders bei Neugeborenen und Säuglingen kongestive Herzinsuffizienz mit Lungenstauung. Bei Myokardnekrosen Anstieg der Kreatininkinase im Serum. 5 Perikarditissymptome: Retrosternale Schmerzen, Reizhusten, Tachykardie, Dyspnoe, perikariditisches Reiben, Perikarderguss im Echokardiogramm, ST-Hebung im EKG. Die Perikarditis tritt isoliert auf oder als Begleitperikarditis bei einer Myokarditis. Prognose: In den meisten Fällen Spontanheilung innerhalb einiger Wochen. Todesfälle bei Neugeborenen nicht selten, bei Erwachsenen nur vereinzelt. Einige Patientin bleiben symptomatisch und haben nach Jahren eine dilatative Kardiomyopathie. 4 Aseptische Meningitis bzw. Meningoenzephalitis: Klinisches Bild wie bei der Infektion mit Coxsackie-Virus A (7 oben). Diagnostik. Virusnachweis bei der Herpangina im Rachenspül-
wasser oder -abstrich, ansonsten im Stuhl bzw. Liquor. Isolierung des Typ A im Tierversuch an der saugenden Maus, des Typ B in Zellkulturen. Serologie: Sie sichert ein 4facher Titeranstieg der Antikörper gegen Coxsackie-Virus A bzw. B im Neutralisationstest und bei der Komplementbindungsreaktion. Letztere ist nur 4–5 Monate positiv, während neutralisierende Antikörper lebenslang nachweisbar bleiben. Therapie. Sie beschränkt sich auf Bettruhe, Analgetika und Antipyretika. Weder eine Schutzimpfung noch antivirale Chemotherapeutika stehen gegen die Coxsackie-Viren zur Verfügung.
10.1.14
ECHO-Virus-Infektionen
Erreger. Gruppe der ECHO-Viren (34 Serotypen), zugehörig den RNA-haltigen Enteroviren aus der Familie der Picornaviren. Epidemiologie. Endemische Verbreitung weltweit. Hoher Durchseuchungsgrad mit überwiegend inapparenten Infektionen, meistens schon im Kindesalter. Ansteckungsmodus: Schmier- und Schmutz-, selten Tröpfcheninfektion. Nach Erregervermehrung im Darmtrakt kommt es über eine Virämie zum Organbefall (Zentralnervensystem, Haut, obere Luftwege). Klinik. Inkubationszeit: 5–10 Tage. Aseptische Meningitis: Endemien durch die Typen 4, 6, 9, 16
und 30. Akuter Krankheitsbeginn mit Kopfschmerzen, Nackensteifigkeit und Fieber. Nicht selten von einem Exanthem begleitet. Im Liquor bis zu 1000/3 Zellen (Lymphozyten). Nur selten enze-
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phalitische Manifestationen mit Somnolenz, motorischer Unruhe und Halluzinationen. In der Regel Spontanheilung ohne Residuen. In der Rekonvaleszenz vegetative Regulationsstörungen. Fieberhaftes Exanthem: Beginn mit Temperaturanstieg. Oft erst bei der Entfieberung makulopapulöse Effloreszenzen von 1–2 mm Durchmesser, vorwiegend im Gesicht, auf der Brust und am Rücken. Manchmal zugleich Bläschen und Ulzerationen an der Mundschleimhaut. Respiratorische Infekte: Schnupfen, Halsschmerzen, Kopfund Gliederschmerzen bei mäßigem Fieber. Verursacht durch die Typen 4, 7, 11, 20 und 28. Diagnostik. Erregernachweis in der Rachenspülflüssigkeit, im Stuhl oder im Liquor durch Anzüchtung in der Gewebekultur. Ein positiver Stuhlbefund kommt auch bei Gesunden vor. Serodiagnose retrospektiv bei 4fachem Titeranstieg der neutralisierenden Antikörper im Serum. Therapie. Keine Möglichkeit der Schutzimpfung und spezifischen Behandlung. Beschränkung auf symptomatische Maßnahmen.
10.1.15
Tollwut (Rabies)
Erreger. Rabies- oder Lyssavirus, ein RNA-Virus aus der Familie der Rabdoviren. Besondere Affinität zum Nervengewebe erlangt das Virus durch ein Glykoprotein an seiner Oberfläche, das sich mit Azetylcholinrezeptoren verbindet. Epidemiologie. Primär ist die Tollwut eine epidemisch und endemisch in den meisten Regionen der Erde verbreitete Zoonose. Erregerreservoir: In Europa und Amerika Füchse und andere Wildtiere, in Asien Wölfe und Hunde, in Mittel- und Südamerika Blut saugende Fledermäuse (Vampire), in Afrika Schakale. Übertragung: Von Tier zu Tier durch Biss, Lecken frischer Wunden, Verzehr infizierter Beute und virushaltige Aerosole in Fledermaushöhlen. Aus den Wildtierreservaten schwappt die Infektion auf Haustiere (Hund, Katze) über, die zur Hauptinfektionsquelle für den Menschen werden. Häufigster Übertragungsmodus in Europa ist der Biss durch einen tollwütigen Hund. Aus infektiösem Tierspeichel kann das Virus auch durch zerkratzte Haut und intakte Schleimhaut eindringen. Alle Säugetiere können an Tollwut erkranken. Dagegen bleiben Fledermäuse gesund, obwohl ihr Speichel eine hohe Viruskonzentration aufweist. In Mexiko und Südamerika infizieren sie ganze Rinderherden. Am empfänglichsten sind Hunde und Füchse. Der Biss eines infektiösen Tieres führt beim Menschen in 30– 60% der Fälle zur Tollwut. Gesichtsverletzungen sind erheblich gefährlicher als Bisse ins Bein. Bei einer Letalität von 100% ist pro Jahr weltweit mit 30.000 Todesfällen an Tollwut zu rechnen. Die Inkubationszeit bei Hunden und Katzen beträgt 3–8 Wochen. Kontagiosität, d.h. Erregerausscheidung mit dem Speichel, besteht vom Ende der Inkubationszeit bis zum Tod des Tieres, der
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Kapitel 10 · Infektionskrankheiten
in allen Fällen innerhalb der ersten 10 Krankheitstage eintritt. Die klinischen Stadien der Tollwut sind bei Hund und Mensch sehr ähnlich (7 unten). Klinik. Inkubationszeit: In 90% der Fälle 20–90 Tage. Bei Gesichtsverlet-
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zungen kürzer (Durchschnitt 35 Tage) als bei Extremitätenverletzungen (Durchschnitt 52 Tage). An der Eintrittspforte verweilt das Virus etwa 6 Tage. Es vermehrt sich dort in den quergestreiften Muskelzellen, dringt dann in den sensorischen Nerven langsam bis zum Rückenmark vor und von hier aus ziemlich schnell ins Gehirn, wo es sich erneut stark vermehrt. Anschließend gelangt das Virus über efferente, vorwiegend autonome Nervenbahnen in viele Organe und Gewebe, darunter die Speicheldrüsen, die es reichlich ausscheiden. Das klinische Bild wird von den multiplen Läsionen des ZNS bestimmt. Im Zytoplasma befallener Neuronen entstehen aus viralem Nukleoprotein die für die Tollwut typischen Negri-Körperchen. Prodromalstadium: Unwohlsein, Schwäche, Anorexie, Fieber, raues Gefühl in der Kehle. Typisch: Schmerzen oder Parästhesien an der Bissstelle (vermutlich durch Läsionen im zugehörigen Spinalganglion). Dauer 1–4 Tage. Erregungsstadium: Beginn 2–10 Tage nach den Prodromi. Symptome: Hohes Fieber, exzessive motorische Aktivität, Agitiertheit, periodische Erregungszustände bis zu Tobsuchtsanfällen, Verwirrtheit, Halluzinationen. Dazu faszikuläre Muskelzuckungen, Tremor und tonisch-klonische Krämpfe. Bei Schluckversuchen schmerzhafte spastische Kontraktionen der Schlundmuskulatur, auch schon beim Anblick von Getränken (Hydrophobie). Oft tritt bereits in dieser Phase nach 3–4 Tagen im Koma der Exitus ein. Lähmungsstadium: Schließt an das Erregungsstadium an mit Augenmuskellähmungen, Hemiparese der betroffenen Körperseite, aufsteigender schlaffer Lähmung und finaler Lähmung des Atem- und Kreislaufzentrums. Die Überlebenszeit nach Beginn der klinischen Tollwutsymptome beträgt maximal 20 Tage. Diagnostik. Intra vitam durch Erregernachweis mittels Immun-
fluoreszenz in einem Abklatschpräparat von der Kornea oder in Hautbiopsien. Post mortem Virusisolierung in Zellkulturen oder durch Verimpfen auf Säuglingsmäuse. Eine Serodiagnostik ist wegen der spät einsetzenden Antikörperbildung nicht möglich. Die serologische Untersuchung kann aber zur Überprüfung des Impfeffektes dienen.
Prophylaxe. Postexpositionsprophylaxe
Die Empfindlichkeit des Rabiesvirus gegen desinfizierende Mittel und sein langsames Vordringen zum ZNS ermöglichen auch nach der Ansteckung noch eine fast immer erfolgreiche Prophylaxe. Sie umfasst die : 4 lokale Wundbehandlung: Intensive Wundreinigung unter fließendem Leitungswasser mit 20%iger Seifenlösung. Anschließend Desinfektion mit 40–70%igem Alkohol oder jodhaltiger Lösung (Betaisadonna ). 4 Immunprophylaxe mit einer Kombination von passiver und aktiver Schutzimpfung: 5 Passive Immunisierung: Sofortige Applikation von humanem Rabiesimmunglobulin (Berirab ) in einer Dosis von 20 IE/kg. Eine Hälfte dieser Dosis wird in die Wunde infiltriert, die andere wird in den M. deltoideus injiziert. 5 Aktive Immunisierung: Vom Impfstoff HDCV (human diploid cell vaccine) aus inaktiviertem Rabiesvirus (Rabivac ) wird je eine Dosis an den Tagen 0, 3, 7, 14, 30 fakultativ auch 90 i.m. in das Deltoideusareal injiziert. Lokale Schmerzen und systemische allergische Reaktionen treten danach selten auf.
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Indikationen: Sofortige Impfung bei jedem Wildtierbiss und in
Endemiegebieten bei jedem Hunde- und Katzenbiss. Außerhalb von Endemiegebieten bei Biss durch tollwütige oder wegen unprovozierter Attacken tollwutverdächtiger Hunde und Katzen, die unerkannt entkommen sind. Keine Impfung bei Biss durch gesunde Hunde und Katzen außerhalb von Endemiegebieten. In solchen Fällen sind die Tiere 10 Tage zu beobachten. Wenn sie während dieser Zeit erkranken, was bei infizierten Tieren stets der Fall ist, sofortige Kombinationsimpfung. Präexpositionsprophylaxe
Personen mit erhöhtem Tollwutrisiko (Tierhändler, Forstpersonal, Veterinäre, Laboranten, Tierpfleger) können vorbeugend geimpft werden. Man injiziert dazu an den Tagen 0, 7 und 21 je eine Dosis intramuskulär, vorzugsweise in den M. deltoideus. Anschließend sind in 2–6-jährigen Abständen Antikörperbestimmungen durchzuführen. Bei Titerabfall unter 1:5 ist eine Auffrischimpfung mit einer Dosis i.m. erforderlich. Vorgeimpfte Personen erhalten nach einer Exposition kein Rabiesimmunglobulin, sondern nur zweimal HDCV an den Tagen 0 und 3. 10.1.16
Therapie. Gegen die manifeste Tollwut gibt es kein Medikament.
Die passive Immunisierung kommt zu spät. Symptomatisch werden Dauerschlaf mit Barbituraten, Sondenernährung und künstliche Beatmung angewandt. ! Morphium ist wegen der Steigerung der Erregbarkeit nicht geeignet.
Von Arthropoden übertragene virale Zooanthroponosen
Durch weltweite Reisen werden zunehmend auch Europäer den sog. Arbovirusinfektionen (Arbo = arthropode born) in fernen Ländern ausgesetzt, die an die Verbreitungsgebiete der verschiedenen Insektenarten gebunden sind. Die Virusübertragung erfolgt vom Vertebratenwirt (Säugetiere, Vögel), der die Infektion
845 10.1 · Virusinfektionen
meistens gut übersteht, auf Blut saugende Insekten (Stechmücken, Stechfliegen, Zecken) und von diesen auf den Menschen. Bei einigen Insekten erfolgt die Weitergabe des Virus auch intraovariell, d.h. durch Infektion der Eier. Die Prophylaxe besteht in der Abschirmung gegen Insekten und Insektenbekämpfung, nur begrenzt durch Schutzimpfungen. Zentraleuropäische Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) Erreger. FSME-Virus, ein RNA-Virus aus der Familie der Flaviviren. Überträger sind Zecken der Gattung Ixodes ricinus (»Holzbock«). In Europa weit verbreitet. Bevorzugte Biotope sind Nadel-, Laub- und Mischwälder mit viel Unterholz und dichter Grünzone.
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> Aktive Schutzimpfung frühestens 4 Wochen später. Therapie. Keine Möglichkeit einer antiviralen Chemotherapie.
Weitere Virus-Enzephalitiden Russische Frühsommerenzephalitis Erreger. RNA-Flavivirus. Überträger: Zecken. Hauptwirt Nagetiere. Vorkommen. Asien, mehrere hundert Fälle pro Jahr. Klinik. Akuter Beginn mit Fieber um 39 °C. Enzephalitis mit Bewusstseinsverlust, epileptiformen Krämpfen und Hemiparesen. Schädigung des vegetativen Nervensystems. Mortalität 20%.
Epidemiologie. Vorkommen in Südost- und Mitteleuropa, in
Deutschland vor allem in Bayern und Baden-Württemberg. Sie treten zwischen April und Oktober, am häufigsten im Juni und Juli auf. Besonders gefährdet sind Förster, Jäger und Waldarbeiter. Nur 10% der Stiche von infizierten Zecken führen zur Erkrankung. Klinik. Inkubationszeit: 3–14 Tage. 1. Phase (Generalisationsstadium): Fieber, katarrhalische Er-
scheinungen, Kopf-, Gelenk- und Muskelschmerzen. Dauer 2– 4 Tage. Die Erkrankung kann damit schon enden. 2. Phase: Beginnt nach kurzem Intervall mit erneutem Fieber und Symptomen der Meningitis, in ernsten Fällen auch der Enzephalitis: Hyperkinesen, Krämpfe, Bewusstseins-, Schlaf- und Sensibili-
tätsstörungen, Hirnnervenausfälle und Psychosen. Bei der myelitischen Form treten schlaffe Paresen vorwiegend der Arme und des Schultergürtels auf. Dauer 8–12 Tage. Nach Enzephalitis verzögerte Rekonvaleszenz, in 10% der Fälle Spätfolgen. Letalität 1%. Diagnostik. Indizien sind vorausgegangener Zeckenstich im
Endemiegebiet, doppelgipflige Fieberkurve und klinisches Bild. Virusisolierung nur in der virämischen 1. Phase möglich. Serodiagnose: Nachweis spezifischer IgM-Antikörper. Prophylaxe. Präexpositionsprophylaxe: Aktive Immunisierung mit inakti-
viertem (auf Maushirn und Hühnerembryonalzellen vermehrtem) FSME-Virus. Dosis: 2 Impfungen i.m. im Abstand von 14 Tagen bis 3 Monaten. Auffrischimpfung nach 3 Jahren. Gelegentlich Lokalreaktionen, selten systemische Allergie, vereinzelt Nervenentzündungen, auch des Gehirns. Kontraindikation: Autoimmunkrankheiten. Postexpositionsprophylaxe: Passive Immunisierung mit humanem Immunglobulin, das Antikörper gegen das FSME-Virus enthält (Encegam ). Indiziert während einer Endemie 1–4 Tage nach einem Zeckenstich. Dosis: Einmalig 0,2 ml/kg intramuskulär. Gibt 60%igen Schutz.
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St. Louis-Enzephalitis Erreger. RNA-Flavivirus. Überträger: Stechmücken (Culex). Hauptwirt Vögel. Vorkommen. Zentrale und westliche Staaten der USA, ca. 100 Fälle pro Jahr, mehrere tausend bei Epidemien. Klinik. Hochfieberhafte Enzephalitis mit Lichtscheu, Bewusstseins- und Sprachstörungen. Schweregrad und Residuen mit dem Alter zunehmend. Mortalität 7%.
Japanische B-Enzephalitis Erreger. RNA-Flavivirus. Überträger: Stechmücken (Culex). Hauptwirt Vögel, außerdem Pferde und Schweine. Vorkommen. Ganz Ostasien, hauptsächlich in Bereich bewässerter Reisfelder. Bis zu 25.000 Fälle pro Jahr. Klinik. Überwiegend inapparente Infektionen. Enzephalitiden in der Hälfte der Fälle schwer, mit Lungenerscheinungen einhergehend (Mortalität 20–50%). Prophylaxe. Aktive Schutzimpfung mit inaktivierter Vakzine möglich. Vor Reisen in ländliche Gebiete Ostasiens empfehlenswert.
West-Nil-Fieber Erreger. RNA-Flavivirus. Überträger: Stechmücken (Culex). Hauptwirt Vögel. Vorkommen. Ost- und Westafrika, Süd- und Südostasien, Mittel-
meerstaaten. Klinik. Häufigste Manifestation ist ein fieberhafter Infekt mit
Kopf- und Augenschmerzen, rauhem Hals, Übelkeit, Erbrechen und Arthralgien. Daneben kommen Meningoenzephalitiden und Enzephalitiden vor, hauptsächlich bei Kindern und alten Leuten.
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Kapitel 10 · Infektionskrankheiten
Powassan-Enzephalitis Erreger. RNA-Flavivirus. Überträger: Zecken (Ixodes cookei). Hauptwirt kleine Säugetiere. Vorkommen. Im Osten Kanadas und der USA, sehr selten. Klinik. Schwere Enzephalitis, häufig mit Residuen.
Pferdeenzephalitiden (östliche, westliche und venezuelanische) Erreger. RNA-Alphaviren aus der Familie der Togaviren. Überträger: Stechmücken. Hauptwirte Vögel, seltener Pferde. Vorkommen. Östliche Form in Sumpfgebieten entlang der Ostküste der USA. Westliche Form in den westlichen und zentralen Staaten der USA und in Kanada. Venezuelanische Form in Venezuela, Ecuador, Kolumbien, Peru, Mexiko und in den Südstaaten der USA. Es kommt hauptsächlich zum endemischen Befall der Pferde und relativ selten zur Übertragung auf den Menschen. Klinik. Die östliche Form der Pferdeenzephalitis verläuft sehr
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schwer (Mortalität 50–75%), die westliche deutlich leichter (Mortalität 3–7%). Die venezuelanische Form verläuft überwiegend als Infekt ohne ZNS-Beteiligung, die enzephalitische Variante hat eine Mortalität von 10%. Vakzine ist nicht allgemein verfügbar. California-, La-Crosse- und Jamestown-CanyonEnzephalitis Erreger. RNA-Viren der California Serogroup, aus der Familie der Bunyaviren. Vorherrschend ist das La-Crosse-Virus. Überträger: Stechmücken. Hauptwirte Nagetiere, bei Endemien auch der Mensch. Vorkommen. Jährlich etwa 70 Fälle im mittleren Westen, in zent-
ralen und östlichen Staaten der USA. Die Enzephalitisrate unter den Infizierten beträgt 40%). Viele Infektionen verlaufen stumm. Die Ansteckung erfolgt durch Tröpfcheninfektion, meistens schon im Kindesalter. Da Chlamydia pneumoniae keine stabile Immunität hinterlässt, erkranken auch Erwachsene. Klinik. Häufigste Manifestationen sind überwiegend leichtverlau-
fende Infekte der Respirationsorgane: Influenzaähnliche Infekte, Sinusitiden, Pharyngitiden, Bronchitiden und atypische Pneumonien. Nur selten wurden Exantheme, Iritiden und Enzephalomyelitiden beobachtet. Neuerdings wird ein Kausalzusammenhang zwischen C.pneumoniae-Infektionen und der Arteriosklerose der koronaren und anderer Arterien diskutiert. Zum einen hat man bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit häufiger als bei Kontrollpersonen erhöhte Antikörpertiter gegen C. pneumoniae gefunden, zum an-
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Kapitel 10 · Infektionskrankheiten
deren konnte der Erreger in zahlreichen arteriosklerotischen Läsionen immunzytochemisch und mittels PCR direkt nachgewiesen werden. Die Progredienz der koronaren Herzkrankheit ließ sich aber mit Azithromycin in mehreren Studien nicht aufhalten.
kuläre Schwellung des Tarsus mit starkem Fremdkörpergefühl und regionaler Lymphknotenschwellung. Selten Pannusbildung und Narben. Verlauf gutartig. Nach Chlamydienbefall im Genitalbereich fahnden.
Diagnostik. Bei klinischem Verdacht Antikörperbestimmung mit dem Mikroimmunfluoreszenz-Test, der im Verlauf einen Titeranstieg zeigen sollte.
Therapie. Tetracyclinsalben, Azithromycin.
Therapie. Antibiotisch wirksam sind Doxycyclin und Makrolide (Clarithromycin, Azithromycin).
Infektionen mit Chlamydia trachomatis Trachom: Chronische Konjunktivitis Erreger. C. trachomatis, Serovar A, B, Ba oder C.
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Genitalinfektionen Erreger. C. trachomatis, Serovare D–K. Epidemiologie. Häufigste der sexuell übertragenen Krankhei-
ten. In den USA 4 Millionen Fälle pro Jahr. Bei Männern ist C. trachomatis für 30–60% der Fälle von Nicht-GonokokkenUrethritis verantwortlich. Bei beiden Geschlechtern verläuft die Mehrzahl der Infektionen mit C. trachomatis asymptomatisch, vor allem die Rezidive. Diese gehen anders als die Primärinfektionen nicht mit einer granulozytären, sondern mit einer mononukleären, zur Fibrosierung disponierenden Leukozytenreaktion einher. Die Infektion hinterlässt keine längerfristige Immunität.
Epidemiologie. Weltweite Verbreiterung in den letzten Jahrzehnten, dank verbesserter Hygiene und Therapie stark rückläufig. Erblindungsursache noch in folgenden Endemiegebieten: Nordafrika, Subsahara, Mittlerer Osten, Nordindien, Ostasien. Übertragung: Durch Schmierinfektion von Auge zu Auge, vor allem in dicht bevölkerten ländlichen Regionen mit schlechter Wasserversorgung.
Klinik. Klinische Manifestationen bei Männern: Urethritis (Inkuba-
Klinik. Die Krankheit verläuft in verschiedenen Stadien:
tionszeit 7–14 Tage), Epididymitis, Trigger für das Reiter-Syndrom in der Hälfte dieser Fälle, Proktitis bei Homosexuellen.
4 Stadium der Konjunktivitis mit papillärer Hyperplasie im oberen Tarsus und Pannus trachomatosus 4 Stadium der Follikelbildung mit subepithelialen lymphoiden Follikeln (Trachomkörner) 4 Stadium der Vernarbung mit Schrumpfung der Bindehaut der Lider und Nekrose der akzessorischen Tränendrüsen 4 Stadium der Abheilung mit Vernarbung des Tarsus, Entropium, Ptosis, Trichiasis und Austrocknung der Bindehaut.
Klinische Manifestationen bei Frauen: Urethritis, Bartholinitis,
Zervizitis, Endometritis, Adnexitis, Perihepatitis (Fitz-HughCurtis-Syndrom), pelvine Peritonitis. Diagnostik. Antigennachweis im Abstrich mittels Immunfluoreszenztest. DNA-Nachweis im Abstrich oder Urin mittels der Polymerasekettenreaktion (PCR). Antikörperbestimmung von begrenztem Nutzen, kann falsch negativ ausfallen.
Diagnostik. Typischer Lokalbefund, Erregernachweis durch PCR
im Sekret.
Therapie. Doxycyclin (2-mal tgl. 100 mg) über 7–14 Tage. Azithromycin (3 Tage 500 mg als Einmaldosis).
Therapie. Lokal Tetracyclin- oder Erythromycinsalben, syste-
misch Azithromycin. Paratrachom: Einschlusskörperchen-Konjunktivitis Erreger. C. trachomatis, Serovare D–K. Epidemiologie. Diese Chlamydientypen verursachen primär
entzündliche Prozesse im Genitalbereich und können von dort auf die Augen übertragen werden. Übertragung: Von der infizierten Mutter auf das Neugeborene (Silbernitrat schützt nicht), durch Autoinokulation auf die eigenen Augen, über verunreinigtes Wasser in Hallenbädern auf Gesunde (Schwimmbadkonjunktivitis). Klinik. Oft einseitige Konjunktivitis mit Einschlusskörperchen in den Leukozyten des Abstrichs. Hahnenkammartige makrofolli-
Lymphogranuloma venerum (inguinale) Erreger. C. trachomatis, Serovare L1, L2, L3. Virulenter als die übrigen Typen von C. trachomatis. Epidemiologie. Die weltweite Verbreitung ist stark zurückgegangen. Endemisches Vorkommen bis heute in Asien, Afrika, Südamerika und in der Karibik. Übertragung fast ausschließlich durch Geschlechtsverkehr. Erregerreservoir sind asymptomatische infizierte Personen. Klinik. Inkubationszeit: 3 Tage bis 3 Wochen. Klinischer Verlauf: 4 Primäraffekt: Schmerzlose Bläschen, Papeln oder nicht indu-
rierte Ulzera, beim Mann am Penis, bei der Frau am Introitus
855 10.2 · Bakterielle Infektionen
vaginae und an den Labien. Heilt innerhalb weniger Tage und bleibt oft unbemerkt oder unbeachtet. 4 Inguinalsyndrom: Schmerzhafte, meist einseitige entzündliche Anschwellung der Leistenlymphknoten 2–6 Wochen nach der Exposition. Die Lymphknoten verbacken, verschmelzen mit der Haut und abszedieren mit Fisteln nach außen. Sekundärinfektionen verstärken die Entzündung. Späterscheinungen sind Lymphödem und Elephantiasis, bei Rektumbefall Strikturen. 4 Generalisationsstadium: 2–3 Wochen nach Beginn der Lymphadenitis Fieber, Kopfschmerzen, Anorexie, Myalgien, Arthralgien, auch Meningismus.
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Morbus Brill-Zinsser Erreger. R. prowazeki. Endogene Reinfektion mit diesem Erreger, der nach überstandener Infektion im lymphatischen Gewebe jahrzehntelang überleben kann. Epidemiologie. Verbreitung in denselben Regionen wie das epidemische Fleckfieber. Ausbruch des Rezidivs durch Schwächung der Immunabwehr oder Veränderungen des Erregers. Klinik. Abgeschwächte Form des Fleckfiebers mit unregelmäßi-
gem Fieber, oft ohne Exanthem und mit niedriger Komplikationsrate. Dauer 7–12 Tage. Bei älteren Kranken kommen schwere Verläufe mit tödlichem Ausgang vor.
Therapie. Doxycyclin, Azithromycin. Therapie. Wie bei epidemischem Fleckfieber.
10.2.2
Rickettsiosen
Die Familie der Rickettsien umfasst 4 Gattungen: Rickettsia, Coxiella, Orientia und Ehrlichia. Es sind gramnegative, obligat intrazellulär wachsende Bakterien, die mit Ausnahme von Coxiella durch Arthropoden übertragen werden. Fleckfiebergruppe Epidemisches Fleckfieber Erreger. R. prowazeki. Überträger: Kleiderlaus. Epidemiologie. Vorkommen in Gebirgsregionen Afrikas, Süd-
amerikas und Asiens unter unhygienischen Lebensbedingungen. Ansteckungsmodus: Perkutane Schmierinfektion mit infiziertem Läusekot an aufgekratzten Hautstellen. Klinik. Inkubationszeit: 7 Tage. Symptome. Akuter Beginn mit Fieber bis 40 °C, das 14 Tage
bestehen bleibt, großer Hinfälligkeit und starkem Kopfschmerz. Am 5. Fiebertag generalisiertes Exanthem unter Freilassung von Gesicht, Handflächen und Fußsohlen. Effloreszenzen zuerst makulös, dann makulopapulös, petechial und konfluierend. Gleichzeitig zunehmende Somnolenz und Delirien, nicht selten Schwerhörigkeit und Sehstörungen bis zur Erblindung. Viszerale Komplikationen: Ikterus, Pneumonien mit Begleitpleuritis und Empyem, Parotitis, Myokarditis, Niereninsuffizienz. Letalität 20–40%. Exitus meistens in der 3. Krankheitswoche in komatösem Zustand. Autoptisch in allen Organen Fleckfieberknötchen, die um befallene Endothelzellen entstanden sind.
Endemisches (murines) Fleckfieber: Erreger. R. typhi und R. felis. Überträger: Flöhe mit Ratten bzw. Katzen als Reservoir. Epidemiologie. Vorkommen in Texas und Kalifornien und anderen subtropischen und tropischen Regionen. Keine Übertragung von Mensch zu Mensch. Klinik. Inkubationszeit: 8–16 Tage. Symptome: Nach 1–3-tägigen Prodromi mit Kopf- und Glie-
derschmerzen plötzlicher Temperaturanstieg mit Schüttelfrost, Übelkeit und Erbrechen. Unbehandelt dauert das Fieber 12 Tage. Ein Exanthem tritt nur bei 50% der Patienten auf. Häufig sind interstitielle Pneumonien mit trockenem Husten. Seltener kommen Leibschmerzen, Benommenheit und Stupor vor. Im Frühstadium Anämie und Leukopenie, später Leukozytose und Thrombopenie. Verlauf milder als bei epidemischem LäuseFleckfieber. Letalität 1%. Diagnostik. Serologisch durch Antikörperanstieg. Erregernachweis im Blut mittels PCR. Therapie. Doxycyclin oder Chloramphenicol.
Zeckenstichfieber-Gruppe Rocky Mountain Spotted Fever Erreger. R. rickettsii. Überträger: Verschiedene Zeckenarten mit Nagetieren als Reservoir. Epidemiologie. Erstbeschreibung der Rickettsien in Montana.
Agglutination. Erregernachweis im Blut mittels PCR.
Sporadisches Vorkommen in allen Staaten der USA, am häufigsten in Maryland, Virginia, Nord- und Südcarolina, Georgia und Tenessee.
Therapie. Doxycyclin (200 mg/Tag als Einzeldosis). Vakzine aus inaktivierten Rickettsien ermöglicht aktive Immunisierung.
Klinik. Inkubationszeit: 2–10 Tage.
Diagnostik. Verlausung. Antikörpernachweis mit der Weil-Felix-
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Kapitel 10 · Infektionskrankheiten
Symptome: Abrupter Beginn mit Fieber, Schüttelfrost, inten-
sivem Kopfschmerz, Erbrechen, Myalgien und Druckschmerz in der Waden- und Bauchmuskulatur. Abwehrspannung kann ein akutes Abdomen vortäuschen. Am 4. Tag Exanthem mit roten Tüpfeln, die in Petechien übergehen und sich von den Händen und Füßen über den ganzen Körper und das Gesicht ausbreiten. Nicht selten führen Mikroinfarkte der Hautgefäße zu Gangrän an Finger- und Zehenspitzen. Interstitielle Pneumonie, in schweren Fällen Lungenödem durch pulmonale Gefäßläsionen. Milzschwellung bei 25% der Patienten. Nur leichtere Leberschäden mit Transaminasenanstieg. Häufig Lethargie, in schweren Fällen Stupor bis zum Koma mit fokalen ZNS-Läsionen. Thrombopenie mit Blutungen und Anämie, mitunter disseminierte intravaskuläre Gerinnung.
Klinik. Primärläsion an der Stichstelle in Form einer Papel, die über eine Blase in eine 1–2,5 cm breite schmerzlose schwarze Kruste mit rotem Saum übergeht. Dazu Anschwellung der regionalen Lymphknoten. Nach 10 Tagen Fieber, Kopfschmerz, Myalgien gefolgt von einem makulären Exanthem, das in Papeln, Bläschen und Krusten übergeht (ähnelt Windpocken).
Diagnostik. Trias Zeckenstich, Fieber, Exanthem in einem Ende-
Diagnostik. Erfolgt serologisch.
miegebiet. Antikörpernachweis mit indirekter Immunfluoreszenz oder dem Latex-Agglutinationstest.
Therapie. Doxycylin oder Ciprofloxacin.
Therapie. Doxycyclin (2-mal tgl. 100 mg). Letalität 5–10%, ohne Behandlung bis 50%.
10
Rickettsien-Pocken Erreger. R. akari. Überträger: Milben mit transovarieller Infektion und Mäusen als Reservoir.
Mittelmeer-Fleckfieber (Fièvre boutonneuse) Erreger. R. conori. Überträger: Schildzecke mit wild lebenden Nagetieren als Reservoir. Epidemiologie. Vorkommen in den Mittelmeerländern, am
Schwarzen und Kaspischen Meer, in Afrika und Indien. Klinik. Trias Fieber, Exanthem und Kruste an der Zeckenbissstelle. Verlauf gutartig. Schwere Fälle mit hoher Letalität bei Patienten mit Diabetes mellitus, Alkoholismus und Herzinsuffizienz. Therapie. Doxycyclin.
Weitere Zeckenstichfieber Gutartige Formen mit der Trias: Zeckenbiss (Kruste an der Bissstelle), Fieber, Exanthem: 4 Nordasiatisches Zeckenstichfieber: R. sibirica, übertragen durch Schildzecken mit Nagetieren als Reservoir. Vorkommen: Sibirien, Zentralasien, Mongolei. 4 Afrikanisches Zeckenstichfieber: R. africae, übertragen von Zecken mit Nagetieren als Überträger. Vorkommen: Zentral-, Ost- und Südafrika. 4 Japanisches Zeckenstichfieber: R. japonica, übertragen von Zecken mit Nagetieren als Reservoir. Vorkommen: Japan. 4 Australisches Zeckenstichfieber: R. australis, übertragen von Zecken mit Beuteltieren und Nagern als Reservoir. Vorkommen: Queensland.
Epidemiologie. Erstbeschreibung in New York 1946. Vorkom-
men im Nordosten der USA, in Korea, Südeuropa und der Ukraine.
Tsutsugamushi-Fieber Erreger. Orientia tsutsugamushi. Überträger: Transovariell infizierte Milbenlarven, die nach dem Schlüpfen den Erreger in die Haut inokulieren. Natürliche Wirte sind Nagetiere. Epidemiologie. Endemisches Vorkommen im Osten und Süden Asiens, in Nordaustralien, den westpazifischen Inseln, in Indien Sri Lanka und Bangladesch, auch in Japan, Korea, im fernöstlichen Russland und in China. Klinik. Inkubationszeit: 8–11 Tage. Symptome: Die Primärläsion wandelt sich in eine verschor-
fende Blase um. Plötzlicher Fieberanstieg, Kopfschmerzen, Konjunktivitis, generalisierte Lymphknotenschwellungen und Hypotonie. Nach 4–6 Tagen makulopapulöses Exanthem. Die Mehrzahl der Fälle verläuft milde. Komplikationen: Schwere Komplikationen sind Enzephalitis und interstitielle Pneumonien. Letalität bis zu 7%. Diagnostik. Erregernachweis im Blut mittels PCR. Serodiagnose
durch Antikörperbestimmung. Therapie. Doxycyclin, bei Kindern Azithromycin.
Q-Fieber Erreger. Coxiella burnetii. Bildet resistente Sporen, die in der Erde wochenlang infektiös bleiben. Wenige Exemplare des Erregers führen bereits zur Krankheit. Überträger: Primäre Reservoire sind Rinder, Schafe, Ziegen, Katzen, Hunde, Nagetiere, Vögel (Tauben, Wanderschwalben) und andere Tiere, die gewöhnlich asymptomatisch erkranken und den Erreger mit Fäzes, Urin, Amnionflüssigkeit und Milch ausscheiden. Unter Tieren wird die Infektion auch durch Zecken übertragen.
857 10.2 · Bakterielle Infektionen
Ansteckungsmodus beim Menschen: Meistens Inhalation kontaminierten Staubes, mitunter Konsum unpasteurisierter Milch. Übertragungen von Mensch zu Mensch sind sehr selten. Epidemiologie. Verbreitung weltweit. Gefährdet sind Arbeiter in
Schlachthöfen und Abdeckereien, Veterinäre, Hirten, Landarbeiter und Personen, die in engen Kontakt mit infizierten Tieren geraten. Klinik. Das Q-Fieber manifestiert sich in 2 Formen, am häufigsten als akute Infektionskrankheit, bei einigen Patienten mit vorgeschädigten Herzen auch als subakute bakterielle Endokarditis. Inkubationszeit: Für akutes Q-Fieber 9–23 Tage.
10
Monate. Unter rein medikamentöser Behandlung heilt die Endokarditis meistens nicht ab. Ehrlichiosen Ehrlichiae, eine Rickettsienart, sind in der Veterinärmedizin als Erreger verschiedener Zoonosen seit 1910 bekannt. Die erste humane Ehrlichiose wurde 1953 in Japan beschrieben, der Erreger Ehrlichia sennetsu benannt. Er ist wahrscheinlich mit der E. chaffeensis identisch. In den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts kamen in den USA die beiden nachstehenden humanen Formen der Ehrlichiose zur Beobachtung. Die Zahl der Mitteilungen steigt an. Humane monozytäre Ehrlichiose Erstbeschreibung 1987.
Symptome des akuten Q-Fiebers: Plötzlicher Beginn mit heftigs-
ten retroorbitalen und diffusen Kopfschmerzen, großer Abgeschlagenheit und Fieber zwischen 38 und 40 °C, das auch fehlen oder unbemerkt bleiben kann. Es dauert gewöhnlich 4–7 Tage. Einige Tage nach Krankheitsbeginn trockener Husten und Schnupfen, im Röntgenbild nicht selten interstitielle Pneumonie. Im manchen Fällen treten zugleich Zeichen einer parainfektiösen Meningoenzephalitis auf: Verwirrtheit, Aphasie, Diplopie, zerebellare Ataxie, Sprachstörungen und lymphozytäre Pleozytose. Erbrechen und Durchfall kommen vor, Exantheme nur bei wenigen. Auf eine initiale Thrombopenie folgt häufig eine Thrombozytose, die zu tiefen Beinvenenthrombosen disponiert. Seltene Komplikationen: Granulomatöse Hepatitis, Orchitis, Epididymitis, Pankreatitis und Nephritis. Spontanheilung meistens in 2–3 Wochen, unter antibiotischer Behandlung schneller. Letalität unter 1%. Symptome des chronischen Q-Fiebers mit Endokarditis: Nach
langer Inkubationszeit schleichender Beginn mit Gewichtsverlust, inadäquater Erschöpfbarkeit und subfebrilen Temperaturen. Im Verlauf Leber- und Milzschwellung, hohe Blutsenkung, Anämie. Meistens bestehen Vorschäden an den Herzklappen oder ein Zustand nach Klappenersatz. Chronische Niereninsuffizienz und Immunsuppression erhöhen das Risiko. Diagnostik. Kultureller Erregernachweis aus dem Blut nur in
Speziallabors möglich. Im Gewebe ist Erreger-DNA mit der PCR zu erfassen. Das für die serologische Diagnostik maßgebende Antigen, ein Lipopolysaccharid, zeigt nach mehreren Gewebepassagen einen Wandel vom natürlichen Antigen der Phase I zum Antigen der Phase II, der durch Abspaltung von Kohlenhydratkomponenten zustande kommt. Beim akuten Q-Fieber steigen nach 1–2 Wochen die Antikörper gegen das Phase-II-Antigen, bei Q-Fieber-Endokarditis sind selektiv die Antikörper gegen das Phase-I-Antigen erhöht. Die Blutkultur bleibt negativ. Therapie. Doxycyclin (2-mal tgl. 100 mg) für 14 Tage. Bei Endokarditis zusätzlich Trimethoprim/Sulfamethoxazol, beides über
Erreger. Ehrlichia chaffeensis, benannt nach Fort Chaffee (Arkansas), wo der erste Fall, ein Soldat, beobachtet wurde. Zielzellen des Erregers sind hauptsächlich Makrophagen und Monozyten. Überträger: Texas-Zecke (Amblyomma americanum) mit Säugetieren als Reservoir. Epidemiologie. Vorkommen in 30 Staaten der USA, hauptsächlich im mittleren Süden, Südosten und in der mittleren Atlantikregion, auch in Europa und Afrika. Zu einer Endemie kam es 1993 in einer Golf-orientierten Freizeitanlage in Tennessee. Klinik. Nur ein Drittel der Infizierten erkrankt manifest. Inkubationszeit: Im Durchschnitt 9 Tage. Symptome: Fieber, Kopfschmerz, Myalgien, Erbrechen, bei
36% der Patienten Exanthem, bei 25% Pharyngitis, Lymphadenopathie, Diarrhöen und Leibschmerz. Seltene Komplikationen: Zerebrale Symptome und Krampfanfälle, Pneumonie mit respiratorischer Insuffizienz, Niereninsuffizienz. Leukopenie, Lymphopenie und Thrombopenie. Im Knochenmark Granulome. Makrophagen mit Morula-förmigen Erregerkolonien in zahlreichen Organen, selten im Blut. Diagnostik. Nachweis von Erreger-DNA im Blut mittels PCR.
Beweisender Antikörperanstieg erst in der Rekonvaleszenz zu erfassen. Therapie. Schon bei Verdacht Doxycyclin (2-mal tgl. 100 mg) für 7 Tage. Letalität 2–3%, betrifft vorwiegend alte und vorgeschädigte Patienten.
Humane granulozytäre Ehrlichiose Erstbeschreibung 1994. Erreger. Ehrlichia-equi-ähnlicher Organismus. Mit E. equi immunologisch kreuzreagierend, da zwischen beiden nur eine geringe genetische Differenz besteht. Zeigt eine selektiven Tropismus zu den granulozytären hämatopoetischen Zellen. Überträ-
858
Kapitel 10 · Infektionskrankheiten
ger: Zecken (Ixodes scapularis, Ixodes ricinus). Simultane Über-
tragungen des Erregers mit Borellia burgdorferi kommen vor. Reservoir sind Rotwild und andere Säugetiere. Epidemiologie. Bis 1995 wurde über 150 Fälle berichtet. Haupt-
verbreitungsgebiet sind der mittlere Westen und der Nordosten der USA. Klinik. Inkubationszeit: 8 Tage. Symptome: Relativ schweres Krankheitsbild mit Fieber,
Schüttelfrost, Hinfälligkeit. In einem Drittel der Fälle Husten, Übelkeit und Erbrechen. Selten Hautausschlag und Krämpfe. Letalität 5%, nicht selten durch opportunistische Pilzpneumonien. Diagnostik. Zeckenstich im Endemiegebiet, Nachweis von Erreger-DNA im Blut mittels PCR. Antikörperanstieg erlaubt die Diagnose erst retrospektiv. Laborbefunde: Leukopenie mit Erregerkolonien in den Granulozyten des Blutausstrichs, Thrombopenie und Anämie. Therapie. Doxycylin (2-mal tgl. 100 mg) bewirkt schon nach
10
24–48 Stunden Entfieberung. Unbehandelt kann sich das Fieber 3–11 Wochen hinziehen. Die Hälfte der Fälle bedarf stationärer Behandlung. 10.2.3
Mykoplasmen-Infektionen
Durchfall. Auf die Lungenbeteiligung weisen Dyspnoe und Zyanose hin. Der pulmonale Auskultationsbefund ist jedoch relativ gering ausgeprägt. Das Röntgenbild zeigt retikulonoduläre oder interstitielle Infiltrate meistens in den Unterfeldern und oft nur einseitig. Häufiger als pneumonische Manifestationen verursacht M. pneumoniae lediglich Tracheobronchitiden, die sich über Wochen hinziehen können. Extrapulmonale Komplikationen:
4 Meningoenzephalitis, aseptische Meningitis, aufsteigende Paralyse und Querschnittsmyelitis 4 Myoperikarditis mit EKG-Veränderungen 4 Arthritiden 4 mukokutane Läsionen (makulopapulöse Exantheme, Konjunktivitis, ulzeröse Stomatitis) 4 Hämolyse mit positivem Coombs-Test, Kälteagglutinine. Diagnostik. Klinisch nicht von Pneumonien anderer Ursache zu
unterscheiden. Kälteagglutinine oft erhöht (>1:32). Leukozytose und BKS-Beschleunigung bei 30% der Patienten. Nachweis von IgM-Antikörpern. Direkter Nachweis von M. pneumoniae mit spezifischen DNA-Sonden. Therapie. Doxycyclin oder Azithromycin.
Infektionen des Urogenitaltraktes Erreger. M. hominis und Ureaplasma urealyticum. Epidemiologie. Beide fakultativ pathogenen Erreger kommen
Mykoplasmen, die kleinsten auf zellfreien Medien wachsenden Bakterien, besitzen keine Zellwand. Sie sind deshalb gegen βLactam-Antibiotika resistent. Von den 14 beim Menschen vorkommenden Spezies sind viele Saprophyten und nur M. pneumoniae, M. hominis und Ureaplasma urealyticum pathogen. Mykoplasmenpneumonie Erreger. M. pneumoniae. Kann B-Lymphozyten und in geringerem Maße auch T-Lymphozyten unspezifisch stimulieren und dadurch die Bildung von Autoantikörpern (gegen Gehirn, Herz, Muskeln und Erythrozyten) induzieren.
häufig auch bei gesunden Männern und Frauen als Bestandteil der Schleimhautflora im unteren Genitaltrakt vor. Ihre ätiologische Rolle kann deshalb umstritten sein. Die Übertragung erfolgt hauptsächlich beim Geschlechtsverkehr. Klinik. Manifestationen bei Männern: Nichtgonokokkenurethritis,
Prostatitis und Harnsteine durch U. urealyticum (MagnesiumAmmonium-Phosphatsteine durch Freisetzung von Ammoniak). Pyelonephritis durch M. hominis. Manifestationen bei Frauen: Bartholinitis, Salpingitis, Zervizitis,
Epidemiologie. Endemisches Vorkommen weltweit mit einem
Anteil von 10–20% an allen Pneumonien. Übertragung: Durch Tröpfcheninfektion von Mensch zu Mensch bei engem Kontakt in Familien, Schulen, Heimen, Lagern und Kasernen. Höchste Inzidenz bei Kindern zwischen 3 und 15 Jahren. Klinik. Inkubationszeit: 1–3 Wochen. Symptome: Beginn mit Fieber, Husten, Schnupfen, Halsweh
Kopfschmerzen, nicht selten auch Übelkeit, Erbrechen und
tubuloovarielle Abszesse, Pelveoperitonitis und Puerperalinfekte durch M. hominis. Salpingitis vielleicht auch durch U. urealyticum. Perinatale Infektionen bei Frühgeburten. Extragenitale Infektionen: Wundinfektionen nach Eingriffen
am Genitaltrakt bei Patienten mit Immunschwäche. Peritonitis nach Nierentransplantation. Sternumabszesse nach Herztransplantation. Arthritis bei Agammaglobulinämie. Prothesenendokarditis. Diagnostik. Erregeranzüchtung auf Spezialmedien. Keine serologischen Tests.
859 10.2 · Bakterielle Infektionen
Therapie. M. hominis ist gegen Makrolide resistent; spricht auf Doxycyclin und Clindamycin an. U. urealyticum ist gegen Makrolide (Azithromycin) und Doxycyclin empfindlich.
10.2.4
Staphylokokkeninfektionen
Erreger Staphylokokken sind ubiquitäre, grampositive, aerobe und fakultativ anaerobe Bakterien aus der Familie der Micrococcaceae. Sie sind beim Menschen in der normalen Bakterienflora der Haut und Schleimhäute präsent und werden erst pathogen, wenn sie oder die von ihnen gebildeten Toxine diese Barrieren überwinden. Den höchsten Virulenzgrad besitzen die koagulasepositiven Staphylokokken, deren wichtigster Vertreter der Staphylococcus aureus ist. Zu den weniger virulenten koagulasenegativen Spezies gehören S. epidermidis und S. saprophyticus. Staphylococcus aureus Keimträger sind 30–50% der Erwachsenen, teils intermittierend, teils permanent. Hauptstandort ist der vordere Nasenabschnitt, gefolgt von Axillae, Vagina und Perineum. Von dort kann eine Besiedlung der Haut erfolgen, vor allem bei Epitheldefekten (chirurgische Patienten), häufigen Stichverletzungen (Diabetiker, Drogenkonsumenten, Hämodialysepatienten), Defekten der Leukozytenfunktion und AIDS. An seiner Oberfläche exprimiert S. aureus diverse Proteine, die als Adhäsine seine Haftung an Haut, Schleimhäuten und Komponenten der extrazellulären Matrix vermitteln. Eine Palette von Enzymen (Hyaluronidase, Proteasen, Lipasen) erleichtert dem Erreger das Vordringen im Gewebe, in das er durch Haut- und Schleimhautdefekte gelangt. Das sezernierte α-Toxin greift Zellmembranen an und durchsetzt sie mit ionenleitenden Poren, die zum Zelluntergang führen. Porenbildend wirken auch die aus 2 Komponenten bestehenden synergohymenotropen Toxine. Gravierende Fernwirkungen erzielt der S. aureus mit 3 Sekretionsprodukten, den Enterotoxinen, die in 8 serologisch unterscheidbaren Varianten (A, B, C1–3, D, E, H) vorkommen, dem Toxischer-Schock-Syndrom-Toxin-1 (TSST-1) und den epidermolytisch wirkenden exfoliativen Toxinen (ETs). Der hochgradige toxische Effekt der Enterotoxine und des TSST1 beruht hauptsächlich darauf, dass sie Superantigene sind und als solche eine massive unregulierte Immunreaktion auslösen. Superantigene verbinden sich unverarbeitet mit den MHC-IIMolekülen antigenpräsentierender Zellen und danach wenig spezifisch mit den Antigenrezeptoren von bis zu 20% aller T-Helferzellen. Auf diese Weise induzieren sie die systemische Ausschüttung großer Mengen schockauslösender Zytokine (7 Kap. 8.2). Die Expression der für die Kolonisation wichtigen Oberflächenproteine erfolgt überwiegend in der exponentiellen Vermehrungsphase des S. aureus. Sie wird nach Erreichen einer bestimmten Bakteriendichte durch das Bakteriengen Agr über ein Peptid supprimiert, das gleichzeitig die Expression der zu Sekretion bestimmten Exoproteine induziert. Diese sequenzielle Genaktivie-
10
rung bewirkt, dass die Toxinproduktion erst in einem fortgeschrittenen Stadium der Infektion einsetzt. Zur Pathogenität des S. aureus tragen einige Eigenschaften bei, die ihn gegen die Abwehrmechanismen des infizierten Organismus und gegen Antibiotika schützen. Die meisten S.-aureusStämme haben eine Polysaccharidkapsel, die eine komplementvermittelte Attacke der neutrophilen Granulozyten verhindert, weil sie das Komplement von der Zellwand fern hält, deren Peptidoglykane aber eine Komplementaktivierung auf dem alternativen Weg bewirken. Das Zellwandprotein A verbindet sich mit der Fc-Komponente von Immunglobulinen und wirkt damit der antikörperinduzierten Opsonisierung durch Leukozyten und Makrophagen entgegen. Das Enzym Koagulase, ein Prothrombinaktivator, und der direkt auf Fibrinogen einwirkende Clumping-Faktor an der Bakterienoberfläche erzeugen ein Fibringerinnsel, das gegen Zellen des Immunsystems und gegen Antibiotika abschirmt. Aus der Blutbahn können die Staphylokokken in Endothelzellen eindringen und sich darin ungestört vermehren. Außerdem können sie mit dem Enzym Leucocidin neutrophile Granulozyten, Monozyten und Makrophagen abtöten, ein Effekt, der zur Eiterbildung beiträgt. Von Plasmiden wird das genetische Material zur Produktion der Penicillin-spaltenden Laktamase eingeschleust, durch homologe Rekombination das Gen für Penicillin-bindende Proteine (PBP), mit geringer oder fehlender Penicillinaffinität. Durch beide Veränderungen entsteht Penicillinresistenz. Staphylococcus epidermidis Hauptvertreter der koagulasenegativen Staphylokokken. Besiedelt die normale Haut und hat ein wesentlich geringeres pathogenetisches Potenzial als der S. aureus. Besitzt eine besondere Affinität zu Fremdmaterialien (Katheter aller Art, Herzklappen- und Gefäßprothesen, Schrittmachergehäusen, Gelenkprothesen, Metallplatten und Schrauben), auf denen er an Matrixproteinen (Fibrinogen, Fibronektin) haftend kolonisiert und gegen Antibiotika und das Immunsystem weitgehend geschützt ist. Diese Biofilme stellen Herde dar, aus denen die Staphylokokken ins Blut geschwemmt werden und diskrete sepsisartige Krankheitsbilder verursachen. Staphylococcus saprophyticus Gehört zur normalen Hautflora, ist koagulasenegativ und ein harnstoffspaltender Erreger, der nicht selten Harnwegsinfekte verursacht. Epidemiologie Die meisten Staphyllokokkeninfektion gehen von Erregern aus, die der Patient auf seiner Haut trägt. Ansteckungen kommen vor allem in Krankenhäusern vor, wo der S. aureus der häufigste Hospitalismuskeim ist. Die Übertragung erfolgt gewöhnlich durch kontaminierte Hände von Pflegepersonen. Die häufigsten nosokomialen Infektionen mit S. aureus sind Pneumonien und Wundinfektionen, gefolgt von Blutstrominfektionen über Ver-
860
Kapitel 10 · Infektionskrankheiten
weilsysteme. An den letztgenannten hat der S. epidermidis noch einen höheren Anteil. Im Krankenhaus besteht insbesondere die große Gefahr der Verbreitung Penicillin-resistenter Stämme. Krankheitsbilder Bei einigen der durch S. aureus verursachten Krankheiten stehen akute systemische Toxinwirkungen im Vordergrund, bei den anderen zur Abszedierung neigenden lokale Organ- und Gewebeläsionen durch die Erregerinvasion. Die Infektionen mit den koagulasenegativen Staphylokokken haben rein invasiven Charakter. Nahrungsmittelintoxikation durch S. aureus Häufig vorkommender akuter Brechdurchfall mit Leibkrämpfen, durch präformiertes Enterotoxin A, B, C, D oder E, das von S. aureus in kontaminierten Lebensmitteln gebildet wird. Die Inkubationszeit beträgt 2–6 Stunden. Fieber und neurologische Ausfallserscheinungen fehlen. In schweren Fällen kommt es zur Hypovolämie mit Blutdruckabfall. Alle Symptome bilden sich innerhalb von 24 Stunden zurück. Vergiftungsquelle sind meistens ungenügend gekühlte Speisen mit viel Eiweiß, Zucker oder Salz (Schinken, kremgefüllte Kuchen, Kartoffel- und Nudelsalat). Die Enterotoxine sind hitzestabil. Durch Kochen werden nur die Staphylokokken abgetötet.
10
Diagnostik. Durch Toxinnachweis (nicht durch Bakterienkultur)
im Erbrochenen, im Stuhl und in den kontaminierten Lebensmitteln. Therapie. Symptomatisch. Antibiotika sind nicht indiziert, da
über den Stuhl keine sekundäre Übertragung erfolgt. Toxisches Schock-Syndrom (TSS) Seltenes, lebensbedrohliches Krankheitsbild, verursacht durch verschiedene toxische Exoproteine des S. aureus, vor allem TSST1 und Enterotoxin B (7 oben). Das Gen für TSST-1 wird in 20% der S. aureus-Isolate gefunden. Vorkommen. Erstbeschreibung 1978, danach zahlreiche Beobachtungen bei Frauen, die während der Menstruation Tampons benutzten. Die Häufigkeit des TSS bei menstruierenden Frauen beträgt 1:100.000. Annähernd 50% der Fälle betreffen alle Bevölkerungskreise und Frauen unabhängig von der Menstruation. Das TSS kann im Wochenbett, bei septischen Aborten und gynäkologischen Eingriffen außerhalb einer Schwangerschaft auftreten, aber auch von Hautverbrennungen, Insektenstichen, Windpockeneffloreszenzen und banalen Verletzungen und chirurgischen Wunden ausgehen. Voraussetzung für das Erkranken ist die Besiedlung oder Infektion mit toxigenen S.-aureus-Stämmen und das Fehlen protektiver Antikörper gegen das Toxin. Am häufigsten ist TSST-1 beteiligt, das von etwa 1% der Stämme gebildet wird. Auch von unbedeutenden Wundflächen werden die Toxine resorbiert. Zu Bakteriämien kommt es beim TSS in der Regel nicht.
Klinik. Abrupter Beginn mit Fieber (>38,9 °C), Blutdruckabfall
(39 °C, Unwohlsein, Kopfweh, bei Kindern auch Übelkeit, Erbrechen und Leibschmerzen. Kurz darauf Rötung und Schwellung der Tonsillen mit weißen Stippchen an der Oberfläche (follikuläre Tonsillitis). Schmerzhafte Anschwellung der Kieferwinkeldrüsen beiderseits. Bei Tonsillektomierten Rötung des Rachens und Tonsillenbettes. Säuglinge unter 6 Monaten erkranken an fieberhafter Rhinopharyngitis. Zwischen dem 6. Monat und dem 3. Lebensjahr kommt es zur Nasopharyngitis mit zervikaler Lymphadenitis, auch zur Sinusitis und Otits media.
ten Ländern stark zurückgegangen. Bessere Hygiene und die effektive Antibiotikabehandlung der eitrigen Tonsillitis dürften dazu beigetragen haben. Scharlachfieber kann nicht nur bei der Streptokokkenangina auftreten, sondern auch bei Wundinfektionen und bei puerperalen Infektionen durch S. pyogenes. Ansteckungsmodus: Tröpfchen- oder Schmierinfektion. Klinik. Inkubationszeit: 1–4 Tage. Symptome: Akuter Beginn mit Kopfschmerz, Erbrechen,
Komplikationen: Tonsillar- oder Retropharyngealabszess, Otitis
media, Mastoiditis. Spätkomplikationen: rheumatisches Fieber (7 Kap. 1.11.1 und 9.1), Glomerulonephritis (7 Kap. 3.6). Diagnostik. Erregernachweis im Rachenabstrich durch Kultur auf speziellem Nähragar oder direkt mit einem Schnelltest-Kit am Krankenbett (Latexagglutination oder ELISA). Serodiagnose erst
Schluckschmerz und Fieber über 39°C. Rachenwand und weicher Gaumen zeigen ein tiefrotes, fleckiges Enanthem. Die geröteten Tonsillen sind geschwollen und mit weißen Stippchen besetzt, die Kieferwinkeldrüsen vergrößert und druckschmerzhaft (. Abb. 10.8). Auf der Zunge anfangs weißer Belag mit herausragenden geröteten Papillen (Erdbeerzunge). Nach Abstoßung des Belages tiefe Rötung der Zungenschleimhaut mit Papillenhypertrophie
863 10.2 · Bakterielle Infektionen
10
einer lamellösen Schuppung an den Handflächen und Fußsohlen, die für den Scharlach pathognomonisch ist. Leber und Milz können leicht anschwellen. Komplikationen: In der 1. Krankheitswoche toxische Myokardschäden, erkennbar an Tachykardie und EKG-Veränderungen, geringe Proteinurie und Mikrohämaturie durch flüchtige glomeruläre Läsionen, leichtes Rheumatoid, in seltenen Fällen Streptokokkensepsis (7 unten). Lokale eitrige Komplikationen und nach mehrwöchigem Intervall rheumatisches Fieber oder Glomerulonephritis wie bei der gewöhnlichen Streptokokkenangina (7 oben). Diagnostik. Die Kriterien sind eitrige Tonsillitis mit Erregernachweis im Rachenabstrich, Exanthem und anschließende Schuppung. Therapie. Bettruhe. Isolierung bis zu 3 Tagen nach Behandlungsbeginn. Penicillintherapie und symptomatische Maßnahmen wie bei der Streptokokkenangina (7 oben). Penicillinprophylaxe bei gefährdeten Kontaktpersonen.
a
Erysipel Erreger. Betahämolytische Streptokokken der Gruppe A (S. pyo-
genes).
b . Abb. 10.8a, b. Scharlach. a Intensive diffuse Rötung des Rachens, Tonsillen geschwollen mit gelben Eiterstippchen, grau-weiß belegte Zunge. b Nach Verschwinden des weißen Belags erscheint die Zunge rot mit prominenten Papillen (»Erdbeerzunge«)
(Himbeerzunge). Am 2. Krankheitstag Auftreten des typischen nicht juckenden Exanthems, vom Gesicht auf Stamm und Extremitäten übergehend. Es ist ein diffuses, an den Beugeseiten am stärksten ausgeprägtes Erythem mit eingelagerten punktförmigen roten Flecken, das Handflächen, Fußsohlen und die Mundpartie freilässt. Im manchen Fällen treten in den geröteten Hautbezirken petechiale Blutungen und urtikarielle Effloreszenzen auf. Das Exanthem bildet sich zusammen mit dem Fieber und der Tonsillitis zwischen dem 6. und 9. Tag zurück. Danach setzt im Gesicht und am Körper eine feine Schuppung ein, gefolgt von
Epidemiologie. Das Erysipel tritt am häufigsten an den Beinen, seltener an den Armen und im Gesicht auf. Es neigt in größeren Abständen zu Rezidiven an der gleichen Stelle, da keine Immunität entsteht. Disponierend wirken Ödeme durch Varizen oder Lymphstauung, besonders das Lymphödem nach Mammaamputation. Eintrittspforte der Streptokokken sind meistens kleine oberflächliche Hautläsionen, an den Beinen oft Erosionen durch eine Interdigitalmykose. Aber auch Kratzer und Wunden öffnen den Infektionsweg, der in den Lymphspalten des Korium verläuft. Wenn die Infektion die Subkutis erfasst, spricht man von Zellulitis, bei Einbeziehung der tiefen Weichteile von Fasziitis oder Gangrän. Klinik. Eine Inkubationszeit lässt sich kaum feststellen, da es nur selten zur Übertragung kommt. Initialsymptome: Schüttelfrost, Fieber über 39 °C, starkes Krankheitsgefühl. Oft erst einige Stunden oder einen Tag nach dem Temperaturanstieg intensive Hautrötung und druckschmerzhafte Schwellung an der Eintrittsstelle. Lokalisation am häufigstem an den Unterschenkeln und im Gesicht (. Abb. 10.9). Das hochrote Areal breitet sich mit scharfer Abgrenzung gegen die gesunde Haut aus und erreicht größere Ausdehnung. An der Oberfläche können Bläschen und Pusteln auftreten. Die regionalen Lymphknoten schwellen an. Mitunter wird eine Lymphangitis mit streifiger Rötung sichtbar. In schweren Fällen kann die Wundrose zur Sepsis führen, bei Lokalisation im Gesicht auch zur Meningitis.
864
Kapitel 10 · Infektionskrankheiten
10 a
b . Abb. 10.9a, b. Erysipel. a Im Gesicht mit Schwellung und scharf begrenzter Rötung im Bereich der rechten Wange. b Am rechten Unter-
schenkel nach oben scharf begrenzt (aus Braun-Falco et al. Dermatologie und Venerologie. 5. Aufl., Springer, Berlin 2005)
Diagnostik. Ergibt sich aus der typischen Kombination von Fie-
Klinik. Nach einer Inkubation von Stunden schockartiges
ber und Lokalbefund. Erregernachweis durch Abstrich aus der Wunde. Die Antistreptolysinreaktion steigt im Verlauf an.
Syndrom mit Verwirrtheit, Hypotonie (systolischer Druck 2,5 mg/dl), Koagulopathie (Thrombopenie Zwei dominante Manifestationen charakterisieren die Erkrankung: Rigidität und Reflexspasmen. Rigidität tritt in jedem Fall auf, Spasmen können fehlen. Der kumulative Effekt beider Phänomene über mehrere Tage bringt die Gefahr der respiratorischen Insuffizienz mit sich. In schweren Fällen treten autonome Dysregulationen hinzu, die starkes Schwitzen bewirken und dazu führen, dass Tachykardie und Hypertonie mit Bradykardie und Hypotonie alternieren.
Die Rigidität äußert sich an den Kaumuskeln in einer Kiefersperre (Trismus), die das Sprechen und Schlucken erschwert, an den Schlundmuskeln in einer Dysphagie. Das Gesicht nimmt durch die Kontraktion der mimischen Muskulatur den Ausdruck eines verkrampften Lachens (Risus sardonicus) an. Der Nacken wird steif, die Bauch- und Rückenmuskulatur bretthart. Bei exzessiver Kontraktion der langen Rückenstrecker hebt der Körper bogenförmig von der Unterlage ab (Opisthotonus). Reflexspasmen sind anfallsartige, schmerzhafte, mehrere Sekunden dauernde Exazerbationen der Rigidität mit simultaner Kontraktion ganzer Muskelgruppen, sowohl der Agonisten als auch der Antagonisten. Die Fehlhaltung des Körpers verstärkt sich, der Brustkorb wird unbeweglich, das reichliche Sekret aus Nasopharynx und Mund erschwert die Atmung, ein Laryngospasmus kann die Atemwege ganz verschließen. In schweren Fällen folgen mehrere solcher Anfälle aufeinander. Die Relaxation nach einem Anfall bringt die Rigidität auf das Ausgangsniveau zurück. Bei intensiven Spasmen der Rückenmuskulatur kommt es nicht selten zu keilförmigen Frakturen der mittleren Brustwirbelkörper. Krankheitsverlauf: Selten bleibt der Tetanus lokalisiert, d.h. auf Muskelgruppen in der Nähe der Wunde beschränkt. Es werden folgende Schweregrade des generalisierten Tetanus unterschieden: 4 Schweregrad I: Es kommt zur Rigidität. 4 Schweregrad II: Rigidität mit gelegentlichen kurzen Spasmen. 4 Schweregrad III: Starke Rigidität und häufigen schweren Spasmen mit folgendem Ablauf: 5 Initialsymptome: Trismus, Nackenschmerzen und Muskelversteifung. 5 Innerhalb von 48 Stunden erster Reflexspasmus, gefolgt von einem zweiten im Laufe einer Stunde.
869 10.2 · Bakterielle Infektionen
5 Weitere Reflexspasmen in immer kürzeren Abständen, 5
5 5 5 5
ausgelöst durch geringste äußere Reize. Beschleunigung der schmerzhaften Krampfanfälle in den ersten 3–4 Tagen. Zusätzliche Beeinträchtigung durch starke Sekretion im Mund und in den oberen Atemwegen. Höhepunkt des Tetanus am dritten Tag. Patient bleibt für weitere 4–5 Tage schwer krank. Nach dem 10. Tag deutliches Nachlassen der Reflexspasmen und langsame Rückbildung der Rigidität. Vollständige Genesung der Überlebenden nach 4–6 Wochen.
10
Therapie. Patienten mit einem Tetanus gehören zur Behandlung auf eine Intensivstation, wo künstliche Beatmung und fortlaufende Überwachung und Pflege gewährleistet sind. Auch in zunächst leichten Fällen können bedrohliche Komplikationen auftreten. Antitoxin: Sofort nach Stellung der Diagnose gibt man 3000– 6000 IE humanes Antitoxin i.m., wegen des großen Volumens auf mehrere Stellen verteilt. Damit soll noch nicht gebundenes Tetanospasmin neutralisiert werden. Antibiotika: Eradikation der Tetanusbakterien mit Penicillin G (20 Mill. IE i.v./Tag). ! Antibiotika können das Antitoxin nicht ersetzen.
Bedrohliche, oft tödliche Komplikationen: Respiratorische In-
Wundreinigung: Die Wunde ist zu revidieren und von Nekrosen
suffizienz durch Thoraxstarre und Laryngospasmus, Aspirationspneumonie, Sepsis, Hypotonie mit Kreislaufschock. Die meisten Todesfälle ereignen sich in der ersten Krankheitswoche.
zu befreien.
Diagnostik. Ausschließlich klinisch zu stellen. Die Erregerkultur aus der Wunde kann negativ sein und bei Patienten ohne Tetanus positiv. Ein Antitoxintiter von 0,01 IE/ml oder höher macht die Diagnose unwahrscheinlich. Prophylaxe. Immunprophylaxe: 4 Passive Immunisierung: Mit 250–500 IE humanem Tetanus-
®
®
antitoxin i.m. (Tetagam N , Tetanobulin ) bei nicht oder unvollständig immunisierten Frischverletzten. Man kombiniert mit 0,5 ml Tetanus-Adsorbat-Impfstoff an kontralater Stelle zur aktiven Immunisierung oder deren Auffrischung. 4 Aktive Immunisierung:
5 Grundimmunisierung mit 2-mal 0,5 ml Tetanus-Toxoid
Konservative Maßnahmen: Solange die Atmung nicht beeinträchtigt ist, werden Rigidität und Reflexspasmen mit Diazepam i.m. (10–30 mg alle 8 Stunden) kontrolliert, wenn nötig in Kombination mit Phenobarbital (100–200 mg/Tag). Andernfalls ist die Tracheotomie indiziert. Sie verkleinert den Totraum, verbessert die pulmonale Ventilation und beseitigt die Gefährdung durch Aspiration und Laryngospasmen. Die Ernährung muss in schweren Fällen intravenös erfolgen. Nasogastrale Sonden lassen sich erst nach Abklingen der Reflexspasmen legen. Totales Paralyse-Regime: Nach Tracheostomie völlige Aufhebung von Rigidität und Reflexspasmen durch einen langwirkenden neuromuskulären Blocker (Pancuronium, Alcuronium) in Kombination mit mechanischer Beatmung. Beatmungsdauer mindestens 10 Tage, danach langsame Entwöhnung. Das Bewusstsein des Patienten bleibt dabei erhalten. Begleitende Therapie der kardiovaskulären Instabilität mit Betablockern gegen Tachykardie und Alphablockern (Clonidin) gegen Hypertonie.
im Abstand von 4–6 Wochen. 5 3. Injektion mit 0,5 ml nach 6–12 Monaten. 5 Auffrischungsimpfungen alle 10 Jahre mit 0,5 ml.
Durch die Vakzination der Mutter werden die Neugeborenen geschützt. Da die Tetanusinfektion keine Immunität hinterlässt, bedürfen auch Rekonvaleszenten der aktivem Schutzimpfung. Nebenwirkungen: Lokalreaktionen (Rötung, Schwellung), Allgemeinreaktionen (Kopfschmerzen, Temperaturen, Krankheitsgefühl), selten auch allergische Reaktionen (Nervenlähmungen, Myelitis). In den USA, wo die Grundimmunisierung bei allen Kindern bis zum Eintritt in die Schule gesetzlich vorgeschrieben ist, wurde zwischen 1988 und 1991 bei einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe der Antitoxingehalt des Serums bestimmt. Danach hatten 69% der über 6 Jahre alten Amerikaner protektive Antikörperspiegel (>0,15 IE/ml). Von den Kindern von 6–16 Jahren waren es 82,2%, von den Erwachsenen im Alter über 70 Jahre aber nur noch 27,8%. Dieser Befund unterstreicht das erhöhte Erkrankungsrisiko alter Menschen und die Notwendigkeit der Auffrischungsimpfungen.
Prognose. Bei Einsatz aller Mittel kann die Letalität auf 10–20%
gesenkt werden. Prognostisch wichtig ist das Intervall in Stunden vom ersten Symptom bis zum ersten Spasmus (»period of onset«). Beträgt es weniger als 48 Stunden sind die Überlebenschancen erheblich geringer als bei Abständen über 48 Stunden. 10.2.9
Botulismus
Erreger. Clostridium botulinum, ein obligat anaerober, Sporen bildender, grampositiver Bazillus, der überall in der Erde und im Schlamm vorkommt. Die vegetativen Formen bilden das hochgiftige Botulinumtoxin, das wie das Tetanustoxin aus einer schweren (100 kDa) und einer leichten (50 kDa) Kette zusammengesetzt ist. Nach der Antigenität des Toxins werden 8 Serotypen unterschieden (A, B, C1, C2, D, E, F, G), von denen die Typen A, B, E und selten auch F humanpathogen sind. Das Botulinumtoxin ist ein stark wirksames Neurotoxin, das im Gegensatz zum Tetanustoxin nicht am zentralen, sondern am peripheren Nervensystem angreift. Es hemmt die Erregungsübertragung an den motorischen Endplatten der Skelettmuskeln, in den autono-
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Kapitel 10 · Infektionskrankheiten
men Ganglien und an den parasympathischen Nervenenden, indem es die Azetylcholinfreisetzung aus den präsynaptischen Vesikeln blockiert. Dieser Effekt des Botulinumtoxins beruht darauf, dass es als Zink-Endopeptidase bestimmte an der Neuroexozytose beteiligte Proteine spaltet. Das Toxin wird durch 10minütiges Erhitzen auf 100 °C inaktiviert. Die Sporen gehen erst bei 120 °C zugrunde. Epidemiologie. Der Botulismus ist selten, aber weltweit verbrei-
tet. Zur Namensgebung führte ein Ausbruch im 18. Jahrhundert in Süddeutschland, bei dem mehrere Personen an vergifteter Wurst (lat. botulus) starben. Alle Manifestationen der Erkrankung sind auf das Toxin des C. botulinum zurückzuführen, das auf unterschiedliche Weise in den Körper gelangt. Intoxikation durch präformiertes Botulinumtoxin in der Nahrung: Intoxikationsquelle sind ungenügend sterilisierte, un-
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ter Luftabschluss konservierte Lebensmittel, in denen Sporen des C. botulinum die anaeroben Bedingungen zum Auskeimen in toxinbildende vegetative Formen gefunden haben. Am häufigsten handelt es sich um Gemüse (Bohnen, Spargel, Tomaten) und Früchte, die zu Hause in Dosen eingemacht wurden. Zu nennen sind auch selbst hergestellte Räucherwaren (Schinken, Wurst). Nur in etwa 10% der Fälle erfolgt die Vergiftung durch kommerzielle Lebensmittel, darunter Gemüse, Fisch, Früchte, Gewürze (Pfeffer), Milchprodukte, Rindfleisch, Schweinefleisch und Geflügel. Geruch, Aussehen und Geschmack der toxinhaltigen Nahrungsmittel können völlig normal sein. Einige Stämme von C. botulinum besitzen jedoch proteolytische Aktivität und bewirken Zersetzungserscheinungen. Das mit der Nahrung aufgenommene Botulinumtoxin wird vom Darm unzerstört resorbiert, obwohl es ein Protein ist. Danach gelangt es auf dem Blutweg in die peripheren cholinergen Nervenenden. Wundbotulismus: Bei dieser seltenen Variante stammt das Botulinumtoxin aus verschmutzten, mit Sporen des C. botulinum kontaminierten Wunden, in denen unter anaeroben Bedingungen toxinbildende Bakterien gewachsen sind. Intoxikation durch Darmbesiedlung mit C. botulinum: Bei Säuglingen bis zum Alter von 12 Monaten können mit der Nahrung aufgenommene Sporen zur Kolonisation von C. botulinum im Darm und zur Toxinresorption führen. Als Sporenquelle kommt vor allem Honig in Betracht. Bei Erwachsenen ist das Auskeimen von Sporen im Darm nur selten der Fall. Klinik. Durch die Blockade der motorischen Endplatten, die sich zuerst auf die am meisten betätigten Muskeln auswirkt, kommt es zu einer symmetrischen absteigenden Lähmung. Parallel dazu treten oft Störungen der autonomen Innervation auf. Inkubationszeit: Bei Lebensmittelvergiftung je nach Toxindosis 12–72 Stunden, bei Wundbotulismus etwa 10 Tage. Symptome: Initial Mundtrockenheit, nicht selten Würgreiz und Erbrechen, gefolgt von Schluckstörungen, Sprachstörungen und Diplopie. Danach oft rasche Ausbreitung einer motorischen Schwäche vom Kopf in Nacken, Arme und Brustkorb mit zuneh-
mender Lähmung der Atemmuskeln, später manchmal auch der Beine, begleitet von Areflexie. Lähmungserscheinungen des Parasympathikus sind Pupillenerweiterung, Obstipation bis zum paralytischen Ileus und Harnverhaltung. Störungen der sympathischen Innervation führen zur Hypotonie ohne kompensatorische Tachykardie. Bei einigen an Botulismus erkrankten Patienten stehen die Ausfallserscheinungen des autonomen Nervensystems ganz im Vordergrund des klinischen Bildes. Das Bewusstsein der Patienten ist nicht gestört. Die Hauptkomplikationen sind respiratorische Insuffizienz und fieberhafte Lungeninfektionen. Diagnostik. Suspektes Muster der neuromuskulären Lähmungen und deren Auftreten bei Personengruppen mit der gleichen Lebensmittelexposition. Nachweis von C. botulinum oder nur des Toxins in der verdächtigten Mahlzeit, im Erbrochenen, im Magensaft oder Stuhl bzw. in Wunden bestätigt die Diagnose. Toxin wird mit dem Bioassay an Mäusen erfasst. Im Serum gelingt der Nachweis nur in 35% der Fälle. Als präsynaptische Erkrankung lässt sich die Parese durch eine spezielle elektromyographische Untersuchung identifizieren (Zunahme des herabgesetzten Aktionspotenzials bei hochfrequenter Stimulation bzw. nach aktiver Belastung des Muskels). Therapie. Einweisung auf eine Intensivstation mit der Möglichkeit zur künstliche Beatmung. Fortlaufende Kontrolle von Atmung und Kreislauf. Bei Absinken der Vitalkapazität und Hypoxie Tracheotomie und mechanische Beatmung. Sofortige Applikation von trivalentem Botulinum-Antitoxin vom Pferd (gegen die Typen A, B und E): 250 ml langsam i.v., gleichzeitig 250 ml intramuskulär. Vorher 0,1 ml Antitoxinserum intradermal als Testdosis zum Ausschluss einer Allergie gegen Pferdeserum. Antibiotikabehandlung mit Penicillin bei Verdacht der Darmbesiedlung mit C. botulinum und bei Wundbotulismus. Die Letalität konnte auf 7,5% gesenkt werden. Der Säuglingsbotulismus wird nur pflegerisch behandelt. Prognose. Bei optimaler Intensivpflege und Beatmung liegt die
Letalität unter 10%. Ein erhöhtes Risiko haben Patienten über 60 Jahre. Die Sterblichkeit am Säuglingsbotulismus ist niedrig. Die künstliche Beatmung kann in schweren Fällen für einige Monate notwendig sein. Die Rückbildung der Lähmungen kommt durch das Aussprossen neuer Nervenenden zustande. Restbeschwerden wie Körperschwäche und autonome Dysfunktion können sich über ein Jahr hinziehen. 10.2.10
Meningokokkeninfektionen
Erreger. Neisseria meningitidis, ein gramnegativer Diplokokkus mit einer Polysaccharidkapsel, die auch Proteine und ein toxisches Lipopolysaccharid (LPS) enthält. Man unterscheidet 16 Serogruppen, die in Serotypen, Subtypen und Immunotypen unter-
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teilt werden. Über 99% der Infektionen entfallen auf die Gruppen A, B, C, 29E, W-135 und Y. Meningokokken sind ausschließlich humanpathogen und haben ihren Standort auf der Schleimhaut des Nasen-Rachen-Raumes. Die im Säuglingsalter beginnende Besiedlung mit nichtpathogenen Bakterien (N. lactamica, avirulente N. meningitidis) erzeugt bakterizide Antikörper und damit Immunität auch gegen potenziell pathogene Meningokokken, die bei 5–10% der Bevölkerung in der Mundflora nachzuweisen sind. Zur klinisch manifesten Infektion kommt es nur unter der selten gegebenen Voraussetzung, dass ein virulenter Stamm von N. meningitidis auf ein empfängliches Individuum oder Kollektiv trifft. Epidemiologie. Meningokokkeninfektionen kommen weltweit
vor. In den gemäßigten Klimazonen beträgt die jährliche Inzidenz 1–2 Fälle auf 100.000 Einwohner. Am höchsten ist sie bei Kindern im Alter zwischen 6 Monaten und 3 Jahren (10– 15/100.000), überdurchschnittlich hoch auch bei Jugendlichen zwischen dem 14. und 20. Lebensjahr. In den USA werden jährlich 3000–4000 Fälle registriert. Größere Ausbrüche mit mehreren tausend Fällen ereignen sich regelmäßig in China, Afrika (Subsahara) und Südamerika. Epidemien und Endemien entstehen wahrscheinlich durch klonale Meningokokkenstämme mit einer veränderten, die Immunabwehr umgehenden Oberflächenstruktur. Ansteckungsmodus: Tröpfcheninfektion, begünstigt durch enges Zusammenwohnen in Lagern, Internaten, Kasernen oder Gefängnissen. Infektionsquelle: Asymptomatische Keimträger und manifest erkrankte Personen. Individuelle Risikofaktoren sind Zigarettenrauchen, unspezifische respiratorische Infekte, angeborener Mangel an Komponenten des Komplementsystems, an Properdin und an Immunglobulinen, insbesondere an IgM. Klinik. Mögliche Manifestationen der Meningokokkeninfektion sind asymptomatischer Carrierstatus mit erworbener Immunität, katarrhalische Entzündung des Nasopharynx, Bakteriämie mit Sepsis, Meningitis und sonstiger Organbefall. Zu invasiven Infektionen kommt es selten, weil die Meningokokken an der Schleimhautbarriere und in der Blutbahn durch komplementfixierende Antikörper, alternativ aktiviertes Komplement und Phagozyten abgetötet werden.
Folgen sind Vasodilatation, Herabsetzung der Herzleistung, Plättchenaggregation, disseminierte intravaskuläre Gerinnung mit Blutungsneigung und vermehrte Kapillardurchlässigkeit. Infektion des oberen Respirationstraktes: Eintrittspforte der Meningokokken ist der Nasopharynx. Die Schleimhautbesiedlung kann ohne Symptome zur Immunität führen. Die leichtesten klinischen Erscheinungen sind die eines unspezifischen Infektes mit Kopfschmerzen, Schnupfen, Halsschmerzen Husten und Konjunktivitis. Sofern ihm in 3–7 Tagen kein Generalisationsstadium folgt, dürfte die Ursache kaum erkannt werden. Sepsis: Mit oder ohne vorausgehenden katarrhalischen Infekt kommt es zur Bakteriämie mit Schüttelfrost, Fieber (39– 40 °C), Übelkeit, Erbrechen, Myalgien und einem pathognomonischen petechialen Exanthem, das sich am stärksten über den Streckseiten der Extremitäten entwickelt. Einzelne Petechien können in Ekchymosen mit zentraler Nekrose übergehen (. Abb. 10.11). In 10–20% der Fälle resultiert das fulminante, oft tödliche Waterhouse-Friderichsen-Syndrom, gekennzeichnet durch einen abrupt einsetzenden protrahierten Kreislaufschock, ausgedehnte Purpuraläsionen an Haut, Schleimhäuten und inneren Organen (Nebennieren, Hypophyse, Muskeln), Myokarditis, Schocklunge und disseminierte intravaskuläre Gerinnung, die zu multiplen Gefäßverschlüssen mit ischämischen Nekrosen, besonders an den Akren und zu starker Blutungsneigung führt (7 Kap. 1.2.1). Todesursache ist gewöhnlich eine kardiale und respiratorische Insuffizienz. Meningitis: Komplikation in 60–70% der Fälle von Meningokokkensepsis. Hingegen fehlen bei 20–40% der Meningitispatienten die Symptome der Bakteriämie. Nach Absiedlung im ZNS kommt es zur Multiplikation der Erreger und Endotoxinfreisetzung im Nervengewebe. Klinisch manifestiert sich die Meningitis mit Fieber, Lethargie Kopfschmerz, Erbrechen und Nackensteifigkeit. Die meisten Patienten weisen das typische petechiale Exanthem auf. An den Hirnnerven III, IV, VI, VII und VIII können Paresen auftreten, die aber nur selten Spätfolgen hinterlassen.
> Beim Versagen der Abwehrmechanismen vermehren sich die Meningokokken im Blut sehr schnell und setzen durch Autolyse größere Mengen LPS frei, ein hochaktives Endotoxin, das innerhalb einiger Stunden zum tödlichen Kreislaufschock führen kann.
Die eminent toxischen Eigenschaften des LPS beruhen auf seinem Triggereffekt auf die proteolytischen Kaskaden der Entzündungsreaktion (Blutgerinnung, Komplement, Fibrinolyse, Kallikrein-Kinin-System) und auf intensiver Stimulation der Makrophagen zur Zytokinproduktion (TNF α, IL-1, 7 Kap. 8.1). Die
10
. Abb. 10.11. Flächenhafte Pupura bei Meningokokkensepsis (aus Braun-Falco et al. Dermatologie und Venerologie. 5. Aufl., Springer, Berlin 2005)
872
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Kapitel 10 · Infektionskrankheiten
Ausgedehnte zerebrale Läsionen führen zum Hirnödem mit Koma und Krampfanfällen. Seltene Organmanifestationen: Eitrige und nichteitrige Monarthritis, eitrige Perikarditis, primäre Meningokokkenpneumonie.
Prognose. Die Mortalität der invasiven Meningokokkenerkran-
Diagnostik. Klinischer Verdacht: In jedem Fall von akut einsetzendem Fieber
10.2.11
mit petechialem Exanthem. Bei Meningokokkenerkrankungen im näheren oder weiteren Umfeld. Bei jeder eitrigen Meningitis. Erregernachweis: Kultureller Nachweis im Blut, Liquor sowie im Gelenk- und Perikarderguss sichert die Diagnose. Eine Erregerisolierung vom Rachenabstrich ist wegen häufigen Vorkommens bei gesunden Keimträgern nicht zu verwerten. Schnelldiagnose durch Nachweis von intrazellulären gramnegativen Diplokokken in Ausstrichen von Liquor, Petechienabstrichen und der Leukozytenschicht (»buffy coat«) von Zitratblut. Beweisend ist auch der Nachweis von gelöstem spezifischen Kapselpolysacchariden im Liquor, Serum, Gelenkexsudat oder Urin mittels Gegenstrom-Immunelektrophorese oder Latexagglutination. Der oft trübe Liquor enthält massenhaft segmentkernige Granulozyten pro Mikroliter. Immundefekte: Bei Erwachsenen mit invasiver Meningokokkeninfektion sollten die Immunglobuline (IgG2), die totale hämolytische Komplementaktivität und die C3-Komponente bestimmt werden, um Defekte auszuschließen, die für das Angehen der Infektion verantwortlich sein können.
Erreger. Neisseria gonorrhoeae, ein gramnegativer, nur beim Menschen vorkommender Diplokokkus, der Schleimhäute befällt und im subepithelialen Bindegewebe eine eitrige Entzündung hervorruft. In Ausstrichpräparaten sind die Gonokokken überwiegend im Zytoplasma neutrophiler Granulozyten lokalisiert (. Abb. 10.12). Fimbrien (Pili) und ein adhäsives Membranprotein (P II) befähigen sie, an Mukosazellen zu haften. Anschließend durchdringen die Erreger das Epithel, setzen gewebeschädigende Enzyme (Proteasen, Peptidasen und Phospholipasen) frei und stimulieren mit ihrem Lipooligosaccharid die Produktion von Tumornekrosefaktor-α.
Prophylaxe. Chemoprophylaxe: Bei Kontaktpersonen (Familie, Pflegeperso-
nal) mit einer Einmaldosis von 500 mg Ciprofloxacin p.o. oder mit Rifampin (2-mal tgl. 200–300 mg p.o. für 2 Tage). Immunprophylaxe: Verfügbar sind Vakzine gegen 4 Serogruppen (A, C, W-135, Y). Eine Einzeldosis schützt Erwachsene und Kinder in 90% der Fälle für 2 Jahre. Indikation: Reisende in Epidemiegebiete, Militärpersonal, Personen mit Immunglobulin- und Komplementdefekten.
kungen beträgt insgesamt rund 10%. Bei der Meningitis ist sie mit 5% deutlich niedriger als bei der Sepsis, die eine Mortalität von 50–60% hat.
Gonorrhö
Epidemiologie. Die Gonorrhö (Tripper) ist eine seit Jahrtau-
senden bekannte, weltweit verbreitete Geschlechtskrankheit. In den USA erreichte die Inzidenzrate 1975 mit 473 Fällen auf 100.000 Einwohner einen Höhepunkt und ging danach bis 1995 auf 150 Fälle pro 100.000 zurück. In Schweden betrug sie 1995 nur 3 pro 100.000. Am stärksten nahm die Häufigkeit der Gonorrhö unter homosexuellen Männern ab, offenbar durch Schutzmaßnahmen gegen eine HIV-Infektion. Dagegen ist sie unter drogenabhängigen Frauen (Sex für Drogen) weiterhin hoch. Hauptinfektionssquelle sind Frauen mit asymptomatischer Gonorrhö und Männer, die beschwerdefrei geblieben sind oder ihre Symptome ignoriert haben. Das Ansteckungsrisiko bei einmaligem Geschlechtsverkehr mit einer infizierten Person beträgt für Männer 20–40%, für Frauen 60–90%. Bei Analverkehr
Therapie. Antibiotika: Hochdosierte 7-tägige parenterale Therapie mit Pe-
nicillin G (alle 6 Stunden 6 Mill. IE i.v.) oder Ceftriaxon (2mal tgl. 2,5 g i.v.). Letzteres würde auch eine Infektion mit Pneumokokken und Hämophilus influenzae abdecken. Gegen das ebenfalls gut wirksame Chloramphenicol (75/100 mg/kg i.v. alle 6 Stunden, maximal 4 g/Tag) wurden neuerdings resistente Stämme beobachtet. Allgemeine Maßnahmen: Aufnahme in die Intensivstation zur fortlaufenden Überwachung, da in den ersten Tagen plötzliche Verschlimmerung droht. Schocktherapie mit Infusionen, Dopamin, künstlicher Beatmung evtl. auch Dialyse. Bei Hirnödem Mannitolinfusionen. Glukokortikoide sind in der Regel nicht indiziert. Auch bei Blutungen in die Nebennierenrinde tritt meistens kein Cortisolmangel auf.
. Abb. 10.12. Gonokokkennachweis im Abstrichpräparat. Typisch ist ihre paarweise (Diplokokken) intraleukozytäre Lagerung (Methylenblaufärbung) (aus Braun-Falco et al. Dermatologie und Venerologie. 5. Aufl., Springer, Berlin 2005)
873 10.2 · Bakterielle Infektionen
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kann primär das Rektum, bei Fellatio der Pharynx betroffen sein.
der Vagina mit Vulvitis. Eine gonorrhoische Vaginitis älterer Mädchen lässt an sexuellen Missbrauch denken.
Klinik. Lokalinfektion beim Mann Inkubationszeit: 2–5 Tage, seltener bis zu 14 Tagen.
Pharyngitis: Nach orogenitaler Kontaktinfektion kann es zur exsudativen Tonsillitis kommen, die auch ohne Therapie nach einigen Wochen abheilt.
Manifestationen: Urethritis anterior und posterior, Epididymitis,
Rektumbefall: Eine Infektion des Rektums kann zur gonorrhoischen Proktitis mit anorektalen Schmerzen, Pruritus, Tenesmen und schleimig-eitrigen Ausscheidungen führen, aber auch symptomlos bleiben. Bei Männern kommt sie durch Analverkehr, bei Frauen häufiger durch Übergreifen vom Genitale her zustande. Disseminierte Gonokokkeninfektion: Vorkommen in weniger als 1% der Fälle. Manifestationen: Eitrige Arthritis in ein bis zwei Gelenken. Papuläre, petechiale und pustulöse Hautausschläge. Selten Endokarditis und Meningitis.
selten periurethrale Abszesse und Prostatitis. Symptome: Von den Infizierten bleiben 10–30% asymptomatisch oder oligosymptomatisch. Auf ein initiales Kribbeln in der Urethra folgen schmerzhaftes Wasserlassen und eitriger Ausfluss bzw. eitriges Exprimat. Die Harnröhrenmündung ist geschwollen und gerötet. Zur Epididymitis mit äußerst schmerzhafter Anschwellung des Nebenhodens und Rötung des Skrotums kommt es in 5–10% der unbehandelten Fälle. Meistens tritt sie einseitig auf, nicht selten mit leichtem Fieber und sekundärer Hydrozele. Bei doppelseitigem Befall droht Sterilität. Abszedierungen der periurethralen Drüsen führen zur Rötung und Schwellung des Penis, Prostatitiden zu lokalen Beschwerden. Urethrastrikturen können zurückbleiben. Lokalinfektion bei der Frau Inkubationszeit: 7–21 Tage. Manifestationen: Urethritis, Zervizitis, Bartholonitis, Endometritis, Salpingitis, Pelveoperitonitis, Perihepatitis.
Diagnostik. Erregernachweis im Ausstrichpräparat: Färbung der Abstriche
von der Urethramündung bzw. von der Zervix auf dem Objektträger mit Methylenblau und nach Gram. Positiver Befund: Intraleukozytäre gramnegative Diplokokken. Ein direkter Nachweis in Eiter- oder Sekretproben gelingt auch mit einem aufwendigeren Immunosorbenstest. Erregerkultur: Anzüchtung im Thayer-Martin-Medium, das wegen der Empfindlichkeit der Gonokokken sofort beimpft werden muss. Blutkulturen werden im Standardblutkulturmedium angelegt. Dem Erregernachweis ist eine Resistenzprüfung anzuschließen.
Symptome: Etwa die Hälfte der infizierten Frauen ist asympto-
matisch. Die meisten kommen wegen einer Gonorrhö des Sexualpartners zur Untersuchung. Wenn Beschwerden auftreten, sind es schmerzhafte Miktion, Harndrang und eitriger, grün-gelblicher Fluor und Dyspareunie. Durch den chronischen Fluor können an der Vulva Condylomata acuminata entstehen. Die gewöhnlich einseitige, nicht selten abszedierende Bartholinitis geht mit schmerzhafter Schwellung der Drüse einher. Solange der innere Muttermund eine intakte Barriere bildet, bleibt die Infektion auf die unteren Genitalabschnitte begrenzt. Das Aufsteigen der Infektion führt zur Endometritis mit Metrorrhagien und zur Salpingitis, an der 15% der Patientinnen erkranken. Die Salpingitis und eine davon ausgehende Pelveoperitonitis führen zu Fieber, heftigen Unterleibsschmerzen und zur Beschleunigung der Blutsenkung. Selten breitet sich die Peritonitis in den rechten Oberbauch bis zum Leberbett aus. Bei Frauen in der Menopause und kleinen Mädchen können die Gonokokken in das niedrige Plattenepithel der Vagina eindringen und eine Vaginitis hervorrufen. Lokalinfektionen bei beiden Geschlechtern Gonorrhö des Kindes: Gonorrhoische Konjunktivitis bei Neuge-
borenen, der mit 1%iger Silbernitratlösung vorgebeugt wird. Bei weiblichen Säuglingen und Kleinkindern Schmierinfektionen
Therapie. Die früher übliche Behandlung mit Penicillin oder
Tetracyclinen ist überholt, da 30–50% der Gonokokkenstämme gegen beide Antibiotika resistent sind. Anzustreben ist eine zuverlässige Therapie mit einer Einzeldosis und die Ermittlung und Mitbehandlung des Sexualpartners. Unkomplizierte Infektion von Urethra, Zervix, Rektum oder Pharynx: Alternativ als Einzeldosis: 125 mg Ceftriaxon i.m.;
400 mg Cefixim p.o.; 500 mg Ciprofloxacin p.o.; 400 mg Ofloxacin p.o. Gegen eine mögliche Co-Infektion mit Chlamydia trachomatis zusätzlich 1 g Azithromycin p.o. oder für 7 Tage 2mal tgl. 100 mg Doxycyclin. Infektion mit Komplikationen: 4 Disseminierte Gonokokkeninfektion: Initial 1 g Ceftriaxon
i.v. oder i.m. in 24 h. 4 Epididymitis: Ofloxacin 2-mal tgl. 300 mg für 10 Tage oder einmal 250 mg Ceftriaxon i.m., anschließend für 10 Tage 2mal tgl. 100 mg Doxycyclin. 4 Salpingitis und Pelveoperitonitis: Stationäre Behandlung mit Kombinationen von Doxycyclin plus Cefoxitin i.v. oder Clindamycin plus Gentamicin i.v.
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Kapitel 10 · Infektionskrankheiten
10.2.12
Bartonellosen
Die gramnegativen, nicht obligat intrazellulären Bakterien können in Endothelzellen und Erythrozyten eindringen. Zu den Manifestationen der Bartonelleninfektion gehören deshalb angiomatöse Wucherungen und hämolytische Anämien. Bekannt sind 3 humanpathogene Spezies: Der Erreger des Oroyafiebers und der Peruwarze (Verruga peruana) Bartonella bacilliformis, der Erreger des Wolhynischen Fiebers (Trench fever) Bartonella quintana und der Erreger der Katzenkratzkrankheit Bartonella henselae. Bei HIV-Infizierten und nur ausnahmsweise bei immunkompetenten Personen kommt ein als bazilläre Angiomatose bezeichnetes Krankheitsbild vor, das mit einigen Variationen sowohl von B. quintana als auch von B. henselae verursacht wird. Es zeigt, welchen modifizierenden Einfluss das Immunsystem auf die klinische Manifestation einer Infektion ausüben kann. Oroyafieber und Verruga peruana Erreger. Bartonella bacilliformis. Überträger: Sandfliege (Phlebotomus), die den Erreger durch Stich von Mensch zu Mensch überträgt. Ein Tierreservoir ist nicht bekannt.
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Epidemiologie. Vorkommen nur im den Hochtälern der Anden
(Peru, Ecuador, Kolumbien, Chile), entsprechend dem Verbreitungsgebiet der Sandfliege. Klinik. Inkubationszeit: Im Durchschnitt 3 Wochen (Variationsbreite
8–100 Tage) nach dem Insektenstich. Symptome: Subakuter oder akuter Beginn mit Fieber, Abgeschla-
genheit, Kopf- und Gliederschmerzen. Kurz danach plötzliches Auftreten einer schweren Anämie, die durch den beschleunigten Abbau der von mit Bartonellen befallenen Erythrozyten bedingt ist. Leber und Lymphknoten schwellen an. Im Blutausstrich Makrozytose, Poikilozytose und kernhaltige Erythrozyten. An den meisten Erythrozyten haften zahlreiche Erreger. Bei normaler Leukozytenzahl sieht man eine Linksverschiebung. Eine thrombopenische Purpura kann hinzutreten. Das Sensorium trübt sich ein. Oft kommt es zu Sekundärinfektionen, vor allem Salmonellosen. Ohne Behandlung erreicht die Letalität 50%. Bei günstigem Verlauf allmählicher Fieberabfall innerhalb von 2–4 Wochen. In der Rekonvaleszenz kann eine chronische Infektion fortbestehen und zur Warzenbildung (Perruga peruana) führen. Die im Gesicht am Stamm und an den Extremitäten lokalisierten Warzen gehen aus kleinen Pusteln hervor und sind durch ihren Kapillarreichtum rötlich gefärbt. Diagnostik. Erregernachweis im Blutausstrich und in der Blut-
Therapie. Chloramphenicol und Tetracycline führen in 24 Stun-
den zur Entfieberung. Auch Warzen sprechen an. Kleine Transfusionen können nötig werden. Wolhynisches Fieber Erreger. Bartonella quintana. Überträger: Kleiderlaus. Erregerreservoir ist der Mensch und die Laus selbst, da sie an der Infektion nicht stirbt. Epidemiologie. Erstmals als Schützengrabenfieber im 1. Welt-
krieg in Wolhynien beobachtet, befiel die – auch Fünftagefieber genannte – Krankheit in beiden Weltkriegen tausende von verlausten Soldaten. Danach wurde sie selten. Endemien kommen noch in Russland, Polen, Eritrea, Tunesien und Mexiko vor, sporadische Fälle in den USA und anderen Ländern, hauptsächlich unter Wohnsitzlosen. Ansteckungsmodus: Einreiben infizierten Läusekots in aufgescheuerte Haut oder in die Konjunktiven. Klinik. Inkubationszeit: 14–30 Tage. Symptome: Plötzlich einsetzendes hohes Fieber, begleitet von intensiven Kopfschmerzen, auch retroaurikulär. Das Fieber kann 4–5 Tage dauern und kehrt in unbehandelten Fällen mehrmals in Abständen von 5 Tagen mit 8–48-stündigen Schüben zurück. An den Akren zeigt sich ein oft diskretes makulöses Exanthem (. Abb. 10.13). Häufig entwickelt sich eine aseptische Meningitis. Typisch sind Klagen über rheumatisch-neuralgische Schienbeinschmerzen. Die Patienten werden hinfällig und verlieren an Gewicht. Spätrückfälle nach Jahren sind möglich, da die Erreger im Körper persistieren, wenn nicht lange genug behandelt wird. Komplikationslose Abheilung ist die Regel. Diagnostik. Erregernachweis in der Blutkultur auf speziellen Nährböden. Serologische Tests sind nicht verfügbar. Therapie. Erythromycin (2 g/Tag) oder Azithromycin (500 mg/ Tag) über mehrere Wochen. Prophylaxe durch Läusebekämpfung mit Kontaktinsektiziden.
Katzenkratzkrankheit Erreger. Bartonella henselae. Überträger: Mit Flöhen behaftete und von ihnen infizierte Katzen. Epidemiologie. Verbreitung weltweit, aber ziemlich selten. Zu
60% erkranken Kinder, meistens in der warmen Jahreszeit, wenn die Flöhe aktiv sind. Ansteckungsmodus: Einbringung des Erregers in die Haut über einen Kratzer. Keine Ansteckung durch Beißen oder Lecken.
kultur. Klinik. Primäraffekt mit regionaler Lympadenitis.
875 10.2 · Bakterielle Infektionen
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Therapie. Ciprofloxacin, Doxycyclin und Erythromycin. Bei systemischen Manifestationen und Enzephalitis ist Gentamicin i.v. effektiv.
Bazilläre Angiomatose Erreger. Bartonella quintana (Überträger Kleiderläuse) und B. henselae (Überträger Katzen). Epidemiologie. Vorkommen fast nur bei HIV-Infizierten (>90%).
Ausnahmen betreffen Patienten mit anderen zellulären Immundefekten. Ganz wenige sind immunkompetent. Klinik. Kutane vaskuläre Läsionen: Werden von beiden Erregern verur-
. Abb. 10.13. Wolhynisches Fieber mit diskretem makulösem Exanthem an der Fußsohle (aus Adam et al. Infektiologie. Springer, Berlin 2004)
Inkubationszeit: 3–5 Tage. Symptome: Primäraffekt in Form einer verschorfenden furunkelähnlichen Pustel 3–5 Tage nach dem Kratzer. Ein bis zwei Wochen später Ausbildung einer regionalen Lymphadenitis, der keine Lymphangitis vorausgeht. Die geschwollenen Lymphknoten sind druckempfindlich, können vereitern, nach außen durchbrechen und sekundär infiziert werden. Selten sind die Lymphknoten bilateral oder generalisiert befallen. Häufigste Lokalisationen: Kubitale, axilläre, pektorale, zervikale und inguinale Lymphknoten. Vereinzelt kommt es zur Mitbeteiligung von Leber, Milz und intestinalen Lymphknoten. Bei einem Primäraffekt an den Konjunktiven schwellen die präaurikulären Drüsen an. Oft treten Allgemeinerscheinungen wie Abgeschlagenheit, Anorexie und Gewichtsverlust auf, in manchen Fällen intermittierendes Fieber und eine Enzephalomyelitis. Die Lymphadenitis kann sich über mehrere Wochen hinziehen. Spontanheilung, auch der Komplikationen, ist die Regel. Diagnostik. Suspekt ist die Konstellation: Kratzwunde, regionale
Lymphknotenschwellung und Katzenkontakt. Erregeridentifizierung im Biopsiematerial mittels PCR. Serodiagnose mit spezifischem Antikörpertest.
sacht. Frühveränderungen sind einzelne oder zahlreiche stecknadelkopfgroße hellrote Papeln, die zu exophytischen Knoten mit einer Breite zwischen 1 mm und mehreren Zentimetern anwachsen und ulzerieren können. Vom Kaposi-Sarkom nur feingeweblich zu unterscheiden. Histologie: Lobuläre Proliferation von Kapillaren mit vergrößerten epitheloidzellig geformten Endothelien. Zwischen den Gefäßen Leukozytenansammlungen. Es fehlen die Spindelzellen des Kaposi-Sarkoms. Subkutane Knoten: Werden nur von B. quintana verursacht. Tief subkutan unter normaler Hautoberfläche gelegene vaskuläre Knoten, die in den Knochen eindringen und osteolytisch wirken können. Bazilläre Peliosis: Disseminierte Infektion mit B. henselae, bei der hauptsächlich in Leber (Peliosis hepatis) Milz und Lymphknoten vaskuläre Läsionen entstehen: Zystische mit Endothel ausgekleidete, blutgefüllte Räume von wenigen Millimeter Durchmesser, umgeben von fibromyxoidem Stroma, eingestreuten Leukozyten und gramnegativen Bakterienhaufen. Die Leber kann druckempfindlich werden. Hautveränderungen bestehen in den disseminierten Fällen meistens nicht. Persistierendes Fieber, Nachtschweiß, Abgeschlagenheit und Gewichtsverlust gehören zum Krankheitsbild. Diagnostik. Histopathologischer Befund. Erregeranzüchtung aus
dem Gewebe oder Blut, Differenzierung mittels PCR. Therapie. Erythromycin p.o. (4-mal tgl. 500 mg). Wirksam sind auch Azithromycin und Norfloxacin. Behandlungsdauer 4 Wochen und länger, je nach Rezidivneigung.
10.2.13
Legionellose
Erreger. In 90% der Fälle Legionella pneumophila, ein gramne-
gativer Bazillus aus der Familie der Legionellaceae mit über 14 Serotypen, von denen 3 (1, 4, 6) die meisten humanen Infektionen verursachen. Auf den Typ 1 entfallen allein 80% der Erkrankungen. Zweithäufigster Erreger ist die Spezies Legionella micdadei aus derselben Familie, die insgesamt 41 Spezies um-
876
Kapitel 10 · Infektionskrankheiten
fasst. Legionellen überleben unter diversen Umweltbedingungen, in kaltem Wasser über 5 Jahre. Sie wurden spät entdeckt, weil ihre Färbung und Züchtung besondere Techniken erfordert.
10
Epidemiologie. Die Legionärskrankheit wurde erstmals 1976 bei ihrem Ausbruch unter den Teilnehmern der American Legion Convention in einem Hotel von Philadelphia beobachtet und erhielt daher ihren Namen. Bei dieser Endemie kam es zu 179 Erkrankungen mit 28 Todesfällen. Inzwischen hat sich gezeigt, dass bis zu 15% der ambulant erworbenen und viele nosokomiale Pneumonien durch Legionellen verursacht werden. Keimreservoire sind Klimaanlagen, Schlamm von Gewässern, Wasserbehälter von Kühltürmen, Leitungsnetze der Trinkwasserversorgung und Whirlpoolbäder. Verunreinigungen des Wassers mit Algen und Amöben begünstigen das Wachstum der Legionellen, da sich die Bakterien in den Einzellern vermehren. Ansteckungsmodus: Inhalation kontaminierter Aerosole oder Mikroaspiration kontaminierten Wassers (z.B. über nasogastrale Sonden). Auch das Eindringen kontaminierten Wassers in Operationswunden kann zur Infektion führen. Das Erkrankungsrisiko wird durch Zigarettenrauchen und chronische Bronchitiden (Lähmung oder Verlust der Zilien) sowie durch Immunsuppression erhöht. Zu nosokomialen Infektionen disponieren hauptsächlich Patienten mit Organtransplantationen und Eingriffen an Kopf und Hals (Aspirationsgefahr). Klinik. Inkubationszeit: 2–10 Tage. Symptome: Das Krankheitsspektrum reicht von mildem
Husten mit leichtem Fieber bis zu Stupor, respiratorischer Insuffizienz und Multiorganversagen. Hauptmanifestation ist eine Pneumonie, die mit hohem Fieber (oft >40 °C), Schüttelfrost, Husten, Tachypnoe und Pleuraschmerzen beginnt und den Allgemeinzustand stark beeinträchtigt. Die Auskultation der Lunge ergibt Rasselgeräusche, jedoch kein Bronchialatmen, die Perkussion keine Dämpfungsbezirke. Pleuraergüsse treten bei 30% der Patienten auf. Das Sputum ist spärlich, enthält reichlich Leukozyten, aber keine mit der Gramfärbung sichtbar zu machenden Bakterien, was auf eine atypische Pneumonie hinweist. Das Röntgenbild zeigt Rundherde und interstitielle Infiltrate, in schweren Fällen auch Einschmelzungen, die zu Hämoptysen führen. Bei 20%–40% der Patienten treten starke wässrige Diarrhöen auf. Durch die damit verbundenen Flüssigkeits- und Salzverluste kommt es zu Leibschmerzen und zur Hyponatriämie. Seltenere, durch hämatogene Dissemination entstehende Komplikationen sind Sinusitis, Pankreatitis, Peritonitis und Pyelonephritis. Häufigster extrapulmonaler Krankheitsherd ist das Herz. Beobachtet wurden Myokarditis, Perikarditis, Postkardiotomiesyndrome und Klappenprothesenendokarditis. Die Keimverschleppung dürfte in diesen Fällen direkt in die postoperative Sternalwunde oder über Mediastinumkatheter erfolgen, denn eine Pneumonie ist meistens nicht evident.
Diagnostik. Verdachtsmomente: Fieber >40 °C, Diarrhöen, nega-
tives Sputum bei Gramfärbung, Hyponatriämie, mit Legionellen kontaminiertes Wasserversorgungssystem, Symptombeginn 10 Tage nach Klinikentlassung, kein Ansprechen auf Penicillin oder Cephalosporine. Erregernachweis: Anzüchtung aus dem Sputum auf Spezialnährböden, direkte Anfärbung mit fluoreszierenden Antikörpern. Schnelltest auf L.-pneumophilia-Antigen (Serotyp 1) im Urin mittels Radioimmunassay oder ELISA (Sensitivität 70%, Spezifität annähernd 100%). Serologie: Anstieg des Antikörpertiters im Verlauf auf über 1:128. Therapie. Mittel der Wahl: Azithromycin (500 mg/Tag p.o. oder i.v., doppel-
te Dosis am 1. Tag). Behandlungsdauer 10–14 Tage. Mit dieser Behandlung werden bei unsicherer Diagnose auch mögliche andere Pneumonieerreger (Streptococcus pneumoniae, Haemophilus influenzae, Staphylococcus aureus, Mycoplasma pneumoniae, Chlamydia pneumoniae) eliminiert. Ebenfalls wirksam sind Clarithromycin, Roxithromycin und Erythromycin. > Bei Patienten mit einem Transplantat gibt man Ciprofloxacin, weil die Makrolide mit den immunsuppressiven Medikamenten interferieren.
In jedem bedrohlich fortgeschrittenen Fall ist zusätzlich Rifampin (oral oder i.v.) indiziert. Bei frühzeitiger Behandlung haben immunkompetente Patienten eine niedrige Letalität. Bei nosokomialen Pneumonien kann diese 30% erreichen. Prophylaxe. Kontrolle auf Legionellenbefall, gegebenenfalls Desinfizierung der Wasserversorgungssysteme etc., besonders in Kliniken, Hotels und Heimen.
10.2.14
Pertussis (Keuchhusten)
Erreger. Bordetella pertussis, ein gramnegativer Bazillus. Er haftet und vermehrt sich selektiv auf dem Flimmerepithel des Respirationstraktes ohne in die Zellen und die Blutbahn einzudringen. Toxine des Erregers lähmen die Zilien und zerstören die Zellen des Epithels. Bekannt sind einige Virulenzfaktoren, die bei der Infektion auch als Antigene wirken: 4 Filamentöses Hämagglutinin: Lokalisiert an den Fimbrien der Bakterienoberfläche, vermittelt die Adhärenz am Epithel. 4 Pertactin: Adhärenzfaktor an der Bakterienaußenwand. 4 Trachea-Zytotoxin: Beim Bakterienzerfall freigesetztes Endotoxin, ein Letalfaktor für das Zilienepithel. 4 Pertussistoxin: Ein Exotoxin, das als Ribosyltransferase in den Zielzellen einen Anstieg des cAMP bewirkt. 4 Invasive Adenylatzyklase: Ein Exotoxin , das in Zellen eingeschleust cAMP vermehrt. Hemmt die Aktivität der Makrophagen.
877 10.2 · Bakterielle Infektionen
Ein nicht identifizierter Faktor hemmt die Migration der Lymphozyten aus der Blutbahn in die lymphatischen Organe und induziert dadurch eine starke Lymphozytose. Die Pathogenese des paroxysmalen Hustens ist nicht geklärt. Antikörper gegen das Pertussistoxin schwächen ihn jedoch ab. Epidemiologie. Verbreitung weltweit, vor allem in dicht bevöl-
kerten Gegenden. Einziges Erregerreservoir ist der Mensch. Etwa 80% der Infizierten erkranken manifest. Die Durchseuchung erfolgt hauptsächlich im frühen Kindesalter. In den USA betrug die Inzidenz vor Einführung der Schutzimpfung 150 Fälle auf 100.000 Einwohner pro Jahr. Danach sanken Morbidität und Mortalität um mehr als 99%. Nachlassende Durchseuchung und Immunitätsverlust im Alter haben den Anteil der Erwachsenen unter den Pertussisfällen erhöht. Viele Erwachsene bleiben zwar oligo- oder asymptomatisch, sind aber Überträger der Infektion. Klinik. Inkubationszeit: 5–14 Tage. Stadium catarrhale: Unwohlsein, Schnupfen, leichter trocke-
ner Husten, gesteigerte Tränensekretion, subfebrile Temperaturen. Dauer 1–2 Wochen. Stadium convulsivum: Paroxysmaler Husten mit 10–25 Anfällen in 24 Stunden, die den Schlaf unterbrechen. Ablauf des typischen Anfalls: 10–30 schnell aufeinander folgende Hustenstöße (Stakkato-Husten), unterbrochen von weithin hörbaren keuchenden Inspirationen; auf der Höhe des Anfalls im Exspirium kurze Apnoephase mit Zyanose durch Krampf der Glottisund Bronchialmuskulatur; danach plötzliches Anfallsende mit einer lang gezogenen pfeifenden Inspiration, häufig gefolgt von Erbrechen und dem Herauswürgen eines zähen, glasigen Sputums. Fieber tritt in der Regel nicht auf. Dauer 2–4 Wochen. Stadium decrementi: Zahl und Intensität der Hustenanfälle nehmen im Laufe einiger Wochen allmählich ab, so dass sich eine Gesamtdauer der Erkrankung von 6–8 Wochen ergibt. Komplikationen: Sekundäre Pneumonien mit Pneumokokken oder Haemophilus, besonders im Säuglingsalter. Häufig Otitis media. Selten Enzephalopathie unklarer Genese als Spätkomplikation. Diagnostik. Hinweise auf Umgebungserkrankungen, Hustentyp
mit Erbrechen. Absolute Lymphozytose (10–30×103/mm3 und höher). Erregernachweis im Nasen- oder Rachenabstrich mit einem Spezialtupfer, zunehmend auch durch Erfassung von Erreger-DNA mittels PCR. Positive Ergebnisse mit beiden Methoden nur im katarrhalischen Stadium. Nach der 2. Krankheitswoche kann die noch nicht überall eingeführte Antikörperbestimmung zur Diagnose führen. Therapie. Eradikation des Erregers mit Erythromycin (1–2 g/Tag
in 3 Dosen für 7–14 Tage) oder Azithromycin (500 mg/Tag für 5 Tage) schwächt die Erkrankung bei Behandlungsbeginn im katarrhalischen Stadium ab. Reduziert wird der Schweregrad auch,
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wenn Antibiotika erst nach 2 Wochen gegeben werden. Schwere Fälle erfordern Hospitalisierung (O2-Zufuhr, künstliche Beatmung, Hydratation). Isolierung und Mundschutz für Pflegepersonen bis zu 5 Tagen nach Einleitung der Erythromycintherapie, bei unbehandelten Patienten für 3 Wochen. Antitussiva sind weitgehend unwirksam. Das Gleiche gilt für Glukokortikoide und Betaadrenergika. Letalität 0,2%. Prophylaxe. Chemoprophylaxe: Bei gefährdeten Kontaktpersonen mit Ery-
thromycin (40–50 mg/kg/Tag, geteilt in 3 Einzeldosen) für 14 Tage. Aktive Immunisierung: Kombiniert gegen Pertussis, Diphtherie und Tetanus mit DPT-Impfstoff (enthält inaktivierte ganzzellige Suspension von B. pertussis). Grundimmunisierung am Beginn des 3. Lebensmonats mit 3×0,5 ml im Abstand von jeweils 4 Wochen, Auffrischung mit 0,5 ml nach 1 Jahr. Nebenwirkungsärmer sind selektive oder kombinierte Vakzine aus azellulären Pertussisfraktionen (Acel-Imune , Acel-P ).
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10.2.15
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Salmonellosen
Typhus Erreger. Salmonella typhi, ein gramnegativer, fakultativ anaerober, durch Geißeln beweglicher Bazillus der Spezies S. enterica (Subspezies enterica, Serogruppe D). Er trägt ein somatisches OAntigen, ein H-Geißelantigen und ein Kapselantigen Vi, das die Komplementaktivierung und Bakteriolyse auf dem alternativen Weg verhindert. Epidemiologie. S. typhi ist ausschließlich humanpathogen.
Dauerausscheider und subklinisch Infizierte bilden das Erregerreservoir. Der Typhus befällt weltweit über 1 Million Mensch pro Jahr. Die Inzidenz verhält sich umgekehrt zum Entwicklungsstand des Landes. Sie ist in Nordeuropa und den USA sehr niedrig. Dort entfallen die meisten Erkrankungen auf Reisende aus Endemiegebieten (Süd- und Südostasien, Mexiko, Peru, Ägypten, Chile). Infektionsquellen sind fäkal kontaminierte Nahrungsmittel (Milch, Milchprodukte, Speiseeis, Austern) oder kontaminiertes Wasser (Eiswürfel). Zur Infektion sind erheblich weniger Erreger notwendig als bei den Enteritis-Salmonellen. Ein Teil der Erreger wird im sauren Magensaft zerstört. Anazide Personen sind deshalb anfälliger. Klinik. Inkubationsstadium: Dauer 7–10 Tage. Haftung der Typhusba-
zillen an der Dünndarmwand. Passage des Epithels durch die M-Zellen über den Peyer-Plaques. Aufnahme in die Makrophagen der Peyer-Plaques und der Lymphfollikel der Schleimhaut. Vordringen der nicht phagozytierten Erreger in die Mesenteriallymphknoten, wo ein Teil von Makrophagen festgehalten wird.
878
Kapitel 10 · Infektionskrankheiten
Die übrigen gelangen über den Ductus thoracicus in die Blutbahn, aus der sie von den Makrophagen diverser Organe komplett aufgenommen werden. Die flüchtige Bakteriämie mit relativ wenigen Erregern verläuft asymptomatisch. Danach findet in den generalisiert befallenen Makrophagen eine starke Vermehrung der Typhusbazillen statt. Sie verläuft unbehindert und ohne Entzündungserscheinungen, da die Makrophagen noch nicht durch T-Lymphoyzten zur Bakteriolyse aktiviert sind. Die Inkubationszeit endet, wenn bakterienbeladene Makrophagen absterben und die Erreger in großer Menge ins Blut eingeschwemmt werden. Generalisationsstadium: Dauer 1–2 Wochen. Während der zwei-
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ten Bakteriämie siedeln sich die Typhusbazillen in verstärktem Maße in den Makrophagen von Leber, Milz, Knochenmark, quergestreifter Muskulatur, Herz, Gehirn, Haut, Nieren, Gallenblase und erneut in den Peyer-Plaques des Dünndarms an. Zugleich beginnt die immunologische Abwehrreaktion vom zellulären Typ, bei der antigenpräsentierende Makrophagen mit antigenspezifischen T-Helferzellen in Reaktion treten. Die Makrophagen erlangen dadurch die Fähigkeit, die phagozytierten Erreger zu lysieren. Außerdem sondern sie und die aktivierten T-Lymphozyten diverse Zytokine ab, die zusammen mit Bakterientoxinen eine schwere Entzündungsreaktion induzieren und längere Zeit in Gang halten. Auch die humorale Abwehrreaktion mit Antikörpern gegen die Antigene H und O setzt ein und trägt dazu bei, dass die Typhusbazillen gegen Ende des Generalisationsstadiums aus dem zirkulierenden Blut verschwinden. Sie sammeln sich aber in der Gallenblase an, vermehren sich dort und werden mit der Galle im Stuhl ausgeschieden. Bei der Darmpassage dringen die Erreger erneut in die Peyer-Plaques und die intestinalen Lymphknoten ein, die jetzt aber zu einer immunologischen Abwehrreaktion präpariert sind. Klinische Symptome: In der ersten Krankheitswoche treppenförmiger Temperaturanstieg auf 40 °C, der in eine Kontinua mit relativer Bradykardie übergeht. Dabei heftigster Kopfschmerz als auffälligste Begleiterscheinung. Hinzu kommen Leibschmerzen, Obstipation, Husten, Gliederschmerzen, Inappetenz und starkes Krankheitsgefühl. Vom 4. Tag an ist das Sensorium getrübt. Durchfall tritt selten auf. Milz und Leber sind in knapp 30% der Fälle vergrößert. Stadium der Organmanifestationen: Es beginnt nach voller Aktivierung der Immunantwort und ist durch lokale, an die infizierten Makrophagen gebundene entzündliche Abwehrreaktionen gekennzeichnet, die in verschiedenen Organen auftreten, vor allem in der Darmwand. Als typische Läsionen entwickeln sich Granulome (sog. Typhome), die aus Makrophagen und Lymphozyten bestehen. Während die Blutkulturen steril werden, gelingt der Erregernachweis im Stuhl. Klinische Symptome: Fieber und Benommenheit dauern in unbehandelten Fällen an. Nach dem 9. Tag erscheinen auf der Haut der meisten Kranken die charakteristischen blassroten Roseolen. Sie sind hauptsächlich am Stamm lokalisiert und reprä-
sentieren bakterienhaltige Embolien in den Kapillarschlingen. Der initialen Obstipation folgen in der 3. Woche nicht selten erbsbreiartige Durchfälle. Die häufigsten Komplikationen sind eine Cholezystitis, Darmblutungen und perforierte Ulzera im Bereich der Peyer-Plaques. Ferner kann es zur Hepatitis, Meningitis, Myokarditis, Bronchopneumonie, Parotitis, Nephritis, Arthritis und zur Osteomyelitis kommen. Bei Patienten mit Immunschwäche, verläuft die Krankheit besonders schwer. Rückbildungsstadium: Beginn ab der 4. Woche, Dauer 1–2 Wo-
chen. Die Infektion ist beherrscht. Granulome und Entzündungsreaktionen bilden sich schrittweise zurück. Klinische Symptome: Lytischer Temperaturabfall, Aufhellung des Sensoriums, Rückgang der Leber und Milzschwellung, aber noch Blutungs- und Thrombosegefahr. Die anschließende Rekonvaleszenz zieht sich noch einige Wochen hin. Häufige Spätfolgen sind Muskelschwäche und Haarausfall. Rezidive: Vor Einführung der Antibiotika betrug die Rückfallquote nach mehrwöchigem fieberfreiem Intervall 5%. Heute kommen Rezidive nur noch nach unzureichender antibiotischer Behandlung vor. Sie beginnen mit einem neuen Generalisationsstadium, gefolgt von Organmanifestationen, verlaufen aber leichter als die Erstinfektion. In der Regel hinterlässt der Typhus volle Immunität. Diagnostik. Klinisch: Suspekt ist die Kombination hohes Fieber, intensiver
Kopfschmerz, Benommenheit, Leibschmerzen, belegte Zunge, Husten und Rasselgeräusche über beiden Lungen. Dazu kommen im Verlauf die Roseolen. Bakteriologisch: Diagnostisch beweisend ist der Erregernach-
weis im Blut, außerhalb von Endemiegebieten auch eine positive Stuhlkultur. Die Blutkultur ist in den ersten 7–10 Tagen in 80% der Fälle positiv, in der dritten Woche nur halb so oft. Etwas höher ist die Trefferquote von Knochenmarkkulturen, vor allem bei antibiotisch vorbehandelten Patienten. Die Stuhlkulturen sind bis zum Ende der 2. Woche nur selten, in der 3. und 4. Woche jedoch meistens positiv und können es über mehrere Wochen bleiben. Auch Urinkulturen werden positiv, wenn auch seltener. Die Quote der Dauerausscheider, bei denen die Typhusbazillen aus der Gallenblase stammen, beträgt 2–6%. Sie sind klinisch gesund, jedoch eine gefährliche Infektionsquelle für die Allgemeinheit, da die Bazillenausscheidung unbemerkt viele Jahre dauern kann. Serologisch: Die Bestimmung der Antikörper gegen H- und OAntigene von S. typhi mit dem Agglutinationstest nach Widal ergibt bei typischen Fällen im Krankheitsverlauf einen mehr als 4fachen Titeranstieg, der aber bei geschwächten Personen ausbleiben kann. Konstant erhöhte Titer sind nicht zu verwerten. Sie kommen nach Impfung und in Endemiegebieten auch bei Gesunden vor. Eine positive Blut- oder Stuhlkultur macht die Widal-
879 10.2 · Bakterielle Infektionen
Reaktion überflüssig. Steigende Titer stützen die Diagnose, wenn der Erregernachweis wegen Vorbehandlung nicht mehr gelingt. Laborchemisch: Die viel zitierte Leukopenie kommt nur bei einer
kleinen Minderheit der Patienten vor und ist kein charakteristisches Typhussymptom. Meistens liegt die Leukozytenzahl zwischen 4000 und 11.000/mm3. Prophylaxe. Allgemeine Maßnahmen: Erfüllung der Hygienevorschriften bei
der Nahrungsmittelgewinnung, Nahrungsmittelverteilung sowie bei der Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung. Isolierung Erkrankter und Erkrankungsverdächtiger im Krankenhaus. Ausscheider dürfen in gefährdeten Betrieben nicht beschäftigt werden, bis 3 Stuhlproben, im Abstand von 3 Tagen entnommen, negativ sind. > Für jeden Verdachts-, Erkrankungs- und Todesfall an Typhus sowie für jeden Dauerausscheider besteht gesetzliche Meldepflicht.
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(Malaria, Amöbenruhr, Rückfallfieber) auf, wahrscheinlich durch Aktivierung einer latenten Infektion, und manifestiert sich in der Hälfte der Fälle nicht als typhöses Fieber, sondern als septisch verlaufende Enteritis. Klinik. Die Inkubationszeit ist mit 4–5 Tagen kürzer als beim Ty-
phus. Die Infektion durchläuft zwar die gleichen Stadien, jedoch in abgeschwächter Form. Ulzerationen und Nekrosen der Darmschleimhaut sind seltener, dementsprechend auch Blutungen und Perforationen. Abweichend vom Typhus geht das Stadium der Organmanifestation oft mit einem ausgeprägten entzündlichen Darmkatarrh einher, der auf den Magen übergreifen kann. Das Exanthem tritt seltener auf, aber mit größeren, dichter gesäten Effloreszenzen, die sich nicht nur am Stamm, sondern auch im Gesicht und an den Extremitäten ausbreiten. Rezidive und langfristige Dauerausscheidung kommen weniger häufiger vor. Die Letalität ist deutlich niedriger. Diagnostik. Erregernachweis im Blut und im Stuhl wie beim Typhus. Auch die Widal-Reaktion wird positiv.
Aktive Schutzimpfung: Die beste Wirksamkeit haben die oral zu
applizierenden Vakzine aus lebenden Mutanten des Typhuserregers. Man gibt von dem Impfstoff Typhoral L eine Kapsel an den Tagen 1, 3 und 5 eine Stunde vor der Mahlzeit. Nebenwirkungen treten sehr selten auf und sind gering. Erzielt wird ein 95%iger Impfschutz, der mindestens 3 Jahre anhält. Therapie. Das Mittel der Wahl ist Ciprofloxacin. Man gibt über
14 Tage 2-mal tgl. 200 mg i.v. oder 2-mal tgl. 500 mg per os. Dauerausscheider erhalten für 30 Tage 2-mal tgl. 500 mg per os. Pflegerisch sind Bettruhe und Überwachung des Wasser- und Salzhaushalts erforderlich. Das Fieber fällt bei erfolgreicher Therapie nicht abrupt, sondern im Laufe mehrere Tage allmählich ab. Die Letalität ist durch die Antibiotika von 15 auf 1% gesunken. Paratyphus A, B und C Erreger. S. paratyphi A, S. paratyphi B und S. paratyphi C, gramnegative, fakultativ anaerobe Bazillen, die der Spezies S. enterica (Subspezies enterica, Serogruppen A, B und C) angehören. Wie S. typhi sind es ausschließlich humanpathogene Erreger typhöser Salmonellosen. Epidemiologie. Erregerreservoir ist der Mensch. Alle 3 Formen
des Paratyphus kommen erheblich seltener vor als der Typhus und können asymptomatisch verlaufen. Paratyphus A und C sind überwiegend in warmen Ländern (Balkan, Südrussland, Orient, Indien, Südostasien, Afrika) anzutreffen, gelegentlich auch bei Urlaubsheimkehrern. Der Paratyphus B ist häufiger als die beiden anderen Formen. Sein Verbreitungsgebiet deckt sich mit dem des Typhus. Infektionsquelle und Ansteckungsmodus: Sind die gleichen wie beim Typhus. Der Paratyphus C hinterlässt kaum Dauerausscheider. Er tritt meistens im Gefolge von Tropenkrankheiten
Therapie. Wie beim Typhus. Die Typhus-Vakzine bieten gegen Paratyphusinfektionen nur einen partiellen Schutz.
Enteritische Salmonellosen Erreger. Zahlreiche Salmonellen der Spezies S. enterica (Subspezies enterica), die unterschiedlichen Serogruppen angehören und jeweils definierte Muster der O- und H-Antigene aufweisen. Am häufigsten sind S. enteritidis (Bazillus Gaertner) und S. typhimurium (Bazillus Breslau). Sie verursachen keine typhusähnlichen Allgemeininfektionen, sondern selbstlimitierende akute Enteritiden, in 5% der Fälle auch septische Zustandsbilder und extraintestinale Begleitinfektionen. Epidemiologie. Erregerreservoir sind Mensch und Tier. Als tierische Wirte kommen sowohl wild lebende als auch Nutz- und Haustiere, sogar Amphibien und Reptilien in Frage. Infektionsquelle: In erster Linie mit Ausscheidungen infizierter Tiere kontaminierte Nahrungsmittel, hauptsächlich Fleisch, Geflügel, Milch, Milchprodukte und Eier. Begünstigt werden epidemische und endemische Ausbrüche durch Massentierhaltung, zentrale fabrikmäßige Lebensmittelproduktion und Gemeinschaftsverpflegung (z.B. in Hotels, Kindertagesstätten, Kantinen, Altersheimen, Kliniken, Flugzeugen). So erkrankten 1994 in den USA über 200.000 Personen an kontaminierter Eiscreme eines Herstellers, dem das pasteurisierte Vorprodukt in Tankwagen geliefert worden war, die kurz vorher nicht pasteurisiertes Flüssigei transportiert hatten. Salmonellen überleben in getrockneten und tiefgefrorenen Nahrungsmitteln und vermehren sich bei Temperaturen über 4 °C schnell. Die Infektionsdosis kann erstaunlich niedrig sein. Bei der zitierten Salmonelleninfektion durch Speiseeis betrug sie 6 Keime in 65 g. Übertragungen von Mensch zu Mensch kommen durch infiziertes Küchenperso-
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Kapitel 10 · Infektionskrankheiten
nal, bei Kleinkindern wohl auch durch Schmierinfektionen zustande. Obwohl meldepflichtig, werden die enteritischen Salmonellosen wegen ihres gewöhnlich leichten Verlaufes nur unvollständig erfasst. In Deutschland ist pro Jahr mit mehreren hunderttausend Fällen zu rechnen. Klinik. Inkubationszeit: Dauer 1–2 Tage. In Phagosomen passieren die
Enteritis-Salmonellen das Epithel des unteren Dünndarms ohne es zu zerstören. Sie vermehren sich in den Makrophagen der Lamina propria und induzieren, anders als die Typhus-Salmonellen, sofort eine lokale entzündliche Abwehrreaktion, die zusammen mit Erregertoxinen zu Störungen der Elektrolyt- und Wasserrückresorption und damit zu Diarrhöen führt. Eine flüchtige Bakteriämie ist nur in 5–40% der Fälle zu registrieren. Enteritische Symptome: Plötzlich einsetzender Durchfall, oft von
Übelkeit, Erbrechen und mäßigem Fieber begleitet. Leibkrämpfe können sofort oder erst infolge größerer Flüssigkeitsverluste auftreten. Kleinkinder und alte Patienten erleiden nicht selten eine gefährliche Dehydratation. In der Regel hören die Diarrhöen nach einigen Tagen auch ohne spezifische Therapie auf.
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Extraintestinale Manifestationen: Sie stellen seltene Komplikationen der Salmonelleninfektion dar, die hauptsächlich vorgeschädigte oder immunsupprimierte Patienten betreffen und bei besonders aggressiven Serotypen vorkommen. Zu nennen sind Sekundärinfektionen infrarenaler Aortenaneurysmen, Endokarditiden, Cholezystitiden, Harnwegsinfektionen, Pneumonien mit Empyemen, Meningitiden, Arthritiden und Osteomyelitiden. Infektionen mit S. cholerae suis und S. Dublin können ohne vorausgehende Diarrhöe zu einer Sepsis mit systemischen Komplikationen führen. Diagnostik. Erregernachweis im Stuhl, bei septischem Verlauf auch im Blut. Da keine Immunität entsteht, entfallen serologische Untersuchungen.
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Therapie. Ruhigstellung des Darmes mit Loperamid (Imodium ). Beseitigung des Brechreizes mit Dimemhydrat (Vomex A ) oder Meclocin (Bonamine ). Danach orale Flüssigkeitssubstitution. Nötigenfalls Kochsalzinfusionen. Antibiotikum der Wahl ist Ciprofloxacin (3-mal tgl. 250 mg p.o.), das bis zu 2 Tagen nach Sistieren der Diarrhö einzunehmen ist und eine Dauerausscheidung verhindert. Bei rein enteritischer Verlaufsform ist es entbehrlich, bei extraintestinalen Manifestationen jedoch obligatorisch.
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Prävention. Nahrungsmittel, insbesondere Fleisch, Eier oder
Backwaren gut abkochen bzw. erhitzen und danach nicht längere Zeit bei Raumtemperaturen aufbewahren. Aufgetautes Fleisch oder Geflügel sofort kochen oder braten. Im Erkrankungsfall Infektionsquelle nach Möglichkeit eruieren.
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Shigellose (Bakterienruhr)
Erreger. Shigellen, ausschließlich humanpathogene, gramnegative, unbewegliche Bakterien aus der Familie der Enterobacteriaceae. Die Gattung umfasst 4 Spezies: Shigella dysenteriae, Shigella flexneri, Shigella boydii und Shigella sonnei. Die Shigellen sind eng mit Escherichia coli verwandt. Ihre Virulenzfaktoren werden teils durch das Bakterienchromosom, teils durch ein großes Plasmid kodiert, das sie mit enteroinvasiven E. coli (EIEC) gemeinsam haben. Shigellen werden mit der Nahrung aufgenommen, vermehren sich im Dünndarm und dringen in die Epithelzellen der Kolonschleimhaut ein. Im Kolonepithel proliferieren sie weiter und breiten sich lateral von Zelle zu Zelle aus. Einige Erreger gelangen durch die M-Zellen des Epithels in die Lamina propria und induzieren hier eine Entzündung mit neutrophiler Infiltration, die der Erregerausbreitung im Epithel Vorschub leistet. Das befallene Epithel wird zerstört. Es entstehen ausgedehnte flache Schleimhautulzerationen mit einem Exsudat, das abgestoßene Epithelzellen, neutrophile Leukozyten und Erythrozyten enthält. Aus verfestigtem Schleim können sich über den Geschwüren Pseudomembranen bilden. Shigellae dysenteriae verursachen die schwersten Formen der Shigellose, da sie als einzige Shigellen ein Ektotoxin absondern, das Zellen absterben lässt. Shigellatoxin spaltet die ribosomale RNA und schaltet damit die Proteinsynthese der Zelle aus. Es greift auch Endothelzellen an und ist für die mikroangiopathischen Manifestationen der Sigellose dysenteriae verantwortlich. Das gleiche Toxin bilden die enterohämorrhagischen Stämme von E. coli (EHEC), die ähnliche Komplikationen hervorrufen. Epidemiologie. Shigellen kommen weltweit vor, am häufigsten in
den Entwicklungsländern, wo viele Kinder unter 5 Jahren an der Shigellenruhr sterben. Schlechte hygienische Bedingungen beim Zusammenleben auf engem Raum, z.B. in Lagern, Kasernen, Kindergärten und Pflegeheimen begünstigen die Ausbreitung. Erregerreservoir sind erkrankte Personen oder Dauerausscheider. Übertragungsmodus: Schmierinfektion von Mensch zu Mensch durch verunreinigte Finger oder Gegenstände, fäkale Kontamination von Speisen und Getränken, auch durch Fliegen. Es genügt eine Infektionsdosis von 10–200 Bakterien. Die Krankheit hinterlässt Immunität durch Antikörper der Klasse IgA. Klinik. In einer Studie an Freiwilligen, die mit 10.000 Keimen von S. flexneri Typ 2a infiziert wurden, blieben 25% der Teilnehmer symptomlos, 25% bekamen für 1–2 Tage Fieber, 25% Fieber und eine selbstlimitierte wässerige Diarrhö, aber nur 25% Fieber und eine wässerige Diarrhö, die in eine Dysenterie mit blutig-schleimigen Durchfällen überging. Inkubationszeit: 1–4 Tage. Symptome: Beginn mit Fieber, kolikartigen Leibschmerzen und wässrigen Diarrhöen, die bei voller Ausprägung des Krankheitsbildes in eine Dysenterie mit gehäuften (10–30 pro Tag)
881 10.2 · Bakterielle Infektionen
kleinvolumigen, blutig-schleimigen Entleerungen und heftigen Tenesmen übergehen. Endoskopie: Hämorrhagien und fokale Ulzerationen in der stark geröteten, Schleim sezernierenden Kolonschleimhaut. Am stärksten ist das distale Kolon befallen. Lokale Komplikationen: Rektumprolaps, proteinverlierende Enteropathie, toxisches Megakolon, Kolonperforation mit Peritonitis. Extraintestinale Komplikationen: 4 Sepsis: kommt bei geschwächten Individuen in Entwick-
lungsländern vor, besonders bei Kindern unter 1 Jahr. Erhöht die Letalitätsrate. 4 Hämolytisch-urämisches Syndrom (HUS): Verursacht durch S. dysenteriae (auch durch enterohämorrhagische Stämme von E. coli). Das Ektotoxin dieser Erreger schädigt die Endothelzellen der Glomeruluskapillaren, eventuell auch der Arteriolen und kleinen Arterien. Durch Freisetzung des v.-Willebrand-Faktors kommt es zu Gefäßverschlüssen durch Plättchenthromben. Fibrinfäden fragmentieren die zirkulierenden Erythrozyten und bewirken so eine intravasale Hämolyse. Wahrscheinlich werden die Erythrozyten auch direkt durch das Toxin lädiert. Das Krankheitsbild kann als eine lokale, auf die Niere begrenzte Variante der thrombotischen thrombopenischen Purpura aufgefasst werden. Vorkommen: Hauptsächlich bei Kindern unter 2 Jahren. Symptome: Beginn gegen Ende der ersten Krankheitswoche, wenn die Dysenterie bereits abklingt, mit Leibschmerzen, Erbrechen, Hämatokritabfall und Hämoglobinurie. Schnell folgt ein Nierenversagen mit Oligurie oder Anurie und Azotämie. Die Thrombozyten fallen auf 30.000–100.000/mm3, die Leukozyten steigen stark an. 4 Reiter-Syndrom: Reaktive Arthritis nach Infektion mit Stämmen von S. flexneri und S. dysenteriae. Bei Patienten mit dem Histokompatibilitätsantigen HLA-B27 kommt die komplette Reiter-Trias vor (7 Kap. 9.1.3). Diagnostik. Ein klinischer Verdacht besteht nicht nur bei blutig-
schleimigen, sondern auch bei wässerigen Durchfällen. Erregernachweis: Anzüchtung im frisch entnommenen Stuhl
oder Rektalabstrich. Mikroskopisch sieht man reichlich Granulozyten und Blut, auch Shigellen, die aber nicht von anderen stäbchenförmigen Bakterien zu unterscheiden sind. Das Shigellatoxin lässt sich mit der Polymerase-Kettenreaktion schon innerhalb von 3 Stunden nachweisen. Serologische Untersuchungen werden nur im Rahmen epidemiologischer Studien benötigt. > Es besteht Meldepflicht! Therapie. Allgemeine Maßnahmen: Isolierung im Krankenhaus, möglichst
mit eigener Toilette. Schutzkleidung des Pflegepersonals. Händedesinfektion nach Berührung des Kranken. Desinfektion der vom Kranken benutzten Gegenstände.
10
Antibiotika: Verkürzen die Krankheitsdauer und die Phase der Erregerausscheidung. Erwachsene erhalten Ciprofloxacin, Kinder Co-trimoxazol für mehrere Tage. Bei flüchtiger wässeriger Diarrhö durch S. sonnei sind Antibiotika entbehrlich. Motilitätshemmende Mittel: Diphenoxylat oder Loperamid (Imodium ) nur unter antibiotischer Therapie zulässig.
®
! In der dysenterischen Phase wegen Verzögerung der Erregerausscheidung kontraindiziert. Maßnahmen gegen das hämolytisch-urämische Syndrom:
Flüssigkeitsbeschränkung bei Oligurie, nötigenfalls Dialyse. Gegen die Anämie Infusion von Erythrozytenkonzentraten. Letalität 5%. Maßnahmen gegen Wasser und Salzverluste: Orale Rehydratation mit einer Lösung, die pro Liter 20 g Glukose, 3,5 g Natriumchlorid, 2,5 g Natriumbikarbonat und 3,5 g Kaliumchlorid enthält. 10.2.17
Escherichia-coli-Infektionen
Erreger. Escherichia coli, gramnegative, begeißelte Bakterien mit O- und H-Antigenen aus der Familie der Enterobacteriaceae. Nach ihren infektiösen Eigenschaften sind 2 Hauptgruppen zu unterscheiden: 4 Fakultativ pathogene (opportunistische) Stämme: Gehören zur physiologischen Darmflora mit einem Anteil von 1%. Pathogen erst, wenn sie an andere Standorte gelangen. Verursachen häufig Infektionen in der Nachbarschaft des Darmes: Peritonitis, Cholezystitis, Cholangitis, Infektionen der unteren und oberen Harnwege, Wundinfektionen. Einschwemmungen in die Blutbahn, z.B. bei Operationen und Traumen können zur Pneumonie und Meningitis führen, durch Endotoxinfreisetzung auch zum septischen Schock. Der Nachweis von E. coli im Trinkwasser oder Lebensmitteln ist ein Indiz für fäkale Kontamination. 4 Obligat pathogene Stämme: Gehören nicht zur normalen Darmflora, kommen aber nur beim Menschen vor. Nach ihren infektiösen Eigenschaften sind nachstehende Varianten zu unterscheiden: 5 EPEC (enteropathogene E. coli): Nichtinvasive Erreger von Säuglingsenteritiden. Heften sich an die Epithelzellen der Dünndarmschleimhaut und bewirken durch Zerstörung des Bürstensaumes eine sekretorische Diarrhö. 5 ETEC (enterotoxikogene E. coli): Nichtinvasive Erreger von Reisediarrhöen. Nach Adhärenz am proximalen Dünndarmepithel bilden sie ein hitzelabiles (LT) und ein hitzestabiles (ST) Exotoxin, die ähnlich dem Choleratoxin eine sekretorische Diarrhö hervorrufen. 5 EIEC (enteroinvasive E. coli): Invasive Erreger einer der Shigellose ähnlichen Colitis. Dringen in die Epithelzellen des Kolon ein, bereiten sich horizontal in die Nachbarzellen aus und zerstören das Epithel. Es resultieren
882
Kapitel 10 · Infektionskrankheiten
blutig-schleimige Durchfälle mit hohem Granulozytengehalt. 5 EHEC (enterohämorrhagische E. coli): Invasive Erreger, die in das Kolonepithel eindringen und eine hämorrhagische Colitis verursachen. Durch ein mit dem Shigellatoxin wirkungsgleiches Exotoxin, das auch Endothelzellen angreift, kann es zum hämolytisch-urämischen-Syndrom kommen. Säuglingsdiarrhö durch EPEC Epidemiologie. Kommt hauptsächlich in den Ländern der Drit-
ten Welt vor, wo EPEC über 10% der Fälle von Säuglingsenteritis verursacht. Übertragung durch Schmierinfektion oder fäkal kontaminierte Säuglingsnahrung. Klinik. Breiige bis profus wässrige Durchfälle. Mangelernährung erhöht in tropischen Ländern die Anfälligkeit. Erwachsene erkranken nicht. Identifizierung des Erregers durch Anzüchtung und serologische Bestimmung der E-coli-O-Gruppen.
Hämorrhagische Colitis durch EHEC Epidemiologie. Die Erreger, meistens E. coli Serotyp O157:H7, ist weit verbreitet. Am häufigsten erkranken Kleinkinder. In Amerika werden jährlich 20.000 Fälle registriert. Wichtigstes Erregerreservoir sind Wiederkäuer. Übertragung: Sie erfolgt durch kontaminierte Lebensmittel (Rohmilch, Rohmilchprodukte, ungenügend gegartes Rindfleisch), aber auch von Mensch zu Mensch. ! Es besteht Meldepflicht. Klinik. Inkubationszeit: 1–2 Tage. Symptome: Das Krankheitsbild gleicht weitgehend der
Co-trimoxazol.
schweren Shigellose durch S. dysenteriae mit Fieber, Hämorrhagien der Kolonschleimhaut und kleinvolumigen blutig-schleimigen Durchfällen. Eine Woche nach Beginn der Symptome kann es zum hämolytisch-urämischen Syndrom kommen (7 Kap. 3.8.2). Erregernachweis durch Anzüchtung und serologische Differenzierung. Für das Exotoxin gibt es zur Schnelldiagnose eine PCR.
Reisediarrhö durch ETEC
Therapie. Isolierung im Krankenhaus. Flüssigkeits- und Elektro-
Epidemiologie. Häufiges Vorkommen in warmen Ländern, wo
lytersatz. Antibiotika werden zurückhaltend eingesetzt, weil sie das HUS nicht verhüten, vielleicht sogar begünstigen. In Betracht kommen Co-trimoxazol für Kinder und Ciprofloxacin für Erwachsene.
Therapie. Ersatz von Wasser und Elektrolyten. In schweren Fällen
10
Therapie. Flüssigkeits- und Elektrolytersatz. Antibiotika: Cotrimoxazol, Ampicillin oder Ciprofloxacin.
sich auch Touristen anstecken. In Mittel- und Nordeuropa sind nur 1% der Durchfallerkrankungen durch ETEC bedingt. Übertragung durch fäkal verunreinigte Speisen und Getränke. Klinik. Inkubationszeit: 1–2 Tage. Symptome: Leibkrämpfe, Darmbewegungen, häufige, massi-
ve wässrige Durchfälle für die Dauer von 3–4 Tagen, in der Regel selbstlimitierend. Therapie. Substitution von Flüssigkeit und Elektrolyten. Antibiotika sind oft entbehrlich. Kinder erhalten Co-trimoxazol, Erwachsene Ciprofloxacin.
Hämorrhagische Colitis durch EIEC Epidemiologie. Erregerreservoir ist der Mensch. Kommt hauptsächlich in den warmem Ländern vor, ist in den USA und in Europa selten. Übertragung durch kontaminierte Lebensmittel. Klinik. Inkubationszeit: 1–2 Tage. Symptome: Das klinische Bild ähnelt dem der Bakterienruhr
mit Fieber, Leibschmerzen, Tenesmen und häufigen blutigschleimigen Stühlen kleineren Volumens. Mikroskopisch sind im Stuhlausstrich reichlich Granulozyten nachzuweisen. Diagnostik. Durch Erregeranzüchtung aus frischen Stuhlproben und serologische Differenzierung.
10.2.18
Yersinien-Infektionen
Yersiniose Erreger. Yersinia enterocolitica und Yersinia pseudotuberculosis sind gramnegative Bazillen aus der Familie der Enterbacteriaceae. Sie besitzen ein Plasmid, das verschiedene Virulenzfaktoren kodiert. Zielgewebe ist das Monozyten-Makrophagen-System. Die Erreger gelangen peroral in den Magen-Darm-Trakt, durchwandern die M-Zellen des terminalen Ileums und aszendierenden Kolons und verursachen entzündliche Läsionen in der Schleimhaut und den Peyer-Plaques. Die klinischen Manifestationen sind Enterocolitiden (hauptsächlich durch Y. enterocolitica) oder eine Lymphadenitis mesenterialis (durch beide Erreger). Abwehrgeschwächte Individuen können eine Sepsis erleiden. In 10% der Fälle kommt es zu nichteitrigen Nachkrankheiten. Epidemiologie. Yersinien sind Erreger von Zoonosen. Sie kommen im Darm von Säugetieren vor, aber auch bei Vögeln, Amphibien und Fischen. Auf den Menschen werden sie meistens von Haus- und Wildtieren übertragen. Häufigste Ansteckungsquellen sind fäkal kontaminierte Lebensmittel wie Fleisch, Milch und Gemüse. Fäkal kontaminiertes Trinkwasser kann zu größeren Ausbrüchen führen. Die höchsten Inzidenzraten werden in
883 10.2 · Bakterielle Infektionen
Skandinavien und anderen nordeuropäischen Ländern beobachtet. An Enterocolitis erkranken bevorzugt Kinder von 1–4 Jahren, an Lymphadenitis mesenterialis besonders ältere Kinder und junge Erwachsene. Klinik. Inkubationszeit: 4–7 Tage. Enteritis, Enterocolitis: Akute Diarrhö mit krampfartigen Leib-
schmerzen und leichtem Fieber. In bis zu 40% der Fälle auch Übelkeit und Erbrechen. Nicht selten blutige Stühle. Bei wenigen Patienten generalisiertes makulopapulöses Exanthem. Dauer der Durchfälle etwa 2 Wochen. Seltene Komplikationen: Hohes Fieber, sehr starke Schmerzen, perforierende Ulzera im Jejunum oder Kolon, ileozökale Intussuszeption, Cholangitis, Mesenterialvenenthrombose. Lymphadenitis mesenterialis und Ileitis terminales ohne Diarrhö: Akuter Beginn mit leichtem Fieber, Schmerzen im rechten
unteren Quadranten des Abdomens, sowie Druck- und Loslassschmerz in diesem Bereich. Das klinische Bild ähnelt weitgehend einer akuten Appendizitis. Die mesenterialen Lymphknoten sind erheblich geschwollen und können tastbar werden. Bei der Laparotomie ist die Appendix makroskopisch und histologisch normal. Eine lymphoide Hyperplasie kommt vor, ganz selten eine Vereiterung. Pharyngotonsillitis: Seltene Manifestation einer Infektion mit Y. enterocolitica, mit und ohne Beteiligung der Halslymphknoten. Schweres Krankheitsbild. Metastatische Infektionen und Sepsis: Kommt bei immunsup-
primierten Patienten vor. Symptome der Sepsis sind hohes Fieber, starke Leukozytose, oft Leibschmerzen und Ikterus ohne lokale Zeichen der Infektion. Metastatische Abszesse mit und ohne in Erscheinung tretende Bakteriämie können in vielen Organen (Leber, Milz, Nieren, Lunge, Skelettmuskeln, Lymphknoten, Haut) auftreten. Auch Meningitiden und Endokarditiden wurden beschrieben. Nachkrankheiten: In etwa 10% der Fälle reaktive Arthritis oder
Reiter-Syndrom überwiegend bei HLA-B27-positiven Patienten. Auch Karditiden und Erythema nodosum kommen vor. Diagnostik. Anzüchtung des Erregers aus dem Stuhl, aus Lymph-
knotengewebe und bei Sepsis aus dem Blut. Identifizierung durch biochemische Leistungsprüfung und Bestimmung der O-Antigene. Therapie. Die Infektionen mit Y. enterocolitica und Y. pseudotu-
berculosis verlaufen meistens selbstlimitierend und erfordern nur unterstützende Maßnahmen wie Analgetika und Infusionen. In schweren Fällen sind Antibiotika indiziert: Ciprofloxacin, Co-
10
trimoxazol, Tetracycline, Aminoglykoside oder Cephalosporine der dritten Generation. Pest Erreger. Yersinia pestis, ein gramnegativer, unbeweglicher Bazillus aus der Familie der Enterobacteriaceae. Der hochinvasive Keim bildet im Säugetierorganismus eine Kapsel und diverse Virulenzfaktoren, die teils vom Chromosom, teils von 3 Plasmiden kodiert werden. Sie wirken antiphagozytär und ermöglichen phagozytierten Erregern das Überleben und eine starke Vermehrung in den Makrophagen. Das bakterielle Antigen V schwächt die Immunabwehr, indem es die Makrophagen an der Sekretion von Interferon-γ und TNF-α hindert. Das dem Endotoxin gramnegativer Bakterien entsprechende Antigen W kann zur intravaskulären Gerinnung führen. Ein Plasminogenaktivator-Protein wirkt fibrinolytisch und begünstigt die Ausbreitung des Erregers im Gewebe. Epidemiologie. Die Pest ist eine in ländlichen Regionen Asiens, Afrikas und Amerikas endemische Zoonose der Nager. Übertragung: Diverse Floharten übertragen die Y. pestis von Tier zu Tier und vom Tier auf den Menschen. Von erkrankten Tieren kann die Infektion durch Stich oder Kontakt (beim Abhäuten) auch direkt auf den Menschen übergehen. Die Ansteckung von Mensch zu Mensch erfolgt über Flöhe und von Kranken mit Pestpneumonie durch Tröpfcheninfektion. Von 1980–1994 wurden der WHO 18.339 Pestfälle gemeldet, von denen 1853 tödlich endeten. Größere Ausbrüche kamen in ostafrikanischen Ländern, dem berüchtigten Madagaskar, in Peru und Indien vor. Von 1980–1994 wurden im Südwesten der USA 229 Pestkranke registriert (durchschnittlich 15 pro Jahr), 33 davon starben. Ein Infektionsrisiko in Endemiegebieten haben hauptsächlich Soldaten, Jäger, Geologen, Archäologen und Abenteuertouristen. Durch Bekämpfung der Hausratten, der übertragenden Insekten und die sofortige Quarantäne und Behandlung jedes Pestkranken ist die Pestgefahr heute weitgehend gebannt. Im Mittelalter (1347–1349) tötete die Pest in Europa rund 25 Millionen Menschen. Pestepidemien suchten 1679 Wien und 1710–1711 die Mark Brandenburg heim. In China begann 1855 eine Pandemie, die sich auf ganz Asien, Europa, Afrika, Australien und Amerika ausbreitete. Noch 1898 wütete die Pest in Indien mit 6 Millionen Toten allein in Bombay. Klinik. Von der Eintrittspforte gelangen die Erreger über die afferenten Lymphbahnen in die regionalen Lymphknoten, vermehren sich dort und verursachen als Primäraffekt eine hämorrhagisch-nekrotische Lymphadenitis. Nach Überwindung der Lymphknotenbarriere oder primär durch einen Flohstich in Blutgefäße der Haut kommt es zur Generalisierung mit septischer Bakteriämie und multiplem Organbefall. Inkubationszeit: 2–6 Tage.
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Kapitel 10 · Infektionskrankheiten
Bubonenpest: Initial Schüttelfrost, hohes Fieber, Kopf- und Glie-
derschmerzen. Die Stichstelle ist unauffällig oder durch eine Pustel markiert. Nach 1–3 Tagen schmerzhafte Anschwellung des regionalen Lymphknotens zu einer großen harten Pestbeule (Bubo), die erweichen und nach außen aufbrechen kann (. Abb. 10.14). Bei Stichstellen an den Armen entstehen Bubonen in den Achselhöhlen, bei dem seltenen Befall der Tonsillen (durch Verzehr kontaminierter Nahrung) in der Halsregion. In unbehandelten Fällen folgt das Stadium der Generalisation, gekennzeichnet durch anhaltend hohes Fieber, Prostration, Verwirrtheit, Agitation oder Lethargie und irreversiblem septischem Schock, dem eine disseminierte intravaskuläre Gerinnung mit Blutungen und Multiorganversagen zugrunde liegt. Zyanotisch verfärbte Ekchymosen führten zu der Bezeichnung »schwarzer Tod«. Manchmal entwickelt sich ein pustulöser Ausschlag (Hautpest). Die meisten Erkrankten sterben zwischen dem 3. und 6. Tag. Es kommen aber auch leichte Verläufe mit Spontanheilung und asymptomatische Infektionen vor.
10
Primäre Pestsepsis (10% der Fälle): Foudroyant verlaufende Erkrankung nach direkter Einbringung der Erreger in die Blutbahn. Symptome: Keine Bubonen, Schüttelfröste, hohes Fieber, Erbrechen, blutige Durchfälle, Haut- und Schleimhautblutungen durch intravaskuläre Gerinnung, interstitielle Karditis, Nekrosen in Leber und Milz, Meningitis und finaler Kreislaufschock. Exitus innerhalb von 2–4 Tagen. Lungenpest (2%): Schwere nekrotisierende hämorrhagische Pneumonie, die meistens als Erstmanifestation nach Inhalation
von Aerosolen aus kontaminiertem Bronchialsekret auftritt. Überträger sind erkrankte Menschen oder Hauskatzen. Seltener entsteht die Pestpneumonie im Verlauf einer Bubonenpest. Unbehandelt führt sie immer zum Tode. Diagnostik. Klinisch: An Pest zu denken ist bei Personen, die in Endemiege-
bieten oder kurz nach deren Verlassen aus voller Gesundheit an Schüttelfrost und hohem Fieber erkranken. Schmerzhafte Lymphknotenschwellungen sind höchst suspekt. Bakteriologisch: Erregernachweis im Bubonenpunktat bzw. Sputum mikroskopisch (bipolar angefärbte Bakterien) und mittels Immunfluoreszenz. In jedem Fall Anzüchtung und biochemische Differenzierung in der Kultur. Bei Sepsis Erregerisolierung aus dem Blut. Alle Untersuchungen sind nur im Laboratorien der Sicherheitsstufe 3 zulässig. Bei Misslingen der Erregerisolierung verhilft der immunologische Nachweis des Kapselantigens (F1) von Y. pestis im Gewebe oder in Körperflüssigkeiten zur Diagnose. Bei Überlebenden treten nach 1–2 Wochen Antikörper gegen F1 auf. Differenzialdiagnosen. In Betracht kommen Malaria und Tular-
ämie. Therapie und Prognose. Prompter Behandlungsbeginn senkt die Letalität der Bubonenpest von 50–60% auf 1–5% und verbessert auch die infauste Prognose der unbehandelten primären Sepsis und Pneumonie entscheidend. Bei begründetem Verdacht sollte der bakteriologische Befund nicht abgewartet werden. Mittel der Wahl sind Kombinationen von Streptomycin und Cotrimoxazol. Sehr wirksam sind auch Chloramphenicol, Tetracycline und Gentamicin. Auf Madagaskar wurde 1997 erstmals ein multiresistenter Stamm von Y. pestis isoliert, der nur gegen Trimethoprim, Quinolone, Cephalosporine und Aminoglykoside empfindlich war. Für die Chemoprophylaxe des Pflegepersonals, die bisher mit Tetracyclinen durchgeführt wurde, kann diese Beobachtung Konsequenzen haben. Die überstandene Infektion hinterlässt eine weitgehende, aber keine absolute Immunität. Eine aktive Schutzimpfung mit Tot- oder Lebendimpfstoffen schützt nur 6 Monate.
10.2.19
. Abb. 10.14. Bubonenpest mit großen harten Leistenlymphknoten (aus Hahn et al. Medizinische Mikrobiologie und Infektiologie. 5. Aufl., Springer, Berlin 2004)
Cholera
Erreger. Vibrio cholerae, ein gramnegativer, unipolar begeißelter Bazillus der Gattung Vibrionaceae. Humanpathogen sind die Serogruppen O1 und O139. Von der Serogruppe O1 gibt es 2 Biotypen, den klassischen und den Biotyp El Tor, der häufiger eine leichte oder asymptomatische Infektion verursacht. Auswirkungen bei Infektion: Die Choleravibrionen produzieren ein hochpotentes Enterotoxin. Es induziert am Dünndarmepithel eine massive sekretorische Diarrhö, die durch Wasser-
885 10.2 · Bakterielle Infektionen
und Salzverlust schnell zum Tode führen kann. Die Dünndarmschleimhaut wird dabei nicht zerstört. Choleravibrionen sind sehr säureempfindlich. Daher führen bei azidem Magensaft erst größere, bei Hypo- und Anazidität schon kleine Erregermengen zur Infektion. Mit einer Muzinase überwinden die Vibrionen den Schleimbelag der Darmwand und setzen sich mittels ihrer Fimbrien an der Epitheloberfläche fest. Dort sondern sie das Choleratoxin ab, das von GM1Rezeptoren der Zellen gebunden wird. Die Zahl zugänglicher Rezeptoren wird durch eine Neuraminidase der Vibrionen vergrößert. Während das Enterotoxin mit seinen 5 B-Untereinheiten am Rezeptor haftet, gelangt von der monomeren Untereinheit A die aktive Komponente A1 ins Zellinnere und bewirkt einen Anstieg des cAMP, der zwei Effekte hat. Zum einen wird die Natriumrückresorption des Zottenepithels gehemmt, zum anderen die Chloridsekretion der Kryptenzellen gesteigert. Die Folge ist eine Ansammlung von Natriumchlorid im Darmlumen, die einen osmotischen Wassereinstrom nach sich zieht und zur Ausscheidung großer Mengen eines wässrigen isotonischen Stuhles führt, der viel Natrium, Chlorid, Bikarbonat und Kalium enthält. Epidemiologie. Ursprungsgebiet der Cholera ist das Gangesdelta
auf dem indischen Subkontinent, wo sie bis heute endemisch ist. Von dort gingen seit 1817 sechs globale Pandemien aus. Die siebte und letzte begann 1961 in Indonesien und wurde als erste vom Biotyp El Tor verursacht. Sie griff nur für kurze Zeit auf Europa über, später auf Afrika, Zentral- und Südamerika und ließ in diesen Regionen endemische Herde zurück. Sporadische Infektionen traten 1973 an der Golfküste von Texas und Louisiana auf. Zu einem großen Ausbruch kam es 1995 in Rumänien und den Randstaaten des schwarzen Meeres. Von 1992–1994 breitete sich in Indien und Indonesien eine Cholerainfektion mit dem neuen Vibrionenstamm 0139 aus. In Bangladesch erkrankten daran innerhalb von 3 Monaten 100.000 Personen. Im Jahre 1996 wurden in 65 Ländern 147.425 Choleraerkrankungen mit über 6000 Todesfällen gemeldet. In Europa treten gegenwärtig nur vereinzelt, überwiegend importierte, Cholera-Fälle auf. Übertragung: Choleravibrionen halten sich bevorzugt im Salzwasser an Küsten und Flussmündungen, aber auch im Süßwasser auf. Sie infizieren ausschließlich den Menschen und werden nur durch ihn verbreitet. Die Übertragung erfolgt mit fäkal kontaminiertem Wasser, selten mit kontaminierter Nahrung in den Gastrointestinaltrakt des Menschen. Schellfisch und Krabben können Erreger aus dem Meerwasser aufnehmen und damit zur Ansteckungsquelle werden. In den Endemiegebieten bricht die Cholera gewöhnlich während der warmen Monate aus und befällt bevorzugt Kinder über 2 Jahren. Erwachsene erlangen allmählich eine natürliche Immunität.
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Inkubationszeit: 1–3 Tage. Symptome: Beginn mit schmerzlosen wässrigen Durchfäl-
len, gefolgt von Erbrechen. Fieber besteht meistens nicht. Das Stuhlvolumen kann in den ersten 24 Stunden 250 ml/kg erreichen. Die grau aussehenden Stühle sind blut- und proteinfrei. Sie enthalten kleine Schleimflocken (»Reiswasserstühle«) und haben die 2fache Bikarbonat- und 5fache Kaliumkonzentration des Plasmas. Bei ungenügendem Ersatz von Flüssigkeit und Elektrolyten nimmt die extrazelluläre Flüssigkeit rapide ab. Es kommt zur Hypovolämie mit Blutdruckabfall, schließlich zum hypovolämischem Schock mit tödlichem Ausgang im Koma. Der Bikarbonatverlust führt zur metabolischen Azidose, der Volumenmangel zu Muskelkrämpfen, zur Oligurie und extrarenalen Azotämie. Diagnostik. Sie ergibt sich in Endemiegebieten aus dem klinischen Bild. Erregernachweis durch Anzüchtung aus frischem Stuhl oder Rektumabstrich auf selektivem Medium. Anschließend Identifizierung des Serotyps durch Agglutination mit spezifischen Antiseren. Vibrio El Tor unterscheidet sich von Vibrio cholerae durch die Unempfindlichkeit gegen Vibrio-cholerae-Phagen. Therapie. Substitution der extrazellulären Flüssigkeit: Schneller, fortlau-
fender Ersatz der Wasser- und Elektrolytverluste. In schweren Fällen anfangs i.v. mit Ringerlösung + Laktat + Glukose (50 mMol/l). Anschließend orale Rehydratation (evtl. per Nasensonde), die bei weniger geschwächten Kranken als alleinige Maßnahme ausreicht. Die WHO hat dazu eine wässrige Lösung folgender Zusammensetzung empfohlen: 4 Glukose: 20,0 g/l 4 Na+-Bikarbonat: 2,5 g/l 4 Na+-Chlorid: 3,5 g/l 4 K+-Chlorid: 1,5. Aus dieser Lösung werden die Natriumionen im oberen Dünndarm durch Co-Transport mit der Glukose resorbiert. Antibiotika: Erwachsene erhalten als Einzelgabe 300 mg Doxycyclin oder 30 mg/kg Ciprofloxcin (maximal 1 g). Kindern gibt man für 3 Tage Cotrimoxazol (2×1 Tbl. pro Tag) oder Erythromycin (40 mg/kg pro Tag, verteilt auf 3 Einzeldosen). Verlauf und Prognose. Die unkomplizierte Cholera ist selbstlimitierend und klingt unter ausreichender Volumensubstitution nach 3–6 Tagen ab. Antibiotika sind zur Heilung nicht erforderlich. Sie reduzieren aber die Stuhlmengen um 50% und stoppen die Durchfälle nach 48 Stunden. Eine optimale Therapie senkt die Letalität unter 1%. Bei unzureichender oder zu spät einsetzender Behandlung kann sie bis auf 60% steigen. Therapeutische Probleme ergeben sich vor allem bei plötzlich auftretenden Massenerkrankungen in unterentwickelten Regionen.
Klinik. Die Cholera kann subklinisch, als milde, unkomplizierte
Diarrhö und als fulminante, potenziell letale Erkrankung auftreten.
Prävention. Meldepflicht (Verdacht, Erkrankung, Tod). Isolierung (5 Tage Quarantäne) der Patienten und Ausscheider. Desin-
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Kapitel 10 · Infektionskrankheiten
fektion der Stühle. Erfassung und Sanierung der Ansteckungsquelle. Abkochen des suspekten Trinkwassers, Hygienische Zubereitung der Nahrung. Die Choleraimpfung mit abgetöteten Vibrionen bietet einen auf 3–6 Monate begrenzten Schutz, der bei 50–60% liegt. 10.2.20
Therapie. In leichten Fällen symptomatisch mit Flüssigkeits- und Salzsubstitution. In schweren Fällen, bei immunsupprimierten Patienten und systemischen Infektionen sind Antibiotika indiziert (Erythromycin oder Azithromycin, alternativ Ciprofloxacin). Die Infektion hinterlässt keine dauerhafte Immunität. Daher kommen Rezidive vor.
Campylobacter-Enteritis 10.2.21
Brucellosen
Erreger. In 80–90% der Fälle Campylobacter jejuni, ein gramne-
gativer, begeißelter Bazillus der Gattung Campobacteriaceae. An zweiter Stelle rangiert C. fetus vor mehreren seltenen Campylobacterarten. Campylobacter sind Commensalen im Darm vieler Schlachttiere (Geflügel, Rinder, Schweine, Schafe) und Haustiere (Hunde, Katzen, Ziervögel). Beim Menschen verursachen die Erreger eine Schleimhautentzündung mit Kryptenabszessen im Jejunum, Ileum und Kolon. Sie siedeln sich im Epithel an und bilden ein Exotoxin, das zytopathogene Aktivität aufweist. Epidemiologie. Die Campylobacter-Enteritis ist so häufig wie
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Salmonellosen und Shigellosen zusammen und eine verbreitete Form der Reisediarrhö. In Entwicklungsländern werden bis zu 80% der Durchfallerkrankungen durch Campylobacter verursacht. Am anfälligsten sind junge Kinder, doch können alle Altersgruppen erkranken. Übertragung: Auf den Menschen erfolgt die Übertragung hauptsächlich durch kontaminiertes Geflügel, das ungenügend gekocht oder gebraten wurde, ferner durch unpasteurisierte Milch, kontaminiertes Wasser und Kontakt mit infizierten Haustieren. Klinik. Inkubationszeit: 2–4 Tage. Prodromi: Etwas 12–48 Stunden vor dem Einsetzen der
Diarrhö Fieber, Unwohlsein, Kopf- und Gliederschmerzen. Symptome: Fieberhafte akute Durchfallerkrankung mit Leibkrämpfen und bis zu 10 Entleerungen pro Tag, die zunächst wässerig, später blutig sind. Infektionen mit C. jejuni können zur Pseudoappendizitis, bei Kindern auch zu Krampfanfällen führen. Leukozyten und Erythrozyten im Stuhl beweisen das Vorliegen einer entzündlichen Diarrhö. In den meisten Fällen kommt es nach 7 Tagen zur Spontanheilung ohne Dauerausscheidung des Erregers. Komplikationen: Bakteriämie, vorwiegend mit C. fetus, bei abwehrgeschwächten Personen. Hämatogen können eitrige extraintestinale Infektionen resultieren: Cholezystitis, Pankreatitis, Zystitis, Meningitis, Endokarditis, Arthritis und septischer Abort. Bei HLA-B27-positiven Patienten kommen als Nachkrankheiten reaktive Arthritiden und ein Guillain-Barré-Syndrom vor, das in 20–40% der Fälle durch eine Campylobacterinfektion verursacht wird. Diagnostik. Erregernachweis im Stuhl auf Spezialnährböden. Gelingt nur bei gezielter Suche.
Synonyme. Maltafieber, Mittelmeerfieber, Morbus Bang. Erreger. Gramnegative Bakterien der Gattung Brucella, deren humanpathogene Spezies unterschiedliche tierische Wirte haben: B. melitensis (Ziege, Schaf, Kamel), B. abortus (Rinder), B. suis (Schwein) und B. canis (Hund). Die Brucellosen sind primäre Zoonosen. Infizierte Tiere scheiden die Brucellen mit der Milch, dem Urin, den Fäzes und mit der Plazenta (bei Geburt oder Abort) aus. Übertragung: Die Übertragung auf den Menschen erfolgt durch kontaminierte Tierprodukte (rohe Milch, Fleisch) oder direkten Kontakt. Über den Magen-Darm-Trakt, Hautabschürfungen, Konjunktiven oder durch Inhalation in den Körper gelangte Erreger werden von Makrophagen und Granulozyten phagozytiert und in die regionalen Lymphknoten transportiert. Von dort können sie auf dem Lymphweg in die Blutbahn übertreten und sich in makrophagenreichen Organen (Leber, Milz, Knochenmark, Lungen) ausbreiten. Auch Testes, Gallenblase und ZNS werden befallen. Am Ort ihrer Absiedlung induzieren sie die Bildung entzündlicher Granulome aus Makrophagen und Lymphozyten, die zu Abszessen einschmelzen können (analog verkäsender Tuberkeln). Epidemiologie. Die Brucellosen sind in Zentraleuropa, Kanada
und den USA sehr selten geworden. Über das weltweite Vorkommen gibt es keine Daten. Doch wird fortlaufend über Fälle aus Mittelmeerregionen, dem Mittleren Osten, Mexiko und Mittelamerika berichtet. In Deutschland wurden 1997 25 Fälle gemeldet. Häufigste Infektionsquelle waren importierte Milchprodukte (Ziegenkäse aus Balkanländern und der Türkei). Ein erhöhtes Infektionsrisiko besteht für Metzger, Veterinäre, Landwirte und Molkereiarbeiter. Klinik. Bis zu 90% der Brucellosen verlaufen dank guter Immun-
abwehr subklinisch und lassen sich nur serologisch erfassen. Die symptomatischen Formen treten akut oder subakut in Erscheinung und gehen in 5% der Fälle in chronische, zu akuten Rezidiven neigende Brucellosen über. Inkubationszeit: 1–3 Wochen, manchmal einige Monate. Symptome: Plötzlich mit Schüttelfrost oder schleichend einsetzendes Fieber, verbunden mit Schweißausbrüchen, Kopf-, Rücken- und Gliederschmerzen. Hinzu kommen Halsschmerzen, trockener Husten, Anorexie, Gewichtsverlust und Obstipation.
887 10.2 · Bakterielle Infektionen
Das Fieber steigt gewöhnlich gegen Abend an und kann für 2– 5 Tage aussetzen (febris undulans). Bei etwa 25% der Patienten treten generalisierte Lymphknotenschwellungen und eine Hepatosplenomegalie auf. In 30–40% der Fälle entwickelt sich eine reaktive asymmetrische Polyarthritis, bei 10% die typische Brucella-Spondylitis im Bereich der Lendenwirbelsäule. Pustulöse und ulzerierende Hautläsionen an Händen und Armen werden bei Tierärzten nach geburtshilflichen Eingriffen an erkrankten Rindern beobachtet. Zu den seltenen Organmanifestationen zählen Karditiden, Infektionen des Urogenitalsystems und Meningoenzephalitiden. In chronischen Fällen bzw. zwischen den Rezidiven wird über Affektlabilität, Schlaflosigkeit und Depressionen geklagt. Leber und Milz bleiben oft geschwollen. Diagnostik. Wegweisend sind chronisches rezidivierendes Fie-
ber, Organmanifestationen und mögliche Exposition. Das Blutbild zeigt in der akuten Phase eine Granulozytopenie, in der chronischen eine Lymphozytose. Die Blutsenkung ist nur in akuten Phasen beschleunigt. Erhöhte und steigende Antikörpertiter sichern die Diagnose auch beim Misslingen des Erregernachweises. Die Antikörperbestimmung erfolgt mit dem Standard-Agglutinationstest, dem Coombs-Test oder einem ELISA. In Endemiegebieten sind Titer von 1:320 bis 1:640, ansonsten Titer von 1:160 signifikant. Die Erregeranzüchtung gelingt nur in komplex zusammengesetzten Kulturmedien, am häufigsten aus Blut oder Knochenmark (50–70%), seltener aus Urin, Liquor oder Gewebeproben. Therapie. Erfolgversprechend ist nur eine längerfristige kombinierte Antibiotikabehandlung. Erwachsene erhalten Doxycyclin (2×100 mg/Tag) plus Rifampicin (600 mg/Tag als Einzelgabe) für 6 Wochen. Bei Schwangeren und Kindern gibt man Co-trimoxazol plus Rifampicin.
10.2.22
Tularämie
Erreger. Francisella tularense, Typ A oder B, ein gramnegativer
Bazillus, benannt nach dem Bakteriologen E. Francis und der Erstbeschreibung im Distrikt Tulare/Kalifornien. Die Tularämie (Hasenpest) ist eine Zoonose, die gelegentlich auf den Menschen übergeht. Die für den Menschen wichtigsten Reservoire sind Kaninchen, Hasen und Zecken. Epidemiologie. Vorkommen in den USA (Arkansas, Oklahoma, Missouri), Skandinavien, Osteuropa, Südrussland, Sibirien und China. In Deutschland eine Rarität. Übertragung vom infizierten Tier auf den Menschen hauptsächlich durch Insekten und Hautkontakt, seltener durch Schmierinfektion der Konjunktiven, Inhalation kontaminierten Staubes und Genuss unzureichend gekochten Fleisches oder kontaminierten Wassers.
10
Klinik. Inkubationszeit: 2–10 Tage. Symptome: F. tularense erzeugt eine granulomatöse Entzün-
dung mit Einschmelzungen, die histopathologisch der Tuberkulose ähnelt, aber schneller abläuft. Abhängig von der Eintrittspforte resultieren unterschiedliche klinische Syndrome: 4 Ulzeroglanduläre Tularämie: An der infizierten Hautstelle bildet sich – begleitet von akut einsetzendem Fieber mit Schüttelfrost und Myalgien – eine bald in Ulzeration übergehende Papel. Die regionalen Lymphknoten schwellen an und schmelzen ein, so dass ein Primärkomplex entsteht. In 10% der Fälle tritt nur die Lymphadenitis in Erscheinung, da die Hautaffektion verborgen bleibt. 4 Okuloglanduläre Tularämie: Nach Inokulation der Konjunktiven tritt unter Fieber und Allgemeinerscheinungen eine eitrige Konjunktivitis mit schmerzhafter periaurikulärer Lymphadenopathie auf. 4 Oropharyngeale und gastrointestinale Tularämie: Eine orale Inokulation kann zu einer fieberhaften akuten exsudativen oder membranösen Pharyngitis mit Anschwellung der Halslymphknoten führen. Auch intestinale Läsionen mit mesenterialer Lymphadenopathie, Abdominalschmerz, Diarrhöen und Erbrechen kommen vor. Die Schweregrade sind unterschiedlich. 4 Pulmonale Tularämie: Der Lungenbefall durch Inhalation eines kontaminierten Aerosols oder über eine hämatogene Aussaat manifestiert sich als atypische Pneumonie, die nicht auf β-Lactam-Antibiotika anspricht. 4 Typhöse Tularämie: Schweres septisches Krankheitsbild mit Fieber und Delir, ohne erkennbare Eintrittspforte des Erregers. Übergang in septischen Schock durch Endotoxinämie. Diagnostik. In Endemiegebieten ist das Zusammentreffen von
ulzeröser Hautläsion, regionaler Lymphknotenschwellung und Fieber suspekt. Die Anzüchtung der Erreger ist schwierig und gelingt in der Mehrzahl der Fälle nicht. Die Diagnose basiert deshalb auf dem Nachweis und Titeranstieg agglutinierender Antikörper. Therapie. Mittel der Wahl ist Streptomycin (2-mal tgl. 7,5–10 mg/ kg intramuskulär) für 7–10 Tage. Alternativ kommt Gentamicin in Betracht (alle 8 Std. 1,7 mg/kg) intravenös oder intramuskulär). Die Mortalität der behandelten Fälle liegt unter 1%. Unbehandelt zieht sich die Erkrankung über Wochen oder Monate hin, und bis zu 30% der Patienten sterben.
10.2.23
Leptospirose
Erreger. Leptospira interrogans, eine Spirochäte aus der Familie der Leptospiraceae. Wird in über 200 Serovare verteilt auf 23 Serogruppen untergliedert.
888
Kapitel 10 · Infektionskrankheiten
Epidemiologie. Die Leptospirose ist eine weltweit verbreitete
Zoonose, die viele Säugetierarten befällt und auf den Menschen übergehen kann. Hauptreservoir sind Nagetiere, besonders Ratten. Sie erkranken selbst nicht, scheiden aber den Erreger im Urin aus und verseuchen so die Umgebung. Im tropischen und temperierten Klima können die Leptospiren in feuchtwarmer Erde und im Oberflächenwasser wochenlang überleben. Ansteckungsgefahr besteht für den Menschen vor allem bei Arbeiten auf künstlich bewässerten landwirtschaftlichen Flächen, in Sumpfgebieten, Reisfeldern, Kanälen und Abwasseranlagen sowie beim Baden und Fischen. Hier erfolgt die Übertragung durch Eindringen der Spirochäten in kleine Hautläsionen oder in die intakten Schleimhäute von Auge, Nase und Mund. Eine Infektion über die Darmschleimhaut ist bei Genuss stark kontaminierter Nahrungsmittel möglich. In Deutschland wurden 1996 nur 25 Fälle gemeldet, in den USA sind es jährlich 40–120. Klinik. Inkubationszeit: 7–12 Tage, Schwankungsbreite 2–20 Tage. Symptome: Nach der Infektion gelangen die Leptospiren
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sehr schnell ins Blut und in alle Gewebe und vermehren sich dort. Es kommt zur initialen septischen Phase, induziert durch toxische Erregerprodukte und eine Komplementaktivierung auf dem alternativen Weg. Läsionen entstehen vor allem am Gefäßendothel, an Leber und Nieren. Daraus resultieren eine Permeabilitätssteigerung der Kapillaren mit Hämokonzentration und Blutungsneigung, zentrolobuläre Leberzellnekrosen mit oder ohne Ikterus und eine interstitielle Nephritis mit Tubulusschädigung. Die Skelettmuskulatur weist frühzeitig Fragmentationen und Zellinfiltrate auf. Auch das Myokard kann beteiligt sein. In diesem Stadium sind die Erreger im Blut und Liquor nachzuweisen. Nach mehrtägigem fieberfreien Intervall folgt mit dem Erscheinen der Antikörper die Immunphase. Aus Blut und Geweben werden die Erreger schnell eliminiert. Sie verbleiben aber im Kammerwasser des Auges und in der Niere. Erst jetzt werden sie im Urin ausgeschieden. Manifestationen der Immunreaktionen sind aseptische Meningitis und Entzündungen des Auges. Viele exponierte Personen weisen spezifische Antikörper auf, ohne erkrankt gewesen zu sein. Von den symptomatischen Fällen verlaufen 90% anikterisch und relativ leicht. Etwa 10% der Patienten erkranken schwer mit hochgradigem Ikterus und starker Nierenaffektion (Weil-Syndrom). Fast immer zeigen anikterische und ikterische Listeriose einen biphasischen Verlauf: 4 Septische Phase: Akuter Beginn mit Fieber. Sehr intensiver frontaler Kopfschmerz. Heftigste Myalgien, die typischerweise in den Waden, im Abdomen und im Ileosakralbereich lokalisiert sind. Konjunktivitis, trockener Husten, gelegentlich mit blutig tingiertem Sputum ergeben ein grippeähnliches Krankheitsbild. Weitere Symptome: Makulopapulöse, urtikarielle oder hämorrhagische Hautausschläge, in schweren Fällen Hepatosplenomegalie mit cholestatischem Ikterus, Hypotonie und Herzinsuffizienz. Renale Manifestationen von leichter Proteinurie und Leukozyturie bis zum akuten Nie-
renversagen und hämolytisch-urämischen Syndrom. Nach 4–9 Tagen Rückgang der Beschwerden und des Fiebers. 4 Immunphase: Beginn zwischen 6. und 12. Krankheitstag. Dauer 4–30 Tage. Gekennzeichnet durch steigende Antikörpertiter und Leptospirurie. Bis zu 35% der Patienten bleiben symptomfrei. Bei den andern erneuter Fieberanstieg. Meningeale Reaktionen bei 90%, manifeste aseptische Meningitis bei weniger als 50% der Patienten. Nicht selten auch Uveitis und Hautausschläge. Fortdauer, manchmal Verschlimmerung der hepatischen und renalen Manifestationen. Komplikationen: Blutungen in den Gastrointestinaltrakt, in die Alveolen und den Bronchialtrakt. Diagnostik. Laborbefunde: Leukozytose mit Linksverschiebung, leichte
Thrombopenie. Beschleunigte Blutsenkung, hohes Plasmafibrinogen. Albuminurie, Leukozyturie, Anstieg von Harnstoff, Kreatinin und Harnsäure, Hyperphosphatämie. Serumbilirubin bis 20 mg/dl, alkalische Phosphatase stark, Transaminasen relativ gering erhöht. Serologie: Antikörpernachweis mit dem mikroskopischen Agglutinationstest ab einem Titer von 1:100 sichert die Diagnose. Gelingt erst in der zweiten Woche. Erregernachweis: Anzüchtung aus Blut und Liquor in den ersten 10 Tagen, später auch aus dem Urin. Die Kultur muss mehre Wochen bebrütet werden. Ermöglicht keine frühe Diagnose, aber die Ermittlung des Serotyps. Therapie und Prognose. Antibiotika am wirksamsten in den ersten Tagen der septischen Phase, nützlich auch später noch. Mittel der Wahl: Penicillin G (6–12 Mill. IE/Tag i.v.) oder Ampicillin (500– 1000 mg alle 6 Stunden i.v.). In leichteren Fällen Doxycyclin (2×100 mg/Tag). Chemoprophylaxe bei Exposition mit einer Einmaldosis von 200 mg Doxycyclin pro Woche. Mortalität der anikterischen Fälle 0%, bei den schweren ikterischen Verlaufsformen 5–10%, jenseits des 60. Lebensjahres noch höher. Leber- und Nierenläsionen bilden sich bei den Überlebenden vollständig zurück.
10.2.24
Lyme-Borreliose
Erreger. Borrelia burgdorferi, eine gramnegative Spirochäte, von der es 3 Genospezies gibt (senso stricto, afzelii, garinii). Hauptreservoir des Erregers sind kleine Nager (Mäuse, Igel), Reh- und Rotwild. Übertragung: Sie erfolgt durch infizierte Zecken, deren Larven und Nymphen an der Ausbreitung der Borrelien teilnehmen. Im Frühsommer werden Mäuse von infizierten Nymphen angesteckt, im Spätsommer übertragen infizierte Mäuse die Borrelien auf Zeckenlarven. In Endemiegebieten sind annähernd 30% der Nymphen und adulten Zecken Keimträger. Die Mehrzahl der Patienten wird von Ende Mai bis Ende Juni von den nur 1–2 mm
889 10.2 · Bakterielle Infektionen
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großen Nymphen infiziert. Die seltenere Ansteckung im Herbst erfolgt durch adulte Zecken. Der Lokalinfektion an der Einstichstelle folgt die lymphogene und hämatogene Erregeraussaat mit besonderem Tropismus für Haut, Nervensystem, Gelenke und Herzmuskel. Die entzündlichen Läsionen entstehen durch die von den Erregern induzierte Freisetzung proinflammatorischer Zytokine und die immunologischen Abwehrreaktionen des Organismus. Bis ins Spätstadium lassen sich Borrelien an den Krankheitsherden nachweisen. Epidemiologie. In den USA ist die Lyme-Borreliose mit über 16.000 Fällen pro Jahr die häufigste von Zecken übertragene Krankheit. Erforscht und benannt wurde sie nach einer 1974/75 in Lyme/Connecticut (USA) aufgetretenen Endemie. Weitere Verbreitungsgebiete sind Europa, der asiatische Teil Russlands, China und Japan. In Deutschland wird die Zahl der jährlichen Neuerkrankungen auf 60.000 geschätzt. Die Lyme-Krankheit tritt vor allem in ländlichen waldreichen Gegenden mit Häufung im Sommer und Frühherbst auf. Sie befällt alle Altersklassen und beide Geschlechter. Besonders gefährdet sind Waldarbeiter, Förster, Jäger, Beerensammler und Camper. Die Übertragung erfolgt durch verschiedene Zeckenarten: Ixodes dammini (Nordosten der USA), I. pacificus (Südwesten der USA), I. ricinus (Europa), I. persulcatus (Asien). Klinik. Die Lyme-Borreliose wird in 3 Stadien unterteilt. Sie müssen aber nicht alle durchlaufen werden. Oft weisen sie nur einen Teil der möglichen Manifestationen auf. Auch die Zeitintervalle zwischen den Stadien variieren. Von den seropositiven Individuen in Endemiegebieten sind 10–30% klinisch gesund und geben in der Anamnese keine auf Borreliose verdächtigen Symptome an. Ob sie die Krankheit überstanden haben oder auf dem Weg in ein Spätstadium sind, lässt sich nur durch prospektive Untersuchungen klären. Inkubationszeit: 3–32 Tage. Stadium 1 (lokale Infektion): Ein Erythema migrans, das an der Einstichstelle als roter Fleck oder Papel beginnt. Es erreicht nach einigen Tagen eine Ausdehnung von wenigen bis zu 60 cm. Kennzeichnend ist der intensiv rote Rand um das aufgehellte Zentrum des Ausschlags, der sich gewöhnlich innerhalb eines Monats zurückbildet (. Abb. 10.15). Bei 25% der Infizierten bleibt das Erythema migrans aus, von manchen wird es übersehen oder nicht beachtet. Stadium 2 (disseminierende Infektion): Im frühen Generalisationsstadium, einige Wochen oder Monate nach Auftreten des Erythema migrans, oft grippeähnlicher Infekt mit Abgeschlagenheit, Schüttelfrost, Fieber, intensivem Kopfschmerz, Myalgien und Arthralgien. Im weiteren Verlauf unterschiedliche Organmanifestationen: Meningitis, kraniale Neuritis und Radikuloneuropathien im HWS-Bereich, Oligoarthritis, akute Lyme-Karditis mit AV-Blockierungen. Stadium 3 (Spätstadium der Infektion mit chronischer Organmanifestation): Monate oder Jahre nach Beginn der Infektion
. Abb. 10.15. Erythema migrans bei Lyme-Borreliose (aus Braun-Falco et al. Dermatologie und Venerologie. 5. Aufl., Springer, Berlin 2005)
können einzeln oder in Kombinationen folgende Manifestationen auftreten: 4 Destruierende Oligoarthritis: Häufigkeit 60%. Lokalisiert in großen Gelenken, meistens im Kniegelenk mit reichlich polymorphkernigen Leukozyten in der Gelenkflüssigkeit und Zottenhyperplasie. Mit der PCR ist Borrelien-DNA nachzuweisen. 4 Enzephalopathie: Relativ selten, oft nach jahrelanger Latenz manifest mit Gedächtnisstörungen, depressiver Verstimmung, Schlafstörungen und spastischen Paresen. Begleitend oder allein können sich Polyneuropathien entwickeln. 4 Chronische Kardiomyopathie: Kann nach vorausgegangener akuter Karditis zurückbleiben. Manifestiert sich in AV-Blockierungen und Tachyarrhythmien. 4 Acrodermatitis chronica atrophicans: Seltene Spätkomplikation in Europa und Asien, meistens nach Infektion mit B. afzelii. Beginn der Läsionen an den akralen Oberflächen von Fingern und Zehen mit livid-roter Verfärbung, die im Laufe von Jahren sklerotisch oder atrophisch werden. Diagnostik. Klinisch: Das Erythema migrans ist pathognomonisch. Der Ze-
ckenstich kann nicht mehr zu erkennen und unbemerkt geblie-
890
10
Kapitel 10 · Infektionskrankheiten
ben sein. Bei allen Mono- und Oligoarthritiden sollte eine Borreliose ausgeschlossen werden. Ebenso bei Meningitiden mit Pleozytose und bei unklaren Infekten, Polyneuritiden und Karditiden, vor allem wenn Risikopersonen betroffen sind. Serologisch: Der Nachweis spezifischer Antikörper im Serum sichert die Diagnose. In der akuten Phase sind 20–30% der Patienten seropositiv, 2–4 Wochen später auch die übrigen. Zuerst treten IgM-, nach wenigen Wochen auch IgG-Antikörper auf. Man beginnt mit dem ELISA auf IgM und IgG. Wenn nur IgM nachzuweisen ist, muss mit dem Westernblot (Präzipitation mit elektrophoretisch fraktioniertem Antigen) ein falsch positives Ergebnis ausgeschlossen werden. Bei positivem Resultat sind von den Banden 23, 39 und 41 mindestens 2 vorhanden. Erhöhte IgG-Titer bleiben auch nach der Abheilung bestehen; sie erlauben keine Rückschlüsse auf die Aktivität der Borreliose. Anzüchtung: Keine Routinemethode, gelingt nur mit niedriger Ausbeute aus Hautbiopsien und Gelenkflüssigkeit. Dagegen kann mittels der PCR in der Gelenkflüssigkeit und im Liquor sehr häufig Borrelien-DNA und damit lebender Erreger nachgewiesen werden. Jedes positive Ergebnis lässt auf einen aktiven behandlungsbedürftigen Krankheitsprozess schließen.
Gruppe des durch Zecken (Spezies Ornithodoros) übertragenen Rückfallfiebers (B. duttoni, B. hispanica u. 12 ähnliche Spezies). Als Besonderheit weisen alle Rückfallfieber-Borrelien eine große Variabilität des Hauptantigens an ihrer Oberfläche auf. Die Gene für dieses variable Hauptprotein liegen auf einem linearen Plasmid und werden sequenziell exprimiert. Der Wandel der Antigenstruktur hat zur Folge, dass Antikörper gegen die Spirochäten nach kurzer Zeit ihre Wirkung verlieren und der Infekt mit einem neuen Fieberschub rezidiviert. Die Rückfälle hören erst auf, wenn sich der Antigenwechsel erschöpft hat. Übertragung: Die Rückfallfieber-Borrelien dringen über die Haut oder die Schleimhäute in den Körper ein, vermehren sich im Blut und zirkulieren darin in großen Mengen. Sie gelangen auch ins ZNS und werden in den Remissionsphasen von Leber und Milz sequestriert. Dort entstehen multiple Mikroabszesse aus mononukleären Zellen. Ferner kommt es zu subkapsulären und parenchymatösen Hämorrhagien in verschiedenen Organen (Leber, Milz, Mesenterium, Herz, Pleura, Nieren und Meningen) Das Fieber kommt durch Freisetzung von Zytokinen und Komplementaktivierung zustande. Ein Endotoxin wurde in den Spirochäten nicht gefunden.
Therapie. Zeckenentfernung: Die Entfernung der Zecken innerhalb von
Epidemiologie. Das von Kleiderläusen übertragene Rückfallfie-
Stunden schützt vor der Infektion. Nach einem Aufenthalt in Zeckengebieten ist daher eine gründliche Inspektion des gesamten Körpers anzuraten. Erst nach 24 Stunden steigt die Übertragungswahrscheinlichkeit deutlich an, weil die Spirochäten zunächst aus dem blutgefüllten Mitteldarm der Nymphen oder Zecken in deren Speicheldrüsen gelangen müssen. Man extrahiert die Zecken langsam mit einer dicht über der Haut angesetzten Pinzette ohne den Insektenkörper zu komprimieren. Von dem früher empfohlenen Ersticken der Zecken mit Klebstoff oder Öl ist abzuraten. Ein zurückgebliebener Kopf bedeutet keine Gefährdung. Er wird durch eine Entzündungsreaktion spontan abgestoßen. Antibiotika: In allen Stadien spricht die Lyme-Borreliose auf Antibiotika an: 4 Stadium 1: Doxycyclin oral (2×100 mg/Tag) für 10–21 Tage. Bei Kindern Amoxicillin oral (3×500 mg/Tag) für 10– 21 Tage. 4 Stadium 2: Behandlung der Arthritis mit Doxycyclin oral (2×100 mg/Tag) für 30 Tage, neurologische und kardiale Manifestationen mit Ceftriaxon i.v. (2 g/Tag) für 14–28 Tage. 4 Stadium 3: Ceftriaxon i.v. (2 g/Tag) für 30 Tage. Die Rückbildung der Symptome erfolgt auch nach Eradikation der Erreger mit einiger Verzögerung. 10.2.25
Rückfallfieber
Erreger. Rückfallfieber-Borrelien aus der Familie der Spirochae-
taceae: B. recurrentis (durch Kleiderläuse übertragen) und die
ber war zu Beginn des 20. Jahrhunderts global verbreitet. Heute ist es weitgehend verschwunden. Bedeutende Endemien kommen noch im Nordosten Afrikas, insbesondere in Äthiopien vor, wo viele Wohnsitzlose unter unhygienischen Bedingungen eng zusammenleben. Für den Erreger, B. recurrentis, ist der kranke Mensch das einzige Reservoir, was seine Zurückdrängung erleichtert hat. Die Übertragung erfolgt nicht durch den Läusestich, da sich die Erreger nur in der Hämolymphe befinden, sondern durch das Eindringen der Spirochäten aus der Körperflüssigkeit zerquetschter Läuse in kleine Hautdefekte oder Schleimhäute. Die Erreger des von Zecken übertragenen Rückfallfiebers haben mit Ausnahme der auf den Menschen beschränkten B. duttoni ihr Hauptreservoir in Nagetieren (Ratten, Mäuse, Eichhörnchen), Kaninchen und Hasen. Sie sind deshalb noch weit verbreitet. Abgesehen von Endemien in der Subsahara durch B. duttoni tritt das Zecken-Rückfallfieber sporadisch und in kleinen Gruppen auf. Es wird bis heute im Nahen und Mittleren Osten, Südrussland, Indien und China, selten im Westen der USA (Grand Canyon, kalifornisches Bergland) und in Zentralamerika beobachtet. Die Übertragung erfolgt durch Zeckenstich. Klinik. Inkubationszeit: 2–18 Tage, durchschnittlich 7 Tage. Symptome: Akuter Beginn mit hohem Fieber (39–41 °C),
das 3–7 Tage andauert und dann plötzlich kritisch abfällt. Nach jeweils mehrtägigen, von Mal zu Mal länger anhaltenden fieberfreien Intervallen kommt es erneut zu Fieberschüben, die immer leichter verlaufen und schließlich aufhören. Begleitet ist das Fieber von Hinfälligkeit, Benommenheit bis zum Delir, Kopf-, Glieder- und Gelenkschmerzen, von petechialen Blutungen der Haut
891 10.2 · Bakterielle Infektionen
und von Schleimhäuten, dolenter Leber- und Milzschwellung, manchmal von Meningitis und Hirnnervenlähmungen. Das LäuseFleckfieber verläuft schwerer als das von Zecken übertragene. Diagnostik. Einfach zu verifizieren durch mikroskopischen Erre-
gernachweis im Frischpräparat per Dunkelfeld oder in gewöhnlich gefärbten Blutausstrichen, die während des Fieberschubes anzufertigen sind. Anzüchtung und Differenzierung kann in Speziallabors erfolgen. Eine positive Weil-Felix-Reaktion des Serums stützt die Diagnose. Therapie. Antibiotika: Schnell und sicher wirken Erythromycin und Doxy-
cyclin. Bei Läuse-Rückfallfieber genügt die Einmalgabe. Bei Zecken-Rückfallfieber sind über 10 Tage Doxycyclin (tgl. 2×100 mg) oder Erythromycin (tgl. 4×500 mg) erforderlich. Jarisch-Herxheimer-Reaktion: Durch den plötzlichen, massiven Untergang der Spirochäten im Blut kommt es nach 1– 4 Stunden in der Mehrzahl der Fälle zu einem Anfall mit hohem Fieber (41,5 °C und darüber), Schüttelfrost, Hyperventilation, Tachykardie und erhöhtem peripheren Gefäßwiderstand. Nach 10–30 Minuten fällt die Temperatur unter massivem Schweißausbruch und Auftreten eines Flush rapide ab. Peripherer Gefäßwiderstand und Blutdruck sinken schnell, so dass ein hypovolämischer Schock droht. Der Temperaturanstieg lässt sich durch vorbeugende Gabe von Hydrocortison und Paracetamol abschwächen. Die kardiovaskulären Störungen erfordern eine intensiv-medizinische Überwachung und Behandlung. Prognose. Die Mortalität des Läuse-Rückfallfiebers konnte durch die Therapie von 30–70% auf unter 5% gesenkt werden. Das Zecken-Rückfallfieber verläuft milder, auch mit einer schwächeren Jarisch-Herxheimer-Reaktion.
10.2.26
Syphilis (Lues)
Erreger. Treponema pallidum (Subsp. pallidum) aus der Familie
der Spirochaetaceae. Einziger natürlicher Wirt ist der Mensch. Die erworbene Syphilis wird durch Sexualkontakt übertragen, die konnatale diaplazentar. In Blutkonserven sterben die Treponemen bei 4 °C in 24 Stunden ab, so dass Transfusionen kaum noch als Ansteckungsquelle in Betracht kommen. Drogenabhängige können sich durch kontaminierte Spritzen infizieren. Übertragung: Die Erreger durchdringen intakte Schleimhaut und Hautabschürfungen, nicht aber die unversehrte Haut. Sie erreichen schon nach Stunden die regionalen Lymphknoten und gelangen danach schnell in den ganzen Körper. Als primäre Reaktion entsteht an der Eintrittsstelle eine umschriebene ulzerierende Entzündung, zunächst mit granulozytärer, später mit lymphozytärer und plasmazellulärer Infiltration. Das anschließende sekundäre Stadium ist durch Hautreaktionen gegen hämatogen disseminierte Treponemen gekennzeichnet, die man in perivas-
10
kulären Infiltraten aus Lymphozyten und Plasmazellen findet. Im Tertiärstadium nach jahrelanger klinischer Latenz manifestiert sich der Entzündungsprozess gegen verbliebene Erreger mit Gummen aus nekrotisierendem Granulationsgewebe und einer obliterierenden Endarteriitis am Zentralnervensystem und in der Wand großer Arterien, hauptsächlich der Aorta. Epidemiologie. Die Syphilis ist weltweit verbreitet, seit 1943 aber durch die Penicillintherapie stark zurückgedrängt worden. Am höchsten sind die Inzidenzraten in den Großstädten. Im Jahr 2002 wurden in Deutschland 2275 Fälle gemeldet. Männer erkranken häufiger als Frauen. Klinik. Inkubationszeit: Je nach der Größe des Inokulums 10–90 Tage, im
Durchschnitt 3–4 Wochen. Bevor die erste Läsion sichtbar wird, hat die Treponemenkonzentration im Gewebe 107/g erreicht. Primärstadium (Lues I): Beginn mit einer harten, schmerzlosen Papel an der Eintrittsstelle, die sich schnell in eine Erosion (. Abb. 10.16) oder in ein schmerzloses Ulkus mit derbem Randwall umwandelt (Primäraffekt, harter Schanker). Innerhalb einer Woche indolente Anschwellung der regionalen Lymphknoten, die sich hart anfühlen und verschieblich bleiben. Zusammen mit dem Ulkus ergibt sie den Primärkomplex. Lokalisationen: Penis, bei homosexuellen Männern auch Anus und Rektum, bei Frauen Vulva, Zervix und Peroneum, bei orogenitalem Kontakt Lippen, Mund- und Rachenschleimhaut. Die Primärläsionen sind hochgradig kontagiös, da sie massenhaft Treponemen enthalten. In unbehandelten Fällen Abheilung innerhalb von 4–6 Wochen. Sekundärstadium (Lues II): Beginn 6–12 Wochen nach der Infektion. Schließt sich in 60–90% der Fälle an das Primärstadium an. Bei 15% der Patienten besteht noch ein abheilender Schanker. Symptome: Zum Auftakt manchmal Allgemeinerscheinungen (Fieber, Unwohlsein, Kopf- und Halsschmerzen, Anorexie, Gewichtsverlust). Die typischen Manifestationen sind Haut- und Schleimhautläsionen kombiniert mit einer generalisierten Lymphadenopathie (. Abb. 10.17). Initial treten symmetrische makulöse Exantheme auf mit linsengroßen Flecken (Roseolen) an den seitlichen Stammpartien, am Oberbauch und als Besonderheit auch an Fußsohlen und Handflächen. Seltener haben die Exantheme eine papulopustulöse oder psoriasiforme Note. Inguinal, genitokrural und perianal können Fluoreszenzen erodieren und nässen. Sekretreiz und mechanische Irritation lassen dann beetartig proliferierende Papeln (Condylomata lata) entstehen, die durch hohen Gehalt an Treponemen hochinfektiös sind. Kopfhautbefall kann zu umschriebenem Haarausfall (Alopecia areata) führen. Bei 10–15% der Patienten entwickeln sich oberflächliche Schleimhauterosionen (mucous patches), silbergraue, schmerzlose Flecken mit rotem Rand. Man sieht sie an Lippen, Mundschleimhaut, Tonsillen, Rachenwand, Larynx, Glans penis, Vulva und Vagina. Relativ seltene Manifestationen sind Uveitis, Periostitis, Arthritis, Hepatitis, Nephritis, hypertrophe Gastritis,
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Kapitel 10 · Infektionskrankheiten
10 . Abb. 10.16. Syphilis: Erosivschanker als Primäraffekt (aus Braun-Falco et al. Dermatologie und Venerologie. 5. Aufl., Springer, Berlin 2005)
. Abb. 10.17. Syphilis II mit lichenoidem papulonodulärem Syphilid (aus Braun-Falco et al. Dermatologie und Venerologie. 5. Aufl., Springer, Berlin 2005)
Proktitis und Meningitis. Die Erscheinungen der Sekundärsyphilis klingen nach 3–12 Wochen spontan ab.
Tertiärstadium (Lues III): Es tritt mit folgenden Manifestationen in Erscheinung: 4 Spezifische Granulome: Syphilide der Haut (rötlich-braune, bis erbsgroße Knoten in girlandenförmiger Anordnung) und Gummen (größere, schmerzlose, derbe, prall-elastische Knoten, die zur Einschmelzung und Vernarbung neigen). Kutane Gummen entstehen in der Subkutis, wölben die Haut vor und zerfallen in scharf begrenzte Ulzera (. Abb. 10.18). Im Gesicht und Mundbereich können sie zu Destruktionen führen (Perforation von Gaumen und Nasenseptum, Sattelnase), im Knochen zu Frakturen, in der Leber zum Ikterus. 4 Kardiovaskuläre Syphilis: Durch eine Endarteriitis obliterans der Vasa vasorum kommt es an großen Arterien zur Medianekrose. Es resultieren Aortitis, Aneurysmen vorwiegend der aszendierenden Aorta, Aorteninsuffizienz und Stenosierung der koronaren Ostien. 4 Späte Augenläsionen: Iritis und Chorioretinitis. Entrundung der Pupille durch Irisadhäsion. 4 Neurosyphilis: Sie tritt in 2 Hauptformen auf: 5 Meningovaskuläre Neurosyphilis: Arteriitis im Bereich der Meningen, des Hirngewebes und des Rückenmarks
Latenzstadium: 4 Frühlatenz: Beginnt nach Abklingen des Sekundärstadiums
und dauert 2 Jahre. In dieser Zeit, gewöhnlich nur bis zu einem Jahr, können Symptome der sekundären Syphilis rezidivieren. Die Diagnose ergibt sich aus den positiven Seroreaktionen. Die Patienten sind noch potenziell kontagiös. Bis zum Ende der Frühlatenz genügt eine Kurztherapie, da sich die Teponemen bis dahin wahrscheinlich relativ schnell teilen. 4 Spätlatenz: Schließt sich an die Frühlatenz an und dauert bis zum Auftreten von Symptomen des Tertiärstadiums, das ein Drittel der Patienten nach 10–40 Jahren befällt, wenige schon früher. Bei den übrigen zwei Dritteln dauert die Spätlatenz bis ans Lebensende. Sexualpartner werden nicht mehr infiziert, doch besteht noch ein Übertragungsrisiko von der Mutter auf den Feten und durch Blutübertragungen. Da sich die Treponemen im Spätstadium langsamer teilen, ist wie bei tertiärer Lues eine längere Therapiedauer erforderlich.
893 10.2 · Bakterielle Infektionen
. Abb. 10.18. Syphilis III mit Gumma am Hals (aus Braun-Falco et al. Dermatologie und Venerologie. 5. Aufl., Springer, Berlin 2005)
mit ischämischen Insulten, fokalen und generalisierten Krämpfen. Meningomyelitiden bewirken Rückenschmerzen, Muskelatrophien, Sensibilitätsstörungen und Paresen. 5 Parenchymatöse Neurosyphilis (progressive Paralyse,
Tabes dorsalis): Symptome der progressiven Paralyse: Demenz, Gedächtnisverlust, Sprachstörungen, Tremor, Krämpfe ohne Bewusstseinsverlust, apoplektische Episoden mit transitorischer Hemiplegie und Aphasie, Inkontinenz. Pathologisch-anatomisch liegen Hirnatrophie, Infiltrationen der vorderen zwei Drittel der Rinde mit Lymphozyten und Plasmazellen und fokale Demyelinisierungen vor. Symptome der Tabes dorsalis: Lanzinierende (blitzartige) Schmerzattacken in den Beinen oder Füßen, gastrische Schmerzkrisen, Verlust des Vibrations- und Temperaturempfindens, ataktische Gangstörungen, Impotenz, Verlust der Sehnenreflexe, lichtstarre Pupillen bei erhaltener Konvergenzreaktion und Miosis (Argyll-Robertson-Zeichen). Die Hinterstränge sind atrophisch, die hinteren Wurzeln degeneriert (wahrscheinlich durch Verdickung der Pia mater). Reinfektion: Schon im Primärstadium bildet sich eine Immunität aus, die gewissen Schutz vor erneuter Ansteckung gibt. Im Sekundärstadium kommen Reinfektionen kaum noch vor, doch besteht noch Kontagiosität. Im Tertiärstadium sind Reinfektionen ausgeschlossen. Kontagiosität besteht nicht mehr. Konnatale Syphilis: Das Infektionsrisiko für den Feten ist bei unbehandelter primärer und sekundärer Syphilis der Mutter sehr hoch, geht in der Frühlatenz stark zurück und hört in der Spätlatenz ganz auf. Die Ansteckung erfolgt erst nach dem 4. Monat, wenn sich die Plazenta entwickelt hat und die immunologische Reaktivität des Feten beginnt. Je frischer die Infektion der Mutter, desto schwerer die Erkrankung des Feten. Bei hoher treponema-
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ler Bakteriämie der Mutter im 4. Schwangerschaftsmonat, z.B. nach Infektion bei der Konzeption, kommt es in der zweiten Schwangerschaftshälfte zum Abort. Jahre später können diese Mütter jedoch gesunde Kinder gebären. Die Syphilis der Lebendgeborenen unterteilt man in eine frühe und späte Form. Frühe konnatale Syphilis: In diese Gruppe gehören: 4 Frühgeborene mit sekundärer Syphilis (Ansteckung der Mutter vor der Schwangerschaft) 4 ausgetragene Neugeborene mit fulminanter Syphilis (Ansteckung der Mutter kurz vor der Geburt) 4 gesund erscheinende Neugeborene, die 2–10 Wochen nach der Geburt an sekundärer Syphilis erkranken (Ansteckung der Mutter vor der Schwangerschaft). Symptome: Bullöse oder papulosquamöse Exantheme, vor allem an Handflächen und Fußsohlen (Pemphigus syphiliticus), Läsionen an Mund und Nase (Rhinitis syphilitica), generalisierte Lymphknotenschwellungen, im Verlauf Osteochondritis der Rippen und langen Röhrenknochen, selten Meningitis und Hydrozephalus. Die Hautläsionen sind infektiös. Späte konnatale Syphilis: Die Infektion erfolgt mit einer relativ
geringen Zahl von Treponemen, da sich die Schwangere in der Latenzphase oder im Tertiärstadium der Syphilis befindet. Läsionen treten frühestens nach dem 2. Lebensjahr auf und bleiben in 60% der Fälle ganz aus. Sie entsprechen mit einigen Abweichungen denen der tertiären Syphilis der Erwachsenen. Symptome: Hutchinson-Trias (tonnenförmige Deformation der bleibenden oberen Schneidezähne, Keratitis parenchymatosa, Innenohrschwerhörigkeit infolge Schädigung des 8. Hirnnervs), Sattelnase, Knochenveränderungen (Stirnhöcker, Säbelscheidentibia) durch hyperplastische Osteochondritis. Bei 15% der Kinder kommt es zur typischen Neurosyphilis. Kardiovaskuläre Läsionen bleiben aus. Diagnostik. Klinisch: Die Symptome des primären, sekundären und tertiären
Stadiums sind nicht luesspezifisch, aber verdächtig genug, um eine serologische Klärung zu veranlassen. Bakteriologisch: Anzüchtung der Erreger auf Nährböden nicht möglich. Direkter Treponemen-Nachweis in Nativpräparaten aus primären und sekundären Läsionen auf dem Objektträger im Dunkelfeldmikroskop. Nicht verwertbar in Abstrichen aus der Mundhöhle und im Analbereich. Erfordert erfahrene Untersucher. Negatives Ergebnis schließt Lues nicht aus. Serologisch: Spezifisch sind Tests auf Antikörper gegen Treponemen, unspezifisch Tests auf Antikörper gegen Kardiolipin, ein aus Rinderherz extrahiertes Lipidantigen. 4 TPHA-Test (T.-pallidum-Hämagglutinationstest): Antikörper gegen Treponemen agglutinieren mit T.-pallidum-Antigen beladenen Erythrozyten. Suchtest von hoher Spezifität und Sensitivität. Positiv (Titer >1:80) ab der 3.–4. Woche nach der Infektion über viele Jahre, auch nach Ausheilung. Kann im frühen Primärstadium noch negativ sein.
894
Kapitel 10 · Infektionskrankheiten
Indikationen: Klinischer Verdacht auf Syphilis, Routineuntersuchung in der Frühschwangerschaft, von Blutspendern und Blutkonserven. Positive Ergebnisse erfordern einen Bestätigungstest (7 unten).
10
4 FTA-ABS-Test (Fluoreszenz-Treponema-Antikörper-Absorptions-Test): Auf einem Objektträger fixierte Treponemen werden mit Patientenserum zusammengebracht und absorbieren daraus die spezifischen Treponemenantikörper (vom Typ IgG oder IgM). Nach Abspülen des Serums werden die Antikörper mit fluoreszeinmarkiertem Antihumanglobulin (gegen IgG oder IgM) markiert und im Fluoreszenzmikroskop sichtbar. Bestätigungstest von hoher Spezifität und Sensitivität. Positiv (reaktiv) ab der 3. bis 4. Woche nach der Infektion, oft lebenslang. Indikation: Positiver TPHA-Test, Beurteilung der Aktivität. Bei frischer, aktiver Lues sind IgM-Antikörper, bei inaktiver nur IgG-Antikörper nachweisbar. 4 VDRL-Test (Venereal-Disease-Laboratory-Test): Erfasst nichttreponemale Antikörper gegen das Lipidantigen Kardiolipin. Positiv ab der 4. bis 6. Woche nach der Infektion bzw. 3–7 Tage nach Auftreten des Primäraffekts, zu 100% im Sekundärstadium, 95% im Latenzstadium und 88–88% bei tertiärer Lues. Nach ausreichender Therapie Titerabfall um 3–4 Stufen innerhalb von 3–12 Monaten. Titer über 1:16 sind noch behandlungsbedürftig. Falsch positive Reaktionen u.a. bei Kollagenosen, Mononukleose, Hepatitis, Herpes und Masern. Jeder positive Befund bedarf der Bestätigung durch TPHAoder FTA-ABS-Test. Indikationen: Einfacher Suchtest (mit Einschränkungen), Therapiekontrolle, Beurteilung der Therapiebedürftigkeit. Liquoruntersuchung: Indiziert:
4 zur Bestätigung der Diagnose Neurosyphilis bei Patienten mit neurologischen Symptomen 4 zum Nachweis oder Ausschluss einer asymptomatischen Neurosyphilis bei unbehandelten Patienten mit unbekannter oder mehr als einjähriger Dauer der Syphilis. Nur Treponemenantikörper im Liquor, die im ZNS gebildet wurden, beweisen eine Neurosyphilis. Von passiv aus dem Serum übergetretenen Antikörpern können sie durch Vergleich der FTAABS-Titer von Serum und Liquor (bezogen auf die IgG-Konzentration) erfasst werden. Überstiegt die Relation LiquorTiter/g IgG zu Serum-Titer/g IgG den Wert 2, ist eine Neurosyphilis anzunehmen und eine entsprechende Therapie durchzuführen. Therapie. Frühsyphilis (Primär-, Sekundär- und frühes Latenzstadium):
Penicillin G Benzathin 2,4 Mill. IE i.m. (1,2 Mill. IE i.m. in jede Gesäßbacke) als Einmaldosis. Bei nachgewiesener Penicillinallergie Doxycyclin 2-mal 100 mg/Tag p.o. für 2 Wochen. Latenzstadium (oder Latenz von unsicherer Dauer), kardiovaskuläre oder benigne tertiäre Syphillis:
4 Bei normaler Lumbalpunktion: Penicillin G Benzathin 2,4 Mill. IE i.m. einmal wöchentlich für 3 Wochen. Alternativ Doxycyclin 2-mal 100 mg/Tag p.o. für 4 Wochen. 4 Bei abnormer Lumbalpunktion: wie bei Neurosyphilis. Neurosyphilis (asymptomatisch oder symptomatisch):
4 wässeriges Penicillin G 18–24 Mill. IE/Tag i.v., verteilt auf 3–4 Mill. IE alle 4 Stunden oder als Dauerinfusion, für 10– 14 Tage oder 4 wässeriges Penicillin G Prokain (2,4 Mill. IE/Tag i.m.) plus orales Probenecid (2-mal 500 mg/Tag) beides für 10–14 Tage. Bei Penicillinallergie vorher Desensibilisierung. 10.3
Infektionen durch Protozoen
Infektionen durch Protozoen Tryptanosomiasis 5 Schlafkrankheit (HAT) 5 Chagas-Krankheit (amerikanische Tryptanosomiasis) Leishmaniosen 5 Viszerale Leishmaniose (Kala Azar) 5 Kutane Leishmaniose 5 Mukokutane Leishmaniose (Espundia) Malaria Toxoplasmose Amöbiasis Gardiasis Kryptosporidiose Isosporiasis Cyclosporiasis Mikrosporidiose
10.3.1
Trypanosomiasis
Schlafkrankheit (Human African Trypanosomiasis: HAT) Erreger. Trypanosoma brucei gambiense (Zentral- und Westafrika) und Trypanosoma brucei rhodesiense (Ostafrika). Beide sind begeißelte Protozoen aus der Flagellaten-Familie und werden von den Blut saugenden Tsetse-Fliegen übertragen (. Abb. 10.19). Mit der Blutmahlzeit gelangen sie über den Darm in die Speicheldrüsen der Fliegen. Auf diesem Weg durchlaufen sie einen komplizierten Vermehrungszyklus aus dem wieder infektiöse Formen hervorgehen. Im Blut des Menschen vermehren sich die Parasiten bis sie von spezifischen Antikörpern lysiert werden. Stets entgehen jedoch einige Trypanosomen der immunologischen Zerstörung, indem sie ihre Oberflächenantigene verändern und einen neuen Vermehrungszyklus beginnen, falls keine Therapie erfolgt. Solche Zyklen können sich über Monate wiederholen. Im fortge-
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895 10.3 · Infektionen durch Protozoen
Symptome: Mehrtägige Fieberschübe, die von afebrilen Pe-
rioden abgelöst werden. Generalisierte Lymphknotenschwellungen, besonders im hinteren Halsdreieck. Hepatosplenomegalie. Kopf- und Gliederschmerzen, Tachykardie, Gewichtsverlust. Diskrete EKG-Veränderungen sind häufig, klinische Zeichen der Herzbeteiligung nur selten anzutreffen. Nach Monaten gehen Fieberperioden und Lymphknotenschwellung auch ohne Behandlung allmählich zurück. Es folgt eine asymptomatische Phase, die Monate oder sogar Jahre dauern kann. 4 Stadium III: ZNS-Invasion mit progredienter Meningoenzephalitis. Beginn Jahre nach der Infektion, Dauer bis zum letalen Ausgang nach Monaten oder wenigen Jahren. Symptome: Initial Nachlässigkeit, Gleichgültigkeit. Dann Schläfrigkeit am Tage, oft kombiniert mit nächtlicher Unruhe und Schlafstörung. Schließlich neurologische Ausfallserscheinungen (extrapyramidale Störungen, Hirnnervenlähmungen), Kopf- Nacken- und Rückenschmerzen, final Stupor und Koma.
. Abb. 10.19. Schlafkrankheit (Trypanosoma gambiense). Links im dicken Tropfen Trypanosomen (tr) mit rotem Kern und geschwungener Geißel, die an einem Ende den kleinen roten Geißelkern aufweist. Rechts Ausstrichpräparat, das die Trypanosomen etwas deutlicher zeigt: Kern (k), Kinetoplast (bl), Geißel (g), Protoplasma (pr) mit dunklen Granula (gr). (aus Löffler et al. Atlas der klinischen Hämatologie. 6. Aufl., Springer, Berlin 2004)
schrittenen Stadium der Infektion dringen die Trypanosomen auch in die interstitielle Flüssigkeit vieler Organe, vor allem des Myokards und Gehirns ein. Epidemiologie. Die afrikanische Schlafkrankheit kommt aus-
schließlich südlich der Sahara vor und zählt zu den großen Tropenkrankheiten. Haupterregerreservoir für T. b. gambiense ist der Mensch, für T. b. rhodesiense sind es Wildtiere, besonders Antilopen, mit relativer Toleranz für den Erreger. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben Epidemien der Schlafkrankheit in vielen Regionen Afrikas hunderttausende von Opfern gefordert. Gegenwärtig werden pro Jahr rund 20.000 neue Fälle gemeldet. Klinik. Westafrikanischen Schlafkrankheit (durch T. b. gambiense): Der
Verlauf ist chronisch und lässt sich in 3 Stadien gliedern. 4 Stadium I: 2–6 Wochen nach dem Insektenstich Entwicklung eines schmerzhaften, dunkelroten Knotens an der Stelle der Inokulation. Diese initiale Läsion bildet sich spontan zurück und bleibt bei Einheimischen nicht selten aus. 4 Stadium II: Nach einigen Monaten lymphogene und hämatogene Dissemination der Trypanosomen mit starker Parasitämie.
Klinik der ostafrikanischen Schlafkrankheit (durch T. b. rhodesiense): Die Symptome sind ähnlich wie bei der westafrikanischen
Schlafkrankheit. Der Verlauf ist jedoch akuter, ohne scharfe Abgrenzung der drei Stadien. Viel häufiger und schwerer sind kardiale Manifestationen, denen die Patienten oft erliegen, bevor die ZNSLäsionen beginnen. Es kommen hämolytische Anämien und Blutungen durch disseminierte intravaskuläre Gerinnung vor. Bei Touristen treten die Symptome der Allgemeininfektion (Fieber, Kopfschmerz, Unwohlsein) schon gegen Ende ihres Aufenthaltes oder kurz nach der Heimkehr auf. Exitus innerhalb von 9 Monaten. Diagnostik. Klinisch: Indizien sind Aufenthalt im Endemiegebieten, Insekten-
biss, Primäraffekt an der Haut, Lymphknotenschwellungen im hinteren Halsdreieck und Tagesschlaf. Laboruntersuchung: In der Fieberphase mikroskopischer Erre-
gernachweis im Blutausstrich oder dicken Tropfen mit Giemsafärbung (. Abb. 10.19). Auch im Liquor, im Knochenmark und in Lymphknotenpunktaten sind Trypanosomen zu finden. Im Stadium III haben 50% der Patienten Trypanosomen im Liquor. Da Trypanosomen auf B-Lymphozyten als unspezifisches Mitogen wirken, ist die IgM-Fraktion im Serum stark erhöht. Serologische Diagnose mittels ELISA oder KBR. Therapie. Westafrikanische Schlafkrankheit: Im Stadium I und II mit Su-
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ramin (Germanin ) oder Pentamidin (Pentacarinat ). Im Stadium III mit Eflornithin (Ornidyl ).
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Ostafrikanische Schlafkrankheit: Im Stadium I und II mit Sura-
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min. Im Stadium III mit Melarsoprol (Arsobal ), das zur ArsenEnzephalopathie führen kann.
896
Kapitel 10 · Infektionskrankheiten
Prognose. In unbehandelten Fällen infaust. In den Stadien I und II bei adäquater Therapie fast immer prompte Ausheilung. Im Stadium III Heilungschancen bis 90%, doch bleiben in manchen Fällen neurologische Defizite zurück. Die ostafrikanische Schlafkrankheit hat eine schlechtere Prognose als die westafrikanische. Reinfektionen kommen vor, da die Infektion keine Immunität hinterlässt. Es gibt keine Vakzine.
10
Chagas-Krankheit (Amerikanische Trypanosomiasis) Erreger. Trypanosoma cruzi, ein Flagellat, die durch den Kot von Raubwanzen (Triatoma festans u.a.) übertragen wird. Bei der Blutmahlzeit von infizierten Wirten (Mensch und viele Säugetierarten) gelangen die Parasiten in den Darm der Wanzen und vermehren sich dort. Auf der Haut des Menschen lagern die Wanzen während des Blutsaugens infektiösen Kot ab, aus dem die motilen Trypanosomen durch die Stichstelle, kleine Kratzwunden oder die intakte Schleimhaut (Konjunktiven) in den Körper eindringen. Sie werden von Makrophagen und Gewebezellen, vor allem von Muskelzellen (Herz, Skelett- und glatte Muskeln) aufgenommen und können sich nur intrazellulär und nach Umwandlung in geißellose Formen vermehren. Die bis zu 500 Parasiten enthaltenden Makrophagen werden als Pseudozysten bezeichnet. Nach etwa 5 Tagen nehmen die Trypanosomen wieder die begeißelte Form an, schwärmen ins Blut aus und befallen weitere Zellen. Anders als bei den Trypanosomen der Schlafkrankheit ändert sich ihre Antigenität nicht. Der akuten lokalen und Allgemeininfektion folgt ein Latenzstadium, das Jahre, Jahrzehnte oder lebenslang dauert. Nur in 20–40% der Fälle folgt ein chronisches Stadium mit kardialen (30%), intestinalen (6%) oder neurologischen (3%) Manifestationen. An deren Pathogenese könnten Autoimmunreaktionen beteiligt sein, da die Läsionen in diesem Stadium keine Erreger mehr enthalten. Epidemiologie. Vorkommen im Verbreitungsgebiet der Raub-
wanzen: Mittel- und Südamerika, insbesondere in den Slums und auf dem Lande. Reservoire für T. cruzi sind Haustiere, Wildtiere und der Mensch. Die Zahl der infizierten Menschen wird auf 18 Millionen geschätzt, die Zahl der jährlichen Todesfälle auf 45.000. Die Übertragung kann auch diaplazentar und durch Bluttransfusionen erfolgen. In letzter Zeit haben Blutspender südamerikanischer Herkunft in den USA einige Krankheitsfälle verursacht. Klinik. Die Infektion erfolgt meistens schon im Kindesalter. Im Krankheitsverlauf sind 3 Phasen zu unterscheiden. 4 Akute Phase: Inkubationszeit 7–30 Tage. Lokale entzündliche Reaktion an der Haut mit regionaler Lymphknotenschwellung, nach Schmierinfektion auch Konjunktivitis mit Lidödem. Fast gleichzeitig Fieber, Ödeme, generalisierte Lymphknotenschwellungen, Hepato- und Splenomegalie. Selten floride Myokarditis, noch seltener Meningoenzephalitis, beide mit hoher Mortalitätsrate. In der Regel spontane
Rückbildung der Symptome in einigen Wochen. Bei etwa 50% der Infizierten geht die akute Phase unbemerkt vorüber. 4 Latente Phase: Fortbestehen der Infektion, aber ohne Krankheitszeichen. Nachweisbar sind Antikörper, in 20–60% der Fälle auch Trepanosomen im Blut (per Xenodiagnose oder PCR). Bei der Mehrzahl der Patienten bleibt diese Phase ein Dauerzustand. 4 Chronische Phase: Spätmanifestationen der Infektion nach 10–20 Jahren, die bei 20–40% der Patienten auftreten: 5 Chronische Kardiomyopathie (30%) durch eine Panmyokarditis mit biventrikulärer Herzinsuffizienz, Reizleitungsstörungen und finalem Herzversagen. 5 Megaösophagus und Megakolon (6%) durch Läsion und Untergang intramuraler autonomer Ganglienzellen. Komplikationen: Refluxsymptome, Dysphagie Aspirationspneumonie, Obstipation, Volvolus. 5 Periphere Neuropathie (3%) mit Ausfall der Sehnenreflexe. Diagnostik. In der akuten Phase durch Erregernachweis, in der
latenten und chronischen Phase durch den Nachweis von Antikörpern im Serum. Erregernachweis: Frühestens 7–12 Tage nach der Infektion fin-
det man Trypanosomen in Giemsa-gefärbten Blutausstrichen oder dicken Tropfen. Manchmal ist erst die Blutkultur positiv. Im Latenzstadium und in der chronischen Phase gelingt der Erregernachweis häufig nicht, am ehesten durch den Xenotest, bei dem man trypanosomenfreie Raubwanzen zum Blutsaugen ansetzt und später ihren Darminhalt auf Erreger untersucht. Neuerdings wird die PCR zum Nachweis von Trypanosomen-DNA eingesetzt. Antikörpernachweis: Zur Anwendung gelangen Komplementbindungsreaktion, Immunfluoreszenztest und ELISA. Ein positives Ergebnis sollte mit zwei anderen Tests verifiziert werden, da falsch positive Resultate bei Infektionen mit anderen Parasiten und Autoimmunkrankheiten vorkommen. Therapie. Nur in der akuten Phase erfolgversprechend. Deshalb ist die Frühdiagnose von größter Bedeutung. Heilungsraten bis zu 80% wurden mit Nifurtimox und Benznidazol erzielt. Die Manifestationen der chronischen Phase sprechen auf Antibiotika nicht mehr an. Sie können nur symptomatisch behandelt werden. Prophylaxe. Großflächige Vektorbekämpfung mit Insektiziden, Gebrauch von Moskitonetzen, Verbesserung der Wohnverhältnisse, serologisches Screening von Blut- und Organspendern.
897 10.3 · Infektionen durch Protozoen
10.3.2
Leishmaniosen
Viszerale Leishmaniose (Kala Azar) Erreger. Leishmania-donovani-Komplex (L. donovani, L. infantum, L. chagasi), obligat intrazelluläre Protozoen aus der Flagellatenfamilie, die von weiblichen Sandmücken (Phlebotomen) übertragen werden (. Abb. 10.20). Von infizierten Wirten (Mensch, Hund, kleine Nager) nehmen die Mücken bei der Blutmahlzeit geißellose, in Monozyten eingeschlossene Formen auf, aus denen im Mückendarm begeißelte Parasiten hervorgehen. Diese werden nach dem Mückenstich in die Hautwunde regurgitiert und hier sofort von Makrophagen aufgenommen. In den Phagozyten gehen die begeißelten in unbegeißelte Formen über und vermehren sich durch Zweiteilung bis die Zelle platzt. Nach erneuter Phagozytose wiederholt sich der intrazelluläre Vermehrungsprozess. Von den infizierten Makrophagen werden die Parasiten dann in die regionalen Lymphknoten und hämatogen in das gesamte Monozyten-Makrophagen-System verschleppt. Die Immunantwort des Organismus erfolgt ähnlich wie bei der Tuberkulose durch die Aktivierung von T-Lymphozyten und Granulombildung. In der Mehrzahl der Fälle werden die Leishmanien dadurch schon frühzeitig eliminiert, so dass die Infektion subklinisch verläuft. Bei herabgesetzter zellgebundener Immunabwehr kommt es dagegen zu einer schweren Erkrankung (KalaAzar-Syndrom) mit Fieber, Schwellung von Leber, Milz und Lymphknoten sowie einer Panzytopenie durch Hypersplenismus und Knochenmarkbefall.
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der viszeralen Leishmaniose-Fälle wird nicht angegeben. Selten wurden Übertragungen durch Bluttransfusionen und Geschlechtsverkehr beobachtet. Kinder und junge Erwachsene sind am empfänglichsten. Klinik. Inkubationszeit: Wochen oder Monate, bis zu einem Jahr. Die
Läsion an der Stichstelle bleibt gewöhnlich unbemerkt. Symptome: Akuter Beginn mit Fieber (2 Maxima in 24 Stunden), Husten, Pneumonie und Durchfällen, oft auch Nasenbluten. Schwellung von Leber, Milz und vor allem der inguinalen Lymphknoten. Das Hautkolorit kann erdgrau werden (daher der Name Kala Azar = schwarzes Fieber). In Endemiegebieten auch schleichender Beginn mit zunehmender Hinfälligkeit und Schmerzen im linken Oberbauch durch großen Milztumor. Mortalität in unbehandelten Fällen 80–90% innerhalb von 1–2 Jahren. Bei manchen Überlebenden entwickeln sich nach 1–2 Jahren knotige Hautläsionen mit hohem Parasitengehalt. Diagnostik. Erregernachweis: In Giemsa-gefärbten Ausstrichen des Kno-
chenmark- oder Milzpunktats. Erregerkultur auf Spezialnährböden und DNA-Nachweis mittels PCR werden selten benötigt. Serologisch: Durch Antikörpernachweis (IF oder ELISA). Der Kutantest auf zellvermittelte Immunität (analog der Tuberkulinprobe) wird erst in der Rekonvaleszenz positiv.
Epidemiologie. Vorkommen in 88 Ländern subtropischer und
tropischer Gebiete außer Australien: Indien, China, Südrussland, Nordafrika, Mittelmeergebiet, Vorderer Orient, Süd- und Mittelamerika. Zusammengerechnet sind mit allen LeishmanienSpezies weltweit 12 Millionen Menschen infiziert. Die WHO rechnet mit 2 Millionen Neuerkrankungen pro Jahr. Der Anteil
Laborbefunde: Panzytopenie, mit der Milzgröße und Krankheitsdauer zunehmend. Häufig Hämoglobinwerte von 8 g/dl und Leukopenien mit 2400/mm3 und relativer Lymphozytose. Thrombopenien meistens moderat. Ausgeprägte polyklonale Hypergammaglobulinämie. Therapie. Mittel der Wahl ist Pentamidin i.v. oder i.m. für 28 Tage. Alternativ Natriumstiboglukonat oder Amphotericin B. Gute Heilungschancen.
Kutane Leishmaniose Erreger. In der Alten Welt: Leishmania tropica, Leishmania major, Leish-
mania aethiopica.
. Abb. 10.20. Viszerale Leishmaniose. Knochenmarkausstrich mit freiliegenden Leishmanien aus einem Makrophagen, der beim Ausstrich zerrissen wurde (aus Löffler et al. Atlas der klinischen Hämatologie. 6. Aufl., Springer, Berlin 2004)
In der Neuen Welt: Leishmania-mexicana-Komplex (L. mexicana, L. amazonensis). Alle sind obligat intrazelluläre Protozoen aus der Flagellatenfamilie, die in gleicher Weise wie L. donovani von weiblichen Sandmücken (Phlebotomen) übertragen werden und sich in Makrophagen nach der Transformation in geißellose Formen vermehren. Die klinischen Manifestationen bleiben auf Haut und regionale Lymphknoten beschränkt. Sie heilen unter Narbenbildung spontan ab.
898
Kapitel 10 · Infektionskrankheiten
Epidemiologie. Weite Verbreitung in subtropischen und tropi-
schen Regionen, gebunden an das Vorkommen von Phlebotomen. Erregerreservoire: Mensch, Hund, Nagetiere. An der französischen Mittelmeerküste werden jährlich annähernd 100 neue Fälle beobachtet. Hunde seien dort bis zu 50% verseucht. In Europa sind Importfälle keine Seltenheit.
L. aethiopica und L.-mexicana-Komplex können bei Immunschwäche zur diffusen kutanen Leishmaniose mit chronischen nodulären Hautläsionen führen, die viele Parasiten, aber wenige Lymphozyten enthalten. Diagnostik. Erregernachweis in Abstrichen vom Rande des Ge-
Jahre.
schwürs oder Lymphknotenaspiraten entweder mikroskopisch, nach Giemsa-Färbung oder Anzüchtung auf Nährböden. Serologische Tests sind wegen gewöhnlich niedriger Antikörpertiter unergiebig. Dagegen wird der Leishmania-Hauttest positiv.
Symptome: An der Stichstelle einzeln (L. tropica) oder multipel
Therapie. Das Mittel der Wahl scheint Itraconazol (600 mg/Tag
(L. major) auftretende juckende Papel mit umgebendem Erythem, die an Größe zunimmt, zentral ulzeriert und sich mit einer Kruste bedeckt (. Abb. 10.21). Der Randwall ist erhaben, oft hyperpigmentiert und scharf gegen die Umgebung abgegrenzt. Manchmal schwellen die regionalen Lymphknoten an. Die Abheilung erfolgt mit einer gefälteten Narbe nach einem weniger (L. major) oder länger (L. tropica) als einem Jahr dauernden Zeitraum. Die Ulzera sind schmerzlos und führen nicht zu Allgemeinsymptomen.
p.o. für 28 Tage) zu sein.
Klinik. Inkubationszeit: Wenige Wochen bis mehrere Monate, selten
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Mukokutane Leishmaniose (Espundia) Erreger. Leishmanien des Subgenus Viannia (L. braziliensis,
L. guyanensis, L. panamensis), die nur in der Neuen Welt vorkommen und von Sandmücken übertragen werden. Epidemiologie. Die mukokutane Variante ist eine Zoonose unter kleinen Nagetieren in den Tropenwäldern Südamerikas, hauptsächlich des Amazonasgebietes. Übertragungen auf den Menschen haben häufig bei Rodungen in den enzootischen Arealen stattgefunden. Klinik. Inkubationszeit: 2–3 Monate. Symptome: Beginn mit einem Ulkus, wie bei der kutanen Leishmaniose, das nach 6–15 Monaten vernarbt. Innerhalb eines Jahres oder nach Jahren metastasiert die Infektion in das nasopharyngeale Gewebe. Es entstehen Geschwüre an der Zungen-, Wangen- und Nasenschleimhaut, die zu mutilierenden Veränderungen an Gaumen und Nase führen, auch zu bedrohlichen Sekundärinfektionen. Diagnostik. Exposition im Endemiegebiet. Erregernachweis in
Abstrichen von den Läsionen (oft spärlich). Positiver Leishmanien-Kutan-Test. Therapie. Amphotericin B oder fünfwertige Antimonpräparate.
10.3.3
Malaria
Erreger. Arten: Vier von weiblichen Anophelesmücken übertragene Spe-
. Abb. 10.21. Ausgedehnte Ulzeration bei kutaner Leishmaniose der Alten Welt (aus Braun-Falco et al. Dermatologie und Venerologie. 5. Aufl., Springer, Berlin 2005)
zies der Gattung Plasmodien, die Leberzellen und Erythrozyten des Menschen befallen: 4 Plasmodium falciparum: Malaria tropica 4 Plasmodium vivax: Malaria tertiana 4 Plasmodium ovale: Leichte Form der Malaria tertiana 4 Plasmodium malariae: Malaria quartana.
899 10.3 · Infektionen durch Protozoen
Entwicklung und Vermehrung der Plasmodien in der Mücke:
Aufnahme von Gametozyten aus dem Blut infizierter Menschen → Verschmelzung von (männlichen) Mikrogameten mit (weiblichen) Makrogameten im Mückendarm zur diploiden Zygote (Ookinet), die in der Darmwand ausreift und in eine Oozyste mit mehreren tausend durch Reduktionsteilung haploid gewordene Sporozoiten übergeht → Zerfall der Oozyste, Ansammlung der infektionstüchtigen Sporozoiten im Mückenspeichel. Entwicklung und Vermehrung der Plasmodien im Menschen: 4 Intrahepatisch: Initial schnelles Eindringen der injizierten Sporozoiten in die Hepatozyten (ein Exemplar pro Zelle) → intrazelluläre Entwicklung jedes Sporozoiten zum Gewebeschizonten, der durch haploide Mitose (Schizogony) bis zu 40.000 Merozoiten liefert → Ruptur der Schizonten und Freisetzung der Merozoiten (nach 6–15 Tagen) → Befall weiterer Hepatozyten (Wiederholung des Vermehrungszyklus) und der Erythrozyten. Bei Infektionen mit P. vivax und P. ovale entstehen aus einigen Sporozoiten statt Gewebeschizonten kleine einkernige Hypnozoiten, die in den Hepatozyten Monate bis Jahre persistieren und zu Malariarückfällen führen können. 4 Intraerythrozytär: Rezeptorvermitteltes Eindringen der Merozoiten in die Erythrozyten (ein Exemplar pro Zelle) → Entwicklung jedes Merozoiten zum ringförmigen Trophozyten der unter Konsum des Hämoglobins zum vielkernigen Schizonten heranwächst → Zerfall des Schizonten je nach Plasmodiumart in 6–36 Merozoiten, die bei der Zellruptur freigesetzt werden, in andere Erythrozyten eindringen und einen neuen Vermehrungszyklus beginnen. Nach kurzer Initialphase verlaufen die Schizogoniezyklen in regelmäßigen Zeitabständen. Bei P. vivax, P. ovale und P. falciparum dauern sie 48, bei P. malariae 72 Stunden. Zur Synchronisierung der Zyklen bei unbehandelter Malaria führen die Fieberschübe, weil Merozoiten bei Temperaturen >40 °C zugrunde gehen. P. vivax und P. ovale befallen überwiegend jugendliche Erythrozyten. P. malariae bevorzugt gealterte Erythrozyten, während P. falciparum in die Erythrozyten jeden Alters eindringt. Nach einer oder mehreren Schizogoniegenerationen differenzieren sich einige Plasmodien zu einzelligen Geschlechtsformen (Mikro- und Makrogametozyten), die innerhalb weniger Tage absterben, wenn sie nicht von blutsaugenden Anophelesweibchen aufgenommen werden. Pathogenetische Effekte der Plasmodien:
4 Anämie: Durch intravaskuläre Hämolyse und Sequestration infizierter Erythrozyten in der Milz. Nach Vergrößerung kann die Milz auch normale Erythrozyten, Leukozyten und Thrombozyten sequestrieren. Mit P. falciparum infizierte Erythrozyten werden zusätzlich durch Adhäsion an das Gefäßendothel und durch Rosettenbildung, die auch normale Erythrozyten einschließt, eliminiert. 4 Fieber und Allgemeinsymptome: Induziert von Zytokinen (TNF-α und Interleukinen), die von Makrophagen nach Ak-
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tivierung durch Hämolyseprodukte (Erythrozytentrümmer, Restkörper der Schizonten) freigesetzt werden. 4 Mikrozirkulationsstörungen: Nur durch P. falciparum, resultierend aus Membranveränderungen an den Erythrozyten, die zur Adhäsion am Endothel und zur Rosettenbildung führen. Die Folgen sind ischämische Organschädigungen. Epidemiologie. Endemisches Vorkommen in 90 Ländern von
Afrika, Asien, Ozeanien, Zentral- und Südamerika und in der Karibik. Etwa die Hälfte der Weltbevölkerung lebt unter dem Infektionsrisiko. Die WHO rechnet pro Jahr mit 300–500 Millionen Neuinfektionen und 1,5–2,7 Millionen Todesfällen. Eine beachtliche Zahl von Malariainfektionen wird von Besuchern oder Heimkehrern aus den Tropen in nichttropische Länder eingeschleppt. In den USA sind es rund 3000, in Deutschland annähernd 1000 pro Jahr. Die mit Abstand häufigsten Malariaerreger sind P. falciparum und P. vivax. In hohem Grade lebensbedrohlich ist nur die Infektion mit P. falciparum. Erregerreservoir sind Malariakranke und Patienten mit asymptomatischer Parasitämie. Die Übertragung kann auch durch Bluttransfusionen, bei Drogenabhängigen durch kontaminierte Kanülen und Spritzen erfolgen. Klinik. Inkubationszeit: Von der Inokulation bis zu den ersten Sympto-
men 10–16 Tage, bei P. malariae 3–7 Wochen. Nach inadäquater Chemoprophylaxe einige Wochen (P. falciparum) oder Monate (P. vivax, P. ovale). Symptome:
4 Prodromi: Mattigkeit, Kopf-, Glieder- und Muskelschmerzen, Inappetenz, manchmal Übelkeit. Bei M. tropica ausgeprägter als bei M. tertiana und quartana. Dauer einige Tage. 4 Initialfieber: Bedingt durch noch asynchrone Erythrozytenruptur. Setzt ohne Schüttelfrost ein, erreicht oft nur 38,5 °C, oft von Leibschmerzen, Erbrechen und Durchfällen begleitet. Dauer etwa 1 Woche. 4 Rhythmusfieber: Fieberanfälle mit Schüttelfrost durch synchronisierte Erythrozytenruptur: Temperaturen um 40–41 °C für 3–8 Std. (Hitzestadium), begleitet von Unruhe, Tachykardie, starkem Kopfschmerz, Übelkeit und Erbrechen. Danach Fieberabfall innerhalb 2–3 Std. mit starkem Schweißausbruch (Schweißstadium). Die Milz ist geschwollen, die Parasitämie ausgeprägt. Die Fieberattacken treten bei der Malaria tertiana im Abstand von 48 Stunden (am Tag 1 und Tag 3), bei der Malaria quartana im Abstand von 72 Stunden (am Tag 1 und Tag 4) auf. Die Tropica-Plasmodien vermehren sich nicht streng synchron. Deshalb erfolgen Anstieg und Abfall der Temperatur langsamer, meist ohne Schüttelfrost und die Schübe in variablen Abständen (täglich, manchmal zweigipfelig, nach 36–48 Stunden, auch als Kontinua von 20–24 Stunden). Durch persistierende Hypnozoiten von P. vivax und P. ovale in der Leber kommen bei Malaria tertiana nach Monaten oder Jahren Spätrezidive vor. Bei der Ma-
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Kapitel 10 · Infektionskrankheiten
laria tropica treten nur Frührezidive (Intervall einige Wochen) durch persistierende Blutschizonten auf.
5 renale Form: akutes Nierenversagen 5 Multiorganversagen: durch Ischämie bei disseminierter
intravaskulärer Gerinnung. Komplikationen: 4 P. vivax: Höhergradige Anämie bei chronischer nicht diag-
nostizierter Infektion. Selten Ruptur großer Milztumoren. Verlauf gutartig mit spontanem Sistieren der Fieberschübe nach 8–10 Anfällen. Bei Infektion mit P. ovale nur 5–8 Fieberschübe. Todesfälle sehr selten. 4 P. malariae: Progrediente Immunkomplex-Nephritis bei Kindern mit chronischer Infektion. Verlauf gutartig. 4 P. falciparum: Hohe Morbidität und Mortalität infolge massiver Parasitämie mit Kapillarverstopfung durch Adhärenz und Rosettenbildung befallener Erythrozyten (Anteil bis 30%). Schon initial stark reduzierter Allgemeinzustand, häufig Bronchitis, auch Pneumonie. Schnell zunehmende, meist schwere Anämie mit Hepatosplenomegalie und Ikterus, auch Thrombopenie und Blutungen infolge disseminierter intravaskulärer Gerinnung. Besondere Varianten: 5 zerebrale Form: Delir, Krämpfe, Paresen, Koma 5 kardiovaskuläre Form: Myokarditis 5 gatrointestinale Form: Erbrechen, choleraähnliche oder blutig-schleimige Durchfälle
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Der Exitus erfolgt oft innerhalb weniger Tage, gewöhnlich im irreversiblen Schock. Bei den Überlebenden klingt die Infektion nach 2–3 Tagen spontan ab. Immunität: Bei ständiger Exposition verhindern zelluläre und humorale Abwehrreaktionen das Auftreten einer massiven Parasitämie, aber nicht die Infektion. Asymptomatische Parasitämien kommen in holo- oder hyperendemischen Gebieten bei Erwachsenen und älteren Kindern häufig vor. Säuglinge sind dort durch passive Übertragung mütterlicher Antikörper einige Monate geschützt. Die Primärinfektion verläuft zwischen dem 1. und 10. Lebensjahr gewöhnlich schwer. Diagnostik. Bei Patienten mit unklarem Fieber, die sich in Mala-
riagebieten aufgehalten haben, muss – auch bei erfolgter Chemoprophylaxe – an Malaria gedacht werden, insbesondere an M. tropica mit ihrem oft atypischen Fieberrhythmus. Nachweis und Differenzierung der Plasmodien im Giemsa-gefärbten Blutausstrich oder dicken Tropfen (Entnahme vor dem Fieberanfall) (. Abb. 10.22):
a
c
e
b
d
f
. Abb. 10.22a–f. Malariaparasiten im Ausstrich (Giemsa). a M. tertiana: halberwachsene Schizonten (h), b M. Tertiana: Schizont (t), in Teilung mit Merozoiten (t1me), weiblicher Makrogametozyt (w), männlicher Mikrogametozyt (m), Erythrozyten vergrößert, c M. quartana: Schizont in Teilung (t,me), Erythrozytengröße normal, d M. quartane: Makroga-
metozyt (w), Mikrogametozyt (m), e M. tropica: Schizontenbildung beginnend (t1, vollendet (t2), f M. Tropica: Makrogamet (w) und Mikrogamet (m), (aus Löffler et al. Atlas der klinischen Hämatologie. 6. Aufl., Springer, Berlin 2004)
901 10.3 · Infektionen durch Protozoen
4 P. falciparum: Im Blut gewöhnlich keine Schizonten (werden sequestriert), aber reichlich frühe Trophozoiten (Ringformen), oft mit Doppelkernen, nicht selten 2 in einem Erythrozyten; daneben halbmondförmige Gametozyten, vor allem im dicken Tropfen zu erfassen. Ergänzt durch StreifenSchnelltest mit einem Blutstropfen auf histidinreiches Protein 2 von P. falciparum. 4 P. vivax: Vergrößerung der befallenen Erythrozyten, oft mit roter Schüffner-Tüpfelung. Ringformen mit großer Vakuole oder große zerklüftete Gebilde mit diffus verteiltem Pigment, im reifen Schizonten (mit 12–24 Merozoiten) zentral oder peripher. Gametozyten rundlich, mit kleinem Kern und diffusem Pigment. 4 P. ovale: Vergrößerung der befallenen Erythrozyten, Erythrozytenform oft oval mit ausgefransten Rändern und starker Schüffner-Tüpfelung Schizonten rundlich mit 8 Merozoiten. 4 P. malariae: Befallene Erythrozyten normal groß oder kleiner. Trophozoiten mit breitem Plasmasaum, in Bandformen übergehend. Gametozyten rund, kleiner als bei P. vivax.
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Prophylaxe. Mückenabwehr: Kleidung mit langen Ärmeln und Hosen. Repel-
lents auf Haut und Kleider. Moskitonetze und Insektizide in Schlafräumen. Die Stechmücken fliegen vor allem in der Dämmerung und nachts. Chemoprophylaxe: Da es kein Mittel gibt, das Sporozoiten abtötet, kann nicht die Infektion, sondern nur die Entwicklung einer symptomatischen Malaria durch die asexuellen Erythrozytenformen verhindert werden. Auf der Karte in . Abb. 10.23 sind die aktuellen Empfehlungen zur Chemoprophylaxe der Malaria angegeben. Es fällt auf, dass diese Maßnahme für mehrere Regionen nicht mehr empfohlen wird. Dafür werden Medikamente für eine Notfalltherapie angegeben. Zur Prophylaxe kommen folgende Medikamente zum Einsatz: 4 Mefloquin (Lariam ): 250 mg (1 Tbl.) pro Woche. 1–3 Wochen vor bis 4 Wochen nach Aufenthalt. 4 Atovaquon/Proguanil (Malarone ): 1 Tabl. f. Erw. (250/ 100 mg), f. Kd.