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German Pages [185] Year 2018
Tillmann Nöldeke
Inklusion: Ganz oder gar nicht Wie wir das gemeinsame Lernen retten können
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Tillmann Nöldeke
Inklusion: Ganz oder gar nicht Wie wir das gemeinsame Lernen retten können
Vandenhoeck & Ruprecht
Für Kevin und Joel
Mit 13 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-70248-8 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: Untitled design © azat1976 – Fotolia © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1 Einleitung oder: Von der Verheißung zum leeren Versprechen? . . . . . . . . . . 10 Wahrheiten über Inklusion, die weh tun . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2 Viele Lehrer sind heillos überfordert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 3 Das gemeinsame Lernen ist haarsträubend unterfinanziert 27 4 Dass das Lernniveau absinkt, ist eine reale Gefahr . . . . . . . 34 5 Es ist schwer, Kinder mit Handicap in der Regelschule gut zu fördern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 6 Förderkinder werden in der Regelklasse leicht zu Außenseitern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 7 Im gemeinsamen Unterricht fehlt oft das Gemeinsame . . . 57 8 Ein paar Förderkinder machen noch keine inklusive Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 9 Immer mehr Kinder mit Schulproblemen landen in der Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 10 Gemeinsames Lernen in einer ausschließenden Gesellschaft klappt nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 11 Für viele Kinder bleibt die Förderschule immer noch die bessere Alternative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 12 Inklusion light ist gescheitert – und zwar mit Ansage . . . . . 88 Kein Heil, kein Untergang. Zeitgemäße Pädagogik . . . . . . . . . 13 Ganz einfach, viel zu tun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Glanz und Kleister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Himmel und Hölle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Etiketten und Schwindel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Vordenker, Pioniere, Gewurstel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Leuchten die Leuchtturmschulen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Nachrichten über gemeinsames Lernen, die Mut machen 19 Eine Lobby für echte Inklusion macht gute Schule! . . . . . . . 20 Schulen wandeln sich – sie brauchen nur die richtigen Anreize! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Ein modernes Bildungssystem können wir uns leisten! . . .
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Anhang: Was uns die Zahlen sagen – und was nicht . . . . . . . . 161 I. Die Förderkinder in Regelschulen sind nicht erfunden . . . 162 II. Im gemeinsamen Lernen fehlen ausgerechnet die Kinder mit klar erkennbarem Handicap . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 III. Bei der Inklusionsquote sieht Deutschland im internationalen Vergleich ganz schlecht aus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 IV. Gemeinsames Lernen findet am Gymnasium bislang kaum statt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 V. Inklusion macht weder schlau noch dumm . . . . . . . . . . . . . 174 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
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Inhalt
Vorwort
Neulich an einem ganz normalen Gymnasium in einem Bundesland »auf dem Weg zur Inklusion«. Ein Junge mit Förderbedarf rastet im Unterricht völlig aus, schlägt um sich, läuft schließlich schreiend aus dem Klassenzimmer. Schulbegleiterin, Lehrer, später auch Mitschüler1 suchen ihn erstmal vergeblich. Später dann taucht er wieder auf, immer noch außer sich, nur mühsam kann er sich etwas beruhigen. Wenige Tage später empfiehlt die Schulleitung, künftig in jedem Klassenraum drei rote Karten bereitzuhalten. Sobald ein Kind sich selbst oder andere durch sein Verhalten akut gefährdet, so der Ratschlag, holen Mitschüler drei Lehrer aus anderen Klassenzimmern herbei. Was die vier Lehrkräfte dann allerdings machen sollen, ist nicht überliefert. Als Vater eines Jungen mit Verhaltensschwierigkeiten habe ich da jedoch kein gutes Gefühl. Im Gegenteil. Für mich klingt das ganze Setting weniger nach Inklusion als nach Anstalt. Nun ist es derzeit ziemlich in Mode, »die Inklusion« zu kritisieren oder für Mängel in deutschen Schulen verantwortlich zu machen. Selbst die Kultusministerkonferenz macht da jetzt mit: Nachdem der jüngste umfangreiche Test am Ende der Grundschulzeit ergab, dass viele Kinder heute schlechter in Deutsch und Mathe sind als noch vor fünf Jahren (Stanat u. a. 2017), machte sie die »zunehmende Heterogenität« an den Schulen verantwortlich und nannte in diesem Zusammenhang die wachsende Anzahl von Kindern aus Einwandererfamilien sowie die Inklusion (KMK 2017). Macht gemeinsames Lernen also die Schulen schlechter und die Kinder dümmer? Wohl kaum. In Baden-Württemberg, wo die Schulleistungen am stärksten absackten, besuchen heute noch praktisch genauso viele Kinder eine Förderschule wie 2009, als die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft trat. Hamburg, dessen Grundschulen sich in diesem Zeitraum 1
Aus Gründen der Lesbarkeit wird meist nur ein Genus verwendet. Vorwort
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stark inklusiv entwickelten, widersetzte sich dagegen dem Bundestrend und erreichte trotz unbestritten stark heterogener Schülerschaft wieder (knapp) durchschnittliches Niveau. In anderen Bundesländern dagegen scheint sich die Gleichung »mehr Inklusion = weniger Schulleistung« eher zu bestätigen (siehe Anhang in diesem Buch). Und dann ist da noch Schleswig-Holstein: Dort lernen nur noch 0,6 Prozent der Viertklässler in Förderschulen. Die Leistungen in Deutsch und Mathe blieben jedoch stabil (leicht) überdurchschnittlich. Wie machen das die Norddeutschen bloß? Liegt es vielleicht an der frischen Brise? Ein klarer Kopf jedenfalls könnte bei dem Thema nützlich sein. Bei der Recherche zu diesem Buch begegnete mir vieles, das offensichtlich schöngefärbt, vieles aber auch, das mutwillig hässlich gemalt wurde – selbst in wissenschaftlicher Literatur, und nicht selten bis über die Grenze zum Fake hinaus. Das Problem dabei ist, dass sich Inklusionsfans wie auch Skeptiker durchaus berechtigt gegenseitig einen ideologisch verengten Blick vorwerfen und so aneinander vorbeireden. Die einen halten den Hinweis auf Probleme nur für ein Mittel der Gegner, um das ganze Projekt zu diskreditieren. Die anderen wollen einfach nicht begreifen, dass es nicht besonders radikal oder abseitig ist, auch für behinderte und benachteiligte Menschen die Menschenrechte einzufordern. Auch ich beschreibe in diesem Buch zunächst die Schwierigkeiten mit dem gemeinsamen Lernen. Warum quäle ich mich und Sie damit, wenn ich doch »für die Inklusion« bin? Das liegt schlicht daran, dass sich nur so erklären lässt, woran die in vielen Bundesländern fix verordnete »Inklusion light« eigentlich krankt. Es geht mir nicht darum, Zweifel zu säen am Sinn des Projekts selbst, sondern um eine ehrliche Aufgabenbeschreibung. Dieses Buch liefert die Fakten zur Krise der schulischen Inklusion. Es analysiert die Hintergründe und zeigt Lösungswege auf. Im Gegensatz zu anderen kritischen Veröffentlichungen lautet meine Prämisse nicht: »Wieder mal eine seltsame Reformidee, die unseren geliebten Status quo bedroht« (vgl. z. B. Felten 2017), sondern ich nehme das Anliegen der Inklusion ernst. Entsprechend ist auch meine Schlussfolgerung nicht: »Ein paar Zugeständnisse, aber so wenig Veränderung wie möglich.« Ausgehend von meinen eige8
Vorwort
nen Erfahrungen als Lehrer an einer integrativen Schule sowie den Erkenntnissen empirischer Forschung gehe ich vielmehr der Frage nach, welche Änderungen nötig sind, um das große Versprechen Inklusion einlösen zu können. Die wissenschaftlichen Untersuchungen decken sich leider mit den Erfahrungen aus der Praxis: Die Herausforderung wurde schlicht völlig unterschätzt. Nur, wenn wir uns das eingestehen, können wir auch Antworten finden auf die Krise, die sich in vielen Klassenzimmern ganz real abspielt. Wir müssen den Berg und seine Tücken kennen, wenn wir es wagen wollen, ihn zu besteigen. Köln, im Oktober 2017
Tillmann Nöldeke
Vorwort
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1 Einleitung oder: Von der Verheißung zum leeren Versprechen?
Gegenwind für ein Reformprojekt: Erst verbreitet sich das böse Wort von der »Inklusionslüge« (Becker 2015). Dann sammelt die aufmüpfige Hamburger Bürgerschaft innerhalb von nur sechs Wochen genügend Unterschriften, um eine Volksinitiative für »gute Inklusion« anzustoßen – offensichtlich als Gegensatz zu dem, was bislang an den Hamburger Schulen stattfindet. Und damit nicht genug: Ein verdienter Erziehungswissenschaftler legt ein Buch vor mit dem Titel: »Inklusion – ein leeres Versprechen?« (Feuser 2017) Nicht irgendein Erziehungswissenschaftler. Georg Feuser entwickelte bereits in den 1980er-Jahren Ansätze einer integrativen Didaktik, er ist ein Grandseigneur der schulischen Integrationsbewegung. Die Landtagswahlen 2017 in Schleswig-Holstein und NordrheinWestfalen schließlich markieren die vorläufige Bruchlandung des ganzen Projekts. In beiden Ländern wurden Regierungen nicht zuletzt deshalb abgestraft, weil die Wähler mit ihrer Schulpolitik unzufrieden waren. Markenzeichen dieser Schulpolitik war in Kiel wie in Düsseldorf die rasche Einführung des gemeinsamen Lernens. Was ist bloß los mit der Inklusion an den deutschen Schulen, bald zehn Jahre nachdem der Bundestag die UN-Konvention für die Rechte der Behinderten verabschiedet hat? Auffällig ist: An Meinungen dazu mangelt es nicht, sei es in den Medien, im wissenschaftlichen Diskurs oder in den Lehrerzimmern. Nicht jeder, der sich äußert, kann als Wissenschaftler empirische Studien dazu vorweisen oder hat als Pädagogin überhaupt schon eine nennenswerte Zahl von Kindern mit Beeinträchtigungen unterrichtet. Nicht jede besorgte Mutter kann beurteilen, ob Schwierigkeiten in der Klasse ihres Kindes wirklich mit dem dort praktizierten gemeinsamen Lernen von Kindern mit und ohne Handicap zu tun haben. Manchmal muss Inklusion zweifellos auch als Sündenbock herhalten für Mängel und Versäumnisse, die ganz woanders zu suchen sind. 10
Einleitung
Das ändert nichts daran, dass der Chor derer, die skeptisch sind, ob wir mit Inklusion den Kindern überhaupt etwas Gutes tun, immer lauter wird. Dabei hatte doch alles einmal so voller Hoffnung angefangen. Rückblende ins Jahr 1999, ich trat gerade meine erste feste Stelle als Lehrer an. Abgesehen von dem 70er-Jahre-Betonklotz faszinierte mich so ziemlich alles an meiner neuen Schule: der wertschätzende pädagogische Ansatz, in dessen Zentrum nicht eine zu erreichende Klassennorm stand, sondern die Individualität der Kinder und ihre Entfaltung; die Toleranz, Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft der Kinder und Jugendlichen untereinander, wie sie sich gerade auch im Umgang mit den gehandicapten Mitschülern zeigte. Vor allem aber, dass es dort wirklich normal zu sein schien, anders zu sein – eben z. B. auch behindert. Behinderte Kinder zusammen mit allen anderen auf einer staatlichen Regelschule? Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass es so etwas überhaupt gibt. Noch während meines Referendariats hatte ich mit meinen Schülern eigens eine Behindertenwerkstatt besucht. In der persönlichen Begegnung sollten sie sich eine Meinung bilden können zur Frage der Abtreibung eines Kindes z. B. mit Down-Syndrom. Nun war ich an einer integrativ arbeitenden Gesamtschule gelandet, und hier wäre die ganze Diskussion über das Thema gar nicht möglich gewesen – manche der potenziell abzutreibenden Kinder saßen ja jetzt mit im Unterricht. Als mich einige Jahre später wieder einmal jemand fragte, ob denn das mit der Integration wirklich eine gute Idee sei, zögerte ich schon mit meiner Antwort, sagte dann spontan: »Für die nicht behinderten Kinder auf jeden Fall!« Was war passiert? Ich hatte inzwischen erfahren, wie schwierig gemeinsamer Unterricht sein kann. Schwierig für die Lehrkräfte, weil deren Hauptaufgabe selbst in der integrativen Schule die Vermittlung des Regelschullehrplans bleibt; weil es ihnen oft an Know-how und Zeit fehlt, um den Unterrichtsstoff so zu bearbeiten, dass auch die geistig beeinträchtigten Mitschüler etwas davon haben; weil sie mit Verhaltensweisen klarkommen müssen, die schwer einschätzbar und mitunter wenig kompatibel sind mit einer konzentrierten Lernatmosphäre. Schwierig aber vor allem für die Kinder mit Handicap, die, so mein Eindruck, sozial doch eher an den Rand gedrängt waren, deren Einleitung
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Behinderungsverarbeitung nicht selten sehr schmerzhaft verlief und die im Unterricht manchmal eher sinnlose Beschäftigung erfuhren, wenn sie nicht gerade von einer Zweitlehrkraft »parallel« gefördert wurden. Ich hatte lernbehinderte Schüler erlebt, die stolz mit einem mittleren Abschluss die Schule verließen; aber auch ein körperbehindertes und verhaltensoriginelles Kind, das von Mitschülern in einen Müllcontainer gesteckt wurde. So etwas gibt es natürlich auch unter »ganz normalen« Schülern – sah ich das Ganze also einfach nur zu negativ? Vielleicht. Als 2006 die personelle Ausstattung an meiner Schule zum ersten Mal drastisch zusammengestrichen wurde, wollte das Kollegium eigentlich aus der Inklusion aussteigen. Nicht etwa, weil sie plötzlich die »falsche Einstellung« dazu hatten, sondern weil sie gemeinsames Lernen unter diesen Voraussetzungen schlicht für unverantwortlich hielten. Es war nicht zuletzt der lautstarke Protest der Schülerschaft, der sie umdenken ließ. Schülerinnen und Schüler retten also hier den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung. Was für ein schöner Beweis, dass Inklusion die Schule positiv verändern kann! Kaum ein Praktiker an einer ambitionierten inklusiven Schule wird mir widersprechen, wenn ich sage: Der gemeinsame Unterricht behinderter und nicht behinderter Kinder kann gelingen und bereichernd sein. Unter günstigen Voraussetzungen ist er allemal der Mühe wert. Mit Sicherheit macht er Schule jedoch nicht einfacher. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass er eine wirklich große Aufgabe ist, der auch an einer Pionierschule die Beteiligten im Alltag keineswegs immer gewachsen sind. Dabei waren dort, rückblickend betrachtet, die Bedingungen für das gemeinsame Lernen aller Kinder eigentlich traumhaft: Kleine Klassen, mehr als die Hälfte des Unterrichts durch eine zweite Lehrkraft unterstützt, dazu noch engagierte Pädagoginnen und Pädagogen, die sich jede Woche freiwillig zu Teamsitzungen trafen, um sich über die Entwicklung der ihnen anvertrauten Kinder auszutauschen. Die Gesamtschule, an der ich später arbeitete, ist eine sogenannte »Brennpunktschule«, deren Schülerinnen und Schüler, fast alle mit Migrationsgeschichte und fast alle mit einer Hauptschulempfehlung, am Ende doch noch in erstaunlich hoher Zahl irgendwie das Abitur 12
Einleitung
schaffen. Darauf sind die Kolleginnen und Kollegen mit Recht stolz. Diese Schule hat ungefähr zehn Arbeitskreise zur Schulentwicklung, keiner davon beschäftigt sich mit Inklusion – dabei hat die Schule nach den Sommerferien 20 neue »Inklusionskinder« aufgenommen. Wie kann das sein? Niemand hat die Schule je gefragt, ob sie sich denn in der Lage sieht, nun auch noch Kinder mit diagnostizierten Lern- und Entwicklungsstörungen optimal zu fördern, ob sie ein Lernumfeld schaffen kann, das für Kinder mit autistischen Symptomen oder geistiger Behinderung gedeihlich ist. Die Schule versucht seit Jahren, attraktiver zu werden für ein bürgerliches Publikum. Dazu zählt kaum das Image eines besonders geeigneten Ortes für Förderschüler. Und für die Kollegen kommt Inklusion hauptsächlich als eine Reihe von zusätzlichen Aufgaben daher, für die sie weder ausgebildet sind noch an anderer Stelle entlastet werden: angefangen von der individuellen Förderplanung über den Anspruch passgenauen differenzierten Unterrichts bis hin zu zusätzlichen Konferenzen … Vergleiche ich beide Schulen, so sehe ich: auf der einen Seite eine Schule mit sehr gemischtem Publikum, von bürgerlich bildungsbeflissen bis sozial benachteiligt und bildungsfern, von hochbegabt bis geistig behindert. Eine Schule, die sich bewusst nach langen Diskussionen auf die behinderten Kinder eingelassen und das gemeinsame Lernen ins Zentrum ihres pädagogischen Konzeptes gestellt hat. Eine Schule, die zwar weder heile Welt bieten noch jeden Schüler zum denkbar besten Schulabschluss führen kann, die aber doch ein erfahrungsreicher und lebenswerter Lern-Ort ist. Ein Ort, zu dem die meisten Kinder und Jugendlichen gerne gehen und an dem sie letztlich auch gut auf ihre Zukunft vorbereitet werden. Auf der anderen Seite erblicke ich eine Schule mit deutlich benachteiligter Schülerschaft, die sich dieser Herausforderung seit Jahren durchaus erfolgreich stellt. Eine Schule, die unter prekären Bedingungen jetzt »auch noch« Inklusion macht, so gut es eben geht – bestimmt nicht, weil das gesamte Kollegium oder wenigstens die Schulleitung das toll findet, sondern einfach, weil sie muss. Unter solchen Vorzeichen kann ich kaum mehr erwarten als Schmalspur-Inklusion. Und deshalb drängt sich mir hier die bange Frage auf: Kann das wirklich gut gehen? Ist unseren Kindern (insEinleitung
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besondere denen mit Förderbedarf) diese Art von flink verordneter Inklusion wirklich zumutbar? Viele Bürger beantworten diese Frage offenbar mittlerweile mit einem klaren Nein. Die Politik scheint mit einem Moratorium zur Inklusion zu reagieren, das den schlechten Zustand erstmal einfriert und keinem Kind weiter hilft. In Fachkreisen tobt derweil seit Langem ein heftiger Stellungskrieg, in dem sich Inklusionsbefürworter und Inklusionsskeptiker scheinbar unversöhnlich gegenüberstehen. Dabei bedarf die »größte Baustelle der deutschen Schulpolitik« (Irle) endlich einer offenen, ernsthaften Debatte, in der auch die Praktiker Gehör finden, die den inklusiven Umbau stemmen sollen. Gerade in der jetzt zutage tretenden Krise darf die Überschrift allerdings nicht mehr lauten, ob und in welchem Umfang Inklusion überhaupt möglich ist. Die Gretchenfrage ist vielmehr: Unter welchen Voraussetzungen ist Inklusion möglich, und wie können wir diese Voraussetzungen schaffen? Mehr denn je geht es jetzt darum, wie gelingendes gemeinsames Lernen von Kindern mit und ohne Handicap in der Praxis aussieht und was wir zu tun haben, um Inklusion tatsächlich zu verwirklichen. Diese Frage lässt sich schlüssig jedoch nur beantworten, wenn wir uns endlich den offensichtlichen Fehlentwicklungen stellen, die nun das ganze Projekt bedrohen. Was genau ist schiefgelaufen und wie können wir es künftig besser machen? So viel ist klar: Für Kinder, die durch eine Behinderung oder auch durch Armut und ein bildungsfernes Elternhaus benachteiligt sind, bleibt Inklusion ein großes Versprechen auf bessere Bildung und mehr Teilhabe. Für Kinder mit günstigeren Startbedingungen ist sie außerdem eine Chance auf mehr individuelle Entfaltungsmöglichkeiten und besseres soziales Lernen. Uns allen kann sie Hoffnung machen auf eine humanere Gesellschaft. Eins war Inklusion jedoch nie: ein Selbstläufer, der alles besser und womöglich auch noch billiger macht. Allein dadurch, dass dort behinderte Kinder anzutreffen sind, wird keine Schule gut (allerdings auch nicht schlecht). Was erwartet Sie in diesem Buch? Im ersten Teil werde ich ungeschminkt die Schwierigkeiten darstellen, mit denen schulische Inklusion zu kämpfen hat. Es wird sich 14
Einleitung
zeigen, dass die Probleme nicht nur in schlechter Ausstattung und mangelnder Vorbereitung der Schulen zu suchen sind, sondern bis in die Seele jeder Schule reichen, ihre pädagogischen Konzeption, ihr Selbstverständnis als Bildungseinrichtung. Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Belege, dass das gemeinsame Lernen oft schlecht gelingt. Mit Folgen, die besonders für die Kinder mit Handicap dramatisch sein können. Für alle, die sich diese Reform wünschen, sind das schmerzhafte Wahrheiten, zumal sie als Argument gegen das ganze Projekt missbraucht werden können. Aber wenn wir die Krise des gemeinsamen Lernens überwinden wollen, müssen wir uns diesen Problemen stellen. Wegschauen und Schönreden hilft jetzt nicht mehr weiter. Oder ist das Ganze vielleicht doch ein großer Irrweg? Dieser Frage gehe ich im zweiten Teil des Buches nach. Dabei beleuchte ich das Reformprojekt im Spannungsverhältnis zur gesellschaftlichen Wirklichkeit und werfe einen Blick auf die Geschichte der Integrationsbewegung, der so manchen heutigen Konflikt zu erklären vermag. Was macht Hoffnung, dass wir einen Weg aus der gegenwärtigen Krise finden und Schule für viele Kinder tatsächlich besser machen? Einen Weg, der zudem finanzierbar, politisch durchsetzbar und für die Kinder mit Handicap wirklich verantwortbar ist? Diese Fragen stehen im Zentrum des dritten Teils. Der Integrationsforscher Hans Wocken schreibt: »Die Unvollkommenheit der allgemeinen Schule war und ist der einzige legitime Grund für die Einrichtung separierender Schulen.« (Wocken 2015, S. 27) Recht hat er. Dieses Buch schreibe ich nicht zuletzt aus der Perspektive eines Lehrers, der nach wie vor ein paar Unvollkommenheiten in der allgemeinen Schule zu erkennen glaubt. Unvollkommenheiten, die nicht einfach deshalb verschwinden, weil nun das Inklusionszeitalter ausgerufen wurde. Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang ein persönliches Bekenntnis, passend zur Herzensangelegenheit Inklusion, die für manchen Protagonisten wohl auch zur Glaubenssache geworden ist: Als Lehrer möchte ich nie mehr an einer Schule arbeiten, an der ich mit meinen Schülerinnen und Schülern eine Behindertenwerkstatt besuchen muss, damit sie wenigstens einmal die Chance Einleitung
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haben, Menschen mit Handicap zu begegnen. Allerdings auch nicht an einer Schule, an der das gemeinsame Lernen zur zeit- und nervenraubenden Nebensache verkommt nach dem Motto: »O Gott, und jetzt auch noch Inklusion«. Als Vater ist mir vor allem eines wichtig: dass mein eigener, behinderter Pflegesohn eine weiterführende Schule findet, an der er mit seinen Lehrerinnen und Lehrern wie auch seinen Mitschülerinnen und Mitschülern klarkommt, sich wohlfühlt und gut lernen kann. Wenn das eine Regelschule ist: super. Wenn das nur eine Förderschule sein kann: auch okay. Auf der politischen Ebene sollte jedoch klar sein: Jede erzwungene Zuweisung an eine Förderschule ist diskriminierend. Jedes einzelne nicht ermöglichte oder gescheiterte gemeinsame Lernen in der Praxis muss Aufforderung sein, es künftig besser zu machen.
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Einleitung
Wahrheiten über Inklusion, die weh tun Alle sollen mitspielen, keiner darf »draußen« bleiben. Mitmachen, wobei denn? (Becker 2015, S. 20)
2 Viele Lehrer sind heillos überfordert Es mangelt an Zeit für die Kinder, an Know-how über ihre Förderung, an pädagogischen Konzepten für den gemeinsamen Unterricht und an der nötigen Ausstattung der Gebäude.
Nach anfänglich großer Aufregung ist das Thema »Inklusion« in den Medien etwas in den Hintergrund getreten – verdrängt durch neue Aufreger wie die Debatte um die Gymnasiale Oberstufe (G8 oder G9). Es brodelt jedoch gewaltig in diesem Hintergrund. Und wenn es dann doch mal wieder eine Geschichte zum gemeinsamen Lernen der Kinder mit und ohne Handicap bis in die Zeitung schafft, so handelt sie oft von behinderten Kindern, die durch ihr schlimmes Verhalten ihre braven Mitschüler vom Lernen abhalten und ihre ohnehin überarbeiteten Lehrer an den Rand der Verzweiflung bringen. Zu einer gewissen Berühmtheit brachte es in dieser Hinsicht ein Förderkind mit dem Pseudonym Yassar: Dieser Junge, so wird berichtet, bewirft seinen Lehrer mit Steinen, sobald er in die Klasse kommen soll. Und wenn er ausnahmsweise mal am Unterricht teilnimmt, spuckt er mit Schnipseln von Arbeitsblättern um sich oder beschmiert seine Klassenkameraden mit Apfelsaft. »Ab und zu biss er seine Mitschüler in den Hinterkopf, machte ihnen blaue Flecken oder schlug sie ins Gesicht.« (Hummel 2014) Eine neuere Story zitiert eine Lehrerin so: »Es gibt Kinder, da lohnt es sich sehr, sie in der Regelschule zu integrieren, aber bei vielen Kindern ist das nicht möglich. Manche Inklusionskinder treten den Lehrer, kratzen andere Kinder blutig und überschreiten permanent Grenzen.« (Schipp 2017)
Die Schlussfolgerung solcher Schilderungen liegt auf der Hand: Weg mit diesen Kindern von der Regelschule, und zwar sofort! Es ist aber auch eindeutig, dass auf diese Weise Stimmung gemacht wird und die Ängste besorgter Eltern geschürt werden. Der bedauernswerte 18
Wahrheiten über Inklusion, die weh tun
Yassar oder andere auffällige Kinder stehen plötzlich für alle Kinder mit Behinderung, ihre augenfällig scheiternde Integration ist Sinnbild dafür, dass das ganze Projekt Inklusion scheitern muss. Dieses Argumentationsmuster ist uns im Zusammenhang mit der Flüchtlingsdebatte und »dem Islam« sehr geläufig, und hier wie dort ist es ein diskriminierendes Argumentationsmuster. So ist es kein Wunder, dass solche Darstellungen bei überzeugten Inklusionsfans nicht Nachdenklichkeit hervorrufen, sondern Abwehr. Bisweilen wird auch versucht, mit eigenen, ebenfalls skandalträchtigen Beispielen gegenzuhalten. Jüngstes Beispiel dazu ist Nenad Mihajlovic. Als siebenjähriger Junge kamen seine Lehrer in einer bayrischen Grundschule nicht klar mit ihm und leiteten ein Sonderschulverfahren ein. Ergebnis: Er wurde als geistig behindert eingestuft. Tatsächlich war er wohl nur entwicklungsverzögert und konnte vor allem so gut wie kein Deutsch. Dennoch wurde er elf Jahre lang auf eine Schule für geistig behinderte Kinder geschickt, auch ein Umzug nach Köln änderte daran nichts. Er habe viel geweint, weil er sich unter den schwer behinderten Kindern nicht wohlfühlte. Später dann schwänzte er regelmäßig die Schule. Nur durch einen Trick schaffte er es schließlich auf ein Berufskolleg und machte dort als Klassenbester seinen Hauptschulabschluss nach. Ein erneuter IQTest bescheinigte ihm zudem eine durchschnittliche Intelligenz. Jetzt verklagt er das Land auf Schadenersatz und Schmerzensgeld, und seine Geschichte wurde sogar verfilmt (Katzmarzik 2016). Nenad Mihajlovic wurde so zum Kronzeugen gegen ein vermeintlich unmenschliches System schulischer Aussonderung und damit irgendwie auch zum lebenden Beweis dafür, dass wir dringend ein inklusives Schulsystem brauchen. Ob sein berührendes Schicksal typisch ist für die Probleme der Förderschulen oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Das heißt nun keineswegs, dass die Schwierigkeiten hinter solch spektakulären Einzelfällen nicht existierten, und schon gar nicht bedeutet es, darüber nicht reden zu dürfen. Aus meiner Zeit als Lehrer an einer integrativen Gesamtschule erinnere ich mich beispielsweise an einen autistischen Schüler, der im naturwissenschaftlichen Unterricht regelmäßig zu schreien begann und sich selbst heftig in den Handteller biss – deutliches Zeichen, dass er mit der Situation im Chemieraum überfordert war. Viele Lehrer sind heillos überfordert
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Die Mitschüler nahmen das meist erstaunlich gelassen hin, während ich mich sehr gestört fühlte. Im Gedächtnis hängen geblieben ist mir auch ein Erlebnis aus den ersten Tagen meiner Lehrerlaufbahn. Eine aufmüpfige siebte Klasse testete die Nervenstärke und Durchsetzungskraft des neuen Lehrers. Jedes Mal, wenn endlich Ruhe war, begann ein geistig behindertes Mädchen, lautstark ein Weihnachtslied zu schmettern (bis heute weiß ich nicht, ob es dazu angestiftet wurde). Meine pädagogischen Reaktionen zeigten wenig Wirkung, die Schüler hatten ihren Spaß. Aber was sagt das über die Einzelfälle hinaus aus? Ich habe als Lehrer viele schwierige, nervige oder traurige, bisweilen auch hochdramatische Situationen mit Schülern erlebt. Manchmal, weil ich selbst einen schlechten Tag hatte oder pädagogisch ungeschickt handelte, oft, weil die jugendlichen Schüler gerade wenig Lust auf Unterricht hatten oder/und in einer persönlichen Krise steckten. Ob sie nun einen attestierten Förderbedarf hatten, spielte dabei in den allermeisten Fällen keine erkennbare Rolle. Neben den spektakulären und leider häufig ebenso tendenziösen Geschichten über Einzelschicksale häufen sich jedoch die Berichte über kaum fortgebildete Lehrer, die sich einer Reihe von neuen Anforderungen und Ansprüchen im Zuge der Inklusion gegenübersehen, denen sie auch bei gutem Willen und großem Engagement schlicht nicht gewachsen sind. Und es sind nicht nur einzelne frustrierte Pädagogen, die es bis in die Gazetten gebracht haben. Diese Kritik an der inklusiven Praxis ist mittlerweile durch Umfragen auch gut belegt (Forsa 2015): ȤȤ Rund ein Drittel der befragten Lehrkräfte an inklusiven Schulen hatte vor Übernahme einer inklusiven Klasse nicht einmal ein Vorgespräch oder eine Fortbildung, 60 Prozent hatten zur Vorbereitung des inklusiven Unterrichts nur wenige Wochen Zeit. Ganze sechs Prozent der Pädagogen glauben, die inklusiv unterrichtenden Kollegen hätten sonderpädagogische Kenntnisse. ȤȤ Praktisch alle Lehrer halten eine Doppelbesetzung aus Lehrer und Sonderpädagoge in inklusiven Klassen für erforderlich, 88 Prozent sind der Meinung, diese sollte es immer geben. Zwei Drittel der Lehrer an inklusiven Schulen geben dagegen an, dass der Unterricht in der Regel nur von einer Person gehalten wird. 20
Wahrheiten über Inklusion, die weh tun
ȤȤ Die Hälfte aller Schulen mit inklusiven Lerngruppen ist nach Einschätzung der Lehrkräfte noch »überhaupt nicht« barriere frei. ȤȤ Obwohl die klare Mehrheit der Pädagogen dem gemeinsamen Lernen positiv gegenübersteht, glauben nur acht Prozent von ihnen, Kinder mit Behinderung hätten inklusiv bessere Chancen, gefördert zu werden. Im Zusammenhang mit der Hamburger Volksinitiative für gute Inklusion urteilte jüngst die ZEIT, eigentlich bekannt für sehr wohlwollende Berichterstattung zum gemeinsamen Lernen der Kinder mit und ohne Handicap: Inklusion sei mittlerweile »zur Chiffre der Überforderung« an den Schulen geworden. Die Volksinitiative sei eine Aufforderung, die Sorgen der Schulen ernster zu nehmen: »Vielleicht ist es die letzte Gelegenheit, diese Reform zu retten. Die nächste Volksinitiative könnte sich gegen die Inklusion an sich richten.« (Hollenstein 2017) Prophetische Worte … Wie diese Überforderung ganz konkret im Schulalltag aussieht, berichtete jüngst eine Lehrerin auf einer Veranstaltung der bislang sehr inklusionsfreundlichen Lehrergewerkschaft GEW: »Wir haben 2,5 Sonderpädagogenstellen statt wie von der Landesregierung versprochen vier. Deshalb werden die 26 Förderkinder der Schule auf alle Klassen verteilt, obwohl das pädagogisch eigentlich nicht sinnvoll ist. In meinem Jahrgang gibt es 14 sonderpädagogische Lehrerstunden für neun Kinder mit Handicap. Vier Stunden davon verwendet die Sonderpädagogin für Einzelförderung, die übrigen Stunden spielt sie pädagogische Feuerwehr, die immer gerufen wird, wenn im Unterricht untragbare Situationen entstehen.«
Eine Lehramtspraktikantin habe die Schulleiterin neulich gefragt, in welchen Bereichen die Förderkinder an ihrer Schule eigentlich gefördert werden. Antwort: »Fördern können wir sie hier nicht. Wenn überhaupt, dann klappt die soziale Integration.« Solche Aussagen sind mehr als Einzelmeinungen. Vier ganz unterschiedliche Lehrerverbände in NRW, die sich sonst eigentlich nicht besonders grün sind, rauften sich vor Kurzem zu einer Viele Lehrer sind heillos überfordert
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gemeinsamen Erklärung zusammen. Unmissverständlich heißt es da: »Die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die von Schulen des Gemeinsamen Lernens kommen und zur Förderschule wechseln, steigt. Die Unzufriedenheit bei Schülerinnen und Schülern, Eltern und Lehrkräften aller Schulformen nimmt zu. Gerade Lehrkräfte, die als Wegbereiter Gemeinsamen Lernens früh in integrativen Beschulungsmodellen gearbeitet haben, sind massiv enttäuscht von den aktuellen Entwicklungen, da sie eine spürbare Verschlechterung der Bedingungen vor Ort wahrnehmen. Teilweise ersuchen sie um einen Wechsel an Förderschulen.« (Mülheimer Erklärung)
Selbst die Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V., die die Interessen der geistig behinderten Menschen in Deutschland vertritt und Inklusion glühend verficht, warnt inzwischen: »Wenn Schülerinnen und Schüler nicht die Lernangebote und Unterstützung bekommen, die sie benötigen, wenn Lehrerinnen und Lehrer, Erzieher und Erzieherinnen (…) ohne ausreichende Vorbereitung oder Unterstützung im gemeinsamen Unterricht eingesetzt werden, kann dies zu Schwierigkeiten und Überforderung von Lehrer(inne)n und Schüler(inne)n führen. Mancherorts weichen Eltern mit ihren Kindern in andere Bundesländer aus, weil ihnen das inklusive Bildungsangebot nicht gut genug erscheint und sie notwendige Rahmenbedingungen und Ausstattung der Regelschulen vermissen. Einige Eltern wählen auch nur deshalb eine Förderschule.« (Lebenshilfe 2016)
Wer wissen will, wie »Schwierigkeiten und Überforderung« konkret für die Kinder mit Handicap aussehen, kann dies beispielsweise im Schwarzbuch Inklusion aus Hessen nachlesen. Dort ist die Geschichte eines afghanischen Flüchtlingsjungen dokumentiert. Er kommt ohne Schulbildung und Deutschkenntnisse nach Hessen, wird von einer engagierten Klassenlehrerin mit Unterstützung einer Lehramtsstudentin an der Grundschule nach Kräften und mit Erfolg gefördert. An der weiterführenden Schule kann er jedoch dem Frontalunterricht nicht folgen und wird ver22
Wahrheiten über Inklusion, die weh tun
haltensauffällig. Konsequenz: Obwohl die Pädagogen keine sprachliche Behinderung erkennen, wechselt er an die Sprachheilschule. Die Lehramtsstudentin ist zunächst geschockt über diese Entwicklung. Nachdem sie an der Förderschule hospitiert hat, ist sie jedoch überzeugt, dass der Junge dort anständig behandelt wird »und nicht laufend mit schlechten Noten bestraft und im Verhalten gegängelt wird«, sondern »einfach lernen darf«. Von einem Kind mit Down-Syndrom wird berichtet, wie es im ersten Schuljahr die meiste Zeit mit seinem Integrationshelfer im Treppenhaus saß, da die Lehrkräfte keinerlei Ansätze fanden, es aus seiner vermeintlichen Verweigerungshaltung herauszuholen. Nach Einschätzung der Autoren des Schwarzbuchs »herrschte, in Ermangelung an Aus-, Fort- und Weiterbildung, eine völlige Hilflosigkeit der pädagogischen Akteure hinsichtlich der Bedingungen, unter denen das Kind angemessen und gut lernen kann«. Oder handelte sich hier vielleicht um ein Kind, das einfach nicht integrierbar war? Kaum. Als das Kind die erste Klasse wiederholte, blühte es plötzlich regelrecht auf. Es wurde jetzt als selbstbewusst und bestens integriert beschrieben. Die Klassenlehrerin gab ihm Raum für seine kreativ-musischen Stärken und förderte gleichzeitig nachdrücklich seine Arbeitshaltung. Die hier beschriebene Inklusion auf dem Treppenabsatz ist jedoch leider keine Seltenheit. Ich selbst kenne aus meinem Bekanntenkreis mehrere solcher Fälle. Auch das Schwarzbuch beschreibt ein weiteres, fast paralleles Kinderschicksal: Ein körperlich behindertes Kind mit Lernschwierigkeiten wird in die Grundschule eingeschult. Mit der Klassenlehrerin gibt es jedoch von Anfang an Probleme. »Sie hat mehrfach unser Kind nicht an ihrem Unterricht teilnehmen lassen, sondern es alleine mit der Integrationshelferin in einen Nebenraum geschickt oder auf den Spielplatz. Als die Integrationshelferin erkrankt war und auch die Ersatzkraft nicht kommen konnte, hat sie uns über die Schulleitung aus der Schule werfen lassen – vor der versammelten Klasse. Das war für unser Kind eine sehr schlimme Erfahrung, es ist weinend nach Hause gegangen und war bis zum nächsten Tag zutiefst verstört.« Viele Lehrer sind heillos überfordert
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In diesem Beispiel scheint von Anfang an die Bereitschaft der Lehrerin völlig gefehlt zu haben, auch ein behindertes Kind zu unterrichten. Aber auch prinzipiell gutwillige Pädagogen machen mitunter haarsträubende Fehler, die für das Kind traumatisierend sein können – einfach, weil sie es nicht besser wissen. So kenne ich die Geschichte eines Kindes mit hochgradigem ADHS. Durch sein unruhiges, impulsives Verhalten stört es mal wieder den Unterricht in der Grundschule empfindlich. Diesmal hat sich die Lehrerin jedoch etwas Neues ausgedacht. Das Kind soll auf einem vorbereiteten Arbeitsblatt sein Verhalten reflektieren. Als es sich weigert, besteht die Pädagogin darauf. Das Kind zerreißt das Arbeitsblatt, die Lehrerin wird laut, das Kind schimpft und schlägt um sich. Schließlich wird der zierliche Junge durch vier Lehrkräfte festgehalten und aus der Klasse entfernt. Die Schule hält nach diesem Vorfall das Kind für nicht mehr tragbar. Monatelang wird es krankgeschrieben, bis das Schulamt endlich einen Platz an einer Förderschule für emotionale und soziale Entwicklung findet. Wer sich mit ADHS auskennt, weiß: Kinder mit diesem Syndrom zu unterrichten, ist eine echte Herausforderung. Dass die Situation aber so eskalierte und der Junge so ausrastete, ist einer ganzen Kette von pädagogisch-handwerklichen Fehlern geschuldet, die passieren können, eigentlich aber nicht dürfen. Die Lehrerin handelte, als ob sie ein aufmüpfiges Kind vor sich hätte, das sich normal steuern kann. Genau dies trifft bei ADHS-Kindern nicht zu. Allerdings müssen die spezifischen Probleme der Kinder auch erst einmal erkannt werden. Im inklusiven Unterricht ist das keine Selbstverständlichkeit. Auf der schon erwähnten GEW-Veranstaltung berichtete jüngst eine Mutter, wie eine Realschule auf das »schwierige« Benehmen ihres Kindes mit den üblichen disziplinarischen Maßnahmen reagierte, bis hin zum Schulausschluss. Es folgte auch hier eine monatelange Krankschreibung, weil keine Schule das Kind aufnehmen wollte. Immerhin wurde in dieser Zeit ein Asperger-Syndrom bei dem Jungen entdeckt, und eine Förderschule nahm sich schließlich seiner an. Hier gehe der Junge nun gerne hin und komme »endlich gut klar«. Gibt es etwa keine positiven Beispiele? Natürlich gibt es die! Selbst das Schwarzbuch beschreibt auch die hellen Seiten der Inklusion, 24
Wahrheiten über Inklusion, die weh tun
indem dokumentiert wird, wie sich trotz anfangs großen Schwierigkeiten behinderte Kinder in der Regelschule auch gut entwickeln können und von den Mitschülern anerkannt werden. Immer wieder finden sich in der Fachliteratur Schilderungen, wie selbst mehrfach schwer behinderte Kinder integriert werden können, wenn die Beteiligten mit Engagement, Phantasie, Fachwissen an die Sache herangehen und über genug Zeit für das Kind, geeignete Räume und (therapeutische) Hilfsmittel verfügen. Genau daran aber mangelt es offensichtlich. Nach meiner Beobachtung gibt es außerdem ein weiteres großes Problem, das ich mit »struktureller Marginalisierung« umschreiben möchte: Kinder mit Behinderungen sind meist in besonders hohem Maße auf feste Bezugspersonen angewiesen, die sie annehmen und gut kennen in ihren Stärken, Schwächen und Eigenarten. Weiterführende Schulen sind dagegen oft nach dem Fachlehrerprinzip organisiert. Lehrkraft und Kind sehen sich also häufig nur zweimal die Woche. Für nötige Teamgespräche, die dieses Manko wenigstens teilweise kompensieren könnten, fehlt nicht nur die Zeit, sondern oft überhaupt die Möglichkeit, weil immer irgendwelche wichtigen Kollegen gerade im Unterricht sind. Selbst die Beratung von Regellehrern durch eine Sonderschulkollegin scheitert häufig allein am Stundenplan. Inklusive Schulen müssten sich dringend Gedanken machen über einen Leistungsbegriff jenseits des zu erreichenden Klassenziels, über alternative Formen der Leistungsbewertung. Sie müssten neue Unterrichtsformen erproben und Möglichkeiten entwickeln, auf »schwieriges«, herausforderndes Verhalten der Kinder nicht nur mit dem pädagogischen »Normalbesteck« zu reagieren. Dafür fehlt neben der allseits zu knappen Zeit bei verordneter Inklusion oft auch völlig das Verständnis: Ich habe es erlebt, dass in einem Zukunftsseminar ein enges Mitglied der Schulleitung völlig entgeistert dreinschaute, als ich den Wunsch äußerte, in zehn Jahren möge die Schule doch ein inklusives pädagogisches Konzept haben. Förderpläne zu schreiben, Gespräche mit Kolleginnen, Eltern und Therapeuten zu führen oder individuell differenziertes Unterrichtsmaterial zu entwickeln, bedeutet Mehrarbeit, für die Entlastungen an anderer Stelle schmerzlich vermisst werden. Auch die nötige Viele Lehrer sind heillos überfordert
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Fortbildung scheitert oft schlicht daran, dass die Schulleitung sich nicht in der Lage sieht, die Lehrkräfte freizustellen. Denn es darf ja dafür kein Unterricht ausfallen. Die Lösung an meiner derzeitigen Schule: Fortbildungs-Minutenterrinen auf der Lehrerkonferenz über die Basics des Umgangs mit den Förderkindern, serviert zwischen Tagesordnungspunkt zwei: Bekanntmachungen der Schulleitung, und Tagesordnungspunkt vier: Wahlen zu den Schulgremien. Würden Sie Ihr Kind mit Handicap wirklich guten Gewissens an solch eine Schule schicken? Vielleicht haben Sie Glück, und Ihr Kind erwischt eine besonders engagierte, empathische, begabte Klassenlehrerin. Das könnte helfen. Allerdings auch nur, wenn sie zufällig zwei Hauptfächer unterrichtet und deshalb ihre Klasse regelmäßig sieht. Die Anzeichen der Krise sind überdeutlich, sowohl aus medialer Sicht als auch aus der Perspektive der Eltern, Lehrer, Gewerkschaften und selbst der Vertreter behinderter Menschen. Skeptiker nehmen die Symptome gerne als Beweis, dass Inklusion selbst das Problem ist. Befürworter blenden dagegen die Probleme eher aus oder bezichtigen Lehrkräfte einer falschen »Haltung«. Pädagogen wiederum rufen nach mehr Ressourcen. Politiker antworten, es werde doch schon sehr viel getan für die Inklusion, mehr sei eben leider nicht drin.
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3 Das gemeinsame Lernen ist haarsträubend unterfinanziert Dabei ist es schon seit Anfang der 1990er-Jahre amtlich: Kostenneutral ist die Integration behinderter Kinder in die Regelschulen nicht möglich.
Stellen Sie sich vor, Ihr Chef käme mit einer ganz tollen neuen Idee um die Ecke, verlangte dafür viel zusätzliches Engagement, erwartete aber gleichzeitig, dass Sie dafür keinesfalls Überstunden aufschreiben. Wie würden Sie reagieren? Falls Sie in unbefristeter Anstellung und nicht scharf auf eine zeitnahe Beförderung sind, würden Sie vermutlich dazu neigen, erstmal nur das Allernötigste dafür zu tun. Ansonsten hoffen Sie vielleicht darauf, der Chef möge seine tolle Idee spätestens dann wieder vergessen, wenn er eine neue hat. Was hat dieses kleine Gedankenexperiment mit Inklusion zu tun? Wahrscheinlich ahnen Sie es. Überzeugte Inklusionsanhänger halten jedoch die These, gemeinsames Lernen von Kindern mit und ohne Handicap sei unterfinanziert, eher für einen Propagandatrick der Inklusionsgegner. Und tatsächlich hantieren Autoren mit skeptischer Einstellung gern mit Milliardensummen, die vernünftige Inklusion kosten würde, und halten das Ganze dann schlicht für nicht finanzierbar (Felten 2017). Es ist also wichtig, diese Frage seriös zu beantworten, weshalb an dieser Stelle einige trockene Zahlen leider unumgänglich sind. Zahlen allein können jedoch trügerisch sein, und die unterschiedlichen Akteure präsentieren gern genau diejenigen, die zu ihrer Weltsicht passen. Aus den Schulministerien hören wir, dass hunderte oder wahlweise tausende neuer Stellen »für die Inklusion« geschaffen wurden. Lehrergewerkschaften beklagen erwartungsgemäß, dass dies alles nicht ausreicht. Die Pädagogen in Schulen mit langer Tradition gemeinsamen Lernens hingegen jammern, dass sie mit immer weniger sonderpädagogischen Lehrerstunden auskommen müssen. Aber was heißt »immer weniger« genau – und weniDas gemeinsame Lernen ist haarsträubend unterfinanziert
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ger wovon? Und war die pädagogische Ausstattung der inklusiven Leuchtturmschulen vielleicht einfach unnötig luxuriös? Genaue Angaben zur ersten Frage sind äußerst schwierig, da die Berechnung der Lehrerstunden immer wieder verändert wurde und die Behörden ihre Statistiken so gestalten, dass gerade diese Information leider nicht daraus hervorgeht. Anhaltspunkte können jedoch Angaben aus Studien zu den integrativen Modellversuchen sowie Zahlen einzelner Schulen liefern, sofern sie denn bekannt sind. Die mittlerweile historische Selbstdarstellung zum Gemeinsamen Unterricht einer großen Kölner Gesamtschule ist hier ein gutes Beispiel. Bis 2003 saßen in dieser Leuchtturmschule des gemeinsamen Lernens in Integrationsklassen 22 Schülerinnen und Schüler, vier davon mit Behinderung. Etwa 70 Prozent des Unterrichts wurde von zwei Lehrkräften gemeinsam gehalten. Diese Ausstattung entspricht dem, was in NRW unter den Bedingungen des integrativen Schulversuchs üblich war (Holweide 2006, Lauth 2003, S. 12). 2011 waren die Integrationsklassen dann auf 26 Kinder gewachsen, fünf davon mit Handicap. Der Unterricht konnte trotzdem nur noch maximal zu 50 Prozent im Lehrer-Tandem gehalten werden (Holweide 2011). Dies entspricht einem Rückgang der Lehrerstunden pro Förderkind um 37,5 Prozent! Heute jedoch kämpft die Schule darum, dass diese vergleichsweise miserable Ausstattung nicht noch weiter abgeschmolzen wird. Genau das allerdings droht, denn von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt wurden mit Einführung der Inklusion erstmals die sonderpädagogischen Stellen budgetiert: Unabhängig davon, ob die Quote der Förderschüler in den Bereichen der Lern- und Entwicklungsstörungen (LES) weiter steigt, bleibt also die Zahl der Förderlehrer gleich. Für LES-Förderschüler steht den inklusiven Grundschulen Nordrhein-Westfalens pauschal eine halbe sonderpädagogische Stelle für vier Klassen zu, an den weiterführenden Schulen darf ein Sonderpädagoge mit vollem Deputat diese Kinder in sechs Klassen »fördern« (MSW NRW 2014). Zum Vergleich: Als in den 1990er-Jahren der Hamburger Schulversuch mit der Vorgabe startete, Kinder mit Schwierigkeiten beim Spracherwerb, beim Lernen oder im Verhalten nicht auszusortieren, erhielt noch jede Klasse eine halbe sonderpädagogische Stelle (siehe Kap. 5). 28
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Stellen wir uns eine Gesamtschule mit 1000 Schülern vor; davon hätten 50 Kinder und Jugendliche den Förderbedarf Lernen, Sprache oder Verhalten, weitere 20 Kinder hätten geistige, körperliche oder anderen Einschränkungen. Dieser Schule standen in Nordrhein-Westfalen 2003 noch 6,5 Lehrerstellen mehr zu als 2017 – das bedeutet einen Rückgang der pädagogischen Ressourcen zum Fördern der Förderkinder um 32 Prozent. Hätte diese Schule jedoch nicht nur 50, sondern 100 Schüler mit Lern- und Entwicklungsstörungen, so fehlten ihr im Jahre 2017 mit etwas Pech sogar 11,5 Lehrer, was einem Rückgang des »Förder-Kapitals« um fast 50 Prozent entspricht. Ob diese Schule tatsächlich zusätzliche Lehrer erhält, weil sie besonders viele LES-Förderkinder hat, hängt nämlich davon ab, ob es noch Sonderpädagogen im Stellenpool gibt und die Schulbehörde überzeugt ist, dass gerade an dieser Schule der Bedarf besonders hoch ist. Es lässt sich natürlich trefflich darüber streiten, wie genau diese Verschlechterung für einzelne Schulen, ein ganzes Bundesland oder auch darüber hinaus zu beziffern ist. Letztlich hängt es ja auch davon ab, welche Bedingungen ursprünglich gewährt wurden. Sicher ist jedoch, dass seit den integrativen Schulversuchen immer weniger Lehrerstellen für das gemeinsame Lernen zur Verfügung stehen. Dies gilt für alle Bundesländer, die derzeit versuchen, flächendeckende Inklusion einzuführen. Es ergibt sich schlicht aus der Tatsache, dass bislang kein Schulministerium an der Prämisse rüttelt, Inklusion dürfe keine wesentlichen Zusatzkosten verursachen. So rechnet beispielsweise auch die Hamburger Volksinitiative für gute Inklusion vor: »Mit der Abschaffung der gut ausgestatteten Integrationsklassen wurden die Personalmittel für SchülerInnen mit einer Behinderung in der Inklusion seit 2012 um ein Drittel gekürzt. Massive Kürzungen gab es auch für SchülerInnen mit den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache und emotionale-soziale Entwicklung.« (Volksinitiative Gute Inklusion 2017)
Wie sieht nun aber die Realität hinter diesen trockenen Zahlen aus? Es wäre ja möglich, dass die Bedingungen der alten IntegrationsDas gemeinsame Lernen ist haarsträubend unterfinanziert
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klassen ziemlich paradiesisch waren. Ebenso denkbar wäre es, dass mittlerweile das gemeinsame Lernen von behinderten und nicht behinderten Kindern so weit professionalisiert wurde, dass die Kürzungen in Ordnung gehen. Um es kurz zu machen: Beide Annahmen erweisen sich als unbegründet. Schon zu Zeiten der Schulversuche war es vielmehr so, dass die Lehrer für nahezu 100 Prozent des Unterrichts eine zweite Lehrkraft einforderten (Lauth 2003, S. 47). Ein durchaus erstaunlicher Befund, da ja bekanntlich Lehrer in der Regel nicht gerade als TeamPlayer sozialisiert wurden. Er lässt sich nur dadurch erklären, dass sich Lehrer den Anforderungen des Unterrichts in einer ohnehin bunt gemischten Klasse inklusive der Förderkinder als One-ManShow schlicht nicht gewachsen sehen. So kommt bereits der Abschlussbericht des Kultusministeriums zu den integrativen Schulversuchen an Nordrhein-Westfalens Grundschulen 1994 zu dem unmissverständlichen Schluss, es habe sich »als falsch erwiesen«, dass die Integration der behinderten Kinder in die Grundschule »personalkostenneutral möglich sei«. (KM NRW1994, S. 26). Auch das gelegentlich genannte Argument, die Schulen hätten ja inzwischen die Unterrichtsmodelle zur Inklusion entwickelt und bräuchten deshalb jetzt weniger Lehrerstunden, ist völlig weltfremd: Schon damals hatten die Lehrer integrative pädagogische Ansätze weitgehend nebenher als unbezahlte Zusatzaufgabe vorangebracht. Diese erweisen sich nun aber immer mehr als unbrauchbar: Ohne zweite Lehrkraft funktioniert eben kein Team-Teaching. Kein Wunder also, wenn in der Praxis nicht immer das optimale Fördern der Kinder mit Handicap durch passgenaues Zusatzmaterial und fachkundige pädagogische Intervention im Vordergrund steht. Wenig erstaunlich, dass ausführliche und regelmäßige Förderkonferenzen mit Klassen- und Fachlehrern, Sonderschulpädagoginnen, Therapeuten und womöglich Eltern an vielen Schulen nicht gerade zu den etablierten Einrichtungen gehören. Zumal den kaum fortgebildeten Lehrkräften neben der Zeit auch schlicht das inklusive Know-how fehlt. Gibt es wenigstens handfeste Belege, dass Inklusion unter diesen Bedingungen überhaupt klappen kann? Mir ist kein einziger 30
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wissenschaftlicher Beitrag bekannt, der überhaupt versuchen würde, die prekären Bedingungen für schulische Inklusion empirisch zu begründen. Das gilt auch für Expertisen, auf die sich Schulministerien gern berufen, wenn sie in Begründungsnot geraten (vgl. Klemm, Preuss-Lausitz 2011). Meist läuft es so: Wissenschaftler schlagen Ressourcen vor, die aus Sicht der bewährten Praxis bereits sehr knapp bemessen sind. Die Politik greift sie dort auf, wo sie Sparpotenzial erkennt (Budget!), streicht sie ansonsten jedoch zusammen. Ungeachtet der oben zitierten Erkenntnis aus den 1990er-Jahren ist die Null-Kosten-Lösung stets unhinterfragte Prämisse, lediglich die mehr oder weniger sinnvolle Verteilung des Mangels wird diskutiert. Wie irre das ist, zeigt vielleicht am besten ein Vergleich mit der realen Arbeitswelt jenseits von Schule. Stellen wir uns also vor, die Entwicklungsabteilung eines Konzern präsentierte ein Produkt, das durch Änderungen im Fertigungsweg verbessert werden konnte. »Prima«, sagt der Konzernchef, »darauf steigen wir jetzt um. Allerdings muss das mit 30 bis 50 Prozent weniger Personaleinsatz klappen. Abstriche bei der Qualität oder Stückzahl darf es dabei natürlich nicht geben.« Wie würden wir das wohl beurteilen? Leider geht es in unserem Fall jedoch nicht um die Fabrikation von Staubsaugern, sondern um die Zukunft unserer Kinder. Inklusions-Aktivisten kontern das Argument zu knapper Ressourcen gern mit dem Hinweis, nicht die Inklusion sei unterfinanziert, sondern die Schulen. Dem will ich als Lehrer keineswegs widersprechen. Ganz offensichtlich hilft diese Sichtweise jedoch nicht weiter, und natürlich kann es das tägliche Erleben der Pädagoginnen und Pädagogen nicht wegdiskutieren, die inklusive Aufgabe in einem ohnehin überfrachteten Arbeitsalltag on top bewältigen zu müssen. Schlimmer noch als der objektive Mangel scheint mir deshalb die subjektive Wirkung auf die pädagogischen Akteure zu sein. Entlastung für die Zusatzaufgaben? So ernst meinen wir es mit der Inklusion nun auch wieder nicht. Lehrer sind am Ende eines anstrengenden Arbeitstages auch nur Arbeitnehmer. Dass Inklusion ein Menschenrecht ist, ändert daran wenig. Wer das ignoriert, den bestraft allzu häufig der Burn-out (vgl. Schaarschmidt 2004). Vor diesem Hintergrund ist deshalb eine Frage aktueller denn je, die bereits im Zwischenbericht zum Schulversuch in NRW vor Das gemeinsame Lernen ist haarsträubend unterfinanziert
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über 25 Jahren formuliert wurde: Was nämlich zu tun ist, damit Integration auch an Schulen funktioniert, an denen nicht »durchweg besonders engagierte Lehrerinnen und Lehrer beteiligt sind« (KM NRW 1990). Die bitter-kuriose Pointe in diesem Zusammenhang ist jedoch, dass überzeugte Inklusionsanhänger mit einer gewissen Abschätzigkeit auf die Zeit blicken, wo Schule Kinder mit Handicap noch »integrierte«. Inklusion ist der Theorie nach eine qualitative Weiterentwicklung der Integration, die alles viel, viel besser machen will. Darauf werde ich im zweiten Teil des Buches noch genauer eingehen (siehe Kapitel 15). In diesem Zusammenhang möchte ich nicht verschweigen, dass es unter den wissenschaftlichen Inklusionsanhängern teilweise wenig Sympathien gibt für die zweite Lehrkraft im gemeinsamen Unterricht. Die Gefahr bei diesem Modell sei, dass der eine Lehrer den Unterricht für die Regelschüler hält, während sich die zweite Pädagogin um die Kinder mit Förderbedarf kümmert. Dies jedoch wird als typisches Merkmal überkommener integrativer Pädagogik gesehen, die behinderte Kinder stigmatisiert oder gar diskriminiert. Es gibt aber noch einen weiteren Grund, weshalb selbst manchen Experten knappe Ressourcen gar nicht so ungelegen kommen: Ihre mehr oder weniger deutlich ausgesprochene Hoffnung ist, dass die Aufnahme behinderter Kinder an den Schulen schon genug Leidensdruck erzeugen wird, um die nötige inklusive Schulentwicklung zu provozieren (vgl. R. Werning, S. 53–54). Eine zu üppige Ausstattung wäre da eher kontraproduktiv. Denn sie verleite Schulen dazu, die Probleme weiter bei den Kindern mit Handicap zu sehen und als Problemlöser die sonderpädagogische Lehrkraft, anstatt sich zu Orten zu entwickeln, an denen alle Kinder gut lernen können, Nicht nur als Lehrer, sondern vor allem als Vater macht mich diese Argumentationslinie, ehrlich gesagt, immer noch fassungslos. Schlimmer als die versuchte Instrumentalisierung ausgerechnet der behinderten, lernschwachen oder sozial auffälligen Kinder zur pädagogischen Entwicklung der Schulen ist jedoch: Sie funktioniert nicht. Für einzelne Schülerinnen und Schüler mag der Leidensdruck zwar leider hoch sein, für einzelne engagierte Lehrkräfte mit hohem pädagogischem Anspruch ebenfalls, aber eben nicht für die Schule 32
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als Ganzes. Schulen, die von Inklusion nicht ohnehin überzeugt sind und gefühlt »genug andere Probleme« haben, werden als Kollektiv alles dafür tun, möglichst wenig verändern zu müssen (Zusatzarbeit!) und dafür sorgen, dass der Leidensdruck einzelner Kinder und Lehrkräfte sich nicht auf das Gesamtsystem auswirkt (siehe Kapitel 8). Ein einziger Grund fällt mir ein, weshalb es verantwortbar sein könnte, Inklusion unter diesen Vorzeichen überhaupt zu betreiben: Es wäre ja möglich, dass das gemeinsame Lernen der Kinder ohne und mit Beeinträchtigung einfach so viele Vorteile mit sich bringt, dass die (zu) knappen Ressourcen allemal verschmerzbar sind. Die nächsten Kapitel dieses Buches werden zeigen: Dem ist leider nicht so.
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4 Dass das Lernniveau absinkt, ist eine reale Gefahr Zwar muss das keineswegs zwangsläufig so sein. Gerade wenn gemeinsames Lernen auf schlecht vorbereitete Schulen in schwierigen Einzugsgebieten trifft, ist dieser Zusammenhang jedoch nachgewiesen.
Vielleicht werden Sie ja denken: Mag durchaus sein, dass Inklusion unterfinanziert ist, dass die Lehrer zu wenig fortgebildet werden. Gut möglich, dass sie sich manchmal etwas überfordert fühlen oder wegen der vielen Arbeit jammern und die Kinder nicht immer optimal fördern. Aber war nicht Schule schon immer ungefähr so? Um eine Schulreform beurteilen zu können, sollten wir sicher nicht nur Lehrer oder Eltern fragen oder Einzelfälle betrachten, sondern auch wissenschaftlich prüfen, ob die Kinder insgesamt dadurch besser oder schlechter lernen können, ob sie sich wohler oder unwohler fühlen und schließlich, ob die Erziehungsziele jenseits des Schulerfolgs besser oder weniger gut erreicht werden können. Kurz: Wird Schule womöglich trotz aller Bedenken, Proteste und unglücklichen Einzelschicksale besser, wenn Kinder mit und ohne Handicap gemeinsam lernen? Oder zumindest nicht schlechter? »Inklusionsfakten« verspricht eine Website gleichen Namens, die für die Idee der (schulischen) Inklusion wirbt. Fein säuberlich abgegrenzt werden diese Fakten von den Mythen der Kritiker (aktuell würde man natürlich sagen: von den Fake News). Das klingt dann z. B. so: »Die Studien zeigen, dass Kinder im Gemeinsamen Unterricht keine schlechteren, teilweise sogar bessere Ergebnisse erzielen. Denn von der inklusiven Didaktik profitieren alle. Das Sozialverhalten und das Selbstkonzept werden gestärkt. Hirnforscher Hüther geht sogar so weit, dass er sagt: ›Inklusion macht schlau‹, da heterogene Gruppen 34
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komplexere soziale Situationen und somit vielfältigere Entwicklungsund Lernmöglichkeiten bieten.« (Reimann 2015)
Wenn das so wäre, wenn diese Aussagen tatsächlich zuträfen, und zwar unabhängig von den Umständen, unter denen sich dieses gemeinsame Lernen vollzieht, erübrigte sich allerdings die ganze Aufregung um schlecht gemachte Inklusion. Es lohnt also, hier genauer hinzusehen. Es erweist sich jedoch keineswegs als trivial, überhaupt herauszubekommen, ob das gemeinsame Lernen von Kindern ohne und mit Förderbedarf gegenüber dem üblichen getrennten Lernen besser ist. Ein Forscher weiß nämlich nie so genau, ob die gefundenen Unterschiede tatsächlich auf dieses Unterrichtsmerkmal zurückzuführen sind. Selbst wenn zwei Gruppen von Kindern scheinbar annähernd gleiche Startvoraussetzungen haben, also einen ähnlichen IQ, ähnliches Vorwissen, ähnliche Sozialkontakte, ähnlich gebildete Eltern mit ähnlichen finanziellen Möglichkeiten, können die einen durchaus eine schlechtere Schule, andere eine besonders engagierte und begabte Klassenlehrerin erwischt haben – völlig unabhängig von der Frage des inklusiven Unterrichts. Diese Unterschiede können, müssen aber nicht zufällig sein. Idealerweise hat ein Forscher also zwei möglichst große Gruppen von Kindern aus zwei geografischen Gebieten, die sich in allen für den Bildungserfolg wichtigen Merkmalen sehr ähnlich sind. Auch sonst sollte möglichst alles gleich sein, außer natürlich, dass die einen Kinder inklusiv unterrichtet werden und die anderen wie üblich separat. Genau diesem Ideal folgt, so gut es geht, eine wissenschaftliche Studie, die den Hamburger Schulversuch zur integrativen Grundschule im sozialen Brennpunkt untersucht. Darin werden sogenannte integrative Regelklassen verschiedener Hamburger Grundschulen mit »normalen« Grundschulklassen aus einem ähnlichen Einzugsgebiet verglichen. Obwohl diese Untersuchung aus den 1990er-Jahren stammt, ist sie auch heute noch höchst relevant. Gleicht das Konzept doch in vielem dem, was heute als flächendeckende Inklusion verwirklicht werden soll: ȤȤ In den Versuchsschulen werden aufsteigend von der ersten Klasse an alle Klassen zu »Integrativen Regelklassen« umgewandelt, d. h.: Dass das Lernniveau absinkt, ist eine reale Gefahr
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Es werden Kinder mit Lern-, Verhaltens- oder Sprachschwierigkeiten nicht aussortiert, sondern bis zum Ende der Grundschulzeit gemeinsam mit allen anderen Kindern unterrichtet. ȤȤ Die »Integrativen Regelklassen« erhalten unabhängig von der tatsächlichen Zahl der Förderkinder pauschal eine halbe Sonderpädagogen-Stelle pro Klasse. ȤȤ Die förderbedürftigen Kinder werden nicht diagnostiziert und etikettiert, aber dennoch zieldifferent unterrichtet, sofern nötig. ȤȤ Nicht aufgenommen werden in diese Klassen alle behinderten Kinder etwa mit körperlichen, geistigen oder Sinnesbeeinträchtigungen, aber auch »lernbehinderte Kinder, deren Behinderung bereits bei der Einschulung erkennbar ist«. (Hinz u. a.1998, S. 15) In Bundesländern mit inklusiven Schulgesetzen läuft Inklusion heute in den Grundschulen teilweise ganz ähnlich ab: ȤȤ Die inklusiven Grundschulen sollen grundsätzlich alle Kinder mit Sprach-, Lern- und Verhaltensproblemen behalten, also jene Kinder, deren Förderbedarf heute gern als Lern- und Entwicklungsstörungen (LES) zusammengefasst wird. ȤȤ Die Grundschulen erhalten oft pauschal eine bestimmte sonderpädagogische Ausstattung, die nicht an Kinder mit diagnostiziertem Förderbedarf gebunden ist (in NRW leider nicht mehr eine halbe Stelle pro Klasse, sondern pro Zug, also für vier Klassen!) ȤȤ Die Förderkinder werden zumindest in den ersten Jahren (Schuleingangsstufe) nicht etikettiert. Ähnlich ist auch, dass die Initiative zu diesen Reformen von oben kommt (auch wenn im Hamburger Schulversuch sich immerhin die Schulen für dieses Projekt bewerben mussten). Im Unterschied zum Versuch mit den integrativen Regelklassen sind die nun ausgerufenen inklusiven Grundschulen nicht nur in sozialen Problemlagen zu finden, aber selbstverständlich dort auch. Außerdem müssen heute viele Schulen zusätzlich die Kinder aufnehmen, die schon vor dem Schuleintritt als behindert eingestuft werden, sofern die Eltern das wünschen. Doch zurück zum Hamburger Schulversuch. Sein erklärtes Ziel war es, den bereits Anfang der 1990er-Jahre aufkommenden Ver36
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dacht zu entkräften, Integration sei nur unter den oben beschriebenen Pionier-Bedingungen möglich: »Integrationsklassen stehen in dem Ruf des Elitären: Sie setzen ausgelesene behinderte Kinder, engagierte Eltern und aufgeschlossene Lehrer voraus. Sofern diese günstigen Voraussetzungen aber entfallen, steht den kritischen Stimmen zufolge auch das Gelingen integrativer Erziehung in Frage. Plakativ formuliert: Integration ist nur machbar mit ›besonderen‹ Kindern, Eltern und Lehrern. […] Der Schulversuch ›Integrative Grundschule‹ will sich dieser Frage in besonderer Weise stellen, ob nämlich Integration auch unter ganz gewöhnlichen, normalen, ›nicht elitären‹ Bedingungen gelingen kann.« Hinz u. a. 1998)
Schon diese Formulierung zeigt recht deutlich, wie sehr sich viele der beteiligten Forscher eine positive Antwort auf diese Frage gewünscht hätten. Das erklärt, weshalb sie sich mit der Interpretation ihrer eigenen Ergebnisse so schwer tun. Was haben die Forscher herausgefunden? 1. Kinder aus integrativen Klassen und Regelschulklassen unterscheiden sich nicht hinsichtlich ihrer eigenen Meinung über das, was sie können (Selbstkonzept der Begabung), sie fühlen sich auch ähnlich wohl und angenommen in ihren Klassen. 2. Schwache Schülerinnen und Schüler, bei denen Förderbedarf vermutet wird, sind allgemein eher unbeliebt. In den integrativen Klassen ist dieser Zusammenhang allerdings nicht so ausgeprägt wie in den Regelklassen. 3. Die integrativen Klassen sind nicht nur erwartungsgemäß heterogener als die Regelschulklassen, sondern schneiden auch insgesamt deutlich schwächer ab in den Leistungstests Deutsch und Mathematik. Dies kann den Wissenschaftlern zufolge nicht allein durch die integrierten Förderkinder erklärt werden. Vielmehr werten es die Forscher ausdrücklich als »besorgniserregenden Befund«. (Hinz 1998, S. 131) 4. Die integrativen Klassen empfehlen am Ende der Grundschulzeit deutlich weniger Kinder für das Gymnasium als die Kontrollklassen, während sich die Zahl der attestierten Förderschüler nach der vierten Klasse nicht unterscheidet. »Die Integrativen Dass das Lernniveau absinkt, ist eine reale Gefahr
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Regelklassen haben die ›Sonderschulbedürftigkeit‹ von Kindern mit Entwicklungsproblemen weder vermindern noch vermeiden können!« (Wocken 2015) 5. Fünf der sieben beteiligten Wissenschaftler stellen außerdem fest: »Günstigstenfalls scheint die Lernentwicklung Starker und Schwacher in homogenen und heterogenen Gruppen gleich zu sein. Es finden sich jedoch Vorteile für die Entwicklung leistungsschwacher und leistungsstarker Kinder in homogeneren Klassen (…)« (Hinz u. a. 1998, S. 111) Während also das soziale Lernen in den integrativen Klassen vergleichsweise gut gelang, erzielten die Kinder in Deutsch und Mathe schlechtere Schulleistungen und erreichten deutlich seltener eine Empfehlung fürs Gymnasium. Die These von der grundsätzlichen Förderlichkeit heterogener Klassen wurde erschüttert. Für die Förderschüler schließlich konnten keine Vorteile, allerdings auch keine Nachteile festgestellt werden – Letzteres vermutlich dank der Betreuung durch die sonderpädagogische Lehrkraft. Immerhin: Hoffnung können die Wissenschaftler aus einem anderen Befund schöpfen: Ob ein Kind nun inklusiv unterrichtet wird oder nicht, ist gar nicht so entscheidend. Wie sich ein Kind entwickelt, hängt nämlich weniger davon ab, ob es in eine integrative oder eine »normale« Klasse kommt, sondern liegt vor allem daran, in welcher Klasse, bei welchen Lehrern, in welcher Schule es landet – unabhängig davon, wie viele Förderkinder dort sind. Als Erklärung für die höchst unbefriedigenden Ergebnisse bietet die Wissenschaftler-Mehrheit die Risikohypothese an, die ich als »Unterrichtsversagen unter schwierigen Bedingungen« zusammenfassen möchte: Das gemeinsame Lernen von auffälligen Kindern in der Regelklasse sei »in einem eher leistungsschwachen Milieu eine weit komplexere Aufgabe als in durchschnittlichen Milieus«, so die Wissenschaftler. Hier sei das Risiko des Scheiterns deutlich erhöht: »Manche Teams stellen sich dieser Aufgabe mit großem Erfolg, andere können eine Drift nach unten bei ihren Kindern nicht aufhalten (…)«. Pikantes Detail: Diese Schlussfolgerung mochten zwei der beteiligten sieben Wissenschaftler nicht mittragen. Andreas Hinz und 38
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Hans Wocken zweifelten lieber im Nachhinein an, dass die beiden verglichenen Gruppen überhaupt gleiche Voraussetzungen hatten. Brauchten sie auf diese Weise doch keine Erklärung mehr dafür zu suchen, weshalb das Leistungsniveau der integrativen Klassen so niedrig war. Ihre Interpretation lautet entsprechend: »Die Kinder der Integrativen Regelklassen sind nicht durch Integration ›schlechter‹ geworden, sondern sie sind trotz Integration ›schlechter‹ geblieben.« (Hinz 1998 S. 123, 125–126) Selbst bei vorsichtiger Auslegung bleibt das Resultat dieses Schulversuchs jedoch, dass Integration gelingen kann – ergänzt allerdings mit dem Nachsatz … aber unter schwierigen Bedingungen nachweislich auch scheitern. Diese schwierigen Bedingungen sind: ȤȤ Integration in sozial benachteiligten Wohngebieten, ȤȤ Einführung von oben herab bei wenig unterstützendem Umfeld, ȤȤ Umstellungsschwierigkeiten der Schulen, ȤȤ pädagogische Ressourcen, die teilweise der schwierigen Aufgabe nicht angemessen sind. Bedenken wir nun, wie schlecht mittlerweile die pädagogische Ausstattung an den inklusiven Grundschulen geworden ist, kann uns angesichts dieser Ergebnisse schon angst und bange werden – ganz besonders für Schulen in Gebieten mit vielen sozial benachteiligten Kindern. Aber das alles ist schließlich schon zwanzig Jahre her. Vielleicht haben die Schulen ja mittlerweile gelernt, wie Inklusion geht. Nur wie? Selbst die Referendare an meiner letzten Schule hatten nach eigener Aussage zum Thema Inklusion lediglich »vielleicht mal ein Seminar gemacht«. Für die Lehrer an den Regelschulen ist alles genauso neu wie damals für die Hamburger Pädagogen, und sie werden, wenn überhaupt, dann allzu oft nur mit Schmalspur-Fortbildungen darauf vorbereitet. Der einzige Unterschied ist: Es gibt mittlerweile differenziertes Arbeits- und Fördermaterial für die Regelschulen. Immerhin. Aber inklusiver Unterricht ist wahrlich mehr als ein paar vereinfachte Aufgaben für Förderkinder. Kein Wunder, dass die Hamburger Studie bei überzeugten Inklusionsanhängern eher selten erwähnt wird (gerne jedoch ältere Untersuchungen, die vorteilhafter ausfielen – siehe Kapitel 12). Irgendwie Dass das Lernniveau absinkt, ist eine reale Gefahr
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scheint sie als peinlicher Ausrutscher zu gelten. Und was taten die Forscher, nachdem sie diese »besorgniserregenden Befunde« entdeckt hatten? Normalerweise wird in solch einem Fall überprüft, ob sich diese Ergebnisse auch an anderen Schulen, mit anderen Kindern nachweisen lassen. Nicht so jedoch hier. Meines Wissens gab es seit den Untersuchungen zum Hamburger Schulversuch in Deutschland lange Zeit keine einzige Untersuchung mehr, die in zwei vergleichbaren Einzugsgebieten die Vor- und Nachteile inklusiven Lernens gegenüber der separierenden Praxis untersucht hätte, schon gar nicht mit dem ambitionierten Ziel, zu überprüfen, ob »Integration auch unter ganz gewöhnlichen, normalen, ›nicht elitären‹ Bedingungen gelingen kann«. An mangelnden Möglichkeiten kann das jedenfalls nicht gelegen haben. In vielen Bundesländern wuchs ja seit der Jahrtausendwende die Zahl der integrativen Schulen. Bremen etwa schloss schon seit 2009 konsequent seine Förderschulen (siehe Kap. 9, Abbildungen 1 und 4). Der Verdacht liegt nahe: Diese Ergebnisse durften auf keinen Fall wiederholt werden! Weder Schulpolitiker noch für die Integration engagierte Eltern und Vereine und leider auch die integrationsfreundlichen Wissenschaftler hatten daran das geringste Interesse. Um Argumente für die Integration zu sammeln, verfielen manche Wissenschaftler dagegen auf eine neue Methode: das SchlechtUntersuchen der Förderschulen – ich muss das leider so deutlich sagen (siehe Kap. 11). Und die Frage, ob Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf an Regelschulen besser lernen können, wurde fortan lieber durch fragwürdige, rein statistische Vergleiche zu klären versucht – hierzu gleich Näheres. Dennoch gibt es wichtige Hinweise, dass der Hamburger Schulversuch samt seinen betrüblichen Ergebnissen kein Ausrutscher ist. In einer der ganz seltenen Untersuchungen, die in Deutschland der Frage nachgeht, wie denn in den weiterführenden Schulen das gemeinsame Lernen gelingt, wird festgestellt: In den Hauptschulen wird die Integration behinderter Kinder als so schwierig angesehen, dass von den beteiligten Akteuren die Frage gestellt wird, »ob Hauptschulen überhaupt für Integrationsmaßnahmen in Frage kommen« (Lauth 2003, S. 35). Zwar werden die Möglichkeiten zur sozialen Integration als »recht günstig« beurteilt, jedoch ein »Absinken des 40
Wahrheiten über Inklusion, die weh tun
(unterrichtlichen) Anspruchsniveaus in Integrationsklassen« beklagt. Begründet wird dies hauptsächlich mit der »insgesamt schwierigen Situation dieser Schulform«, die oft ein problematisches Umfeld habe und mit einer Schülerschaft klarkommen müsse, die ohnehin Lern- und Erziehungsschwierigkeiten hat. (Lauth 2003, S. 34 ff.) Unübersehbar ist hier die Parallele zum Hamburger Schulversuch: In einem schwierigen, sozial benachteiligten, wenig unterstützenden Umfeld und bei insgesamt lernschwacher Schülerschaft wird das Absinken des Leistungsniveaus durch die Integration beklagt! Aktuell brisant ist dieser Befund nicht zuletzt deshalb, weil bis heute die schulische Inklusion neben den Gesamtschulen ganz überwiegend von den auslaufenden Hauptschulen getragen wird (siehe Anhang, Abbildung 10). Natürlich bedeutet das keineswegs, dass gute Inklusion nicht möglich wäre: So fand etwa Lauth bei den Gesamtschulen deutlich zufriedenere Beteiligte. Emotionslose Berichte, die den internationalen Forschungsstand zur Frage wiedergeben, wie sich inklusiver Unterricht auf die Regelschüler auswirkt, lesen sich aber so: »Ein klares Fazit ergibt sich nicht, vielmehr scheint es so zu sein, dass die inklusive Beschulung sich eher nicht generell negativ auf die Leistungen der Schüler ohne sonderpädagogischen Förderbedarf auswirkt.« (Möller 2013, S. 28)
»Eher nicht generell negativ« heißt aber, unter gewissen Umständen sehr wohl. Und zwischen dieser vorsichtigen Einschätzung und der als »Inklusionsfakt« präsentierten Behauptung, es sei erwiesen, »dass Kinder im Gemeinsamen Unterricht keine schlechteren, teilweise sogar bessere Ergebnisse« erzielten, besteht jedenfalls ein offensichtlicher Kontrast. Vollends im Widerspruch zur Forschungslage steht leider die Vermutung, Inklusion mache per se schlau. Tatsache ist: Erst zwanzig Jahre nach dem Hamburger Schulversuch gab es überhaupt wieder eine Studie in Deutschland, die Schulleistungen von Kindern zweier vergleichbarer Gebiete untersuchte, die sich durch gemeinsames bzw. getrenntes Lernen von Kindern mit und ohne Förderbedarf unterschieden. Diesmal allerdings nicht in sozialer Brennpunktlage, sondern in der schönen Ferienregion Dass das Lernniveau absinkt, ist eine reale Gefahr
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Rügen-Stralsund. Auf der beliebten Urlaubsinsel wurden die Kinder mit Lern-, Verhaltens- und Sprachschwierigkeiten nicht mehr, wie sonst in Mecklenburg-Vorpommern üblich, in Förderklassen sortiert, sondern in ihren Klassen belassen. Die Lehrerinnen und Lehrer wurden aufwändig fortgebildet für ihre neue Aufgabe. Nach vier Jahren Grundschule verglichen die Wissenschaftler die Rügener Kinder mit ihren sogenannten statistischen Zwillingen in Stralsund, die sehr ähnliche Voraussetzungen hatten. Was fanden die Forscher beim Leistungsvergleich der Viertklässler? ȤȤ Sowohl in Mathematik als auch in der Rechtschreibung sind die Stralsunder Kinder ohne Inklusion etwas besser als ihre inklusiv unterrichteten Peers auf Rügen. Besonders stark ist der Unterschied in Mathe bei Kindern mit günstigen Lernvoraussetzungen. ȤȤ Leicht im Vorteil sind die Rügener Kinder dagegen in der emotional-sozialen Entwicklung, es herrscht ein etwas besseres Klassenklima und bessere soziale Integration. (Voß u. a. 2016, S. 255 f.) Selbst in dieser Untersuchung zeigt sich also in abgeschwächter Form ein Trend, wie er schon in Hamburg zu beobachten war: eher besseres Klassenklima, eher schlechtere Schulleistungen. Eine weitere Parallele zum Hamburger Schulversuch ist die Interpretationsfreude der Wissenschaftler. Während sie die Vorteile der emotional-sozialen Entwicklung für die Inklusion nicht weiter hinterfragen, argumentieren sie in puncto Schulleistung ungeachtet ihrer statistisch vielfach kontrollierten Kinder, die ländlichen Rügener Schulen könnten etwa aufgrund ihrer geringen Größe und reduzierter Konkurrenz zwischen den Schulen weniger effektiv arbeiten. Nicht das gemeinsame Lernen habe also die Schulen schlechter gemacht. »Das Leistungsniveau der Rügener Kinder entspricht, ›trotz Inklusion‹, dem Landesdurchschnitt, was in den Vorjahren nicht immer der Fall war.« (Voß u. a. 2016, S. 272) Tröstlich immerhin: Bei den als lernbehindert einzustufenden Kindern scheinen sich mit dem auf Rügen getesteten Ansatz echte Vorteile zu ergeben – dazu mehr im nächsten Kapitel. Meine subjektive Sicht auf die Vorteile des gemeinsamen Lernens habe ich ja bereits im ersten Kapitel geschildert. Es bestätigt sich nun, dass die optimale Punktzahl im Rechtschreib-Test nicht unbedingt 42
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zu den Stärken der inklusiven Schulen zählt. Dieses Manko halte ich für eine bildungsnahe Schülerschaft durchaus für verschmerzbar, sofern auf der Habenseite etwa bessere Teamfähigkeit, höhere soziale Verantwortung und gelungenere, weniger durch schulischen Leistungsdruck gegängelte persönliche Entfaltung stehen. Wer allerdings Schulerfolg und Güte einer Schule ausschließlich daran misst, ob am Ende ein Schulabschluss mit den denkbar besten Noten steht, sollte seinen Sprössling eher nicht auf die inklusive Schule schicken. Absolut nicht verantwortlich scheint mir eine schulische Inklusion zu sein, die gerade bei Kindern und Jugendlichen mit ungünstigen Lernvoraussetzungen dazu führt, dass ihre Schulleistungen schlechter werden, sodass manche von ihnen einen unnötig niedrigen Schulabschluss bekommen und andere sogar überhaupt keinen. Dort, wo viele dieser benachteiligten Kinder zusammentreffen, ist diese Gefahr jedoch nachweislich sehr real – zumal dann, wenn sie nicht durch ein Plus bei der pädagogischen Manpower aufgefangen werden (vgl. Anhang V).
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5 Es ist schwer, Kinder mit Handicap in der Regelschule gut zu fördern Dass ein inklusives Setting grundsätzlich den Förderschulen überlegen wäre, wenn es um schulische Bildung, Abschlüsse oder berufliche Chancen geht, kann getrost als Fake eingestuft werden. Falsch ist allerdings auch die umgekehrte Aussage. Es kommt auf das Wie an.
Inklusion soll ja in erster Linie den Kindern mit Handicap zugutekommen: Ihnen werden gern besserer Lernerfolg, Zugang zu den regulären Schulabschlüssen und Chancengerechtigkeit versprochen. Sofern diese Versprechen durch die Regelschule wirklich eingelöst werden, könnte aus gesellschaftspolitischer Perspektive ein etwas schlechteres Abschlusszeugnis für den einen oder anderen Regelschüler ja durchaus ein akzeptabler Preis sein. Schließlich ist es nicht einzusehen, dass die als normal eingestuften Schülerinnen und Schüler um den Preis vergleichsweise gut gefördert werden, dass die Kinder mit besonderen Schwierigkeiten zuerst vom Regelunterricht ausgeschlossen und dann auch noch ihrer Chancen im späteren Leben beraubt werden. Laut Inklusionsfakten ist in dieser Hinsicht jedenfalls alles klar: »Kinder mit Förderbedarf, die im Gemeinsamen Unterricht lernen, sind erfolgreicher und schneiden in ihren Lernleistungen besser ab als vergleichbare Schüler/innen an Förderschulen. Durch die lernreiche Umgebung sind sie zudem eher in der Lage einen Schulabschluss zu erreichen. So haben sie auch bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Dadurch, dass sie nicht auf eine Förderschule geschickt werden, kann sich ein positiveres Selbstkonzept entwickeln.« (Reimann 2014)
Können also wenigstens diese Aussagen wissenschaftlich bestätigt werden? Zumindest für den ersten Satz scheint das zuzutreffen: Für Kinder mit eher leichtem sonderpädagogischen Förderbedarf 44
Wahrheiten über Inklusion, die weh tun
belegt in der Tat die Mehrzahl der Studien kleine positive Effekte in der Leistungsentwicklung in inklusiven Schulen. Auch die bereits vorgestellte Untersuchung an der Ostseeküste von MecklenburgVorpommern findet diese Vorteile für die Kinder mit Förderbedarf. Einschränkend muss jedoch hinzugefügt werden: Dies gilt für Schüler, die am ehesten dem Förderschwerpunkt Lernen zuzuordnen sind. Für die restlichen ca. 60 Prozent der Förderschüler fehlt also dieser Nachweis, darunter für die »klassisch« behinderten Kinder mit starken geistigen oder körperlichen Einschränkungen oder auch für Kinder mit auffälligem Sozialverhalten (siehe Anhang II, Abbildung 7). Weniger rosig sieht es dagegen damit aus, wie behinderte Kinder im inklusiven Unterricht ihre eigenen Fähigkeiten wahrnehmen: Dem etwas besseren Schulerfolg der (lernbehinderten) Förderschüler stehen nachweislich negative Effekte bezüglich der Frage gegenüber, wie eben diese Kinder ihre eigene schulische Leistungsfähigkeit einschätzen (das sogenannte akademische Selbstkonzept). Darüber hinaus gibt es Forschungsergebnisse, die zeigen, dass die soziale Integration der Förderschüler keineswegs immer gut gelingt, insbesondere nicht bei Kindern mit problematischem Sozialverhalten (Stein, Ellinger 2014) und schwachen Schulleistungen (Huber 2009). Auf diese traurige »inklusive« Realität werde ich im nächsten Kapitel noch näher eingehen. Was aber nun den Leistungsvorsprung betrifft, so haben die allermeisten Untersuchungen einen groben Schönheitsfehler: Ihre Ergebnisse wurden überwiegend durch Vergleiche erzielt, bei denen versucht wird, separiert oder gemeinsam unterrichtete Kinder durch Parameter wie den Intelligenzquotienten, das häusliche Einkommen oder den Schulabschluss der Eltern zu parallelisieren. Das Problem bei dieser Methode ist: In Regionen, in denen es die Möglichkeit gibt, Kinder mit Handicap sowohl inklusiv zu unterrichten als auch auf die Förderschule zu schicken, werden diese Kinder keineswegs zufällig auf die Schulformen verteilt. Vielmehr landen die (vermeintlich) schwereren Fälle auf der Förderschule, die leichteren Fälle dagegen im gemeinsamen Unterricht. Genauer gesagt: Es werden tendenziell immer die Kinder an der Regelschule anzutreffen sein, denen das Umfeld die Integration Es ist schwer, Kinder mit Handicap in der Regelschule gut zu fördern
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zutraut oder deren Eltern für diese kämpfen und die in der Regelschule einigermaßen zurechtkommen (und die Schule mit ihnen). In der Förderschule oder Sonderklasse findet man dagegen diejenigen Kinder, denen das Umfeld Integration nicht (oder nicht mehr) zutraut oder die in der Regelschule nicht mehr klar kommen (oder die Schule mit ihnen). Kurz: In der Praxis »wird zwischen ›integrierbaren‹ und ›nicht integrierbaren‹ Kindern unterschieden« (Laubenstein 2015 u. a., S. 93). Vieles spricht deshalb dafür, dass sich auch die »merkmalskontrollierten« Kinder unterscheiden: Manche könnten etwa aufgrund psychischer Voraussetzungen oder ungünstiger Bedingungen im Verlauf der Schulzeit Lernblockaden oder Lernstörungen entwickelt haben, sie könnten zudem an AD(H)S leiden, schwierig im Sozialverhalten sein oder umgekehrt durch Familie oder Freunde besonders gut unterstützt werden und dergleichen mehr. Die Studien selbst weisen in der Regel darauf hin, dass die erfassten Parameter nur deutlich weniger als die Hälfte der unterschiedlichen Schulleistungen erklären können! Wie komplex in der Regel die Zusammenhänge sind, soll hier an einem nicht fiktiven Beispiel illustriert werden. Ein kleiner Junge, nennen wir ihn Max, wird schon im integrativen Kindergarten auffällig: Er wächst nur langsam, lernt erst im dritten Kindergartenjahr mühsam sprechen, rennt fast ständig durch die Gegend oder klettert irgendwo hinauf, bleibt kaum länger als wenige Minuten bei einer Sache, akzeptiert scheinbar keine Regeln und hat häufig Streit mit anderen Kindern, wobei er dann schubst, tritt oder gar beißt. Als er eingeschult werden soll, betont der Kindergarten, wie wichtig für ihn eine kleine, beschützte Lerngruppe mit viel individueller pädagogischer Unterstützung sei und empfiehlt vehement die Sonderschule für Geistige Entwicklung. Der ermittelte IQ scheint diese Empfehlung zu stützen. Die Pflegeeltern des Jungen sind jedoch skeptisch. Sie erkämpfen zunächst, dass ihr Sohn entgegen der damaligen politischen Devise zurückgestellt wird – kein einfaches Unterfangen, obwohl das sehr klein gebliebene, offensichtlich entwicklungsverzögerte Kind nur deshalb schon eingeschult werden sollte, weil es als Frühchen noch knapp vor dem Stichtag geboren worden war. Im Laufe des zusätz46
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lichen Kita-Jahres besuchen sie verschiedene Förder- und Regelschulen, sprechen mit Schulleiterinnen und Lehrern, hospitieren im Unterricht. Umfangreiche Tests beim Kinder- und Jugendpsychiater folgen. Schließlich entscheiden sie sich nach langen häuslichen Diskussionen für eine glücklicherweise ganz in ihrer Nähe liegende Grundschule, die schon seit den 80er-Jahren mit besonderem pädagogischem Konzept integrativ unterrichtet. Groß ist die Freude, als sie dort auch einen Platz erhalten – obwohl selbst diese Schule zunächst skeptisch ist, ob sie denn der geeignete Förderort sei. Mit Unterstützung des Jugendamtes können sie zudem erreichen, dass das Kind von Beginn an durch eine Schulbegleiterin gestützt wird. Diese Schulbegleiterin erweist sich schon nach einem Jahr als überflüssig, erleichtert den Start jedoch enorm. Die Eltern bemerken jedoch, wie schwer sich ihr Sohn mit dem Schreiben- und LesenLernen in der Schule auch noch im zweiten Schuljahr tut. Als er anfängt, die schulischen Übungen dazu zu verweigern, packt die Pflegemutter, zufällig eine Lerntherapeutin, ihr Material für Legastheniker aus – damit wird nun systematisch am Wochenende geübt. Der Erfolg stellt sich ein, wenn auch langsam. Heute ist der Junge nach über drei Jahren Schuleingangsstufe offiziell als lernbehindert eingestuft, spielt begeistert Fußball und erkämpft sich in der Schule wie auch zu Hause täglich mühsam seine kleinen Lernfortschritte. Unter ungünstigeren Umständen würde er dagegen entweder die Förderschule für Geistige Entwicklung besuchen oder aber auf die Grundschule im Einzugsbereich gehen, die mit Inklusion noch kaum Erfahrung und wenig Ressourcen dafür hat. In beiden Fällen wäre es aus elterlicher Sicht sehr fraglich, ob das Kind heute noch ähnlich fröhlich-kämpferisch auf die Welt zugehen könnte, ähnlich viele Freunde oder doch zumindest Fußball-Kumpels hätte und in der Lage wäre, wie jetzt jeden Abend mehrere Seiten aus einem groß gedruckten Kinderbuch vorzulesen oder im Hunderterraum leidlich gut zu addieren. Durch Kategorien wie »sozioökonomischer Status« oder »Nationalität« lassen sich bei Max die günstigen Bedingungen (elterliche Unterstützung, erfahrene integrative Schule mit – noch – vergleichsweise guter Ausstattung) ebenso wenig erfassen wie durch das Kriterium IQ die schwierigen Es ist schwer, Kinder mit Handicap in der Regelschule gut zu fördern
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persönlichen Voraussetzungen (hohe Bedeutung stabiler Beziehungen sowie gleichzeitig das Bedürfnis nach Autonomie aufgrund der Erfahrungen als Pflegekind, Sprach- und Entwicklungsstörungen, stark ausgeprägtes ADHS usw.). Gut möglich, dass dieses Kind ohne die beschriebenen günstigen Umstände tatsächlich besser auf der Schule für geistig Behinderte aufgehoben gewesen wäre! Die oben dargestellten Einwände gelten generell für die Technik, mittels »Merkmalskontrolle« Förderschüler in inklusiven Schulen mit Förderschülern in Sonderschulen zu vergleichen. Das Problem ist seriösen empirischen Wissenschaftlern bekannt. Erst wenn »in größerem Umfang auch umfangreicher beeinträchtigte SchülerInnen inklusiv beschult werden«, könne damit gerechnet werden, dass sich auch das Klientel der Kinder mit Handicap an Förder- und Regelschulen angleicht, so zwei Bielefelder Forscherinnen, die derzeit selbst an einer wichtigen vergleichenden Studie zur Inklusion arbeiten. »Ob sich der bislang gefundene Vorteil inklusiver Settings dann immer noch zeigt oder relativiert werden muss, bleibt abzuwarten.« (Wild, Lütje-Klose 2014)
Aber was ist mit den versprochenen regulären Schulabschlüssen für die Förderschüler? Obwohl ich selbst aus der Praxis spektakuläre Fälle von erstaunlicher Entwicklung einzelner Kinder kenne, die als lernbehindert in die weiterführende Schule kamen und sie später mit einem mittleren Schulabschluss (einmal nach meiner Erinnerung gar: mit Fachabitur) verließen, lautet die schmerzliche Antwort: Bewiesen ist nichts. Eher im Gegenteil. Angesichts der in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich hohen Quote von Kindern, die eine Förderschule besuchen, müssten sich hierzu eigentlich Hinweise aus der Statistik ergeben: hoher Anteil von Kindern an Förderschulen, hohe Zahl von Jugendlichen ohne Abschluss; niedrige Quote von Kindern und Jugendlichen an Förderschulen, wenige Schulabgänger ohne regulären Abschluss. Leider ist jedoch genau dieser Zusammenhang nicht nachweisbar: In Bremen lernen nur noch 1,5 Prozent der Kinder an Förderschulen, 48
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Abbildung 1: Die »inklusivsten« Bundesländer 2014 und ihre Jugendlichen ohne Schulabschluss; Datenquelle: KMK Dok. 210 und 211 (2016)
aber 7,3 Prozent aller Jugendlichen schaffen nicht den Hauptschulabschluss. In Schleswig-Holstein werden nur noch 2,3 Prozent der Kinder separat unterrichtet, 7,6 Prozent verlassen die Schule ohne Abschluss. Berlin hat mit 9,2 Prozent gar einen Spitzenplatz bei den Abgängern ohne Abschluss. Verglichen mit deutschlandweit 5,8 Prozent haben die drei inklusiven Spitzenreiter also überdurchschnittlich viele Jugendliche ohne Schulabschluss. Rühmliche Ausnahme bilden hier Hamburg und Niedersachsen (vgl. Abbildung 1). Nun haben die Stadtstaaten zweifellos eine für die Bildungsaufgabe besonders herausfordernde Bevölkerungsstruktur. Es wäre nicht fair, sie mit den Flächenstaaten zu vergleichen. Deshalb sind hier vielleicht weniger die absoluten Zahlen als die Veränderungen interessant. Haben also Länder, die in den letzten Jahren besonders große inklusive Fortschritte gemacht haben, parallel auch die Quote der Jugendlichen ohne Abschluss verringern können? Auch hier glänzt allein Hamburg, das 2014 fast 60 Prozent weniger Jugendliche ohne Schulabschluss hatte als noch 2002. Schon auf Platz zwei folgt allerdings Bayern, bei praktisch unverändertem Anteil von Kindern, die eine Förderschule besuchen. Ganz vorne mit dabei ist außerdem Niedersachsen bei mäßig verringerter Es ist schwer, Kinder mit Handicap in der Regelschule gut zu fördern
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Quote von Schülern an Förderschulen, aber auch das Saarland und Hessen – Länder, in denen der Anteil der Schüler in Förderschulen in diesem Zeitraum sogar deutlich anstieg! Es bedarf keiner raffinierten statistischen Berechnungen, um zu erkennen: Verbesserungen bei den Schulabschlüssen können mit oder ohne Verbesserungen bei der Inklusion verwirklicht werden. Dass das eine mit dem anderen etwas zu tun hat, ist derzeit nicht nachweisbar. Auch die versprochenen besseren Ausbildungsplätze (vgl. Abbildung 2) erweisen sich bei genauerer Betrachtung eher als leeres Versprechen. In Deutschland gibt es hierzu jedenfalls keine Studie. In der Schweiz gab es dagegen eine Untersuchung zu »Langzeitwirkungen schulischer Integration« (Eckhart 2011), die seither gern zitiert wird, wenn es um »Chancengerechtigkeit« und Inklusion geht.
Abbildung 2: Die Besten beim Verringern der Schulabgängerquote ohne Abschluss (2002–2014); Datenquelle: KMK Dok. 210 und 211 (2016), eigene Berechnung
Die Wissenschaftler finden in dieser Studie unter anderem heraus, dass der Besuch einer Sonderklasse für Lernbehinderte »mit hoher Wahrscheinlichkeit« dazu führt, dass ein junger Erwachsener geringere Chancen auf einen hochwertigen Ausbildungsplatz hat. Daraus folgern die Autoren dann: 50
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»Die Integration der bisher als ›lernbehindert‹ diagnostizierten Kinder und Jugendlichen in die Regelklassen und damit die Abschaffung der Sonderklassen für Lernbehinderte ist unter dem Aspekt der Chancengerechtigkeit unumgänglich.« (Eckhart u. a. 2011, S. 112)
Wie kommen die Autoren zu dieser kühnen Schlussfolgerung? Ich habe mir die Mühe gemacht, diese Untersuchung genau zu lesen, und Überraschendes dabei festgestellt: Die Studie vergleicht die Schul- und Ausbildungskarrieren von sogenannten Risikokindern, die einen relativ niedrigen IQ und schlechte Sprachkenntnisse aufweisen sowie sozial benachteiligt sind. Diese Kinder wurden in der zweiten Grundschulklasse ermittelt und in ihrer Schulkarriere wissenschaftlich begleitet. Ein Teil dieser Kinder schaffte trotz der ungünstigen Voraussetzungen die Regelschule, der andere Teil wurde dagegen irgendwann an die Sonderklasse verwiesen. Als junge Erwachsene wurden die ehemaligen Risikoschüler dann erneut interviewt. Ergebnis: Diese Kinder waren als junge Erwachsene beruflich dann erfolgreicher, wenn sie trotz ihrer ungünstigen Ausgangsbedingungen mit den Anforderungen der Regelschule klargekommen sind. Umgekehrt waren die Kinder, die teilweise in Sonderklassen unterrichtet wurden, weil sie den Anforderungen der Regelschule offenbar nicht genügten, später auch beruflich weniger erfolgreich. Das ist nun alles andere als ein überraschendes Ergebnis. Zumal die Studie eben nicht nachweist, dass diese als lernbehindert eingestuften Kinder mehr gelernt oder erfolgreicher den Berufseinstieg bewältigt hätten, wenn sie trotz ihrer Schulschwierigkeiten weiter an der Regelschule unterrichtet worden wären. Genau dies müsste man aber doch erwarten dürfen, wenn behauptet wird: »Mit der Einweisung von sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen in Sonderklassen für Lernbehinderte wird Chancengerechtigkeit verhindert.« (Eckhart u. a. 2011, S. 112) Diese pauschale Behauptung ist also empirisch keineswegs gesichert. Zahlreiche Beobachtungen aus der Praxis stehen ihr sogar entgegen. Richtig ist: Schlecht vorbereitete Inklusion kann gerade am Ende der Schulzeit Chancen auch ganz konkret verbauen. Während Förderschulen in der Regel über Jahrzehnte ein Netzwerk für AusEs ist schwer, Kinder mit Handicap in der Regelschule gut zu fördern
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bildungsmöglichkeiten und Unterstützung bei der Lebensführung aufgebaut haben, von dem gerade diejenigen Jugendlichen profitieren, die keinen regulären Schulabschluss schaffen, stehen die Regelschulen bei den Hilfen zum Berufseinstieg für die Jugendlichen mit Behinderung häufig erst ganz am Anfang. All dies zeigt nun nicht etwa, dass schulische Inklusion sinnlos wäre. Wohl aber, dass wir uns über den Vorteil der selbstverständlichen Teilhabe hinaus nicht allzu viel von ihr versprechen sollten, sofern wir es nicht schaffen, die Bedingungen für die inklusiven Schulen erheblich zu verbessern. Einmal mehr wird deutlich, dass die möglichen Vorteile des gemeinsamen Lernens kein Selbstläufer sind, sondern hart erarbeitet werden müssen.
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6 Förderkinder werden in der Regelklasse leicht zu Außenseitern Leider ist das keine Erfindung der Inklusionsgegner, sondern vielfach belegte wissenschaftliche Tatsache. Besonders trifft es auf Kinder und Jugendliche zu, die kognitiv nicht mithalten können oder Schwierigkeiten im Sozialverhalten haben.
Max lädt jährlich zu seinem Geburtstag bis zu zwanzig Kinder ein. Fast alle kommen und genießen einen attraktiven Nachmittag beim Hallenfußball oder an der Kletterwand etc. Er selbst wird allerdings nur von zwei bis drei Kindern zum Geburtstag eingeladen, davon ist eines ohne Förderbedarf. Gleichwertige Freundschaftsbeziehungen sehen anders aus. Immerhin: Dass die meisten Kinder seiner Einladung folgen, zeigt deutlich, dass er nicht isoliert ist oder gar abgelehnt wird. Nicht allen inkludierten Förderkindern geht es so gut. Der Bildungsforscher Christian Huber befragte in zufällig ausgewählten vierten Klassen nordrhein-westfälischer Grundschulen insgesamt 650 Kinder zur Beliebtheit oder Ablehnung ihrer Klassenkameraden, darunter waren 110 mit sonderpädagogischem Förderbedarf (Lernen, Sprache, emotionale und soziale Entwicklung). Ergebnis: Die Förderschüler sind deutlich weniger beliebt als ihre Mitschüler ohne besonderen Förderbedarf. Zwar gibt es auch beliebte Förderkinder, aber nur 16 Prozent – bei den »Regelkindern« sind es gut doppelt so viele. Am brisantesten ist jedoch: Knapp die Hälfte aller untersuchten Förderkinder wurde von ihren Klassenkameraden abgelehnt. Das Risiko, sozial abgelehnt zu werden, sei bei Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf rund dreimal so hoch wie bei Schülern ohne besonderen Förderbedarf! Huber bilanziert deshalb nüchtern: »Die günstigen Befunde zur sozialen Integration von Schülern mit Sonderpädagogischem Förderbedarf, die im Rahmen der Schulversuche in Förderkinder werden in der Regelklasse leicht zu Außenseitern
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Hamburg, Bremen, Berlin und Bonn veröffentlicht wurden, ließen sich in der hier skizzierten Studie […] nicht wiederholen.« (Huber 2009, S. 244)
Der Wuppertaler Inklusionsforscher überprüfte im Rahmen seiner Studie auch die zentrale integrationspädagogische Grundannahme, wonach sich eine heterogene Lerngruppe positiv auf die soziale Integration auswirkt. Es stellte sich heraus, dass auch dies eher inklusives Wunschdenken ist: In stark heterogenen Gruppen wurden die Förderschüler sogar häufiger abgelehnt als in den eher homogenen Klassen – wenn auch statistisch nicht signifikant. Nachdem also im Hamburger Schulversuch zur Integration im sozialen Brennpunkt bereits das Dogma ins Wanken geriet, Heterogenität wirke sich grundsätzlich positiv auf die Leistungsentwicklung aus, erwischt es nun auch die Idee »soziale Integration durch Heterogenität«. Als pädagogischen Praktiker verwundert mich das freilich nicht: Nach meiner Erfahrung kommt es bei heterogenen Lerngruppen besonders darauf an, dass sie ausgewogen zusammengesetzt sind. Einige leistungsstarke, sozial anerkannte Schülerinnen und Schüler als Zugpferde, ein breites Mittelfeld und leistungsschwache Schüler, die eine relevante Minderheit bilden – sowie eine ähnliche Verteilung der sozialen Kompetenzen (möglichst jedoch nicht bei den gleichen Kindern): Bei guter Klassenführung kann unter diesen Voraussetzungen die soziale Integration erleichtert sein, bei gutem differenziertem Unterricht, genügend individueller Förderung und Team-Teaching auch die Leistungsentwicklung positiv verlaufen. Heterogenität an sich ist mit Sicherheit keine hinreichende Bedingung, um ein besseres Klassenklima oder bessere Lernleistungen zu erreichen. Liegt es nun aber am sonderpädagogischen Förderbedarf selbst oder gar am Etikett »Förderschüler«, dass die Kinder ausgegrenzt werden? Eher nicht, sagt die Forschung. Huber entdeckte, dass es vor allem zwei Merkmale sind, die mit sozialer Ablehnung einhergehen: schlechte Schulleistungen und eine niedrige Leistungsmotivation. Internationale Studien dagegen betonen eher ein problematisches Sozialverhalten bei den schlecht integrierten Schülern. Verschiedene Studien weisen aber einen engen Zusammenhang nach zwischen dem Gefühl der Kinder, von der Lehrperson angenommen zu sein, und ihrer sozialen Integration in der Klasse. 54
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Huber warnt, eine schlechte soziale Integration der Förderschüler habe einen realen und kaum abschätzbaren Einfluss auf das tägliche Leben und die Persönlichkeitsentwicklung der betroffenen Kinder. Folgerichtig mahnt er bereits 2009: »Sollte sich die Tendenz einer hohen sozialen Ablehnung von Schülern mit Sonderpädagogischem Förderbedarf im Gemeinsamen Unterricht in weiteren Untersuchungen bestätigen, kann und muss kritisch diskutiert werden, ob Gemeinsamer Unterricht wirklich für alle Schüler mit Sonderpädagogischem Förderbedarf eine reale Chance auf soziale Gleichbehandlung bedeutet.« (Huber 2009, S. 247)
Mittlerweile wurden seine traurigen Ergebnisse in weiteren Studien eindeutig bestätigt, für vierte Klassen ebenso wie für erste Klassen und auch für die Sekundarstufe (Huber 2012, Krull 2014, Schwab 2013). Sie decken sich zudem mit internationalen Befunden. Wenig tröstlich ist da, dass eine Forschergruppe bei 423 Drittklässlern in Nordrhein-Westfalen herausfindet, dass alle Kinder, auch die lernbehinderten, einen »hohen Grad an Wohlbefinden und sozialer Integration« bekunden – an Regelschulen ebenso wie an Förderschulen. Die Autoren selbst verweisen darauf, dass sich Kinder in diesem Alter meist keine realistischen Vorstellungen von ihrer Beliebtheit machen und vermuten, »dass sich soziale Vergleichsprozesse und Stigmatisierungserfahrungen« bei Kindern mit Lernbehinderung »erst später in deren Selbsteinschätzung und im Befinden niederschlagen«. (Wild u. a. 2015) Was ist nun seitdem geschehen? Wird in der Lehrerausbildung und Fortbildungsangeboten den aufgedeckten Schwierigkeiten Rechnung getragen, wird in der schulischen Entwicklung und der Unterrichtspraxis mit vereinten Kräften versucht, der drohenden sozialen Ablehnung der Förderschüler entgegenzuwirken? Klaus Klemm und Ulf Preuss-Lausitz erwähnen in ihrem Gutachten Auf dem Weg zur schulischen Inklusion in Nordrhein-Westfalen für das Schulministerium das Problem erst gar nicht. Studien werden nur dann zitiert, wenn sie positive Ergebnisse haben (vgl. Klemm & Preuss-Lausitz 2011). In der Lehrerausbildung immerhin werden mittlerweile zumindest die Befunde erwähnt. Welche pädagogischen Konsequenzen Förderkinder werden in der Regelklasse leicht zu Außenseitern
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daraus zu ziehen sind, ist allerdings noch gar nicht umfassend erforscht: »Ich fürchte, dass wir in Wuppertal zur Zeit einer der ganz wenigen Standorte sind, die sich mit der Förderung sozialer Integration in der inklusiven Schule befasst«, so Christian Huber auf meine Anfrage. Entsprechend ist das Thema auch noch nicht in der Fortbildung angekommen. Dabei sind die Ansätze der Forschungsgruppe Hubers durchaus vielversprechend. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass sich durch gezielte, öffentliche und positive Rückmeldung des Lehrers im Klassenverband etwas für die soziale Integration leistungsschwacher Schülerinnen und Schüler mit schwierigem Verhalten tun lässt. Experimentell konnten sie mittlerweile auch nachweisen, dass Lob und Anerkennung seitens der Lehrkraft signifikant die soziale Bewertung von (fiktiven) Klassenkameraden beeinflusst. Allerdings scheint negatives Feedback noch viel stärker zu wirken. »Dieser Umstand würde bedeuten, dass Lehrkräfte mit einer negativen Äußerung über ein Schulkind mehr Schaden anrichten können, als sie auf der anderen Seite mit einer vergleichbar starken, positiven Äußerung wieder gutmachen können.« (Huber u. a. 2015, S. 61)
Im Unterrichtsalltag ist das sicher für die Pädagogen keine leichte Aufgabe: Sind sie doch gehalten, gerade den »Problemkindern« möglichst viele positive und wenige negative Rückmeldungen zu geben, aber gleichzeitig stets authentisch sowie gerecht gegenüber den anderen Kindern in der Klasse zu bleiben. Möglich wird das sicher nur dann, wenn für alle Kinder der Blick nicht auf eine zu erreichende Klassennorm, sondern auf individuelle Lernfortschritte gerichtet ist. Einstweilen bleibt es jedoch ein empirisch gut belegter Befund, dass Förderkinder in inklusiven Schulen besonders von Ausgrenzung bedroht sind. Eltern behinderter Kinder werden nur dann ihren Nachwuchs beruhigt auf eine Regelschule schicken können, wenn diese Schule die soziale Integration der Kinder sichtlich erfolgreich fördert.
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7 Im gemeinsamen Unterricht fehlt oft das Gemeinsame Zumindest in den weiterführenden Schulen gibt es noch zu wenig Ideen, wie bei sehr unterschiedlichen Fähigkeiten sinnvoll zusammen gelernt werden kann. Häufig wird aber auch ignoriert, dass sich die Interessen behinderter und nicht behinderter Jugendlicher teilweise auseinanderentwickeln.
Der knapp zehnjährige lernbehinderte Max ist zum Geburtstag des zwölfjährigen Leon eingeladen. Max kennt Leon noch aus der Grundschulzeit, die beiden waren in der gleichen, altersgemischten Klasse. Er ist dem geistig behinderten Leon mit Down-Syndrom ein treuer Freund geblieben, auch nach dessen Wechsel auf die weiterführende integrative Schule. Gern feiert er mit ihm einen klassischen Kindergeburtstag mit Topfschlagen und Schatzsuche. An diesem Geburtstag nehmen acht Kinder teil – vier oder fünf mit DownSyndrom, nur eines nicht behindert. So etwas sollte nach Meinung vieler Vertreter der »Pädagogik der Vielfalt« eigentlich gar nicht sein. Ist doch das erklärte Ziel möglichst viel Gemeinsamkeit zwischen ganz verschiedenen Menschen. Hoch- und Tiefbegabt sollte also eigentlich befreundet sein. Keineswegs sollten sich jedenfalls die Kinder nun selbst nach Behinderungsart sortieren. Diese Denkweise ignoriert jedoch, dass sich Jugendliche in Peergroups zusammenfinden. Peers sind per Definition Gruppen mit gemeinsamen Interessen und ähnlichem sozialem Status: »Peer-Gruppen charakterisieren sich weniger durch das gemeinsame Lebensalter ihrer Mitglieder, als durch das für die Austauschprozesse konstitutive Prinzip der Gleichrangigkeit. Es ist daher für jede Interaktion in Peer-Gruppen von entscheidender Bedeutung, dass sie sich aus Mitgliedern zusammensetzt, die sich auf Augenhöhe begegnen und Im gemeinsamen Unterricht fehlt oft das Gemeinsame
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sich in Wissen, Können und Entscheidungsbefugnissen nicht nennenswert unterscheiden.« (Wikipedia)
Bei Kindern und Jugendlichen mit Förderbedarf ist das selbstverständlich nicht anders. Und natürlich hat das Handicap zwar keineswegs immer, aber doch häufig Einfluss darauf, ob sie sich »in Wissen, Können und Entscheidungsbefugnissen« ähneln. Schon allein deshalb scheint es mir so wichtig, dass es an einer inklusiven Schule nicht nur vereinzelt Kinder mit Förderbedarf gibt. Ebenfalls gern verschwiegen wird, dass die teilweise immer unterschiedlicher werdenden Kompetenzen und Interessen der Jugendlichen mit und ohne Förderbedarf ein echtes pädagogisches Problem an der weiterführenden Schule darstellen. Es ist wieder das Verdienst Lauths, dies aufgedeckt zu haben. So stellt er fest: 1. Das gemeinsame Lernen ist quantitativ wie qualitativ ausbaufähig: In den höheren Klassenstufen findet es immer seltener statt, es sinkt von anfangs fast 90 Prozent auf 40–60 Prozent in den Jahrgängen 9 und 10, wobei es sich dort meist auf die praktischen Fächer wie Sport, Kunst oder Musik beschränkt. Außerdem besteht das Gemeinsame des Unterrichts immer häufiger »vor allem darin, dass die behinderten Schülerinnen und Schüler im gleichen Raum anwesend sind und teilweise unter direkter Aufsicht […] der gleichen Tätigkeit wie die nicht behinderten Kinder nachgehen (z. B. Malen, Sport).« (Lauth 2003, S. 48) 2. Gerade für Jugendliche, die aufgrund ihrer Behinderung nicht zielgleich unterrichtet werden können, ist das gemeinsame Lernen in den höheren Jahrgängen oft auch weniger sinnvoll. Denn je älter die Kinder und Jugendlichen werden, desto unterschiedlicher entwickeln sich ihre Interessen, desto wichtiger werden die Normen der eigenen Peergroup. Immer stärker spielt es auch im sozialen Miteinander der Schülerinnen und Schüler eine Rolle, auf welchem kognitiven Niveau sie kommunizieren können, welche Sport- oder Vergnügungsveranstaltungen sie selbstständig oder nur in Begleitung besuchen wollen oder können usw. Konsequenz: Für behinderte und nicht behinderte Jugendliche ergeben sich zunehmend »unterschiedliche Entwicklungsaufgaben und -themen« (Lauth 2003, S. 51). 58
Wahrheiten über Inklusion, die weh tun
Hier werden ganz grundsätzliche Schwierigkeiten mit dem Gemeinsamen des Lernens angesprochen, die nach meinen Erfahrungen in der Praxis selbst in den Vorzeige-Schulen der Integration noch eher unbefriedigend gelöst sind. So kann ich mich noch gut erinnern, welche Wohltat es für alle Beteiligten war, als ich ein Schuljahr lang die kognitiv stärker eingeschränkten Jugendlichen eines Jahrgangs getrennt von den Regelschülern zieldifferent in Naturwissenschaften unterrichten konnte. Während also die einen über Atommodellen saßen, konnte ich den anderen die Bedeutung der Aggregatzustände und ihre Umwandlung an Alltagsphänomenen begreifbar machen. Während die anderen Redox-Gleichungen aufstellten, konnte ich mit meinen Schülern in Ruhe den gefahrlosen Umgang mit Feuer üben, angefangen bei der Aufgabe, ein Streichholz selbst zu entzünden. Gemeinsam war dieser Unterricht dann jedoch gerade nicht für alle, gleichwohl erschien er mir – Stigmatisierung hin oder her – höchst sinnvoll. Sinnvoller jedenfalls als beim Thema Atommodelle den Umgang mit einem Zirkel zu üben oder das Ausschneiden von Kreisen mittels Schere – was natürlich durchaus auch seinen Sinn, leider aber nur wenig mit dem Thema des Unterrichts zu tun gehabt hätte. Es sei hinzugefügt: Dieses Problem betrifft natürlich nur Kinder und Jugendliche mit deutlichen kognitiven Einschränkungen. Aber es kann wenig befriedigen, wenn für diese Gruppe einerseits wie für alle anderen Kinder auch Inklusion eingefordert wird, gleichzeitig jedoch überzeugende Unterrichtskonzepte in der Sekundarstufe weitgehend fehlen. Es ist wissenschaftlich bestätigt, dass gerade die inklusive Unterrichtsentwicklung noch eine Großbaustelle ist, an der viel zu wenig gearbeitet wird. (Laubenstein u. a. 2015, S. 82 f.) Pädagogisch gelöst werden kann das Problem nur durch undogmatische und flexible Settings, die ganz verschiedenartige Beteiligungen am Unterricht ermöglichen, aber ebenso das zeitweise getrennte Lernen. Am besten für alle oder zumindest viele Schülerinnen und Schüler, damit es nicht zum Alleinstellungsmerkmal für behinderte Kinder wird, sondern tatsächlich weitgehend normal. Selbstredend ist das nur möglich, wenn zum schönen Konzept dann auch die Pädagoginnen und Pädagogen aus Fleisch und Blut in ausreichender Zahl kommen, die es zusammen mit den Schülerinnen und Schülern verwirklichen können. Im gemeinsamen Unterricht fehlt oft das Gemeinsame
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8 Ein paar Förderkinder machen noch keine inklusive Schule Viele Schulen glauben selbst nicht daran, dass sie allen Kindern gerecht werden können. Ob sie schon lange oder erst seit eher kurzer Zeit Förderkinder aufnehmen, spielt dabei keine Rolle
Schwierigkeiten hin oder her: Wer ein sonderpädagogisch förderbedürftiges Kind hat, will wissen, wie weit eine infrage kommende Regelschule schon auf dem inklusiven Weg ist. Nur so lässt sich ja abschätzen, ob das Kind eine gute Chance hat, hier angemessen gefördert zu werden und sich wohlzufühlen. Eine Forschergruppe um Desiree Laubenstein (2015) hat dazu 148 Schwerpunktschulen in Rheinland-Pfalz befragt, an denen beeinträchtigte Kinder überwiegend mit dem Förderschwerpunkt Lernen gemeinsam mit nicht behinderten Kindern unterrichtet werden. Die kurze Antwort: Die Schulleiter selbst sehen ihre eigene Schule durchschnittlich auf halbem Weg. Noch weniger schmeichelhaft als diese Selbsteinschätzung sind die Daten der Berliner Schulinspektion. Sie konnte bei über 25.000 beobachteten Unterrichtssequenzen gerade mal bei 30 Prozent der Stunden überhaupt erkennen, dass im Unterricht auf verschiedene Lernniveaus eingegangen wurde (Müller & Prengel 2013, S. 17). In der aktuellen Untersuchung aus Rheinland-Pfalz werden jedoch gravierende Unterschiede zwischen den einzelnen Schulen deutlich: Während sich etwa die Hälfte der Schulen unterdurchschnittlich inklusiv einschätzt, die andere Hälfte als überdurchschnittlich, gibt es auch Schulen, die auf dem Weg entweder schon sehr weit gekommen sind oder aber erst ganz am Anfang stehen. Das wirft natürlich die Frage auf, weshalb die Schulen so unterschiedlich weit sind. Die Vermutung liegt nahe, dies sei einfach Ergebnis der unterschiedlichen Zeitdauer, die die Schulen schon unterwegs sind. 60
Wahrheiten über Inklusion, die weh tun
Erwartungsgemäß sind Schulen, die schon seit über zehn Jahren Förderkinder aufnehmen, tatsächlich weiter auf ihrem inklusiven Weg als Schulen mit kürzerer Erfahrung. Überraschenderweise zeigt sich diese Tendenz jedoch nicht, wenn nur die Schulen betrachtet werden, die laut eigener Einschätzung erst am Anfang des Wegs sind: »Inklusivität 10–20 % verteilt sich in etwa gleich groß über die Ernennungsjahre.« Die Wissenschaftler finden »keinen Kausalzusammenhang zwischen der Dauer der Ernennung und der Selbsteinschätzung der Inklusivität« (Laubenstein u. a. 2015, S. 123 f.). Besonders deutlich zeigt sich das daran, dass es Schulen gibt, die bereits seit über zehn Jahren Förderkinder aufnehmen, jedoch immer noch fast am Anfang des inklusiven Wegs stehen! Wie ist dann aber die unterschiedlich gute Entwicklung zu erklären? Hinweise finden sich hier durch eine Betrachtung nach Schulform: In der Gruppe der wenig inklusiven Schulen sind alle beteiligten Schulformen bunt gemischt: von der Grundschule über die Gesamtschule bis zur Realschule plus (neue Schulform, gebildet aus Hauptund Realschule). Ganz anders jedoch bei den Schulen, die nach eigener Einschätzung schon zu 80–90 Prozent inklusiv sind: Hier finden sich genau 13 Grundschulen und zwei integrierte Gesamtschulen. Mal wieder scheinen es also am ehesten die Grundschulen zu sein, die eine zufriedenstellende inklusive Entwicklung hinbekommen, während dies in der Sekundarstufe lediglich mancher Gesamtschule gelingt. Untermauert wird diese These auch durch weitere Daten: Immerhin die Hälfte aller Grundschulen sehen die Erwartung erfüllt, dass sie durch die Inklusion »allen Schülerinnen und Schülern besser gerecht werden« kann – bei den weiterführenden Schulen sind es ganze 20 Prozent. Sekundarschulen hospitieren seltener an anderen inklusiven Schulen, lassen sich weniger beraten und bieten weniger Fortbildungen für die Kollegien an. In den Grundschulen wird dagegen die Teamarbeit deutlich positiver beurteilt, und 16 Prozent der Grundschulen sehen bereits die Erwartung erfüllt, »die inklusive Schule zu verwirklichen«. In der Sekundarstufe glauben dies lediglich traurige 5 Prozent. (Laubenstein 2015, S. 136 f., 155 ff.) Weitere Analysen zeigen, dass inklusive Entwicklung dann besonders gut klappt, wenn (Laubenstein 2015, S. 126 ff.): Ein paar Förderkinder machen noch keine inklusive Schule
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ȤȤ ȤȤ ȤȤ ȤȤ ȤȤ
die Schule relativ klein ist, eine relativ große Zahl von Förderkindern hat, einen relativ hohen Anteil an Förderlehrkräften hat, relativ viel Vorbereitungszeit für die neue Aufgabe hatte, die Angebote an Beratung, Hospitation und Fortbildung für die Lehrkräfte auch genutzt wurden, ȤȤ die Schule regionale Unterstützungsangebote wahrnimmt (z. B. Kooperation mit anderen Schulen, Arbeitskreisen, Schulpsychologischem Dienst oder der Jugendhilfe). Bedenklich: In Rheinland-Pfalz hatten nur 30 Prozent der Schwerpunktschulen nach eigener Einschätzung in der Übergangsphase genügend Zeit zur Planung mit dem Kollegium (Laubenstein u. a. 2015, S. 130). Die Wissenschaftler um Laubenstein weisen außerdem nach, dass sich die bereits stark inklusiven Schulen vor allem durch regelmäßige, gute Teamarbeit zwischen Regelschul- und Förderlehrkräften sowie weiteren pädagogischen Mitarbeitern auszeichnen und die Lehrer verstärkt auch kollegiale Fallberatung praktizieren. Andere Autoren kommen teilweise zu ganz ähnlichen Ergebnissen, wie in der Praxis eine Schule auf gutem inklusivem Wege aussieht (Schönig, Fuchs 2016, S. 18). Aber bemühen sich die Schulen denn gar nicht, immer inklusiver zu werden? Der Befund ist niederschmetternd: Vier von fünf Schwerpunktschulen nutzen »weder den Index für Inklusion noch andere Instrumente der Schulentwicklung« (Laubenstein u. a. 2015, S. 142). Dabei wird von Inklusionsfreunden gerade der umfangreiche Fragenkatalog Index für Inklusion gern als eine Art Zauberschlüssel angesehen, mithilfe dessen sich für die Schulen der inklusive Weg eröffnet. Wollen sich die Schulen also gar nicht in ihrer pädagogischen Ausrichtung und Organisation weiterentwickeln? Oder werden diese Instrumente der Schulentwicklung in der Praxis vielleicht eher als ungeeignet angesehen, weil hier großer Aufwand einem sehr ungewissen Ertrag gegenüber steht? Ich vermute, angesichts der knappen Ressourcen und vielfältigen Probleme an den Schulen versuchen die Pädagogen, so gut es geht ihren Job zu machen. 62
Wahrheiten über Inklusion, die weh tun
Zum Ausfüllen und Auswerten ellenlanger Umfragen haben sie dann schlicht keine Zeit mehr. Das ist verständlich, aber höchst unbefriedigend. Denn ohne Bestandsaufnahme der Barrieren und klare Ziele, diese zu beseitigen, wird eine Schule kaum inklusiv werden. Hier ist eben mehr gefragt als der diffuse Appell, kein Kind zurückzulassen und Inklusion doch bitte schön zu »schaffen«. Schmerzlich vermissen gerade Lehrerinnen und Lehrer, die der Idee des gemeinsamen Lernens positiv gegenüberstehen, seitens der Schulaufsicht klare Vorstellungen darüber, was genau sich in den Schulen eigentlich ändern muss, damit sie inklusiv werden können, und wie sie diese Änderungen einleiten sollen. Anstatt den Schulen konkrete Modelle anzubieten und sie beim nötigen Change Management konsequent zu unterstützen, übt sich die Politik lieber in vornehmer Zurückhaltung und verweist auf die Expertise der Pädagogen. Der Grund scheint mir simpel. Wer für die Schulen Ziele definiert, muss auch dafür sorgen, dass diese erreicht werden können. Das aber hieße, beispielsweise den Schulen Zeit und Mittel zu gewähren für kleinere Klassen, differenzierten Unterricht für alle Kinder und Austausch im viel beschworenen multiprofessionellen Team. Zusammenfassend muss also festgehalten werden: Während Förderkinder in der Primarstufe noch recht gute Chancen haben, eine Schule zu erwischen, in der zumindest die Pädagogen selbst daran glauben, ihnen gerecht werden zu können, sinkt diese Chance in der Sekundarstufe dramatisch. Sie wird dort am ehesten noch an Integrativen Gesamtschulen eingelöst. Besonders beunruhigend: Es besteht kaum Anlass zur Hoffnung, Schulen würden sich in den nächsten Jahren einfach dadurch verbessern, dass sie den gemeinsamen Unterricht behinderter und nicht behinderter Kinder weiter üben. Viele Schulen, die schlecht in die Inklusion gestartet sind, haben sich auch nach Jahren nur wenig verändert.
Ein paar Förderkinder machen noch keine inklusive Schule
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9 Immer mehr Kinder mit Schulproblemen landen in der Psychiatrie Was passiert eigentlich mit den Kindern und Jugendlichen, die in den Regelschulen scheitern? Wenn sich ihrer keine Förderschule annimmt, droht ihnen mit dem Ruhen der Schulpflicht radikale Exklusion. Und gerade in inklusiven Musterländern auch immer häufiger die Psychiatrie.
Geht nicht, gibt’s nicht, so das Credo der gläubigen Inklusionisten. Alle sind an der Regelschule willkommen, und auf alle wird individuell eingegangen, basta. Die Praxis richtet sich nur leider nicht nach den Werbesprüchen aus dem Baumarkt. Und wenn es dann offensichtlich doch nicht geht, sind nicht ein falscher Bohrer oder eine hartnäckige Wand betroffen, sondern Kinder, deren Einzelschicksale oft erschüttern. Wenn es doch nicht geht, weil das System überfordert ist (um hier Schuldzuweisungen zu vermeiden), und eine Versetzung des Kindes an eine Förderschule politisch nicht opportun erscheint oder mangels Existenz schlicht nicht mehr möglich ist, so droht einem Schulkind die denkbar krasseste Exklusion: das Ruhen der Schulpflicht, staatlich verordnet von der Schulbehörde. Regelmäßig verbunden wird diese Schulpflichts-Zwangspause mit dem Ratschlag an die Eltern, dem Kind nun erstmal eine psychiatrische Behandlung angedeihen zu lassen, um es so wieder schulfähig zu machen (Terpitz 2016). »Ausgeschult« heißt der entsprechende Bericht auf der Internetseite der hessischen »Gruppe Inklusionsbeobachtung«, in der Vertreter von Behindertenverbänden, von Bürgervereinen für mehr Inklusion, von Eltern, Schülern und Lehrern an einem Tisch sitzen. Der Bericht spricht in diesem Zusammenhang ausdrücklich von einem neuen Trend. Doch lässt sich diese rabenschwarze Kehrseite der verordneten schulischen Inklusion wirklich nachweisen, oder handelt es sich vielleicht doch nur um bedauerliche, aber letztlich unver64
Wahrheiten über Inklusion, die weh tun
meidliche Einzelfälle von Kindern, die so krank sind, dass ihnen am besten geholfen ist, wenn sie in die Psychiatrie eingeliefert werden? Wenn das so wäre, müssten ja in Gegenden, in denen besonders fleißig inkludiert wird, die Fallzahlen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie deutlich ansteigen – beispielsweise in Bremen, das auf dem Papier eine mustergültige inklusive Entwicklung aufweist. Eine Ärztin für Psychiatrie an der Universität Bremen ging dieser Frage nach. Dazu wertete sie die Akten der Kinder und Jugendlichen aus, die im Zeitraum zwischen 2005 und 2012 in den ambulanten und stationären Einrichtungen der Bremer Kinder- und Jugendpsychiatrie waren. Und tatsächlich: Im Verlaufe dieser Zeit haben sich die Fälle von Kindern und Jugendlichen, die eine klinische psychiatrische Behandlung erhielten, glatt verdoppelt! Allein in den letzten drei Jahren des betrachteten Zeitraums, der mit der Einführung des neuen inklusiven Schulgesetzes zusammenfällt, stieg die Zahl um gut zwei Drittel. Bei den Grundschülern nahm die Zahl der psychiatrisch behandelten Kinder zwischen 2009 und 2012 sogar um 75 Prozent zu (Belhadj 2016). Nun könnte es natürlich sein, dass hier ganz andere Ursachen zugrunde liegen und die inklusive Schulreform nur zufällig auch in diesem Zeitraum liegt. So hat das Land Bremen sein kinder- und jugendpsychiatrisches Angebot in dieser Zeit kontinuierlich ausgebaut. Obwohl dies sicherlich aufgrund steigender Nachfrage geschah, ist andererseits auch klar: Wenn die Plätze in der Klinik rar sind und die Wartezeiten darauf lang, so lassen sich aus der Zahl der behandelten Fälle keine direkten Schlüsse darauf ziehen, wie hoch eigentlich der Bedarf an psychiatrischer Hilfe ist. Von besonderem Interesse ist es deshalb, zu überprüfen, warum denn die vielen Bremer Kinder und Jugendlichen psychiatrisch behandelt wurden. Im Jahre 2005 wurde lediglich bei 48 behandelten Kindern und Jugendlichen oder acht Prozent aller Fälle eine »chronische zwischenmenschliche Belastung im Schulkontext« festgestellt. Darunter sind nach Angaben der Autorin z. B. »Streitbeziehungen mit Mitschülern wie Mobbing, Sündenbockzuweisungen durch Lehrkräfte, Unruhe im Schulkontext« zu verstehen, aber ebenso zunehmender Leistungsdruck, dem die Schülerinnen und Schüler nicht gewachsen sind – beispielsweise auf dem Gymnasium. Bis 2012 schnellte Immer mehr Kinder mit Schulproblemen landen in der Psychiatrie
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Abbildung 3: Psychiatrische Behandlungsfälle von Kindern und Jugendlichen nach Schulform (2002–2012); Datenquelle: Belhadj 2016
die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit Schulproblemen dann auf 539 Behandlungsfälle in die Höhe, was nun 42 Prozent der insgesamt behandelten Kinder und Jugendlichen entsprach. Allein zwischen 2009 und 2012 stieg diese Zahl um 150 Prozent! Ist das also der Preis der schönen neuen inklusiven Welt? Ausdrücklich sei darauf hingewiesen: Die hier dokumentierten Fälle betreffen alle Kinder und Jugendlichen im Bundesland Bremen, es ist dabei nicht klar, wie viele davon als Inklusionskinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf unterrichtet werden. Selbstverständlich sind auch die Verhältnisse in Bremen mit seinem hohen Anteil an Einwohnern mit Migrationsgeschichte und besonders vielen Kindern, die durch ein armes oder bildungsfernes Elternhaus benachteiligt sind, nicht auf ganz Deutschland ohne Weiteres übertragbar. Die schwierige Bevölkerungsstruktur gibt es in Bremen allerdings schon lange, die Inklusion dagegen nicht. Fazit der Autorin dieser Studie: »Besonders alarmieren kann die starke Zunahme der zwischenmenschlichen Belastungen im Schulkontext. Diese Problematik wird augenscheinlich nicht ausreichend von Schulen aufgefangen.« (Belhadj/ Dupont/Lorenz/Petermann 2016, S. 270) 66
Wahrheiten über Inklusion, die weh tun
Abbildung 4: Psychiatrische Behandlung aufgrund von Schulproblemen und inklusive Entwicklung; Datenquelle: Belhadj 2016, KMK 2010, KMK 2016a
Selbst bei noch so vorsichtiger Interpretation der Befunde bleibt also festzuhalten: An Bremer Schulen fühlen sich viele Kinder so gemobbt, von den Lehrern schikaniert oder durch Leistungsdruck gequält, dass am Ende nur noch der Psychiater helfen kann. Tendenz: eindeutig steigend. Und leider ist Bremen hier eben keine Ausnahme. Bereits Ende 2012 beklagten Kinderärztinnen und Kinder- und Jugendpsychiater im quotenmäßig ebenfalls musterhaften Flächenland SchleswigHolstein in einem offenen Brief »eine Zunahme der Erstvorstellung von Grundschülern in kinder‐und jugendpsychiatrischen Praxen« (Broxtermann u. a. 2012). Meist werde dann nicht nur eine Entwicklungsverzögerung festgestellt, aufgrund derer die Kinder dem Regelunterricht nicht gewachsen sind, sondern »Anpassungsstörungen«, die oft bereits in den ersten Schuljahren ihr Selbstwertgefühl stark beschädigten, mit dramatischen Auswirkungen auf ihre Leistungsfreude und Motivation. Häufig setze ein Teufelskreis ein »bis hin zur Schulangst/Schulvermeidung oder drohendem Schulausschluss«. Das Fazit der Mediziner war schon damals unmissverständlich: Es fehlten schlicht die Voraussetzungen, das Konzept der Inklusion »ohne Schaden für die betroffenen Kinder und ihre Familien Immer mehr Kinder mit Schulproblemen landen in der Psychiatrie
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umzusetzen«. Lapidar stellen die besorgten Ärztinnen und Ärzte fest: »Wenn der Regelunterricht die individuelle Förderung des einzelnen Kindes nicht ermöglicht, werden aus Schülern Patienten.« (ebd.) Mit Blick auf die statistische Performance schwärmt Hans Wocken (2016, S. 7): »Eine Inklusionsentwicklung wie aus dem Bilderbuch.« Wie es scheint, sieht die Wirklichkeit hinter den Zahlen nicht ganz so fabelhaft aus.
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Wahrheiten über Inklusion, die weh tun
10 Gemeinsames Lernen in einer ausschließenden Gesellschaft klappt nicht Rund die Hälfte aller Jugendlichen lernt heute auf dem ymnasium. Diese Schulform kann nur inklusiv werden, G wenn sie sich selbst aufgibt. Das exkludierende Schulsystem ist jedoch keineswegs die einzige »Great Barrier« für gemeinsames Lernen.
Glaubt man der Rhetorik von Bildungspolitikern und manchen Fachpublikationen, so gilt es jetzt für die Schulen mit Blick auf die Förderkinder nur, ein paar Stolpersteine auf dem inklusiven Weg zu überwinden. Als ob er bereits vor uns läge, dieser Weg, als ob wir bereits alle darauf unterwegs wären. Als ob wir auf diesem Weg nur ein paar kleinere Hindernisse zu umgehen oder beherzt zu entfernen hätten, falls wir nicht in der Lage sind, eilenden Schrittes über sie hinwegzuschreiten. Ein ehrlicher Blick, der in der Wanderer-Metapher bleibt, könnte die Lage eher so beschreiben: Wälder, Gebirge, Schluchten, Dornendickicht, Wüsten, Oasen – kurz: schwieriges, überwiegend unwegsames Gelände. Überall darin verstreut: die Schulen. Manche gehen irgendwohin, aber oft in ganz verschiedene Richtungen. Andere beratschlagen, ob und wenn ja, wohin sie denn eigentlich gehen sollen. Viele aber haben es sich, so gut es geht, gemütlich gemacht an dem Plätzchen, an dem sie sich gerade befinden, und weisen die Idee, nun loswandern zu sollen, empört von sich – zumal ihnen dazu geeignete Wanderschuhe, Ausrüstung, Proviant und Guides fehlen. Woher kommt das? Ist das einfach der böse Wille einer ewig ges trigen Zunft von Paukern? Wohl kaum. Wir leben in einer Gesellschaft, die trotz aller Bemühungen um Gemeinsamkeit und Teilhabe starke exkludierende Tendenzen hat. Und wie wir unsere Schulen gestalten, ist Ausdruck dieser widerstreitenden Kräfte. Das ist die Wahrheit hinter dem Streit um Sinn oder Unsinn des ganzen ProGemeinsames Lernen in einer ausschließenden Gesellschaft klappt nicht
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jekts, um »Problemschüler« oder mangelhafte Ressourcen. Deshalb ist das Projekt Inklusion an den Schulen so schwer zu verwirklichen und geht oft mit handfesten Schwierigkeiten im pädagogischen Alltag einher, wenn es einfach von oben verordnet wird. Einerseits steht Inklusion in der Tradition der Bürgerrechtsbewegungen. Nach der Sklavenbefreiung, Black Power, Emanzipationsbewegung, dem Kampf der Schwulen und Lesben verspricht sie nun auch bezogen auf Menschen mit Behinderungen Gleichberechtigung, Chancengleichheit, diskriminierungsfreie Teilhabe. Die Zeit dafür ist reif, möchte man meinen. Zumindest in der westlichen Welt hat sich ja in den letzten Jahrzehnten das Bewusstsein für Ungerechtigkeiten aufgrund von Eigenschaftszuschreibungen an Menschengruppen sehr geschärft. Das Postulat eines selbstbestimmten, würdigen Lebens für wirklich alle Menschen ist weniger umstritten denn je. Außerdem hat sich in vielen Ländern ein gesamtgesellschaftlicher Wohlstand entwickelt, der die Forderungen nach Barrierefreiheit und notwendigen Hilfestellungen für behinderte Menschen nicht als unerfüllbare Utopie erscheinen lässt. Dass es gelang, die UN-Behindertenrechtskonvention zu verabschieden, kann für Menschen mit Handicap als enormer Erfolg verbucht werden. Ebenso wie grundsätzlich alle inklusiven Bemühungen, ob im Sportverein, in der Schule oder auch in Hochglanzbroschüren zur Bewusstseinsbildung aus den Ministerien. Dem stehen jedoch völlig gegenläufige Tendenzen entgegen. Nicht erst seit der Wahl Trumps zum US-Präsidenten wird klar: Der gesellschaftliche Konsens über Chancengerechtigkeit für alle, über das Diskriminierungsverbot und Solidarität für die Schwachen existiert nur scheinbar. Das Erstarken der nationalistischen Parteien in Europa, eine Europäische Union, die das Flüchtlingsproblem mit Mauern und Schießbefehl an der türkisch-syrischen Grenze und Stacheldraht auf der Balkan-Route »löst« und gleichzeitig akzeptiert, dass jährlich Tausende Verzweifelte im Mittelmeer ertrinken, sind deutliche Zeichen dafür. Hinzu kommt: Der Wohlstand in den westlichen Ländern mag zwar groß sein, er ist aber bekanntlich sehr ungleich verteilt. Viele Menschen sind dauerhaft arbeitslos oder haben prekäre, schlecht bezahlte, oft genug auch monotone, gesundheitsbelastende Jobs. 70
Wahrheiten über Inklusion, die weh tun
Spätestens seit Gerhard Schröders Agenda 2010 ist der soziale und ökonomische Kampf um gute Arbeitsstellen und gesellschaftliche Anerkennung deutlich härter geworden. Die Identitätskrise bis weit hinein ins bürgerliche Milieu, die sich manifestiert in der Angst vor »Überfremdung« und »Islamisierung«, verschärft die Lage. Arbeitsverdichtung in fast allen ökonomischen Bereichen, immer höhere Ansprüche an Flexibilität, Erreichbarkeit, Selbstvermarktung usw. tun ein Übriges. Wer nicht mithalten kann, wer Schwäche zeigt, wird mit wirtschaftlichem und sozialem Abstieg bestraft, oft genug in der Folge auch von Teilhabe ausgeschlossen. Schon ohne integrierte behinderte Menschen ist die gesellschaftliche Realität also alles andere als inklusiv. Mit einem Wort des Sozialethikers Uwe Becker (2015, S. 69): Die »Inklusionsräume«, in die hinein die Menschen mit Behinderung eingeladen werden, sind häufig wenig attraktiv. Und die Bereitschaft, solidarisch zu sein, sinkt mit dem Gefühl, selbst in der Gefahr zu schweben, abgehängt zu werden. Parallel dazu gaukeln uns Lifestyle-Magazine vor, wir könnten im munteren Kampf um attraktive Jobs und gesellschaftliche Anerkennung außerdem immer attraktiver aussehen, immer gesünder, sportlicher, potenter, konzentrierter und gleichzeitig entspannter werden, wenn wir nur die richtige Live-Work-Balance finden, den passenden Yoga-Kurs besuchen, die neueste Diät beachten oder den richtigen Schönheitschirurgen konsultieren. Nie war wohl der Zwang zur (Selbst-)Perfektionierung größer als heute. Gerade der Umgang mit Behinderung bedeutet jedoch, das Nicht-Konforme, oft genug eben auch das Nicht-Perfekte, zuzulassen und zu achten. Konkurrenz und Leistungsdruck fängt natürlich schon bei unseren Kleinsten an. Eltern wissen, dass der Bildung für erfolgreiche Teilhabe in den hoch entwickelten Industrienationen mehr denn je eine Schlüsselrolle zukommt und für den künftigen Schlaumeier die ersten Jahre entscheidend sind. Folglich werden die Sprösslinge schon weit vor Schulbeginn mit allerlei frühkindlichen Bildungsangeboten oder Therapien beglückt, um ihre Startvoraussetzungen für die Schulkarriere zu verbessern. Und in der Grundschule geht es dann erst richtig los. Bricht doch für viele schier eine Welt zusammen, wenn Töchterchen oder Sohnemann nicht nach dreieinhalb Jahren mit einer Gymnasialempfehlung nach Hause kommt. Gemeinsames Lernen in einer ausschließenden Gesellschaft klappt nicht
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Eltern, die so unter Bildungsstress stehen, sind nicht unbedingt begeistert, wenn die kostbare Lehreraufmerksamkeit für ihr Kind auch noch durch behinderte Kinder verringert zu werden droht. Keinesfalls werden sie dulden, dass dem Nachwuchs vielleicht die Gymnasialkarriere verbaut wird, weil in der inklusiven Grundschule womöglich zu viel anschaulich mit allen Sinnen gelernt, aber dafür zu wenig Mathe oder Grammatik gepaukt wurde. All dies läuft den Vorstellungen einer inklusiven Gesellschaft diametral entgegen. Deutliches Zeichen dafür, wie weit entfernt wir noch von einer inklusiven Gesellschaft sind, ist die erschreckend hohe Zahl von Kindern, die nach wie vor aufgrund einer drohenden Behinderung abgetrieben werden (Linke 2014). Was dann in den Klassenzimmern beim Lernen von Kindern mit und ohne Handicap abläuft, ist geprägt von Widersprüchen: ȤȤ Einerseits wird Inklusion propagiert, andererseits darf sie nichts kosten – oder wenn, dann jedenfalls nicht für die politische Institution, die sie beschließt. ȤȤ Einerseits soll gemeinsam gelernt werden, andererseits wird am separierenden Schulsystem festgehalten. ȤȤ Einerseits soll jetzt überall individuell gefördert werden, andererseits ist die schulische Wirklichkeit mehr denn je von Bildungsstandards und Vergleichsarbeiten geprägt. Aus dem ersten Widerspruch ergibt sich das Dilemma zwischen ökonomischer Realität und qualitativem Anspruch bei der schulischen Inklusion. »Eigentlich« so die inklusionsfreundlichen Erziehungswissenschaftler Katzenbach und Schnell, müsse zuerst geklärt werden, unter welchen Voraussetzungen ein verantwortbares gemeinsames Lernen in den Schulen realisiert werden kann, bevor man Vorschläge entwickle zur pädagogischen Ausstattung in inklusiven Schulen (vgl. Katzenbach & Schnell 2013, S. 30). Und doch machen sie es dann umgekehrt: Ausgehend von den bisherigen Ressourcen werden Vorschläge zur Umverteilung gemacht. Und indem sie die Grenze »keinesfalls weniger Geld als vorher« ziehen, tun sie das sogar in guter Absicht, wenn auch empirisch ins Blaue hinein. Sehen doch Kämmerer in den inklusiven Veränderungen durchaus Chancen, zu sparen – etwa, wenn inklusive Kindergärten oder Grundschulen aus72
Wahrheiten über Inklusion, die weh tun
gerufen werden und in der Folge als erstes die Fahrtkostenerstattung für behinderte Kinder gestrichen wird. In der Konsequenz ordnet die Politik damit Fragen der Geschwindigkeit und der Qualität der inklusiven Reform dem Primat der Kostenneutralität völlig unter. Heraus kommen dann fast zwangsläufig entweder Scheinlösungen, die einen inklusiven Fortschritt nur suggerieren, oder aber schlecht gemachte Inklusion, die wiederum für einzelne Betroffene zu krasser Exklusion führen kann. Betonen andererseits Pädagogen oder engagierte Eltern, dass Qualität eben auch kostet, so riskieren sie, dass das inklusive Reformprojekt politisch abgewürgt wird, weil es die Mehrheit der Bevölkerung letztlich nicht als anzustrebende Gesellschaftsreform sieht, sondern nur als Projekt für die kleine Minderheit behinderter Menschen. Dann wäre da noch die Sache mit unserem euphemistisch »gegliedert« genannten Schulsystem. Ich kenne wirklich niemand unter den wissenschaftlichen Vertretern der Inklusion, der nicht feststellen würde: Eine inklusive Schule ist eine Schule für alle Kinder – man könnte also auch gleich sagen, eine Gesamtschule. Gemeinsames Lernen und ein selektierendes Schulsystem sind ein systemischer Widerspruch. Trotz aller scheinbaren Fortschritte in Richtung Schule für alle, die die Bundesländer in den letzten Jahren dadurch erzielten, dass sie die Hauptschulen abschafften zugunsten von Gemeinschaftsschulen, Sekundarschulen, Stattteilschulen, Realschulen plus usw., lernen heute in der Sekundarstufe immer noch über 70 Prozent aller Schülerinnen und Schüler in Deutschland in separierenden Schulen – die weitaus meisten in klassischen Gymnasien, gefolgt von den Realschulen (siehe Anhang IV, Abbildung 11). Die allermeisten Kinder werden bereits nach nur vier Jahren Grundschule in diese Schulen sortiert. Kein Land weltweit, dass es schaffen würde, mit einem so früh aussortierenden Schulsystem gleichzeitig die inklusive Schule zu verwirklichen. Das Problem ist: Schulen, die ihre Kinder an die nächst tiefere Schulform »abschulen«, wenn sie das Klassenziel nicht erreichen, können nur bei Strafe des Selbstwiderspruchs Kinder aufnehmen, für die schon das unterste Niveau der allgemeinen Schule eine kaum zu schaffende Hürde ist. Serkan wird eher nicht vermittelbar sein, dass er auf die Real- oder Hauptschule zu wechseln hat, wenn seine Gemeinsames Lernen in einer ausschließenden Gesellschaft klappt nicht
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Noten nicht stimmen, Jeanette jedoch bleiben darf, obwohl sie so »schlecht« ist, dass sie gar keine »richtigen« Noten bekommt. Umgekehrt bedeutet es für die Förderschüler eine überdeutliche Sonderbehandlung, wenn sie an diesen Schulen bleiben können, ohne die dort vorausgesetzten Schulleistungen zu erreichen. Und auch das ist leider nicht ausgedacht: Solange der verhaltensauffällige Justin seine Probleme hat, darf er aufs Gymnasium, obwohl er die Klassennorm nicht schafft. Verliert er jedoch seinen Förderstatus, weil sich sein Verhalten gebessert hat, wird er »zur Belohnung« abgeschult. Inklusiv sieht wirklich anders aus! So bleibt eine sinnvolle Integration an Gymnasien oder Realschulen nur den Förderschülern vorbehalten, die die schulischen Anforderungen (mit Nachteilsausgleich und Hilfen) tatsächlich bewältigen können – aber dies sind leider nicht allzu viele. Die andere Möglichkeit wäre natürlich, dass sich diese Schulen grundsätzlich für alle Kinder öffneten. Dann aber hörten sie auf, Gymnasien oder Realschulen zu sein. Nicht ohne Grund sprechen manche Bildungspolitiker in diesem Zusammenhang von schulischer Inklusion als Trojanischem Pferd (Brodkorb 2012). Die Idee einer flächendeckend einzuführenden Inklusion für alle Schulen ist in der Tat gleichzusetzen mit der Abschaffung des gegliederten Schulsystems. Dennoch trauen sich hierzulande nicht einmal mehr rot-grün geführte Bundesländer, wenigstens eine sechsjährige Grundschulzeit einzuführen, seitdem in Hamburg dieser Versuch an einem Bürgerentscheid gescheitert ist. Also behaupten inklusionsfreundliche Politiker und Inklusions-Aktivisten forsch, dass auch die Gymnasien inklusiv zu werden hätten, obwohl klar ist, dass dies der Quadratur des Kreises gleicht. Es wäre zu kurz gegriffen, zu glauben, nur an den Gymnasien gebe es Widersprüche zum Konzept des gemeinsamen Lernens. Unabhängig von der Schulform kämpfen damit Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler sowie Eltern an jeder staatlichen Schule: Einerseits fordern Schulgesetze und amtliche Lehrpläne mittlerweile vehement individuelles Lernen und Fördern für alle Kinder ein. Völlig zu Recht verweisen Inklusionsbefürworter darauf, dass gemeinsames Lernen von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Handicap genau diesen Anspruch einlösen will. Es soll also auf die Interessen, 74
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Neigungen und Stärken der Kinder eingegangen werden, es sollen individuelle Lernwege und Lerntempi berücksichtigt und Schwächen durch individuelle Trainingseinheiten kompensiert werden. Dem stehen allerdings gleichzeitig Gegebenheiten und Anforderungen entgegen, die dieser schönen Idee völlig zuwiderlaufen. Zunächst ist da das Konzept Schulunterricht, also das Lernen einer ganzen Gruppe von Kindern bei in der Regel einer einzigen Lehrperson. Entweder versucht nun diese Lehrperson, anlässlich eines gemeinsamen Lerngegenstands alle Kinder gleichzeitig anzusprechen – damit verstößt sie dann ganz offensichtlich gegen das Prinzip des individuellen Lernens. Oder aber sie verzichtet auf den gemeinsamen Unterricht aller Kinder und spricht die Kinder wirklich nur noch individuell als ihr Lernbegleiter an. Gemeinsam ist das Lernen dann nur noch als räumliches Attribut. Aber vor allem hat das zur Folge, dass die Schülerinnen und Schüler es nur noch selten erleben, dass die Lehrperson Lerngegenstände anregend und anschaulich präsentiert, Denkanstöße gibt und Lösungswege aufzeigt, da sie sich ja meist nur einzelnen Kindern oder kleinen Gruppen zuwendet. Gleichzeitig müssen die Kinder ganz überwiegend selbstständig arbeiten – nach Möglichkeit natürlich an speziell für sie zugeschnittenem und aufbereitetem Lernmaterial, individuell begleitet und korrigiert durch die Lehrperson. Letzteres für alle Kinder zu leisten, ist erkennbar eine Mammutaufgabe, an der die meisten Lehrerinnen und Lehrer schon mangels zeitlicher Ressourcen scheitern. Realistisch bleibt die Arbeit aller Kinder am gleichen Material, vielleicht leicht abgestuft in der Komplexität nach drei Anforderungsstufen, wie es mittlerweile von vielen Schulbuchverlagen angeboten wird. Individuell ist dann nur noch das Lerntempo, während der Unterricht weitgehend so gut (oder schlecht) wie eben dieses Arbeitsmaterial der Verlage wird. Kinder, denen genau diese Art des selbstständigen Lernens schwerfällt, werden so klar benachteiligt. Natürlich wird der begabte und engagierte pädagogische Praktiker irgendwie versuchen, eine gelungene Mischform verschiedenster methodischer Ansätze in seinem Unterricht zu finden, und es gibt zweifellos eine Menge Ideen und Tricks, diese unterschiedlichen Anforderungen unter einen Hut zu kriegen. Gemeinsames Lernen in einer ausschließenden Gesellschaft klappt nicht
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Die Idee des individuellen Lernens hat allerdings noch weit mächtigere Gegner als das Setting Klassenunterricht: den Leistungsvergleich zwischen (fast) allen Schülerinnen und Schülern, die gemeinsame Zielvorgabe für (fast) alle Schülerinnen und Schüler, nach der diese Leistung bemessen wird, den gleichen zeitlichen Takt, in dem diese Leistungen regelmäßig überprüft werden. Jede traditionell gestellte Klassenarbeit, schon gar jede Vergleichsarbeit oder Lernstandserhebung für einen ganzen Schuljahrgang, jedes Halbjahreszeugnis, jedes Training auf ein erfolgreiches Abschneiden bei PISA, schließlich jede zentrale Abschlussprüfung widerspricht dem Konzept des individuellen Lernens. Um das deutlich zu machen, scheint mir eine Analogie hilfreich. Stellen wir uns vor, die Kinder einer Klasse machten einen Ausflug. Sie befinden sich in abwechslungsreichem Gelände, es gibt Wald, Bach, Wiese und Berg. »Schaut euch um, geht, wohin ihr wollt, beobachtet, sammelt oder untersucht in eurem eigenen Tempo, was ihr wollt«, lautet der verlockender Auftrag an sie. Jede halbe Stunde allerdings müssen sich alle Kinder an einer ganz bestimmten Stelle treffen – im Wald, am Bach, auf der Wiese etc. Jedes Mal wird erwartet, dass sie ganz bestimmte Dinge mitbringen, über die sie Bescheid wissen. Punkt zwölf Uhr mittags schließlich haben sich alle Kinder auf dem Berg einzufinden, ihre Sammlung abzugeben und nach einem vorgegebenen Schema dazu Fragen zu beantworten. Wie würde das wohl ausgehen? Kinder, die den ursprünglichen Auftrag ernst genommen hätten, würden wahrscheinlich gar nicht erst rechtzeitig an den einzelnen Abfrag-Stationen ankommen, und wenn doch, dann mit den »falschen« Mitbringseln und den »falschen« Erkenntnissen dazu. Schlechte Beurteilungen und Frust wären die zwangsläufige Folge. Ähnlich müsste es Schülerinnen und Schülern in der Klasse ergehen, die im eigenen Lerntempo und gemäß ihren Neigungen an der Schule ihr individuelles Potenzial entfalten wollen, gleichzeitig aber ständig mittels traditioneller Formen der Leistungsüberprüfung beurteilt werden, die sich an einem zu erreichenden Klassenziel orientieren. Konsequenterweise fordern deshalb Konzepte inklusiver Pädagogik alternative Formen der Leistungsüberprüfung. Diese finden dann allerdings ebenso wie das individuelle Lernen nur additiv Eingang in 76
Wahrheiten über Inklusion, die weh tun
die Lehrpläne, was die Sache überhaupt nicht besser macht. Inklusiv wäre nur eine Leistungsbewertung, die für alle Kinder die individuelle Leistung nicht an einem zu erreichenden Klassenziel, sondern am erzielten Lernfortschritt im Rahmen der individuell gegebenen Möglichkeiten des Kindes misst. Dies erfordert nicht nur ein hohes Maß an diagnostischer, entwicklungspsychologischer und empathischer Kompetenz der Lehrkraft, sondern ist auch erkennbar ziemlich weit weg von dem, was gesellschaftlich erwartet wird von Schule. Ausdrücklich möchte ich betonen: Im Dilemma zwischen dem Anspruch individuellen Lernens einerseits und dem schulischen Leistungswettbewerb andererseits befinden sich alle Schulen, egal ob mit oder ohne Inklusion. Das Problem ist nur: Bislang konnten die Schulen in der Praxis letztlich im Sinne der meisten Eltern, der Schulaufsicht und Politik sehr viel (mehr oder weniger) traditionellen Unterricht samt der üblichen Lernerfolgsüberprüfungen anbieten, individuelles Lernen und Fördern war dazu ein eher kleines Sahnehäubchen. Viele Schulen haben also einen Kompromiss gefunden, der im Konsens mit Eltern und Politik die Noten nach den lehrplanmäßig definierten Klassenzielen, die Bildungsstandards sowie die Abschlussprüfungen sehr ernst nimmt, während das Ziel individueller Entfaltung und Lebenstüchtigkeit der Kinder den Unterricht keineswegs übermäßig prägt. Fahren die Schulen genau dieses Konzept auch dann weiter, wenn sie inklusiv werden, werden Kinder mit Behinderungen, sofern sie eine spezielle Leistungsbewertung bekommen, zwangsläufig stigmatisiert. Schlimmer noch: Ein Teil dieser Kinder droht im überfordernden Unterricht unter die Räder zu kommen. Damit kommen wir zu zwei weiteren, vielleicht noch grundsätzlicheren Problemen, die sich bei allen Bemühungen um ein gutes Leben für Menschen mit Behinderung »mittendrin« in unserer Gesellschaft ergeben: ȤȤ Die Veränderungen müssen immer schon das nicht erreichte Ziel voraussetzen, um überhaupt eine Entwicklung in Gang zu setzen (Weg-Ziel-Dilemma). ȤȤ Was mit den besten Absichten getan wird, kann für die Beteiligten durchaus eine Zumutung sein, die nicht verantwortbar ist (moralisches Dilemma). Gemeinsames Lernen in einer ausschließenden Gesellschaft klappt nicht
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Das Reformprojekt Inklusion verlangt nach konkreten Veränderungen. Die derzeitige Situation wird von behinderten Menschen und deren Vertretern als unbefriedigend, ungerecht, diskriminierend angesehen, also haben diese Veränderungen möglichst schnell zu erfolgen. Als Voraussetzung diskriminierungsfreier Teilhabe müssen deshalb schnellstmöglich alle Kinder mit Handicap an die Regelschule gebracht und die Förderschulen geschlossen werden. Da Inklusionsfans häufig das Sonderschul-Etikett als wesentlichen Anlass für Diskriminierung ansehen, muss es so schnell wie möglich restlos beseitigt werden – und in der Folge auch jede Schule, die sich dem Thema Behinderung irgendwie auf besondere Weise widmet. Selbst Schwerpunktschulen, die sich ganz bewusst der inklusiven Aufgabe stellen und Kinder mit Handicap gezielt aufnehmen, sind aus diesem Grund verpönt. Inklusion hat überall stattzufinden, und zwar wie von selbst: Sie soll ja »ganz normal« sein. All diese Forderungen sind absolut logisch. Allerdings sind sie nur gerechtfertigt und verantwortbar, wenn Schule und Gesellschaft bereits inklusiv sind, die allseits respektierte Vielfalt und die solidarische Gerechtigkeit überall gelebt werden. Jedem ist klar, dass dieses Ziel noch nicht erreicht ist. Aber damit die Gesellschaft überhaupt inklusiver werden kann, müssen erstmal die Etiketten abgeschafft werden und die Kinder mit Behinderungen auf die Regelschule gehen. Auf den Punkt gebracht: Nur durch eine inklusive Schule kann auch die Gesellschaft inklusiv werden. Wo, wenn nicht dort, sollen die Menschen den respektvollen Umgang miteinander, die echte Begegnung und fruchtbare Zusammenarbeit bei aller Verschiedenheit lernen? Schule wiederum spiegelt gesellschaftliche Verhältnisse wider, sie ist Ausdruck und Bestandteil der Gesellschaft. Deshalb ist es so schwer für sie, inklusiver zu sein als der Rest der Gesellschaft. Konsequenz: Der Kampf um die inklusive Gesellschaft findet auf dem Schulhof und im Klassenzimmer statt, und gerade Kinder mit Behinderung haben da schlechte Chancen: »Ich habe den Eindruck, wir opfern erstmal eine ganze Generation von Förderkindern, bis sich das eingespielt hat«, so jüngst eine Sonderschul-Rektorin auf einer Inklusionsveranstaltung. Das führt uns direkt zum moralischen Problem, dessen sich die inklusiven Reformer zumindest bewusst sein sollten: Erich Kästners 78
Wahrheiten über Inklusion, die weh tun
Einsicht, es gebe »nichts Gutes – außer, man tut es«, ist zweifellos bei den inklusiven Veränderungen höchst relevant. Und doch kann das, was dann getan wird, sich hinterher leider als schlecht herausstellen. Der gute Wille allein mag zwar im individuellen Handeln hinreichend sein, bei gesellschaftlichen Reformprojekten ist er es aber nicht. Hier kommt Verantwortlichkeit im Sinne einer möglichst validen Folgenabschätzung ins Spiel. Bezogen auf die Inklusion hieße das: Nur, was sich im Kleinen nachweislich bewährt hat, wird auch im Größeren eingeführt, und zwar unter vergleichbaren Voraussetzungen. Genau diese Position ist überzeugten Kämpferinnen und Kämpfern für Inklusion jedoch kaum möglich, weil die exklusive Gegenwart als so mangelhaft empfunden wird. In dieser Situation neigen sie dazu, Inklusion einfach als Menschenrecht einzufordern. Wenn für einige Kinder der gemeinsame Unterricht weniger förderlich ist als eine Förderschule, weil sie in eine schulische Welt inkludiert wurden, die offensichtlich vom Ideal noch weit entfernt ist, machen sie dann eben die Pädagoginnen und Pädagogen dafür verantwortlich, die leider noch mit der falschen Einstellung an die Sache herangehen. »Seht ihr’s, Inklusion klappt eben doch nicht« rufen angesichts dieser Schwierigkeiten ihre Gegner, sie ist eine »Falle« (Felten), die Schule nur schlechter macht und auch den Kindern mit Förderbedarf nur Nachteile bringt. Umgekehrt wird jeder, der Kritik äußert, mit moralischer Diskreditierung bestraft. Lieblingssprichwort dazu: »Wer Inklusion will, sucht Wege – wer sie verhindern will, sucht Begründungen.« (Hüppe 2011) Das ist das Drama des Umgangs mit den Barrieren, die einem gelungenen gemeinsamen Lernen entgegenstehen. Beide Seiten erschweren so praktikable Lösungen, die besseres gemeinsames Lernen und eine immer inklusivere Gesellschaft ermöglichen könnten.
Gemeinsames Lernen in einer ausschließenden Gesellschaft klappt nicht
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11 Für viele Kinder bleibt die Förderschule immer noch die bessere Alternative Der Ruf der Förderschulen wurde durch voreingenommene Wissenschaft beschädigt. Wahr ist: Eltern, die ihre Kinder mit Handicap auf die Förderschule schicken, sind weder borniert noch Opfer falscher Beratung durch berufsblinde Sonderpädagogen. Sie handeln zum Wohl ihrer Kinder.
Aus eigener Anschauung kenne ich lediglich zwei Förderschulen. Die eine ist eine dem Augenschein nach fantastisch ausgestattete Schule für körperbehinderte Kinder, an der während meines Besuchs überall kleine Gruppen von Kindern an den verschiedensten Dingen arbeiteten, therapiert wurden oder sich gerade beim Spiel oder im Entspannungsraum erholten. Die andere ist eine Schule für lernbehinderte Kinder, in der sich eine recht verzweifelt wirkende Lehrerin weitgehend vergeblich darum bemühte, ihren kleinen ABC-Schützen klarzumachen, dass die Buchstaben M und A zusammen nicht »hmm und ah« gesprochen werden, sondern »ma«. Dort hatte ich schon das Gefühl, dass an der Theorie des wenig anregenden Lernumfelds etwas dran sein könnte. In meinem Bekanntenkreis wiederum gibt es eine Reihe von Eltern, die froh sind, dass ihre Kinder nach schlechten Erfahrungen auf der Regelschule nun eine Förderschule besuchen. Dort fühlen sie sich angenommen, werden unterstützt und können endlich ihrem Tempo entsprechend lernen. Genauso kenne ich viele Eltern, die trotz diverser Schwierigkeiten glücklich damit sind, dass ihr behindertes Kind eine Regelschule besuchen kann – meist ist das dann jedoch eine integrative Schule alten Schlages, deren pädagogisches Konzept darauf ausgerichtet ist. Solche subjektiven Eindrücke sagen natürlich nichts aus über die Qualität irgendeiner Schule, schon gar nicht einer Schulform im Allgemeinen. Wie gut oder schlecht sind nun also die Förderschulen? Eigentlich erübrigt sich diese Frage. Denn da der empirische Vergleich von 80
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integrativer Regelschule gegenüber der Förderschule derzeit weder für die eine noch für die andere Seite entscheidende Vorteile erkennen lässt, kann ja nur entweder die Sonderschule nicht so schlecht oder aber die Inklusion nicht so gut sein. Dass hier dennoch diese Frage gestellt werden muss, hat einen einfachen Grund: Es gibt mittlerweile eine recht umfangreiche wissenschaftliche Literatur, die diese Schulform ganz offensichtlich nicht nur schlecht redet, sondern auch »schlecht untersucht« (vgl. Schnell u. a. 2011). Die Absicht, Argumente zu finden für deren Schließung, ist dabei häufig allzu offensichtlich: Sonderweg Förderschulen: Hoher Einsatz, wenig Perspektiven, heißt beispielsweise eine Studie der Bertelsmann-Stiftung programmatisch (Klemm 2009). Bis heute wird mit der angeblich nachgewiesenen Unzulänglichkeit der Förderschulen massiv politischer Druck aufgebaut, möglichst schnell ein inklusives Schulsystem ohne Förderschulen zu verwirklichen, das dann, so offenbar die Hoffnung, wie von Zauberhand eine Verbesserung für alle Kinder bringt. Was ist also dran am Förder schulen-Bashing? Werfen wir zunächst einen Blick darauf, wie die inklusionsfreundliche wissenschaftliche Literatur das sieht: »Wocken (2006) kommt zu dem Ergebnis, dass Schüler mit einer längeren Verweildauer an der Sonderschule schlechtere Schulleistungen und niedrigere Intelligenzwerte aufweisen als Schüler/-innen mit kürzerer Verweildauer und dass zudem die kognitive Entwicklung der Förderschüler/-innen stagniert.« (Müller & Prengel 2013)
Sollten Sie diesen Satz nun im Kopf so zusammenfassen: »Die Wissenschaft hat festgestellt: Förderschulen machen Schüler schlecht und dumm«, so kann ich Ihnen versichern: Genau diese Aussage wollen die Autoren wohl auch vermitteln. Und wer sich die Mühe macht, den Entdecker dieser wissenschaftlichen Tatsache selbst zu lesen, stellt fest: Das ist auch ganz im Sinne des Erfinders. Wie kommt Wocken darauf? Seiner eigenen Einschätzung nach handelt es sich bei seiner Studie um eine »quasi experimentelle Untersuchung ohne Kontrollgruppe« (Wocken 2011, S. 229). Dazu werden Rechtschreibergebnisse Für viele Kinder bleibt die Förderschule immer noch die bessere Alternative
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von Kindern im siebten Schuljahr danach sortiert, wie lange diese Kinder bereits auf der Förderschule sind. Ergebnis: Schülerinnen und Schüler, die erst vor kurzer Zeit auf die Förderschule gewechselt haben, sind deutlich besser im Rechtschreiben als Kinder mit schon langer Förderschulkarriere. Wocken fasst das so zusammen: »Je länger die Schüler eine Förderschule besuchen, desto schlechter sind ihre orthografischen Leistungen« (ebd., S. 230). Diese Formulierung ist aber in zweierlei Hinsicht irreführend: Erstens suggeriert sie, ein Kind verlerne im Laufe seiner Förderschulkarriere das richtige Schreiben immer mehr; zweitens stellt sie unter der Hand einen Kausalzusammenhang mit der Förderschule her: Weil das Kind die Förderschule besucht, vergisst es die Rechtschreibregeln immer mehr oder lernt sie erst gar nicht. Wie wenig beide Aussagen aus den von Wocken gefundenen Ergebnissen ableitbar sind, lässt sich an einem Gedankenexperiment leicht zeigen: Man stelle sich nur vor, ein Wissenschaftler habe die Patientenakten eines Krankenhauses analysiert und festgestellt: Patienten mit einer bereits langen Krankenhausgeschichte sind im Schnitt deutlich kränker als solche mit nur kurzem Klinikaufenthalt. So what, würden Sie wahrscheinlich denken. Fasste eine Zeitung das Ergebnis jedoch so zusammen: »Wissenschaftler: Je länger Patienten im Krankenhaus liegen, desto kränker sind sie«, würden Sie vermutlich den Artikel höchst interessiert lesen, um dann hinterher der Redaktion vorzuwerfen, mit einer irreführenden Überschrift die Neugier der Leser geweckt zu haben. Wocken allerdings geht noch weiter. Zunächst fragt er rhetorisch: »Muss man der Förderschule eine negative Tendenz zuschreiben und ihr gleichsam unterstellen, Förderschule mache ›dumm‹?« Dann wendet er jedoch selbst ein, es könnten sich in den Leistungsunterschieden auch einfach nur die unterschiedlichen intellektuellen Potenziale der Kinder mit kurzer bzw. langer Förderschulkarriere zeigen. »Man kann wohl mit Fug und Recht annehmen, dass intelligenzschwächere Schüler in der Grundschule auch früher auffällig werden«, stellt er treffend fest (ebd., S. 231). Eben diese Hypothese bestätigt er dann: Kinder, die schon früh auf die Förderschule kamen, haben tatsächlich einen signifikant niedrigeren IQ als Kinder, die erst später aussortiert wurden. Dadurch 82
Wahrheiten über Inklusion, die weh tun
erklärt sich auch ihr schlechteres Abschneiden im Rechtschreibtest. Vollends widerlegt Wocken sich selbst, indem er feststellt: Egal, wie lange Kinder in der Förderschule sind: Ihr IQ verändert sich dadurch nicht. Förderschule macht also nachweislich nicht dumm! Anstatt nun aber festzustellen: Förderschulen fördern die Kinder nachweislich gemäß ihrem intellektuellen Potenzial, formuliert Wocken: »Die Förderschüler stagnieren in ihrer intellektuellen Entwicklung.« Diese Schlussfolgerung ist aber im Lichte seiner eigenen Forschungsergebnisse völlig unhaltbar. Denn hat ein Kind in der siebten Klasse beispielsweise den gleichen IQ wie schon in Klasse zwei, so heißt das: Innerhalb seiner Altersgruppe ist es auf dem gleichen (niedrigen) Prozentrang geblieben. Würde es indessen weiter mit Zweitklässlern verglichen, so gälte das Kind vermutlich jetzt als hochbegabt. Damit ein Kind über die Jahre den gleichen IQ behält, muss es sich also intellektuell genauso weiterentwickeln wie alle anderen Kinder auch. Umgekehrt bedeutet das: Stagniert ein Kind tatsächlich in der intellektuellen Entwicklung, so wird sein Abstand zu den Altersgenossen immer größer, der IQ sinkt. Genau das ist bei den Kindern in der Förderschule nicht der Fall. Die Hypothese sei gewagt: Auch auf einem Gymnasium oder einer Gesamtschule haben die Kinder in Klasse zehn noch in etwa den gleichen IQ wie in Klasse fünf oder zwei! Wocken indessen tut einfach so, als habe er so etwas wie einen Skandal aufgedeckt: »Die vorliegenden Untersuchungsbefunde stellen der Förderschule kein gutes Zeugnis aus […]. Bestenfalls kann angenommen werden, dass die Langzeit-Förderschüler auf ihrem kognitiven Niveau stehen geblieben sind und die Förderschule nichts mehr ausrichten konnte. Schlimmstenfalls muss befürchtet werden, dass die Förderschule […] sogar eine weitere Niveauabsenkung bewirkt hat«,
orakelt er ohne den geringsten empirischen Beleg (ebd., S. 234). Als Erklärung dieses Befunds werden bildungsfeindliche Parameter ausgemacht, die die Wirklichkeit an den Förderschulen beschreiben sollen: didaktischer, methodischer, sozialer und zeitlicher »Reduktionismus«. Für viele Kinder bleibt die Förderschule immer noch die bessere Alternative
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Seltsam: Die einzig korrekte Schlussfolgerung dieser Studie ist, dass eine »›heilende‹, rehabilitative oder kompensatorische Effizienz der Förderschule« nicht nachweisbar sei. Derselbe Wissenschaftler, der angesichts seiner eigenen Ergebnisse beim Hamburger Schulversuch erklärt hatte, Integration sei auch dann richtig, wenn sie diese Kompensation nicht bewerkstelligen könne, gibt sich nun empört über die Tatsache, dass auch die Förderschule den Kindern ihr Handicap nicht abtrainieren kann. Nun könnten wir das Ganze als schwache Stunde eines engagierten Forschers abtun, der sich ansonsten um die schulische Integration viele Verdienste erworben hat. Allein: Dieser offensichtliche Unsinn wird bis heute gerne zitiert, und in einschlägigen Kreisen gilt es seitdem als wissenschaftlich erwiesen, dass die Förderschule tendenziell ihre Schüler verdummt. Erklärbar (wenn auch keineswegs entschuldbar) werden solche wissenschaftlichen Tiraden durch den enormen Rechtfertigungsdruck, dem sich integrative pädagogische Ansätze in Deutschland noch bis weit ins 21. Jahrhundert hinein ausgesetzt sahen (siehe Kap. 17). Das Resultat solcher Forschung ist in der Praxis verheerend: Es wurden und werden im Namen der Inklusion und vermeintlich im Dienste der guten Sache vorschnell Förderschulen geschlossen. Mit den schädlichen Auswirkungen gescheiterter Inklusion aber müssen die Kinder und deren Eltern fertig werden. Wenn sie Glück haben, finden sie dann neben der notwendigen medizinischen Hilfe noch ganz viel spezielle Förderung in einer pädagogischen Sondereinrichtung: Als »Rettungsinsel für Versager« beschreibt die Journalistin Regina Mönch (2016) das Projekt einer kleinen Schule in direkter Nachbarschaft einer Berliner Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, in der die Kinder mit »Verhaltensproblemen« erstmal wieder sein dürfen, wie sie sind, um dann mühsam ihre Stärken zu entdecken, ihre Ängste zu überwinden, neuen Mut zu fassen und vielleicht sogar ihre Freude am Lernen wiederzugewinnen. Aber nicht nur solche ganz besonderen Sonderschulen sind schlicht notwendig, solange die Regelschulen Inklusion noch nicht können. »Alexander, der schmächtige Junge mit blonden Haaren, sieht nicht so aus, als würde er gleich eine Bastelschere aus der Federmappe neh84
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men und damit auf seine Mitschüler losgehen. Vor zwei Jahren war das so. Alexander war damals in der dritten Klasse einer ganz normalen Grundschule. Die Bastelschere war seine Waffe gegen Lehrer, die ihn überforderten, und Mitschüler, die ihn ausgrenzten, weil er der Seltsame war, der Langsame, der Idiot.« (Klöpfer & Lehmann 2017)
Der Junge mit dem Aliasnamen Alexander, Sie ahnen es bereits, besucht heute eine Förderschule für Lernbehinderte – »also eine Schule, die es eigentlich gar nicht mehr geben dürfte« (ebd.), und die aus dem verzweifelten, scheinbar so aggressiven Kind einen strebsamen Schüler gemacht hat, der friedlich und sorgfältig seine Rechenaufgaben macht. Im gleichen Zeitungsartikel wird dann jedoch ein eindrucksvolles Gegenbeispiel in einer Rügener Grundschule beschrieben: »Justin rechnet 5 mal 5. Nora rechnet 100 mal 10.000. Die Lehrerin lobt ihn: ›Alles richtig, und so schnell.‹ Justin ist erst seit einem Jahr in der Klasse. Vorher wohnte er mit seiner Mutter und seinem Bruder auf dem mecklenburgischen Festland. Dort ging er auf eine Förderschule, wo er kaum Fortschritte machte. ›Meister war der im Ausdenken von Krankheiten‹, sagt seine Mutter. […] Inzwischen kann er lesen. Und er geht wieder gern zur Schule. ›Den Leistungsstand, auf dem er heute ist, den hätte ich mir nicht träumen lassen‹, sagt seine Mutter.«
Jetzt wäre es natürlich höchst interessant, wenn wir wüssten, weshalb Alexander zunächst in der Regelschule dramatisch scheiterte und nun an der Förderschule aufblühte, während es bei Justin genau umgekehrt war. Lag es an einfühlsamen, engagierten und versierten Pädagogen einerseits und eher unglücklich agierenden Lehrkräften mit zu wenig Zeit für das Kind andererseits? Oder eher an Art und Umfang der individuellen Förderung? Oder vielleicht an gelungener bzw. mangelnder sozialer Integration, die wiederum einer günstigen oder eben ungünstigen Klassenzusammensetzung geschuldet war? Und was hat das alles mit der Schulform einerseits und den persönlichen Voraussetzungen der Kinder andererseits zu tun? Schließlich: Gibt es eigentlich mehr Alexanders oder mehr Justins? Persönlich kenne ich kein einziges Kind, das wie Justin nach problematischem Für viele Kinder bleibt die Förderschule immer noch die bessere Alternative
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Sonderschulbeginn erst in der Regelschule angemessene Lernfortschritte machte, jedoch viele Alexanders. Aber was heißt das schon? Fragen über Fragen. Nach einjähriger aufwändiger wissenschaftlicher Recherche behaupte ich: Seriös sind sie bislang schlicht nicht zu beantworten. Die enorm steigenden psychiatrischen Diagnosen wegen Schulproblemen sowie zunehmende Meldungen aus den Förderschulen über »Rückläufer« sprechen jedoch ihre eigene Sprache. Und es sollte zumindest zur Kenntnis genommen werden, dass auch der Bundesverband zur Förderung von Menschen mit Lernbehinderung das Ziel der Inklusion zwar freudig bejaht, jedoch ausdrücklich auch den Erhalt der Förderschulen anmahnt, weil er nicht sieht, dass in den Regelschulen (schon) allen Kindern geholfen werden kann (Ziegler 2014, S. 20). Völlig unklar ist indes noch etwas ganz anderes: Sofern wir den internationalen Studien der Wissenschaftler glauben können, haben ja Kinder mit Lern- und Entwicklungsstörungen gute Chancen, bei vernünftiger Inklusion etwas bessere Schulleistungen zu erbringen – erkauft allerdings mit einem schlechteren Selbstbewusstsein und eher schwieriger sozialer Integration. Nun erscheint mir diese seltsame Wette auf die Zukunft – eher unglückliche Schulzeit, dafür dann ein Schulabschluss als Chance auf ein glückliches weiteres Leben – an sich schon problematisch. Umso mehr jedoch, weil der versprochene berufliche Erfolg womöglich bei Jugendlichen mit Handicap nur sehr wenig mit dem Schulabschluss zu tun hat. Eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln jedenfalls fand heraus, dass dank einer Ausbildung im Berufsbildungswerk letztlich 70 Prozent dieser Menschen eine »erfolgreiche Eingliederung in die Arbeitswelt« gelang (Ellger-Rüttgardt 2016, S. 165) – wenn auch oft auf Um- und Irrwegen, die manchmal 10 bis 15 Jahre dauerten (ebd.). Während für den beruflichen Erfolg letztlich Ausbildung und praktische Erfahrung entscheidend waren, sei mit zunehmendem Lebensalter die schulische Vorbildung schlicht »kein Einflussfaktor mehr« (ebd.). Auf Rügen ist dagegen noch nicht einmal sicher, wie sich das Experiment letztlich wirklich auf die Schulabschlüsse auswirkt. Das gilt nicht nur für Justin, der anfange »sich zu genieren«, wenn er mal wieder nur die leichten »Feder-Aufgaben« bekommt (Klöpfer & 86
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Lehmann 2017). In dem knallhart auf standardisierte Leistung und regelmäßige Überprüfung gebürsteten Rügener Modell wurden in Klasse fünf und sechs nur noch »vertretbare« Lernfortschritte in Deutsch und Mathe bei den Kindern mit Lernbehinderung gemessen. Und die Wissenschaftler, bislang eigentlich stets darauf bedacht, die Erfolge ihres Projekts gebührend darzustellen, stellen nun kritisch fest: »Sowohl in fünften als auch sechsten Klassen weisen allerdings relativ viele Kinder mit Schulleistungsrückständen emotionalsoziale Entwicklungsprobleme auf.« (Voß u. a. 2017) Bei so viel Unsicherheit halte ich es schlicht für einen politischen Skandal, den Abbau der Förderschulen zu betreiben und als Einstieg in die Inklusion zu verkaufen. Das heißt nun umgekehrt gerade nicht, dass sie auch dann noch unter besonderen Schutz gestellt werden müssten, wenn sie irgendwann dank gelungenem gemeinsamem Lernen überflüssig werden sollten. Bis dahin bleibt Eltern jedoch gar nichts anderes übrig, als genau zu beobachten, was ihrem Kind guttut, sich eingehend beraten zu lassen und letztlich bei der schwierigen Entscheidung der Schulwahl auf ihre Intuition zu vertrauen.
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12 Inklusion light ist gescheitert – und zwar mit Ansage Verordnete Inklusion unter prekären Bedingungen ist kein Fortschritt, denn sie schadet unseren Kindern. Dass gemeinsames Lernen geht, zeigen aber einzelne gelungene Beispiele. Jetzt kann nur mutiges Umsteuern das Projekt noch retten.
Wer einen nüchternen Blick auf die Schwierigkeiten wirft, mit denen schulische Inklusion zu kämpfen hat, kann sich nur wundern, wie manche Bundesländer überhaupt auf die Idee kommen konnten, sie per Dekret unter den Bedingungen der Kostenneutralität durchsetzen zu wollen. Ist es doch wissenschaftlich belegt, dass Inklusion für sich allein genommen keineswegs unsere Schulen besser macht. Wer auch nur ein bisschen Ahnung hat von der schulischen Wirklichkeit einerseits und den Anforderungen an inklusive Pädagogik, für den ist eigentlich klar, dass sie nur gelingen kann, wenn sich die Schulen dieser Aufgabe mit ganzer Kraft stellen und gleichzeitig die erforderlichen Ressourcen zur Verfügung haben. So ist es auch alles andere als eine Überraschung, wenn sich jetzt in der Praxis zeigt: Jenseits der Schulversuche in den Pionierjahren und einzelner Leuchttürme sind die Schulen nachweislich schlecht vorbereitet auf die Inklusion und verfügen über mangelhafte Ressourcen. Es fehlen die Zeit und manchmal auch der Wille, das Kollegium auf die neue Aufgabe positiv einzustimmen und gemeinsam ein durchdachtes pädagogisches Konzept zu erarbeiten. Die Lehrerinnen und Lehrer werden unzureichend fortgebildet und stehen vor einer Reihe von Zusatzaufgaben, die sie in einem ohnehin überlasteten Schulalltag häufig überfordern. Die Klassen sind zu groß und der Unterricht findet viel zu selten im Team-Teaching statt. Individuelle Förderung ist nicht Regel, sondern Ausnahme. Bedenken wir, dass die meisten von mir dargestellten Probleme der Inklusion noch unter personellen Bedingungen zutage traten, die deutlich besser waren als heute in den Ländern mit dem Anspruch 88
Wahrheiten über Inklusion, die weh tun
flächendeckender Inklusion, so sind die Befunde wirklich besorgniserregend. Besonders für die Förderschüler ist diese Art der schulischen Inklusion mit hohen Risiken verbunden: Es drohen Überforderung, Isolation, (heil-)pädagogisch falsche Behandlung und mangelnde Förderung mit Folgen, die für das Lernverhalten, den Lernerfolg und die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder dramatisch sein können. Ein gelingendes Leben, Bestätigung im Beruf, gesellschaftliche Anerkennung und Teilhabe werden so gerade gefährdet. Ausgerechnet in sozialen Brennpunkten und überall dort, wo Schulen besonders viele Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern und mit Lernschwierigkeiten unterrichten, ist außerdem damit zu rechnen, dass Inklusion zu einem Absinken des allgemeinen Lernniveaus führt. Die versprochene Chancengerechtigkeit erweist sich derzeit noch als leere Verheißung, während immer mehr Kinder in den Regelschulen scheitern und froh sein müssen, wenn sie dann noch eine intakte Förderschule finden, die sich ihrer annimmt. Die stagnierende Zahl von Kindern, die in Förderschulen unterrichtet werden, muss vor diesem Hintergrund auch als »Abstimmung mit den Füßen« gewertet werden: Obwohl sich gerade Eltern behinderter Kinder den gemeinsamen Unterricht grundsätzlich wünschen, schicken sie ihre Kinder doch lieber auf die Förderschule, weil sie das inklusive Angebot einfach noch nicht überzeugt. Ist damit nun aber schon die ganze Inklusion gescheitert, noch bevor sie überhaupt so richtig losging? Keineswegs. Gescheitert ist schlecht gemachte Inklusion, die von vornherein mit unhaltbaren Versprechungen angetreten war: ȤȤ Inklusion sollte nichts kosten oder das Bildungssystem sogar billiger machen. ȤȤ Inklusion sollte per se die Schule verbessern. Diese beiden Behauptungen haben sich nun als falsch herausgestellt. Die dritte Begründungsfigur für das gemeinsame Lernen von Kindern und Jugendlichen ist dessen ungeachtet jedoch nach wie vor richtig: ȤȤ Wer eine inklusive(re) Gesellschaft anstrebt, muss damit schon in der Kita und in der Schule beginnen. Inklusion light ist gescheitert – und zwar mit Ansage
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Mir scheint genau das die einzig überzeugende Begründung zu sein für das gemeinsame Lernen, und sie leuchtet gleich doppelt ein: Separation in Förderschulen widerspricht nicht nur dem inklusiven Grundgedanken, sondern sie ist auf der Seite behinderter Menschen noch zu häufig auch der Einstieg in eine Parallelgesellschaft relativ fernab des normalen Lebens im Wohnheim und in der Werkstatt für Behinderte. Für alle sich als »normal« definierenden Menschen ist es dagegen der Beginn eines Lebens unter sich, das sich mit Behinderung nicht auseinandersetzt und dem eine echte Begegnung mit den betroffenen Menschen häufig verwehrt bleibt. Deshalb setzen Inklusionsfans so viel Hoffnung gerade in die Schule. Es gibt jedoch eine weitere Wunschvorstellung, die für viele Beteiligte mit dem Projekt Inklusion verbunden ist und trotz der mangelhaften inklusiven Realität durchaus ihre Berechtigung behält: Gute Inklusion geht nur, wenn sich die Schulen in zentralen Punkten ihres pädagogisch-gesellschaftlichen Selbstverständnisses verändern. Das fängt bei der konsequent individuellen Leistungsbewertung an und hört noch längst nicht auf bei einer Schule für alle, die niemanden mehr aussortiert. Das nährt die Hoffnung, es möge sich dank der Inklusion der Traum eines gerechteren und humaneren Schulsystems in Deutschland verwirklichen lassen. Und genau deshalb ist umgekehrt Inklusion der Albtraum für alle, die unsere selektiven Schulen unbedingt verteidigen wollen. Für die Frage, in welchem Tempo und in welcher Qualität sich das gemeinsame Lernen der Kinder mit und ohne Handicap durchsetzt, sind diese Wünsche und Befürchtungen also höchst relevant. Als Begründung für oder gegen Inklusion taugen sie indes schlecht, da es dabei gar nicht primär um die Zielgruppe der Behindertenrechtskonvention geht. Nach der Bruchlandung der Schmalspur-Inklusion ist allerdings die Frage, ob Inklusion überhaupt geht in der Schule, aktueller denn je. Ihre Anhänger können darauf verweisen, dass es viele Gegenden dieser Erde gibt, in denen weit inklusivere Zustände an den Schulen herrschen als bei uns (siehe Anhang V, Abbildung 9). Darunter auch Länder, die beispielsweise bei PISA deutlich besser abschneiden als wir. Allerdings gibt eine Prozentzahl in der Statistik wenig Aufschluss darüber, was sich dahinter verbirgt, und die Bildungs90
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systeme in anderen Ländern unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht von den hiesigen Verhältnissen. Deshalb ist es von so großer Bedeutung, ob es auch hierzulande Beispiele gibt, wo es nachweislich klappt mit der Inklusion. Wahrscheinlich gibt es diese Leuchttürme: Die Jacob-Muth-Preisträgerschulen belegen jährlich inklusive Fortschritte und sollen Mut machen, ihnen nachzueifern. Wer diesen Nachweis allerdings wissenschaftlich haben will, muss bis in die 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts zurückgehen – in eine Zeit, als es Inklusion noch gar nicht gab, wohl jedoch »gemeinsamen Unterricht«. Damals begleitete die deutschsprachige Forschung die ersten integrativen Schulversuche an einzelnen Schulen. Dabei wurden die Akteure (Eltern, Lehrer, Schüler) befragt, Schulkonzepte analysiert, Unterricht beobachtet und Schulleistungen getestet. Stellvertretend sei hier die Forschung von Dieter Dumke (1992) zum Bonner Schulversuch näher beleuchtet – gibt sie doch Aufschluss darüber, wie so etwas wie eine wissenschaftliche Legende entstehen kann. Dumke erforschte zwischen 1986 und 1991 einen integrativen Schulversuch zunächst an einer Grundschule, später an einer Gesamtschule. Untersucht wurden neben den Integrationsklassen auch ihre nicht integrierenden Parallelklassen. Über sechs Jahre hinweg wurden dabei insgesamt fünf Integrationsklassen verschiedener Altersstufen beobachtet. Es handelt sich demnach um eine gute Längsschnittuntersuchung, allerdings mit einer sehr begrenzten Schülerzahl von zu Beginn 279 Schülern (davon 18 mit Behinderungen) und am Ende 396 (davon 23 mit Behinderungen). Es wurden Kinder mit körperlicher oder geistiger Behinderung, Sinnesbeeinträchtigungen sowie Schwierigkeiten in den Bereichen Lernen und Verhalten integriert. Bei den Regelschülern wurden die Schulleistungen zwischen Schülerinnen und Schülern der Integrationsklassen und denen der normalen Regelklassen verglichen, bei den behinderten Kindern stützte man sich dagegen auf Einzelfallanalysen. Die soziale Struktur der Klassen wurde durch Beobachtung und soziometrische Erhebungen ermittelt, bei denen z. B. gefragt wird, wie gern ein Schüler jeweils alle anderen Schüler in der Klasse als Sitznachbarn hätte. Inklusion light ist gescheitert – und zwar mit Ansage
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Was findet nun Dumke in den integrativen Klassen dieser Pionierschulen? Hier eine Auswahl. 1. Die soziale Integration der behinderten Schülerinnen und Schüler scheint gelungen. Sie werden in die sozialen Aktivitäten der Klasse mit einbezogen, werden ähnlich oft gewählt oder abgelehnt wie ihre Peers ohne Behinderung und sind auch an den meisten informellen Gruppen der Klasse beteiligt. 2. Die schulischen Leistungen entwickeln sich bei den meisten behinderten Schülern angemessen bis gut. Es wird jedoch auch von einer »Reihe von Fällen« berichtet, bei denen aufgrund ihrer Behinderung solch eine positive Entwicklung nicht eintrat (Dumke 1992, S. 39). 3. Die erzielten Erfolge fielen keineswegs vom Himmel: Vielmehr beruhten sie auf dem flexiblen Einsatz der verschiedenen Organisationsformen des integrativen Unterrichts, »einschließlich einer ausreichenden und zum Teil therapieorientierten Einzelförderung«, wie Dumke betont (ebd.). 4. Bei den nicht behinderten Schülerinnen und Schülern sind die Schulleistungen im Mittel gleich oder leicht besser als in den Parallelklassen, allerdings fallen sowohl mehr schulisch starke als auch mehr schwache Kinder auf, die Streuung ist also größer. 5. Insgesamt wurde in allen Klassen ein überdurchschnittlich gutes Leistungsniveau ermittelt, was auf ein ›bildungsnahes‹ Einzugsgebiet dieser Schulen hindeutet. 6. Das soziale Klima in den integrativen Klassen wird von den Schülerinnen und Schülern besser beurteilt als in den Parallelklassen ohne Integration. 7. Der Integrationsgedanke wird auch von den Eltern überwiegend mitgetragen. Nur eine Minderheit äußert sich zurückhaltend bis ablehnend. 8. Die Lehrerinnen und Lehrer zeigen sich mit der integrativen pädagogischen Arbeit und ihren Ergebnissen insgesamt »sehr zufrieden«. Allerdings verweisen sie fast einhellig darauf, dass zumindest in der Sekundarstufe integrativer Unterricht nur dann vertretbar ist, wenn er fast vollständig von zwei Lehrkräften gehalten wird (ebd., S. 61).
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Insgesamt wird also empirisch gut belegt ein überwiegend sehr positives Bild der schulischen Integration in diesen beiden Schulen gezeichnet. Wer ähnliche Schulen kennt, vermag hinter der spröden Beschreibung des Wissenschaftlers durchaus das Versprechen auf bessere Schule für alle zu erkennen. Auf eine Schule, die ihre Schülerinnen und Schüler nicht unbedingt zu absoluten Höchstleistungen in den Abschlussprüfungen trimmt, dafür aber ihre individuellen Talente fördert und ihnen die Neugierde auf diese Welt erhält. Eine Schule, in der die Kinder erleben können, dass sich unterschiedliche Begabungen und Stärken tatsächlich ergänzen können und Rücksichtnahme und Toleranz gegenüber dem Anderen und dem Anderssein normal sind. Eine Schule, in der der Slogan »Kein Kind zurücklassen« nicht leere Floskel, sondern gelebte Selbstverständlichkeit ist und die so letztlich die jungen Menschen auf ein selbstbestimmtes, aktives und verantwortliches Leben in einer pluralen Gesellschaft ziemlich gut vorbereitet. Wichtig ist zur Beurteilung der Ergebnisse jedoch, sich die besondere Situation der hier untersuchten Schulen klar zu machen. Es sind Schulen mit einem offenbar recht hohen Anteil von Kindern aus bürgerlich-bildungsnahen Schichten. Die Integration wurde dort von engagierten Eltern erkämpft und von einer Pioniergeneration von Lehrern als Aufgabe angenommen und mit großem persönlichem Einsatz verwirklicht, unter personellen Ressourcen, von denen heute die Pädagoginnen und Pädagogen nur noch träumen können. Auf solchen Forschungsergebnissen fußt also der Optimismus der Inklusionsfreunde. In der Tat beweisen sie, dass auch hierzulande gemeinsames Lernen gelingen kann! Schon damals war aber ebenso klar: Das geht nicht von allein. Es ist harte Arbeit, und sie erfordert bestimmte Voraussetzungen. Erfolgsgeschichten wie diese wurden aber im Laufe der Zeit verallgemeinert – bereits der offizielle Abschlussbericht zu den integrativen Schulversuchen in der Grundschule des Landes NRW nennt Dumke als Kronzeugen für gelingende Integration, seine Erkenntnisse gelten jetzt nicht mehr für 20 bis 25 Kinder mit Förderbedarf an zwei Schulen, sondern für die im Jahr 1994 insgesamt 1336 integrativ unterrichteten Förderschüler in ganz NRW. Inklusion light ist gescheitert – und zwar mit Ansage
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Die speziellen Bedingungen des ursprünglichen Schulversuchs traten dagegen seltsamerweise allmählich ganz in den Hintergrund. Diese Ausgangslage verleitet Inklusionsfreunde bis heute leicht zu der fatalen Fehlinterpretation, dass der Erfolg des gemeinsamen Unterrichts behinderter und nicht behinderter Kinder ganz allgemein »empirisch gesichert« sei. Auf eine wichtige Einschränkung dieses Erfolgs wies jedoch schon der Rehabilitationspsychologe Gerhard Lauth hin. Stellte er doch fest: Der Vergleich zwischen integrativen Klassen und Regelklassen ist irreführend, da die integrativen Klassen sozial günstiger zusammengesetzt sind. Eine Tatsache, die wohl kaum zufällig ist: An Schulen, die sowohl integrative als auch »normale« Klassen haben, wird versucht, eine »günstige Mischung«der Kinder zu erreichen. Es ist kein Geheimnis, dass dazu gehört, beispielsweise mehr Kinder aus Akademikerfamilien den integrativen Klassen zuzuordnen. »Dem Leistungsvergleich liegen mithin Ausgangsbedingungen zugrunde, die die Integrationsklassen systematisch begünstigen.« (Lauth 2003, S. 33) Da Lauths Studie von der damaligen Landesregierung in Nordrhein-Westfalen gar nicht erst veröffentlicht wurde, konnte dies freilich von den Aktivistinnen und Aktivisten der Integration auch nicht zur Kenntnis genommen werden. Bis heute schlicht ignoriert werden von ihnen jedoch alle anderen Untersuchungen, die aufzeigen, mit welchen Schwierigkeiten das Projekt Gemeinsames Lernen zu kämpfen hat. So konnte es letztlich zu jenen inklusiven Bemühungen kommen, die in der Tat allenfalls »gut gemeint« waren (Felten 2017), de facto aber geradewegs in die Misere führten. Diese Art von Inklusion war kein Experiment, sondern ein Scheitern mit Ansage. Was ist nun also zu tun? Um es mal salopp auszudrücken: Version 1.0 war klein, aber im Ganzen ziemlich fein und nannte sich noch Integration. Version 2.0 war groß gedacht, aber schlampig und falsch programmiert. Den Anwendern machte sie mehr Ärger als Freude. Jetzt muss schleunigst Version 3.0 her: Ein Programm, das im Gegensatz zur alten Integration darauf abzielt, so viele Kinder wie möglich zu erreichen, dabei jedoch handwerklich solide gemacht ist und bescheiden genug in seinen Ansprüchen, um diese auch erfüllen zu können. Matrix für diese Version muss die simple Formel sein: 94
Wahrheiten über Inklusion, die weh tun
Inklusion verspricht dann bessere Bildung für viele, wenn wir die Schulen für diese Aufgabe ausreichend ausstatten und die Akteure gut darauf vorbereiten. Was wir jetzt sicherlich nicht brauchen, ist ein Etikettenschwindel, der in einer Art Orwell’schem Neusprech das »dual-inklusive« Zeitalter (Speck 2016) verkündet, sich tatsächlich jedoch damit zufrieden gibt, nur ein paar »geeignete« Kinder zu inkludieren, während ansonsten alles beim Alten bleibt. Diese Haltung widerspricht dem Gedanken der Inklusion grundlegend, und sie wird von den Bürgerinnen und Bürgern mit Behinderung schlicht nicht mehr hingenommen. Zweifellos ist Idee der Inklusion jedoch durch die schlecht gemachte Version 2.0 arg in Verruf geraten. Im Folgenden werde ich zeigen, weshalb Inklusion dennoch nicht auf Eis gelegt oder gar zurückgedreht werden kann. Dabei werde ich auch einen kritischen Blick auf den schillernden Begriff selbst werfen und das gesellschaftliche Umfeld ausleuchten, in dem sich die inklusive Entwicklung vollzieht. Nur so lassen sich die aktuellen Schwierigkeiten, gemeinsames Lernen aller Kinder zu verwirklichen, richtig verstehen. Und nur wenn wir die Ursachen dieser Schwierigkeiten kennen, können wir Strategien entwickeln, sie zu überwinden.
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Kein Heil, kein Untergang. Zeitgemäße Pädagogik Letztlich ist die Idee der inklusiven Schule simpel. Sie meint einfach eine Schule, die auf die in ihr zu unterrichtenden Kinder eingeht. (Graf 2017, S. 45)
13 Ganz einfach, viel zu tun Inklusion ist nicht wahlweise eine gute oder auch nur gut gemeinte Idee, die verworfen werden könnte, wenn es in der Praxis schlecht läuft. Sie benennt eine eingeforderte Haltung seitens der Mehrheitsgesellschaft und eine emanzipatorische Bewegung seitens der betroffenen Minderheit.
Vordergründig geht es dabei um »angemessene Vorkehrungen« und »notwendige Unterstützung« die von der UN-Behindertenrechtskonvention für Menschen mit Behinderung im allgemeinen Schulsystem eingefordert werden (UN-BRK, § 24). Dahinter steht jedoch die leider noch längst nicht erfüllte Forderung nach Respekt, Anerkennung, Würde, Gleichberechtigung. Deshalb kämpfen viele Eltern und Vertreter behinderter Menschen so voller Hingabe dafür. Was damit gemeint ist, kann vielleicht am besten ganz praktisch und aus Sicht eines Menschen mit Handicap verdeutlicht werden. Rainer Schmidt, mittlerweile Pfarrer, Kabarettist, Autor und ExProfisportler, aber schon damals mit fehlenden Unterarmen und verkürztem rechten Oberschenkel, wollte 1986 nach zehn Jahren »Sonderschulkarriere« aufs Gymnasium wechseln. Er erinnert sich noch heute an die »schöne und sehr inklusive« Frage, die ihm der Schulleiter damals stellte: »Was müssen wir tun, damit Sie bei uns Abitur machen können?« (Irle 2015, S. 21) Warum ist diese Frage so inklusiv? Erstens: Das Gegenüber wird als Mensch wahr- und ernstgenommen (und nicht als behindert). Es stellt sich deshalb erst gar nicht die Frage, ob dieser junge Mensch vielleicht »woanders besser gefördert werden« könnte oder gar aufgrund seiner Behinderung »hier nicht hingehört«. Das Dabeisein ist selbstverständlich, es ergibt sich aus seiner Menschenwürde. Zweitens: Der junge Mann wird dennoch mit seinen körperlichen Einschränkungen wahrgenommen, seine Behinderung dient zwar nicht als Etikett für den Menschen, wird aber nicht ignoriert. 98
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Vielmehr ergibt sich daraus drittens ein klarer Auftrag: »die Schule [muss] dafür Sorge tragen, dass Rainer Schmidt dort lernen kann« (ebd.). Was die Schule konkret bereitzustellen hat, um diesem Anspruch zu genügen, ist wesentlich eine Frage der Voraussetzungen, die dieser Schüler mitbringt und über die er – abhängig von seinem Entwicklungsstand und seinen Erfahrungen – am besten selbst Bescheid weiß. Die Behindertenrechtskonvention spricht in diesem Zusammenhang von »angemessene[n] Vorkehrungen für die Bedürfnisse des Einzelnen« und »wirksame[n] individuell angepasste[n] Unterstützungsmaßnahmen« (UN-BRK § 24, 2). Viertens: Was die Schule tun muss, ist Pflicht, es hängt nicht etwa ab von der Gnade eines progressiven Schulleiters oder dem guten Willen engagierter Pädagogen, es hat auch keine Grenze durch einen Finanzierungsvorbehalt oder die Art und Schwere einer Behinderung. Die Möglichkeiten, dieses inklusive Projekt zu verwirklichen, sind freilich sehr wohl limitiert: durch die menschliche Begrenztheit aller beteiligten Akteure, durch begrenzt reformbereite oder -fähige Strukturen, durch die begrenzten finanziellen Ressourcen, die eine Gesellschaft für dieses Projekt ausgeben kann oder will. Aber wichtig ist: Diese Grenzen stehen nicht von vornherein fest, nicht für das System Schule, und schon gar nicht für bestimmte »Arten« behinderter Menschen, für die Inklusion dann von vornherein nicht vorgesehen ist. »Lasst es uns einfach tun«, ist deshalb zunächst der richtige Impuls. Es könnte allerdings sein, dass sich dabei herausstellt, dass sich mit den dafür vorgesehenen finanziellen Mitteln Inklusion schlecht machen lässt; es könnte sein, dass sich das Schulsystem in der Realität widerständiger erweist als erhofft; es könnte auch sein, dass menschliche Grenzen die Realisierung der Vision stärker gefährden, als gedacht. Die Gefahr, dass am Ende reihenweise Menschen scheitern an dem, was als Inklusion in Kindergärten, Schulen, Freizeiteinrichtungen, berufliche Qualifikation und Arbeitswelt kommt, ist deshalb real. Aber was soll sich nun eigentlich ändern im Zusammenhang mit Inklusion? Wenn damit ein konkretes gesellschaftliches Reformvorhaben gemeint ist, gespeist aus der Vision gelingenden Zusammenlebens unterschiedlichster, aber dennoch gleich geachteter und gleich Ganz einfach, viel zu tun
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berechtigter Menschen, ist klar: Das beginnt nicht erst im Kindergarten und endet nicht mit der Schulpflicht. Es beinhaltet ebenso die Sensibilität gegenüber verschiedensten Formen der Benachteiligung und Ausgrenzung wie auch die Bereitschaft, diese zu verringern. Es beinhaltet eine Analyse der Barrieren, die diskriminierungsfreie Teilhabe erschweren, und sucht nach Wegen, sie auf allen Ebenen und in allen Lebensbereichen abzubauen: von den nicht rollstuhlgerechten Türschwellen bis hin zu den Barrieren im Kopf, von der adäquaten pädagogischen Förderung zusammen mit allen anderen Kindern bis hin zu einer selbstbestimmten und selbstverständlichen Beteiligung im Sportverein um die Ecke oder der »Inklusion an der Ladentheke« (Becker 2015). Die vielleicht größte Herausforderung stellt dabei nicht etwa Schule dar, sondern das, was sich daran anschließen soll: eine nicht separierende, nicht diskriminierende Beteiligung an der Erwerbsarbeit, die ohne äußere Schonräume (Werkstatt für behinderte Menschen, Wohnheime) auskommt, aber dennoch nicht behinderte Menschen (wie schon jetzt viele Menschen mit einfachen beruflichen Qualifikationen, Sprachbarrieren etc.) marginalisiert oder überfordert. Hier steckt tatsächlich, konsequent weitergedacht, Sprengstoff drin für unser ganzes kapitalistisches Wirtschaftssystem. Einstweilen jedoch ein viel zu schwacher, um auch nur ansatzweise etwas ausrichten zu können. Die pragmatische Lösung liegt deshalb am ehesten in vielen inklusiven Inseln, also einerseits kleinen, mehr oder weniger betreuten Wohneinheiten und andererseits in kooperativ geführten Betrieben, in denen Menschen arbeiten, die sich ganz bewusst der Logik von immer mehr Wettbewerb und immer größerer Effizienz teilweise entziehen. Diese Betriebe werden nicht ohne staatliche Transferleistungen auskommen, sollten aber getragen sein von Kunden, die sich ebenso bewusst für deren Produkte oder Dienstleistungen entscheiden. Solch ein »Netz der Inseln« anzustreben, ist vielleicht auch im schulischen Bereich die humanere und Erfolg versprechendere Variante gegenüber der flächendeckenden Inklusion im Sinne von »überall ein bisschen Inklusion«. All die oben angesprochenen Aufgaben berühren nicht nur praktische Fragen etwa der richtigen baulichen Ausstattung, notwendigen Hilfsmittel, geeigneten Pädagogik und Schulorganisation; sie 100
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haben nicht nur finanzielle Konsequenzen (Wer zahlt? Wofür? In welcher Höhe?) und rechtliche Aspekte (angefangen bei der Aufsichtspflicht bis hin zur Prüfungsordnung); sie wirken auch auf das ein, was Schule überhaupt sein will – und können dieses eigene Selbstverständnis grundsätzlich bedrohen. Hierzu sei erneut an den Satz des eingangs erwähnten progressiven Schulleiters erinnert, diesmal in anderer Betonung: »Was müssen wir tun, damit Sie bei uns Abitur machen können?« Für Rainer Schmidt, der trotz körperlicher Behinderung und »Sonderschulkarriere« seine Qualifikation für die Oberstufe in der Tasche hatte und nun genau mit diesem Ziel das Gymnasium besuchen wollte, die absolut passende Frage. Für den Leiter eines Gymnasiums, dessen Sinn und Zweck ja die Vergabe der Hochschulreife an »geeignete« Personen letztlich ist, auch. Für einen Menschen mit Behinderung, der sich keine Hoffnung machen darf, selbst mit größter Anstrengung dieses Ziel (oder irgendeinen anderen regulären Abschluss) zu erreichen, freilich nicht. Für ihn hätte die inklusive Frage gelautet: »Was müssen wir tun, damit Sie bei uns erfolgreich die Schule abschließen können?« Schulabschluss, jenseits von Abitur und allen anderen regulären Abschlüssen, noch dazu erfolgreich und noch dazu auf dem Gymnasium! Das klingt, wenn nicht nach Revolution, so doch mindestens nach Identitätskrise – oder einfach nach Abwehr, wie der Fall Henry zeigt, dessen Eltern sich gewünscht hatten, dass das Kind mit DownSyndrom mit seinen Klassenkameraden aufs Gymnasium wechselt. In diesem Spannungsverhältnis bewegt sich das Projekt Inklusion nicht nur in der Schule, sondern in allen gesellschaftlichen Bereichen. Sie führen für Menschen mit Handicap immer wieder zu ganz konkreten, leidvollen Erfahrungen unterschiedlichster Art. Nicht immer sehen sie von außen betrachtet spektakulär aus. Max, den wir schon aus dem ersten Teil des Buches kennen, will unbedingt in einen »richtigen« Fußballverein. Die Eltern versuchen lange zu bremsen, raten ab, da sie ahnen, dass das Kind dort große Schwierigkeiten haben wird, sich durchzusetzen. Eines Tages nimmt das Kind die Sache selbst in die Hand und geht zusammen mit einem Freund einfach zum Probetraining. Während dieser Freund freudig in die Gruppe aufgenommen wird, legt sich der Trainer bereits nach dem allerersten Training fest: Zum Training könne der Junge gern Ganz einfach, viel zu tun
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weiter kommen, in einem Ligaspiel werde er ihn aber sicher niemals einsetzen. Die Eltern sprechen daraufhin erneut mit dem Kind, teilen ihm schweren Herzens die Einschätzung des Trainers mit. Das Kind akzeptiert die Entscheidung, will aber trotzdem weiter mit seinem Kumpel zum Training gehen. Über Wochen trainiert er nun regelmäßig mit, stets hoch motiviert und eifrig. Der Trainer selbst versichert den Eltern, es gebe »keine Probleme«. Als dann jedoch der Klassenkamerad irgendwann auch offiziell in den Club aufgenommen wird, wünscht sich der Junge nun auch vehement ein Vereinstrikot. Mit einem Aufnahmeantrag der Eltern konfrontiert, verweigert der Trainer dem Kind plötzlich auch das Mittrainieren – nicht ohne den wohlmeinenden Hinweis, andere Vereine hätten ja »für solche Kinder« spezielle Gruppen ganz ohne Leistungsdruck. Das Schicksal, trotz ernsthaften Bemühens nicht in den Fußballverein aufgenommen zu werden, teilen in Deutschland mit diesem Jungen mutmaßlich hunderttausende andere, die meisten davon ohne attestierte Behinderung. Und auch für diese Kinder ist das offensichtlich höchst ungerecht. Insofern zeigt sich an diesem Beispiel, wie fragwürdig das sogenannte Leistungsprinzip ist, wenn es schon in der F-Jugend eines gemeinnützigen dörflichen Vereins zur knallharten Exklusion von Kindern führt. Es wirft also ein Schlaglicht darauf, wie weit der Weg zu einer inklusiven Gesellschaft noch ist, aber auch wie schwierig: Kaum jemand will ja in Deutschland nur wegen der Inklusion auf den bestmöglichen Fußball verzichten oder diesen auch nur gefährden! Im konkreten Fall hat die Geschichte übrigens vorläufig ein inklusives Happy End: Im Verein des benachbarten Stadtviertels wurde der Junge doch noch aufgenommen, hat sich dort fußballerisch im Rahmen seiner Möglichkeiten enorm entwickelt, wird von den Mitspielern akzeptiert und kommt auch regelmäßig zu (meist eher kurzen) Spieleinsätzen in Turnieren und Meisterschaftsspielen. Möglich machte dies ein aufgeschlossener, mitfühlender Trainer, aber letztlich verwirklicht hat diese Möglichkeit das Kind, indem es hartnäckig kämpfend eine enorme Anpassungsleistung vollbrachte. Nicht alle Kinder mit Förderbedarf haben dazu die persönlichen oder körperlichen Voraussetzungen, seien sie auch noch so motiviert. 102
Kein Heil, kein Untergang. Zeitgemäße Pädagogik
14 Glanz und Kleister Inklusion ist nicht nur ein Modewort und Streitthema. Der Begriff selbst lädt ein zu einer Reihe von Miss verständnissen und verqueren Ansprüchen, die leider einen Teil zur schlechten Praxis beitragen.
»Ist das eigentlich ein Inklusionskind?«, raunen sich die Pädagogen in den Lehrerzimmern deutscher Schulen immer häufiger zu, wenn sie bei einem Schüler sonderpädagogischen Förderbedarf vermuten, den sie gerade in einer Vertretungsstunde erleben durften. Die Antwort fällt mal so und mal so aus. Aber jeder weiß, was die Kollegin oder der Kollege wissen will, auch wenn an einer inklusiven Schule natürlich eigentlich alle Kinder »I-Kinder« sind. Früher nannte man diese Kinder »Integrationskinder« oder »GU-Kinder« (für »Gemeinsamen Unterricht«), Förderkinder oder – noch früher: Sonderschüler, Hilfsschüler, Behinderte. Nun ist also alles inklusiv. Sogar der Deutsche Fußball-Bund hat seinen Behinderten-Beauftragten gegen einen Inklusions-Beauftragten ausgetauscht. Wie kommt es zu diesem Schilderwechsel? Zeigt er Neues an oder handelt es sich um bloße Namensänderungen, weil das politisch korrekt jetzt eben so heißt? Vor über zehn Jahren, Studientag fürs Kollegium einer großen integrativen Gesamtschule in NRW. Auftritt ein Professor irgendeiner ostdeutschen Universität, langes Haar, Vollbart. Er spricht über – Inklusion. Was diese Schule mache, versicherte uns der Rehabilitationswissenschaftler, sei natürlich sehr lobenswert, sie würde sich ja sehr um das Richtige bemühen und habe auch schon schöne Erfolge erzielt. Leider nur basiere unser bisheriges Konzept eben auf der Idee der Integration – kein Vorwurf, wir konnten es ja nicht besser wissen – nun jedoch sei es auch für diese Schule wichtig, sich auf den Weg zur Inklusion zu machen. Inklusion? Für mich war der Begriff reichlich seltsam, mit klaustrophobischen Gefühlen verbunden, musste ich doch als Biologe an die armen Insekten denken, die Glanz und Kleister
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vor Millionen Jahren ins Harz prähistorischer Bäume geraten waren und bis heute als Mumien im Bernstein eingeschlossen bleiben. Leicht amüsiert, leicht irritiert lauschte ich also dem Vortrag des vermeintlichen »Besser-Ossis« mit dem komischen neuen Begriff. Je länger ich allerdings zuhörte, desto weniger konnte ich mich der Größe und Schönheit der Idee hinter diesem Wort entziehen. Drei Aspekte sind mir bis heute aus dem Referat in Erinnerung geblieben, dessen Autor jener Andreas Hinz war, der mittlerweile schon mal als »deutscher Inklusions-Papst« bezeichnet wird: ȤȤ Inklusion betrifft nicht nur Behinderte, die nun wie die vermeintlich »normalen« Kinder an der Regelschule gebildet werden sollen, sondern sie adressiert eben an alle, wobei die Herausforderung darin besteht, niemanden als anders zu etikettieren und zu behandeln, weil er oder sie vermeintlich von irgend einer kulturellen, sozialen oder biologischen Norm abweicht. ȤȤ Inklusion passt nicht einseitig behinderte Menschen (oder andere Randgruppen) in die vermeintlich normalen schulischen oder gesellschaftlichen Verhältnisse ein, sondern intendiert eine Begegnung auf Augenhöhe, einen Umgang mit Respekt und Achtung voreinander, eine Bereitschaft, wechselseitig voneinander zu lernen, sich durch andere Sicht-, Handlungs- und Seinsweisen bereichern zu lassen und dadurch echte Veränderung des ganzen Systems Schule bzw. letztlich der Gesellschaft zuzulassen. ȤȤ Inklusion versucht, den Unterschied zwischen dem Normalen und Abnormalen dadurch aufzulösen, dass bei allen das Besondere, individuell Unterschiedliche betont wird und es im pädagogischen Alltag normal wird, dass alle Kinder gemäß ihren Voraussetzungen ihre spezielle Behandlung bekommen – sei es im Klassenzimmer durch unterschiedliche Lernwege, Zeit- und Zielvorgaben, sei es durch Förder- und Forder-Angebote, Neigungskurse oder auch therapeutische Hilfen je nach Bedarf. Pointiert gesagt: Statt Regelschulpädagogik auf der einen Seite und Sonderpädagogik auf der anderen Seite eine besondere Pädagogik für alle! Es soll bei dieser Darstellung natürlich nicht der Anspruch erhoben werden, Hinz nach über zehn Jahren aus dem Kopf wiederzugeben. 104
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Vielmehr beschreibt sie das, was ich damals verstanden zu haben glaubte und bis heute am inklusiven Ansatz für bemerkenswert halte. Seit Deutschland 2009 die Übereinkunft der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-Behindertenrechtskonvention) als deutsches Recht in Kraft gesetzt hat, begann Inklusion aus dem fachspezifischen Diskurs in die Alltagssprache durchzusickern (obwohl in der offiziellen Übersetzung noch von »Integration« gesprochen wird). Die Debatte über das »Gemeinsame Lernen« in den Regelschulen verhalf ihr wohl vollends zum Durchbruch. Die Behindertenrechtskonvention will dafür sorgen, dass auch behinderten Menschen die Menschenrechte und Grundfreiheiten uneingeschränkt zuteilwerden, und versucht zu definieren, welche Anstrengungen unternommen werden müssen, um diesem Anspruch gerecht zu werden. Sie orientiert sich unstrittig am Leitbild »Inklusion«, wenn sie »die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft« fordert. Als Voraussetzung für chancengleiche Bildung ohne Diskriminierung wird in Artikel 24 explizit ein »inklusives Bildungssystem« (inclusive education system) gefordert. Halten wir fest: Inklusion ist eine Vision, eine Art Grenzbegriff, der den Zustand einer Gesellschaft beschreiben soll, in der es keine Randgruppen mehr gibt, in der Verschiedenheit wertgeschätzt und reflektiert wird, in der alle Menschen gleichberechtigt zusammenleben und gemeinsam dafür sorgen, dass jeder nach seinen Vorlieben und Möglichkeiten am sozialen Leben teilhaben und dieses gestalten kann und dabei gleichermaßen geachtet wird. So gesehen kann Inklusion in der Tat als »Paradiesmetapher« (Jantzen 2015) bezeichnet werden. Es ist nun relativ leicht, Inklusion mit Lyotard zwar als »letzte große Erzählung der Moderne« zu würdigen, schließlich aber als utopische Fabel der Lächerlichkeit preiszugeben. Schwerer wiegen jedoch die Missverständnisse, Widersprüche und Probleme im inklusiven Konzept selbst. Einige seien hier kurz dargestellt, denn so manche seltsame Blüte, die die Praxis treibt, hat ihre Wurzel in der Theorie. Erstens: Ist Behinderung wirklich nur eine besondere Seinsweise wie andere auch? Wird das Postulat »Wertschätzung der Vielfalt« Glanz und Kleister
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falsch verstanden, ergeben sich daraus gravierende Probleme, wie der Berliner Rehabilitationswissenschaftler Bernd Ahrbeck zu Recht bemerkt (Ahrbeck 2014, S. 34 ff.): Die verschiedenen menschlichen Eigenschaften, Verhaltens- und Lebensweisen sind zwar von der Gesellschaft zu tolerieren, so lange dadurch für andere kein Schaden entsteht. Ihr Wert misst sich jedoch daran, ob sie jedem Einzelnen ein »gutes menschliches Leben« (ebd.) ermöglichen. Wäre dies anders, bräuchten wir keine Erziehung, keine Sozialpolitik, keine Therapeuten, noch nicht einmal Ärzte. Ein körperlich stark eingeschränkter Mensch mit permanenten Schmerzen wird seinen Zustand kaum per se wertschätzen. Vielmehr kommt es darauf an, ihm durch orthopädische und sonstige technische Hilfsmittel, durch Therapien und eine geeignete Umwelt seine Behinderung erträglich zu machen, er selbst kann hoffentlich immer besser lernen, seine körperlichen Schwierigkeiten zu akzeptieren und mit ihnen konstruktiv umzugehen, so dass er es am Ende vielleicht sogar schafft, sein Handicap positiv in sein Leben zu integrieren. Auch Eigenschaften wie etwa Wissbegier, Motivation, Anstrengungsbereitschaft, Zielstrebigkeit, Konzentrationsfähigkeit, Freundlichkeit, Empathie, Fairness, Hilfsbereitschaft, Rücksichtnahme oder Verantwortungsgefühl (um hier nur einige zu nennen) können selbst in einer Vision von Schule und Gesellschaft kaum gleichwertig mit ihrem jeweiligen Gegenteil begrüßt werden, ein menschliches Zusammenleben wäre so kaum denkbar. Aber natürlich können und sollten die Menschen ungeachtet ihrer für ein gelingendes Leben ganz unterschiedlich günstigen Voraussetzungen wertgeschätzt werden, und dazu ist der pädagogische Blick auf die Ressourcen und besonderen Gaben, die jeder Mensch hat, sehr hilfreich. Die Idee, dass in einer demokratischen Gesellschaft schon vom Kindergarten an der Umgang mit Verschiedenheit gemeinsam erlernt und niemand wegen »unerwünschter Eigenschaften« ausgeschlossen werden sollte, bleibt deshalb von dieser Kritik unberührt. Zweitens: Eine weitere grundsätzliche Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass Inklusion die schlichte Aufteilung in Behinderte und Nichtbehinderte überwinden will, indem sie jegliche stigmatisierende Zuschreibungen vermeidet, die dazu führen könnten, Men106
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schen auszusondern, um sie hinterher wieder mühsam integrieren zu müssen. In der Konsequenz hebelt das jegliche sonderpädagogische Diagnostik aus (über die ja dann auch gar nicht mehr gesprochen werden darf, um die Kinder nicht zu diskriminieren) und damit auch die Grundlage einer besonderen pädagogischen Behandlung, um dem besonderen Kind gerecht werden zu können. Auch die Barrieren, die dieses Kind womöglich behindern, können so kaum abgebaut werden. Sonderpädagogische Diagnostik: Fragwürdig, beschädigend, verzichtbar, lautet ein entsprechender Artikel, der erst kürzlich veröffentlich wurde (Schumann 2016). Aus der Idee, stigmatisierende Etikettierungen zu überwinden, kann so in der Praxis schnell ein Programm werden, die Bedürfnisse von Menschen mit Handicap zu übergehen – und somit das Gegenteil dessen, was Inklusion eigentlich will. »Ich will es noch erleben, dass meine Tochter in dieser Gesellschaft nicht über ihre Behinderung definiert wird«, ruft mit Emphase eine Inklusionsaktivistin auf einer Veranstaltung zum Thema. Das scheint mir die Grundidee hinter dem Etikettierungsverbot zu sein, und wer ein eigenes behindertes Kind hat, wird dem wohl uneingeschränkt zustimmen. Fachliche Diagnostik allerdings muss unbedingt erlaubt bleiben, im pädagogischen und therapeutischen Bereich ebenso wie im medizinischen. Und selbstverständlich muss es auch möglich sein, dass Pädagoginnen und Pädagogen über diese Diagnosen unbefangen sprechen, wenn sie den Kindern gerecht werden wollen. Nicht die Etiketten als Diagnose besonderer und oft behindernder Voraussetzungen für ein »gutes Leben« sind zu überwinden, sondern deren übergriffige Bezeichnung für den ganzen Menschen und ihr diskriminierender Charakter – genauso, wie ich es erwarten darf, dass mich der Arzt nicht auf den »Blinddarm auf Zimmer 308« reduziert und Mitschüler ein Kind, das mit spastischen Lähmungen zu kämpfen hat, nicht zum »Spasti« machen. Wichtig bei diesen Diagnosen ist freilich auch, sie wirklich als Ausgangspunkt einer (möglichen) Entwicklung zu begreifen, nicht als medizinisch definierte statische Zustandsbeschreibung (vgl. Jantzen 1997, S. 14). Glanz und Kleister
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Drittens: Als eine Art natürliche Folge des Verbots, Menschen zu etikettieren und zu sortieren, kommt die Forderung daher, überhaupt keine besonderen Schulen mehr für besondere Kinder zuzulassen: »Inklusive Bildungseinrichtungen verzichten von vornherein auf jegliche Formen von Aussonderung. Alle Kinder und Jugendlichen eines Stadtteils, Wohngebietes oder Quartiers sind willkommen.« (Heimlich & Kahlert 2012, S. 12)
Noch deutlicher wird Hinz, wenn er schreibt: »Inklusion bedeutet, die tradierte Orientierung auf eine spezifische Klientel sowie spezifische Einrichtungen und Dienste für sie aufzugeben zugunsten von Gemeinwesenarbeit im Stadtteil und in der Gemeinde.« (Hinz 2010)
Das bedeutet nichts weniger, als dass alle Schulen inklusiv zu werden haben, andernfalls ist es keine richtige Inklusion. Gerade für Grundschulkinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf ist eine wohnortnahe, vielleicht sogar fußläufig erreichbare Schule, in die sie mit den Kindern aus der Nachbarschaft gehen können, sicher ein unschätzbarer Vorteil gegenüber einer Schule speziell für ihre Behinderung, zu der sie allmorgendlich in einer einstündigen TaxiIrrfahrt gebracht werden müssen. Andererseits verleiht die Denkweise, es müssten alle Schulen mitmachen, dem Projekt Inklusion eindeutig totalitäre Züge: Jede Förderschule, jede nicht inklusive Regelschule, aber auch jede Regelschule, die sich dem Thema Inklusion in besonderer Weise widmet und als Schwerpunktschule bewusst mehr behinderte Kinder aufnimmt, als in ihrem Einzugsgebiet leben, wird so zu einem Verstoß gegen die große Idee. Die Forderung nach selbstbestimmter, diskriminierungsfreier Teilhabe für behinderte Menschen und andere Randgruppen mutiert plötzlich zum moralischen und in der Folge auch rechtlichen Zwang: für die Institutionen, die sich ihnen zu öffnen haben, und für die Betroffenen, die dort hinzugehen haben. Dabei ist es nicht etwa die Zwangsinklusion für behinderte Kinder, die das eigentliche Problem darstellt – mit der Schulpflicht 108
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muten wir schließlich allen unseren Kindern zu, zwangsweise in eine Schule inkludiert zu werden und somit in dieser Frage nicht selbstbestimmt zu sein. Auch das Elternwahlrecht steht dem nicht entgegen: kann es doch keinesfalls rechtfertigen, eine Schulform auch dann weiter am Leben zu halten, wenn sie überflüssig geworden ist. Erzwungene Inklusion wird jedoch zum Problem, wenn dabei das Recht eines jeden Kindes verletzt wird, sich in der Schule grundsätzlich wohlzufühlen und angemessen gefördert zu werden. Viele, die sich noch an die eigene Schulzeit erinnern oder Kinder im schulpflichtigen Alter haben, können vielleicht von mehr oder weniger erheblichen Verletzungen dieses Kindesrechts ihr Lied singen. Traurig genug. Das ändert jedoch nichts daran, dass Schulpflicht nur gerechtfertigt ist, wenn die Schule grundsätzlich den Kindern gut tut. Dies gilt natürlich auch für behinderte Kinder, wenn ihnen zugemutet wird, auf die Regelschule zu gehen. Genau hier liegt das Problem: Schulen, denen Inklusion verordnet wird, noch dazu ohne die erforderlichen Mittel und Hilfen bereitzustellen, werden nur selten behinderte, entwicklungsverzögerte, verhaltensauffällige oder sozial besonders benachteiligte Kinder freudig mit offenen Armen empfangen. Sie werden sich schwertun damit, sich so zu verändern, dass sie all diesen Kindern gerecht werden können – schon allein deshalb, weil sie selbst nicht daran glauben, dies sei unter den gegebenen Bedingungen möglich. Viertens: Gehöre ich eigentlich dazu, oder bin ich eher ausgeschlossen? Vermutlich fallen die Antworten darauf ganz unterschiedlich aus. Der eine glaubt vielleicht, nur als Mitglied des Jetsets oder in elitärer beruflicher Stellung richtig dazuzugehören, obgleich das ja ziemlich exklusive Zugehörigkeiten sind. Der andere ist dagegen schon froh, eine eigene kleine Mietwohnung zu besitzen, geregelter Arbeit nachzugehen und sich ab und zu mit Freunden zu treffen. Subjektiv ist die Antwort auf diese Frage offensichtlich sehr vom eigenen Lebensentwurf und der Interpretation der eigenen Situation abhängig. Eine beliebte Kritik am Konzept der Inklusion lautet so: Soziologisch betrachtet, gibt es heutzutage kaum Fälle, in denen es sinnvoll erscheint, davon zu sprechen, dass ein Mensch schlechthin aus der Gesellschaft ausgeschlossen (exkludiert) ist. Das mag im antiken Glanz und Kleister
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Griechenland anders gewesen sein, wenn ein Bürger aus dem Stadtstaat per Scherbengericht verbannt wurde, oder auch im Mittelalter, wo man schon mal in Acht und Bann geschlagen, nicht nur vollkommen ausgestoßen, sondern auch komplett entrechtet sein konnte. Die mittelalterlichen/frühneuzeitlichen Vagabunden waren in vielerlei Hinsicht ebenfalls ziemlich exkludiert. Für Becker am nächsten »kommt dem wohl gegenwärtig noch die Situation von illegalisierten Migranten, denen umfassend Rechte verweigert werden und die nach Möglichkeit auch räumlich wieder in ihre Heimatländer verbracht werden sollen.« (Becker 2015, S. 70)
Ansonsten gehe es in modernen Gesellschaften stets um »Teilsysteme«, in die man aufgenommen oder von denen man ausgeschlossen werden könne. Moralisch sei dies unproblematisch, niemand könne schließlich überall dabei sein. Es gelte, sich von der »Container-Metapher« der Gesellschaft zu lösen, betont Ahrbeck: »Eine Gesellschaft ist kein Behälter, in dem man drin ist oder aus dem man herausfallen kann.« (Ahrbeck 2014, S. 27) Oft nicht ausdrücklich mitgesagt, aber logische Konsequenz dieses Arguments ist: Die einen sind eben auf dem Gymnasium mit dabei, die anderen auf der Förderschule, jeder ist auf seine Weise inkludiert. Und sofern die Förderschule versucht, die Kinder auf größtmögliche gesellschaftliche Teilhabe vorzubereiten, fügt sie sich zusammen mit den gegliederten Regelschulen problemlos zu einem »dual inklusiven System« (Speck 2016). Zweifellos kann man das so sehen. Mit dem, was unter dem Stichwort Inklusion gemeint war, hat es allerdings nur noch wenig gemeinsam. Sollte hier frühkindliche Bildung und insbesondere Schule durch ein reales, gelingendes Miteinander der bunt gemischten Kinder einen wichtigen Beitrag zur späteren diskriminierungsfreien Teilhabe aller Menschen leisten, werden dort die notwendigen Veränderungen auf »nach der Schule« oder »in der Freizeit« verschoben oder wahlweise als bereits vollzogen angesehen. Dieser Sichtweise möchte ich entschieden widersprechen: Versteckte und offene Behindertenfeindlichkeit, Tendenzen zur Ausgrenzung und Chancenverweigerung, strukturelle Diskriminierung 110
Kein Heil, kein Untergang. Zeitgemäße Pädagogik
durch schwer überwindliche Barrieren existieren auch heute noch, trotz aller gegenteiligen Bemühungen. »Das alltägliche Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung ist in Deutschland nicht Normalität.« (Becker 2015, S. 45) Förderschulen können zwar die von Behinderung betroffenen Menschen stärken (dies sollte nicht gering geschätzt werden!), sie passen aber als separierende Institutionen perfekt zu einer Haltung, die mit Behinderung möglichst wenig zu tun haben will und auch deshalb Menschen mit Handicap zu »Fällen« für Spezialisten in Spezialeinrichtungen erklärt (die sie dann gleichzeitig als »Klötzchenschulen« verspottet). Das mit Inklusion betitelte Reformvorhaben ist also gegen den unglücklich gewählten Begriff Inklusion unbedingt zu verteidigen! Dieses Projekt ist freilich auch gegen ein Missverständnis zu verteidigen, zu dem der Begriff selbst einlädt: als Ziel oder Vision mag er durchgehen (darum meine Rede vom »Grenzbegriff«). Wird auf dem konkret zu beschreitenden Weg dorthin jedoch schon die physische Anwesenheit behinderter und nicht behinderter Kinder am gleichen Ort als Inklusion bezeichnet, so liegt es nahe, alles andere als Exklusion anzusehen und damit schlechthin abzuwerten. Dadurch werden aber alle entstehenden Schwierigkeiten, die durch eine überhastete Einführung der Inklusion entstehen, alles konkrete Leid, das so für die Kinder auch entstehen kann, letztlich billigend in Kauf genommen. Denn es gilt ja: »Nichts kann schlimmer sein als keine Inklusion.« Richtig ist dagegen: Solange die Regelschulen es nicht wirklich schaffen, die Kinder mit Behinderung zu inkludieren, bleiben die Förderschulen für viele Kinder mit Handicap eine gute Alternative, auf die sie ein Anrecht haben. Freiwillig gewählt, sind sie weder »Schonraumfalle« (Schumann 2007) noch gar Exklusion. Fünftens: Ist für Menschen mit Behinderung Inklusion eher Schreckensszenario denn Verheißung? Die bislang für eine gelingende Praxis vielleicht wichtigste Kritik formuliert der Sozialethiker Uwe Becker (2015). »Wir wollen in einer Gesellschaft leben, in der alle Menschen mitmachen können«, zitiert er die damalige Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Ursula von der Leyen. »Das klingt irgendwie gut. Eine Aussage mit visionärem Klang. Das erinnert an fröhliche Kinderspiele an einem sonnigen Sommernachmittag: Alle sollen mitspielen, keiner darf ›draußen‹ bleiben.« Glanz und Kleister
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Sein Buch liefert dann zahlreiche handfeste Belege, dass mit Inklusion zumindest von Seiten der Politik wohl ganz anderes gemeint ist. »Mitmachen, wobei denn?« (ebd., S. 20), fragt Becker, und zeigt auf, dass damit ganz wesentlich der Bereich der Erwerbsarbeit gemeint ist. Dort findet er, nicht ganz überraschend, schon jetzt viele (nicht behinderte) Menschen, die trotz größter Anstrengungen im gesellschaftlichen Konkurrenzkampf an den Rand gedrängt werden, von Armut, Arbeitslosigkeit und Beschämung bedroht sind. Kurz: »Die Gesellschaft, in die hinein zum Mitmachen eingeladen wird, hält Dynamiken und Prozesse vor, die zur massenhaften Ausgrenzung führen. Das gilt für den Bereich der Bildung, für den Arbeitsmarkt, und das gilt mit wachsender Tendenz auch für Menschen im Alter.« (ebd, S. 21).
Er beschreibt, wie sich Politik einerseits mit schönen Worten und wohlfeilen Appellen schmückt, andererseits Inklusion aber als Chance begreift, ganz konkret Kosten zu sparen, indem Schonräume von der Förderschule bis zur Werkstatt für Menschen mit Behinderung abgeschafft werden. Schlüssig stellt er einen Zusammenhang her zwischen dieser Art Inklusion und dem »aktivierenden Sozialstaat«, wie er Ende der 1990er-Jahre von Gerhard Schröder (und Tony Blair in Großbritannien) ausgerufen wurde und seit der Agenda 2010 als Hartz IV die Wirklichkeit auf den Arbeitsämtern bestimmt. »Die Utopie der Inklusion erweist sich in hohem Maße als zweckmäßig und maßregelnd zugleich. Zweckmäßig, weil sie dem Fachkräftemangel neues Potenzial eröffnet, maßregelnd, weil ihre politischen Befürworter diejenigen bedrängen, die sich diesem Zweckmäßigkeitsdenken nicht ohne weiteres fügen wollen.« (Becker 2015, S. 63)
Ist Inklusion also in Wahrheit nur ein Trick, um jetzt auch noch den letzten Benutzern der »sozialen Hängematte« eben diesen Platz streitig zu machen? Um so auch behinderten Menschen das Recht abzusprechen, dank staatlicher Hilfe würdevoll leben zu dürfen – selbst dann, wenn sie sich dem ersten Arbeitsmarkt und seinen »Chancen« 112
Kein Heil, kein Untergang. Zeitgemäße Pädagogik
nicht stellen mögen? Dann wäre Inklusion in einem ganz anderen Sinn ein »trojanisches Pferd«, als es jetzt konservative Bildungspolitiker befürchten: nicht, um listig durch die Hintertür nun doch noch die »Schule für alle« einzuführen, sondern als Täuschungsmanöver, um die neoliberale Vision einer ökonomisierten Gesellschaft auch in ihren letzten bislang resistenten Winkeln durchzusetzen. Ganz sicher ist Inklusion das nicht. Aber es zeigt sich, dass sie zu diesem Zweck hervorragend instrumentalisiert werden kann. Becker selbst verweist darauf, dass die Behindertenrechtskonvention maßgeblich von behinderten Menschen selbst erarbeitet wurde und lässt immer wieder große Sympathie für deren Potenzial erkennen – bei aller Skepsis über die Möglichkeiten, diese zu verwirklichen. So hält er »Empathie, Entschleunigung, Solidarität, Konkurrenzreduktion, Toleranz und eine Lebensführung ohne primär ökonomische Rationalität« für wichtige Aspekte einer inklusiven Gesellschaft (ebd., S. 18) und resümiert: »Es könnte ja sein, dass die Inklusion von Menschen mit Behinderung nicht einfach von der Gesellschaft in die Gesellschaft vollzogen werden kann, sondern dass sich auch etwas mit dieser Gesellschaft vollzieht, wenn Inklusion etwas ist, das Menschen mit Behinderung an der Gesellschaft praktizieren. Insofern birgt Inklusion etwas Verwegenes, sie hat geradezu revoltierendes Potential.« (ebd., S. 68)
So verstanden, stößt das Projekt Inklusion dann allerdings kaum mehr auf ungeteilte Zustimmung. Denn auf Revolte ist sicher nicht jeder aus, weder in der Schule noch gar auf gesellschaftspolitischer Ebene. Meine These ist: Alle hier angesprochenen Fragen im Zusammenhang mit dem Inklusionsbegriff müssen in der Praxis beachtet und befriedigend beantwortet werden: Was bedeutet für einen Menschen seine Behinderung und wie gehen wir damit um? Wie können wir diagnostizieren und angemessen fördern, ohne zu stigmatisieren? Wie »normal« kann eine Schule sein, die auch für Kinder mit Handicap taugt, und wie »speziell« sollte sie andererseits sein? Was hat die Frage der Inklusion oder Exklusion eigentlich mit Regel- und Förderschulen zu tun – und was nicht? Und schließlich: Wie können Glanz und Kleister
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wir zu einer inklusiveren Gesellschaft beitragen, die Schonräume, Refugien, Lebensformen jenseits der ökonomisierten Welt zulässt und dennoch Teilhabe ermöglicht? Einfach sind die Antworten auf diese Fragen sicherlich nicht. Der Begriff Inklusion kann hier selbst zur Barriere werden, weil er dazu neigt, die Niederungen des menschlichen Daseins zu überblenden. Oder – um es in einem weniger metaphysischen Bild zu sagen: mit seiner Wir-haben-uns-alle-lieb-Soße die Probleme einfach zuzukleistern. Im nächsten Kapitel zeige ich, zu welch folgenschweren Missverständnissen das führen kann.
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Kein Heil, kein Untergang. Zeitgemäße Pädagogik
15 Himmel und Hölle Vor dem Hintergrund inklusiver Schwärmerei verwandeln sich die Türen der Förderschulen mitunter zu Höllenpforten. Folglich kann dann nichts mehr schlimmer sein als »keine Inklusion«. Diese Haltung erschwert echte Fortschritte in der Praxis.
Ein sehr aufschlussreicher Spiegel-Artikel von 2009 prangert an, dass Menschen mit Behinderungen »ausgegrenzt und in Sonderschulen, Werkstätten und Heime abgeschoben« werden und beschreibt diesen Zustand in der Überschrift tatsächlich als »unverdünnte Hölle«. Der Artikel beginnt mit den Worten: »Als Carolin aussortiert wird, ist sie drei Jahre alt. Ein Amtsarzt stellt bei ihr ›sonderpädagogischen Förderbedarf‹ fest, weil das Mädchen noch immer nicht laufen kann. Die Eltern freuen sich. Die Krankengymnastik, die der Mediziner verschreibt, tut ihrer Tochter gut. […] ›An diesem Tag ist die Aussonderungsmaschinerie angelaufen, wir haben das damals nur noch nicht begriffen‹, sagt Inge Kirst, Carolins Mutter. Wie hätte sie auch ahnen sollen, dass ein Mensch mit ›sonderpädagogischem Förderbedarf‹ sein Recht auf Teilhabe an der Gesellschaft, sein Recht auf Bildung, sein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben verloren hat?« (Demmer 2009)
Einmal davon abgesehen, dass sonderpädagogischer Förderbedarf nicht bereits bei Dreijährigen und nicht von Amtsärzten, sondern frühestens bei schulpflichtigen Kindern vom Schulamt festgestellt wird, sofern ein entsprechendes sonderpädagogisches Gutachten vorliegt, ist in diesen wenigen Zeilen die ganze Mischung berechtigter und unberechtigter Vorwürfe an das deutsche Bildungssystem enthalten, die letztlich bei Engagierten häufig zu einer nur geringen Wertschätzung der Förderschulen führt: Diese Schulen seien »nicht Himmel und Hölle
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mehr als ein Abfalleimer«, wird in dem Artikel Eva Thoms zitiert, Gründerin des Elternvereins »Mittendrin«. »Bewiesen« wird diese Einschätzung damit, dass Carolin, die aufgrund eines Gendefekts motorisch stark eingeschränkt ist, in Klasse acht nur »simple Rechenaufgaben« vorgesetzt bekommt und ansonsten »dauernd gekocht und Tischmanieren geübt« werden. Das Mädchen fühle sich unterfordert und allein. Die 15-Jährige werde »von Jahr zu Jahr trauriger und unsicherer«. Anders dagegen ihre fünf Jahre jüngere Schwester mit dem gleichen Gendefekt, für die die Mutter einen Platz an der integrativen Grundschule ergattern konnte: Sie habe nach vier Jahren Grundschule schon mehr gelernt als ihre große Schwester nach acht Jahren Förderschule und im Gegensatz zu Carolin auch noch Freunde in der Umgebung. Es lohnt, diese durchaus beeindruckende Geschichte etwas genauer zu betrachten. 1. Carolin wird gegen den Willen der Eltern eine Förderschule zugewiesen. Ein Platz an der Regelschule wird offenbar seitens der Schulbehörde gar nicht in Erwägung gezogen oder steht einfach »nicht zur Verfügung«. Eine offensichtliche Diskriminierung aufgrund ihrer Behinderung, zumal das Mädchen womöglich die in der Regelschule geforderten Leistungen hätte erbringen können. 2. Carolins Förderschule liegt 40 km entfernt – ein zweifellos kaum zumutbarer Umstand, der das Mädchen stark belastet und in seiner Teilhabe extrem einschränkt. 3. Carolin ist in der Schule unterfordert, denn obwohl sie nur mühsam mit Rollator läuft und langsam spricht, verhindert bei ihr die Krankheit nicht »schnelles Denken« (ebd.). Angenommen, die Lehrer ihrer Schule sind nicht allesamt völlig unfähig oder gar böswillig, spricht das dafür, dass dort sehr viele Kinder mit mehr oder weniger starken kognitiven Einschränkungen unterrichtet werden und es die Pädagogen trotz kleiner Klassen und guter Betreuung nicht schaffen, Carolin gemäß ihrer Begabung zu fördern. Ein trauriger Befund, der zeigt, wie schwierig individuelle Förderung in der Schule tatsächlich ist, wenn die Kinder sehr verschieden sind. Für die Möglichkeiten der Inklusion lässt das nichts Gutes erahnen – schließlich kann Schule ja nicht nur unter-, sondern auch überfordern. 116
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Das ganze Beispiel zeigt eindrücklich, dass körperbehinderte Kinder besser an Regelschulen aufgehoben sind, sofern sie kognitiv nicht oder nur wenig eingeschränkt sind. Es zeigt auch, wie ein Förderschulsystem im Einzelfall diskriminieren kann, wenn über die Köpfe der Betroffenen hinweg stur und alternativlos Förderorte zugewiesen werden. Ebenfalls zeigt es, wie fragwürdig die Gliederung der Förderschulen anhand der vermeintlichen Behinderungsarten ist – mit der Folge, dass sie dann für die Kinder sehr weit weg und wenig förderlich sein können. Ganz sicher zeigt das Beispiel nicht, dass es allen Kindern besser ginge, wenn sie auf die Regelschule gingen, egal mit welchem Handi cap und egal auf welche Schule. Ganz sicher zeigt es nicht, dass für alle behinderten Kinder die Förderschule die »unverdünnte Hölle« ist. Der Artikel selbst kennt ein Gegenbeispiel: Paula, hochbegabt und autistisch, wird aufs Gymnasium geschickt. Schon nach wenigen Monaten wird das Experiment abgebrochen, nachdem sie einzunässen beginnt, nicht mehr essen will und eines Tages den Eltern einen Zettel schreibt: »Hi Sandra, hi Andy, Ich gehe morgen nicht in die Schule! Ich würde es da keinen Moment aushalten! Ich würde lieber tot sein, als zur Schule zu gehen!« Verständlich wird die Bereitschaft zu solch pauschaler und krasser Abwertung vor dem Hintergrund der Behindertenrechtsbewegung. Es geht darum, endlich die »volle Gleichberechtigung« durchzusetzen, nicht nur auf dem Papier, sondern in der Realität. Schulische Inklusion ist in diesem emanzipatorischen Kampf ein wichtiges Symbol, die Förderschule ein Mahnmal, dass der Sieg noch längst nicht errungen ist. Alle Argumente, Förderschulen böten zumindest für manche Kinder einen Schonraum, den sie durchaus benötigen, manche Kinder könnten vielleicht an den Regelschulen nicht so gut gefördert werden, müssen da abprallen: Hat man nicht auch gesagt, die schwarzen Sklaven wollten (und könnten) aufgrund ihres kindlichen Gemüts gar nicht frei sein? Oder die Frauen wollten lieber zuhause am Herd stehen, von ihrem Mann und Ernährer beschützt, weil sie nicht für die raue Welt da draußen geschaffen seien? Wurde nicht Boxen oder Fußball noch vor gar nicht langer Zeit Frauen verwehrt, weil diese Sportarten körperlich »zu hart« für sie seien? Himmel und Hölle
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Es ist die täglich erfahrene Abwertung, Ausgrenzung, Diskriminierung, die behinderten Menschen hier Recht zu geben scheint: Die »höllische« Überschrift des Spiegels erweist sich beim Lesen des Artikels gar nicht als Bewertung der Förderschulen, sondern als Zitat der Leistungssportlerin Kirsten Bruhn. Die mehrfache ParalympicsGewinnerin beschreibt mit diesen Worten die häufig entwürdigende Reaktion ihrer Mitmenschen auf die Tatsache, dass sie im Rollstuhl sitzt: »Die behandeln mich, als wäre ich drei.« Diese nachvollziehbare Haltung hat einen fatalen Haken: Konnte man bei den klassischen Befreiungsbewegungen darauf vertrauen, dass die Befreiten schon ihren Weg machen würden, wenn man ihnen nur die Möglichkeit dazu gibt, reicht das in der Frage gemeinsamen Lernens eben nicht aus. Schule muss sich ändern, um diesem Anspruch zu genügen. Ob sie diese Veränderungen auch einleitet, ist eine Frage der Bereitschaft und der materiellen Möglichkeiten. Erschwerend kommt hinzu: Die nötigen Veränderungen betreffen eigentlich uns alle, sollen aber einer relativ kleinen Minderheit zuliebe eingeleitet werden. Das ist zwar moralisch zweifellos richtig, gesellschaftspolitisch betrachtet aber doch eine sehr ungünstige Konstellation. Natürlich wissen das die Inklusions-Aktivistinnen und -Aktivisten auch, und vermutlich deshalb haben sie sich auf die billige Inklusion light überhaupt eingelassen, immer in dem Glauben, sie könne jedenfalls nicht schlechter sein als die verhassten Förderschulen. Genau das stellt sich nun aber als fataler Irrtum heraus. Eng mit dem Feindbild Förderschule ist ein weiteres Problem verbunden, das sich leider ebenfalls als Hindernis für gelungene Inklusion entpuppt: der Umgang mit der Etikettierung als Förderschüler.
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16 Etiketten und Schwindel Wer darauf verzichten will, besonderen Förderbedarf amtlich festzustellen, kann auch besondere Unterstützung nicht mehr ernstlich einfordern. Dass ausgerechnet bei den Lernund Entwicklungsstörungen sonderpädagogische Verfahren eingespart werden, hat erkennbar nichts mit Inklusion zu tun.
Beinahe genauso unbeliebt – um nicht zu sagen, verhasst – wie die Förderschule ist bei echten Inklusionsfans die sogenannte Etikettierung, also die amtliche Deklaration von Kindern als Förderschüler. Damit fange das Aussortieren und somit alles Übel ja an, so die landläufige Meinung dazu. Und es ist eines der ganz großen Ziele der inklusiven Theorie, die Unterscheidung zwischen behindert und nicht behindert künftig überflüssig werden zu lassen. Mitunter geht die Aversion gegen das Branding »Förderschüler« sogar so weit, dass gleich sämtliche sonderpädagogische Diagnostik kurzerhand für »verzichtbar« erklärt wird (Schumann 2016). Umgekehrt wird die Praxis inklusionseifriger Bundesländer, zumindest in den ersten Schuljahren bei Kindern mit Problemen beim Lernen, in der Sprachentwicklung oder im Verhalten auf ein sonderpädagogisches Verfahren zu verzichten, als großer inklusiver Fortschritt gesehen. Dahinter steckt der Wunsch nach Normalität für alle Kinder. Als Vater kann ich diese Sehnsucht nur allzu gut verstehen. Gerade in diesem Punkt hat Inklusion zweifellos enorme Strahlkraft für Menschen mit Handicap und ihre Angehörigen. Eltern wünschen sich allerdings nicht nur Normalität für ihr Kind, sondern gleichzeitig auch optimale individuelle Förderung, die genau auf die Stärken, Schwächen und Eigenheiten des Kindes abgestimmt ist. Es ist ziemlich offensichtlich, dass dies in der Praxis nur schwer unter einen Hut zu bringen ist. Es gibt jedoch noch tiefere Gründe, weshalb »immer mehr Normalität« zwar das richtige Ziel ist, absolut genommen jedoch ein Etiketten und Schwindel
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unerfüllbarer Wunschtraum bleiben muss: Selbst guten Willen vorausgesetzt, sind die Möglichkeiten einer Gesellschaft, Andersheit als normal zuzulassen und damit angemessen umzugehen, leider begrenzt. Ein Kind mit verkürzten Beinen wird beim HundertMeter-Lauf immer als letztes im Ziel eintrudeln. Sollte eine inklusive Gesellschaft also auf jeglichen sportlichen Wettkampf verzichten? Es könnte natürlich für jedes Kind eine individuelle Sprintstrecke in Abhängigkeit von der Beinlänge festgelegt werden, um die Sache etwas gerechter zu machen. In der Regel sind Behinderungen allerdings weder so offensichtlich noch so gut quantifizierbar wie in diesem Beispiel. Schon gar nicht ist jedes Handicap so einfach als individuelle Verschiedenheit zu begreifen, die eigentlich für alle mehr oder weniger zutrifft. In jedem Fall setzte solch ein Umgang mit Behinderung jedoch voraus, dass das, was bei einer bestimmten Aufgabe hinderlich oder förderlich ist, erstmal diagnostiziert und dann für jedes Kind klassifiziert wird – statt Verzicht auf Etikettierung also Etiketten für alle. Immerhin verlöre auf diese Weise das Etikett seinen diskriminierenden Charakter und würde zur Normalität. Bei vielen Arten von Handicaps kann der Gegensatz zwischen Norm und Abweichung nicht so einfach gelöst werden. Dem Kind mit Koordinationsproblemen und Bewegungseinschränkungen kann beim Ballsport keine verkürzte Strecke geboten werden. Es kann nur auf rücksichtsvolle Mitspieler hoffen, die ihm wenigstens kleine Erfolgserlebnisse ermöglichen. Zu schweigen von geistig beeinträchtigen Kindern, die es bei einer Klassenarbeit ertragen müssen, mit einem besonderen Aufgabenblatt versorgt zu werden, das sie zudem nur mit Hilfe bearbeiten können. Je »normaler« also eine Regelschule ist, desto weniger Normalität im Sinne von selbstverständlichem und gleichzeitig adäquatem Umgang mit der Abweichung darf ein Kind mit Handicap erwarten. Besonders grundsätzlich gilt dies für den Bereich des Verhaltens, des sozialen Umgangs: Wenn Max mal wieder bei scheinbar geringstem Anlass so auffällig wird, dass es manchem Gangsterrapper die Schamröte ins Gesicht treiben könnte, so mögen sich zwar seine Eltern im Stillen freuen, dass es diesmal »nur« bei der Verbalattacke blieb, und sein Verhalten liebevoll scherzhaft als »kreativ« oder »unkonventionell« bezeichnen. Ernst gemeint, würden sie damit 120
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jedoch die Bedeutung von Konventionen und geteilten Werten für ein gedeihliches Zusammenleben in einer komplexen Gesellschaft ignorieren. Sofern also Kinder mit Behinderung auch Verhaltensprobleme haben oder diese gar im Vordergrund stehen, können sie allenfalls auf (begrenzte) Toleranz hoffen, sofern sie entsprechend etikettiert sind, nicht jedoch auf Akzeptanz. Auch wenn das aus Sicht der Betroffenen keineswegs gerecht ist. Huber (2009) hat andererseits gezeigt, dass die Furcht unbegründet ist, durch den Status als Förderschüler könnten die Kinder im gemeinsamen Lernen ausgegrenzt werden – dieses Schicksal trifft zwar leider Förderschüler besonders häufig, das liegt jedoch nicht am amtlichen Etikett. Gleichzeitig erweist sich die Hoffnung der Inklusionsfreunde, der Verzicht mancher Bundesländer auf sonderpädagogische Verfahren für Kinder mit Lern-und Entwicklungsstörungen (LES) in den ersten Schuljahren sei der Einstieg in die »echte« Inklusion, schon auf den zweiten Blick als illusionär: Es gibt auch in inklusiv weit(er) entwickelten Ländern keinen völligen Verzicht auf Etiketten, besonders nicht bei den schwerer behinderten Kindern. Und es ist keineswegs zufällig, dass inklusionseifrigere Bundesländer gerade bei den Kindern mit Lern- und Entwicklungsstörungen auf das vorzeitige Label verzichten. Bei Kindern also, denen man eine Behinderung auf den ersten Blick nicht ansieht, bei denen die Armutsstatistik jedoch nahelegt, dass ihr Handicap nicht selten auch irgendetwas mit ihrer sozialen Herkunft, mit der Anzahl der Bücher im elterlichen Bücherregal oder der zuhause gesprochenen Sprache zu tun hat. Diese Gruppe von Kindern und Jugendlichen wird von Bildungspolitikern offenbar als vergleichsweise leicht behindert und eben deshalb als am ehesten für die Inklusion geeignet angesehen (obwohl für Lehrer die verhaltensauffälligen Kinder die größte Herausforderung sind). Andererseits wird ihnen am ehesten zugetraut, bei gemeinsamem Lernen einen sonderpädagogischen Förderbedarf erst gar nicht zu entwickeln. Ganz gewiss handelt es sich jedoch um die größte Gruppe von Förderschülern, die gleichzeitig die schwächste Elternlobby hinter sich hat. Ganz gewiss kaschieren die verspätet eingeleiteten Sonderschulverfahren, wie unterfinanziert das gemeinsame Lernen tatsächlich ist. Gleichzeitig kann sich diese Politik aber für Etiketten und Schwindel
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ihren vermeintlich inklusiven Ansatz feiern lassen, und auch die Inklusionslobby freut sich. Allerdings nur, wenn sie vor den Problemen der schlecht gemachten Inklusion ebenso die Augen verschließt wie vor einer weiteren höchst seltsamen Tatsache: Wenn unter dem Stichwort Inklusion seitens der Bildungspolitik hauptsächlich die Integration der Kinder mit Lern- und Entwicklungsproblemen betrieben wird, so muss ihr als Schulnote eigentlich schon deshalb »Thema verfehlt, ungenügend« erteilt werden. Es ist nämlich durchaus unklar, ob diese Kinder gemäß der UN-Konvention überhaupt als behindert angesehen werden können. Auf jeden Fall jedoch sind sie nicht deren Hauptzielgruppe. Selbst gut gemachtes gemeinsames Lernen, das dennoch einen Großteil der Kinder mit »klassischen« Handicaps ausschließt, ist schon deshalb keine Inklusion, sondern schlicht Etikettenschwindel. Eigentlich spricht also sehr wenig dafür, das Etikett Förderschüler als eines der Grundübel der exkludierenden Gesellschaft zu sehen: ȤȤ Der amtliche Stempel des Förderbedarfs ist zwar für die Frage einer geeigneten Sonderschule immer noch immens wichtig, spielt jedoch gerade im inklusiven Schulalltag kaum eine Rolle. ȤȤ Der Verzicht auf sonderpädagogische Verfahren in den ersten Grundschuljahren bei den LES-Kindern ist allzu durchsichtig nicht der reinen Inklusionslehre geschuldet, sondern dem vermeintlichen Zwang, gemeinsames Lernen als Gratisveranstaltung zu realisieren. Die Schulbürokratie ist in Wahrheit Lichtjahre davon entfernt, die Praxis grundsätzlich aufzugeben, sonderpädagogischen Förderbedarf amtlich festzustellen. ȤȤ Diese Tatsache sollte allerdings auch von Inklusionsoptimisten einstweilen nicht als Manko angesehen werden: In einer Gesellschaft, die ebenfalls eher Lichtjahre vom Ideal der Inklusion entfernt ist, entzieht der Verzicht auf das Etikett den Betroffenen schlicht die Grundlage jeglicher Sonderbehandlung, jeglicher besonderen Förderung und Hilfsmittel sowie jeglicher finanziellen Erleichterungen im Alltag. Deshalb dürfen Etiketten wie »behindert« oder auch »sonderpädagogisch förderbedürftig« nicht am Anfang, sondern erst am Ende der inklusiven Entwicklung aufgegeben werden. 122
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Unbedingt bedarf das sonderpädagogische Verfahren allerdings einer echten Reform. Der Fall Nenad (siehe Kap. 2) bleibt ja ein handfester Skandal, der zwar nicht das Versagen der Förderschule zeigt, wohl jedoch ein grelles Licht wirft auf die Schwächen des amtlichen Etikettierens: Entscheidungen, die das ganze Leben eines Menschen prägen können, werden mit sehr viel Ermessensspielraum und sehr wenig Transparenz oder gar Mitspracherecht der Betroffenen gefällt – noch dazu von Menschen, die bezüglich des Ergebnisses keineswegs interesselos sind. Eine Förderschule für Geistige Entwicklung möchte ihre »starken« Schüler ganz offensichtlich nicht gerne verlieren, eine Regelschule hingegen wünscht sich »pflegeleichte« Fälle, deren Förderbedarf gleichwohl maximale Ressourcen nach sich zieht. Nur so ist es beispielsweise zu erklären, dass Max seit Jahr und Tag als körperbehindert eingestuft ist, obwohl seine motorischen Schwierigkeiten nur von einem geschulten Auge überhaupt wahrnehmbar sind, während seine verminderte Intelligenz und sein Verhalten keineswegs unauffällig sind. Wäre er als LES-Kind deklariert worden, hätte die Schule keine Minute zusätzliche sonderpädagogische Unterstützung erhalten – so stehen ihr theoretisch immerhin knapp fünf Lehrerstunden zu. Zur Debatte stand außerdem, ihn für geistig behindert zu erklären, wogegen sich die Eltern erfolgreich wehrten. Nur das Naheliegende wurde seltsamerweise nie in Erwägung gezogen: Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung, Bildungsgang Lernen. Im Alltag des gemeinsamen Lernens zieht das eher seltsame Label für Max jedoch allenfalls nach sich, dass er die von ihm geliebte wöchentliche Stunde beim Physiotherapeuten leichter genehmigt bekommt. Und aus Sicht der Schule kann die Praxis sachferner Etikettierung durchaus als Notwehr im Interesse der Kinder gewertet werden. Dass solche Tricks möglich sind, kann indes keineswegs befriedigen. Abhilfe wäre hier vergleichsweise einfach möglich: Warum wird das sonderpädagogische Verfahren nicht neutralen Stellen übergeben – bei der Einschulung beispielsweise dem Gesundheitsamt, später dem Jugendamt? Das Kind, die Pädagogen, die Eltern könnten dann vor dem Hintergrund der fachdiagnostischen Ergebnisse angehört werden, um schließlich nach klaren Kriterien im Sinne Etiketten und Schwindel
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des Kindes ohne eigene Interessen zu entscheiden. Offensichtlich will sich aber die Schulbürokratie das Verfahren nicht entreißen lassen. Erschwerend kommt hinzu, dass dadurch zusätzliche Kosten entstehen würden. Fragwürdig ist aber nicht nur das Prozedere der Etikettierung. Zweifelhaft sind auch die Etiketten selbst: Sie richten sich ja nach den verschiedenen, nur historisch erklärbaren Arten von Förderschulen, für die die Kinder irgendwie passend gemacht werden müssen. Den Stempel »geistig behindert« braucht in der Tat niemand. Statt überwiegend fiktive Förderschwerpunkte festzulegen, sollten die einzelnen Baustellen der Kinder identifiziert und danach der nötige pädagogische Aufwand abgeschätzt werden, um sie zu bearbeiten. Ohne differenzierte Intelligenzdiagnostik wird das bei vielen Kindern mit größeren Schulschwierigkeiten auch künftig nicht gehen. Denn um einem Kind adäquat helfen zu können, muss ja erstmal verstanden werden, welche Hilfe es überhaupt braucht. Im gemeinsamen Lernen ist das vielleicht noch wichtiger als in der Förderschule. Für eine Sonderpädagogin ist es normal, individuell auf ihre Schüler zu sehen, sie weiß dank ihrer fundierten Ausbildung auch, welche Vielzahl an Ursachen es geben kann, weshalb ein Kind nicht in üblicher Weise und im schulisch vorgegebenen Tempo lesen und rechnen lernt. Der Regelschulkollege ist da schlicht überfordert ohne qualifizierte Hinweise, selbst wenn er noch so engagiert ist. Vier Dinge scheinen mir im (bestenfalls) präinklusiven Zeitalter für Kinder mit Handicap unerlässlich: 1. der amtliche Stempel »besonders förderbedürftig«, 2. ein definierter Umfang zusätzlicher Ressourcen, die dem Kind zustehen, 3. die Erlaubnis, vom Curriculum der Regelschule abzuweichen, falls das nötig erscheinen sollte, 4. eine differenzierte Diagnostik als Grundlage für jede sinnvolle individuelle Förderung und besondere Pädagogik. Es ist keineswegs prinzipiell unmöglich, den Bedarf an besonderer pädagogischer Förderung für ein Kind qualitativ hochwertig und rechtsstaatlich einwandfrei festzustellen, und ganz gewiss ist das nicht »überflüssig«. Es ist schlicht eine Durchsetzungsfrage. Nicht 124
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jegliche Etikettierung ist zu bekämpfen, sondern schlechte Etiketten, die den Kindern in einem höchst zweifelhaften Verfahren verpasst werden. Woher aber kommt die Radikalität nicht nur in dieser Frage bei so manchen Kämpferinnen und Kämpfern für Inklusion, die letztlich einen vernünftigen Umbau eher bremst als befördert? Mir scheint sie auch Folge eines übergroßen Rechtfertigungsdrucks einerseits und enormer Enttäuschung über mangelnde Fortschritte andererseits zu sein. Dies lehrt ein Blick auf die Geschichte der schulischen Integration hierzulande.
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17 Vordenker, Pioniere, Gewurstel Es hat viel zu lange gebraucht, bis sich in Deutschland die Einsicht durchgesetzt hat, dass es nicht selbstverständlich ist, Kinder einfach von den Regelschulen auszuschließen, weil sie ein Handicap haben. Die Versäumnisse der Vergangenheit können jetzt nicht beliebig schnell ausgebügelt werden.
Falls Sie nicht über einschlägige bildungshistorische Kenntnisse verfügen: Wie alt, glauben Sie, ist folgender Satz? Fünf, zehn oder zwanzig Jahre? »[Die Bildungskommission] legt in der vorliegenden Empfehlung eine neue Konzeption zur Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher vor, die eine weitmögliche gemeinsame Unterrichtung von Behinderten und Nichtbehinderten vorsieht und selbst für behinderte Kinder, für die eine gemeinsame Unterrichtung mit Nichtbehinderten nicht sinnvoll erscheint, soziale Kontakte mit Nichtbehinderten ermöglicht.«
Tatsächlich stammt er aus dem Jahr 1973, ist also schon weit über vierzig Jahre alt (Deutscher Bildungsrat 1973, S. 15 f.)! Die Bildungskommission, von der hier gesprochen wird, war der produktive Teil des Deutschen Bildungsrats, der 1965 von Bund und Ländern eingesetzt worden war und mit seinen Empfehlungen Anfang der 70erJahre die Reformen im deutschen Bildungswesen maßgeblich beeinflusste. Jacob Muth, der Öffentlichkeit mittlerweile durch den nach ihm benannten Preis für inklusive Schule bekannt, war damals Vorsitzender des Ausschusses »Sonderpädagogik« in diesem Gremium. War man bis dato in Deutschland wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass behinderten Kindern in »abgeschlossenen Einrichtungen am besten geholfen werden könne«, wird mit dieser Tradition nun ganz bewusst gebrochen, darin beeinflusst durch interna126
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tionale Beispiele, besonders aus den skandinavischen Ländern und Italien. Die Bildungskommission stelle »der bisher vorherrschenden schulischen Isolation Behinderter ihre schulische Integration entgegen« (ebd.), heißt es unmissverständlich. Vorausgegangen war dieser Empfehlung eine »Revolutionierung des bislang vorherrschenden statisch-biologischen Begabungsbegriffes« (Ellger-Rüttgardt 2012, S. 70), dem ebenfalls der Deutsche Bildungsrat zum Durchbruch verhalf: »Begabung ist nicht nur Voraussetzung für Lernen, sondern auch dessen Ergebnis. Heute erkennt man mehr als je die […] Abhängigkeit der Begabung von Lernprozessen und die Abhängigkeit aller Lernprozesse von Sozialisations- und Lehrprozessen« (Deutscher Bildungsrat 1969, zit. nach Ellger-Rüttgardt 2012).
Dieser damals so neue Begabungsbegriff wurde mit dem Ziel gleicher Bildungschancen gerade auch für die sozial benachteiligten Kinder verknüpft. Die Forderung nach Gesamtschulen war die logische Konsequenz. Und so wundert es nicht, dass auf ihnen die Hoffnung ruhte, auch behinderte Menschen besser integrieren zu können: »Von seiten der Behindertenpädagogik liegt die entscheidende Forderung an eine soziale Gesamtschule darin, ihre pädagogischen Möglichkeiten zu nutzen, Wege zu eröffnen für das Zugehörigseinkönnen jener Menschen, die im besonderen Maße auf die Rücksicht und mitmenschliche Hilfe anderer angewiesen sind.« (Eberwein 1970, zit. nach Ellger-Rüttgardt 2012, S. 71)
So mutig und in der Theorie eindeutig also bereits Anfang der 70erJahre im Geiste der 1968er-Studentenbewegung die Integration auch »behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher« (Deutscher Bildungsrat 1973) als Ziel formuliert wurde, so zaghaft wurde an deutschen Schulen zunächst damit begonnen, diesem Ziel in der Praxis näher zu kommen. 1975 gab es immerhin den ersten Modellversuch zur gemeinsamen Erziehung behinderter und nicht behinderter Kinder an der Fläming-Grundschule in Berlin, die deshalb von Muth zum »MutterVordenker, Pioniere, Gewurstel
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kloster der Integration« ernannt wurde. Es waren jedoch vor allem engagierte Eltern, denen dieser erste sichtbare Erfolg für die Integrationsbewegung zu verdanken war. Sie hatten 1972 zunächst erreicht, dass ins Kinderhaus Friedenau auch behinderte Kinder aufgenommen wurden, und die schulpflichtig gewordenen Kinder von dort bildeten dann die erste integrative Klasse an einer staatlichen deutschen Regelschule. Erst in den 80er-Jahren folgten dann weitere integrative Schulversuche in verschiedenen Bundesländern, zunächst in den Grundschulen, dann gegen Ende des Jahrzehnts auch immer mehr an Gesamtschulen. 1994 zog endlich auch die Kultusministerkonferenz der Länder nach und verabschiedete eine Empfehlung, in der sie an die Stelle der »Sonderschulbedürftigkeit« den »sonderpädagogischen Förderbedarf« setzte und damit grundsätzlich den Weg frei machte für eine neue Normalität mit behinderten Kindern an Regelschulen (KMK 1994): »Die Erfüllung des sonderpädagogischen Förderbedarfs ist nicht an Sonderschulen gebunden; ihm kann auch in allgemeinen Schulen, zu denen auch berufliche Schulen gehören, vermehrt entsprochen werden. Die Bildung behinderter junger Menschen ist verstärkt als gemeinsame Aufgabe für grundsätzlich alle Schulen anzustreben. Die Sonderpädagogik versteht sich dabei immer mehr als notwendige Ergänzung und Schwerpunktsetzung der allgemeinen Pädagogik.« (KMK 1994, S. 2 f.)
Lesen wir den Text der KMK-Empfehlung jedoch etwas genauer, wird schnell klar: Sie öffnet zwar Türen für die Möglichkeit von Integration als neuen Normalfall, ist jedoch im Gegensatz zur Empfehlung des Deutschen Bildungsrates 1973 weit davon entfernt, Integration entschieden als neues Ziel der sonderpädagogischen Förderung zu setzen. Der sonderpädagogische Förderbedarf kann auch an allgemeinen Schulen erfüllt werden (aber natürlich weiterhin auch an den separierenden Sonderschulen). Zwar wäre es schön, wenn dereinst die Bildung junger Menschen zur gemeinsamen Aufgabe aller Schulen werden würde (deshalb ist das auch verstärkt anzustreben), aber das heißt noch lange nicht, dass wir irgendwelche konkreten Pläne hätten, dies zu verwirklichen. 128
Kein Heil, kein Untergang. Zeitgemäße Pädagogik
Es scheint mir eindeutig, dass von den Kultusministern der Länder damals einfach nur die bereits realisierten Veränderungen in der sonderpädagogischen Förderung zur Kenntnis genommen und nun rechtlich abgesichert wurden. Dabei wurden trotz der Rhetorik im Vorwort verschiedene (mehr oder weniger) integrative Modelle den Sonderschulen einfach zur Seite gestellt – nicht ohne dabei klipp und klar festzuhalten: »Kinder und Jugendliche können allgemeine Schulen besuchen, wenn dort die notwendige sonderpädagogische und auch sächliche Unterstützung sowie die räumlichen Voraussetzungen gewährleistet sind; die Förderung aller Schülerinnen und Schüler muss sichergestellt sein.« (KMK 1994, S. 14)
Einen Hinweis darauf, dass es wenigstens »verstärkt anzustreben« sei, eben diese Voraussetzungen an den allgemeinen Schulen zu schaffen, suchen wir an dieser Stelle des Dokuments vergeblich. In Folge dieser Ziel- und Planlosigkeit auf Bundesebene machte dann für viele weitere Jahre jedes Bundesland in Abhängigkeit von der politischen Ausrichtung, den dafür abzweigbaren finanziellen Mitteln oder dem Druck von Elternvereinigungen wenig, viel, Sinnvolles oder weniger Sinnvolles für die schulische Integration – oder auch einfach gar nichts. In den 1990er-Jahren entstanden so sehr unterschiedliche Modelle und Grade der Gemeinsamkeit von Kindern mit und ohne Behinderung an den Regelschulen. Die Palette reicht von Förderklassen in allgemeinen Schulen, bei denen eine komplette Klasse samt Lehrern von der Förderschule in die Regelschule verlegt wird, über stundenweise, teils mobile sonderpädagogische Förderangebote für »einzeln« integrierte behinderte Kinder oder auch mehrere Kinder mit Handicap in einer integrativen Regelklasse bis hin zu Integrationsklassen, bei denen idealerweise stets zwei Lehrkräfte mit voller Stundenzahl gemeinsam eine Klasse unterrichten, die insgesamt nur ca. 20 Kinder hat, darunter drei bis fünf Kinder mit attestiertem Förderbedarf (vgl. Heimlich 2012, S. 92–102). Dieses Modell der Integrationsklassen gilt als das pädagogisch aufwändigste und deshalb heute als unrealistisch für Länder, die Vordenker, Pioniere, Gewurstel
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ernst machen wollen mit der schulischen Inklusion. Historisch gesehen stand der auf diese Weise realisierte »Gemeinsame Unterricht« allerdings am Anfang, und es ist eben jenes Modell, das wissenschaftlich gründlich erforscht wurde und dem das Prädikat »erfolgreich« verliehen wurde – kurz: Es ist der Goldstandard, an dem sich bis heute alle Bemühungen um gemeinsames Lernen von allen Kindern messen lassen muss. Was ist nun aber insgesamt geschehen, seitdem auch die KMK entdeckt hat, dass man Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf nicht naturgesetzlich in Sonderschulen abschieben muss? 1999, als zum ersten Mal in der amtlichen Schulstatistik der Länder die Integrationsschüler aufgeführt wurden, waren es bundesweit immerhin 54.350 Kinder und Jugendliche mit Förderbedarf, die an allgemeinen Schulen unterrichtet wurden – dies entspricht einer Quote von 11,5 Prozent aller Förderschüler (heute »Inklusionsquote« genannt). In dieser Zahl sind jedoch sämtliche oben skizzierten Varianten der Integration enthalten, es bleibt also offen, wie viele Kinder mit Handicap in den Regelschulen nicht nur anwesend waren, sondern tatsächlich mit allen anderen gemeinsam lernten. Bis zur Verabschiedung der Behindertenrechtskonvention wuchs die ausgewiesene schulische Integration außerordentlich zäh. Erst seit 2009 ist ein deutlicher Anstieg der Integrationsquote zu verzeichnen, der allerdings mit einer parallel wachsenden Zahl der Förderschüler einherging und von Bundesland zu Bundesland stark variiert (siehe Anhang I, Abbildungen 5 und 6). Rückblickend erscheint mir jedoch weniger die nur langsam in der schulischen Wirklichkeit ankommende Integration als Versäumnis. Gravierender ist die Tatsache, dass die lange Zeit seit dem Weckruf des Deutschen Bildungsrates auch in der pädagogischen Forschung und Ausbildung nicht gerade konsequent genutzt wurde, um die Veränderungen in der Praxis vorzubereiten. So entwickelte zwar der Bremer Behindertenpädagoge und ehemaliger Grund-, Haupt-, Real- und Sonderschullehrer Georg Feuser schon früh Grundzüge einer integrativen Didaktik (Feuser 1982), die zumindest in den unteren Schuljahrgängen sehr nützlich sind. Aber der inklusive Ansatz wurde eben erst nach der Jahrtausendwende an deutschen 130
Kein Heil, kein Untergang. Zeitgemäße Pädagogik
Universitäten und von einer zunächst sehr überschaubaren Anzahl von Hochschullehrern entwickelt. Von inklusiven Fachdidaktiken ist jedoch bis heute noch nichts zu sehen. Das Verhältnis zwischen Pädagogik auf der einen Seite und Sonder- bzw. Heilpädagogik auf der anderen Seite scheint keineswegs theoretisch schon hinreichend geklärt und von so etwas wie institutioneller Inklusion der entsprechenden Fakultäten lassen sich an den Hochschulen kaum Spuren entdecken. Kein Wunder, dass dann das »Gemeinsame Lernen« auch in der Lehrerausbildung nur ganz langsam und reichlich verspätet ankommt: Während meines Referendariats (1997 bis 1999) hatte ich noch kein einziges Wort über schulische Integration gehört, und die Referendare, die 2014 an meiner Schule anfingen, hatten nach eigenem Bekunden über Inklusion höchstens »mal ein Seminar gemacht«. Und auch das gehört zu den Paradoxien der inklusiven Realität: Während nun den Lehrerinnen und Lehrern in der Praxis locker zugemutet wird, alle Kinder unabhängig von Art und Schwere ihrer Behinderung adäquat zu unterrichten und zu erziehen, studieren die meisten Sonderpädagogen ihr Fach nach wie vor schön sortiert nach den Spezialgebieten der vermeintlichen Behinderungsarten bzw. ihrer institutionellen Äquivalente, den gegliederten Förderschulen. Vor dem Hintergrund des langen historischen »Vorglühens« ist es mehr als nur verständlich, dass Aktivistinnen und Aktivisten heute voller Ungeduld darauf drängen, dass die inklusive Party so richtig losgeht. Zumal andere Länder da längst viel weiter sind. Übersehen wird dann leicht, dass diese Veranstaltung trotz der langen Vorgeschichte für die Schulen eine neue, ungewohnte, teils auch ungewollte Aufgabe ist, auf die sie nur unter glücklichen Umständen adäquat vorbereitet sind.
Vordenker, Pioniere, Gewurstel
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18 Leuchten die Leuchtturmschulen? Sowohl die alten integrativen Schulen als auch die aktuellen Preisträgerschulen zeigen, dass Inklusion geht. Sie zeigen aber auch, weshalb es für andere Schulen so schwer ist, ihrem guten Beispiel zu folgen.
Dämmerlicht. Blick auf ein großes, ziemlich flaches und sehr rechteckiges Gebäude. Eine Festung in Beton aus den 1970ern, gelegen zwischen Wiesen, Sportanlagen und der schallgeschützten Autobahn. Davor ein paar Reihenhäuser. Randbezirk einer Großstadt, kein Zweifel. Auf einmal kommt Leben in die Szene. Im zarten Morgenlicht trudeln die Schülerinnen und Schüler ein, erst einzeln, schließlich in Scharen. Die kleinen wie die großen, die coolen und die schüchternen, die gestylten wie die unscheinbaren, Migrantenkinder und »Biodeutsche«, Jungs und Mädchen, gut zu Fuß oder im Rollstuhl. Die einen schauen noch etwas verschlafen drein, aber die meisten quatschen munter, begrüßen die Kumpels, scheinen fröhlich einem neuen Tag entgegenzueilen, der auf sie in diesem Gebäude wartet. So habe ich den Beginn des Films eines künstlerisch begabten Referendars über »meine« integrative Gesamtschule in Erinnerung, an der ich bis 2011 unterrichtete. Für mich eine Szene mit großer Symbolkraft. Der Tag und das Leben an dieser Schule beginnt mit den Kindern und Jugendlichen, die so verschieden sind wie die Richtungen, aus denen sie herbeiströmen. Er beginnt unbeschwert. Die Erwartungen und Ziele für diesen Schultag mögen bei den einzelnen Kindern ganz unterschiedlich sein, aber sie sind zuversichtlich. Gibt es Grund für die Zuversicht, dass dieser Tag in der Schule gut wird? Obwohl Misserfolg, Stress, Trauriges und Enttäuschendes für manche Kinder sicher nicht ausbleiben: Ich denke schon. Das liegt an einer Reihe von Merkmalen, die diese Schule von vielen anderen Gesamtschulen unterschied (und teilweise bis heute unterscheidet): 132
Kein Heil, kein Untergang. Zeitgemäße Pädagogik
ȤȤ Die Schule hat ein äußerst gemischtes Publikum, sowohl was die sozialen, ökonomischen und kulturellen Verhältnisse als auch was die persönlichen Lernvoraussetzungen der Kinder und Jugendlichen betrifft. Es gibt also tatsächlich auch eine Reihe von Kindern mit Gymnasialempfehlung, die sie besuchen. Sie genießt in bestimmten bürgerlichen Kreisen (noch) einen guten Ruf. ȤȤ Schon bevor sie anfing, auch Kinder mit Handicap aufzunehmen, hatte diese Schule eine besondere Struktur. Sie ist nicht nach dem Fachlehrerprinzip organisiert, wie sonst üblich an weiterführenden Schulen. Stattdessen unterrichtet ein festes, kleines Lehrerteam eine sehr begrenzte Zahl von je drei Klassen eines Jahrgangs, durchgehend von Klasse fünf bis zehn. Dadurch ist es möglich, auch in einer sehr großen Schule die Kinder tatsächlich kennenzulernen, eine positive Beziehung aufzubauen und sie kontinuierlich zu begleiten. All das nicht nur für die Klassenlehrer, sondern für (fast) alle unterrichtenden Pädagogen. Da in jedem integrativen Team mindestens eine Sonderschullehrkraft arbeitet, ist kontinuierlicher Austausch in den Teamsitzungen gewährleistet. Therapeuten, Sozialarbeiter oder Eltern können bei Bedarf unkompliziert zu den Teamsitzungen eingeladen werden. ȤȤ Es gibt eine lange Tradition einer »Pädagogik der Vielfalt«, die das Kind und seine persönliche Entwicklung in den Vordergrund stellt und die zu erreichende Klassennorm eher in den Hintergrund. Eine Haltung ist gegenwärtig, für die das Erziehen zu sozialer Verantwortung keine Nebensache ist und dabei versucht, gerade die Konkurrenz um Noten und Schulleistungen eher gering zu halten. Der Umgang ist geprägt von Wertschätzung und gegenseitigem Respekt, was sich auch an einer Kultur der Mitbestimmung zeigt. Die Lehrkräfte achten darauf, den Kindern und Jugendlichen sowohl innerhalb als auch außerhalb des Curriculums möglichst viele Erfolgserlebnisse jenseits kognitiver Leistungen zu ermöglichen, um sie gerade deshalb zu den bestmöglichen Schulabschlüssen zu führen. Das fängt beim Blumengießen in der Klasse an und hört längst noch nicht auf bei der umjubelten Aufführung des Schulzirkus. Neigungskurse und vielfältige Freizeitangebote oder die Schülerfirma, die ein Kaffee betreibt, gehören ebenso dazu wie möglichst viel praktiLeuchten die Leuchtturmschulen?
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scher Unterricht, der Alltagsphänomene und -probleme aufgreift. Gleichzeitig wird auch viel Wert gelegt auf und Zeit investiert für das »Lernen lernen«, für das soziale Miteinander in der Klasse, für Förder- oder »Forder«-Kurse. ȤȤ Neben gammelnden Schultoiletten, sanierungsbedürftigen Fachräumen oder antiquierter Medienausstattung gibt es auch eine Reihe von Ressourcen, an denen es in »normalen« Schulen eher mangelt: angefangen bei der Rollstuhlrampe und dem Aufzug bis hin zu Differenzierungsräumen und Rückzugsmöglichkeiten für gestresste (Förder-)Schüler. Natürlich gibt es Therapieräume samt den dazugehörigen Therapeuten, ebenso Sozialarbeiter und eine Schulpsychologin. Lehrkräfte werden teilweise freigestellt für Berufsberatung, Vorbereitung und Vermittlung in die Arbeitswelt, gerade auch für Jugendliche mit Handicap. Auch ein fest verankerter »Ganztag« einschließlich der dazugehörigen pädagogischen Ressourcen für die Freizeitbetreuung gehört dazu, ebenso eine Schulbibliothek einschließlich einer eigenen Bibliothekarin. Und dann wäre da schließlich noch das riesige Schulgelände, das von Eltern, Schülern und Lehrern in zahlreichen Einsätzen mit tollen Kunstwerken geschmückt und mit vielfältigen Spiel- und Sportmöglichkeiten bestückt wurde. Aus Lehrersicht jedoch am Wichtigsten: Die integrativen Klassen sind mit etwa 24 Kindern deutlich kleiner als die Regelklassen, und sie werden meistens von einem Lehrertandem unterrichtet. Schon damals eher mangelhaft war die Fortbildungssituation bezüglich der pädagogischen Besonderheiten, die es bei Förderschülern und ihren spezifischen Handicaps zu wissen und zu beachten gilt, oder zu spezifisch integrativen pädagogischen Ansätzen. Einerseits ging die Schulleitung wohl davon aus, mit einer guten Gesamtschulpädagogik schon das richtige Werkzeug zu haben, andererseits war ja im Fall der Fälle stets die Sonderpädagogin da, um Tipps zu geben. Als Lehrer für Nebenfächer musste ich aber durchaus häufig alleine unterrichten. Hinzu kamen in der Praxis etliche Stunden, die plötzlich aufgrund von Krankheit alleine gehalten werden mussten. Von schwierigen Situationen in der Klasse einmal abgesehen, machte es dann nicht unerhebliche Mehrarbeit, differenziertes Zusatzmaterial 134
Kein Heil, kein Untergang. Zeitgemäße Pädagogik
zu erstellen oder zu besorgen. Als Regelschullehrer hatte ich selten das Gefühl, dabei sehr professionell zu agieren, weil mir je nach Handicap oder spezifischen Schwierigkeiten des Kindes einfach das Know-how dafür fehlte. Trotz der günstigen Teamstruktur mangelte es schon vor zehn Jahren vor allem an der Zeit für Zusammenarbeit. Die fast wöchentlichen (unbezahlten) Teamsitzungen reichten keineswegs aus, um einzelne Schülerinnen und Schüler in Ruhe besprechen zu können und womöglich mit dem Sonderpädagogen gemeinsam den Unterricht zu planen. Improvisation im Klassenzimmer oder paralleles Lernen bei Regel- und Förderschülern waren häufig die Folgen. Auch die Zusammenarbeit mit den Eltern litt sehr unter dem allgemeinen Zeitmangel, obwohl sich die Schule mit allen möglichen Tricks bemühte, wenigstens zweimal im Jahr eine einigermaßen ausführliche Rückmeldung zu ermöglichen – im Zwanzig-Minuten-Takt. Und natürlich fehlte es, wie auch jetzt noch an den allermeisten Schulen, an Möglichkeiten, sich selbst und die pädagogische Arbeit zu reflektieren, sei es in Supervision oder wenigstens in kollegialer Fallbesprechung. In pädagogischen Berufen eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Rückblickend gibt es für mich außerdem eine große pädagogische Baustelle, an der viel zu wenig gearbeitet wurde: an einem überzeugenden Konzept gemeinsamen Lernens vor allem in den höheren Jahrgangsstufen. Es galt einfach das Dogma der »Binnendifferenzierung«, also abgestufter Schwierigkeitsgrade innerhalb des Unterrichts am gemeinsamen »Lerngegenstand«. Klar war zwar in der Praxis, dass es oft gar keinen gemeinsamen Lerngegenstand gibt, wenn die einen Exponentialfunktionen berechnen sollen und die anderen noch nicht sicher im Zahlenraum bis 100 addieren können, oder wenn die einen Biedermann und die Brandstifter interpretieren, während die anderen noch Schwierigkeiten haben, sich den Sinn eines Kochrezepts zu erlesen. Aber wie dieses Dilemma zu lösen ist und ob Gemeinsamkeit dafür immer die richtige Antwort ist, wurde nicht diskutiert. Das Problem wurde stattdessen lediglich abgefedert, wenn eine zweite Lehrkraft während des allgemeinen Unterrichts die spezielle Förderung übernahm. Gemeinsam war dann eben oft nur noch der Lernort. Leuchten die Leuchtturmschulen?
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Das soll nun keineswegs heißen, dass bei großen kognitiven Differenzen gemeinsames Lernen in den höheren Klassen grundsätzlich nicht mehr möglich wäre. Immer dann, wenn es im Unterricht eher praktisch wird, gibt es gute Anlässe, die eine fast natürliche Differenzierung zulassen. Beispielsweise war mein Naturwissenschaftsunterricht – wie üblich an dieser Schule – durch häufige Schülerexperimente geprägt. Hier konnten alle nach ihren Fähigkeiten nicht nur mitmachen, sondern auch dazulernen: zumindest beim Aufbauen des Versuchs, beim Beobachten und Beschreiben, meist auch beim Protokollieren (selbstständig oder mit Vorlage) und, soweit eben möglich, beim Interpretieren. Auch Schülergruppenarbeiten, wo es galt, Plakate zu gestalten oder Modelle zu basteln und anschließend zu präsentieren, habe ich als gelingendes gemeinsames Lernen erlebt, gerade auch für die Schülerinnen und Schüler mit Handicap. Klasse neun und zehn allerdings sind auch stark durch die Zielvorgaben für den Schulabschluss geprägt – seit der Einführung zentraler Prüfungen noch viel mehr als noch vor einigen Jahren. Projekte und praktisches Lernen werden da schnell zu zeitaufwändigem Firlefanz. Spätestens ab Klasse neun erscheinen mir deshalb sehr viel flexiblere Settings sinnvoll, die auch mehr speziellen Unterricht, Praktika und Förderung für die Jugendlichen zulässt, deren Perspektive kein mittlerer Schulabschluss ist. Bestenfalls auf integrativem Niveau war auch alles, was mit dem Thema Leistungsüberprüfung und ihrer Darstellung in den Zeugnissen zu tun hat. Zwar wurden auch die Ergebnisse von Gruppenarbeiten, Projektmappen oder Portfolios zur Beurteilung herangezogen, aber die üblichen Klassenarbeiten blieben zumindest in den Hauptfächern zentral. Zwar gab es im Kollegium verbreitet eine Haltung, Kindern und Jugendlichen noch eine befriedigende Note zu geben, wenn sie sich zumindest bemühten – wie jede andere »normale« Schule musste sie jedoch für die Regelschüler Ziffernzeugnisse vergeben, während es für die nicht zielgleich unterrichteten Förderschüler Lernberichte gab. In der fünften und sechsten Jahrgangsstufe immerhin erhielt die Schule die Erlaubnis, auf Notenzeugnisse zu verzichten. Allerdings zugunsten von Ankreuzbögen, auf denen jeweils dokumentiert wurde, wie gut oder schlecht ein bestimmtes Lernziel erreicht wurde. »Gut« oder »schlecht« wurde also auch 136
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hier keineswegs an den Fähigkeiten bzw. individuellen Lernfortschritten der Kinder festgemacht, sondern an der zu erreichenden Klassennorm. Dieses Herumeiern bei der Leistungsbewertung war einerseits das Ergebnis fehlender pädagogischer Freiheit aufgrund administrativer Vorgaben. Andererseits manifestierte sich darin die ganze Widersprüchlichkeit (oder sollten wir besser sagen: »Vielfältigkeit«?) der gesellschaftlichen wie der individuellen Erwartungen an die Schule (siehe Kap. 10). Diese Widersprüche zeigten sich auch auf einem ganz anderen Feld – dem sozialen Umgang der Schülerinnen und Schülern untereinander sowie zwischen Schülern und Lehrern. Zwar akzeptierten die meisten Kinder und Jugendlichen (pädagogisch oft hart erarbeitet), dass es nicht gerecht ist, jeden gleich zu behandeln, wenn doch alle »verschieden« sind. Ebenso war den meisten Kolleginnen und Kollegen bewusst, dass auch im Verhalten die üblichen Standards nicht einfach erwartet bzw. eingefordert werden können, und für Kinder, die sich damit schwertun, ganz unterschiedliche pädagogische Antworten nötig sind. Aber Verständnis und Flexibilität hatten auch hier ihre Grenzen, wenn es um krasse Verstöße ging, die zum Schutz der anderen Beteiligten harte Konsequenzen nahelegten – beispielsweise bei tätlichen Angriffen gegenüber Lehrkräften, die zum Glück selten vorkamen. Passierte das bei einem Regelschüler, flog er von der Schule. Einem Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf ersparte man den Rauswurf per Lehrerkonferenz – es genügte, festzustellen, dass diese Schule nicht der »geeignete Förderort« ist, um es an die Förderschule loszuwerden. Heile Welt ohne Konflikte und Scheitern war also auch an dieser Schule nicht. Bei allen Mängeln und halbfertigen Baustellen sehe ich sie aber als recht gelungenes Beispiel, wie das Lernen und Zusammenleben ganz unterschiedlicher Menschen zu realisieren und die ebenso unterschiedlichen Erwartungen an Schule unter einen Hut zu kriegen sind. Das drückt sich nicht zuletzt in einer hohen Quote von Jugendlichen aus, die das Schulhaus mit einem Abitur in der Tasche verlassen. Für mich noch mehr jedoch in der großen Selbstverständlichkeit, wie hier mit Andersheit als »Normalfall« umgegangen wird. Vergleiche ich diese Schule mit den Jacob-Muth-Preisträgerschulen und den Ergebnissen der Studie »Gute inklusive Schule« Leuchten die Leuchtturmschulen?
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(Arndt & Werning 2016), so finden sich viele Übereinstimmungen, beispielsweise: ȤȤ Ein pädagogischer Ansatz, der die Heterogenität und Individualität der Schülerinnen und Schüler in den Mittelpunkt rückt und danach strebt, »jedem Kind und Jugendlichen zu ermöglichen, sein Bestes zu geben – unabhängig von sozialer oder ethnischer Herkunft, Förderbedarfen, Stärken usw.« (Döttinger 2016). ȤȤ Eine ausgeprägte Teamstruktur unter den Lehrkräften und zwischen Kollegium und Schulleitung, reichlich Austausch zwischen Sonder- und Regelschullehrern, Therapeuten, Schulbegleitern usw. ȤȤ Eine vergleichsweise weit verbreitete »inklusive Haltung« (Arndt & Werning 2016, S. 110), eine über die Jahre erworbene solide pädagogische Kompetenz für die inklusive Aufgabe und hohes Engagement der pädagogischen Fachkräfte. Schauen wir uns die stolzen Preisträger genauer an, so glänzen sie mit einer Vielzahl pädagogischer Ideen, um die individuelle Entfaltung der Kinder zu ermöglichen. Die eine Schule hat tägliche freie Lernzeiten, in denen Grundschulkinder von Schülern aus der siebten Klasse beim Arbeiten an ihren individuellen Wochenplänen unterstützt werden; eine andere Schule setzt besonders stark auf den Wechsel zwischen Fachunterricht, Freiarbeit und Epochenunterricht und traut den Kindern und Jugendlichen zu, selbst über individuelle Pausen zu entscheiden, wenn sie sich nicht mehr auf den Unterricht konzentrieren können; eine dritte Schule ist eng vernetzt mit einem Jugendzentrum wenige Gehminuten entfernt. Hier werden die Schüler bei allerhand freien Projekten betreut und es findet Koch- und Werkunterricht für Kinder mit Förderbedarf statt (vgl. Bertelsmann-Stiftung 2016, S. 93–101). Auf den zweiten Blick offenbart sich allerdings: Unterhalb von sehr allgemeinen Gemeinsamkeiten sind die Antworten der Schulen auf die Herausforderung des gemeinsamen Lernens sehr unterschiedlich, teilweise durchaus konträr. Da gibt es nichts Fertiges, schon gar nicht ist die Patentlösung in Sicht. Zumal keineswegs klar ist, ob unter den Voraussetzungen »A« eher das Modell »X« oder »Y« Vorteile hat. Beispielsweise haben die Hälfte der Schulen, die in der 138
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Studie »Gute inklusive Schule« untersucht wurden, jahrgangsübergreifenden Unterricht: »In Verbindung mit einer differenzierten Unterrichtsgestaltung betonen die Lehrkräfte und Eltern, dass es durch die Jahrgangsmischung den Schülern besonders leichtfällt, unterschiedliche Aufgaben und Hilfen als selbstverständlich zu akzeptieren.« (Arndt & Werning 2016, S. 114 f.)
Warum praktizieren dann aber nicht (fast) alle inklusive Schulen jahrgangsübergreifendes Lernen? Ein Buch mit dem programmatischen Titel »Inklusion braucht gute Schulen – gute Schulen brauchen Inklusion« beschreibt die Wandlung der Waldhofschule Templin, ursprünglich Sonderschule für geistig behinderte Kinder, zur inklusiven Schule. Auch das Kollegium dieser Schule dachte anfangs, jahrgangsübergreifendes Lernen sei der Königsweg. »Dabei wurde übersehen, dass damit für zwei Schülergruppen der Zugang zum Lernen extrem erschwert wurde, weil sie für ihre eigene Lern- und Lebensgestaltung klare Strukturen und soziale Bezüge brauchen: Autistische Kinder und solche mit sozial-emotionalem Förderbedarf waren mit dem Wechsel der Lerngruppen und der Bezugspersonen überfordert.« (Lüke u. a. 2015, S. 48)
Entsprechend wertet diese Schule heute die Einführung jahrgangsgemischter Lerngruppen als »schwere Fehlentscheidung« (ebd.). Solche konzeptionellen Unklarheiten erschweren natürlich Schulen die Arbeit enorm, wenn sie gerne inklusiver werden wollen, ohne dabei »das Rad neu zu erfinden«. Zumal es ganz offensichtlich ist, dass zwei weitere Hürden für »ganz normale Schulen« kaum überspringbar sind: ȤȤ Die Vorzeige-Schulen verfügen über besonders günstige Lernbedingungen. Diese mögen sie sich hart erkämpft haben, aber »einfach nachmachen« können das andere Schulen eben nicht. Das fängt an bei einer oft besonders günstigen räumlichen Ausstattung, geht weiter mit häufig überdurchschnittlich engagierten Eltern, die die Schule vielfältig unterstützen, und es hört längst nicht auf bei den pädagogischen Ressourcen: Das GeschwisterLeuchten die Leuchtturmschulen?
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Scholl-Gymnasium Pulheim, erste gymnasiale Preisträgerschule 2016, unterrichtet beispielsweise inklusive Klassen »durchgehend im Tandem von Regelschullehrkraft und Förderschullehrkraft« Bertelsmann-Stiftung, S. 99). Selbst die alten Integrationsschulen konnten das so nur in den Anfangsjahren leisten. ȤȤ Eine konsequente Entwicklung zur inklusiven Schule gelingt nicht per Knopfdruck, sondern bedarf ebenfalls besonderer Voraussetzungen. In der Waldhof-Schule war das beispielsweise eine existenzbedrohende Krise aufgrund von Schülerschwund; ein neuer Schulleiter, offensichtlich überdurchschnittlich begabt darin, Menschen »mitzunehmen«, dabei besonders engagiert, kreativ und gut vernetzt bis ins Kultusministerium; ein marodes Schulgebäude, das einen Neubau erzwang (vgl. Lüke u. a., S. 24–53). »Inklusion kann gelingen!«, heißt die die jüngste Publikation der Bertelsmann-Stiftung (2016) zum gemeinsamen Lernen. Es ist bemerkenswert, dass selbst diese so unermüdlich für gemeinsames Lernen werbende Institution das mittlerweile offenbar für eine Sensation hält. Aber die Aussage ist natürlich richtig: In diesem Sinne leuchten die sogenannten Leuchtturmschulen sicherlich. Das ist schön für jedes Kind, das dort lernen darf, und angesichts der schlechten Presse für die Inklusion ist es als Signal wichtiger denn je. Wenn diese Schulen jedoch mehr als Vorzeige-Projekte mit Alibi-Funktion sein sollen, so muss politisch dafür gesorgt werden, dass andere Schulen ihnen auch tatsächlich nacheifern können.
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Nachrichten über gemeinsames Lernen, die Mut machen Die Vision von Inklusion braucht zwei Voraussetzungen für eine erfolgreiche Annäherung an die gesellschaftliche Realität, zum einen die Veränderung von Bewusstsein und zum anderen die Bereit stellung der materiellen Basis. (Ellger-Rüttgardt 2016, S. 8)
19 Eine Lobby für echte Inklusion macht gute Schule! Eltern sind stark, wenn sie an einem Strang ziehen. Das zeigt das Rollback von G8 zu G9 in vielen Bundesländern und die Hamburger Volksinitiative für gute Inklusion. Wir müssen uns jetzt zusammenraufen und zeigen, dass gemeinsames Lernen für alle Kinder attraktiv ist.
WARNUNG: Sie lesen dieses Buch? Sehr verdächtig. Mehr noch – Sie halten die gelieferten empirischen Belege für glaubwürdig, die Argumentation für ziemlich schlüssig oder Sie teilen gar die Sorge des Autors, dass die derzeit praktizierte so genannte Umsetzung der Inklusion in vielen Fällen Schule nicht besser macht und insbesondere für Kinder mit Beeinträchtigungen auch negative Folgen für ihre Persönlichkeitsentwicklung und ihren Bildungserfolg haben kann? Dann sagen Sie es bloß nicht weiter. Sie würden sich sonst als Inklusionsfeind outen! Als Mindeststrafe droht: moralische Disqualifikation und soziale Ächtung. Da hilft es Ihnen auch nicht, wenn sie zu Ihrer Verteidigung angeben, die Sache der Inklusion ja »eigentlich« ganz toll zu finden und nur dafür eintreten zu wollen, dass sie ernst genommen und richtig gemacht wird. Es ist schon seltsam: Ausgerechnet beim Thema Inklusion, das ja in der Theorie maximalen Respekt im Umgang miteinander bei maximaler Toleranz für Andersheit fordert, tobt ein hässlicher Glaubenskrieg, der von beiden Seiten aus sowohl sachlich wie menschlich mit fast allen Mitteln geführt wird, die die Polizei gerade noch erlaubt. Schärfstes Schwert der Inklusionsgegner ist dabei der Hinweis auf die bislang mangelnde Qualität des gemeinsamen Lernens in den Schulen. Hemmungslos wird in diesem Zusammenhang das Argument des gefährdeten Kindeswohls instrumentalisiert – beispielsweise vom Gymnasiallehrer Michael Felten (2017), der schon im Titel seines Werks ankündigt, Inklusion sei »eine gut gemeinte Idee«, die aber leider »unser Bildungssystem ruiniert«, und überdies 142
Nachrichten über gemeinsames Lernen, die Mut machen
seit Jahren eine Website namens »Inklusion-als-Problem« betreibt. Ganz bestimmt ist sie weder Falle noch an sich ein Problem. Sie ist ein berechtigter Anspruch, der in unserer Gesellschaft offensichtlich nur schwer eingelöst werden kann. Wird dann einfach so getan als ob, führt dies zwangsläufig zu Problemen. Umgekehrt hat das zur Folge, dass wahre Freundinnen und Freunde der Inklusion auf diesem Ohr praktisch taub sind: Wer sagt, dass (schlecht gemachtes) gemeinsames Lernen den Kindern auch schaden kann, muss zwangsläufig ein Gegner der Inklusion sein, und der Gegner kann selbstverständlich nicht recht haben. So heißt es in einem offenen Brief der Elternvereine für Inklusive Bildung in NRW an Laschet und Lindner während des Landtagswahlkampfs 2017 unmissverständlich: »Die Inklusion hat viele falsche Freunde. Wir erkennen diese daran, dass sie nach einem wortkargen Bekenntnis zur Inklusion stets und nur noch von schlechten Beispielen, fehlenden Ressourcen und dem Erhalt der Sonderschulen reden.«
Wer auf der richtigen Seite stehen will, darf also die Realität des gemeinsamen Lernens nicht ernsthaft kritisieren, schon gar nicht die traurigen Konsequenzen aufzeigen. Nun könnten wir eigentlich derlei Tiraden je nach Temperament mit einem Kopfschütteln, Achselzucken oder auch Schmunzeln abtun. Allein, der Streit, die Instrumentalisierung und Tabuisierung von Kritik hat unmittelbar praktische Folgen. Zunächst auf der Ebene der Politik, die Inklusion je nach Couleur entweder ziemlich rigoros verordnet oder aber inklusive Fortschritte lediglich mehr oder weniger geschickt suggeriert; dann jedoch vor allem in den Schulen selbst, die das gemeinsame Lernen behinderter und nicht behinderter Kinder mehr schlecht als recht bewerkstelligen und mit ihren Problemen weitgehend allein gelassen werden. Dass die Regierungen in Kiel und Düsseldorf 2017 abgewählt wurden, bedeutet für die inklusive Reform in ganz Deutschland eine Zäsur. Seit dem gescheiterten Versuch, in Hamburg eine sechsjährige Grundschulzeit einzuführen, wollte sich keine Landesregierung mehr an dem Thema die Finger verbrennen. Ähnliches steht wohl Eine Lobby für echte Inklusion macht gute Schule!
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auch dem gemeinsamen Lernen von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung bevor. Das aber hieße: wenig Veränderung bei den Förderschulen, weitgehende Stagnation auf prekärem Niveau bei den Regelschulen. Vielleicht ist es diese trübe Aussicht, die nun bei allen, die als Wissenschaftler, engagierte Eltern oder Pädagogen ernsthaft für eine inklusivere Gesellschaft eintreten, zu der nur scheinbar banalen Einsicht führt: Wenn überhaupt, dann klappt das nur gemeinsam. Die Arbeitsteilung, dass die Inklusionslobby auf möglichst schnelle, flächendeckende und vollständige Eingliederung der Kinder mit Förderbedarf in die Regelschulen dringt, aber den Kampf für die notwendigen Bedingungen allein den Schulen überlässt, funktioniert nicht. Wer Kritik aus der Praxis entweder ignoriert oder sich darauf beschränkt, eine andere Haltung bei den Pädagoginnen und Pädagogen sowie mehr behördliche Kontrolle für die Schulen einzufordern (vgl. mittendrin e. V. 2016), muss dann auch viele traurige Kinderschicksale mitverantworten, die sich aus dieser Art von Inklusion ergeben; das gemeinsame Lernen wird so nicht vorangebracht. Was wir jetzt brauchen, ist ein Minimalkonsens zwischen allen Beteiligten, denen Inklusion tatsächlich am Herzen liegt – aufseiten der Wissenschaft, der Eltern und Betroffenen und natürlich auch der Pädagoginnen und Pädagogen, die letztlich für gute Praxis sorgen sollen. Das hieße auch, aufseiten der von Behinderung Betroffenen und ihrer Vertreter nicht länger nur die Optimisten und Visionäre ernst zu nehmen, sondern ebenso die Vorsichtigen, die Wunsch und Wirklichkeit gut auseinanderhalten können. Hier mein Vorschlag dazu, ohne Anspruch auf Vollständigkeit: 1. Die Entwicklung zu einer immer inklusiveren Gesellschaft ist geboten. Sie zielt darauf ab, die Menschenrechte auch für Menschen mit Handicap ganz konkret durchzusetzen. Sie ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und wird von den staatlichen Institutionen unterstützt und vorangetrieben. 2. Inklusion umfasst als Anspruch alle Menschen und ist als Norm uneingeschränkt gültig. Als gesellschaftliches Projekt ist sie ein offener Prozess, der u. a. den vielschrittigen Abbau von materiellen und immateriellen Barrieren, den Aufbau aller notwendigen Hilfen zur Teilhabe für Menschen mit Behinderung und 144
Nachrichten über gemeinsames Lernen, die Mut machen
die Bereitschaft der Mehrheitsgesellschaft umfasst, sich strukturell zu verändern. 3. Eine inklusive Gesellschaft lädt ein zur diskriminierungsfreien Teilhabe und wahrt gleichzeitig für jeden das Recht, sich jenseits der staatsbürgerlichen Pflichten nach eigenem Geschmack abzugrenzen. 4. Inklusion dient den Menschen. Es wird darauf geachtet, dass sich durch die Reform für niemanden die Lebenssituation verschlechtert, insbesondere nicht für die Menschen mit Handicap. 5. Erziehung, Bildung und Sozialisation der Kinder und Jugendlichen spielen bei der inklusiven Entwicklung eine entscheidende Rolle. Aus Punkt eins ergibt sich: Die notwendigen Mittel für die inklusiven Veränderungen werden von der öffentlichen Hand im Rahmen ihrer Möglichkeiten bereitgestellt. Es gibt keinen Finanzierungsvorbehalt. Dass ein inklusives Schulwesen ohne gravierende Nachteile für viele Kinder wahrscheinlich teurer wird als das jetzige System, kann kein Argument sein gegen die Inklusion insgesamt. Allerdings wäre es klug, die Veränderungen so einzuleiten, dass sie behinderten wie nicht behinderten Kindern gleichermaßen zugutekommen. Nur so lässt sich erreichen, dass die Bevölkerung die höheren Kosten auch akzeptiert. Aus Punkt zwei folgt: Einerseits muss es einen individuellen Rechtsanspruch auf Zugang zu gesellschaftlichen Institutionen geben, der Behinderte nicht diskriminiert. Andererseits darf die bloße physische Anwesenheit von Kindern mit körperlichen, geistigen oder sozialen Besonderheiten in der Schule nicht mit Inklusion verwechselt werden. Als gesellschaftlicher Prozess kann Inklusion nicht verordnet werden – auch nicht in der Schule. Konsequenz aus den Punkten drei und vier ist: Auf dem Weg zur inklusiven Gesellschaft werden institutionelle Schon- oder Schutzräume für behinderte Menschen nur dann aufgegeben, wenn die Betroffenen das wünschen und hinreichend sicher ist, dass sich ihre Lebensqualität dadurch verbessert oder jedenfalls nicht verschlechtert. Wenn Punkt fünf richtig ist, so ist schließlich auch klar: Ein Nebenher von Förder- und Regelschulen ist zwar noch so lange nötig, Eine Lobby für echte Inklusion macht gute Schule!
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bis die Schulen Inklusion hinreichend können. Ein dual-inklusives Bildungssystem kann aber niemals Ziel, sondern allenfalls Zwischenschritt sein. Die Debatte muss endlich weg von der Frage, wie viel Inklusion für welche Kinder mit Beeinträchtigungen überhaupt geht. Umso wichtiger ist es, zu beantworten, was getan werden muss, um immer mehr Menschen mit Handicap gute Bildung in der inklusiven Schule zu ermöglichen und zu klären, wie ein realistisches Szenario aussieht, um den schönen Plan auch zu verwirklichen. Insgesamt würde dieser Konsens bedeuten: Eine unzulängliche Praxis wird nicht länger als Argument gegen Inklusion missbraucht, sondern dient als Ansporn, es künftig besser zu machen. Es wird nicht mehr der Überbringer schlechter Nachrichten bekämpft, sondern deren Ursache, also die Missstände selbst. Auf der wissenschaftlichen Ebene hieße solch eine grundsätzliche Einigung: weniger Grabenkrieg, mehr nüchterne Analyse; weniger Konstruktion auf dem Reißbrett jenseits der gesellschaftlichen und schulischen Realität, mehr konkret umsetzbare Vorschläge; weniger Gut- oder Schlecht-Untersuchen, mehr ehrliche empirische Begleitforschung mit dem Ziel, die Praxis zu verbessern. Um den letzten Punkt zu verwirklichen, sollte es dann auch weniger Auftragsforschung für Ministerien, Verbände und interessengeleitete Stiftungen geben. Nötig ist vielmehr unabhängige, von der DFG geförderte Wissenschaft, die kritisch und konstruktiv ist wie etwa Christian Hubers Ansatz. Am wichtigsten wäre jedoch das Eingeständnis: Noch ist keineswegs »empirisch gesichert«, dass die verordnete »Instant-Inklusion« Vorteile für Kinder mit Handicap bringt, geschweige denn, dass sie Schule generell besser macht. Dass sie umsonst zu haben ist, ist eine von der Politik gesetzte Fiktion. Eine nachhaltige Entwicklung zu immer mehr gelungener Inklusion wird es indes nur geben, wenn es auch auf der Ebene der praktisch Beteiligten auf allen Seiten weniger Misstrauen und mehr gegenseitiges Zuhören, weniger Dogmatismus und mehr kritische Selbstreflexion, weniger Träumerei und mehr Sinn für die Realitäten gibt, allerdings gepaart mit der echten Bereitschaft, diese zu verändern. Die Praktiker der Inklusion sollten in dieser Debatte nicht mehr als (potenzielle) Feinde betrachtet werden, auch dann nicht, wenn sie auf Schwierigkeiten aufmerksam machen. 146
Nachrichten über gemeinsames Lernen, die Mut machen
Werden die Schulen mit der Aufgabe des gemeinsamen Lernens allein gelassen, so haben sie (und damit die Kinder) schon verloren. Als Lobby haben die Lehrerinnen und Lehrer hierzulande einen erstaunlich schlechten Stand. Ganz anders die Eltern, wie sich am Beispiel des Rollbacks in der Frage der Schulzeit bis zum Abitur erst jüngst eindrücklich zeigte: »Mütter und Väter sitzen in der Schulpolitik an einem sehr langen Hebel«, so die Analyse einer großen Tageszeitung über die »Macht der Eltern« (Vollmer 2016). Nur durch gemeinsame Aktionen wie etwa bei der Hamburger Initiative für gute Inklusion können Fortschritte erzielt werden. Nur die Eltern könnten dafür sorgen, dass die Voraussetzungen geschaffen werden, damit Inklusion gelingen kann. Dafür müssten sie allerdings erst einmal überzeugt werden, dass der Prozess inklusiver Veränderungen tatsächlich vielen Kindern zugutekommt, wenn er vernünftig gestaltet wird. Die inklusiv genannte Realität an vielen Schulen hat auch hier viel Kredit verspielt. Deshalb ist jetzt eine überzeugende Roadmap ins inklusive schulische Zeitalter für die ziemlich spezielle deutsche Bildungslandschaft wichtiger denn je.
Eine Lobby für echte Inklusion macht gute Schule!
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20 Schulen wandeln sich – sie brauchen nur die richtigen Anreize! Wir brauchen jetzt zweierlei: Ein Recht auf Integration, das nicht nur auf dem Papier steht, sondern mit den Ressourcen ausgestattet wird, die in der Schule nötig sind; gleichzeitig kluges Change Management für immer mehr inklusive Schulen.
Wie sieht ein gangbarer Weg aus zu einer schulischen Wirklichkeit, die mit einigem Recht inklusiv genannt werden könnte? Und wie können wir diesen Weg so gehen, dass dadurch kein Kind gefährdet wird und gleichzeitig echte Fortschritte noch vor dem Sankt-Nimmerleinstag zu erwarten sind? Vergessen wir für einen Moment die ganz große Verheißung des inklusiven Entwurfs, bekämpfen wir unsere große Ungeduld. Dann ist eigentlich leicht erkennbar, wo dieser Weg losgehen muss: bei den Schulen, die sich Integration freiwillig zur Aufgabe gemacht haben und ihr pädagogisches Konzept darauf ausgerichtet haben; bei den Schulen, die seit Jahren vormachen, dass es tatsächlich klappen kann mit dem gemeinsamen Lernen aller Kinder, auch wenn vieles noch besser gemacht werden kann; bei den Schulen, in denen die Pädagogen gern inklusiv unterrichten, die Kinder gern gemeinsam lernen und in die Eltern ihren Nachwuchs gern schicken. Wo denn auch sonst? Das aber hieße, Bildungspolitiker dürften die alten Integrationsschulen nicht zu Leuchttürmen deklarieren und gleichzeitig kaputtsparen, sondern sie müssten ihnen die Möglichkeit geben, sich weiter zu verbessern. Und sie müssten dafür sorgen, dass ihrem Beispiel tatsächlich immer mehr Schulen folgen. Das geht natürlich nicht von heute auf morgen, und es bedarf dazu mehr als ein paar Änderungen im Schulgesetz. Nötig ist vielmehr echte Überzeugungsarbeit in jeder Kommune, in jedem Schulamt und in jeder Schule, die für diese Aufgabe grundsätzlich geeignet erscheint. Und 148
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natürlich müssen so attraktive Bedingungen des Lehrens und Lernens angeboten werden, dass es auch möglich ist, die Beteiligten tatsächlich zu überzeugen. Kurz: Es geht um konsequentes Change Management mit dem klaren Ziel, immer mehr inklusive Schwerpunktschulen aufzubauen. Aber reichen denn Schwerpunktschulen aus, um so etwas wie ein inklusives Schulsystem zu entwickeln? Stellen wir uns vor, eine inklusive Schule hätte rund 20 Prozent Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf – ein Anteil, der in integrativen Schulklassen durchaus üblich ist. Dann müsste jede vierte deutsche Schule zur I-Schule umgebaut werden, und wir hätten eine Inklusionsquote ähnlich den skandinavischen Vorzeigeländern! Zumal, wenn man die Kinder mit Handicap in Einzelintegration an Regelschulen mitrechnet, oder Förderschulen, die sich in inklusive Schulen verwandeln, sowie alle möglichen integrativen Mischformen, die es ja weiter geben kann und wird, so sie sich in der Praxis tatsächlich bewähren. Es ist also kein quantitatives Problem, dass dieser Ansatz bislang nicht ernsthaft verfolgt wurde. Und schon gar nicht kann es an pädagogisch-sachlichen Gründen liegen. Ganz im Gegenteil: 1. Die alten integrativen Schulen sind die einzigen, auf die das Prädikat »bewährt in der pädagogischen Praxis, empirisch gesichert« tatsächlich zutrifft. Insbesondere die verordnete Überall-ein-bisschen-Inklusion ist dagegen Blindflug und schon deshalb unverantwortlich. 2. Obwohl die Konzepte dieser Schulen aus den Achtziger- und Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts stammen, sind sie doch in vielem inklusiver zu nennen als die Praxis der vom gemeinsamen Lernen überrumpelten Schulen heute. 3. Nur an diesen Schulen ist einigermaßen sichergestellt, dass nicht nur Kinder mit Lern- und Entwicklungsproblemen, sondern auch mit schwereren geistigen, körperlichen oder sinnlichen Beeinträchtigungen oder starken autistischen Symptomen willkommen sind. 4. Eine inklusive Schulentwicklung klappt nachweislich am ehesten an Schulen, die eine vergleichsweise hohe Zahl von Förderkindern haben und an denen das Kollegium hinter der Sache steht. Schulen wandeln sich – sie brauchen nur die richtigen Anreize!
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5. Um Kindern mit Handicap die nötigen Peer-Kontakte zu ermöglichen und ihnen nicht den Eindruck zu vermitteln, sie seien mit ihrem Anderssein allein, brauchen sie andere Kinder, die ähnlich sind wie sie – unter anderem auch ähnlich »behindert«. Es ist deshalb human, wenn eine inklusive Schule deutlich mehr Kinder mit Förderbedarf aufnimmt, als es dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung entspricht. 6. Die Schwerpunktschule ist unter den praktikablen Lösungen immer noch die ökonomischste, da am ehesten eine besondere Förderung für Kinder geleistet werden kann, wenn die besonderen Kinder nicht nur vereinzelt anzutreffen sind. 7. Schwerpunktschulen passen am ehesten zu einem gegliederten Schulsystem. Das Konzept kommt bei drei Viertel der Schulen ohne gravierende Änderungen aus und setzt bei dem letzten Viertel auf Freiwilligkeit. Damit respektiert es, dass die Bevölkerung (auch die Lehrer!) hierzulande trotz bisweilen hyperaktiver Bildungspolitik eigentlich bildungskonservativ ist. 8. Durch Schwerpunktschulen kann der Übergang allmählich gestaltet werden. Förderschulen werden erst dann geschlossen, wenn sie nicht mehr gebraucht werden. Sie werden nicht mehr gebraucht, wenn das gemeinsame Lernen an den Regelschulen so gut ist, dass die meisten Eltern ihre Kinder nur noch dorthin schicken. Warum also wird dieser Weg bislang nirgendwo ernsthaft verfolgt? Es ist wohl so: In den meisten Bundesländern hat die Bildungspolitik entgegen allen Lippenbekenntnissen kein allzu großes Interesse an ernsthafter inklusiver Schulentwicklung. Bei den anderen hat das Thema zwar einen gewissen Schick, darf aber nichts kosten. Bei gleichmäßiger Verteilung, so die Hoffnung, fallen »die paar Förderschüler« außerdem kaum auf. Die Inklusions-Community wiederum ist anfällig für schöne Versprechungen. Die Idee, sukzessive inklusive Schwerpunktschulen aufzubauen, hat mindestens drei Merkmale, die sie vielen auf den ersten Blick als eher hässliche Braut erscheinen lässt: ȤȤ Es ist offensichtlich, dass ihre Verwirklichung Zeit braucht; die inklusive Vision wird nicht einfach so Wirklichkeit. 150
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ȤȤ Es ist ebenso offensichtlich, dass Geld nötig ist, um sie zu realisieren; an der Erkenntnis aus den 1990er-Jahren, dass sich die Inklusion nicht kostenneutral bewerkstelligen lässt, führt kein Weg vorbei. ȤȤ Ihr Ziel entspricht nicht der reinen inklusiven Lehre: Sie verspricht zwar auf der Ebene der Schule am ehesten so etwas wie inklusive Verhältnisse, nimmt dafür jedoch scheinbar Abstriche auf der gesellschaftlichen Ebene in Kauf. Etiketten bleiben bei diesem Modell nötig, da sonst behinderte Kinder ja nicht bevorzugt von den Schulen aufgenommen werden könnten. Und natürlich wären die inklusiven Schulen nicht ganz so normal wie die anderen Schulen. Ein bisschen ist es zudem so, als sollte anstatt der ganzen Gesellschaft nur ein Viertel davon inklusiv werden, während drei Viertel sozusagen exklusiv bleiben. Was den ersten Punkt angeht, so zeigt sich spätestens jetzt, dass sich die vermeintlich schnelle und günstige Lösung wie auch sonst oft im Leben am Ende als die langsamere (und teurere) erweist, weil sie einfach nicht funktioniert. Nachdem sich die flächendeckend verordnete Scheininklusion als Sackgasse herausgestellt hat, spricht nun wirklich nichts mehr für ein »Weiter so«. Der Kostenfrage ist das letzte Kapitel dieses Buchs gewidmet. Bleibt also das Problem mit der inklusiven Theorie. Zu den verpönten Etiketten habe ich mich ja bereits geäußert. Auf dem Weg zur inklusiven Gesellschaft bleiben sie notwendig, schon um Menschen mit Handicap ihre Rechte zu sichern. Nur so können den Schulen gezielt die Ressourcen gewährt werden, die sie tatsächlich brauchen. Was nun die Abneigung betrifft, jegliche Form von besonderer Schule zuzulassen, so kann ich nur sagen: Wer mehr möchte als bestenfalls mittelmäßige Integration, wer also erwartet, dass sich die Schulen tatsächlich verändern durch das gemeinsame Lernen, sollte hier dringend umdenken. Oder glaubt irgendjemand ernsthaft, eine Schule würde ihr pädagogisches Konzept auf den Kopf stellen, weil ihr nun auch noch ein paar Kinder mit Förderbedarf aufgedrückt werden? Es ist seltsam: In meinem Bekanntenkreis gibt es viele, die aus Prinzip für Inklusion in jeder Schule eintreten. Haben sie jedoch ein Kind mit Behinderung, so schicken sie es, sofern das Schulen wandeln sich – sie brauchen nur die richtigen Anreize!
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denn irgendwie möglich, an eine Integrationsschule alten Schlages … Die besondere Normalität heißt ein Buch des renommierten italienischen Inklusionsforschers Dario Ianes (2009), in dem er beschreibt, wie speziell eine Regelschule werden muss, wenn sie auch den Kindern mit Handicap gerecht werden will. Auch die Schwerpunktschulen müssten in diesem Sinne »besonders normal« werden. Mein Vorschlag bedeutet allerdings nicht, dass mindestens drei Viertel aller Schulen auch auf längere Sicht ohne jegliche Kinder mit Handicap bleiben sollten, während inklusive Schulen in beliebig langsamem Tempo geschaffen werden. Im Gegenteil: Das Recht auf Bildung an der Regelschule kann und sollte vorbehaltlos für alle Kinder gelten – und zwar nicht bloß auf dem Papier, sondern als praktikable Option im Hier und Jetzt. Das ist nur möglich, wenn für ausreichende zusätzliche pädagogische Betreuung und Entlastung der Regelschullehrkraft gesorgt wird, sobald ein Kind mit Handicap in die Klasse kommt. Das Recht, inklusiv unterrichtet zu werden, muss endlich unterfüttert werden mit verbindlichen pädagogischen Mindeststandards für die Schulen. Behinderte Menschen, Eltern, Vereine und Verbände sollten jetzt selbstbewusst die Hardware einfordern, ohne die es gelungenes gemeinsames Lernen nicht geben kann. Orientierung dafür böte ein Blick über die Alpen. Kommt in Italien ein Kind mit besonderem Förderbedarf in die Schule, so wird die Klassengröße auf 20 Kinder begrenzt, das Kind erhält außerdem oft eine Assistenzlehrkraft. Nötige bauliche Veränderungen am Schulgebäude werden ggf. vorgenommen (Enders, A. 2013). Nun ist das sicherlich kein besonders inklusives Modell, und bei der Klassengröße so schematisch vorzugehen, erscheint mir eher wenig sinnvoll. Auch gibt es den Beruf des Assistenzlehrers bei uns (noch) gar nicht. Dennoch zeigt das Beispiel zweierlei: ȤȤ Pädagogische Mindeststandards für gemeinsames Lernen einzuführen, ist keineswegs unmöglich. ȤȤ Sie sind auch bezahlbar – jedenfalls für die Italiener. Mein Vorschlag wäre, Klassen mit mindestens einem Förderkind pauschal für 50 Prozent des Unterrichts eine zweite, qualifizierte Lehrkraft zuzugestehen, die alle Kinder unterstützt, die das brauchen 152
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können. Zusätzlich sollte jedes Kind »seine« sonderpädagogischen Stunden einbringen, so dass wahlweise die Klasse verkleinert oder die Zahl der Stunden mit zwei Lehrkräften erhöht werden könnte. Nicht unbedingt nötig wäre aus meiner Sicht, dass die zweite Lehrkraft immer über ein sonderpädagogisches Lehramt verfügt. Auch wenn ich mir’s jetzt mit allen Lehrergewerkschaften verscherze: eine pädagogische Ausbildung oder besser ein Bachelor-Studium mit integrierten Praxissemestern würde durchaus reichen, solange gesichert ist, dass das Kind mit Handicap »seinen« Sonderpädagogen regelmäßig sieht – beispielsweise in einer wöchentlichen FeedbackStunde. Selbstverständlich müssen sich außerdem alle Lehrer, Erzieher, Therapeuten der Förderkinder ebenfalls regelmäßig austauschen, und natürlich müssen die Regelschullehrer dafür an anderer Stelle entlastet werden. Klar ist jedoch bei dieser Art von gemeinsamem Lernen: Wenn es gut läuft, kann hier von Integration gesprochen werden. Der Anpassungsdruck für die Kinder mit Handicap bleibt hoch, viel zu oft sind unerreichbare Leistungsnormen allgegenwärtig, für viele Kinder sind die sozialen Kontakte prekär. Mit Inklusion hat das eher wenig zu tun. Eltern müssen deshalb sehr gut überlegen, ob ihr Kind für diese Integration stark genug ist oder von ihnen selbst genug unterstützt werden kann, um das zu packen. Auf der Ebene der Schulen könnte solch eine Regelung jedoch zweierlei bewirken: 1. Sie macht die Integration selbst einzelner Kinder plötzlich für die Schulen praktikabel und für die behinderten Kinder einigermaßen verantwortbar. 2. Sie bietet den Schulbehörden und Bildungsministerien plötzlich einen echten Anreiz, dafür zu sorgen, dass sich immer mehr Schulen entschließen, wirklich inklusiv zu werden. Einzelintegration wäre dann die teurere Variante. Schulen, die besonders häufig mit Einzelintegration »behelligt« werden, könnten dadurch außerdem motiviert werden, den Schritt zur Inklusion zu wagen – mutmaßlich aber nur, wenn für sie dadurch zusätzliche Vorteile herausspringen. Solche Zückerchen könnten beispielsweise sein: Schulen wandeln sich – sie brauchen nur die richtigen Anreize!
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ȤȤ Sonderpädagogen, die fest im Kollegium verankert sind, ȤȤ kleinere Klassen, ȤȤ mehr Zeit für Teambesprechungen, differenzierte Unterrichtsplanung und Elternarbeit, ȤȤ (mehr) sozialpädagogische Stunden, ȤȤ qualifizierte Integrationshelfer, die der Schule fest zugeordnet sind, ȤȤ ein Fortbildungsprogramm für alle Regelschulkollegen, für das die Lehrerinnen und Lehrer freigestellt werden, ȤȤ Verbesserungen in der baulichen und pädagogischen Ausstattung, ȤȤ große pädagogische Freiheit, um ein eigenes inklusives Konzept zu entwickeln. Im Gegenzug sollten sich diese Schulen dann zu qualitativen Mindeststandards für inklusiven Unterricht verpflichten. Eines allerdings wäre auch bei diesem Szenario nötig, wenn es denn dazu führen soll, dass am Ende bei den Quoten Verhältnisse erreicht werden, die Inklusionsfreunde zufriedenstellen können: Die Realschulen und insbesondere die Gymnasien müssten stärker beteiligt werden. Das hieße nichts weniger, als dass ein Teil der Gymnasien sich so kräftig weiterentwickeln müsste, dass sie keine »richtigen« Gymnasien mehr sind, sondern eher eine Art »gehobene Gesamtschule«. Damit die Förderschüler nicht zu Exoten werden und eine Schule neben dem Leistungswettbewerb auch eine Kultur der individuellen Leistungsbewertung und Wertschätzung jenseits schulischer Erfolge etablieren kann, braucht sie schlicht die ganze Bandbreite der verschieden begabten Kinder. Warum also nicht inklusive Gymnasien schaffen, die neben 50 Prozent Kindern mit Gymnasialempfehlung auch Kinder aufnimmt, denen nach vier Grundschuljahren nur ein mittlerer, einfacher oder gar kein regulärer Abschluss zugetraut wird? Ich bin überzeugt: Für viele Eltern wäre solch eine Schule äußerst attraktiv. Und nach allem, was wir über das gemeinsame Lernen wissen, wäre das ein äußerst günstiges Umfeld für schulische Inklusion. Das Problem an der Sache liegt woanders: Es wird verdammt schwierig werden, ein Gymnasium davon zu überzeugen, dass dies eine reizvolle Ver154
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änderung ist. Überzeugungsarbeit jedoch muss auch hier geleistet werden, denn keine Bildungspolitikerin, kein Bildungspolitiker wird sich daran die Finger verbrennen, ein einziges Gymnasium zwangsweise in eine inklusive Schule umzuwandeln – abgesehen davon, dass so etwas mit Zwang nur sehr schlecht geht. Man mag es drehen und wenden, wie man will: Der hohe Anteil von Gymnasien an den weiterführenden Schulen in Deutschland und ihre starke Lobby sind für ernst gemeinte Inklusion das vielleicht größte Hindernis. Der Vorteil meines Vorschlags immerhin wäre, dass der Großteil der Gymnasien von gravierenden Veränderungen »verschont« bliebe. Vielleicht würde dadurch das Geschrei über den Untergang unseres Bildungssystems etwas leiser werden. Und falls das »Gymnasium plus« den etablierten Gymnasien einen Teil ihrer Klientel abwerben sollte, könnte das wiederum das ein oder andere Gymnasium motivieren, den Schritt zur inklusive Schule doch zu wagen. Es gibt allerdings ein weiteres großes praktisches Hindernis für mehr schulische Integration: den derzeitigen Lehrermangel. Umso wichtiger wäre es, jetzt endlich bei der pädagogischen Ausbildung entschieden auf Inklusion zu setzen, damit sich die Situation zumindest in einigen Jahren deutlich verbessert. Natürlich sind diese Vorschläge noch kein Masterplan, sondern eine Skizze, die zeigen soll, was möglich ist. Wie auch immer die pädagogischen Mindeststandards für gemeinsames Lernen am Ende aussehen: Sie sollten auf jeden Fall so gestaltet sein, dass schon das erste Kind mit Förderbedarf in der Regelschulklasse genug Unterstützung erhält, aber jedes weitere Kind mit Handicap inklusiven Unterricht günstiger macht. Eltern, die die Regelschule bevorzugen, fänden so plötzlich akzeptable Bedingungen für ihr behindertes Kind vor, und vermutlich auch viel einladendere Schulleitungen bei der Anmeldung. Gleichzeitig könnte eine Dynamik in Gang gesetzt werden, die unabhängig von den Vorlieben und mitunter auch Vorurteilen der beteiligten Akteure in absehbarer Zeit zu immer mehr inklusivem Unterricht führt, der diesen Namen verdient. Und all das, ohne dass den Beteiligten irgendetwas verordnet werden müsste.
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21 Ein modernes Bildungssystem können wir uns leisten! Dass mit einem vernünftigen inklusiven Umbau horrende Kosten verbunden wären, ist eine Legende; dass er umsonst zu haben wäre, ein Irrtum. Selbst wenn wir uns das gemeinsame Lernen einiges kosten lassen, bleiben wir bei den Ausgaben für schulische Bildung noch unterdurchschnittlich.
»Scheitert die Inklusion an Kosten?«, orakelte schon vor Jahren die Welt Online (Witzthum 2014). Und der renommierte Heilpädagoge Otto Speck machte bereits 2011 auf eine Studie aufmerksam, der zufolge sich die Mehrkosten für ein gut ausgebautes inklusives Schulsystem auf bis zu 34 Milliarden Euro belaufen (Speck 2011). Diese fabelhafte Zahl machte Karriere: Der Sozialethiker Uwe Becker (2015, S. 156) zitiert diese Summe ebenso wie der Gymnasiallehrer Michael Felten (2017, S. 98). Jedes Mal wird dabei seltsam unpräzise behauptet, dies seien die zu erwartenden zusätzlichen Kosten »für ein inklusives Schulsystem im Jahr 2020« (Felten, herv. Verf.) bzw. »für das Jahr 2020« (Becker, herv. Verf.). Das erstaunte Publikum versteht das dann als jährliche Zusatzausgaben, die auf den Steuerzahler zukämen, und wendet sich ab mit Grausen. Umgekehrt behaupten die Macher der selbst ernannten »Inklusionsfakten« kurzerhand: »Die Startkosten sind zunächst hoch, doch auf lange Sicht ist inklusive Bildung nicht teurer, da Inklusion die Bildungschancen aller Kinder erhöht« (Inklusionsfakten. de). Obwohl an dieser Aussage durchaus etwas dran sein mag, so ist doch »zunächst hoch« reichlich unpräzise, und die versprochene Entlastung der Sozialsysteme durch bessere Bildung dank Inklusion ist zumindest hierzulande noch völlig unbelegt. Wie also steht’s nun mit den Kosten seriöser Inklusion? Sind sie schlicht horrend, oder lohnt sich diese schulische Reform am Ende gar ökonomisch? Schauen wir uns zunächst die ominösen 34 Milliarden genauer an. Sie gehen zurück auf eine Pressemitteilung des Forschungsinsti156
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tuts für Bildungs- und Sozialökonomie in Berlin, die die Ergebnisse einer Studie im Auftrag der Grünen-Fraktion im Bundestag zusammenfasst. Im ganzen Text ist von den Kosten die Rede, die dadurch entstehen würden, dass bundesweit die Ganztagsschule sowie das gemeinsame Lernen für alle Kinder eingeführt wird – und zwar »bis 2020« (FiBs 2009, herf. Verf.). Auch die »bis zu 34 Milliarden« (ebd.) Mehrausgaben für die vollständige Integration der Förderschüler sind semantisch eindeutig als Summe zu verstehen, die bei der sukzessiven Umstellung auf inklusives Lernen innerhalb eines Zeitraums von 12 Jahren anfallen würden. Auch nicht gerade »Peanuts«, aber doch eine Summe, die nicht besonders tauglich ist für ein Schreckensszenario. Außerdem ist die genannte Zahl ausdrücklich eine Obergrenze. Als Untergrenze gibt der Text ganze fünf Milliarden zusätzlich bis zum Jahr 2020 an. Eine Studie des Bildungsökonomen Klaus Klemm gibt hingegen die zusätzlichen Personalkosten bei einer Umstellung auf gemeinsamen Unterricht mit jährlich lediglich 660 Millionen an (Klemm 2012, S. 23) – unter der Vorgabe, dass die Förderstunden zusätzlich zum Regelunterricht gewährt werden, die Klassengrößen jedoch nicht verkleinert werden. Schulen beispielsweise in NordrheinWestfalen würden sich freuen, unter diesen Bedingungen inklusiv unterrichten zu können: Klemm ließ immerhin die sonderpädagogischen Förderstunden bei seiner Berechnung unangetastet. Allerdings geht diese Studie von deutlich sinkenden Schülerzahlen bis 2020 aus, diese Annahme wurde jedoch jüngst revidiert (Klemm & Zorn 2017). Ohne diese sogenannte »demografische Rendite« beliefen sich die Inklusionskosten nach den Daten Klemms bereits auf 1,2 Milliarden allein für mehr Lehrer. Meinen eigenen Vorschlag aus dem letzten Kapitel zugrunde gelegt, kämen dagegen Mehrkosten von etwa fünf Milliarden jährlich auf uns zu – wohlgemerkt erst, wenn die allermeisten Kinder mit Handicap an Regelschulen lernen. In dieser Summe enthalten sind eine halbe Assistenzlehrkraft in 30 Prozent der Klassen in allen Grund- und weiterführenden Schulen der Sekundarstufe I (vgl. KMK 2016b), die 1,2 Milliarden nach Klemm sowie pauschal 15 Prozent höhere Kosten pro Regelschüler in Inklusionsschulen (Statistische Ämter 2017), die zur Finanzierung der Zusatzarbeit für Pädagogen, Ein modernes Bildungssystem können wir uns leisten!
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kleinere Klassen und bauliche Veränderungen zur Verfügung stünden. Natürlich ist das keine exakte Kostenprognose, sondern eine Überschlagsrechnung. Rund fünf Milliarden zusätzliche Kosten jährlich für die Inklusion? Können wir uns das also doch nicht leisten? Auf jeden Fall ist die Summe zu hoch, wollten wir sie allein den rund 500.000 Förderschülern zurechnen. Wir müssen sie schon als Preis für ein zeitgemäßes Bildungssystem verstehen, das die schulischen Schwierigkeiten eines zunehmenden Teils der Schülerinnen und Schüler ernst nimmt, so endlich die sozialen Barrieren für Schulerfolg abbaut und Schule für viele Kinder besser macht. Wenn das nun aber unbezahlbar wäre: Wieso haben uns dann im letzten Bundestagswahlkampf sowohl die Union als auch die SPD Steuererleichterungen in Höhe von etwa 15 Milliarden Euro jährlich verspochen, wohlgemerkt zusätzlich zu allerhand Mehrausgaben? (Sackmann 2017) OK, den Steuerzahler zu entlasten, hat natürlich Priorität. Aber wieso konnte es sich Deutschland dann leisten, seinen Verteidigungsetat innerhalb eines Jahres um gut 10 Prozent oder 5,1 Milliarden (!) zu erhöhen? (Spiegel Online 2017) Wie wäre es also damit: Deutschland korrigiert seine Zusage gegenüber der Nato, jährlich bis zu 30 Milliarden mehr für die Verteidigung auszugeben (Wiegold 2017), ein bisschen nach unten. Begründung: Erstmal muss jetzt der soziale Frieden im eigenen Land verteidigt werden. Überzeugt Sie nicht? Es ist ja wahr: Bildung ist Ländersache, natürlich auch ihre Finanzierung. Und gerade die Länder sind teilweise ziemlich klamm und haben bei den Steuern wenig Spielraum. Inklusion wird also nur gelingen, wenn der Bund sich an der Finanzierung beteiligt, Kooperationsverbot hin oder her. Das wäre nur recht und billig. Denn immerhin war es der Bundestag, der die Behindertenrechtskonvention als erstes deutsches Parlament unterzeichnete. Es wäre jedoch noch aus zwei weiteren wichtigen Gründen absolut geboten: 1. Das Hauptproblem des deutschen Bildungssystems ist bekanntlich immer noch der zu hohe Anteil von Kindern und Jugendlichen, die nur ein sehr geringes schulisches Niveau erreichen, wobei diese schwachen Leistungen viel zu stark mit der sozialen 158
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Herkunft korrelieren: »Unser Schulsystem lässt zu viele zurück und schafft einen hohen Sockel von Bildungsarmen.« (Allmendinger 2012, S. 239) 2. Ausgerechnet im Hightech-Land Deutschland, der Möchtegern-Bildungsrepublik, ist die schulische Bildung nachweislich chronisch unterfinanziert, jedenfalls bis zum mittleren Schulabschluss: Zwar schaffte es Deutschland 2014 erstmals, von Klasse 1–10 die durchschnittlichen Ausgaben der OECD-Länder zu erreichen (vgl. Stat. Ämter 2017). Üblicherweise werden die Bildungsausgaben jedoch an der Wirtschaftsleistung (BIP) gemessen. Um hier auf den Schnitt der EU-Länder in der OECD zu kommen, müssten wir 28 Prozent mehr für die Grundschulen und noch 17 Prozent mehr in der Sekundarstufe I ausgeben (vgl. OECD 2016, S. 247). Entsprechend sind an deutschen Schulen die Klassen überdurchschnittlich groß und die Zahl der Schüler pro Lehrer zu hoch. Mein Vorschlag würde die schulische Bildung bis Klasse 10 um zehn Prozent verteuern. Deutschlands Schulen wären dann bis zum mittleren Abschluss immer noch unterdurchschnittlich finanziert, obwohl unser Land doch eigentlich ambitioniertere Ziele haben sollte. Gemessen an der Wirtschaftsleistung könnten also locker weitere Milliarden in die Schulen gesteckt werden – gerne auch in die nicht inklusiven. Das Versprechen auf ein inklusives Bildungssystem wäre dank der zusätzlichen Mittel plötzlich nicht mehr leer, sondern auch für die Schulen und deren Akteure sichtlich ernst gemeint. Und gleichzeitig böte das die Chance auf mehr Bildungsgerechtigkeit, weil die benachteiligten Kinder endlich besser gefördert werden könnten. Ein vernünftig ausgestattetes gemeinsames Lernen ist gewiss nicht unbezahlbar, gute Schule für alle keineswegs utopisch. Es bleibt ein Rätsel, dass dergleichen behauptet werden kann, obwohl doch die Vergleichsdaten zur Bildungsfinanzierung für jeden per Mausklick zugänglich sind. Aber was wir uns leisten wollen bei der Bildung, ist natürlich abhängig davon, wie wichtig wir unsere Kinder und damit die Zukunft unserer Gesellschaft nehmen. Und ob wir das Geld speziell für das inklusive Reformprojekt ausgeben wollen, hängt Ein modernes Bildungssystem können wir uns leisten!
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wiederum davon ab, wie wir’s mit den durch das Schicksal oder die sozialen Umstände benachteiligten Menschen halten. Wenn es allerdings nicht gelingt, das »Es-darf-nichts-kostenMantra« zu überwinden, und somit für die Schulen auch nicht erkennbar wird, dass echte Veränderung gewollt ist, so erscheint mir das bayerische Modell tatsächlich das humanere: Ein bisschen Inklusion für ausgesuchte, zumindest durch ihre soziale Herkunft bevorzugte Kinder, vielleicht noch ein bisschen mehr Begegnung zwischen Menschen mit und ohne Behinderung bei gemeinsamem Musizieren oder Wandern, ansonsten gleichbleibend hohe Zahlen von Kindern an Förderschulen. Das mag man dann meinetwegen »dual-inklusiv« nennen. Ehrlicher wäre es jedoch, ein paar Sätze aus der deutschen Fassung der UN-Behindertenrechtskonvention zu streichen. Wer B (wie Behindertenrechtskonvention) sagt, muss auch C (wie Cash) sagen. Jetzt das nötige Geld für Inklusion auszugeben, wäre nur konsequent und fair. Es ist keine leere Floskel: Von mehr Gemeinsamkeit und besserer Bildung für viele Kinder profitieren alle – vielleicht am Ende sogar in ökonomischer Hinsicht; ganz sicher jedoch in menschlicher. Das meine ich gar nicht so sehr moralisch. Eine Welt, die nicht gänzlich auf (wirtschaftliche) Leistung, Konkurrenz, Prestige und Konformität aufgebaut ist, macht einfach mehr Spaß. Kinder wie Max zeigen uns das täglich. Der Sozialpsychologe Rolf Haubl schreibt: »Sich […] zu vergegenwärtigen, wie unwahrscheinlich eine selbstverständliche Inklusion von behinderten Menschen ist, hilft, das Ausmaß der notwendigen Anstrengungen zu ermessen und mit ständigen Rückschlägen zu rechnen.« (Haubl 2015, S. 112)
Krempeln wir also die Ärmel hoch. Seien wir beharrlich, aber gleichzeitig behutsam und geduldig. Gestehen wir uns die Rückschläge ein, um daraus zu lernen. Damit nicht am Ende ausgerechnet diejenigen verletzt werden, in deren Namen wir den Kampf für mehr inklusive Normalität führen.
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Nachrichten über gemeinsames Lernen, die Mut machen
Anhang: Was uns die Zahlen sagen – und was nicht
I. Die Förderkinder in Regelschulen sind nicht erfunden Allerdings steigt die Zahl der Schüler mit Förderbedarf seit Jahren stetig an, nicht nur in Deutschland. Warum das so ist, weiß keiner so genau.
4,4 Prozent aller Schülerinnen und Schüler in Deutschland besuchten 2015 eine Förderschule – die Quote lag damit nur minimal unter dem Stand von 1999 (4,5 Prozent). Das ist ein zweifellos ernüchternder Befund für alle, die sich mehr Gemeinsamkeit an deutschen Schulen wünschen. Doch wie kann das überhaupt sein? Protzen nicht seit einigen Jahren viele Bundesländer mit wachsenden Inklusionsquoten? Des Rätsels Lösung: Seit Jahren steigt auch die Zahl der Kinder, die insgesamt sonderpädagogisch gefördert werden. Wurden also in Wahrheit gar nicht behinderte Kinder in die Regelschulen aufgenommen, sondern stattdessen »Problemkinder« an den Regelschulen mit einem sonderpädagogischen Label versehen? Diesen bösen Verdacht hegt Hans Wocken (2014) mit Blick auf die KMKStatistik. Und tatsächlich hat es eine gewisse Plausibilität, dass der starke Anstieg der Förderquote in den letzten Jahren auch etwas mit den Bemühungen um Inklusion zu tun haben könnte. So richtig erklären lässt sich das Phänomen damit aber auch nicht: Länder, die konsequent darauf hinarbeiten, die Förderschüler an den Regelschulen zu unterrichten, weisen ja den Schulen für die Förderschwerpunkte Lernen, Sprache und Emotionale und soziale Entwicklung (Sprach- und Entwicklungsstörungen) in der Regel nur noch pauschal sonderpädagogische Stellen zu – und damit für den weitaus größten Teil der inkludierten Kinder und Jugendlichen. Was haben sie dann also von der arbeitsaufwändigen Etikettiererei? Dass keineswegs der ganze Zuwachs bei der Förderquote den inkludierenden Regelschulen zuzuschreiben und deshalb auch die Behauptung zurückzuweisen ist, es wären in den Regelschulen gar keine »richtigen« behinderten Kinder, zeigt ein Blick auf den längerfristigen 162
Anhang
Trend, den Wocken leider verschweigt: Die Quote der Förderschüler steigt nachweislich bereits seit 1991 stetig an und damit schon seit prä-inklusiver Zeit. Erst 2009 erreicht der Anteil der Schüler in den Förderschulen mit 4,9 Prozent seinen Höchststand. Seit 2010 ist die »Separationsquote« (Wocken) dann immerhin um 10,5 Prozent gefallen. Nicht beeindruckend viel, aber doch erkennbar eine Trendwende (Abbildung 5)! Auch der Blick auf andere Länder zeigt, dass steigende Förderquoten keineswegs ein speziell deutsches Problem sind, das nur im Zusammenhang mit den Bemühungen um schulische Inklusion zu sehen ist: In Italien, dem Integrationseuropa meister seit Jahrzehnten, stieg die Zahl der Kinder mit Behinderung innerhalb von 10 Jahren um 45 Prozent, in der Schweiz verdoppelte sich gar die Zahl der Sonderschüler (Enders 2014, S. 98).
Abbildung 5: Sonderpädagogische Förderung in Deutschland: Entwicklung seit 1991 (Förderquote); Quelle: KMK 2016a, KMK 2016c, KMK 2016d, eigene Berechnung
Bliebe noch die Unterstellung, dass die Lehrer im Zusammenhang mit der Inklusion mehr oder weniger grundlos über höhere Belastung jammerten, da sich ja an den Schulen gar nicht viel geändert habe. Dieses Argument unterschlägt zum einen, dass durchschnittI. Die Förderkinder in Regelschulen sind nicht erfunden
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liche statistische Werte nichts über die Verhältnisse an einer einzelnen Schule aussagen; andererseits ignoriert es, dass jede Förderschülerin, jeder Förderschüler konkrete Zusatzarbeit für die Pädagogen bedeutet, völlig unabhängig davon, wie berechtigt nun sein Etikett sein mag. Konnten sich die Lehrkräfte bei einem schlechten Schüler damit abfinden, dass er leider »keinerlei Anstrengungsbereitschaft« zeigt, »desinteressiert« oder einfach »kognitiv ganz schwach« ist, müssen bei einem lernbehinderten Kind nun jährlich sonderpädagogische Gutachten fortgeschrieben, Förderplane entwickelt und überprüft sowie regelmäßig Förderkonferenzen abgehalten werden. Die Regelschullehrkraft sollte in ständigem Austausch sein mit Sonderpädagoginnen oder auch Therapeuten, sie muss für jede Unterrichtsstunde differenziertes Material speziell für dieses Kind bereithalten und halbjährlich ein Berichtszeugnis schreiben, aus dem der individuelle Lernfortschritt hervorgeht, statt einfach eine Fünf ins Zeugnisblatt einzutragen. Viele dieser meist pädagogisch höchst sinnvollen Aufgaben müssen die Lehrkräfte im ohnehin reichlich stressigen Schulalltag einfach zusätzlich stemmen. Das ist keine
Abbildung 6: Anteil der Kinder und Jugendlichen in Förderschulen nach Bundesländern – Veränderungen seit 2009; Quelle: KMK 2016a, eigene Berechnung
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Einbildung, sondern ganz konkrete Erfahrung, selbst dann, wenn Wockens Hypothese der umetikettierten Problemschüler (teilweise) zutreffen sollte. Gleichwohl bleibt die große Zahl von Kindern und Jugendlichen in Förderschulen für das Projekt Inklusion natürlich ganz und gar unbefriedigend. Ein Blick auf die Zahlen der Länder zeigt hier, dass es auch anders geht: So gelang es Bremen, die Quote der Kinder an Förderschulen innerhalb von fünf Jahren von 4,6 Prozent auf nur noch 1,5 Prozent zu drücken. Rein statistisch gesehen ein enormer Erfolg für die Inklusion. Umgekehrt schafften es im gleichen Zeitraum Baden-Württemberg, Bayern, das Saarland, Hessen und Rheinland-Pfalz, ihre Separationsquote sogar noch zu erhöhen (Abbildung 6)! Abgesehen von der noch offenen Frage, wie inkludiert die auf dem Papier nicht mehr separierten Kinder in Bremen nun tatsächlich sind, muss aber auch gesagt werden: Die inklusiven Fortschritte sind ganz offensichtlich stark abhängig von den politischen Mehrheiten in den Bundesländern. Und alles Pochen auf das Menschenrecht Inklusion ändert wohl nichts daran, dass sich Länder wie Bayern oder Baden-Württemberg vom neu ausgerufenen inklusiven »Bilderbuchland« Bremen eher nicht zum Nacheifern angeregt fühlen werden.
I. Die Förderkinder in Regelschulen sind nicht erfunden
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II. Im gemeinsamen Lernen fehlen ausgerechnet die Kinder mit klar erkennbarem Handicap Offenbar trauen sich noch nicht viele Schulen zu, stärker körperlich oder geistig beeinträchtigte Kinder aufzunehmen. Die Bemühungen um Inklusion drohen an der Zielgruppe der UN-Behindertenrechtskonvention vorbeizugehen.
Sieht man sich genauer an, wie viele Kinder und Jugendliche mit Handicap jeweils ein bestimmter Förderschwerpunkt attestiert bekommen, so wird klar (Abbildung 7): Mit großem Abstand »führt« der Förderschwerpunkt Lernen. Zusammen rund 70 Prozent der Förderkinder sind den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache, Emotionale und soziale Entwicklung zuzuordnen (z. T. bei den »sonstigen Schwerpunkten« enthalten). Die »klassisch« behinderten Jugendlichen mit sinnlichen, körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen machen nur gut ein Viertel (27 Prozent) aus. Das aber bedeutet: Es können durchaus Inklusionsquoten von 80 Prozent erreicht werden, ohne das nennenswerte Anteile gerade dieser Gruppe von behinderten Kindern und Jugendlichen schulisch integriert werden. Eine flächendeckende »Inklusion light« in diesem Sinne ist keineswegs unwahrscheinlich. Bereits jetzt ist die Zahl der Kinder mit Körperbehinderung an den Regelschulen unterdurchschnittlich – Kinder mit geistiger Behinderung sind gar nur zu zehn Prozent an den Regelschulen anzutreffen (vgl. Abbildung 8). Würde die Statistik differenzieren nach Schwere der Behinderung, diese These sei gewagt, so fänden sich wohl über alle Schwerpunkte hinweg die jeweils schwerer behinderten Kinder in den Förderschulen. Wer ernstlich für Inklusion streitet, muss dringend Antworten geben, wie diese Kinder künftig an den Regelschulen einen förderlichen Ort finden sollen.
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Abbildung 7: Kinder und Jugendliche mit Handicap nach Förder schwerpunkten; Quelle: KMK 2016d
Abbildung 8: … davon an Sonderschulen und Regelschulen nach Förder bedarf (2015); Quelle: KMK 2016c, KMK 2016d
II. Im gemeinsamen Lernen fehlen Kinder mit Handicap
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III.Bei der Inklusionsquote sieht Deutschland im internationalen Vergleich ganz schlecht aus Aber welche Wirklichkeit sich hinter den Zahlen verbirgt, ist schon bei den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich und bei anderen Ländern oft schlicht unbekannt
Daten wie die von der Europäischen Kommission (Abbildung 9) legen zumindest nahe, dass Deutschland in Europa in der Disziplin Separation auf dem Siegertreppchen steht. Nicht nur Italien oder Schweden, sondern auch unsere Nachbarländer Frankreich, Österreich, Dänemark oder die Schweiz stehen wesentlich »inklusiver« da. Länder wie Malta, Zypern oder Portugal erreichen dagegen Traumquoten. Doch halt: Was sagt diese schöne Statistik eigentlich aus? Genau das, was sie angibt: den Anteil der Schüler in Förderschulen. Die aufgezählten Länder haben also viel weniger oder auch kaum noch Förderschulen. Wo und wie behinderte Kinder gefördert werden, kann aus dem Schaubild jedoch leider nicht entnommen werden. Vielleicht werden sie also gemeinsam mit allen anderen Kindern unterrichtet und nehmen am Unterrichtsgeschehen teil, weil sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch den gemeinsamen Unterrichtsgegenstand bearbeiten. Vielleicht sitzen sie zwar mit den anderen Kindern in der Klasse (oder auf dem Flur vor der Klasse) und werden von einer Assistenzlehrkraft parallel unterrichtet. Oder sie werden teilweise oder vollständig in einer Sonderklasse unterrichtet (wie etwa in der Schweiz), die im Haus oder auf dem Gelände der Regelschule zu finden ist. Manche von ihnen werden womöglich in einigen Staaten auch gar nicht zur Schule gehen. Es ist also Vorsicht geboten: Zwar gibt es keinen wissenschaftlichen Experten, der ernsthaft bestreiten würde, dass Deutschland mit Blick auf den internationalen Stand Nachholbedarf hat in Sachen Inklusion. Wie weit aber die einzelnen Länder (einschließlich der inklusiven Traumländer) tatsächlich mit dem gelingenden gemein168
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samen Lernen für alle Kinder sind, darüber beginnt die fachliche Diskussion gerade erst: »Der Hinweis darauf, dass es Länder gibt, die ihre Förderschulen aufgelöst haben, wie z. B. Italien, ist so lange wenig tröstlich, wie diese Praxis nicht empirisch aufgearbeitet und dokumentiert ist.« (Schönig & Fuchs 2016, S. 17)
Abbildung 9: Anteil der Kinder und Jugendlichen in Förderschulen in Europa in Prozent der Gesamtschülerzahl (2011); Daten: Europäische Union 2012 III. Bei der Inklusionsquote sieht Deutschland schlecht aus
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IV. Gemeinsames Lernen findet am Gymnasium bislang kaum statt Inklusion wird in der Sekundarstufe von den Gesamt- und Hauptschulen getragen, die höhere Förderquoten haben als die Grundschulen. Nicht beim Übergang in die weiter führende Schule werden die Kinder aussortiert, sondern erst, wenn sie dort scheitern.
Die Statistik ist scheinbar eindeutig: Hatten von 100 Grundschülern 2014 immerhin knapp drei einen ausgewiesenen sonderpädagogischen Förderbedarf (wobei in einigen Ländern die Kinder überhaupt erst nach der dreijährigen Eingangsstufe etikettiert werden), so findet sich unter 100 Sekundarschülern statistisch kaum mehr als ein Einziger (vgl. Abbildung 10). Klaus Klemm kommentiert entsprechend: »Nach der Grundschule ist Inklusion oft noch ein Fremdwort« (Klemm 2015, S. 6) und beklagt »biografische Brüche« (ebd., S. 35): »Ein Teil der Kinder, die im Elementarbereich gemeinsam mit Kindern ohne sonderpädagogischen Förderbedarf betreut werden, erlebt beim Eintritt in die Schule, nicht länger zur großen Mehrheit aller Kinder zu gehören. Denjenigen, denen in inklusiven Grundschulen diese Erfahrung erspart bleibt, wird dann beim Übergang auf die weiterführenden Schulen wiederum zu einem beachtlichen Teil deutlich gemacht, nicht mehr zur großen Gruppe der übrigen Schülerinnen und Schüler zu gehören.«
Werden also bislang viele Kinder mit Förderbedarf in der Grundschule zunächst inkludiert, beim Übergang in die weiterführende Schule jedoch aussortiert? Wäre das so, dann müssten sie in den Förderschulen landen, so dass dort entsprechend steigende Schülerzahlen zu verzeichnen wären. Genau das ist überraschenderweise jedoch nicht der Fall (Abbildung 12)! In Klasse fünf besuchten 2015 sogar 170
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etwas weniger Kinder eine Förderschule als noch in Klasse vier, die im Vergleich zu Klasse drei einen starken Anstieg an Förderkindern aufweist. Warum sind dann aber trotzdem im Sekundarbereich nur vergleichsweise wenige Schüler mit Förderbedarf an den Regelschulen zu finden? Dafür gibt es rein logisch nur zwei mögliche Erklärungen: Entweder wird an den Förderschulen zum Ende der Klasse vier bei vielen Kindern der Förderbedarf aufgehoben und die Kinder besuchen anschließend die Regelschulen, während umgekehrt etwa genauso viele Kinder von der Regelschule zur Förderschule wechseln. Oder aber die Grundschulen heben für viele Inklusionskinder zum Ende der Klasse vier den Förderbedarf auf, und diese Kinder gehen dann auf eine weiterführende Regelschule ohne das Etikett Förderschüler. Wahrscheinlich trifft beides zu: Die Förderschulen entlassen einen Teil ihrer Kinder an die Regelschulen, nachdem beispielsweise der Förderbedarf Sprache aufgehoben wurde. Viele Förderkinder der Grundschulen gehen mit oder ohne Etikett ebenfalls auf die weiterführende Regelschule, teilweise wechseln sie jedoch auch auf die Förderschule. Warum sie das tun und ob ihnen dieser Wechsel gut oder schlecht bekommt, liegt völlig im Dunkeln. Eindeutig ist jedoch, dass relativ viele Kinder schon nach drei Grundschulklassen auf der Förderschule landen und die Zahl der Förderschulkinder nach Klasse sechs ebenfalls wieder zunimmt. Offensichtlich deklarieren also die weiterführenden Schulen einen Teil ihrer »schwierigen« Klientel (wieder?) als Förderschüler und geben sie an die Sonderschulen ab. Ebenso klar ist auch: Es gibt keinen allgemeinen Nachholbedarf bezüglich des gemeinsamen Lernens in der Sekundarstufe, wohl aber an den Realschulen und insbesondere an den Gymnasien. Hier findet Inklusion schon auf dem Papier praktisch nicht statt (Abbildung 10). Der Ruf nach mehr Beteiligung eben dieser Schulen an der inklusiven Aufgabe ist deshalb allzu verständlich. Ignoriert wird dabei, dass diese Schulformen schon ihrer eigenen Definition nach für das gemeinsame Lernen aller Kinder ungeeignet sind (siehe Kap. 10). Dennoch bleibt festzuhalten: Ohne einen Teil der Schulen, die heute noch Realschulen oder Gymnasien sind, wird es nicht gehen – zu groß ist deren Schülerzahl, als dass sie sich der Inklusion auf Dauer IV. Gemeinsames Lernen findet am Gymnasium bislang kaum statt
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weitgehend verweigern könnten (vgl. Abbildung 11). Es wird also darauf ankommen, auch Realschulen und insbesondere Gymnasien dazu zu bewegen, sich in inklusive Schulen umzuwandeln.
Abbildung 10: Anteil der Kinder und Jugendlichen mit Förderbedarf an Regelschulen nach Schularten in Prozent (2014); Quelle: KMK 2016a, KMK 2016b, eigene Berechnung Anmerkung: Der hohe Anteil von Kindern mit Handicap in der Orientierungsstufe erklärt sich dadurch, dass hier fast nur Schülerinnen und Schüler aus Berlin und Brandenburg erfasst sind.
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Abbildung 11: Kinder und Jugendliche von Klasse 5–10 nach Schulformen; Quelle: KMK 2016b, eigene Berechnung
Abbildung 12: Kinder und Jugendliche an Förderschulen 2015: Anteil am Gesamtjahrgang in Prozent; Quelle: Statistisches Bundesamt 2016, eigene Berechnung
IV. Gemeinsames Lernen findet am Gymnasium bislang kaum statt
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V. Inklusion macht weder schlau noch dumm Dass die Schulleistungen in der Grundschule abgesunken sind, kann nicht der Inklusion angelastet werden: In Hamburg sind die Kinder jedenfalls nicht schlechter geworden im Lesen, Schreiben und Rechnen.
Der IQB-Bildungstrend 2016 brachte Ernüchterndes zutage: Deutschlands Kinder verfehlen in Deutsch und Mathe am Ende der Grundschulzeit immer häufiger den von der KMK festgelegten Mindeststandard. Insgesamt sank das Niveau im Zuhören, Rechtschreiben und im Rechnen gegenüber 2009 bundesweit deutlich (Stanat u. a. 2017). Eine Pressemitteilung der Kultusministerkonferenz bringt als Erklärung ins Spiel, dass die Schülerschaft immer heterogener werde, weil immer mehr Kinder aus Elternhäusern stammen, in denen wenig Deutsch gesprochen wird und zudem immer mehr Förderkinder in den Grundschulen zu unterrichten sind: »Seit 2011 haben sich die Bedingungen in den Schulen gewandelt. Insbesondere die zunehmend heterogen zusammengesetzte Schülerschaft stellt alle Länder und die Ländergemeinschaft vor große Herausforderungen« so die Präsidentin der Kultusministerkonferenz Dr. Susanne Eisenmann (KMK 2017). Ist also mal wieder die Inklusion schuld? Auf den ersten Blick könnte man das meinen: In Bremen ist das ohnehin schlechte Lernniveau weiter abgesackt. Parallel dazu wurde die ebenfalls im Vergleich mit den anderen Bundesländern besonders niedrige Quote von Kindern in Förderschulen auf nur noch 0,6 Prozent in Klasse vier weiter verringert. Schaut man jedoch auf die Veränderungen seit 2011, so wird klar: Die eigentliche Sensation der neuen Studie ist nicht Bremen, sondern Baden-Württemberg. Nirgendwo sonst ist die Zahl der Kinder so stark zurückgegangen, die in Deutsch und Mathe zumindest den Regelstandard erreichen. An der Inklusion kann das kaum gelegen haben. Der Anteil der Kinder, der an Förderschulen unterrichtet 174
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wird, hat sich im »Ländle« seit 2009 fast nicht verändert und liegt mit vier Prozent in Klasse 4 deutlich über dem Durchschnitt (siehe Abbildung 13).
Abbildung 13: Inklusives Musterland Schleswig-Holstein. Kinder in Kl. 4 an Förderschulen (in Prozent des Gesamtjahrgangs) 2009 und 2015; Quelle: Statistisches Bundesamt (2010, 2017), eigene Berechnung
Hamburg und Berlin, die zwischen 2009 und 2016 die Zahl ihrer Kinder in Förderschulen auf rund zwei Prozent oder fast die Hälfte verringerten, blieben in den Schulleistungen stabil – in Berlin allerdings auf stark unterdurchschnittlichem Niveau, während die Leistung der Hamburger Grundschüler knapp durchschnittlich ist. Ähnliches gilt für Brandenburg. Ins Bild »die Inklusion ist schuld« passen indes MecklenburgVorpommern und Sachsen-Anhalt: Hier sank die Separationsquote deutlich, aber leider auch das Lernniveau. Beide Länder stechen jedoch immer noch mit besonders hohen Zahlen von Kindern in Förderschulen hervor. Zudem haben sie wie auch die anderen Ostländer nur 10 Prozent Kinder, bei denen Vater, Mutter oder Großeltern Ausländer sind. In den Westländern haben dagegen zwischen einem Viertel (Schleswig-Holstein) und der Hälfte (Hamburg, Bremen) aller Kinder »Migrationshintergrund«. Verglichen damit sind die Klassen der Ost-Länder also eher nicht heterogen. V. Inklusion macht weder schlau noch dumm
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Auch in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Thüringen wurden seit 2009 die Grundschulen inklusiver, bei den Ostdeutschen statistisch sogar um 55 Prozent. In allen drei Ländern sind die Kinder leider schlechter geworden in Deutsch und Mathe. In Thüringen allerdings weniger deutlich als in den Westländern. Dass daran jedoch keineswegs die inklusive Schulreform schuld sein muss, zeigt Schleswig-Holstein: Hier lernten 2016 wie in Bremen nur noch 0,6 Prozent der Viertklässler an Förderschulen, eine Veränderung gegenüber 2009 um minus 60 Prozent. Die Leistungen der Grundschüler ohne Förderbedarf blieben jedoch konstant auf leicht überdurchschnittlichem Niveau! Weshalb die Norddeutschen so glänzen konnten, liegt leider noch im Dunkeln – und ebenso, wie gut die Integration aus Sicht der Förderkinder klappt. Unklar ist auch, weshalb das Land zwischen Nord- und Ostsee eine so erstaunlich niedrige Quote von Kindern und Jugendlichen haben, die überhaupt sonderpädagogisch gefördert werden müssen. So bleibt bislang nur festzuhalten, dass Schleswig-Holstein unter den Westländern noch den geringsten Anteil an Kindern aus eingewanderten Familien hat und auch von der sozioökonomischen Struktur her mutmaßlich nicht ganz repräsentativ ist für Deutschland. Vielleicht ist hier also doch noch mehr Bullerbü als anderswo in Deutschland – was die Leistung der Nordländer nun keineswegs schmälern soll. Heile inklusive Welt ist aber im Norden trotzdem nicht. Auch hinter Deutschlands Deichen hat sich viel Frust angesammelt über die prekären Bedingungen des gemeinsamen Lernens. Auch hier wurde Wahlkampf gemacht gegen ein zu schnelles Tempo bei der Reform. Auch in Kiel wurde letztes Jahr die Landesregierung abgewählt, der die Reform zu verdanken ist. Nicht ganz so überraschend ist dagegen die Leistung Hamburgs, das trotz vieler Kinder mit schlechten Lernvoraussetzungen und starker inklusiver Entwicklung stabil durchschnittliche Schülerleistungen am Ende der Grundschulzeit vorweisen kann. Hamburg gibt dafür 8100 Euro pro Kind aus, der Schnitt in Deutschland liegt bei 6300 Euro. Auf eine Grundschullehrkraft der Hansestadt kommen 13 Kinder, in Nordrhein-Westfalen sind es beispielsweise 16 Kinder (Statistische Ämter 2017). 176
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Anmerkung 1 Alle Internet-Dokumente wurden, sofern nicht anders vermerkt, am 9.10.2017 abgerufen.
Literatur
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Inklusion auf den Punkt gebracht!
Kerstin Ziemen (Hg.) Lexikon Inklusion 2017. 262 Seiten mit 1 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-70187-4 eBook: ISBN 978-3-647-70187-5
Das Lexikon erörtert zentrale Begrifflichkeiten im Themenfeld der Inklusion. Expertinnen und Experten geben Antworten auf Fragen zu Bedeutung und Inhalt wesentlicher Stichworte im Diskurs von Inklusion. Kompetenz, Barrierefreiheit, Inklusion, Koedukation, Kybernetik, Partizipation, Resilienz, Schulbegleitung/Schulassistenz, Sprachbehinderung, Segregation, Trisomie 21, Vielfalt – diese und weitere zentrale Begriffe im Kontext von Inklusion werden von Expertinnen und Experten des jeweiligen Fachgebietes zusammenfassend erörtert. Das Lexikon gibt einen Überblick über wesentliche Dimensionen von Inklusion und bringt sie auf den Punkt. »Das Lexikon vermittelt [...] einen einfachen und guten Zugang zu den zahlreichen Dimensionen des Themas Inklusion. Durch die kompakte Anlage bietet es eine gute Grundlage für Diskussionen beispielsweise in Seminargruppen oder Fortbildungen.« socialnet.de (Albrecht Rohrmann)
Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht
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