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German Pages 284 Year 2003
Katharina von Schütz
Indio und Konquistador
Editionen der Iberoamericana Ediciones de Iberoamericana Sene A: Literaturgeschichte und -kritik / Historia y Critica de la Literatura Serie B: Sprachwissenschaft / Lingüistica Serie C: Geschichte und Gesellschaft / Historia y Sociedad Serie D: Bibliographien / Bibliografías
Herausgegeben von / Editado por: Walther L. Bemecker, Frauke Gewecke, Jürgen M. Meisel, Klaus Meyer-Minnemann A: Literaturgeschichte und -kritik / Historia y Critica de la Literatura, 32
Katharina von Schütz
Indio und Konquistador in der hispanoamerikanischen nueva novela histórica (1978-1999) Postkoloniale Strategien der Erinnerung
Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 2003
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die D e u t s c h e B i b l i o t h e k v e r z e i c h n e t d i e s e P u b l i k a t i o n in der D e u t s c h e n N a t i o n a l b i b l i o g r a f i e ; detaillierte b i b l i o g r a f i s c h e Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 2003 ISBN
3-89354-893-9
Alle Rechte vorbehalten L'mschlaggestaltung: Michael Ackermann unter Verwendung einer Photographie von Eckhard von Schütz (Castillo de la Real Fuerza, Havanna) Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigem Papier gemäß ISO-Norm 9 7 0 6 Printed in G e r m a n y
Für Eckhard
Todo está en la palabra... Una idea entera se cambia porque una palabra se trasladó de sitio, o porque otra se sentó como una reinita adentro de una frase que no la esperaba y que le obedeció... Tienen sombra, transparencia, peso, plumas, pelos, tienen de todo lo que se les fue agregando de tanto rodar por el río, de tanto transmigrar de patria, de tanto ser raíces... Son antiquísimas y recient¡simas... Viven en el féretro escondido y en la flor apenas comenzada... Qué buen idioma el mío, qué buena lengua heredamos de los conquistadores torvos... Estos andaban a zancadas por las tremendas cordilleras, por las Américas encrespadas, buscando patatas, butifarras, frijolitos, tabaco negro, oro, maíz, huevos fritos, con aquel apetito voraz que nunca más se ha visto en el mundo... Todo se lo tragaban, con religiones, pirámides, tribus, idolatrías iguales a las que ellos traían en sus grandes bolsas... Por donde pasaban quedaba arrasada la tierra... Pero a los bárbaros se les caían de las botas, de las barbas, de ¡os yelmos, de las herraduras, como piedrecitas, las palabras luminosas que se quedaron aquí resplandecientes... el idioma. Salimos perdiendo... Se lo llevaron todo y nos dejaron todo... Nos dejaron las palabras. Pablo Neruda, Confieso que he vivido
7 Inhalt
Seite
I.
II.
Danksagung
11
Einleitung
13
1. Zum Hintergrund der Fragestellung 2. Lateinamerika aus der Sicht des Postkolonialismus 3. Zu Aufbau und Methode
13 23 27
Der Konquistador in der Geschichtsschreibung
33
1. Held oder Schurke a) Bewunderung und Verachtung b) Kontinuität der Stereotype c) Siedler und Selfmademan 2. Die Wende zur Diskurskritik a) Tzvetan Todorov und die Rhetorik der Conquista b) Gonzalo Guerrero, Vater der Mestizen
33 33 41 45 52 52 57
(Post-)koloniale Identitätsmodelle
67
1. Das Verhältnis zum Autochthonen a) Rasse und Geschlecht im Roman des 19. Jahrhunderts . . . b) Mestizierung und Indigenismus im Dienst der Nation . . . c) Magischer Realismus und Postkolonialismus 2. Kulturelle Hybridität als Ergänzung statt als Manko a) Das Trauma des verlorenen Ursprungs b) Identitätsbildung im Zeichen der Globalisierung
67 67 73 79 88 88 93
8 III. Indio und Konquistador zwischen Zitat, Pastiche und Parodie
IV.
V.
105
1. Indios zwischen Vertretung und Darstellung a) Indigenismus heute: El hablador und La mujer habitada b) Der Indio bei Villa Roiz, Saer, Paternain und Posse 2. Vom Heros zum conquistador-conquistado a) El Camino de Santiago - Fernweh im Teufelskreis b) Der Konquistador bei Posse, Roa Bastos und Aridjis . . . . 3. Zwischen den Fronten: die Sicht der Frauen
106 107 111 126 127 131 137
Alejo Carpentier: Elarpay
147
la sombra (1979)
1. Kolumbus vor Gericht a) Der Entdecker als Motor oder Spiegel der Historie b) Psychogramm eines Ehrgeizigen 2. Kolumbus als Opfer (post-)kolonialer Fremdheitserfahrung a) Faust in der Neuen Welt b) Natur und Identität im Diario de a bordo c) Lo real maravilloso americano als Illusion
149 150 153 159 159 161 166
Antonio Benitez Rojo: El mar de las lentejas (1979)
173
1. Die Eroberung der Karibik a) Die Banalität des Bösen b) Die Utopie des legitimen Ursprungs c) Die Chroniken als Zeugnisse der Eroberer 2. Historische Sinngebung zwischen Beliebigkeit und Repräsentativität a) Fiktion als Historie, Historie als Fiktion: maskierte Texte b) Magie als Strategie postkolonialen historischen Erzählens c) Die Gewaltherrschaft als historische Konstante der Karibik d) Geschichte im globalen Kontext
I 76 176 183 187 193 193 201 204 211
9 VI. Carmen Boullosa: Llanto. Novelas imposibles (1992) und Cielos de la Tierra (1997)
219
1. Llanto. Novelas imposibles a) Nachruf auf die 'Sicht der Besiegten' b) Der Roman im Zeichen der Apokalypse 2. Cielos de la Tierra a) Der Humanismus als Modell eines alternativen mestizaje b) Mestizaje als Übersetzung c) Literatur und Gedächtnis in der Mediengesellschaft d) Rückblick auf Cien años de soledad
219 223 229 235 238 242 248 253
Zusammenfassung
259
Literatur
269
11
Danksagung
Die vorliegende Arbeit wurde im Juli 2001 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertationsschrift angenommen. Mein Dank gilt zunächst meinem Doktorvater Herrn Professor Christian Wentzlaff-Eggebert für die immer aufmerksame und geduldige Betreuung seit den frühen Tagen meines Studiums in Köln sowie Herrn Professor Peter-Eckhard Knabe ( t ) für seine Anteilnahme und Ermutigung während meiner Mitarbeit an seinem Greifswalder Lehrstuhl und darüber hinaus. Danken möchte ich ferner zwei Institutionen: der Universität zu Köln für ein Stipendium zum Abschluß der Dissertation sowie dem Berliner Ibero-Amerikanischen Institut, in dessen Bibliothek ich bei der Suche nach seltenen Chroniken oder hierzulande bislang unbekannten Romanen so oft fündig wurde - ohne seine sorgfaltig gepflegten Bestände wäre die Arbeit nicht in dieser Form zustandegekommen. Herzlich gedankt sei außerdem all denjenigen, die mir mit vielfachen Anregungen weitergeholfen haben, insbesondere aber Claudia Hammerschmidt für die engagierte Durchsicht der Arbeit und Antonio Benitez Rojo, der den Weg bis nach Greifswald nicht scheute, für seine Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Mein ganz besonderer Dank gilt schließlich meinen Eltern für den steten Rückhalt während Studium und Promotion sowie meinem Mann Eckhard von Schütz für seine Unterstützung in vielerlei Hinsicht.
Berlin, im Januar 2003
Katharina von Schütz
13
Einleitung
1. Zum Hintergrund der Fragestellung Der Konquistador ist ein historischer Typus, der schwer zu fassen ist und Stereotype herausfordert; er hat seit Beginn des 16. Jahrhunderts bis zur jüngsten Gegenwart kontroverse Diskussionen ausgelöst. Von der Seite der Kritiker werden die spanischen Eroberer Amerikas für die Dezimierung der eingeborenen Bevölkerung im 16. Jahrhundert verantwortlich gemacht. Im Zuge der leyenda negra unterstellte man ihnen dabei die niedrigsten Motive, nachzulesen etwa in Bartolomé de Las Casas' Brevísima relación sobre la destrucción de las Indias (1542). 1949 bemerkte der Historiker Irving Leonard über derartige Anschuldigungen: Indeed, until recently 'Conquistador' has seemed a ñame almost synonymous with ruthless savage and inhuman pervert, a sort of terroristic gangster o f t h e sixteenth Century. 1
Dies wirkt insofern übertrieben, als die Protagonisten der Conquista gerade im 19. Jahrhundert auch viele Bewunderer gefunden haben.2 Noch bis Anfang der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts zeigte sich der Großteil der historiographischen Forschung vom Heldenmut der Eroberer überzeugt und stellte sie überwiegend positiv dar.3 1
2
3
Irving A. Leonard, Books of the brave: being an account of books and of men in the spanish conquist and settlement of the sixteenth-century new world, Berkeley u.a.: University of California Press 1992 (3. Aufl.), S. 8. Als Beleg dafür sei hier nur folgendes Urteil von Washington Irving zitiert, das Leonard seinem Buch voranstellt: "The extraordinary actions and adventures of these men [...] leave us in admiration of the bold and heroic qualities inherent in the Spanish character which led that nation to so high a pitch of power and glory, and which are still discernible in the great mass of that gallant people by those who have an opportunity of judging them rightly." Washington Irving, The life and voyages of Christopher Columbus to which are added those of his companions, 3 Bde., New York I860, S. XV. Zitiert nach Leonard 1992, S. 1. Vgl. Rolena Adornos Einführung zu Leonard 1992, S. IX-XL, hierzu S. X-XI. Siehe zur Fortdauer der heroisierenden Darstellungstradition bis in die jüngste Zeit auch Kap. 1.1.
14 Unabhängig davon, ob man den spanisch-portugiesischen Kolonialismus positiv als kulturschöpferisches Unternehmen oder negativ als Unterdrückung der autochthonen Bevölkerung beurteilt, weisen beide Ansätze den Ureinwohnern des Kontinents eine gleichermaßen passive Rolle zu. Von Kolumbus' Bordbuch bis zum Indigenismus erscheint 'der' Indio in erster Linie als Klischee - er verkörpert den edlen oder grausamen Wilden.4 Im 20. Jahrhundert avanciert er in Mexiko zur nationalen Symbolfigur, bleibt aber weiterhin der rätselhafte Andere, dem man keine aktive Rolle im Prozeß des mestizaje, der rassischen und kulturellen Mischung, zubilligen mag. Erst in den späten 70er Jahren setzt sich die Ansicht durch, daß sowohl die Indios als auch die afrikanischen Sklaven den Verlauf der Conquista und die Kolonialgesellschaften wesentlich mitgeprägt haben. Bezeichnend für die Umwertung der Geschichte Lateinamerikas zu einem "ununterbrochenen und bis heute andauernden kulturellen Mestizisierungsprozeß" 5 ist die Infragestellung des eurozentrischen Begriffs der Entdeckung mit Blick auf den Quinto Centenario der Fahrt des Kolumbus. Dieser Umbruch in der wissenschaftlichen Beurteilung der Kolonialgeschichte fallt nicht zufällig zeitlich mit der Entstehung der nueva novela histórica zusammen. Beide zeugen von einem Wandel im Umgang mit der Geschichte, den man im weitesten Sinne als postmodern, im engeren Sinne aber als postkolonial bezeichnen kann. Seit Beginn der 80er Jahre benutzt die Forschung den Begriff der nueva novela histórica für eine lateinamerikanische Variante des historischen Romans, die sich von dem im 19. Jahrhundert durch Walter Scott (1771-1823) etablierten tra4
Vgl. Jean-Paul Duviols, Alain Milhou u.a. (Hg.). La imagen
del indio en ta
Europa
moderna (1990); Iris M. Zavala (Hg.), Discursos sobre la invención de América (1992); André Stoll (Hg.), Sepharden, Morisken, Indianerinnen und ihresgleichen: die andere Sicht der hispanischen Kulturen (1995); René Prieto, "The literature of Indigenismo",
Cambridge
in: Roberto G o n z á l e z Echevarría u. Enrique Pupo-Walker (Hg.). The
History of Latin American Literature,
Bd. 2 ( The Twentieth Century ).
Cambridge: Cambridge University Press 1996, S. ¡ 3 8 - 1 6 3 ; s o w i e Mabel Moraña
(Hg.), Indigenismo
hacia el fin del milenio: homenaje
a Antonio Cornejo
Polar
(1998). 5
Horst Pietschmann, "Lateinamerikanische Geschichte und deren wissenschaftliche Grundlagen. Versuch einer Standortbestimmung", in: Ders. (Hg.). Handbuch der
Geschichte Lateinamerikas,
Bd. 1 (Mittel-, Südamerika
und die Karibik bis 1760).
Stuttgart: Klett-Cotta 1994, S. 1-22, hier S. 9. (Im folgenden zitiert als 1994a.)
15
ditionellen Gattungsmuster durch ihren experimentellen Charakter unterscheidet.6 Sie konstituiert sich Mitte der 70er Jahre mit einer größeren Zahl bedeutender Werke als ein grundlegender Trend des Post-Boom.1 Die neuen historischen Romane weisen eine Vielfalt unterschiedlicher narrativer Verfahren auf. Gemeinsam ist ihnen jedoch die Auseinandersetzung mit traditionellen Geschichtsbildern, die Autoreflexivität und eine grundsätzliche Skepsis gegenüber dem Anspruch einer objektiven Geschichtsdarstellung. Ausgehend von der Figur des Konquistadors und des Indios als Protagonisten der Conquista soll überprüft werden, inwiefern die nueva novela histórica sich dem von Schriftstellern und der Forschung propagierten Anspruch einer reescritura de la historia, einer alternativen Darstellung der Geschichte stellt. Konkret lautet die Frage, ob sich an die reescritura der Conquista im neuen historischen Roman eine kritische Reflexion kolonialer Diskurse knüpft. Eine emanzipative Auseinandersetzung mit den in der Kolonialzeit etablierten Machtverhältnissen und sozialen bzw. kulturellen Normen wird eine Reihe von Themen aufgreifen müssen: die Suche nach individueller und kollektiver Identität, die kolonialen Wertehierarchien, die Historiographie als vermeintliches Medium zur Erkenntnis der Wirklichkeit sowie das Wesen historischer Verantwortung. Die Behandlung dieser Themen in der nueva novela histórica kann nur auf dem Hintergrund der Postkolonialismus-Debatte angemessen beleuchtet werden. Postkolonialismus dient zum einen als historische, zum anderen als erkenntnistheoretische Kategorie. In der ersten Zeit seit Aufkommen des Begriffs um 1980 meist mit Blick auf das britische und französische Kolonialreich verwendet entspricht er auch der Situation Lateinamerikas. 8 Das Konzept einer 'postkolonialen Literatur'9 sollte da6 7
8
Vgl. S e y m o u r Mentón, La nueva novela histórica de la América Latina, 1979-1992, México: Fondo de Cultura E c o n ó m i c a 1993, S. 29f. Vgl. Gustavo Pellón. "The Spanish American novel: recent developments, 1975 to 1990". in: González Echevarría. Pupo-Walker 1996, S. 2 7 9 - 3 0 2 , hierzu S. 2 8 7 f f . s o w i e Donald L. Shaw, The Post-Boom in Spanish American Fiction. Albany: State University o f N e w York Press 1998, S. 31 f. Stuart Hall fragt diesbezüglich: "Ist Lateinamerika 'postkolonial', obgleich seine Unabhängigkeitskriege im frühen 19. Jahrhundert - lange vor der jüngsten Phase der 'Entkolonialisierung', auf die sich der Begriff ganz offensichtlich bezieht - ausgemachten und von den A b k ö m m l i n g e n der spanischen Eroberer angeführt wurden, die ihre eigenen 'Eingeborenenvölker' kolonialisiert hatten?" (Stuart Hall, "Wann
16 gegen nicht auf Lateinamerika übertragen werden. Während z.B. Indien, erst seit 1947 unabhängig, die Folgen der Kolonialherrschaft in seiner Literatur unmittelbar reflektiert, ist dies in den zwei Jahrhunderten lateinamerikanischer Unabhängigkeit nur bedingt der Fall. Da insbesondere die spanische Kolonialherrschaft so lange dauerte und bereits so weit zurückliegt, erscheint der Begriff einer postkolonialen Literatur mit Blick auf Hispanoamerika nicht angebracht. Alternativ dazu prägt diese Arbeit das Konzept einer postkolonialen Strategie der Erinnerung für die kritische Lektüre des kolonialen Diskurses in der nueva novela histórica. Die Auswahl der in Kap. IV bis VI analysierten vier Romane orientiert sich an diesem Charakteristikum; gleichzeitig bildet es die Leitlinie der Interpretation des gesamten Korwar 'der Postkolonialismus'? Denken an der Grenze", in: Elisabeth Bronfen (Hg.). Hybride Kulturen: Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 219-246. S. 224.) Dies ist zu bejahen, denn als soziales Phänomen läßt sich der Postkolonialismus dahingehend definieren, daß die Bedingtheit aktueller, im weitesten Sinne gesellschaftlicher Zustände eines Landes durch seine koloniale Vergangenheit seine Einordnung als 'postkolonial' rechtfertigt bzw. zu einer präzisen Beschreibung dieser Zustände eine entsprechende Theoriebildung erforderlich macht. In Anbetracht der bis heute andauernden, an die Kolonialzeit anknüpfenden Abhängigkeit des Subkontinents von der westlichen Welt erscheint die Einordnung lateinamerikanischer bzw. karibischer Staaten in die Gruppe postkolonialer Gesellschaften durchaus sinnvoll. Nach Hall lassen sich Länder mit so unterschiedlichen sozialen und ethnischen Strukturen wie Jamaika. Kanada. Australien, Nigeria, Algerien und Indien alle als postkolonial bezeichnen, "auch wenn Art, Zeit und Umstände ihrer Kolonisation und Unabhängigkeit stark variierten". (Ebd.. S. 225.) Die postkoloniale Abhängigkeit Lateinamerikas ist wirtschaftlicher, politischer und geistiger Natur. Die Dependenztheorien, die seit Mitte der 1960er Jahre die entwicklungspolitische Diskussion dominieren, vertreten die These, "daß die lateinamerikanischen Entwicklungsdefizite auf eine jahrhundertealte, die nationale Autonomie einschränkende Fremdeinwirkung, von den Spaniern über die Engländer bis zu den USA, zurückzuführen ist" (sie). Wirtschaftliches Wachstum konnte in Lateinamerika demzufolge bislang immer nur "als Reflex und in Abhängigkeit von der Expansion anderer Staaten" erzielt werden. (Walther L. Bernecker u. Hans Werner Tobler, "Staat, Wirtschaft. Gesellschaft und Außenbeziehungen Lateinamerikas im 20. Jahrhundert". in: Dies. (Hg.). Handbuch der Geschichte Lateinamerikas. Bd. 3 (Lateinamerika im 20. Jahrhundert). Stuttgart: Klett-Cotta 1996, S. 3-169, S. 5f.) 9
Vgl. Bill Ashcroft, Gareth Griffiths u. Helen Tiffin, The empire writes back. Theory and practice in post-colonial literatures (1989) sowie Liselotte Glage u. Martina Michel (Hg.), Postkoloniale Literaturen (1993).
17
pus. Das Dilemma der postkolonialen Erinnerung besteht darin, daß die heutige Version der präkolonialen kulturellen Wurzeln und ihrer Entwicklung im Laufe der Kolonialzeit in der Regel auf das Bild zurückgeht, das sich die Europäer ausgehend von ihren eigenen kulturellen Maßstäben von ihrem Gegenüber gemacht haben.10 Das Konzept einer postkolonialen Strategie der Erinnerung erlaubt die Anwendung postkolonialer Theorien mit einer Konkretion, die der vage Oberbegriff einer postkolonialen Literatur nicht leisten kann." Die Arbeit bezieht sich auf ein Korpus von zwanzig hispanoamerikanischen historischen Romanen über die Conquista aus der Zeit von 1978 bis 1999. Das Korpus erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, ermöglicht es aber, die grundlegenden inhaltlichen und formalen Tendenzen der nueva novela histórica über die Conquista zu umreißen.12
10
11
12
Mit anderen Worten: "Those [...] who wish to return to the pyramid, forget that in the first place, in the present concrete reality which inscribes itself upon us, we have to enter the cathedral and dismantle it from within." Vgl. Fernando de Toro, "From where to speak? Post-Modern/Post-Colonial Positionalities", in: Ders. (Hg.), Borders and margins: post-colonialism and post-modernism, Frankfurt a.M.: Vervuert, Madrid: Iberoamericana 1995, S. 131-148, S. 142. Auch Fernando de Toros Konzept einer postkolonialen 'globalen Literatur' jenseits nationaler Identitäten trifft nicht die Eigenart der nueva novela histórica, denn diese bemüht sich um eine Erneuerung nationaler oder regionaler Identitäten, nicht um deren Abschaffung. Vgl. Fernando de Toro, "The postcolonial question: alterity, identity and the other(s)". in: Alfonso u. Fernando de Toro (Hg.), El debate de la posteolonialidad en Latinoamérica. Una postmodernidad periférica o cambio de paradigma en el pensamiento latinoamericano, Frankfurt a.M.: Vervuert 1999, S. 101-136. Insgesamt sind in dem Zeitraum von 1978 bis 1999 gut dreißig hispanoamerikanische Romane über die Conquista erschienen. Die Conquista wird im allgemeinen auf die Zeit von 1492 bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts datiert, als die großen Entdeckungs- und Eroberungszüge abgeschlossen waren. Die nueva novela histórica im allgemeinen greift Stoffe vom 16. bis zum 19. Jahrhundert auf. Neben der Conquista bildet die Zeit der Unabhängigkeitskriege und Staatenbildung dabei einen zweiten thematischen Schwerpunkt, wobei es allerdings von Land zu Land und Region zu Region Unterschiede gibt. (Beispielsweise überwiegen in Argentinien und Uruguay im Gegensatz zu Mexiko Romane über das 19. Jahrhundert.) Gute Einführungen zur nueva novela histórica im allgemeinen bieten Fernando Ainsa, "La reescritura de la historia en la nueva narrativa latinoamericana", in: Cuadernos Americanos. Bd. 4. Nr. 28. 1991, S. 13-31, David H. Bost, "History as fiction in the Latin American novel", in: South Eastern Latin Americanist, Bd. 40, Nr.
18
Die Autoreflexivität der nueva novela histórica knüpft sich meist an drei Erzählverfahren, die den neuen grundlegend vom traditionellen historischen Roman unterscheiden, nämlich die Fragmentierung, die IchErzählung und die Intertextualität in Form von Zitat, Pastiche und Parodie. Diese Verfahren werden auf ganz unterschiedliche Weise kombiniert und variiert, so auch in den Texten des Korpus. Die Fragmentierung der Erzählung in - möglichst allgemein formuliert - inhaltlich und/oder formal disparate Textstücke verleiht der Erzählstruktur einen offenen Charakter. Aus dem Verhältnis zwischen den verschiedenen Teilen erwächst eine Spannung: Sie können sich ergänzen oder gegenseitig in Frage stellen, ihre thematische Beziehung kann offensichtlich oder rätselhaft sein, ihre Reihenfolge willkürlich oder durch ein Ordnungsprinzip bestimmt. An die Stelle der auktorialen Erzählhaltung treten wechselnde Erzähler und Perspektiven.13 Die Ich-Erzählung, in der nueva novela histórica meist betont persönlich gehalten, stellt ähnlich wie das Collage-Prinzip den mimetischen Anspruch des historischen Romans in Frage: Sie erzeugt einerseits die Illusion einer unmittelbaren Erfahrung der Historie, bildet aber andererseits ein offensichtlich subjektives Zeugnis. Häufig schafft sie als Buch im Buch eine Distanz zwischen Ereignis und Erzählung - der Protagonist blickt auf sein Leben zurück oder ein fiktiver Schriftsteller schreibt Jahrhunderte später die Vergangenheit neu. Die Perspektive des Ich-Erzählers auf der einen Seite und der Verzicht auf eine einheitliche Erzählsituation auf der anderen bilden zwei komplementäre Strategien. Beide brechen mit der von Walter Scott etablierten Gattungskonvention, der geschlossenen, linearen Erzählung mit einem
13
1-2, 1996, S. 1-14, und María Cristina Pons, Memorias del olvido. Del Paso, García Márquez, Saer y la novela histórica de fines del siglo XX (1996). Eine kategorische Abgrenzung zwischen neuen historischen Romanen auf der einen Seite und 'traditionelleren' auf der anderen, wie sie Seymour Mentón vornimmt, ist nicht das Ziel dieser Arbeit. Mentons Aufstellung zweier Gruppen ist nicht haltbar, denn der dazu verwendete Merkmalkatalog enthält nicht alle Punkte, die den neuen vom historischen Roman traditionellen Musters unterscheiden. Auch die von Ainsa zu recht als typisch hervorgehobenen Merkmale der Ironie und Parodie werden in manchen Romanen nicht verwendet, die sich aber anderweitig von der Tradition unterscheiden. Zwischen dem klassischen und dem neuen historischen Roman gibt es keine kategoriale. sondern nur eine fließende Grenze. Vgl. zur Funktion der Collage in der nueva novela histórica Bost 1996. S. 5f.
19 auktorialen Erzähler, der in einem angemessenen zeitlichen Abstand zum historischen Geschehen steht und eine vorgeblich objektive und distanzierte Perspektive vertritt. Auch die allzu menschlichen, wenn nicht exzentrischen Protagonisten des neuen historischen Romans sind kaum noch vergleichbar mit Scotts Hauptfiguren, nach Lukács 'national typisch im Sinne der tüchtigen Durchschnittlichkeit' und dabei stets ihrer erzählerischen Funktion als Vermittler im Konflikt rivalisierender historischer Bewegungen unterworfen.14 Zitiert werden in der nueva novela histórica vor allem historiographische Texte, im Roman über die Conquista insbesondere die Chroniken des 16. Jahrhunderts. Mit wortgetreuen oder manipulierten, bisweilen seitenlangen Zitaten, oft als kaum merklicher Einschub in den Text eingelassen, lavieren die Romane zwischen Pastiche, Plagiat und Parodie. Das Zitat authentischer oder apokrypher Dokumente eröffnet zwei Möglichkeiten: In parodistischer Verschränkung mit der Fiktion vergegenwärtigt es die Spannung zwischen dem historischen Dokument und seiner Auslegung durch die Nachwelt; fehlt die ironische Distanz der Parodie, fingiert es einen direkten Zugang zur Historie.15 In der Auseinandersetzung mit den Quellen, zugleich Tor und Riegel vor einer unwiederbringlichen Vergangenheit, bewegt sich der neue historische Roman auf dem schmalen Grat zwischen der Infragestellung und der Affirmation der Geschichtsschreibung. Die Ambivalenz von Zitat, Pastiche und Parodie kommt in Linda Hutcheons Theorie des postmodernen historischen Erzählens deutlich zum Ausdruck. Hutcheons Konzept der Historiographie metafiction kann nicht pauschal mit der nueva novela histórica gleichgesetzt werden, entspricht ihr aber in vielen Fällen. Es steht in Abgrenzung zum traditionellen historischen Roman für eine autoreflexive Erzählweise, die den Zugang zu historischem Wissen problematisiert. Historiographie metafiction betrachtet die historische Überlieferung als das wandelbare Ergebnis von 14
Vgl. Georg Lukäcs, Der historische S. 39fT.
Roman,
N e u w i e d , Berlin: Luchterhand 1965,
15
Gerade die letztere Spielart erlebte im Z u g e des Quinto Centenario einen B o o m : Die um 1992 zahlreich erschienenen Romane über die 'Sicht der Besiegten' (oder Vision de los vencidos, so der bereits sprichwörtliche Titel einer S a m m l u n g indianischer Zeugnisse über die Conquista von Miguel Leon Portilla) verweisen häufig auf indianische Zeugnisse als vermeintlichen Garanten historischer Faktentreue.
20 Diskursen, die von Machtverhältnissen beeinflußt sind und diese ihrerseits beeinflussen. Eine ihrer Strategien ist der Gebrauch ästhetischer und rhetorischer Konventionen mit dem Ziel, ihren arbiträren Charakter zu entlarven. Durch die Konfrontation von Historiographie und Fiktion macht sie das Verhältnis zwischen den beiden zu ihrem Thema. 16 Historiographie metafiction wendet sich gegen die aristotelische Auffassung, daß die Geschichtsschreibung das Zufallige und Besondere, die Dichtung dagegen das Mögliche im Sinne des Typischen und Allgemeingültigen darzustellen habe. Sie relativiert den Anspruch der repräsentativen Darstellung, wie er in Georg Lukâcs' Theorie des historischen Romans zum Ausdruck kommt: Historiographie metafiction espouses a postmodem ideology of plurality and différence; 'type' has little fonction here, except as something to be ironically undercut.17 Die Erfahrung und Verantwortung des Einzelnen, sei er berühmt oder namenlos, wird dabei in einer Weise ernst genommen, die die Unterscheidung von privater und öffentlicher Geschichte in Entsprechung zu den angestammten Zuständigkeiten von Fiktion und Wissenschaft obsolet macht. 18 Hutcheon betrachtet die Verschränkung von individuellem und kollektivem Empfinden und Handeln als Herausforderung des postmodernen historischen Erzählens und fragt rhetorisch: Is there a lesson to be leamed from the postmodem paradox here: from both the ironically undercut megalomania and the refusai to abnegate personal responsibility for public history?19 Wie Hutcheon betont, handelt es sich bei der historiographie metafiction um ein typisch postmodernes Genre; darüber hinaus bildet sie jedoch 16 17 18
19
Vgl. Linda Hutcheon. A Poetics of Postmodernism. History, York, London: Routledge 1988. hierzu etwa S. 9 2 u. 113. Ebd., S. 114.
Theory,
Fiction.
New
Die A u f h e b u n g dieser Trennung der Historie in zwei Sphären, von denen die eine für die Rekonstruktion historischer Ereignisse bedeutsam, die andere dagegen zu vernachlässigen sei. setzt sich auch in der Geschichtswissenschaft durch, wie die fortschreitende akademische Institutionalisierung der Mentalitäts- und Sozialgeschichte belegt. Hutcheon 1988, S. 94.
21
die ideale, wenn nicht die einzig angemessene Form für das postkoloniale historische Erzählen, da seine Darstellung der Vergangenheit immer auch eine diskurskritische Auseinandersetzung mit der kolonialen Geschichtsschreibung erfordert. Die nueva novela histórica teilt die postmoderne Skepsis gegenüber dem Anspruch einer allgemeingültigen historischen Darstellung, verfolgt aber andererseits das Ziel, eine alternative Geschichte 'von unten', d.h. aus der Sicht von Namenlosen und Minderprivilegierten zu schreiben, Übergriffe der Machthaber zu denunzieren und den Nimbus erklärter Helden zu hinterfragen. Die großen Figuren der Historie zeigt sie als Individuen mit einer persönlichen, oft schmerzlichen Erfahrung der Geschichte. Der Anspruch einer reescritura de la historia eröffnet einen Zwiespalt: Negar en términos absolutos la posibilidad de conocimiento del pasado porque no hay más que construcciones discursivas y subjetivas de él implicaría, a su vez, cuestionar las versiones alternativas, disminuyendo o relativizando así su validez y potencial contradiscursivo respecto del discurso oficial.20 Die nueva novela histórica geht mit diesem Widerspruch unterschiedlich um: Entweder sie ignoriert ihn und präsentiert ihre eigene Version der Historie unreflektiert als Korrektur der Geschichtsschreibung, oder sie vermeidet jegliche Sinngebung durch eine allgegenwärtige Ironie, oder aber sie thematisiert den Konflikt und entwickelt gegebenenfalls Strategien, um ihre Sinngebung mit dem Zweifel an der Möglichkeit historischer Erkenntnis zu vereinbaren. Fragwürdig ist in Anbetracht dieser Problematik die simple Gleichsetzung ästhetischer Innovation mit progressiver Aussage in der Annahme, daß "der fiktionale Modus und die Intention der Darstellung einen gemeinsamen Nenner [haben]: Emanzipation von beengenden Traditionen, von bedrückenden Realitäten".21 20 21
María Cristina Pons. Memorias del olvido. La novela histórica de fines del siglo XX, M é x i c o : siglo veintiuno 1996. S. 246. Vgl. Rainer Domschke, Fiktionalisierungen der Conquista im 20. Jahrhundert. Studien zum historischen Roman in Spanischamerika, Hamburg: Dr. K o v a c 1996, S. 15. Mit Blick auf die Conquista als Gegenstand des historischen Romans schließt die Arbeit zeitlich an D o m s c h k e s Arbeit an. D i e s e behandelt eine A u s w a h l von zehn Romanen aus der Zeit von 1934 bis 1988, dabei stammen zwei Texte aus den 70er
22 Ästhetische Innovation kann gerade in der Postmoderne auch mit traditionellen Inhalten und politischem Konservatismus des rechten ebenso wie des linken Spektrums einhergehen.22 Die Frage nach dem Verhältnis zwischen formaler Innovation bzw. Konvention und historisch-politischer Aussage steht in engem Zusammenhang mit der lateinamerikanischen Postmoderne-Diskussion. Die Anwendung des Begriffs der Postmoderne auf Lateinamerika ist vor allem deshalb umstritten, da ihre Definition als Verzicht auf die Suche nach Wahrheit im Anschluß an Jean-François Lyotard unvereinbar ist mit dem gesellschaftspolitischen Engagement, das bis heute als charakteristisches Merkmal der Kultur des Subkontinents gilt.23 Es stellt sich die Frage, wie die nueva novela histórica den postmodernen Zweifel am Wirklichkeitsbezug historiographischer Diskurse mit dem Bedürfnis nach historischer Sinngebung vereinbart, das in Lateinamerika in den Diskussionen anläßlich des Quinto Centenario zum Ausdruck kam.24 Übernehmen die Romane die postmoderne Vorstellung einer totalen Kontingenz, hoffen sie auf den Fortschritt, blicken sie nostalgisch auf die präkolumbische zyklische Zeit zurück oder eröffnen sie neue Perspektiven historischer Bewegung jenseits von Linie und Kreis? In diesem Sinne ist zu klären, ob und inwiefern Postmoderne und Postkolonialismus als literarhistorische Begriffe miteinander vereinbar sind.
22 23
24
und einer aus den 80er Jahren, Memorias del nuevo mundo (1988), der auch in der vorliegenden Arbeit besprochen wird. Vgl. Hutcheon 1988, S. 204fT. Vgl. hierzu etwa Iris Zavala, "On the (Mis-)Uses of the Post-Modern: Hispanic Modernism Revisited", in: Theo D'Haen u. Hans Bertens (Hg.), Postmodern Fiction in Europe and the Americas, Amsterdam: Rodopi 1988, S. 83-113. Zu recht mehrfach kritisiert wurde Raymond L. Williams' The postmodern novel in Latin America. Politics, Culture, and the Crisis of Truth. New York: St. Martin's Press 1995. denn Williams überträgt das Konzept einer Postmoderne, die an "truth claims" nicht mehr interessiert sei und stattdessen so etwas wie mögliche Wahrheiten aufzeige, pauschal auf so unterschiedliche Texte wie La mujer habitada von Gioconda Belli auf der einen Seite und die Romane von Diamela Eltit auf der anderen, während er Los perros del paraíso von Abel Posse dagegen als modern einstuft - eine völlig willkürliche Kategorisierung. (Vgl. S. 73ff u. 124.) Vgl. etwa die zur Debatte über den Quinto Centenario zusammengestellte Bibliographie in Monica Scarano. Mónica Marinone u. Gabriela Tineo, La reinvención de la memoria. Gestos, textos, imágenes en la cultura latinoamericana (1997).
23 2. Lateinamerika aus der Sicht des Postkolonialismus Die unter dem Lemma des Postkolonialismus zusammengefaßten Theorien verfolgen das Ziel, um es mit Stuart Hall so allgemein wie möglich auszudrücken, den Wandel im Bereich der globalen Beziehungen, der den (notwendigerweise ungleichmäßigen) Übergang vom Zeitalter der Imperien zum Zeitpunkt der Post-Unabhängigkeit oder Post-Entkolonialisierung markiert, zu beschreiben und [...] die neuen Beziehungen und Machtverhältnisse, die sich innerhalb der neuen Konstellation herausbilden, zu erkennen. 25
Dabei kommt der Kolonialisierung die Bedeutung eines entscheidenden Schrittes hin zur Weltordnung des 20. Jahrhunderts zu: In der neuinszenierten Narrative des Postkolonialismus nimmt die Kolonisation den Rang und die Bedeutung eines zentralen, umfassenden, Strukturen sprengenden welthistorischen Ereignisses ein. [...] Diese Änderung in der Erzählperspektive verlagert die 'Geschichte' der kapitalistischen Moderne - um hier einmal Schlagworte zu bemühen - von ihrer eurozentristischen Ausrichtung hin zu ihren weltweit zerstreuten 'Peripherien'; von der friedlichen Evolution hin zu aufgezwungenen Gewaltverhältnissen; vom Übergang des Feudalismus zum Kapitalismus (der etwa für den westlichen Marxismus eine magische Rolle spielte) hin zur Entstehung des Weltmarktes [...]. 26
An diese Verlagerung der Perspektive vom Zentrum zur Peripherie knüpft sich die Infragestellung ebendieser und anderer fundamentaler Oppositionen des Kolonialsystems wie derjenigen zwischen Kolonisator und Kolonisiertem. Die postkolonialen Theorien zeigen den aporetischen Charakter dieser Differenzen auf und kommen dabei zu dem Schluß, daß die polare Form, in der die koloniale Begegnung auf beiden Seiten dargestellt wurde, weder diskursiv noch praktisch durchgehalten werden konnte: Die Identität des Kolonisators (und analog dazu die des Kolonisierten) wurde mit Hilfe der "symbolischen Schaffung eines konstitutiven Draußen" konstruiert,
25
Hall 1 9 9 7 . S. 2 2 6 .
26
Ebd.. S. 2 3 1 f.
24 das sich allerdings noch nie hat örtlich fixieren lassen und das, damals und erst recht heute, immer durch die brüchigen, unsichtbaren Grenzen hindurch zurückgeschlüpft ist, um sie von innen heraus zu stören und zu zerstören. 27 D e r dekonstruktive C h a r a k t e r des P o s t k o l o n i a l i s m u s geht unverkennbar a u f den E i n f l u ß des Poststrukturalismus zurück. D i e Entstehung der postkolonialen T h e o r i e in den späten 7 0 e r J a h r e n hängt zusammen mit dem vermehrten Eintritt von Schriftstellern und W i s s e n s c h a f t l e r n aus den e h e m a l i g e n K o l o n i a l s t a a t e n in europäische und nordamerikanische akad e m i s c h e Institutionen und ihrer B e t e i l i g u n g an Diskussionsforen internationaler B e d e u t u n g . D i e p o s t k o l o n i a l e T h e o r i e b i l d u n g ist vielfältig und w e n i g s y s t e m a t i s c h . A l s ihr kleinster g e m e i n s a m e r N e n n e r läßt sich j e d o c h e i n e antiessentialistische Haltung n e n n e n . N a c h Anil Bhatti richtet sie sich gegen eine ideologische Position, die Authentizität, Kulturwurzeln, Monolingualität, den Nationalstaat essentialisiert, und diese nicht als raum-zeitlich bedingt auffaßt. Die [...] Betonung des Multiplen, des Bruchs, der Dezentrierung und der Heterogenität, der Hybridität, der Deterritorialisierung, des Nomadentums, der Mehrsprachigkeit, der Gleichzeitigkeit zielt darauf, die Suche nach identitätsstiftenden Wurzeln in Frage zu stellen. [...] Und wenn man zurückblickt, so doch im Bewußtsein der Tatsache, daß das Verlorene, wie Rushdie betont, außer in Fiktionen, als "imaginary homelands", nicht mehr zu reklamieren ist. 28 D i e S e h n s u c h t nach einer vermeintlichen
Authentizität leugnet die
T a t s a c h e , daß der e n g e , oft mit einer ethnischen V e r m i s c h u n g verbundene K o n t a k t mit einer fremden Kultur im R a h m e n der K o l o n i a l i s i e r u n g e i n e E n t w i c k l u n g in G a n g setzt, die nicht m e h r r ü c k g ä n g i g g e m a c h t w e r den kann, und z w a r nicht einmal in der Erinnerung, da diese i m m e r nur mit dem von den K o l o n i s a t o r e n selbst überlieferten Material
arbeiten
kann. W e n n sich mit dem Ideal e i n e r R ü c k b e s i n n u n g a u f urtümliche Sit-
27 28
Ebd., S. 2 3 6 . Anil Bhatti, "Aspekte der Grenzziehung; Postkolonial" [sie], Trans. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Nr. 0, August 1998, S. 1-16, hier S. 4 (http://www.adis.at/arlt/institut/trans/ONr/bhatti.htm). Bhatti zitiert seinerseits Salman
Rushdie, Imaginary homelands (1991).
25 ten eine kategorische Ablehnung äußerer Einflüsse verbindet, führt dies in eine kulturelle, wenn nicht sogar existentielle Sackgasse. Man kann die koloniale Oppositionsbildung also zum Konstrukt erklären, ihre praktischen Folgen lassen sich aber nicht wegdiskutieren. Denn trotz der Auflösung der Kolonialreiche ist es bemerkenswert und charakteristisch [...], daß viele Auswirkungen der Kolonisation fortbestehen, sich jedoch gleichzeitig von der Achse Kolonialherr/Kolonialisierter weg und in die entkolonialisierte Gesellschaft hinein verlagert haben.29 Theoretisch läßt sich die essentialistische Argumentation entkräften, die früher den Kolonialmächten zur Rechtfertigung diente und heute von den unabhängig gewordenen Völkern oft bei der Bestrebung verwandt wird, zu einem unverfälschten Ursprung zurückzukehren. Lange Zeit unterdrückte Bedürfnisse nach ethnischer Abgrenzung und Gleichberechtigung führen aber nach dem Ende der kolonialen Herrschaft oftmals zu sozialen Konflikten bis hin zum Bürgerkrieg. Die postkoloniale Identitätsdiskussion muß sich mit der paradoxen Situation auseinandersetzen, daß die postkolonialen Gesellschaften einerseits durch Synkretismus und Hybridität, andererseits aber durch binäre, sowohl diskursive als auch faktische Oppositionen geprägt wurden und werden. Mit anderen Worten, wie Hall es treffend ausdrückt: Wir müssen diese beiden Enden der Kette gleichzeitig in der Hand behalten - Überdetermination und Differenz, Kondensation und Dissemination -, wenn wir nicht einem belanglosen Dekonstruktivismus erliegen wollen, dem Phantasiegebilde eines machtlosen Utopia der Differenz.30 Die lateinamerikanische Postkolonialismus-Diskussion setzt an bei dem Problem der geistigen Fremdbestimmung. Der Anfang der 90er Jahre gegründete 'Grupo Latinoamericano de Estudios Subalternos' prägte dafür das Konzept des 'Latinoamericanísimo'?x John Beverley, Ileana 29 30
Hall 1997. S. 228. Ebd.. S. 231.
31
A n a l o g zu Orientalismo bzw. Orientalism, dem Titel der 1978 von Edward Said veröffentlichten grundlegenden Schrift des Postkolonialismus, einer A n a l y s e und Kritik der in Europa produzierten Diskurse über den Orient, die Said unter dem ti-
26 Rodríguez, Walter Mignolo, Alberto Moreiras u.a. werfen den nordamerikanischen Area Studies vor, ihre Lateinamerika-Forschung zweckorientierten Rastern untergeordnet zu haben, um im kalten Krieg die Grundlage für eine politische Kontrolle des Subkontinents und darüber hinaus für eine wirtschaftliche und kulturelle Globalisierung im Sinne des American way oflife zu schaffen. In Abgrenzung dazu propagieren sie Lateinamerika-Studien, die nicht a priori den Direktiven der Modernisierung und Globalisierung folgen, sondern auch davon abweichende Phänomene berücksichtigen. In Opposition zu den USA haben die in den 60er und 70er Jahren gängigen marxistisch und/oder nationalistisch ausgerichteten 'antikolonialen' Diskurse das Denken in Dichotomien wie Erste und Dritte Welt, Unterdrücker und Unterdrückte, civilización und barbarie aber ebenfalls beibehalten. In der Überzeugung, aus dem Status der Armut und Unterdrückung eine moralische Überlegenheit gegenüber der (Neo-)Kolonialmacht ableiten zu können, kehrten sie das koloniale Argumentationsmuster um und bestätigten damit die Marginalität der eigenen Position. Darum bemüht, diese Polarisierung zu dekonstruieren, gehen die 'Subalternistas' der Ausgrenzung des Anderen in der Geschichte der Moderne nach und stellen fest, daß die von den Kolonisatoren in Lateinamerika geübte Praxis dort im Zuge der Nationalstaaten-Bildung fortgeführt wurde. Deren Wortführer wie Andrés Bello, Domingo Faustino Sarmiento und José Martí hätten sich angemaßt, für die subalternen, d.h. unterprivilegierten Bevölkerungsschichten zu sprechen und sie auf diese Weise entmündigt. Diesem Verfahren entspreche die heutige akademische Praxis, aus einem nach fragwürdigen Kriterien zusammengestellten Kanon lateinamerikanischer Schriftsteller ein vermeintlich kollektives Identitätsbewußtsein abzuleiten.
telgebenden Begriff zusammenfaßt. Vgl. Santiago Castro-Gómez, "Latinoamericanismo, modernidad, globalización. Prolegómenos a una crítica poscolonial de la razón", in: Ders. u. Eduardo Mendieta (Hg.), Teorías sin disciplina (latinoamericanismo, poscolonialidad y globalización en debate), México: Miguel Angel Porrúa 1998, S. 1-21. (Seitenangaben nach der Internet-Fassung unter: http://ensayo.rom.uga.edu/critica/teoria/castro/castroG.htm.) Castro-Gómez' Artikel bietet eine hervorragende Einführung in die lateinamerikanische Postkolonialismus-Diskussion, der Band insgesamt vermittelt einen Überblick über ihre unterschiedlichen Tendenzen.
27 In Anlehnung an Homi Bhabha und Gayatri Spivak - neben Said die zentralen Figuren des Postkolonialismus - betonen die lateinamerikanischen Forscher die Notwendigkeit, die eigene, widersprüchliche Position einer Kritik der westlichen akademischen Tradition, die in ebendieser Tradition verankert ist, als Hintergrund ihres Denkens mitzureflektieren. Das von Alberto Moreiras propagierte Konzept eines 'neuen', postkolonialen Latinoamericanismo bezeichnet den Anspruch, die Subjektivität des eigenen Standpunktes nicht zu unterschlagen. 32 Der 'Grupo Latinoamericano de Estudios Subalternos' hat die lateinamerikanische Postkolonialismus-Diskussion initiiert, aber seine Ansichten sind zu recht umstritten. So kritisiert Santiago Castro-Gómez Alberto Moreiras' und John Beverleys Idealisierung von Stimmen, die außerhalb des an Schriftlichkeit und Intellektualität orientierten bürgerlichen Bildungsideals stehen wie die Protagonisten der Testimonialliteratur oder die Zapatisten-Bewegung. Die Vorstellung, daß volkstümliche Stimmen eine Alternative zur Moderne darstellten, setzt die Ausgrenzungsmechanismen des scheinbar überwundenen kolonialen Latinoamericanismo indirekt fort.11
3. Zu Aufbau und Methode Die Arbeit beginnt mit einem Abriß der historiographischen Forschung des 20. Jahrhunderts über die Konquistadoren. Er zeigt ausgehend 32
33
Mit Bezug auf den Subalternen bedeutet dies, dem von Spivak betonten Unterschied zwischen 'Vertretung' und 'Darstellung' Rechnung zu tragen, d.h. die Komplexität des Anderen nicht durch eine vermeintlich objektive, allgemeingültige Repräsentation (im Sinne einer Vertretung) zu reduzieren, sondern umgekehrt die Schwierigkeit aufzuzeigen, diese Komplexität angemessen wiederzugeben (im Sinne einer metakritischen Darstellung). Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak, "Can the Subaltem speak?", in: Patrick Williams u. Laura Chrisman (Hg.), Colonial Discourse and Postcolonial Theory. A Reader. New York: Columbia University Press 1994, S. 66111. 'Subaltern' bedeutet im Sinne des Postkolonialismus soviel wie unterprivilegiert oder ausgegrenzt. Der Subalterne ist der Andere des (Post-)Kolonialismus. Vgl. Castro-Gómez 1998. S. 9ff, sowie Alfonso de Toros analoge Argumentation in "La postcolonialidad en Latinoamérica en la era de la globalización. ¿Cambio de paradigma en el pensamiento teórico-cultural latinoamericano?", in: A. u. F. de Toro 1999. S. 31-77. Siehe hierzu auch Kap. 11.2.b).
28 von Georg Friedericis überwiegend kritischer Darstellung auf der einen und Francisco Morales Padróns die Spanier eher rechtfertigenden auf der anderen Seite, inwieweit neuere Beiträge sowohl spanischer als auch hispanoamerikanischer Provenienz sich um eine wertfreie Darstellung bemühen und - allerdings nur ansatzweise - differenziertere Bilder entwerfen. Am Beispiel von Tzvetan Todorovs La conquête de l'Amérique (1982) und der Forschung über den in Yucatan verschollenen Gonzalo Guerrero wird jedoch augenfällig, wie kulturgeschichtlich orientierte Arbeiten in den 80er Jahren zu einer kritischen Lektüre der Chroniken übergehen. Deren Ergebnisse lassen sich in unmittelbaren Bezug zu den untersuchten Romanen setzen. Kap. II skizziert die Rolle des Autochthonen als wechselnden Pol der Opposition von civilización und barbarie. Geprägt von Sarmiento wird diese Dichotomie zu einem Leitmotiv lateinamerikanischer Identitätssuche.34 Vittoria Borsô behandelt die Bedeutung des Autochthonen im mexikanischen Identitätsdiskurs in ihrer Arbeit Mexiko jenseits der Einsamkeit. Borsô zeigt darin, inwiefern Romane von José Revueltas, Juan Rulfo und Elena Garro die im Zuge der Revolution etablierte, offizielle Version der mexicanidad sowie die Prämissen der Sekundärliteratur über den Magischen Realismus in Frage stellen." Ein zentrales Konzept der mexicanidad ist der mestizaje, zu deutsch 'Mestizierung'. Dieser Begriff bezeichnet bekanntlich die Vermischung der Rassen, hat im 20. Jahrhundert 34
Die Opposition von civilización und barbarie prägt den kulturtheoretischen Diskurs über das Verhältnis z w i s c h e n der lateinamerikanischen und der westlichen Welt bis in die jüngste Zeit. Der Postkolonialismus betrachtet diese Polarisierung als eine Fortsetzung des kolonialen Diskurses, der die Beziehung zwischen dem Eigenen und dem Anderen nur als eine binäre Opposition denken kann. D i e s e m Essentialism u s entspricht das in postkolonialen Gesellschaften häufig anzutreffende Ideal einer Rückkehr zu der vermeintlich authentischen, homogenen Identität aus der Zeit vor der Kolonialisierung. Das gilt vor allem für M e x i k o und die Karibik, w o man sich trotz unterschiedlicher Voraussetzungen heute noch auf den indianischen Ursprung beruft. Die Dualität von civilización und barbarie verweist auf den e b e n s o schematischen Gegensatz von Kultur und Natur. Daher erscheint die Übertragung der von Sarmiento geprägten Begrifflichkeit auf unterschiedliche geographische und historische Kontexte innerhalb Hispanoamerikas als legitim. Vgl. zum N a c h l e b e n der Polarisierung z w i s c h e n civilización und barbarie im 20. Jahrhundert Rafael Humberto Moreno Durán, De la barbarie a la imaginación. La experiencia leída (1976).
35
Borsó behandelt El luto humano del porvenir (1963).
(1943), Pedro
Páramo
( 1 9 5 5 ) und Los
recuerdos
29 aber eine zweite, metaphorische Bedeutung erhalten, die der kulturellen Mischung. In diesem Sinne wird die Mestizierung zum Schlüsselbegriff eines soziologischen und kulturtheoretischen Diskurses, der auch außerhalb Mexikos einen bedeutenden Einfluß gewonnen hat. Borsö schildert seine Entstehung und Entwicklung von Sarmiento bis zu Octavio Paz und beleuchtet auf diesem Hintergrund den Beitrag der ausgewählten fiktionalen Texte zur Frage der nationalen Identität. Dieser Ansatz läßt sich auf die nueva novela histórica übertragen. Zu diesem Zweck wird in Kap. II die Auseinandersetzung lateinamerikanischer Vertreter des Postkolonialismus mit dem mestizaje und dem Magischen Realismus erläutert. Borsö betrachtet den Diskurs des mestizaje im Zusammenhang mit dem ästhetischen Diskurs über den Magischen Realismus. Dies ist sinnvoll, denn beide treffen sich im Thema des autochthonen Ursprungs, des amerikanischen Anderen als einer Eigenart, die den Subkontinent vermeintlich grundsätzlich von der modernen Welt unterscheidet. Seit Sarmiento hat das autochthone Element gegensätzliche ideologische Wertungen erfahren, von Ablehnung zu Idealisierung. In Mexiko bildet die Figur des Indios seine allegorische Personifikation allegorisch deshalb, da sich diese Figur meist auf keine konkrete indianische kulturelle Tradition bezieht, sondern eine abstrakte Vorstellung verkörpert, eben 'das Autochthone'. Am Beispiel des mexikanischen Romans des 19. Jahrhunderts und des indigenistischen Romans sowie von Alejo Carpentiers Lo real maravilloso americano (1949), Gabriel García Márquez' Cien años de soledad (1967) und Octavio Paz' El laberinto de la soledad (1950) wird in Kap. II die Verwandtschaft der konventionellen Diskurse über Mestizierung, Indigenismus und Magischen Realismus aufgezeigt. Den Texten von Carpentier, García Márquez und Paz kommt eine besondere Bedeutung zu, denn sie prägen ein Bild des Magischen Realismus und des mestizaje, mit dem sich Beiträge zur mexicanidad bzw. im weiteren Sinne zur americanidad bis heute auseinandersetzen. 36 36
Bereits der Titel von B o r s ö s Arbeit verweist mit d e m Stichwort der Einsamkeit auf Paz. dessen Essay die Autorin als einen der Grundsteine des "Labyrinths der mexicanidad" betrachtet (Mexiko jenseits der Einsamkeit: Versuch einer interkulturellen Analyse: Kritischer Rückblick auf die Diskurse des Magischen Realismus, Frankfurt a.M.: Vervuert 1994. S. 11). Ihr Ziel, "jenseits von Ursprungs- und Identitätsmythen partikuläre Aspekte bzw. historische M o m e n t e der Kultur zu beobachten und di-
30 Die in Kap. II vorgestellten Beiträge zur PostkolonialismusDiskussion von Erna von der Walde, Santiago Castro-Gömez und Sara Castro-Klaren problematisieren das Konzept des Autochthonen und berühren damit sowohl die Frage nach dem Wesen individueller und kollektiver Identitätsbildung als auch die Kontroverse über den Magischen Realismus als vermeintlich authentisch lateinamerikanische Ausdrucksform. Bei ihrer Suche nach alternativen Identitätsmodellen befassen sich Castro-Gomez und Castro-Klaren mit der Globalisierung, die die lokalen Traditionen Lateinamerikas zu bedrohen scheint. Dabei berufen sie sich auf eine intellektuelle Tradition, die sich nicht als Gegenpol zur westlichen Moderne versteht, sondern im Dialog mit ihr und unter Rückgriff auf lokales Wissen die globale Modernisierung aktiv mitgestalten will. Nach Castro-Klaren leitet der Inka Garcilaso die postkoloniale Emanzipation bereits in der frühen Kolonialzeit ein und bildet damit eine der ersten Stimmen, auf die sich der heutige Postkolonialismus beruft. In jüngster Zeit geben Schriftsteller und Philosophen wie Jorge Luis Borges und Enrique Dussel ihm neue Anstöße. 37
chotomisches Denken zwischen der Neuen und der Alten Welt abzubauen" (ebd. S. 325), entspricht dem antiessentialistischen Kulturbegriff des Postkolonialismus; die Autorin bezieht sich aber nirgendwo explizit auf postkoloniale Theorien. Die lateinamerikanische Rezeption von Bhabha, Spivak. Said u.a. setzt erst zu Beginn der 90er Jahre ein und konnte daher von Borsò kaum berücksichtigt werden. Ihre Arbeit erfüllt jedoch beispielhaft das von Castro-Gómez formulierte Anliegen, im Anschluß an die Dekonstruktion der von Europa und den USA entworfenen Amerikabilder die Genealogie der in Lateinamerika selbst - wenn auch unter Anlehnung an fremde Modelle - entwickelten Identitätsdiskurse offenzulegen. "el conjunto de narrativas que, desde el siglo XIX hasta el presente, han querido responder a la pregunta por el 'quiénes somos' los latinoamericanos en general, o los mexicanos, colombianos, brasileños, argentinos, etc. en particular". (Castro-Gómez 1998, S. 15. Mit "narrativas" sind hier nicht unbedingt fiktionale Texte, sondern Identitätsentwürfe im allgemeinen gemeint.) Der hier gewählte Ansatz knüpft an Borsò an, unterscheidet sich aber von ihrem bisweilen eklektischen Theoriegebäude durch den systematischen Bezug auf den Postkolonialismus. So zieht Borsò als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen über "das Fremde und das Eigene" Tzvetan Todorovs Studie La conquête de l'Amérique heran; aus der postkolonialen Perspektive erscheint Todorovs romantische Identifikation mit dem Anderen aber als unhaltbar. (Siehe hierzu Kap. I.2.a) u. IV.2.b).) 37
Siehe zu Borges' Rezeption durch den Postkolonialismus und die nueva histórica Kap. II.2.b) sowie V.2.a), b) und d).
novela
31
Eine selbstbestimmte Identitätsbildung setzt demnach voraus, daß Lateinamerika die Moderne nicht als ein europäisches, fremdes Phänomen betrachtet und pauschal verurteilt oder idealisiert, sondern sich selbst als einen Teil der Moderne begreift und sich kritisch mit ihrem Erbe auseinandersetzt. Die Trauer um den verlorenen präkolumbischen oder afrikanischen Ursprung wird dabei abgelöst durch die Akzeptanz kultureller Hybridität. Diese Haltung kennzeichnet auch neuere Bewegungen indianischer Selbstbestimmung, die aus der Opposition von Isolation oder Anpassung an die Moderne herausfuhren wollen." Im Gegensatz zum Ideal der Rassenmischung als vermeintlichem Garanten nationaler Einheit plädieren neuere Kulturtheorien in diesem Sinne für eine kulturelle Mestizierung als gleichberechtigten Dialog unterschiedlicher Diskurse. Kap. II vermittelt den theoretischen Hintergrund für den Überblick über das Textkorpus in Kap. III und bereitet darüber hinaus mit der Konzentration auf Mexiko und die Karibik die Einzeluntersuchung von vier Romanen aus Kuba und Mexiko in Kap. IV-VI vor. Die Überlegungen zur postkolonialen Identitätsbildung in Kap. II bestimmen sowohl die Auswahl als auch die Analyse des Korpus: Beide orientieren sich an der Frage, inwieweit die Texte sich zu dem Konflikt zwischen Ursprung und Moderne, kultureller Einheit und Vielfalt äußern, der durch die Begegnung zwischen Indio und Konquistador ausgelöst wurde und dessen Urbild sie darstellt. Die für die Einzelanalyse ausgewählten Romane aus dem Korpus, El arpa y la sombra (1979) von Alejo Carpentier und El mar de las lentejas (1979) von Antonio Benítez Rojo aus Kuba sowie Llanto. Novelas imposibles (1992) und Cielos de la Tierra (1997) von Carmen Boullosa aus Mexiko, setzen sich beispielhaft mit der Frage nach Identität und Gedächtnis auseinander. Sie repräsentieren den Übergang von der Ära des Magischen Realismus als Identitätsmodell zu der postkolonialen Aufhebung der hierarchischen Opposition von civilización und barbarie. Diesem Übergang entspricht der Schritt von den 70er zu den 90er Jahren. Die vier genannten Texte zeichnen sich aus durch eine vielseitige Reflexion über die Psychologie der Eroberung, die (post-)koloniale Identi38
Vgl. hierzu Mabel Moraña, "Indigenismo y globalización", in: Dies. (Hg.), Indigenismo hacia el fin del milenio: homenaje a Amonio Cornejo Polar, Pittsburgh: Instituto Internacional de Literatura Iberoamericana, Universidad de Pittsburgh 1998, S. 243-252.
32 tätsbildung und Erinnerung. El arpa y la sombra porträtiert Kolumbus als zwiespältige Symbolfigur der Entdeckung und Eroberung, El mar de las lentejas schildert die Inbesitznahme Hispaniolas und Floridas aus der Sicht von Mitläufern der Conquista. Boullosa wählt in Llanto und Cielos de la Tierra über die Eroberung und Kolonialisierung Mexikos dagegen vornehmlich die indianische Perspektive. Im Gegensatz zu den anderen Texten des Korpus verweisen die vier Romane darüber hinaus auf zwei Themen von universaler Bedeutung: das Wesen historischer Verantwortung zwischen individueller und kollektiver Schuld sowie die Problematik historischer Sinngebung im Zeitalter der universellen Information.39 El arpa y la sombra, El mar de las lentejas, Llanto und Cielos de la Tierra sind ganz unterschiedliche und doch vergleichbare Texte - sie demonstrieren die Vielfalt, Komplexität und gleichzeitige Kohärenz der hispanoamerikanischen nueva novela histórica. Gemeinsam ist ihnen allen in erster Linie die Autoreflexivität: Das Genre des historischen Romans wird reformiert durch die Überschreitung seiner Regeln, die historische Sinngebung konterkariert durch die Fragmentierung und IchErzählsituation, durch Ironie, Parodie, Groteske und Sarkasmus, um nur die auffälligsten Merkmale zu nennen.
39
Bemerkenswert auch über den Kontext von Conquista und Kolonialisierung hinaus ist außerdem der Roman El entenado von Juan José Saer ( 1 9 8 8 ) - er bildet eine existenzphilosophische Parabel. D i e Arbeit verzichtet j e d o c h auf eine ausführliche Analyse, da bereits eine umfassende Interpretation des Romans mit Blick auf Identität und Gedächtnis vorliegt, "El entenado: la representación histórica de una otredad ausente" von María Cristina Pons (vgl. Pons 1996. S. 2 1 5 - 2 5 3 ) . Siehe zu Saer Kap. I l l . l . b ) , S. 118ff. Bislang gibt es keine Studie über die Figur des Indios oder Konquistadors im neuen historischen Roman, vor allem aber existiert keine Untersuchung der nueva novela histórica mit systematischem B e z u g auf die Postkolonialismus-Diskussion. V o m Ansatz her dennoch vergleichbar sind Pons' Interpretation dreier neuer historischer Romane (von Del Paso. García Márquez und Saer) mit Blick auf die postmoderne Geschichtstheorie in Memorias del olvido oder auch Erzählen gegen den Strich. Ein Beitrag zur Geschichtsreßexion im mexikanischen Revolutionsroman ( 1 9 9 6 ) von Guido Rings, worin er die emanzipatorische Leistung dreier R o m a n e am offiziellen Diskurs der mexikanischen Regierung s o w i e den Ergebnissen der internationalen Geschichtswissenschaft mißt.
33
I. Der Konquistador in der Geschichtsschreibung
1. Held oder Schurke a) Bewunderung und Verachtung 1925 erscheint in Deutschland Georg Friedericis Arbeit mit dem Titel Der Charakter der Entdeckung und Eroberung Amerikas durch die Europäer. Das Buch wurde 1973 in einer spanischen Fassung veröffentlicht und gilt unter Historikern noch heute als wegweisende Studie über die Conquista.40 Dieser hohe Stellenwert kommt ihm deshalb zu, da Friederici im Gegensatz zu früheren Arbeiten auch den indianischen Kulturen eine ausfuhrliche Darstellung widmet, um ein umfassendes Bild der Eroberung zu schaffen. Beachtlich ist außerdem, daß er mit der bis dato überwiegend einseitigen, entweder positiven oder negativen Beurteilung der Konquistadoren bricht.41 Seine gründliche Lektüre der Chroniken führt ihn zu einem vergleichsweise differenzierten Bild der Conquista. Er bezieht sich vor allem auf Bartolomé de las Casas, Gonzalo Fernández de Oviedo y Valdés und Pedro Mártir de Anglería, vergleicht ihre Berichte miteinander, relativiert daraufhin gegebenfalls ihre Aussagen und ordnet sie schließlich in einen weiteren historischen Kontext ein. Insofern entspricht er den Anforderungen moderner Wissenschaftlichkeit.
40
Der spanische Titel lautet El carácter del descubrimiento y de la conquista de América. Vgl. zur Bewertung des Werkes Francisco de Solano, "Orientaciones bibliográficas", in: Ders. (Hg.), Proceso histórico al conquistador, Madrid: Alianza 1988, S. 165-195, S. 189, sowie Horst Pietschmann, "Die iberische Expansion im Atlantik und die kastilisch-spanische Entdeckung und Eroberung Amerikas", in: Ders. 1994, S. 207-273, S. 207. (Im folgenden zitiert als 1994b.) Pietschmann hebt hervor, daß Friederici als erster auch der indianischen Seite Beachtung schenkt.
41
So hatte die Vierhundertjahr-Feier der Entdeckung Amerikas Dichtern und Historikern sowohl spanischer als auch lateinamerikanischer Herkunft noch zum Anlaß gedient, Kolumbus als einen göttlich inspirierten Helden zu preisen, dessen Fehler in Anbetracht seines Verdienstes entschuldbar seien. Vgl. Johannes Fastenrath, Christoph Columbus. Studien zur spanischen vierten Centenarfeier und Entdeckung Amerikas (1895).
34 Dabei gelangt er zu den folgenden Ergebnissen: Als grjndlegende Motivation der Konquistadoren bezeichnet Friederici "jene spanische krampfhafte Gier nach Gold", "esta agonia de aqueste oro", wie er es mit Fernández de Oviedos Worten ausdrückt. 42 Dabei seien die "Maurenkriege" nicht nur die "Erzieher aller der tüchtigsten Eigenschaften, welche die Spanier in Amerika gezeigt haben: Tapferkeit, Zähigkeit, Genügsamkeit, Vaterlandsliebe, Gottvertrauen und Kirchlichkeit", sondern auch Urheber der Schäden ihres Charakters. 43 Die "Mischung von Gott und Gewinn, von Religion und Raubsucht" in der Tradition der Reconquista und der Eroberung der Kanarischen Inseln sei "bei den meisten schließlich weiter nichts, wie eine grobe Heuchelei, der sie sich bei der ganz iußerlichen und schematischen Art ihres Christentums gar nicht bewufct waren." 44 Diese bigotte Religiosität scheint Friederici noch mehr abzustoßen als die im Namen der Habsucht verübten Verbrechen selbst. So schockiert ihn in Kolumbus' Reiseberichten eine für ein sittliches Empfinden unerträgliche Mischung von Christentum und Verbrechen, von Frömmigkeit und Raubsucht: man glaubt, in einem Atem einen Missionar und einen berufsmäßigen Sklavenhändler sprechen zu hören. 4 "
Kolumbus' Charakter und seine Verdienste beurteilt Friederici zunächst äußerst kritisch. Seine Jagd nach Gold und die schlechte Behandlung der Eingeborenen habe seinen Nachfolgern in der Neuen Welt als ein negatives Vorbild gedient; außerdem sei er ein schlechter Menschenkenner und ein Mann ohne Rückgrat gewesen. In seinem abschließenden Urteil schränkt der Autor diese harte Kritik unter Berufung auf Fernández de Oviedo und Las Casas allerdings wieder ein. Las Casas habe Kolum-
42
Stuttgart-Gotha: Perthes 1925, S. 3 2 4 .
43
Nämlich:
"...hochmütiger
Stolz,
Verachtung
anderer
Rassen,
Treulosigkeit
und
Unritterlichkeit im U m g a n g mit ihnen und in ihrer B e h a n d l u n g ; Bcutelust, R a u b gier, Untaten g e g e n das andere G e s c h l e c h t und alle R o h e i t e n einer barbarischen K r i e g s f u h r u n g ; U n d u l d s a m k e i t , F a n a t i s m u s und
j e n e merkwürdige
Mischung
von R e l i g i o n mit dem allzu M e n s c h l i c h e n , von Raubrittertum und A p o s t e l g e i s t . " (Ebd., S. 3 9 6 . ) 44
Ebd., S . 3 1 1 .
45
Ebd., S . 3 6 2 .
35 bus für gutmütig und wohlwollend gehalten, zitiert Friederici, und schließt sich diesem Diktum respektvoll an.46 Neben der Goldgier nennt Friederici den "Abenteuer- und Eldoradogeist"47 der Spanier als wesentliche Motivation der Conquista. Er beschreibt ihn als Sehnsucht nach der Ferne und "Hang zum Wunderbaren" in einem "Zeitalter...voll von Romantik, Poesie und Tragik".48 Diese Darstellung der Conquista als ein von ritterlichem Geist erfülltes, heroisches Unternehmen steht in der Tradition von William Prescotts History of the Conquest of Mexico (1843). Die romantisch motivierte Abenteuerlust und die "Neigung und der Ehrgeiz, die eigenen Taten in Gedichten zu besingen oder feiern zu lassen", die Friederici den Konquistadoren zuschreibt, verleiht ihrem Profil einen mythischen Zug. Er entdeckt unter ihnen "eine lange Reihe wirklicher Romanfiguren" und vergleicht sie nicht nur mit Protagonisten der Reconquista und der spanischen Italienkriege, sondern vorzugsweise auch mit berühmten Feldherrn der Antike.49 Der romantischen Verklärung steht hier allerdings ein durchaus nüchterner Blick auf den Alltag der Conquista gegenüber. Neben der Raubgier und der grausamen Behandlung der Indios wirft Friederici den Spaniern den "Geist der Zwietracht, gegenseitiger Streitigkeiten und Feindschaften",50 der Indisziplin, Unbeständigkeit und Meuterei vor. Aus diesem Grund müsse der Caudillo ein "Mann von Geistesgegenwart, Furchtlosigkeit und rücksichtslosem Zugreifen" 51 sein. Hernán Cortés verkörpert in diesem Sinne ein Leitbild, an dem Friederici die anderen Konquistadoren mißt. Er habe sich durch Großzügigkeit, Tatkraft, Um-
46 47 48 49
Vgl. ebd.. S. 316. Ebd.. S. 406. Ebd., S. 412. Vgl. ebd.. S. 413, w o er sich an Germanicus erinnert fühlt, oder auch S. 4 5 7 und S. 517. Dieser ahistorische Blick tritt noch deutlicher zutage, wenn Friederici seine Ergebnisse auf einen spanischen "Volksgeist" (S. 4 6 6 ) zurückführt und z.B. bemerkt, daß das, "was [...] Strabon, Diodorus Siculus und P o m p e i u s Trogus über die [...] Iberer mitteilen, in der Hauptsache mit dem überein[trifft], w a s wir bei den Konquistadoren Amerikas sehen" - nämlich, so faßt Friederici die antiken Schriftsteller zusammen: "große Mäßigkeit im Essen und Trinken, Trägheit zur Arbeit, stolzes, würdevolles Benehmen, natürliche Schlauheit bei aller Unbildung, Abneigung gegen Wasserbäder, kriegerischer Geist" etc. (S. 531.)
50 51
Ebd.. S. 4 5 3 . vgl. weiter auch S. 448. Ebd.. S. 4 5 5 . vgl. weiter S. 4 5 6 .
36 sieht, Weitblick und Charakter ausgezeichnet, letztere eine Qualität, deren Fehlen der Verfasser bei Kolumbus bemängelt. Wie man sieht, richtet sich Friedericis Urteil nach moralischen Kriterien. Sein Maßstab ist die Sittlichkeit, sein Vorbild sind patriotische, christliche und, wie er es nennt, ritterliche Tugenden. So würdigt er die Pionierleistungen der Entdecker im Kampf mit den Unbilden der Natur, kritisiert sie aber wegen der Mißhandlung der Indios." In diesem Bild spiegeln sich die Wertvorstellungen der wilhelminischen Zeit. Alonso de Ojedas "Schneid, Heldenhaftigkeit, berückende Männlichkeit" werden durch seine "Raufboldlaufbahn" 53 entwertet. Jede bewundernswerte Eigenschaft oder große Leistung erscheint hier durch ein negatives Gegenbild überschattet. Diese ambivalente Wertung gipfelt in der folgenden Charakterisierung: Dieses unruhige, leicht empfindliche, stolz sich überhebende, verwegene Geschlecht der Konquistadoren war großzügig im bösen wie im guten; häufig finden wir es bei den zeitgenössischen Schriftstellern in der einen oder anderen Form ausgedrückt: no se contentan con poco, mit wenigem sind sie nicht zufrieden; und wer das tut, ist nicht bei ihnen geachtet.54 Diese Beschreibung läßt an große Figuren aus Epos und Tragödie denken. Mit seiner Idealisierung der Ruhmsucht der Konquistadoren als Traum, ihre Taten in der Dichtung verewigen zu lassen, scheint der Autor auch seinem eigenen Wunsch zu entsprechen, ihrem Bild eine epische Dimension zu verleihen. Denn mit den Eigenschaften, die er ihnen hier zuschreibt, läßt sich eine nicht vereinbaren - Durchschnittlichkeit. Was diese Männer auch tun, sie gehen immer bis zum letzten. Die Vorstellung der Maßlosigkeit in Tugend und Laster, vor allem aber in Mut, Stolz und Ehrgeiz, erinnert besonders an einen legendären Helden: Alexander den Großen. Friedericis Vorliebe für starke Charaktere, unabhängig von ihrer Neigung zum Guten oder Bösen, verweist auf Plutarchs AlexanderPorträt in den Vitae parallelae. Das Männlichkeitsideal, das Ruhm, Ehre und Stolz über alles stellt und vorsichtige Zurückhaltung ablehnt, läßt sich allerdings bis zu den Ursprüngen der abendländischen Zivilisation 52 53 54
Vgl. z.B. ebd., S. 524. Ebd., S. 325. Ebd., S. 509.
37 zurückverfolgen, wie sie sich in der Ilias spiegeln.55 Die Verfasser der spanischen Chroniken des 16. Jahrhunderts, auf die sich Friederici ja explizit beruft, vergleichen die Konquistadoren selbst als erste mit Helden aus der antiken sowie der mittelalterlichen Geschichte und Sagenwelt.56 Friederici steht in der Tradition einer solchen mythischen Überhöhung der Historie.57 Francisco Morales Padróns Historia del descubrimiento y conquista de América (1971) kann schon in Anbetracht ihrer Verbreitung als eine gängige Abhandlung zur Conquista gelten - 1990 erschien die fünfte Auflage. Im Vorfeld seiner Charakterisierung der spanischen Eroberer entwirft der Autor eine widersprüchliche Theorie. Zunächst stellt er der herausragenden Bedeutung starker Persönlichkeiten, mit denen man heute die Eroberung bestimmter Länder oder Gebiete verbindet, den Einfluß der Masse der Soldaten gegenüber: Die Conquista sei ein kollektives Unternehmen gewesen und lasse sich durch wirtschaftliche, religiöse, politische und andere Faktoren erklären, jedoch nicht durch das Verhalten Einzelner, deren persönliche Motivation oft im dunkeln bleibe. Ihre Protagonisten handelten unter dem Einfluß von äußeren Umständen wie eben dem Verhalten der Untergebenen, landschaftlichen Gegebenheiten und den Erwartungen der Krone. Es sei unmöglich, von den bekannten Caudillos, ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten, auf die Masse ihrer Begleiter zu schließen: "el carácter del conquistador no es único y ofrece muchas variantes", "imposible unlversalizar y presentar un tipo modelo un arquetipo - de conquistadores".58 Diesen Ansatz zur Differenzierung hebt Morales jedoch umgehend wieder auf, indem er erklärt, daß der Triumph des Helden doch das Entscheidende sei und daß man nur in die Chroniken zu schauen brauche, um zu erfahren, was für Menschen die Eroberer gewesen seien: "Nada de interpretaciones modernas." Bei Cortés und Bernal Díaz könne man es in zwei Zeilen nachlesen: der Konquistador sei "incomportable, inoportuno 55 56 57
58
Vgl. David D. Gilmore, Manhood in the Making. Cultural Concepts of Masculinity, New Haven; London: Yale University Press 1990, S. 36-38. Vgl. insbesondere Pedro Mártir de Anglería, De Orbe Novo Decadas (1494-1526). Wenn er auf eine menschliche Regung wie die Angst der Soldaten vor einer großen Schlacht hinweist, beeindruckt die Unerschrockenheit der Anführer dagegen um so mehr. Vgl. Friederici 1925, S. 510. Madrid: Gredos 1990(5. Aufl.), S. 310 u. 312.
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y trascendente"59 - was auch immer damit gemeint sein soll. Gegen seine Warnung vor Verallgemeinerungen verstößt er nun selbst mit der folgenden Aufzählung: "Todos se caracterizan por temerarios, audaces, infatigables, tercos, sufridos y valientes,"60 Diese Liste entspricht den "wundervollen männlichen und militärischen" Eigenschaften, die Friederici den spanischen Eroberern zuschreibt - Wagemut, Tapferkeit, Zähigkeit, Genügsamkeit etc. - genau.61 Als Beleg für den Stolz und Individualismus der Eroberer fuhrt Morales Padrón ein Zitat Calderón de la Barcas über das stolze Wesen des spanischen Soldaten im allgemeinen an und erklärt diesen Charakterzug zur "esencia del español".62 Spätestens mit dieser Projektion des nationalen Ideals der honra auf die Konquistadoren wird offensichtlich, daß beide Historiker ein stereotypes Bild kriegerischer Tugenden reproduzieren, das sich wiederum auf antike Modelle wie Alexander den Großen zurückfuhren läßt. Die Erklärung, daß man die Protagonisten der Conquista nur auf dem Hintergrund der damaligen Verhältnisse angemessen beurteilen könne, dient Morales Padrón zur Entschuldigung flir seiner Meinung nach unvermeidliche Taten: "Ni leyenda negra ni rosa. América había que conquistarla tal como se hizo."63 Zwar liefert er als nächstes einen erschöpfenden Katalog von sowohl positiven als auch negativen Attributen, die sich den Konquistadoren zuordnen ließen,64 macht sich im folgenden aber daran, die Vorwürfe zu entkräften. So idealisiert er die Konquistadoren als Glaubensstifter, stellt dabei ausgerechnet Cortés als Beispiel für Missionseifer hin und führt als Beleg ein Zitat von Bernal Díaz an.65 Vorwür-
59 60 61 62 63 64
65
Morales Padrón 1990. S. 310. Kursivsetzung in diesem ebenso wie in den folgenden Zitaten nach der Vorlage. Ebd., S. 312. Vgl. Friederici 1925, S. 510fT. Morales Padrón 1990. S. 314. Ebd., S. 310. Ebd., S. 313: "A la rapiña, crueldad y violencia, testarudez e imprudencia se les añade el espíritu destructivo, el individualismo, la religiosidad, la entereza, el espíritu legalista, el amor a la tierra que conquistaron, la audacia, la lealtad, la prodigalidad y la codicia, etc., como notas típicas del conquistador." Vgl. ebd., S. 315. Das Ideal des christlichen Ritters in der Rolle eines weltlichen Missionars hatte Ramón Llull schon im 13. Jahrhundert formuliert. Dessen oberste Pflicht war es nach Llulls Libro del Orden de Caballería, die katholische Religion im Kampf gegen Ungläubige zu verteidigen und diese zu bekehren. Cortés selbst
39 fe wie den der Gier und Gewalttätigkeit erwähnt er dagegen nur beiläufig. Daß der materielle Aspekt die religiöse Motivation bisweilen verdrängt habe, sei durch den Wunsch der Spanier zu erklären, ihre eigene wirtschaftliche und soziale Lage zu verbessern. Die Eroberungszüge seien im übrigen mehr durch Abenteuerlust als durch Raubgier motiviert gewesen. Diese Art, die negative Seite der Dinge herunterzuspielen und ihnen eine positive Auslegung zu geben, grenzt in López de Gomaras folgendem Urteil, das Morales Padrón sich zu eigen macht, an Zynismus. Es geht darin um das Verhalten der Spanier den Indios gegenüber: Hanles enseñado latín y ciencias, que vale más que cuanta plata y oro les tomaron; porque con letras son verdaderamente hombres, y de la plata no se aprovechan muchos ni todos. Así, que libraron bien en ser conquistados, y mejor en ser cristianos.66 Mit der Übernahme von Urteilen der Chronisten arbeitet Padrón nach einem ähnlichen Prinzip wie Friedend. Allerdings gelangt er dabei zu anderen Schlüssen, da er die von ihm zitierten Zeugnisse nicht mit anderen kontrastiert oder anderweitig relativiert. Seine Lektüre der Chroniken besteht darin, Textstellen auszuwählen, die sein vorgefaßtes Bild der Conquista bestätigen. So zitiert der Autor als Beispiel für konstruktive Bemühungen der Konquistadoren eine Passage aus einem Brief Pedro de Valdivias, des Eroberers von Chile, an Karl V., in der er seine Tätigkeit als Anführer einer Truppe als eine vielfältige, verantwortungs- und anspruchsvolle Aufgabe darstellt. Dabei kürzt er das Zitat so ab, daß der Eindruck entsteht, als würde diese Fürsorge sich nicht nur auf die eigenen Untergebenen, sondern auch auf die Eingeborenen beziehen: Ser capitán para animarlos en la guerra y ser primero en los peligros, porque así convenía. [Ab hier zitiert Morales Padrón:] Padre para los favore-
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stellte in diesem Sinne die Bekehrung der Indios als seinen wesentlichen Verdienst dar, ein Bild, das neben Bernal Díaz auch Francisco López de Gómara propagiert. (Vgl. Raimundo Lulio, Libro del Orden de Caballería, Buenos Aires: Espasa-Calpe 1949, S. 28f u. 101, sowie hierzu Rolena Adorno: "Como leer Mala Cosa: mitos caballerescos y amerindios en Los Naufragios de Cabeza de Vaca", in: Beatriz González Stephan u. Lucia H. Costigan (Hg.), Crítica y descolonización: el sujeto colonial en la cultura latinoamericana, Caracas: Ed. de la Universidad Simón Bolívar und The Ohio State University 1992. S. 87-107, S. 91-93.) Zitiert nach Morales Padrón 1990, S. 23.
40 cer con lo que pude, y dolerme de sus trabajos, ayudándoselos a pasar como de hijos, y amigo en conversar con ellos. Zumétrico en trazar y poblar; alarife en hacer acequias y repartir aguas; labrador y gañán en las sementeras; mayoral y rabadán en hacer criar ganados y, en fin, poblador, criador, sustentador, conquistador y descubridor.67 Auf diesen Text bezieht sich 1988 auch der Spanier Francisco de Solano und meint damit ebenso wie Morales Padrón, das Verhalten Valdivias und darüber hinaus das der Caudillos der Conquista im allgemeinen objektiv darstellen zu können. Die Vorgehensweise Friedericis, der die Chroniken als historisch verläßliche Dokumente auffaßt und seine Argumentation meist unmittelbar auf die Aussagen der Zeitgenossen stützt, läßt sich also selbst in aktuellen historiographischen Arbeiten nachweisen. Wie man sieht, fuhrt sie zu willkürlichen und stereotypen Interpretationen. Der chilenische Historiker Sergio Villalobos Rivera zitiert dagegen dieselbe Passage als Beispiel für das rhetorische Geschick Valdivias: Er relativiert die Glaubwürdigkeit seiner Äußerungen mit Blick auf die Absicht des Verfassers, sich gegenüber dem König in ein gutes Licht zu rücken. Hinter dem an alttestamentarische Patriarchen erinnernden Bild eines gütigen Anführers und um Ackerbau und Viehzucht besorgten Siedlers verbirgt sich das weniger vorteilhafte eines autoritären und gegebenenfalls auch zur Grausamkeit bereiten Kapitäns. 68 Zeichen einer tendenziösen Geschichtsschreibung sind schließlich Morales Padróns polemische Ausfälle gegen Kritiker der Conquista, in seinen Worten "historiadores decimonónicos, extranjeros antihispanistas
67
68
Cartas de relación de la Conquista de Chile, edición de José Toribio Medina, Santiago 1953, zitiert nach Francisco de Solano, "El conquistador hispano: señas de identidad", in: Solano 1988. S. 15-36, S. 19. Vgl. auch Morales Padrón 1990, S. 22. Vgl. Sergio Villalobos Rivera, Para una meditación de la conquista, Santiago de Chile: Editorial Universitaria 1977, S. I05f. Villalobos Rivera vertritt allerdings cine ambivalente Position: Zum einen vermittelt er ein nüchternes Bild Pedro de Valdivias, wenn er dessen positive Selbstdarstellung auf ihre Intention hin relativiert und Zeugen aufruft, die ihn der unrechtmäßigen Bereicherung bezichtigen, andererseits schildert er ihn aber als Vater der Nation, der im Kampf um Chile hart arbeitete, Strapazen erduldete und schließlich seine Liebe zum Land sogar mit dem Leben bezahlte. (Vgl. ebd.. S. 52.)
41 e indigenistas exaltados".69 Abschließend läßt sich sagen, daß er quasi umgekehrt wie Friederici verfahrt: Einer verwerflichen Eigenschaft, Motivation oder Verhaltensweise stellt er jeweils eine andere, löbliche gegenüber, die sie entschuldigt oder zumindest verständlich macht. Das Ergebnis ist daher, anders als bei dem deutschen Historiker, kein ambivalentes, sondern ein einseitiges Bild. Diesem liegt nicht nur eine unverhohlen eurozentrische Weltsicht, sondern darüber hinaus eine nationalistische Ideologie im Sinne des Franquismo zugrunde.
b) Kontinuität der Stereotype 1985 gab Hernán Cortés' 500. Geburtstag den Anlaß zu einem Kolloquium, dessen Beiträge unter dem Titel Proceso histórico al conquistador10 veröffentlicht wurden. Dieser Titel läßt eine dezidierte Überprüfung der heroisierenden Darstellung der Konquistadoren in Werken wie Francisco Morales Padróns Historia del descubrimiento y conquista de América erwarten. Bei näherem Hinsehen zeigt sich allerdings, daß hier von einem Bruch mit der historiographischen Tradition keine Rede sein kann. Stattdessen vermitteln die Aufsätze einen Überblick über einige Tendenzen der aktuellen Geschichtsschreibung zu dem Thema. Das Spektrum reicht von Beiträgen, die sowohl inhaltlich als auch methodisch an die Arbeiten Friedericis und Morales Padróns anschließen, bis hin zu anthropologisch, kulturgeschichtlich und sozioökonomisch fundierten Ansätzen. Bei den meisten Autoren läßt sich aber eine im Vergleich zu älteren Forschergenerationen deutlich neutralere Haltung gegenüber den historischen Ereignissen beobachten, gekennzeichnet durch die Bemühung, die Geschichtswissenschaft von moralischen Werturteilen zu trennen.71 69
Ebd.. S. 23. In diesem Z u s a m m e n h a n g erweist sich der Vergleich mit e i n e m älteren Buch des Autors, Los conquistadores de América ( 1 9 5 5 ) , als interessant, das als direkte Vorlage für die hier untersuchte Darstellung gedient hat. In d i e s e m Werk drückt er sich hinsichtlich der Rechtfertigung der von den Spaniern verübten Übergriffe noch wesentlich deutlicher und polemischer aus.
70 71
Vgl. Solano 1988. Programmatisch formuliert von Fernando Silva-Santisteban, e i n e m der Autoren des Bandes: "En la literatura histórica, la preocupación tradicional de juzgar los h e c h o s históricos en términos de moral resulta semirracionaL.Pese a que n o se puede dejar de lado la referencia a los valores, a nuestro j u i c i o lo esencial n o radica en calificar
42 Der Beitrag des Herausgebers des Bandes Francisco de Solano enthält eine Einfuhrung in die Geschichte der Conquista mit interessanten Daten, enttäuscht aber ansonsten, weil der Autor im wesentlichen altbekannte Thesen wiedergibt und in der Tradition Friedericis und Morales Padróns die Darstellungen der Zeitzeugen meist kritiklos übernimmt. Als Charakteristika der Konquistadoren nennt er dementsprechend Wagemut, Tapferkeit und Abenteuerlust. Allerdings relativiert er die verbreitete Vorstellung, diese Männer seien junge leichtsinnige Abenteurer gewesen, die um des Ruhmes willen zu allem bereit waren: Parece lógico que la conquista fuera obra de jóvenes guerreros, aureolando glorias al final de combates difíciles e insólitos, en paisajes infrecuentes, como escenario de libros de caballerías - a los que eran tan aficionados - en donde el vencedor recibe la pleitesía de ricos vencidos y el amor de dóciles doncellas. Sin embargo, la Conquista es, por el contrario, obra de colonos-soldados ya de edad madura: en esa en donde no tienen cabida la irreflexión, ni la frivolidad, o los impulsos propios de una edad más joven que justifique una pasión por la aventura y una gran curiosidad por lo desconocido.72 Tatsächlich seien die meisten Anführer zu Beginn ihrer Eroberungen zwischen 30 und 45 Jahre alt gewesen, nicht wenige sogar noch wesentlich älter. Ferner erklärt Solano in direkter Anlehnung an Bernal Díaz, daß die meisten Spanier mit dem Ziel in die Neue Welt gingen, Gott und dem König zu dienen sowie Ehre zu erwerben." Dafür erhofften sie sich ein Stück Land mit indianischen Zwangsarbeitern, eine sogenannte encomienda, die ihnen ermöglichen sollte, so zu leben wie die Hidalgos in Spanien. 74 Er betont, daß die Eroberer, die in der Mehrzahl aus einfachen
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los actos de los españoles en función de los preceptos morales y las premisas políticas de cada tiempo, sino en comprender racionalmente la naturaleza y mecánica de los cambios socioculturales y las c o n s e c u e n c i a s que trajeron c o n s i g o el choque y la dominación subsiguiente en los procesos históricos de las sociedades en conflicto y del proceso universal de la historia, que. c o m o sabemos, fue profundamente afectado." F. Silva-Santisteban: "El significado de la conquista y el proceso de aculturación hispano-andino", in: S o l a n o 1988, S. 129-151. S. 130f. Solano, "El conquistador hispano: señas de identidad", in: Ders. 1988. S. 15-36. S. 24. Ebd., S. 26. D.h. ohne zu arbeiten, mit der Bereitschaft zum berittenen Kriegsdienst für die Krone als einziger standesgemäßer Aktivität. Vgl. zum sozialen Status der Hidalgos
43 Verhältnissen stammten, in Amerika als Edelleute gelten wollten und sich bemühten, diesem Bild auch nach außen gerecht zu werden. Z.B. pflegten sie einen äußerst gewählten Umgangston, berichten die Chronisten. Die Ländereien, die sie erstritten hatten, betrachteten sie von nun an als die ihrigen und versuchten sich von späteren Einwanderern sozial abzugrenzen. Der Krone gegenüber hätten sie bis auf wenige Ausnahmen die Loyalität bewahrt, nur unter ihnen selbst sei es häufig zu Mißgunst, Kompetenzstreitigkeiten und Verrat gekommen. Mit der folgenden These über die Conquista als praktische Umsetzung der wundersamen Welt der Ritterromane rückt der Autor sein bis jetzt eher nüchternes Porträt jedoch an den Rand des Märchenhaften: En el caso del conquistador no sólo lee, escucha, sino vive el mundo fantasioso y fantástico de la novela caballeresca. Chevalier, que tanto ha estudiado esta temática, se asombra del éxito insólito de una novela de ficción, caballeresca, cuando el mundo bajomedieval que podría haberlas acogido ya estaba completamente superado por el nacimiento y consolidación de los estados modernos. La hueste75 americana que es, en tan gran medida, una continuación del mundo caballeresco, luchadora en un medio tan original y casi mágico, propio de Merlines y otros misteriosos brujos, es la causante de que se produzca este desfase literario.76 Die Vorstellung, daß die Lektüre der im 16. Jahrhundert in Spanien als auch in Übersee äußerst beliebten Ritterromane nicht nur die Phantasie, sondern auch die Unternehmungen der Eroberer beeinflußt habe, ist nicht neu. Wie oben erwähnt, spielte sie schon in Prescotts History of the Conquest of Mexico eine Rolle, deren Autor die Taten der Eroberer als "romance put into action" bezeichnete und in entsprechendem Ton beschrieb.77 Zu wissenschaftlichem Ansehen verhalf ihr Irving Leonards
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und zum Konzept der honra den informativen Aufsatz "La conquista como forma de ascenso social" von Pilar Sanchiz Ochoa, ebenfalls in Solano 1988, 94. Unter hueste versteht man die Teilnehmer eines Eroberungszuges. Ebd., S. 28f. Solano bezieht sich auf "Maxime Chevalier, Lectura y lectores Espana del siglo XVI y XTU, Ed. Turner, Madrid, 1976, especialmente el cap. Vgl. die Ausgabe von John Foster Kirk, Philadelphia: J.B. Lippincott 1873, S. 216. Zitiert nach Adorno 1992 (Books ofthe Brave), S. XIII.
plataS. 81-
en la 1". Bd. 1.
44 bekannte Studie Books of the Brave.™ Dagegen legt Rolena Adorno plausibel dar, daß die in den Chroniken vorhandenen Anspielungen auf die novelas de caballería Leonards Hypothese eines direkten Zusammenhangs zwischen der Romanlektüre und den Erlebnissen der Spanier nicht stützen, sondern widerlegen.79 Offen bleibt, wie Solano das Bild der von ihrer fremden Umgebung wie verzauberten Eroberer mit der Erkenntnis vereinbart, daß sie gesetzte, überlegt handelnde und nicht so leicht zu beeindruckende Männer gewesen sein müssen. Seine Ausfuhrungen über die Religiosität der Spanier sind ähnlich wie die Morales Padróns dem Ideal des Ritters als weltlicher Missionar verpflichtet und direkt von den Quellen abgeleitet.80 Die Kirche, allen voran Bartolomé de Las Casas mit seinen 'fanatischen Skrupeln',81 habe die Spanier unter Androhung der Verweigerung der letzten Absolution dazu gezwungen, die durch die Ausbeutung der Indios erworbenen Reichtümer zurückzuerstatten, auch wenn dies für die Angeklagten den Rückfall in die Armut bedeutete. "Un final infeliz en la caballeresca biografía del conquistador", 82 schließt Solano betroffen. Diese Formulierung, die im Hinblick auf das Vorausgegangene wohl kaum ironisch gedeutet werden kann, läßt noch einmal durchblicken, daß Solanos Porträt der Konquistadoren das Wunschbild eines heroischen Rittertums zugrunde liegt. Fernando Silva-Santisteban, Professor für Anthropologie in Lima und Autor eines weiteren Beitrags zu Proceso histórico al conquistador, vertritt wie Friederici die Idee einer Maßlosigkeit der Konquistadoren im Guten wie im Bösen: 78
Sie erschien erstmals 1949, dann 1953 in spanischer Übersetzung und zuletzt 1992 in dritter Auflage. Leonards bis heute anerkanntes Verdienst ist der Nachweis, daß das von der staatlichen Zensur ausgesprochene Verbot des Vertriebs von Ritter- und anderen Romanen nach Übersee nicht konsequent durchgesetzt wurde und von einer kulturellen Isolierung der Kolonien daher keine Rede sein kann. Vgl. Leonard 1992.
79
Wenn die Konquistadoren ihre Erfahrungen, die nicht selten alles in Europa Vorstellbare überstiegen, mit den Rittergeschichten verglichen, so diente das vorwiegend der besseren Verständigung mit dem Publikum, das diese Art von Literatur als Beispiel für phantastische Erzählungen kannte. Dementsprechend war es üblich, sich im Anschluß an derartige Vergleiche ausdrücklich von den als 'Lügengeschichten' verschrienen Ritterromanen zu distanzieren, um die Leser nicht an der eigenen Glaubwürdigkeit z w e i f e l n zu lassen. Vgl. Adorno 1992, S. X X I - X I V .
80 81 82
Vgl. Solano 1988 ("El conquistador..."), S. 33. Ebd., S. 35. Ebd., S. 36.
45 El f a t a l i s m o , la o b s e s i ó n d e la m u e r t e y la b u r l a d e la v i d a se r e p i t e n en la C o n q u i s t a en u n a y o t r a o c a s i ó n . . . V a l i e n t e i n f a t i g a b l e , p e r o t a m b i é n c r u e l y a m b i c i o s o , el c o n q u i s t a d o r e s p a ñ o l d e s c i e n d e h a s t a el f o n d o d e lo h u m a n o . En la historia d e la C o n q u i s t a e n c o n t r a m o s a t r o c e s e j e m p l o s d e crueldad, pero hallamos también acciones de altruismo y sacrificio. Los r a s g o s q u e m á s se d e s t a c a n s o n , i n d u d a b l e m e n t e , el c o r a j e y la a m b i c i ó n . Son, p u e s , m a n i f e s t a c i o n e s d e e s a c o e x i s t e n c i a d e t e n d e n c i a s c o n t r a d i c t o rias d e las q u e se n u t r e el m o d o d e ser e s p a ñ o l ; la c a r a y c r u z d e la m o n e da, s i e m p r e n e c e s a r i a m e n t e j u n t a s y c o n t r a p u e s t a s e n la d i a l é c t i c a m i s m a d e las c o s a s h u m a n a s . 8 3
Die Vorstellung, daß die Eroberer in Tapferkeit und Unermüdlichkeit auf der einen, in Grausamkeit und Ehrgeiz auf der anderen Seite bis zum äußersten gehen, daß sie zu den Abgründen des Menschlichen vorstoßen, wie der Verfasser es ausdrückt, entspricht der ambivalenten Charakterisierung Friedericis. Der Verweis auf den unveränderlichen Charakter des spanischen Volkes ist ein Topos der Geistesgeschichte - Friederici benutzt ihn im Sinne einer eher abwertenden P a u s c h a l i e r u n g , Morales Padrón dagegen zur Bekräftigung seiner chauvinistischen Argumentation.
c) Siedler und Selfmademan Der Beitrag des spanischen Historikers Guillermo Céspedes del Castillo unterscheidet sich von den bisher besprochenen durch einen wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Ansatz. Céspedes spricht sich gegen die übliche Vorstellung eines radikalen historischen Bruchs oder Neuanfangs mit dem Jahr 1492 aus, weil sie dazu führe, daß man die Conquista als den Beginn der europäischen Kolonialisierung Amerikas betrachte und mit ihr gleichsetze. Es handele sich dabei um eine Fehldeutung, da die Conquista weder mit dem absolutistisch regierten spanischen Kolonialreich noch mit der gezielten wirtschaftlichen Aubeutung des Kapitalismus etwas zu tun habe. Es sei den Eroberern weder um die großangelegte Machtausübung und administrative Kontrolle, die die spätere Kolonialherrschaft kennzeichnete, noch um die reine Optimierung wirtschaftlichen Profits gegangen. Ihr Hauptziel sei es vielmehr gewesen, sich einen
83
Silva-Santisteban 1988. S. 140.
46 neuen Lebensraum zu schaffen und dort eine unabhängige Existenz aufzubauen: El conquistador, si lo consideramos como protagonista de la primera fase hasta 1550, es, ante todo, un poblador. Lo que este hombre quiere después de luchar y conquistar es instalarse, criar cosas, crear vida, fundar ciudades, vivir. [...] Estas gentes se trasladan haciendo lo mismo que venían haciendo, con los mismos propósitos. Las economías americanas hasta 1555 son todas 100 por 100 medievales. Su objetivo, la autosuficiencia: que cada ciudad o pequeño municipio aislado tenga de todo y a precios lo más bajos posibles. 84
Céspedes setzt das Verhalten der Eroberer in einen engen Zusammenhang mit dem Grenzbereich zwischen dem christlichen und dem islamischen Herrschaftsgebiet während der jahrhundertelangen arabischen Besetzung größerer Teile der iberischen Halbinsel. Abgesehen von der eigentlichen Reconquista eröffnete diese frontera vielfältige Möglichkeiten. Bewohner ärmerer Regionen hatten die Chance, in den verlassenen, oft auch verwüsteten Grenzgebieten zu siedeln, sie fruchtbar zu machen, Landwirtschaft und Viehzucht zu betreiben und dadurch ihre soziale Lage zu verbessern. Verbreitete Praxis waren auch kleinere Raubzüge auf der Seite des Feindes, deren Ziel es war, Gefangene, Vieh und Wertsachen zu erbeuten, die sogenannten cabalgadas. Natürlich mußte man auch auf ähnliche Angriffe von der Seite des Gegners gefaßt sein. Im Laufe der Zeit habe die Grenze eine Lebensform und Mentalität geprägt, die der Autor wie folgt beschreibt: La frontera, con todos sus peligros, ofrece casi todo, por lo menos como esperanza y como ilusión: tierras para quien no las tiene, riqueza para el pobre, promoción social para el humilde y el siervo que en la frontera se convierte en hombre libre que se avecina en un pueblo, ciudad, villa y como tal ciudadano de ese asentamiento tiene unos fueros, unos privilegios, unos derechos políticos. Ir a la frontera es arriesgarse, pero es ir siempre a más o perecer en la demanda. Es en esa frontera donde va a surgir el arquetipo popular del hombre que se hace a sí mismo con su esfuerzo, que es honrado con arreglo a sus propias concepciones, que es fiel
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Guillermo C é s p e d e s del Castillo, "Raices peninsulares y asentamiento indiano: Los hombres de las fronteras", in: Solano 1988, S. 3 7 - 5 0 , S. 41 u. 48.
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a sus principios; ese Cid Campeador que cristaliza como mito y pocos años después de que uno de sus inspiradores concluyese su vida.85 Diese Tradition eines mittelalterlichen Selfmademan hätten die Spanier zusammen mit dem Ideal der Missionierung mit in die Neue Welt gebracht und auch umzusetzen versucht. Natürlich hätten sie dort veränderte Bedingungen vorgefunden, nämlich eine Natur mit gigantischen Ausmaßen und Menschen, die ihnen völlig fremd erscheinen mußten. Aber gerade die Entfernung von Europa eröffnete die Möglichkeit, an einer neuen Grenze Meriten zu erwerben, nachdem die Reconquista abgeschlossen und im Heimatland daher keine Chance zum schnellen Aufstieg mehr gegeben war. Die geographische Distanz bedeutete außerdem die Freiheit von uralten Beschränkungen und damit einen enormen Anreiz.86 Diese sozialgeschichtliche Analyse ihrer Lebensumstände eröffnet einen neuen Blick auf die Stellung der Eroberer an der Schwelle zwischen Mittelalter und Renaissance. Die Konquistadoren als "pobladores" in der Tradition des ehrenhaften Cid darzustellen, bedeutet eine entschiedene Relativierung des gängigen Bildes der Geschichtsschreibung, die sie als Abenteurer mit übermenschlich anmutenden Fähigkeiten87 und Hang zu Exzessen zeichnet und ihnen dadurch eine vage mythische Aura verleiht. Wie Céspedes selbst bemerkt, handelt es sich allerdings auch bei der Geschichte des Cid um einen Mythos. Céspedes' Beschreibung dieses "arquetipo popular" erinnert auffallig an das Ideal der aufrechten Männer der nordamerikanischen frontier, wohl bis heute einer der Grundpfeiler des US-amerikanischen Ethos. Seine Übertragung des Konzepts des Selfmademan auf die Conquista erscheint unpassend. Der Wunsch der Konquistadoren nach wirtschaftlich autonomen Ansiedlungen, den Céspedes als Zeichen für einen mittelalterlichen Lebens85 86
87
Ebd., S. 43. Wie der Autor betont, sind die Eroberer: "Unos hombres que han dependido de todo un esquema institucional e ideológico y que de repente empiezan a actuar por sí mismos, sin que exista allí ninguna de las instituciones que tradicionalmente los preside, ni ninguna de las estructuraciones sociales que les han hecho sentirse subordinados, dependientes, protegidos en su vida diaria durante siglos." (Ebd., S. 39.) Carlos Meléndez Chaverri spricht tatsächlich von "verdaderos superhombres". Vgl. seinen Beitrag "Las conquistas frustradas: el caso de la América central", in: Solano 1988. S. 153-164. S. 163.
48 Stil in der Tradition der Besiedlung der spanischen Grenzgebiete interpretiert, kann auch gegensätzlich ausgelegt werden. Das Knüpfen von Handelsbeziehungen kann j a gerade dem überflüssig erscheinen, der die Absicht hat, ein Land möglichst schnell wieder zu verlassen. Für diese Version spricht die Tatsache, daß die Konquistadoren ihre Familien im allgemeinen zu Hause ließen. Im G e g e n s a t z zu C é s p e d e s betont R é g i s Debray den Unterschied der spanischen Eroberung gegenüber der nordamerikanischen, wo man die Eingeborenen nicht versklavte, sondern gezielt aus den eroberten G e b i e ten vertrieb, um sich ungestört deren Bewirtschaftung widmen zu können. Es sei den Spaniern vorrangig um das Gold und die Ausbeutung der indianischen Arbeitskraft gegangen, der Erwerb von Landeigentum habe sich erst als K o n s e q u e n z daraus ergeben. 8 8 Nach Debray wollten sich die Konquistadoren keineswegs in A m e r i k a niederlassen, sondern möglichst schnell reich werden und dann nach Europa zurückkehren. 8 9 Barbara und Stanley Stein zeigen aber, daß ihr Verhalten weniger einheitlich war, als Céspedes und Debray es sich vorstellen. Während manc h e derer, die durch den B e s i t z einer M i n e zu Titel und Reichtum gelangt waren, nach Spanien zurückkehrten, zogen viele es vor, an Ort und Stelle eine Hazienda zu erwerben und sich dort niederzulassen. 9 0 Diese Hazienderos bearbeiteten ihr Land aber nicht selbst, sondern überließen dies den Indios, die ihnen wie L e i b e i g e n e unterworfen waren. 91 Der Vergleich der Eroberer mit dem Cid als ehrenhaftem und prinzipientreuem Volkshelden läßt sich mit der Praxis der Conquista in dieser Hinsicht schwerlich vereinbaren. Plausibel erscheint dagegen der Gedan-
88
Vgl. Régis Debray, Christophe Colomb le visiteur Je l'aube. Propos déplacés sur le
89 90
Cinquième Centenaire, Paris: Kl.A La Différence 1991. S. 52-54. Vgl. ebd.. S. 41 f. Dies entsprach einer südspanischen Tradition, die Grundbesitz als aristokratisches Statussymbol schätzte. Vgl. Barbara H. Stein u. Stanley J. Stein, The Colonial He-
ritage of Latin America. Essays on Economic Dependence 91
in Perspective.
New
York: Oxford University Press 1970, S. 30 u. 32. Denn, wie die Steins erklären: "It was logical that they refuse to create family farms in the colonial world where there existed huge expanses o f land and a large population o f skilled, subservient Amerindian agriculturists - both land and labor the spoils o f conquest." (Kbd.. S. 3 7 . ) Nach Sanchiz Ochoa hielten die Konquistadoren im allgemeinen dem Ehrbegriff der hidalguía entsprechend jegliche Arbeit außer dem Kriegshandwerk für unter ihrer Würde. (Vgl. Sanchiz Ochoa 1988, S. 82f.)
49 ke, daß die Conquista vor allem denen Aufstiegschancen bot, die sich durch charakterliche Qualitäten von der Masse der Soldaten unterschieden, während ein adliger Stammbaum dagegen von geringer Bedeutung war."2 Auch die Erfahrung der ständigen Kampfbereitschaft an der zuletzt in Andalusien gelegenen frontera wird den Konquistadoren, die ja zu einem beträchtlichen Teil aus dieser Gegend kamen, sicher genützt haben.93 Céspedes erklärt den militärischen Erfolg der Spanier damit, daß sie sich durch Mut, Zähigkeit, Ehrgeiz und Intelligenz auszeichneten, daneben aber auch Glück hatten und ihre Chancen zu nutzen wußten.94 Intelligenz ist eine Eigenschaft, die in den bisher vorgestellten Charakterisierungen nicht ein Mal genannt wird, was ein bezeichnendes Licht auf die wenig realistischen Vorstellungen mancher Historiker wirft, die mehr von dem martialischen Kampfeswillen als von den geistigen Fähigkeiten der Eroberer überzeugt sind.95 Nach Céspedes zeichneten sich die großen Caudillos der Conquista aber gerade durch die Kunst der Mäßigung und politischen Weitblick aus.96 Auch der Faktor Zufall wird selten berücksichtigt, als sei die Geschichte, wie die Azteken glaubten, vorherbestimmt gewesen. Wie Friederici und auch Todorov mißt der Verfasser Cortés eine herausragende Bedeutung zu. Er sei ein geborener Politiker, exzellenter Diplomat, ein großes Organisationstalent und nicht zuletzt ein Meister der Verstellung gewesen, dem es sogar gelang, seinem Vorgesetzten Diego Velázquez vorzumachen, daß er beschränkt und folgsam sei. Mit einer Mischung aus Großzügigkeit und Autorität habe er die Spanier für sich gewonnen. Sein genialster Schachzug aber bestehe darin, die Eroberung Mexikos vor dem König und seinen eigenen Leuten nicht als Beutezug hinzustellen, sondern zu einem großartigen Unternehmen von höchster politischer und religiöser Bedeutung zu überhöhen, das nicht nur der 92 93
Vgl. auch Villalobos 1977. S. 75. Vgl. Mario Góngora, Los grupos de conquistadores Fisonomía histórico-social de un tipo de conquista, Universitaria 1962. S. 9 1 - 9 5 .
94
Vgl. Guillermo C é s p e d e s del Castillo, América Hispánica. ria de España), Barcelona: Labor 1983, S. 7 5 u. 81.
95
Nur Solano gibt zu bedenken, daß es sich um ältere Männer gehandelt habe, von denen man annehmen könne, daß sie mit Bedacht vorgingen.
96
Vgl. ebd.. S. 77.
en tierra firme (1509-1530). Santiago de Chile: Editorial 1492-1898,
Bd. 6 ( H i s t o -
50
Krone neue Reiche und großen Ruhm verschaffe, sondern zudem die Christianisierung ganzer Völkerschaften ermögliche, wobei das Gold nur Mittel zum Zweck sei.97 Daß die zahlenmäßig weit unterlegenen Spanier die einheimischen Zivilisationen in so kurzer Zeit besiegen konnten, sei nicht allein durch den Hinweis auf Zähigkeit und Heldentum zu erklären, da ihre Gegner ebenfalls alles andere als Feiglinge gewesen seien. Als wichtige Gründe für den schnellen Sieg seien zum einen ihre technische Überlegenheit und die kulturellen Unterschiede zu nennen, die den Spaniern Vorteile verschafften.98 Als entscheidend habe sich aber die Bereitschaft der Indios erwiesen, mit den Spaniern zusammenzuarbeiten und sich gegen feindliche Stämme oder Unterdrücker mit ihnen zu verbünden. Ohne diese Kollaboration hätte die Conquista Jahrhunderte dauern können. Die Grausamkeit der Soldaten rechtfertigt Céspedes ähnlich wie Morales Padrón durch den Verweis auf ihre ökonomische Situation: Die Kosten für Ausrüstung und Proviant hatten sie selbst zu tragen, so daß der Erfolg eines Beutezugs schon deshalb mit allen Mitteln gesichert werden mußte, um die dabei entstandenen Schulden bezahlen zu können. Wirklichen Reichtum hätten sie aber erst nach Abschluß der Eroberung erlangen können. Da die in der Heimat gebliebene spanische Oberschicht sie jedoch als unwürdige Emporkömmlinge betrachtete, blieben Adelstitel und größere Herrschaftsgebiete den meisten versagt. Diejenigen, denen Gouverneursposten zugesprochen wurden, hatten den Ehrgeiz, feudale Gesellschaftsstrukturen aufzubauen, wo sie nur dem König Untertan über die encomenderos als ihre Vasallen und die Indios als diesen untergebene unterste Schicht herrschen wollten. Dies wußte die absoluti97
98
Denn, w i e der Autor betont: "Lo importante del caso era que se había creado una mitología política y religiosa de la, hasta Balboa, sórdida aventura castellana en el N u e v o Mundo, y esa mitología era aceptada por todos, desde el rey hasta el más modesto colono. La empresa quedaba dignificada y justificada a los ojos de quienes la acometían." (Ebd., S. 80.) S o unterwarfen die Inkas und die Azteken die Kriegsfuhrung bestimmten Regeln und Ritualen, die sie daran hinderten, den Europäern einen angemessenen Widerstand entgegenzusetzen. Auch das fatalistische Weltbild der einheimischen Zivilisationen machte sie anfällig für den Pessimismus. S o zweifelten sie an der Macht der eigenen Götter oder hielten die Fremden für solche, während diese von einer militanten und unerschütterlichen Religiosität erfüllt waren, die sie in ihren Vorhaben bestätigte. Vgl. hierzu C é s p e d e s 1983, S. 85f.
51
stische Monarchie zu verhindern, indem sie die Ex-Konquistadoren in ihren Posten durch der Krone ergebene Verwaltungsbeamte ersetzte. Céspedes verwahrt sich dagegen, die massive Dezimierung der indianischen Bevölkerung im Laufe der Conquista" den Eroberern zur Last zu legen. Verantwortlich für den Bevölkerungsrückgang seien in der Hauptsache die aus Europa eingeschleppten Krankheiten gewesen, gegen die die Indios keine Abwehrkräfte besaßen. Diese Epidemien hätten verheerende, bis in die Gegenwart nachwirkende psychische Folgen für die Überlebenden gehabt, da diese sich fragen mußten, welche Schuld sie auf sich geladen hatten, um eine solch grausame Strafe Gottes zu verdienen, während die Spanier von den Krankheiten weitgehend verschont blieben. Darüber, daß nicht die direkte Gewalteinwirkung, sondern Krankheiten wie Masern, Pocken und Typhus die wesentliche Ursache für die hohe Sterblichkeit der Ureinwohner darstellten, herrscht in der Forschung ein Konsens. Was der Verfasser übergeht, ist die ebenfalls allgemein verbreitete Ansicht, daß Zwangsarbeit, Unterernährung und die Zerstörung ihrer Kultur und sozialen Bindungen die Anfälligkeit der Indios für die Krankheiten erhöhten bzw. die Geburtenrate reduzierten. 100 Daß Céspedes ihre gegenwärtige Befindlichkeit auf ein durch Epidemien verursachtes Trauma zurückführt, wirkt gedankenlos angesichts der Tatsache, daß die Indígenas bis heute auf die untersten Ränge der Gesellschaft verwiesen werden. Auch seine abschließende Bemerkung, daß das Elend der Indios zumindest etwas Positives bewirkt habe, nämlich das Mitgefühl einiger Geistlicher, kommt einer verfehlten Ehrenrettung gleich. 101
99
Man geht davon aus, daß die autochthone B e v ö l k e r u n g Hispanoamerikas 1492 gut 35 Millionen. 1570 dagegen nur noch knapp 9 Millionen betrug. Vgl. Renate Pieper, "Hispanoamerika. Die demographische Entwicklung", in: Pietschmann 1994, S. 3 1 3 - 3 2 7 , hierzu S. 318.
100
Vgl. ebd., S. 3 I 8 f f , s o w i e Pedro V i v e s Azancot. "Los conquistadores y la ruptura de los e c o s i s t e m a s aborígenes", in: Solano 1988, S. 9 5 - 1 1 8 .
101
Vgl. C é s p e d e s 1988. S. 50.
52 2. Die Wende zur Diskurskritik a) Tzvetan Todorov und die Rhetorik der Conquista Tzvetan Todorovs kommunikationstheoretisch fundierte Arbeit La conquête de l'Amérique. La question de l'autre ist seit ihrem Erscheinen 1982 eine obligatorische Referenz der Forschung. Todorovs zentrale These besagt, daß die Grundlage für den erstaunlichen Sieg der Spanier in Mexiko ihre Überlegenheit in der zwischenmenschlichen Kommunikation gewesen sei. Während die Azteken, typisch für eine dem Ritual verpflichtete Gesellschaft, Sprache primär als Spiegelbild einer göttlichen Weltordnung auffassen, dient sie Cortés und seinen Leuten als Mittel, die Welt zu verstehen und zu manipulieren. Todorov leugnet nicht die Bedeutung der internen Streitigkeiten der Indios und der besseren Waffen der Europäer für deren Sieg. Daß es den Spaniern gelang, sich diese Umstände aber in solch entscheidender Weise zunutze zu machen, liege an einer Mentalität, die sich in Europa mit der Renaissance durchsetzt. Sie steht im Zeichen von Machiavellis Empfehlung, den äußeren Schein zum Instrument der Politik zu machen. Neben der Kunst der Verstellung hält Todorov eine zweite Eigenschaft für wesentlich: die Fähigkeit zur Anpassung und Improvisation. Cortés beherrscht beide, macht sie zur Richtschnur seines Handelns und entwickelt ein Modell des Eroberungskrieges, das zum Vorbild für den weiteren Verlauf der Conquista wird. Einen weiteren Bezug zum neuzeitlichen Denken der Renaissance stellt Todorov mit der Überlegung her, daß der Wunsch nach Reichtum die Eroberer in besonderem Maße motiviert, da man anders als im Mittelalter mit Geld nun auch Status kaufen kann. Mit dieser Begründung der von den Spaniern verübten Grausamkeiten jedoch nicht zufrieden, entwirft er als Erklärung für ihr Verhalten das Konzept einer "civilisation du massacre".102 Die von den Azteken verübten Menschenopfer seien religiöse Morde, vor aller Augen und im Namen der offiziellen Ideologie an Personen begangen, deren Identität durch Regeln bestimmt wird. Das Massaker zeugt dagegen von einer mangelnden gesellschaftlichen Kontrolle und scheut die Öffentlichkeit. Es stellt einen Akt willkürlichen Tö-
102
Paris: Seuil 1982, S. 151.
53 tens dar, der die Identität seiner Opfer negiert, indem er sie auf einen quasi tierischen Status reduziert: C'est c o m m e si les c o n q u i s t a d o r e s o b é i s s a i e n t à la règle (si o n peut l'app e l e r ainsi) d'Ivan K a r a m a z o v , "tout est permis". Loin du p o u v o i r central, loin de la loi royale, tous les interdits tombent, le lien social, déjà relâché, éclate, pour révéler, non pas une nature primitive, la bête e n d o r m i e en c h a c u n d e nous, m a i s un être m o d e r n e , plein d'avenir m ê m e , q u e n e retient aucune morale et qui tue parce que et quand c e l a lui fait plaisir. 1 0 3
Wie Todorov bemerkt, kann das Verhalten der Spanier dabei keinesfalls als Rückfall in barbarische Zeiten abgetan werden. Und wie es die Geschichte bis in die jüngste Gegenwart zeigt, finden Massaker auch inmitten 'zivilisierter' Gesellschaften statt: Es genügt, den Anderen außerhalb der fur die eigene Gemeinschaft gültigen moralischen Prinzipien zu stellen. Nach Todorov hängt der Erfolg der Konquistadoren mit der Ablösung des Rituals durch die Improvisation und der Abkehr vom Aberglauben zusammen. Die Spanier sind trotz dieser rationalen Haltung von der Überlegenheit ihrer Religion überzeugt und dulden keine andere; diese Intoleranz bestärkt sie in ihrem Elan. Die Trennung des Glaubens von der Vernunft und die prinzipielle Bereitschaft zum Wandel sind jedoch wesentliche Merkmale der Moderne,104 daher sind die Konquistadoren trotz der Bewahrung gewisser mittelalterlicher Denkstrukturen als Vertreter der Neuzeit einzuordnen. Ihre geistige Flexibilität, möglicherweise auch eine Folge der Jahrhunderte dauernden convivencia dreier Kulturen auf der iberischen Halbinsel, ermöglicht es ihnen, sich in den anderen hineinzuversetzen und ihn auf diese Weise zu manipulieren.105 103 104 105
Ebd.. S. 150. Vgl. Jorge Larraín Ibáñez, Modernidad, razón e identidad en América Latina, Santiago de Chile: Andrés Bello 1996, S. 17-26. Wie Inga Clendinnen erklärt, hatten Cortés' Verständnis und Kontrolle seiner Kontrahenten und Verbündeten allerdings ihre Grenzen: Der nach Todorov immer souveräne Cortés war machtlos gegen den angesichts ihrer hoffnungslosen Lage sinnlosen Widerstand der Bewohner Tenochtitlans, der ihn zwang, die bewunderte Stadt zu zerstören, und gegen die unvorstellbar grausame Rache der Verbündeten aus Tlaxcala an ihren ehemaligen Unterdrückern. Weitere Episoden deuten daraufhin, daß die indianische Seite sich nicht immer so passiv und unflexibel gebärdete, wie Cortés und auch Todorov es darstellen. Vgl. Inga Clendinnen, '"Fierce and Unnatu-
54 Die Fähigkeit zur Empathie kann aber auch bewirken, daß man sich dem Standpunkt des Fremden annähert und sich von der angestammten kulturellen Position entfernt. Todorov erwähnt den Fall Gonzalo Guerreros, der auf die Seite der Mayas überlief, und interpretiert Alvar Nûnez Cabeza de Vacas Naufragios (1542) als das Zeugnis einer Identitätsverschiebung. Die Erfahrung des in Florida jahrelang auf sich allein gestellten Cabeza de Vaca sei die eines modernen Exilierten, der seine Heimat verloren hat, ohne eine neue zu finden, und damit symptomatisch für die moderne Gesellschaft.106 Die Überhöhung seines Schicksals als Beispiel für die von Todorov idealisierte Erfahrung des Exils ist allerdings fragwürdig.107 Diesem Bild von Cabeza de Vaca entspricht Todorovs Idealisierung der Ethnologie als enfant du colonialisme et preuve de son agonie: un dialogue où personne n'a le dernier mot, où aucune des voix ne réduit l'autre au statut d'un simple objet, et où l'on tire avantage de son extériorité à l'autre.108 Diese Einschätzung verweist auf die Utopie einer Alteritätserfahrung, die den Fremden weder vereinnahmt, indem sie die eigenen Werte auf ihn projiziert, noch ihn prinzipiell für anders erklärt, was meist auf eine Herabsetzung hinausläuft.109 Todorovs Deutung der Conquista als eine Art Pyrrhussieg der Moderne kolportiert dagegen ein romantisches Klischee: Die hier von den Europäern bewiesene Beherrschung der zwischenmenschlichen Kommuni-
106 107
108
109
ral Cruelty': Cortes and the Conquest o f Mexico", in: Stephen Greenblatt (Hg.), New Word Encounters, Berkeley, Los Angeles: University o f California Press 1993. S. 12-47. Vgl. Todorov 1982, S. 253. In A n l e h n u n g an einen Ausspruch von H u g o von St. Victor aus dem 12. Jahrhundert schreibt Todorov: "...celui-lá seul est parfait pour qui le monde entier est c o m m e un pays étranger". (Ebd., S. 2 5 3 . ) Vgl. dagegen die kritischeren Bewertungen von Cabeza de V a c a s Naufragios ( 1 5 4 2 ) bei Beatriz Pastor, "Silencio y escritura: La historia de la conquista", in: Costigan, González Stephan 1992. S. 127-162, hierzu S. 144ff, und Adorno 1992 ("Como leer Mala Cosa"). Todorov 1982, S. 253. Eine ungleich differenziertere und skeptischere Einschätzung der Möglichkeiten der Ethnologie entwirft Claude Lévi-Strauss 1955 in Tristes Tropiques. Vgl. insbesondere Kap. 31, 37 und 38. Vgl. Todorov 1982. S. 47.
55
kation und der Improvisation habe zu einem 'Schweigen der Götter"10 als dem Verlust der Fähigkeit, sich im Einklang mit der Welt zu fühlen, geführt. Die zwar erklärterweise von der Warte des 'Moralisten' aus geschriebene," 1 aber dennoch mit dem Anspruch wissenschaftlicher Objektivität auftretende Studie gibt damit einem nostalgischen Blick auf die Vergangenheit Raum. Todorovs Einfluß ist nicht zu unterschätzen: La conquête de l'Amérique ist der breiten Zustimmung nach schon Kultbuch der ConquistaForschung zu nennen. Die neuere kulturgeschichtliche Forschung über die Conquista betrachtet die Chroniken nicht als transparente Aussagen, sondern interessiert sich für das Selbstverständnis der Eroberer und ihre Auseinandersetzung mit dem Anderen - frei nach dem Motto, "lorsqu'un auteur se trompe ou ment, son texte n'est pas moins significatif que quand il dit vrai", wie Todorov es formuliert." 2 Seine Arbeit markiert einen Umbruch in der Forschung über die Conquista, die Wende zur Diskurskritik. Man nutzt die Quellen nicht länger als Fundgrube zum Beleg vorgefaßter Meinungen, sondern nähert sich ihnen möglichst unvoreingenommen. Repräsentativ für diesen differenzierteren Umgang mit den Chroniken ist Joan-Pau Rubiés' Auffassung, daß die europäischen Amerika-Berichte des 16. Jahrhunderts Realität und Mythos verschmelzen, "with the combination of real Caribbean islands and mythical Cipangus, real gold and mythical el Dorados, real empires of the sun and mythical Amazons"." 3 In der Hoffnung auf legendäre Schätze seien die Eroberer zu immer neuen waghalsigen Expeditionen aufgebrochen, obwohl die Wirklichkeit sie eines besseren hätte belehren müssen, denn "the tangible gains - gold and silver, sex, labour, land, geographica! knowledge too - very often feil short of the desires expressed by the myths"." 4 Diese Kluft zwischen
110 Vgl. ebd., S. 103.
111 Ebd.. S. 12.
112 Todorov 1982, S. 60. 113 Joan-Pau Rubies, "Futility in the New World: Narratives of Travel in SixteenthCentury America", in: Jas Eisner u. Joan-Pau Rubids (Hg.), Voyages and visions. Towards a Cultural History of Travel, London: Reaktion Books 1999, S. 74-100, S. 74. 114 Ebd.. S. 75. Vgl. zur Praxis der Conquista auch ebd., S. 79 sowie Anm. II u. 12 auf S. 289f.
56 Erwartung und Enttäuschung spiegele sich in den Chroniken und Reiseberichten über die N e u e Welt, angefangen mit Kolumbus' Bordbuch: Few sources reveal with the clarity of travel accounts the subtle tension between the projection of ideals and the discovery of futility, because these numerous writings incarnated simultaneously the rhetoric of empire and evangelization, the projection of personal aims, desires and disappointments, and the formation of empirical discourses, historical, anthropological and geographical. 115 Geblendet von der optimistischen Rhetorik der Entdecker, Konquistadoren und Chronisten, bedacht auf eine vorteilhafte Darstellung ihrer Unternehmungen, hat die Nachwelt den nüchternen Zwischentönen, die von Unsicherheit und Enttäuschung zeugen, lange Zeit w e n i g A u f m e r k samkeit geschenkt. Rubies fordert in diesem Sinne, that any interpretation of the literature of travel and discovery must be an exercise in cultural history which acknowledges the apparent contradictions between the rhetoric of triumphant imperialism, too often portrayed as a one-sided force both by critics and apologists, and the ambivalence of the actual encounter with an indigenous world, human and natural, which was neither passive nor homogeneous." 6 Die Berücksichtigung dieser Ambivalenz führt dazu, daß stereotype Darstellungen der Eroberung seltener werden. An die Stelle der Überzeichnung des Konquistadors zu einer epischen Figur, übermenschlich 115
Ebd., S. 76.
116
Ebd., S. 75. Rubiés demonstriert seine Thesen am Beispiel von Gonzalo Fernández de O v i e d o s Historia general y natural de las Indias, Alvar N ú ñ e z Cabeza de Vacas Relación de los naufragios y comentarios, Lope de Aguirres Brief an König Philipp II, dem Bericht des florentinischen Kaufmanns Galeotto Cei über eine Reise nach V e n e z u e l a und Kolumbien s o w i e der Peregrinación de Bartolome Lorenzo (durch Peru), die von dem Jesuiten José de Acosta verfaßte Biographie e i n e s Glaubensbruders. Vgl. zu dem von Rubiés vertretenen Ansatz die richtungweisenden Arbeiten von Beatriz Pastor, Discursos narrativos de la conquista de América ( 1 9 8 3 , in englischer Übersetzung The Armature of Conquest. Spanish accounts of the discovery of America, 1992) und El jardín y el peregrino. Ensayos sobre el pensamiento utópico latinoamericano 1492-1615 (1996); Juan Gil. Mitos y utopías del descubrimiento, 3 Bde. ( 1 9 8 9 ) s o w i e Stephen Greenblatt, Marvellous Possessions. The Wonder of the New World ( 1 9 9 1 ) und ders. (Hg.), Sew World Encounters (1993). Weitere bibliographische Hinweise bei Rubiés 1999. Anm. 3 auf S. 287.
57 stark, gut oder schlecht, tritt eine Psychologisierung, die die Eroberer selbst, aber auch die Vorstellungswelt ihrer Zeitgenossen bzw. der Nachwelt zum Gegenstand hat, die sich in dem Bild der Konquistadoren spiegelt. Der folgende Überblick über die Rezeption der Gestalt Gonzalo Guerreros vermittelt einen Eindruck davon.
b) Gonzalo Guerrero, Vater der Mestizen Aus den in den Chroniken enthaltenen spärlichen Informationen über Gonzalo Guerrero ergibt sich der folgende Lebenslauf: 1511 zusammen mit Jerónimo de Aguilar und anderen Spaniern als Opfer eines Schiffbruchs nach Yucatan verschlagen heiratet er eine Maya und hat Kinder mit ihr. 1519 nutzt Cortés die erste Begegnung mit den Bewohnern der Halbinsel dazu, Kontakt mit den vermißten Spaniern aufzunehmen, die ihm als Übersetzer nützen können. Während Aguilar die Gelegenheit ergreift, in die Welt der Spanier zurückzukehren, lehnt Guerrero Cortés' Einladung ab. In seiner freiwilligen Entscheidung für ein Leben mit den Mayas und der aktiven Unterstützung ihres Widerstands gegen die Spanier, die sich seit 1517 um die Eroberung Yucatans bemühten, liegt der Skandal seiner Biographie. Um 1534 soll er im Kampf gegen die Eroberer gestorben sein. Er gilt heute als der Begründer der ersten Familie von Mestizen auf mexikanischem Boden. Wie so häufig bei der Beschäftigung mit der Conquista erscheint diese Information jedoch um so zweifelhafter, je genauer man ihren Ursprung untersucht. Rolena Adorno hat die Entwicklung des Stoffes in Chroniken, Briefen und anderen Schriften aus dem 16. und frühen 17. Jahrhundert verfolgt." 7 Sie läßt sich wie folgt skizzieren: In einem Brief des Cabildo von Veracruz aus dem Jahre 1519 heißt es, nach Aussage Aguilars lebten die schiffbrüchigen Spanier weit über das Land verstreut und eine Kontaktaufnahme zu ihnen sei daher kaum möglich. 1534 berichtet Cortés über "un Morales", von dem ihm Aguilar 1519 erzählt habe, "el qual no 117
Vgl. Rolena Adorno, "La estatua de Gonzalo Guerrero en Akumal: iconos culturales y la reactualización del pasado colonial", in: Revista Iberoamericana, Bd. 62, Nr. 176-177. 1996. S. 905-923. Die Autorin zitiert die Quellen, zeichnet die jeweiligen Veränderungen nach und bringt sie mit dem zeitgeschichtlichen Hintergrund in Verbindung, verzichtet aber auf eine eingehendere Analyse der zitierten Chroniken.
58 abía querido venir, porque temía ya oradadas las orexas, y estaba pinado como yndio, e casado con una yndia, y temía hixos con ella"." 8 Den Ursprung des Stoffes bildet also ein Nebensatz, den Cortés 15 Jahre nach dem betreffenden Gespräch zu Papier bringt. 1536 schreibt dann der Gouverneur von Honduras Andrés de Cereceda in einem Brief an den Kaiser, ein sogenannter "Gonzalo Azora" bzw. in einer anderen Hindschrift "Aroia", der seit mehr als zwanzig Jahren in Yucatan lebe, kabe 1534 auf der Seite von Maya-Truppen gegen Pedro de Alvarado gekämpft und sei dabei umgekommen. Damit sind die wesentlichen Mctive des Stoffes in Umlauf gebracht: Ein gewisser Gonzalo hat als Fami ienvater bei den Mayas gelebt, den Körper nach deren Sitte bemalt )der tätowiert sowie die Ohren durchbohrt, und zog den Kampf an ihrer Seite der Rückkehr zu den Spaniern vor. Adorno betont, daß allerdings gerade diese Ungenauigkeit und Spärlichkeit der Information Raum für Projektionen biete und eine histori;che Episode zum Ursprung eines icono cultural prädestiniere. Darunter versteht sie supuestas representaciones de una esencia cultural, [...] imágenes orignadas a partir de un caso histórico y que satisfacen una necesidad primeramente social de definir, explicar, interpretar y proponer los mod(s ideales de comportamiento en una realidad dada."" Von 'vermeintlichen' Repräsentationen spricht sie, da derartige Symbole analog zu dem Selbstverständnis, dem sie Ausdruck verleihen, prinzipiell wandelbar sind, auch wenn sie den jeweiligen Zeitgenosser als unveränderliche Konstante erscheinen mögen.120 Diese Wandelbakeit 118
D a s Zitat stammt aus Cortés' Verteidigungsschrift zur Vorlage in dem 1526 in M e x i k o g e g e n ihn eröffneten juicio de residencia. (Colección de docunentos inéditos relativos al descubrimiento, conquista y organización de las antiguas posesiones españolas de América y Oceania, Bd. 27, Madrid 1864-84, S. 322f, -.itiert nach Adorno 1996, S. 9 1 3 . )
119
Ebd., S. 9 0 6 .
120
Adornos Definition des icono cultural entspricht in etwa dem von Jan Assnann verwendeten Konzept des historischen Mythos als Geschichte mit einer "selbsbildformenden und handlungsleitenden Bedeutung". ( A s s m a n n 1997, S. 79.) Dtr Beg r i f f v e r w e i s t auf die Terminologie der Semiotik; er spielt auf den arbiträren Charakter kultureller Muster an, die auf dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklungen konstruiert und mit Sinn besetzt werden.
59 kommt im Falle Guerreros deutlich zum Ausdruck: Der Stoff wird bei Fernández de Oviedo (Historia general y natural de las Indias, 15251548), López de Gomara (La conquista de México, 1552) und Bernal Díaz del Castillo (Historia verdadera de la conquista de la Nueva España, vor 1568) unterschiedlich gedeutet. Oviedo spricht von "aquel bellaco mal chripstiano Gon9alo, marinero'"21 und gibt ihm die Verantwortung für das Scheitern der YucatanExpedition von Francisco de Montejo und Alonso Dávila im Jahre 1528.122 Wenn Oviedo den Grund für Gonzalos Verrat an seinen Landsleuten in schlechtem Christentum, sprich: in der Abstammung von conversos, vermutet, bedeutet dies, daß er sich Gonzalos Entscheidung für ein Leben mit den Indios nur damit erklären kann, daß dieser als converso kein echter Christ und Spanier sei. Dieses Motiv taucht in späteren Versionen nicht mehr auf. López de Gomaras Darstellung erweist sich dagegen als äußerst einflußreich. Erst dieser Chronist verleiht der bislang unter wechselnden Namen wie Morales, Azora oder Arofa bekannten Figur eine stabile Identität, indem er sie - zwei Jahrzehnte nach ihrem vermutlichen Todesdatum - mit dem emblematischen Nachnamen 'Guerrero' versieht. Durch romaneske Details macht er aus Cortés' Kontaktaufnahme mit Aguilar eine dramatische Episode, schreibt Gonzalo ein gefühlsbetontes Handeln zu und macht damit aus dem unbekannten Seemann eine Persönlichkeit: einen glücklich verheirateten Ehemann, liebevollen Vater und geachteten Krieger. Dem vermeintlichen Augenzeugen Jerónimo de Aguilar legt er die folgende Erklärung für Guerreros Unwillen, zu den Spaniern zurückzukehren, in den Mund:
121
Gonzalo Fernández de O v i e d o y Valdés, Historia general y natural de las Indias, islas y tierra firme del mar océano, Bd. 3, hg. v. José A m a d o r de los Ríos, Madrid: Real A c a d e m i a de la Historia 1851-55, S. 2 4 6 , zitiert nach Adorno 1996, S. 915.
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Bei dieser Gelegenheit habe der Abtrünnige ein Schreiben von Montejo erhalten und seine Antwort mit Kohle auf die Rückseite des - nie aufgefundenen - Briefes geschrieben. Sowohl das A n g e b o t zur Rückkehr als auch die A b s a g e - beide überaus höflich formuliert - werden hier wörtlich zitiert.
60 ...creo que de vergüenza, por tener horadadas las narices, picadas las orejas, pintado el rostro y manos a fuer de aquella tierra y gente, o por vicio de la mujer y amor de los hijos.123 An die Stelle seiner Diskreditierung als schlechter Christ durch Oviedo tritt hier der Versuch, die Motivation für sein außergewöhnliches Verhalten nachzuvollziehen. Als Beweggründe für Gonzalos Entscheidung, die für seine Leser offenbar plausibel sind, nennt Gomara sexuelle Begierde, die Liebe zu den Kindern und schließlich die Scham, den Spaniern mit nach indianischer Sitte behandeltem Körper unter die Augen zu treten. Im Gegensatz zu Oviedos Darstellung offenbart diese Erklärung Interesse und ein gewisses Verständnis für Gonzalos Weigerung, seine Mestizen-Familie zu verlassen. Als Biograph von Hernán Cortés wird López de Gomara das Beispiel des Eroberers nicht vergessen haben, der seine indianische Geliebte, die Malinche, zwar nicht heiratete, sich aber um ihren gemeinsamen Sohn Martin kümmerte und ihn nachträglich vom Papst zu seinem legitimen Kind erklären ließ. Die nach indianischem Ritus geschlossene Ehe mit einer nicht getauften Frau mußte den Spaniern allerdings als eine unerträgliche Konzession an die heidnischen Sitten erscheinen. Die dem vermißten Gonzalo zugeschriebene Aufgabe der angestammten kulturellen Identität materialisiert sich in dem Bild seines Körpers, nach europäischem Maßstab verunstaltet, 'unkenntlich' gemacht. Bezeichnend ist in diesem Sinne Gomaras ausführliche Schilderung dieses körperlichen Wandels: Nicht nur die Ohren, sondern auch die Nase ist durchbohrt, die Hände und das Gesicht sind bemalt. Gerade die Hände und das Gesicht sind jedoch die für Gestik und Mimik zuständigen Körperteile und damit unmittelbarer Ausdruck der Persönlichkeit. Diese Präzisierung von Gonzalos Metamorphose deutet d a r a u f h i n , daß die Spanier die imaginierte Verletzung seiner persönlichen Integrität auf seinen Körper projizieren, um ihr damit eine faßbare Gestalt zu verleihen und sich selbst davon abzugrenzen. Gomaras Darstellung offenbart einen Zwiespalt: Einerseits verspricht der Kulturkontakt erotische Abenteuer und kann als väterliche Liebe moralisch gerechtfertigt werden, andererseits wäre es eine Schande, durch die Hingabe an die fremden Sitten vor den eigenen Landsleuten im wahr123
Francisco López de Gomara. La conquista de México, hg. v. Jorge Gurria Lacroix. Caracas: Biblioteca Ayacucho 1979, S. 26, zitiert ebd., S. 916.
61 sten Sinne des Wortes das Gesicht zu verlieren. Gonzalo Guerreros Geschichte wird damit zum Paradigma einer ambivalenten Wahrnehmung des mestizaje - gespalten zwischen Scham und Verlangen. Dabei ist es bemerkenswert, daß die kriegerische Aktivität durch den Nachnamen 'Guerrero' zu einem festen Attribut der Figur wird. Im Gegensatz zu dem schiffbrüchigen Alvar Núñez Cabeza de Vaca, der sich durch seine Heilkunst, nicht aber durch die Beherrschung des Kriegshandwerks unter den Indianern Floridas zu behaupten weiß,124 erscheint die Figur des abtrünnigen Kriegers als ein direktes Gegenbild der Konquistadoren, Verführung und Warnung zugleich. Sie signalisiert einerseits, daß es für die Spanier keine Grauzone zwischen dem Ich und dem Anderen, keinen Kompromiß zwischen eigenen und fremden Sitten geben darf. Die Ideologie der Eroberung impliziert ein 'Entweder-Oder': Wer sich auf den Anderen einläßt wie Gonzalo, für den gibt es kein Zurück. Andererseits suggeriert die Figur jedoch, daß die vermeintlich unüberwindlichen kulturellen Grenzen womöglich doch fließend sein könnten, indem sie selbst die den Konquistadoren verbotene Überschreitung vorführt. Paradoxerweise lädt das abschreckende Beispiel zur Nachahmung ein. In Bernal Díaz del Castillos Version wird die Opposition zwischen dem Eigenen und dem Fremden hingegen relativiert. Nun ist es Gonzalo höchstpersönlich, der dem Kameraden Aguilar die Gründe für sein Bleiben in einer biedermeierlich idyllischen Szene darlegt: Hermano Aguilar: Y o soy casado, y tengo tres hijos, y tiénenme por cacique y capitán quando hay guerras; ios vos con Dios, que y o tengo labrada la cara y horadadas las orejas. ¡Qué dirán de mí desque me vean esos españoles ¡r desta manera! E ya veis estos mis hijitos quán bonicos son. Por vida vuestra, que me deis desas cuentas verdes que traéis para ellos, y diré que mis hermanos me las envían de mi tierra. 125
Hier tritt Guerrero als gottesfurchtiger, gütiger Familienvater im Kreise seiner Lieben auf, gibt dem Landsmann einen Segen mit auf den Weg und bittet freundlich um ein Geschenk für die niedlichen Kleinen. Mehrere Jahrzehnte nach Abschluß der großen Eroberungszüge in Mexiko und Peru werden die von den Indios geschätzten grünen Ketten, ehemals
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Vgl. Alvar Núñez Cabeza de Vaca. Naufragios (1542). Bernal Díaz del Castillo 1992. Kap. XXVII. S. 80.
62 Hilfsmittel zum Schluß militärischer Allianzen, nun zu Kinderspielzeug erklärt. Mit dem immer weiter zurückliegenden Ende der Conquista scheint die Erinnerung daran aus der Sicht der Spanier die Brisanz zu verlieren: Die unheimliche Figur des Überläufers verwandelt sich in den Begründer einer glücklichen Familie von Mestizen und jovialen Protagonisten einer gemütvollen Episode. 126 Mit der wachsenden zeitlichen Distanz zum historischen Geschehen schwinden auch die Skrupel vor seiner Ausschmückung: Während Gömara sich noch recht vorsichtig ausdrückt ("creo que..."), verwandelt Bernal den Bericht in eine szenische Darstellung. Nun, wo die Fronten zwischen Siegern und Besiegten geklärt und die blutbeschmierten Opfersteine beseitigt sind, ist es vorstellbar geworden, daß ein Spanier in engem, sogar familiärem Kontakt mit den Indios stehen und trotzdem seinen Glauben bewahren kann. Die von Gömara betonte Scham über das tätowierte Gesicht verharmlost Bernal durch die unbefangen formulierte rhetorische Frage, die er Gonzalo in den Mund legt. Dieser steht mit seinen spanischen 'Brüdern' ebenso wie mit den Mayas in einem freundschaftlichen Verhältnis. Dabei wirkt er wie ein Vermittler zwischen den beiden Parteien und nicht wie ein Verräter, obwohl Bernal ihm die Verantwortung für den Widerstand der Mayas gegen die Truppen von Francisco Hernändez de Cordoba und Juan de Grijalva in den Jahren 1517 und 1518 zuschreibt. Bernal ergänzt Aguilars Unterredung mit Guerrero durch ein weiteres Detail: Dessen Frau, die Tochter eines Kaziken, schimpft den ungelegenen Besucher selbstbewußt einen Sklaven und verbietet ihm, ihren Mann weiter zu belästigen. So wird das Motiv der schändlichen Beziehung zur Heidin vom Erotisch-Sündigen weg in den Küchendunst des gemeinsamen Alltags an Heim und Herd verlagert und bekommt eine burleske Note: Gonzalo gilt als ein gefährlicher Stratege, "inventor que nos diesen
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Nach Adorno erfüllt diese auf Harmonie bedachte Darstellung die Funktion, die Praxis des mestizaje aufzuwerten und darüber hinaus die Konquistadoren und encomenderos gegenüber der Krone als vertrauenswürdige Freunde der Indios zu präsentieren. (Vgl. Adorno 1996, S. 917.) Es ist indessen fraglich, ob ausgerechnet Gonzalo Guerrero. eine mehr legendäre als historische Gestalt, die paradoxe Rolle des gütigen Eroberers gegenüber dem spanischen Hof überzeugend verkörpern konnte, nachdem Las Casas den Machtmißbrauch durch die Konquistadoren und encomenderos als verbreitetes Übel angeprangert hatte.
63 la guerra que nos dieron", 127 bei wichtigen Entscheidungen hat die resolute Gattin jedoch ein Wörtchen mitzureden. Nach Rolando Romero erklären sich die Unstimmigkeiten in den biographischen Aussagen über die Figur damit, daß die Eroberer sie zu ihrer Rechtfertigung benutzten: Sie entschuldigten ihre Schwierigkeiten bei der Eroberung Yucatans und anderer Gebiete dadurch, daß ihnen dort mit Gonzalo Guerrero ein spanischer, also gleichwertiger Kontrahent gegenüberstehe. Umgekehrt konnte Andrés de Cereceda mit der Nachricht vom Tod des berüchtigten Widersachers den Eindruck erwecken, daß in dem ihm unterstehenden Gebiet nun jeglicher Aufruhr erstickt sei.128 Romero vermutet außerdem, daß die weite geographische Verbreitung von Gonzalos Geschichte sowie die verschiedenen Namen, die man ihm zuschreibt, darauf zurückgehen, daß nicht einer, sondern mehrere Spanier auf der Seite der Indios kämpften. Während er einerseits unter Verweis auf die poststrukturalistische Diskurstheorie den Wirklichkeitsbezug der Chroniken demonstrativ in Frage stellt,129 geht er andererseits stillschweigend davon aus, daß dem Stoff ein reales historisches Geschehen zugrundeliege. Man kann die Verbreitung des Stoffes aber einfach mit seiner Popularität erklären. Letztlich beruht ohnedies jede Aussage über Gonzalo Guerrero auf Spekulation: José Rico betont zu Recht, daß der erste und einzige direkte Informant, der Geistliche Jerónimo de Aguilar, die Figur des abtrünnigen Eroberers einfach erfunden haben kann, um den Verdacht von sich abzulenken, während des langen Aufenthalts in Yucatan womöglich selbst heidnische Sitten gepflegt zu haben. 130 127 128
Ebd., S. 85. Vgl. Rolando J. Romero, "Texts, Pre-Texts, Con-Texts: Gonzalo Guerrero in the Chronicles of Indies", in: Revista de Estudios Hispánicos, Bd. 26, Nr. 3, 1992, S. 345-367. Es ist allerdings zu bezweifeln, daß Cereceda den Leichnam des seit mehr als zwanzig Jahren unter Mayas lebenden Spaniers identifizieren konnte, wenn Aguilar schon 1519, nur acht Jahre nach dem Schiffbruch, von Cortés' Leuten nur deshalb als Landsmann erkannt wurde, weil er spanisch sprach. Im übrigen erstreckt sich der Gonzalo zugeschriebene Widerstand über ein zu großes Gebiet, als daß er ihn allein organisiert haben könnte.
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Vgl. ebd., S. 346f. Vgl. José Rico, "Gonzalo Guerrero in the Border of the Spanish lmaginary", Paper prepared for delivery at the meeting of the Latin American Studies Association, Guadalajara, 1997, S. 1-9, hierzu S. 5ff. (Manuskript im Besitz des IberoAmerikanischen Instituts in Berlin.) Dies unterstellt auch Enrique Buenaventura in
64 Die Darstellungen von López de Gomara und Bernal Díaz bilden die Grundlage für spätere Variationen des Stoffes. 131 Wenn man sich heute noch bzw. wieder an Gonzalo Guerrero erinnert, so vor allem deshalb, da er als Musterbeispiel des conquistador-conquistado gelten kann: Seine Gestalt repräsentiert die Durchlässigkeit der spanischen für die indigene Kultur. Die kulturelle Hybridität der Figur legt eine Deutung der Conquista als wechselseitige Einflußnahme nahe - in Abgrenzung zu Octavio Paz' Laberinto de la soledad bezeichnet Romero Guerrero als eine "counter Malinche": Gonzalo Guerrero is thus proof that the encounter produced bilateral changes. Gonzalo Guerrero as a counter Malinche serves, in my opinion, as a new model of cultural syncretism. This model is based not on the violation and destruction suggested by Paz's Malinche, but on the respect and the willing acceptance of the culture of the Other. Guerrero as a counter model to the conquest shows that the territory the Spaniards found on their way to the Orient changed both the Old and the New World. As Eugenio Aguirre states in his novel, for purposes of a contemporary vision of cross-cultural communication, it matters very little whether Gonzalo's name was Gonzalo Aro9a, Gonzalo de Morales, Gonzalo Marinero, or yes, even Gonzalo Guerrero.132 In der Tat erscheint die Frage nach Gonzalos wirklichem Namen als nebensächlich, da die Gestalt weniger auf eine konkrete, individuell erlebte Realität verweist als auf die Imagination der Konquistadoren. Die Interpretation der Figur als Chiffre eines wechselseitigen Kulturkontakts eröffnet eine Alternative zu Octavio Paz' Version der Conquista als Weg in die Einsamkeit. Die Taufe des Kriegers als "counter Malinche" hat eine dem burlesken Theaterstück Crónica: La enrevesada historia de Gonzalo Guerrero y Jerónimo de Aguilar (in: Los papeles de! infierno y otros textos, México: Siglo XXI, 1990) Komischerweise stellt Romero seinem Aufsatz ein entsprechendes Zitat aus diesem Stück voran, ohne anschließend darauf einzugehen: "Sos un fantasma. guerrerito...te inventaron los indios... Te inventó Jerónimo de Aguilar." (Buenaventura 1990, S. 267, zitiert nach Romero 1992, S. 345.) 131 Adorno nennt u.a. Francisco Cervantes de Salazar, Crónica de la Nueva España (1559-1566), Diego de Landa, Relación de las cosas de Yucatán (1563-1573) und Antonio de Solís y Rivadeneira, Historia de la conquista de México (1684). (Vgl. Adorno 1996, S. 918ff.) 132 Romero 1992, S. 363. Er bezieht sich auf Eugenio Aguirres Roman Gonzalo Guerrero (1980).
65 im doppelten Sinne utopische Konnotation - sie suggeriert eine Aufhebung der Hierarchie zwischen der spanischen und der indigenen Kultur und analog dazu zwischen Frau und Mann.
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II. (Post-)koloniale Identitätsmodelle
1. Das Verhältnis zum Autochthonen a) Rasse und Geschlecht im Roman des 19. Jahrhunderts Als sich die Kreolen im 19. Jahrhundert die Frage stellen: 'Wer sind wir?' bzw. 'Wie möchten wir sein?', entwirft Domingo Faustino Sarmiento als Antwort darauf ein emanzipatorisches Projekt: Es gilt die Rückständigkeit, das Erbe der spanischen Kolonialherrschaft, durch ein Aufklärungsprogramm zu überwinden. Durch Wissenschaft und Erziehung soll der Fortschritt herbeigeführt werden; Frankreich und Großbritannien dienen als Vorbild auf dem Weg zur Modernisierung. Sarmiento formuliert in diesem Zusammenhang die Antithese von civilización y barbarie. Im 19. Jahrhundert steht barbarie für Irrationalität, Wildheit, Ursprünglichkeit - für all das, was mit der von Europa vorgelebten civilización unvereinbar scheint: Für den Argentinier Sarmiento ist es die Landbevölkerung, personifiziert in der Figur des Gaucho, nach den sozialdarwinistischen Rassentheorien sind es der Indio und der Mestize. Dem Mestizen wird unterstellt, die negativen Eigenschaften verschiedener Rassen in sich zu vereinigen; Rassenmischung gilt per se als minderwertig, die biologische Reinheit (der weißen Rasse) als das Ideal. Abhilfe erhofft man sich von einem biologischen und geistigen blanqueamiento durch Einwanderung aus Europa und die Übernahme der dort entwickelten Modernisierungstendenzen. Im Prinzip macht man also den indianischen Bevölkerungsanteil für die - tatsächliche oder vermeintliche Rückständigkeit verantwortlich.131 Andererseits leitet man jedoch nach 133
Während Sarmiento den G a u c h o als Vertreter einer natürlichen Lebensform ambivalent, nämlich einerseits negativ und andererseits positiv darstellt, betrachtet er Indios und gemischtrassige Amerikaner ausschließlich negativ als fortschrittsfeindliches Element. Vgl. Dieter Janik, "Civilización y Barbarie. D i e Entwicklungsproblematik in der kulturkritischen Literatur Spanischamerikas im 19. und 20. Jahrhundert", in: Ders., Stationen der Spanischamerikanischen Literatur und Kulturgeschichte: Der Blick der anderen, der Weg zu sich selbst, Frankfurt a.M.: Vervuert 1992, S. 6 9 - 8 4 , hierzu S. 73f. In M e x i k o wird d e m Indio als rebellischem Außenseiter d a g e g e n der Mestize als positive Inkarnation des Autochthonen gegenübergestellt.
68 jahrhundertelanger kolonialer Fremdbestimmung aus dem indigenen Ursprung ein neues Selbstbewußtsein ab.134 Zum Aufbau eigenständiger Nationalliteraturen bedienen sich die Romanciers im 19. Jahrhundert gern historischer Stoffe, während sich die wissenschaftliche Aufarbeitung der Conquista und Kolonialzeit erst in den Anfängen befindet. Als Protagonist der Conquista wird der Indio in der Regel positiv dargestellt. In Anlehnung an die aufklärerischromantische Tradition zeichnet die sentimentale literatura indianista die präkolumbische Kultur als eine exotische, heile Welt.135 Die indigene Abkunft der unabhängigen Staaten steht dabei für einen legitimen Ursprung, der der Fremdherrschaft des Kolonisators zum Opfer fiel. Indem man sich in die Tradition der Eingeborenen stellt, nimmt man ihre gleichsam 'natürliche' Legitimität für sich in Anspruch. Daß diese wie die Azteken unter Umständen selbst erst andere vertrieben oder unterworfen hatten, bevor sie ihren 'legitimen' Platz einnehmen konnten, wird dabei ausgeblendet.' 36 Historische Romane über die Eroberung, in denen indianische Protagonisten den legitimen Ursprung verkörpern, entstehen auch in der Karibik, wo anders als in Mexiko, Peru oder Chile der demographische Anteil von Menschen indigener Abkunft seit dem Ende der Conquista ver-
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D i e s e positive Wertschätzung gilt in M e x i k o und Peru dem Erbe der indigenen Hochkulturen, in Chile dem in A l o n s o de Ercillas Araucana verewigten Kampfgeist der gleichnamigen Widersacher der Konquistadoren, und sie findet sich, w i e Christian Wentzlaff-Eggebert gezeigt hat, selbst in Argentinien, dessen Eroberung nicht als Grundlage einer heroischen Überlieferung dienen konnte und erst im 19. Jahrhundert a b g e s c h l o s s e n wurde. Vgl. C. Wentzlaff-Eggebert, "Literaturgeschichtsschreibung als nationale Aufgabe: Die Historia de ¡a Literatura Argentina von Ricardo Rojas", in: Felix Becker, Holger M e d i n g u.a. (Hg.), Iberische ¡Veiten. Festschrift z u m 65. Geburtstag von Günter Kahle, Köln, Weimar u. Wien: Böhlau 1994, S. 6 0 1 - 6 2 0 , s o w i e z u m chilenischen Selbstverständnis ders., "Del s i m b o l i s m o franc é s a la americanidad: Rubén Darío, Azul", in: De místicos y mágicos, clásicos y románticos, Homenaje a Ermanno Caldera, Messina: Armando Siciliano 1993, S. 4 9 9 - 5 1 9 , hierzu S. 513ff.
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Vgl. z.B. die Erzählung Netzula ( 1 8 3 7 ) von José María Lacunza aus Mexiko. Dies ist seit M e n s c h e n g e d e n k e n ein g ä n g i g e s Verfahren: Wie Jan A s s m a n n am Beispiel des alten Ä g y p t e n s erläutert, 'braucht Herrschaft Herkunft' und konstruiert sie unter Rückgriff auf tatsächliche oder imaginäre Ahnen. Vgl. Jan Assmann. Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: Beck 1997 (2. Aufl.), S. 71.
69 schwindend gering ist.137 Die bedeutende schwarze Bevölkerungsschicht spielt in den Karibik-Romanen aus dem 19. Jahrhundert dagegen in der Regel entweder gar keine oder nur eine negative Rolle, analog zu ihrer gesellschaftlichen Diskriminierung. 138 Indem sich die Kreolen spanischer Abkunft auf einen - offensichtlich fiktiven - indigenen Ursprung berufen, erscheinen die Kolonisatoren als Eindringlinge von außerhalb, mit deren Vertreibung auch die kolonialen Hierarchien verschwinden wie ein Schreckgespenst. Wie Domschke erläutert, vermeiden es die Kreolen auf diese Weise, sich mit der kolonialen Mentalität auseinanderzusetzen: Das Konstrukt einer autochthonen Tradition, in deren Rahmen die Kolonialzeit eine Epoche der Fremdherrschaft darstellt, die mit den Unabhängigkeitskriegen - der amerikanischen Reconquista - Uberwunden wurde, erfüllt dabei allzu offensichtlich die Funktion eines Alibis, das einem criollo erlaubt, eine historische Verantwortung für alle negativen Aspekte und Auswirkungen der Conquista von sich abzuweisen und allein den Europäern von damals und heute anzulasten, ohne dabei auf die Identifikation mit dem 'Zivilisierten' des europäischen Erbes zu verzichten. 139
Die Berufung auf den autochthonen Ursprung in Abgrenzung zu den kolonialen Machthabern vermittelt ein positives Nationalgefiihl; in der Praxis wird die indianische Bevölkerung jedoch weiterhin benachteiligt. Im Namen der Gleichheit aller Bürger schaffen die jungen Republiken Peru und Mexiko den Sonderstatus ab, der die Indios in der Kolonialzeit ausgrenzte, ihnen aber auch Schutz gewährte: "L'Indien devient donc
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Vgl. z.B. Yngermina (1844) von Juan José Nieto aus Kolumbien und Enriquillo (1879) von Manuel de Jesús Galván aus der Dominikanischen Republik sowie hierzu Antonio Benitez Rojo, "The nineteenth-century Spanish American novel", in: Roberto González Echevarría u. Enrique Pupo-Walker (Hg.), The Cambridge History of Latin American Literature, Bd. 1 ( D i s c o v e r y to Modernism), Cambridge: University Press 1996, S. 417-489, S. 465ff. Eine Ausnahme bildet die 'novela abolicionista', in der Schwarze oder Mulatten als edelmütige Liebende dargestellt werden. Ihre bekanntesten Werke, Francisco von Anselmo Suárez y Romero, Cecilia Valdés von Cirilo Villaverde und Sab von Gertrudis Gómez de Avellaneda, alle drei um 1839 entstanden, wurden in Kuba jedoch verboten. Domschke 1996, S. 56, hier mit Bezug auf Octavio Méndez Pereiras Roman Núñez de Balboa. El tesoro del Dabaibe (1934) über die Eroberung von Panama.
70 citoyen et cesse d'exister."140 Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts führt die Mobilisierung der Indios in einer Reihe von Kriegen in Mexiko, Peru und Bolivien jedoch dazu, daß sie sich organisieren und sich dem Staat durch bewaffnete Aufstände in Erinnerung bringen. Als Reaktion auf diese Unruhen entsteht in Mexiko um 1860 der Indigenismus als eine politische Bewegung. Sein Anliegen ist es, die Indios zu integrieren, um eine homogene Gesellschaft und damit einen einigen Staat zu schaffen - nach Henri Favre bildet die indigenistische Ideologie die in Lateinamerika gängigste Form von Nationalismus.14' Beeinflußt durch den Positivismus und in Abgrenzung zum Sozialdarwinismus vertritt der Mexikaner Francisco Pimentel die Theorie, daß die indianische Rasse nicht per se minderwertig, sondern nur durch äußere Umstände an der Entwicklung gehindert worden sei.142 Die Lösung des sozialen Problems sieht man in Mexiko allerdings nicht in der Emanzipation der Indios, sondern in ihrer biologischen Vermischung mit dem Rest der Bevölkerung: Der Mestize wird zum nationalen Hoffnungsträger erhoben. Seine Darstellung im mexikanischen Roman offenbart einen Zwiespalt zwischen Akzeptanz der Rassenmischung und Rassismus. Die titelgebende Heldin aus La mestiza (1861) von Eligió Ancona entspricht dem europäischen Phänotyp und weist sich dadurch als zivilisiertes Mitglied der Gesellschaft aus, während die aufrührerischen Indios das Gemeinwesen gefährden, entsprechend der Opposition von civilización und barbarie. Dieser literarische blanqueamiento des Mestizen verleugnet den indianischen Beitrag zum mestizaje. Offenbar kam Ancona damit der Erwartung des Publikums entgegen - das Buch wurde 1891, 1927 und 1950 neu aufgelegt. Seine Handlung reproduziert ein allegorisches Schema, 140
Henri Favre, L'indigénisme, Paris: Presses Universitäres de France 1996, S. 26. Das Verbot kollektiven Grundbesitzes durch die liberale G e s e t z g e b u n g trifft die Kirche, insbesondere aber die indianischen K o m m u n e n , denn als Einzelpersonen gelingt es den Indios nicht, das ihnen nun zugeteilte Land gegenüber den Großgrundbesitzern zu verteidigen. D i e s e verkaufen ihnen überteuerte Waren, machen sie zu lebenslangen Schuldnern und bringen sie auf diese W e i s e in eine Abhängigkeit, die die offiziell verbotene Leibeigenschaft de facto fortsetzt. Im Endeffekt verschlechtern sich die Lebensbedingungen der Indios mit der Unabhängigkeit.
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Vgl. ebd.. S. 4. Vgl. Francisco Pimentel, Memoria sobre las causas que han originado la situación actual de la raza indígena y medios de remediarla (1864). s o w i e hierzu Favre 1996, S 30ff.
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das im lateinamerikanischen Roman bis Mitte des 20. Jahrhunderts anzutreffen ist: Ein Mann und eine Frau scheinen füreinander bestimmt, ihre Verbindung scheitert aber zunächst daran, daß einer der beiden sich zu einer anderen Person hingezogen fühlt. Am Ende jedoch disqualifiziert sich der Rivale oder die Rivalin wegen moralischer Verfehlungen und die beiden Helden gehen eine glückliche Ehe ein. Die lateinamerikanischen Liebesgeschichten des 19. Jahrhunderts haben eine konkrete didaktische Funktion mit Blick auf das nation-building - nicht zufallig sind die Autoren oft Schrifsteller und Politiker in einer Person. Wortführer der jungen Staaten wie Andrés Bello in Venezuela und Ignacio Altamirano in Mexiko riefen ausdrücklich dazu auf, die Literatur zum Entwurf politischer Visionen zu nutzen.143 Um klare Botschaften zu vermitteln, benutzen die Verfasser einen einheitlichen Code, trotz der unterschiedlichen nationalen und politischen Gegebenheiten, zu denen sie mittels der Fiktion Stellung nehmen: Die Protagonisten dieser erotischen Konflikte repräsentieren unterschiedliche ethnische, soziale oder politische Gruppen. Die romantisch motivierte Eheschließung steht für ein politisches Bündnis oder die Entscheidung zugunsten einer dieser Gruppen - die Familie wird zum Bild für den idealen Staat, politisch stabil, wirtschaftlich produktiv und in sozialem Frieden. Doris Sommer bezeichnet die lateinamerikanischen Romane des 19. Jahrhunderts treffend als foundationalßctions.'44 In La mestiza beispielsweise erliegt die schöne Heldin Dolores den Verfiihrungskünsten des spanisch-blütigen Haziendabesitzers Pablo, der sie jedoch im Stich läßt, als sie schwanger wird. Der Mestize Esteban, ein einfacher Mann aus dem Volk, beweist dagegen Edelmut, indem er die Entehrte zur Frau nimmt. Zuguterletzt bereut der todkranke Pablo sein unmoralisches Verhalten und vermacht dem unehelichen Sohn sein Erbe - in friedlicher Einigung mit den entmachteten spanischen Kreolen entwickeln sich die Mestizen zu einer selbstbewußten Gemeinschaft und steigen an die Spitze des Staates auf. Aus dieser "Vision sozialer Harmonie'" 45 sind nur die als
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Vgl. Benitez Rojo 1996. S. 417-425. Vgl. Doris Sommer, Foundational Fictions. The National Romances of Latin America, Berkeley u.a.: University of California Press 1991. Karl Hölz, Das Fremde, das Eigene, das Andere: die Inszenierung kultureller und geschlechtlicher Identität in Lateinamerika, Berlin: Erich Schmidt 1998, S. 99.
72 zerstörungswütig diffamierten Indios ausgeschlossen, wie Karl Hölz bemerkt. Wie Sommer und Hölz betonen, verknüpfen die Autoren der foundational fictions ethnische Hierarchien mit dem Diskurs der Geschlechterdifferenz, um ihre Vorschläge zur Lösung politischer und sozialer Konflikte in Szene zu setzen: So ist die Romanheldin meist von passivem, unschuldigem Wesen, darüber hinaus häufig in einer sozial schwachen Stellung, z.B. als Waisenkind, und daher darauf angewiesen, daß ein verantwortungsbewußter Mann sie zur Gattin nimmt. Die aktive Frau, die ihrem Begehren selbstbewußt Ausdruck verleiht (lies: die rebellische soziale Gruppe), erscheint als ihr negatives Gegenbild.146 Dem moralisch vorbildlichen Liebenden kann seinerseits ein verwerflicher Rivale gegenüberstehen, als Personifikation einer mißliebigen politischen Gruppierung. Der ehrbare Liebende (lies: der integre Staatsmann) verfolgt jedoch in der Regel dasselbe wie sein Konkurrent: die Konsolidierung einer patriarchalischen Ordnung, in der der Familienvorstand der Frau und den Kindern - bzw. das Staatsoberhaupt den verschiedenen Rassen und sozialen Schichten - eine feststehende Rolle zuweist. Durch die künstliche Opposition zwischen den beiden Anwärtern um die Gunst der Nation wird das paternalistische Modell als Alternative zu einer verantwortungslosen Regierung ausgegeben.147
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Vgl. H ö l z 1998. S. 84fT. S o m m e r 1991 s o w i e dies., "Not just any narrative: How R o m a n c e can love us to death", in: Daniel Balderston (Hg.). The historical novel in Latin America, Tulane University: Ediciones Hispamerica 1986. S. 47-73. Im 19. Jahrhundert etabliert sich im städtischen Bürgertum eine feste Rollenverteilung: Der Frau kommt die A u f g a b e zu, den Haushalt zu führen - ihr Wirkungskreis beschränkt sich auf die Sphäre des Privaten, damit sich der Mann ganz auf die berufliche Tätigkeit im öffentlichen Bereich konzentrieren kann. Rousseaus Idealisierung der Natur entspricht ein analoges Bild der Frau: Während dem Mann die D o m ä n e der Kultur untersteht, bewahrt sie den Zugang zum verlorenen Paradies der N a h r haftigkeit. A l s G e g e n b i l d zur männlichen Selbstbestimmung wird sie aus dem Fortschrittsprojekt der Aufklärung ausgeschlossen - die ihr zugedachten Attribute wie Anmut, Empfindsamkeit und Tugendhaftigkeit konnotieren Zurückhaltung und Fügsamkeit, die N a h r h a f t i g k e i t dagegen eine Anfälligkeit für moralische Korruption.
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Vgl. S o m m e r 1986. Das allegorische Paradigma der foundationalßction wird erst durch die nueva novela abgelöst - La muerte de Artemio Cruz ( 1 9 6 2 ) von Carlos Fuentes liefert ein Gegenbild zur Allegorie der Ehe als nationale Versöhnung. (Vgl. S o m m e r 1991, S. 2 8 f . ) N a c h S o m m e r s Ansicht war dieses Paradigma allerdings von
73 Die Initiative zum Aufschwung Lateinamerikas aus der kolonialen Unmündigkeit kann in diesem Sinne nur vom Mann als Subjekt des Zivilisationsprozesses ausgehen. Im Gegensatz zur Frau wird der indianischen Rasse in Mexiko ein Fortschrittspotential zwar theoretisch zugebilligt, in der Praxis wird sie jedoch weiterhin ausgegrenzt. Das aufklärerische Projekt einer Volkserziehung scheitert an einem überkommenen hierarchischen Denken.
b) Mestizierung und Indigenismus im Dienst der Nation Mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert kehren Schriftsteller wie José Martí, Rubén Darío und José Enrique Rodó die Opposition zwischen civilización und barbarie zugunsten Lateinamerikas um. In Abgrenzung zu Europa und den USA propagieren sie ein neues Selbstbewußtsein: Der Pragmatismus und Materialismus der westlichen Welt werden nun ihrerseits als barbarisch verurteilt - statt fremden Idealen nachzueifern solle sich Lateinamerika durch die Besinnung auf eigene Werte zum Modell einer wahren Zivilisation erheben. Dem individualistischen Gewinnstreben der angelsächsischen Welt werden eine lebendige Religiosität und die
Anfang an für Brüche anfällig, die die klaren Fronten zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit in Frage stellten. Hölz dagegen sieht in den Überschreitungen der Geschlechterrollen in der Literatur des 19. Jahrhunderts keine Subversion des Rollendiktats. sondern seine indirekte Bestätigung. (Vgl. Hölz 1998, S. 103fT.) Welche Deutung zutrifft, ist - wenn überhaupt - nur im Einzelfall und bei genauer Prüfung des jeweiligen Kontexts von Textproduktion und -rezeption zu entscheiden. Während Hölz seine Analyse der Literatur des 19. Jahrhunderts jedoch auf Mexiko beschränkt (ohne Sommers bereits vorliegende Arbeiten zur Kenntnis zu nehmen), entwickelt Sommer anhand einer breiten Auswahl von eingehend interpretierten Texten (u.a. Amalia. Sab, Maria, El Zarco und Enriquillo) einen Überblick über die unterschiedlichen nationalen Gegebenheiten und deren Niederschlag im Roman. Ihre Konzentration auf allegorische Konstanten auf der einen Seite und Abweichungen von Land zu Land und Text zu Text auf der anderen führt zu differenzierteren Hrgebnissen als Hölz' Tendenz, die Texte als direkte Entsprechung von Rousseaus Äußerungen zur Geschlechterdifferenz auszulegen. (Diese sind im übrigen weniger eindeutig, als es den Anschein hat. Vgl. Bettina Sklorz-Kugler, '"Die Welt ist das Buch der Frauen'. Lektüre und Geschlechterkonzeption bei Jean-Jacques Rousseau", in: Katharina Hanau, Volker Rivinius u.a. (Hg.), GeschlechterDifferenzen, Bonn: Romanistischer Verlag 1999, S. 51-59.)
74 Sorge um die Menschlichkeit als Fundament einer überlegenen Kultur gegenübergestellt. 148 Bei der Suche nach einer spezifisch amerikanischen Selbstbestimmung wird die ethnische und kulturelle Mischung, im 19. Jahrhundert noch als notwendiges Übel empfunden, nun positiv gewertet. In den 20er Jahren erhebt der mexikanische kulturphilosophische Diskurs den mestizaje zum wesentlichen Merkmal der lateinamerikanischen Identität. Während die Opposition zwischen hispanidad und indianidad im Anschluß an Sarmiento als unvereinbar galt, avanciert die Synthese heterogener kultureller Elemente nun zu einem utopischen Modell sozialer Harmonie und künstlerischer Kreativität.14'' 1925 idealisiert José Vasconcelos den Indio als Fundament einer universalen raza cósmica von Mestizen. Er bezieht sich damit jedoch nicht auf die zeitgenössische indianische Bevölkerung Mexikos, sondern auf eine abstrakte Vorstellung, ein unbestimmtes Ideal des Autochthonen. Der im Roman des 19. Jahrhunderts angelegte metaphorische Bezug auf den präkolumbischen Indio als Vertreter eines legitimen Ursprungs wird auf diese Weise in den kulturtheoretischen Diskurs übertragen. Der Zwiespalt zwischen der ideologischen Überhöhung und der praktischen Geringschätzung des indianischen Erbes wird darin nicht thematisiert. Nach Borsö bietet das metaphorisch gebrauchte Schlagwort der Mestizierung als Harmonisierung sozialer und kultureller Differenzen "eine versöhnliche Formel, die die Existenz von konkret zu lösenden sozialen Konflikten allzu leicht vergessen läßt".150 Im 20. Jahrhundert verfolgt die indigenistische Politik nicht mehr primär die biologische, sondern die kulturelle Integration. Dabei impliziert die Devise einer Akkulturation zwar einen wechselseitigen Einfluß, praktisch besteht das Ziel der staatlichen Integrationspolitik, die nun dem Beispiel Mexikos folgend allenthalben immer konsequenter betrieben wird, aber darin, eine kapitalistische Modernisierung durchzuführen: Im Zuge der Industrialisierung wird der Indio als mobile Arbeitskraft und
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Vgl. die Essays Nuestra América (1891) von Martí und Ariel (1900) von Rodó sowie das Gedicht "A Roosevelt" aus Cantos de vida y esperanza (1905) von Darío. Vgl. hierzu Borsó 1994, Kap. IV ("Die Mestizierung: Das kulturelle Identitätsmodell Hispanoamerikas im 20. Jahrhundert"), S. 114-140. Ebd., S. 124.
75 Konsument gebraucht.151 Seine gesellschaftliche Integration funktioniert solange, bis die Wirtschaftskrise in den 80er Jahren zu einer hohen Arbeitslosigkeit führt. Diese trifft die Indios mit besonderer Härte, denn die Modernisierung ihrer Lebenswelt ist auf halbem Wege stehengeblieben: Die dörflichen Gemeinschaften und die in die Stadt abgewanderten Indios leben heute nicht nur in Armut, sie haben vielfach ihre kulturelle Identität und damit den sozialen Halt verloren. Während die Reste der präkolumbischen Zivilisation in Mexiko in aufwendigen archäologischen Museen als Aushängeschild des Landes präsentiert werden, hat die indigenistische Politik die kulturellen Differenzen einseitig nivelliert. Die mexikanische Wirklichkeit am Ende des 20. Jahrhunderts entlarvt die Überhöhung des Indios als Schimäre, ebenso wie das Bild des Mestizen als Vorzeigebürgers eines vermeintlich egalitären Staates. 1 " Seit dem Scheitern des staatlich verordneten Indigenismus, der seine Aktivitäten in den 80er Jahren schon allein aus finanziellen Gründen reduzieren muß, nehmen indianische Bewegungen die Durchsetzung ihrer Belange selbst in die Hand. Ihr Ziel ist es, Ethnien, die in kurzer Zeit jahrhundertealte Traditionen aufgegeben haben, ein Gemeinschaftsgefühl zurückzugeben, das die Voraussetzung für die Durchsetzung politischer 151
152
Vgl. Favre 1996. S. 36-43 u. S. 78-105. Zu diesem Zweck wird die faktische Leibeigenschaft der Indios auf den Haziendas abgeschafft und ihnen Landbesitz ermöglicht. Durch Alphabetisierung. Spanischunterricht, Schulbildung und technische Unterstützung fördert man ihre landwirtschaftliche Produktion und ermöglicht es ihnen andererseits, in den Städten Arbeit zu finden, denn Lateinamerika weist von 1940 bis 1970 ein stetiges Wirtschaftswachstum auf. Von der ländlichen Entwicklungshilfe profitieren allerdings weniger sie selbst als diejenigen, die sie nach wie vor ausbeuten, denn die Kntwicklungspolitik ändert nichts an den gesellschaftlichen Strukturen. faktisch konzentrieren sich Geld, Bildung und Macht auf die in den städtischen Zentren residierende Oberschicht, einen nur langsam wachsenden Mittelstand und die Großgrundbesitzer, die allein fast die Hälfte des gesamten Gewinnes aus der Landwirtschaft einnehmen. Die Oberschicht ist tendenziell eher europäischer als indianischer Abkunft. Dabei beträgt der Anteil der Mexikaner europäischer Abkunft heute maximal 15%, während die Mestizen über die Hälfte und die Indios etwa ein Viertel der Bevölkerung ausmachen. Die Masse der Bevölkerung lebt in Armut. Die Hoffnung auf berufliche und soziale Aufstiegschancen in der Stadt hat eine enorme Landflucht verursacht - mittlerweile leben zwei Drittel aller Mexikaner in den Urbanen Gebieten, nahezu die Hälfte der Stadtbevölkerung in elenden Verhältnissen. (Vgl. den Mexiko-Artikel der Encyclopedia Britannica 1999)
76 Anliegen ist. Im Gegensatz zum Indigenismus lehnen die sogenannten indianistischen Organisationen die Akkulturation und das Prinzip des ethnisch homogenen Nationalstaats kategorisch ab. Der Indianismus hat zumindest auf dem Papier - beachtenswerte Erfolge erzielt und wird weltweit anerkannt: Mexiko hat 1991 das Bekenntnis zum multikulturellen Charakter des Landes in seine Verfassung aufgenommen und die Quiché-Indianerin Rigoberta Menchú aus Guatemala erhielt 1992 den Friedensnobelpreis, um nur zwei Beispiele zu nennen.153 Die indianischen Autonomiebestrebungen werfen allerdings einige grundlegende Probleme auf: W i e soll auch eine multikulturelle und pluriethnische Gesellschaft aufgebaut werden, w o 5 0 0 Jahre lang Ethnozentrismus und Rassismus an der Tagesordnung waren? [...] W i e soll die indigene Forderung nach gleichberechtigtem Z u g a n g zur Modernität bei g l e i c h z e i t i g e m Festhalten an ethnischer Identität und historischer Kontinuität realisiert werden? 1 5 4
Die postindigenistische kulturtheoretische Diskussion beschäftigt sich mit derartigen Fragen. Parallel zum offiziellen Diskurs der mexicanidad entstehen jedoch alternative Konzepte des mestizaje, die unter Identitätsbildung einen dynamischen, gleichberechtigten Dialog zwischen heterogenen kulturellen Elementen verstehen, nicht die dialektische Auflösung einer binären Opposition zwischen dem Eigenen und dem Anderen zu einer dauerhaften Synthese.155 In diesem Sinne fordert der Anthropologe 153 154
155
Vgl. Favre 1996, S. 106-124. Raimund Allebrand u. Walther L. Bernecker. "Zwischen Widerstand und ethnischem Aufbruch. Indianische Renaissance in Lateinamerika", in: Aus Politik und Zeitgeschichte (Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament), B 48-49/96, 22.11.1996, S. 19-29, hier S. 29. Borst) nennt in diesem Zusammenhang Pedro Menriquez Ureña, José Revueltas, Alfonso Caso und Leopoldo Zea. (Vgl. ebd., S. 119f u. 132ff.) Außerdem lobt sie Roberto Fernández Retamars Studie über das Caliban-Motiv bei Shakespeare u.a. als frühen Ansatz zu einer Kritik der Opposition zwischen civilización und barbarie. Retamars dogmatische marxistisch-leninistische Argumentation schafft jedoch neue Oppositionen und kann der postkolonialen Theorie daher nicht als Vorbild dienen. Vgl. Borsö 1994, Anm. 7 auf S. 116, sowie Santiago Castro-Gómez' Kritik an Retamars antikolonialem Diskurs in "Geografías poscoloniales y translocalizaciones narrativas de 'lo latinoamericano'", in: Roberto Follari u. Rigoberto Lanz (Hg.), Enfoques sobre posmodernidad en América Latina. Caracas: Fondo Editorial Sentido 1998, S. 155-182, hierzu Anm. 39 auf S. 180.
77 Guillermo Bonfil Batalla die Anerkennung des verleugneten México profundo, der indigenen kulturellen Tradition. 156 Unter den neueren kulturtheoretischen Ansätzen ist außerdem Néstor García Canclinis vieldiskutiertes Modell der culturas híbridas hervorzuheben. García Canclini geht es darum, der konfliktiven Vielfalt lateinamerikanischer Gesellschaften im Spannungsfeld prä- bis postmoderner, ländlicher und städtischer sowie massenmedialer und elitärer Kulturformen gerecht zu werden. Entscheidend ist dabei die Offenheit des Konzeptes der Hybridität gegenüber dem normativen Modell des mestizaje im Sinne einer einheitlichen und national verbindlichen Auffassung von Kultur. Garcia Canclini sieht in der globalen (Post-)Modernisierung die Chance zu einer demokratischen Integration der indianischen und anderer marginalisierter Kulturformen. 157 Neben der - bis heute populären - exotistischen Idealisierung der präkolumbischen Kultur entsteht Ende des 19. Jahrhunderts die literarische Strömung des Indigenismo, die sich um eine realistische Darstellung der Lebensumstände der Indios bemüht. El Zarco von Ignacio Altamirano (posthum 1900) bildet einen Wendepunkt von der romantischen Verklärung auf der einen Seite und der Diffamierung auf der anderen hin zu einer Aufwertung des Indios mit Blick auf die Gegenwart. Der Held dieses Romans über die Bürgerkriegswirren im Mexiko des 19. Jahrhunderts "era un indio, pero no un indio abyecto y servil, sino un hombre culto, ennoblecido por el trabajo y que tenía la conciencia de su fuerza y de su valer".158 Das bezeichnende 'aber' verweist auf die allmähliche Revision kolonialer Vorurteile. Nicht zuletzt dank der Rezeption des Marxismus in
156 157
Vgl. Guillermo Bonfil Batalla. México profundo. Una civilización negada (1987). Vgl. Néstor García Canclini, Culturas híbridas. Estrategias para entrar y salir de la modernidad (1990). sowie zur Diskussion des Ansatzes die folgenden Aufsätze aus Birgit Scharlau (Hg.). Lateinamerika denken: kulturtheoretische Grenzgänge zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen: Narr 1994: Carlos Rincón, "Die neuen Kulturtheorien: Vor-Geschichten und Bestandsaufnahme", S. 1-35. hierzu S. 22fT, und Irina Buche, "Mexikanische Kulturtheorie zwischen Moderne und Postindigenismus bei Guillermo Bonfil Batalla und Néstor García Canclini", S. 122-131. 158 Vgl. Ignacio Altamirano. Novelas y cuentos, Bd. 2. México 1986, S. 93-421, S. 110. zitiert nach Hölz 1998. S. 106. Als erstes bedeutendes Werk des Indigenismus gilt jedoch Aves sin nido (1889) von Clorinda Matto de Turner.
78 Lateinamerika wird die minderprivilegierte indigene Bevölkerung im 20. Jahrhundert moralisch aufgewertet. 159 Die Romanciers des Indigenismus, selbst nicht indigener Abkunft, üben Sozialkritik mit zuweilen naturalistisch düsteren Bildern der Ausbeutung und des Verfalls, so Alcides Arguedas in Raza de bronce (1919) und Ciro Alegria in El mundo es ancho y ajeno (1941). Ihre mangelnde Kenntnis der indianischen Weltsicht gleichen sie aus durch pittoreske Milieuschilderungen, Exkurse über Legenden, Riten usw. sowie durch sprachliche Anleihen. 160 Handlung und Personengestaltung folgen einem stereotypen Schema - auf der einen Seite das indianische Kollektiv, "une masse indifférenciée d'où se dégage parfois la figure d'un vieux chef, toujours prudent et sage",161 auf der anderen Seite der arrogante und grausame Großgrundbesitzer, ein opportunistischer Mestize als Verwalter, ein lüsterner Geistlicher, ein geldgieriger Kaufmann und ein korrupter Advokat: Le roman se construit sur la base d'une série d'oppositions contrastives: opposition entre Indiens et non-Indiens; entre communauté et domaine; entre la communauté anhistorique qui n'a pas encore subi l'agression des Blancs et des métis, et la communauté historicisée par cette intervention extérieure que provoque sa décomposition et le malheur de ses membres.162 Erst in den 50er Jahren nähern sich José Maria Arguedas und Rosario Castellanos mit einer Psychologisierung der Protagonisten einer Sicht des Indianischen 'von innen' her. Arguedas' Werk gilt als Überwindung des inhaltlich und formal dürftigen Genres. Allerdings charakterisieren sich fast alle indigenistischen Romane, von Clorinda Matto de Turner bis zu Arguedas und Castellanos, durch Pessismismus - jeder Versuch der Indios, ihre Situation zu verbessern, ist zum Scheitern verurteilt, eine friedliche Koexistenz der beiden Parteien scheint unmöglich. Eine weitergefaßte Definition des Indigenismus versteht darunter den mit Kolumbus einsetzenden pro-indianischen Diskurs von Weißen und Mestizen über den Indio: "L'indigénisme charrie la mauvaise conscience 159 160 161 162
Vgl. Favre 1996. S. 43-49. Favre spricht von einem "folklorisme ethnologisant". (Ebd., S. 55) Ebd., S. 58. Ebd.
79 des conquérants européens, des colons créoles et des métis envers les Indiens sans l'évacuer jamais." 163 Sympathie und Antipathie bilden hier jedoch zwei Seiten einer Münze: Hinter der scheinbar eindeutigen Opposition zwischen civilización und barbarie verbirgt sich ein doppelter Zwiespalt - eine Haßliebe, die sowohl das Autochthone, spezifisch Amerikanische, als auch das Fremde gleichzeitig überhöht und verachtet. Denkt man im übrigen daran, daß der Indio in lateinamerikanischen Identitätsdiskursen häufig das Autochthone an sich personifiziert, gelangt man mit Walter Bruno Berg zur Definition des Indigenismus als "conjunto de los enunciados cuyo tema es - de cualquier modo que sea - la 'autoctonía'". 164 In der nueva novela des Boom spielt der Indio kaum noch eine Rolle. Im Zuge der ab Mitte des 20. Jahrhunderts forcierten Integrationspolitik und Modernisierung übernimmt die nun professionell vorgehende Anthropologie die Erforschung und Darstellung der indigenen Lebenswelt, die sich der Roman zur Aufgabe gemacht hatte. Als essentialistischer Diskurs über den Anderen bzw. über sich selbst setzt sich der Indigenismus jedoch im Diskurs des Magischen Realismus fort. Seine dominante Stellung in der Identitätsdiskussion verliert er indessen durch Entwürfe einer hybriden Identität u.a. bei Jorge Luis Borges und in der an Borges anschließenden literarischen Tradition.
c) Magischer Realismus und Postkolonialismus Die Idealisierung indianischer Frühkulturen in der mexikanischen Kulturtheorie des frühen 20. Jahrhunderts koinzidiert nicht zufallig mit der Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies in den europäischen Avantgarden. 165 Die utopische Konzeption des mestizaje, die den Indio mythisiert und sich dadurch von ihm distanziert, hängt mit der romantischen Idealisierung des Ursprungs zusammen, bezeichnenderweise ein zentrales Moment in Octavio Paz' Laberinto de la soledad. Das Gefühl einer Ent163 164 165
F-bd.. S. 3. "Arqueología del indigenismo", in: Scharlau 1994, S. 327-336, S. 330. Vgl. Borsö 1994. S. 119, in Anlehnung an Michael Rössners Studien über das Motiv vom verlorenen Paradies und seine Projektion auf das indigene Mexiko durch Artaud.
80 fremdung von den Ursprüngen bildet die komplementäre Seite des modernen Vertrauens in Rationalität und Fortschritt. Es hat seit der Aufklärung wechselnde Erscheinungsformen angenommen: Rousseaus Idealisierung der Natur, Novalis' Bild der blauen Blume, die Überhöhung des Mittelalters, die Suche nach Erfüllung in spirituellen Bewegungen vom Katholizismus bis zum New-Age und unter anderem auch die nostalgische Verklärung exotischer Kulturen. Die - selten befriedigte - Suche nach einer unverfälschten, authentischen Kultur bildet den roten Faden moderner Reiseberichte: "Modern travel writing is a literature of disappointment."166 Die Begeisterung für das Authentische macht aus der volkstümlichen, 'barbarischen' Seite Lateinamerikas im 20. Jahrhundert den Gegenstand eines ungeahnten Kultes. Der "mito de la 'América mágica"',"' 7 wie Santiago Castro-Gómez es formuliert, beherrscht die Darstellung des Subkontinents aus eigener ebenso wie aus fremder Sicht bis heute. Die Rehabilitierung des Autochthonen wird in Lateinamerika mit einem ästhetischen Diskurs verquickt. 1949 entwirft Alejo Carpentier als Antwort auf den Surrealismus die Utopie des real maravilloso americano als eine 'andere' Wirklichkeit, die sich der westlichen Rationalität entzieht. Das Konzept des real maravilloso ist eng verwandt mit dem sogenannten realismo mágico. Die Forschung hat sich ohne Erfolg um eine Abgrenzung der Begriffe bemüht - durch ihre unreflektierte, inflationäre Verwendung sind sie austauschbar geworden.' 68 Der Begriff des Magischen Realismus stammt von dem Kunstkritiker Franz Roh und bezog sich auf die onirische Atmosphäre in der Malerei von Henri Rousseau, Balthus, Chagall u.a. Carpentier verleiht der ästhetischen Kategorie einer Verfremdung der Wirklichkeit jedoch als erster eine ontologische Dimension. Das berühmte Vorwort zur Erstausgabe von El reino de este mundo (1949) gipfelt in dem folgenden Statement: Y es que, por la virginidad del paisaje, por la formación, por la ontología, por la presencia fáustica del indio y del negro, por la revelación que constituyó su reciente descubrimiento, por los fecundos mestizajes que 166 167 168
Jás Eisner und Joan-Pau Rubiés, "Introduction". in: Dies. 1999. S. 1-56. S. 5. Castro-Gómez 1998, S. 17. Borsö beschließt ihre begriffsgeschichtliche Aufarbeitung der beiden Konzepte mit dem Aufruf, die "Begriffspolemik" über die V e r w e n d u n g von real maravilloso und realismo mágico abzubrechen, die die Lektüre der fiktionalen Texte mit den Vorannahmen der j e w e i l i g e n Begriffe überlagere. (Vgl. Borsö 1994, S. 96).
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propició, América está muy lejos de haber agotado su caudal de mitologías. Pero ¿qué es la historia de América toda sino una crónica de lo real maravilloso?16'' Damit gibt Carpentier der lateinamerikanischen Kunst eine Bestimmung, die sich nicht aus ästhetischen Überlegungen, sondern aus einer vermeintlichen Eigenart des Kontinents ableitet. Die lebendige Präsenz des Mythos in Natur und Kultur, Vergangenheit und Gegenwart Lateinamerikas sei für Außenstehende unfaßbar, offenbare sich einem dafür aufgeschlossenen Bewußtsein hingegen als gleichsam natürliche Dimension seiner Umgebung. Diese Theorie begründet die Prämisse einer kulturellen Authentizität Lateinamerikas in Opposition zur abendländischen Welt. Sie wird zum kleinsten gemeinsamen Nenner einer breiten internationalen Forschung über die Literatur des Magischen Realismus, die den neuen Stil zum Inbegriff der kulturellen Emanzipation von der Alten Welt erklärt, in Anlehnung an die theoretischen Aussagen von Carpentier, García Márquez und anderen Autoren.170 Die von Carpentier und García Márquez angeregte Rezeption der Boom-Literatur als Spiegel einer Wirklichkeit, die sich einen ursprünglichen Charakter bewahrt habe, wurde in Europa bereitwillig aufgenommen und erfolgreich vermarktet. Die vermeintliche Allgegenwart Macondos, des Schauplatzes von Cien años de soledad, in der lateinamerikani169 170
Alejo Carpentier. "De lo real maravilloso americano", in: Tientos y diferencias, Barcelona: Plaza & Janes 1987. S. 6 6 - 7 7 , S. 77. Borsö faßt den Konsens der Forschung wie folgt zusammen: "Die Gemeinsamkeit unterschiedlicher Definitionen des Magischen Realismus liegt in der Annahme, daß mit dem magisch realistischen Genre die Opposition z w i s c h e n der rationalen Logik und der Imagination aufgehoben sein soll, die sich im europäischen - vor allem dem französischen - 19. Jahrhundert in den Gegensatz z w i s c h e n Naturalismus und Phantastik niedergeschlagen hatte: [...] Während die mythische Logik und eine magische A u f f a s s u n g von Wirklichkeit im Abendland Grenzüberschreitung im Medium des Poetischen bedeutet, sollen sie in Hispanoamerika z u m alltäglichen Weltbild gehören und als Manifestation einer autochthonen Bewußtseinsform zu werten sein, die auf die Integration einer magisch-mythischen in eine rationalistische Weltsicht zurückzuführen sei. Solche Bewußtseinsprozesse sollen sich stilistisch auf den Prozeß des Erzählens auswirken: In der Erzählstruktur werden magische Sprache, mythisches Bewußtsein und Elemente des Wunderbaren nicht wie im phantastischen Genre kontrapunktisch zum realistischen Diskurs verwendet, sondern mit diesem vermischt." (Borsö 1994. S. 8 9 )
82 sehen Kunst und Wirklichkeit hat die Komplexität sowohl der nueva novela als auch der Realität sträflich reduziert. Der Glaube an ein 'magisches Amerika' erscheint als zeitgemäße Variante des Topos eines amerikanischen Anderen - je nach Blickpunkt zivilisiert oder barbarisch, auf jeden Fall aber irrational und d.h. aus der Sicht des Westens letztlich nicht ernstzunehmend. Im Gemeinplatz des Magischen Realismus setzt sich die dichotomische Struktur des kolonialen Diskurses fort, der die Beziehung zwischen dem Eigenen und dem Anderen nur als eine binäre Opposition denken kann. Die Deutung des Magischen Realismus als kongenialen Ausdruck einer mythischen Weltsicht erweist sich bei einem unvoreingenommenem Blick auf die Texte als obsolet. In Cien años de soledad (1967) wird die Darstellung eines volkstümlich-irrationalen Lateinamerikas durch intertextuelle Anspielungen, Ironie, Metafiktion und den Seitenhieb auf politische Mißstände relativiert: Der Roman verbindet die spielerische Verarbeitung unterschiedlicher literarischer Traditionen von Rabelais bis Kafka mit der Denunzierung von Machtmißbrauch und der Kritik an einer tendenziösen, mythisierenden Geschichtsschreibung. Der konkrete Bezug auf die (Zeit-)Geschichte kommt in Relato de un náufrago (1970) oder El general en su laberinto (1989) deutlicher zum Ausdruck als in dem 'magisch realistischen' Teil von García Márquez' Schaffen, spielt aber auch dort eine Rolle. So hat die in Cien años de soledad enthaltene Episode des totgeschwiegenen Massakers an den streikenden Arbeitern der Bananenplantage, dessen Spuren im kollektiven Gedächtnis über Nacht getilgt werden, eine unmittelbare politische Implikation. Die Parodie des alttestamentarischen Exodus als Kommentar zum Auszug der Gründerväter Macondos ist dagegen beispielhaft für die Ironisierung von Ursprungsmythen in dem Roman: "Varios amigos de José Arcadio Buendía [...] cargaban con sus mujeres y sus hijos hacia la tierra que nadie les había prometido."171 Auch 171
Madrid: Cátedra 6. Aufl. 1995, S. 107. Utopische Gründerphantasien karikiert außerdem eine tragikomische Reminiszenz an die Jagd nach d e m El Dorado: Bewaffnet mit e i n e m Magneten und dem Elan des Pioniers macht sich José Arcadio auf die G o l d s u c h e und fördert als kläglichen Fund eine Rüstung aus dem 15. Jahrhundert mit einem Skelett darin zutage, nebst einer Haarlocke als Liebespfand. Ein ähnlich g e s p e n s t i s c h e s Bild für Desorientierung und Enttäuschung bildet die gestrandete Karavelle. D i e unselige Eheschließung des Gründerpaars der Buendía,
83 das Leitmotiv des Textes, das metafiktionale Buch im Buch, ist ironisch zu deuten: Die apokalyptische Prophezeiung des Melquíades verweist einerseits auf den Glauben an Weissagung, charakteristisch für die mythische Weltsicht, andererseits aber auf das Konzept der Literatur als Palimpsest, als Nachahmung nicht der Wirklichkeit, sondern anderer Texte. Paradoxerweise ironisiert auch Alejo Carpentier in seinen fiktionalen Texten die mythische Weltsicht, die er in der Theorie des real maravilloso überhöht.172 Erst mit Epigonen wie Abel Posse, Gioconda Belli und Eduardo Galeano setzt eine Banalisierung ein, die mit dem Etikett des Magischen Realismus künstlerische Naivität und Anspruchslosigkeit verbindet. Im Zuge der Postkolonialismus-Diskussion setzt sich eine differenziertere Interpretation des Magischen Realismus durch. Jean-Pierre Durix beschreibt ihn als ein hybrides Genre, das die koloniale Opposition Ratio vs. Primitivität in Frage stellt: 'Magic realism' may o w e as much to surrealism and to the European learned traditions than to 'traditional cultures'. [...] In the form illustrated by García Márquez, it constitutes a counter-discourse w h i c h uses fantasy in a manner reminiscent o f indigenist literature while subverting its premises. Where primitivists provide a vision o f a magic world which is organic and unproblematic, rooted in a made-up authenticity, Garcia Márquez confronts the logic o f fantasy to that o f the positivist c o n c e p t i o n o f realism. The presence o f the t w o radically antithetic - but nevertheless equally essentialist discourses in the s a m e fictional structure results in a mutual questioning o f each one's pretensions to totality and unproblematic sense. 1 ''
Durix' Konzeption des Magischen Realismus orientiert sich explizit an Cien años de soledad sowie an Midnight's Children (1981) und Shame (1983) von Salman Rushdie - als grundlegende Charakteristika des Genres nennt er die allegorische Darstellung der Entwicklung postkolonialer
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überschattet durch die Angst vor einem Kind mit Schweineschwanz, liest sich schließlich als Parodie auf die hispanoamerikanischen foundational fictions mit der glücklichen Familiengründung als Happy End. Siehe hierzu Kap. Ill.2.a) und Kap. IV. Jean-Pierre Durix. Mimesis, Genres and Post-Colonial Discourse. Deconstructing Magic Realism, Houndmills (UK): Macmillan Press 1998, S. 187f.
84 Nationen gepaart mit einem grotesken Realismus und barocker Eloquenz á la Rabelais, im Gegensatz zu "most of Borges' and Cortázar's works which do not have this broad allegorical framework and concern limited environments and a relatively small number of characters". 174 Die Lust am Erzählen in Cien años de soledad und ähnlichen Romanen, überschäumend von Phantasie, Sinnlichkeit, Komik und derber Sprache, wird als Befreiung vom europäischen Literaturkanon und von den sprachlichen Tabus empfunden, mit der die gebildeten Machteliten ehemaliger Kolonialreiche sich von der Masse der Analphabeten und ihrer einfachen Sprache abgrenzten. Durix nimmt die Metapher einer sprachlichen Befreiung der Massen jedoch wörtlich und verfällt damit wiederum in eine ontologische Bestimmung des Magischen Realismus als Ausdruck der unterdrückten Stimme des Volkes: Post-colonial discourse has been suppressed, constricted in the straitjacket of metropolitan speech forms. Once the liberation process starts, it is not easy to put an end to this protean outpouring of voices and peoples. [...] Perhaps the iconoclastic spirit is given a freer rein because of the international climate prevailing since the 1960s. But, more probably, the silent multitudes of the Third World which were kept silent for too long cannot come to life in an ordered manner and post-colonial writers naturally turn to more baroque artistic models.'" Die Definition des Magischen Realismus als postkolonialer Diskurs par excellence droht, sich zu einem neuen Gemeinplatz zu entwickeln, der von dem kanonisierten Muster abweichende literarische Formen ignoriert oder - eine neue Variante - sie sich einverleibt und ihre Eigenart dadurch nivelliert. 176 Die Festlegung postkolonialer Literatur auf ma174 175 176
Ebd., S. 146. Ebd., S. 143. Borges' Rezeption der abendländischen intertextuellen tradition, seine Weigerung, in Kategorien der Authentizität zu denken - programmatisch ausgeführt in Pierre Menard, Autor del Quijote (1939) und seine Problematisierung des Verhältnisses zwischen der Realität und ihrer sprachlichen Abbildung schienen lange Zeit unvereinbar mit dem Magischen Realismus. Neuere Arbeiten bezeichnen Borges und García Márquez nun gleichermaßen als 'magisch realistische' Autoren. Scott Simpkins z.B. reduziert das Verhältnis von Sprache und Realität im Werk von Garcia Márquez und Borges auf die pauschale Formel einer "magical supplementation". (Scott Simpkins, "Sources of Magic Realism / Supplements to Realism in Contemporary Latin American Literature", in: Lois Parkinson Zamora u. Wendy B. Faris
85 gisch-realistische Ausdrucksverfahren bildet per se eine Paradoxie, denn das Wesen des postkolonialen Diskurses besteht in der Ablehnung essentialistischer Definitionen. Durix' Thesen orientieren sich an dem Aufsatz "Magic Realism as Post-Colonial Discourse" von dem Kanadier Stephen Slemon; Slemons Betonung der allegorischen Darstellung von Zeit und Raum als Merkmal des Magischen Realismus erinnert ihrerseits an Fredric Jamesons' Diktum, der Roman der sogenannten Third-World Literature sei grundsätzlich als nationale Allegorie zu lesen.177 Sowohl das Konzept einer 'DritteWelt-Literatur' als auch ihre pauschale Charakterisierung als Allegorie haben energischen Protest ausgelöst, mit Blick auf die lateinamerikanische und andere Literaturen.178 So kritisiert Erna von der Walde, daß Jameson und auch Gayatri Spivak lateinamerikanische Kunst, Magischen Realismus und Allegorie gleichsetzen und auf diese Weise die "mirada macondista" übernehmen, "que tiende a leer a América Latina desde sus productos culturales, desprovistos de contexto".179 Von der Walde begründet den Erfolg von Cien años de soledad in Lateinamerika ähnlich wie Durix, aber mit Bezug auf einen konkreten (llg.). Magical Realism. Theory, History, Community. Durham, London: Duke University Press 1995. S. 145-159.') Man verkennt Borges jedoch, wenn man ihn auf den Autor metaphysischer Erzählungen reduziert und die realistischen, u.a. auch spezifisch lateinamerikanischen bzw. argentinischen Bezüge in seinem Werk übersieht. Vgl. hierzu Daniel Balderston. Out of context. Historical Reference and the Representation of Reality in Borges (1993) und Amelia Barili. Jorge Luis Borges y Alfonso Reyes: la cuestión de ¡a identidad de! escritor latinoamericano (1999). 177
178
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Vgl. Stephen Slemon. "Magic Realism as Post-Colonial Discourse", in: Canadian Literature. Nr. 116. 1988. S. 9-24, sowie den geringfügig aktualisierten Neuabdruck in: Parkinson Zamora, Paris 1995, S. 407-426. und Fredric Jameson. "Third-World Literature in the Lra of Multinational Capitalism", in: Social Text 15, 1986, S. 6588. Vgl. Aijaz Ahmads Kritik an "Jameson's Rhetoric of Otherness and the 'National Allegory'", in: Social Text 17. 1987. S. 3-25, Rosemary Marangoly Georges Stellungnahme zu der Kontroverse in The Politics of Home. Postcolonial relocations and twentieth-century fiction, Cambridge: University Press 1996, hierzu Kap. 4 ("Nostalgie theorizing: at home in 'Third World' fictions") sowie mit Bezug auf die nueva novela Jean Franco, "The Nation as Imagined Community", in: Aram Veeser (Hg.). The New Historicism, New York, London: Routledge 1989, S. 204-212. F^rna von der Walde. "Realismo mágico y poscolonialismo: construcciones del otro desde la otredad", in: Castro-Gómez, Mendieta 1998, S. 1-14, S. 3.
86 geographischen und historischen Kontext: Der Roman habe mit dem normativen Diskurs der ciudad letrada, d.h. in diesem Fall der kolunbianischen Hauptstadt Bogotá, gebrochen.180 Die konservative politsche Elite Kolumbiens, ansässig in der Andenstadt Bogotá, erklärt Ende des 19. Jahrhunderts unter Ausschluß der liberalen Opposition und regionaler Kulturen Katholizismus und korrekten Sprachgebrauch zum Fundament der nationalen Identität. Cien años de soledad setzt diesem pseudonationalen, gespreizten Diskurs - personifiziert durch Fernanda del Carpió, die Frau mit dem goldenen Nachttopf - die volkstümliche Tracition des kolumbianischen Karibikraums entgegen. Die Verspottung der lebensfernen, 'offiziellen' Kultur der gebildeten Oberschicht hat in Lateinamerika über Kolumbiens Grenzen hinaus einen Nerv getroffen und ein neues Selbstgefühl begründet bzw. befestigt den macondismo. Der macondismo kehrt die Hierarchie zwischen Rationalität und Irrationalität um und etabliert an Stelle des Ideals sprachlicher und rassischer Reinheit Volkstümlichkeit und mestizaje als neue Metapher des lateinamerikanischen Wesens. Parallel zu der Vermarktung von Cien años de soledad als Bild einer exotischen Wirklichkeit fuhrt dieser Identitätsdiskurs jedoch zur Verharmlosung der Zustände in einem Lanc wie Kolumbien, das von Drogenmafias und Guerrillakrieg terrorisiert wird. Er unterstützt das Fortbestehen von Gewalt und Unterdrückung durch ihre Mythisierung und hat die Emanzipation der Subalternen, deren Stimme er nach Durix und Slemon freien Lauf gibt, letztlich wohl eher behindert als gefördert.181
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181
Vgl. ebd., S. 8. Als ciudad letrada bezeichnet Angel Rama in seinem gleichnamigen Buch die gebildete Minderheit Lateinamerikas, die die Schriftkultur von Jer Kolonialzeit bis ins 20. Jahrhundert als Mittel zur Machtausübung benutzt. Vgl. von der Walde 1998, S. 7: "La forma peculiar como el macondismo illtna los desencuentros entre tradición y modernidad, pasado y presente, mito y realidad, se ha encontrado con la 'subcultura del narcotráfico', caracterizada por fuertes alianzas familiares, machismo, culto a la madre, religiosidad supersticiosas y violercia" Wie von der Walde erläutert, verfuhrt Cien años de soledad dazu, den realen Hintergrund des Romans zu übersehen, da er keine genauen Zeit- und Ortsangabe enthält und durch diese Unbestimmtheit über seinen unmittelbaren Kontext hirausweist. Aber der Text erlaubt es dennoch, konkrete Bezüge zur Realität herzustellen: "Hay un problema interpretativo serio cuando se lee de la misma manera el pasaje que narra cómo la gente de Macondo acepta la versión oficial de la matanza de las bananeras, que niega que haya sucedido, y el pasaje que cuenta cómo se indigna ante la
87 Philip Swanson bringt die Ambivalenz des Magischen Realismus zwischen Utopie und Eskapismus am Beispiel von Cien años de soledad treffend auf den Punkt: Utilising the oral style inherited from his grandmother's fantastic storytelling, García Márquez seems to want to reproduce a traditional, popular rural perspective - challenging the hegemony of the alien, dominant, imported culture and reinstating the value of the community's own cultural perspective. The 'magical' element therefore represents freedom of imagination and consequently revolution: that is, the freedom to imagine an alternative destiny. However, a similar conclusion can be reached by inverting totally the whole concept of Magical Realism. It can be argued that the magical is a construct of alien, imperialist, dominant or exploitative forces which transform simple realities into myths. The alien imagination is an agent of repression which suppresses historical truths and encourages the masses to languish in a kind of submissive, unquestioning stupor.182 Cien años de soledad läßt offen, o b die Irrationalität die Rettung Lateinamerikas oder sein Verderben bedeutet. Der Roman läßt sich deuten als utopische Überwindung der (post-)kolonialen ciudad letrada, als reaktionäre Mythisierung sozialer Mißstände oder auch als Kritik ebendieser Mythisierung. García Márquez hält die Opposition zwischen civilización und barbarie ironisch in der Schwebe, er weist ihren Polen keine feste Bedeutung zu. Ein Leitmotiv des Buches - M a c o n d o als ciudad de los espejos - gewinnt damit eine neue Bedeutung: Der Text spiegelt die Erwartung des Lesers. In dieser Unbestimmtheit liegt das Geheimnis seines Erfolgs. 181
182 183
'mentira' del cine. No son los mismos órdenes de verdad, y tampoco corresponden a las mismas épocas en la temporalidad de la novela." (Ebd., S. 7f.) Vgl. hierzu auch Werner Altmann, "Die United Fruit Company und der Streik der kolumbianischen Bananenarbeiter zwischen historischer Realität und literarischer Fiktion". in: Ute Outhunz u. Thomas Fischer (Hg.), Lateinamerika zwischen Europa und den USA: Wechselwirkungen, Wahrnehmungen und Transformationsprozesse in Politik, Ökonomie und Kultur, Frankfurt a.M.: Vervuert 1995, S. 205-228. Philip Swanson, The new novel in Latin America: politics and popular culture after the boom, Manchester. New York: Manchester University Press 1995. S. 12. Swanson tendiert zu einer Deutung des Romans als Kritik einer volksverdummenden Irrationalität, stellt aber irritiert fest, daß der Roman auch die umgekehrte Lesart erlaubt. (Vgl. ebd., S. 12fT.)
88 2. Kulturelle Hybridität als Ergänzung statt als Manko a) Das Trauma des verlorenen Ursprungs In dem epochemachenden kulturtheoretischen Essay El laberinto de la soledad (1950) erklärt Octavio Paz die Malinche. Hernán Cortés' indianische Übersetzerin, Ratgeberin und Geliebte, zum Urbild der mexikanischen Weiblichkeit. Nach Paz beging die Malinche durch ihr Bündnis mit dem Eroberer einen Verrat, den ihr die Mexikaner nicht verzeihen können. Demnach verachten die Mestizen die indianische Mutter und damit indirekt auch sich selbst, die "hijos de la chingada", 184 als illegitime Frucht einer Vergewaltigung oder gar willigen Hingabe an die Fremden. Das Wort chingar ist ein vulgärer Ausdruck für einen Akt der Gewalt oder Geringschätzung, beispielhaft verkörpert durch die Vergewaltigung. Nach Paz liegt in der Verachtung der chingada der Schlüssel zu einem nationalen Ressentiment, das Offenheit mit Schwäche identifiziert und ihr eine stoische Verschlossenheit als männlich konnotiertes Ideal gegenüberstellt. Der mexikanischen Eva steht in gut katholischer Tradition eine Jungfrau gegenüber, die Virgen de Guadalupe. 1531 soll sie dem Indio Juan Diego auf dem Hügel von Tepeyac erschienen sein; trotz anfänglicher Widerstände seitens der Kolonisatoren entwickelte sich die braune Madonna zum nationalen Kultobjekt. Als Beschützerin der Schwachen und mütterlich-sanfte Figur versöhnt sie Spanier, Indios und Mestizen. Ähnlich wie die Virgen de la Caridad del Cobre, die Nationalheilige Kubas, erscheint die Virgen de Guadalupe als der Inbegriff einer synkretistischen Religiosität. Ihre Figur verbindet die Erinnerung an eine Jungfrau aus Extremadura, von der sie den Namen (seinerseits arabischen Ursprungs) geerbt hat, mit einer indianischen Tradition, dem Kult der aztekischen Gottheit Cihuacóatl-Tonantzin, Mutter- und Erdgöttin. Nicht zufällig befand sich in prähispanischer Zeit auf dem fraglichen Hügel ein Altar dieser Göttin. Wie Roger Bartra erklärt, verschmelzen Malinche und Guadalupe, die Sünderin und die Tugendhafte, als komplementäre Figuren zu einem Stereotyp mexikanischer Weiblichkeit,
184
Vgl. El laberinto Aufl.). S. 90.
de la soledad.
México: Fondo de Cultura Económica 1993 (2.
89 codificando un complejo mito sobre la mujer mexicana: entidad tierna y violada, protectora y lúbrica, dulce y traidora, virgen maternal y hembra babilónica. Es el pasado indígena subyugado y dócil, pero en cuyas profundidades habitan no se sabe qué lascivias idolátricas.185 Mit anderen Worten: Eine machistische Gesellschaft entwirft ein ödipales Frauenbild, in dem der Kult der Mutter und die Eifersucht auf den Vater sich zu einem paradoxen Klischee vereinigen. Als Jungfrau und Prostituierte in einem werde die Frau zur chingadalupe,m unterwürfig aber lasterhaft - analog zur Wahrnehmung der Indios im kolonialen Diskurs. Während die Malinche Paz zufolge die Schmach der Eroberung verkörpert, werde Cuauhtémoc, der letzte Aztekenherrscher und erbitterter Verteidiger Tenochtitláns, als messianischer Nationalheld verehrt: Das mexikanische Volk identifiziere sich mit seinem tragischen Schicksal der mit stoischer Würde ertragenen Niederlage, Folter und Hinrichtung durch Cortés, vergleichbar der Passion Christi. In diesem Sinne erklärt Paz den Fund von Cuauhtémocs Gebeinen zur Hoffnung einer entwurzelten Nation: El misterio del paradero de sus restos es una de nuestras obsesiones. Encontrarlo significa nada menos que volver a nuestro origen, reanudar nuestra filiación, romper la soledad. Resucitar.187 Die christliche Hoffnung auf Erlösung als Bild für die kollektive Identitätssuche verklärt den Ursprung mit einem kaum zu überbietenden Pathos. Paz setzt Cuauhtémoc jedoch nicht nur mit Christus, sondern implizit auch mit Adam und Ödipus gleich. Das Ödipus-Motiv ist in Paz' Vorstellung einer Triade nationaler Symbolfiguren enthalten, mit Cuauhtémoc als Verkörperung des "arquetipo de héroe joven", 188 dem Konquistador als Prototyp des Macho - der gleichzeitig bewunderten und gefürchteten Vaterfigur - und schließlich der Mutter, ambivalent verkörpert durch die Malinche und die Virgen de Guadalupe. Durch die Schuld 185 186 187 188
Roger Bartra. La jaula de la melancolía. México: Grijalbo 1987. S. 219. l-bd.. S. 222. Paz 1993. S. 101. Ebd.
Identidad
y metamorfosis
del
mexicano,
90 der Malinche wird C u a u h t e m o c als mexikanischer A d a m aus dem Paradies der Ursprünglichkeit verstoßen; der Bezug auf die Jungfrau schließt dagegen den Kreis zum Christus-Motiv. Unter Rückgriff auf die antike, alttestamentarische und christliche Tradition vollzieht Paz eine dreifache Mythisierung der Conquista. Das hier verwendete Konzept der Mythisierung bezieht sich auf Jan Assmanns Definition des Mythos als eine Geschichte, die man sich erzählt, um sich selbst und die Welt zu orientieren, eine Wahrheit höherer Ordnung, die nicht einfach nur stimmt, sondern darüber hinaus auch noch normative Ansprüche stellt und formative Kraft besitzt.' 89 Wesentlich für A s s m a n n s Konzept und seine A n w e n d u n g in dieser Arbeit ist der Gedanke, daß es sowohl kosmische als auch geschichtliche Mythen gibt: Die ersteren sind in einer absoluten, gleichsam zeitlosen Vergangenheit angesiedelt und werden in Riten vergegenwärtigt, während letztere in eine historische Zeit fallen, deren Abstand zur Gegenwart meßbar ist. Die "selbstbildformende und handlungsleitende Bedeutung" 1 ' 0 kennzeichnet j e d o c h beide Formen des Mythos. Ein Mythos kann sich also auf ein historisches Ereignis beziehen, oder anders gesagt: Eine in der Absicht der Verinnerlichung erinnerte Vergangenheit erhält einen mythischen Charakter. 191 Die für Europa und Amerika - natürlich auf 189 190 191
Assmann 1997. S. 76. Ebd.. S. 79. K o s m i s c h e Mythen werden durch sakrale Riten vergegenwärtigt, geschichtliche Mythen durch profane Riten ( w i e z.B. Nationalfeiertage). A s s m a n n s MythosBegriff schließt also auch Stoffe ein, die weder religiösen noch kollektiven Ursprungs sind. Er steht im Zusammenhang mit der von ihm vorgeschlagenen Kategorie des kulturellen als einer Sonderform des kollektiven Gedächtnisses. Damit bezeichnet er in Abgrenzung zum alltagspraktischen W i s s e n den identitätsbezogenen Erinnerungsschatz einer Gemeinschaft. (Vgl. ebd.. S. 2 1 . ) Der Terminus des kulturellen 'Gedächtnisses' ist allerdings mißverständlich, da er den Vergangenheitsbezug dieser kollektiven Selbstvergewisserung in den Vordergrund stellt. Die gemeinschaftliche Erinnerung unterliegt aber der Spannung z w i s c h e n überliefertem Wissen auf der einen Seite und den wechselnden Gegebenheiten der Gegenwart auf der anderen. Unter 'Gedächtnis' hat man sich in diesem Sinne also weniger den mechanischen Rückgriff auf eine gleichsam zeitlose Tradition, sondern ihre dynamische Anverwandlung vorzustellen, wobei diese allerdings durchaus als statische Bewahrung eines vermeintlichen Ursprungs inszeniert werden kann.
91 jeweils unterschiedliche Weise - einschneidende Erfahrung der Entdekkung und Conquista ist ein gutes Beispiel dafür, daß historische Umbrüche neue Mythen erzeugen. Beispiele für die Mythisierung der Conquista aus europäischer Sicht sind die Diskurse Uber den Kannibalismus und das El Dorado; ein Beispiel für die amerikanische Sicht wäre dagegen die im 19. Jahrhundert einsetzende Mythisierung der Eroberung Mexikos, der Paz in El laberinto de la soledad ein Monument setzt, allerdings wiederum unter Rückgriff auf die abendländische Tradition. Die Projektion der Vertreibung aus dem Paradies, der Passion Christi und des Ödipus-Motivs auf die Conquista stilisiert den Verlust des prähispanischen Ursprungs zu einer tragischen Erfahrung. Die Trauer um den Ursprung erscheint bei Paz als ein chronisches Trauma der mexikanischen Psyche. Die Schmach der Eroberung sei der Grund dafür, daß die Mexikaner ihre Vergangenheit und damit auch ihre Identität als Mestizen verleugneten, mit einer Mischung aus Scham und Trotz: Nuestro grito [der Ausruf "hijos de la chingada", die Verf.] es una expresión de la voluntad mexicana de vivir cerrados al exterior, sí, pero sobre todo, cerrados frente al pasado. En ese grito condenamos nuestro origen y renegamos de nuestro hibridismo. La extraña permanencia de Cortés y de la Malinche en la imaginación y en la sensibilidad de los mexicanos actuales revela que son algo más que figuras históricas: son símbolos de un conflicto secreto, que aún no hemos resuelto. [...] El mexicano no quiere ser ni indio, ni español. Tampoco quiere descender de ellos. Los niega. Y no se afirma en tanto que mestizo, sino como abstracción: es un hombre. Se vuelve hijo de la nada. El empieza en sí mismo. 192
Das gestörte Verhältnis des Mexikaners zu seinem hybriden Selbst veranschaulicht Paz durch das Bild des 'laberinto de la soledad. Im Konzept der soledad verquickt Paz die romantische Sehnsucht nach dem verlorenen Ursprung mit der Philosophie des Existentialismus. Dem Motiv einer existentiellen Einsamkeit gibt er eine spezifisch mexikanische bzw. lateinamerikanische Auslegung, indem er soledad mit otredad gleichsetzt. Unter otredad versteht er eine duale, nicht aufhebbare Differenz. Dieses duale Verständnis kultureller Differenz entspricht Paz' ambivalenter Mythisierung des Autochthonen, bei der Cuauhtémoc für den überhöhten Ursprung steht, die Malinche dagegen für die negativ bewer192
Paz 1993. S. 104 f.
92 tete ethnische und kulturelle Mischung. Schlüsselbegriffe des Essays wie soledad und orfandad charakterisieren den mestizaje implizit als eine existentielle Entfremdung. El laberinto de la soledad begreift die otredad als eine schmerzhafte Spannung, die nur in flüchtigen, rauschhaften Momenten zur (gewaltsamen) Auflösung gelangen kann. Charakteristisch für Paz' Analyse der Geschichte Mexikos von der Conquista bis zur Revolution ist die Tatsache, daß er die historischen Ereignisse auf eine essentialistisch verstandene nationale Identität bezieht. Ebenso, wie soledad und otredad eine Entfremdung vom Ursprung meinen, begreift Paz die mexikanische Geschichte als Erfüllung bzw. Verleugnung eines nationalen Erbes, das er mit der prähispanischen Kultur im allgemeinen und dem calpulli im besonderen identifiziert, dem kollektiven Grundbesitz einer Sippe oder vergleichbaren ländlichen Gemeinschaft. Die Abschaffung des calpulli durch Juárez' liberale Reform im 19. Jahrhundert und das Fehlschlagen der zapatistischen Revolutionsbewegung, die den kollektiven Grundbesitz wiederherstellen wollte, deutet Paz gleichermaßen als Unterdrückung des 'wahren mexikanischen Wesens' - "nuestro verdadero ser",193 wie er es formuliert. In Anlehnung an Georges Batailles Konzept des Eros feiert er die Revolution als einen Rausch, in dem die Nation zu sich selbst findet: Vuelta a la tradición, re-anudación de los lazos con el pasado, rotos por la Reforma y la Dictadura, la Revolución es una búsqueda de nosotros mismos y un regreso a la madre. [...] Nuestra Revolución es la otra cara de México, ignorada por la Reforma y humillada por la Dictadura. N o la cara de cortesía, el disimulo, la forma lograda a fuerza de mutilaciones y mentiras, sino el rostro brutal y resplandeciente de la fiesta y la muerte, del mitote y el balazo, de la feria y el amor, que es rapto y tiroteo. [...] La explosión revolucionaria es una portentosa fiesta en la que el mexicano, borracho de sí mismo, conoce al fin, en abrazo mortal, al otro mexicano. 1 9 4
Bemerkenswert ist hier weniger die Überhöhung der mexikanischen Revolution, die Paz in Posdata (1970) relativiert, sondern seine essentialistische Rhetorik: Tradition, Wahrheit und Substanz auf der einen Seite, Traditionsbruch, Verstellung und äußere Form auf der anderen. Authentizität steht gegen Inauthentizität, das Eigene gegen das Fremde. Ein zen193 194
Ebd., S. 178. Ebd., S. 180f.
93 trales Bild in El laberinto de la soledad ist in diesem Sinne die Maske, hinter der sich das wahre Selbst des Mexikaners verberge. Der Hang zu Lüge und Verstellung, nach Paz charakteristisch für das nationale Wesen, gehe auf die Kolonialherrschaft zurück, während der die Indios und Mestizen zur Verstellung gezwungen gewesen seien. Das Bild der kulturellen Mischung als eine Maskerade mit einem verborgenen, echten Kern und einem falschen, äußeren Schein verweist auf den kolonialen Diskurs, der Identität in binären Kategorien definiert. Vittoria Borsö bezeichnet die Suche nach dem Ursprung als roten Faden der Pazschen Essays von El laberinto de la soledad bis Los hijos del limo (1974), wobei Paz von der historischen zu einer ästhetischen Deutung der otredad übergehe.' 95 Diese wechselnde Auslegung der otredad macht die Verwandtschaft der Diskurse über mestizaje und Magischen Realismus augenfällig: Dem Ideal einer ursprünglichen Identität entspricht das Ideal einer authentischen Literatur.
b) Identitätsbildung im Zeichen der Globalisierung Als Alternative zu den utopischen Identitätsentwürfen von Sarmientos civilización bis zum real maravilloso plädiert Santiago Castro-Gómez für eine antiessentialistische, dynamische und bewußt provisorische Selbstbestimmung: ...no podemos escapar a nuestro destino histórico de tener que eligir continuamente y participar en la lucha por la creación de sentido. Quizás al reconocer la contingencia de estas elecciones y negociaciones, al quedar expuesta la configuración intempestiva de lo que somos y hemos venido siendo, al mostrarse la temporalidad de aquello que usualmente per-
195
Vgl. Borsö 1994. S. 138: "Während Independencia und Revolution 1950 noch als Suche nach dem Ursprung interpretiert und positiv ausgelegt werden, wird ab 1968. d.h. nach dem nunmehr offiziellen Scheitern der Institutionalisierten Revolutionspartei (PRI), die mythische Ureinheit zu einem Desiderat, das nur noch durch die dichterische Erfahrung erreicht werden kann. Es ist eine romantische Sicht der reconciliación de los contrarios im analogen Denken der Poesie, das Paz mit der Kritik an der logozentrischen Struktur von Sprachsystem und Vernunft verbindet."
94 cibíamos como estructura universal, podamos evitar seguir fugándonos de nuestro presente. '"6 Die Vorstellung, daß sich Lateinamerika ein von der Moderne unberührtes Wesen erhalten habe, erscheint Castro-Gómez als ein zentrales Hindernis auf dem Weg zu einer emanzipativen Identitätsdiskussion. In diesem Sinne würdigt er zwar auf der einen Seite die Kritik des Grupo Latinoamericano de Estudios Subalternos an den US-amerikanischen Latin American Studies, wendet sich aber andererseits gegen dessen Tendenz, Lateinamerika als passives Opfer der Moderne darzustellen. Er bezweifelt vielmehr, daß es dort alternative philosophische oder volkstümliche Stimmen gebe, gleichsam Enklaven des Widerstands gegen den schädlichen Einfluß der Moderne, von der befürchtet wird, daß sie regionale Identitäten zugunsten einer universellen Rationalisierung und Technologisierung korrumpiere. Eine solche Auffassung beruhe auf dem Fehlschluß, daß die Moderne durch lokale Erscheinungen wie den Humanismus, den Protestantismus und die industrielle Revolution ausgelöst worden sei und sich im Zuge der Kolonialisierung von Europa aus über die Welt verbreitet habe, daß sie also ihrem Wesen nach ein (westeuropäisches Phänomen darstelle. Wie Enrique Dussel, Ferdinand Braudel u.a. erkannt hätten, verhalte es sich jedoch genau umgekehrt: Die Moderne sei nicht der Ursprung, sondern eine Konsequenz aus der europäischen Expansion. Die für die Moderne typische Autoreflexivität resultiere aus der im Zuge der Expansion etablierten Praxis, über räumliche und zeitliche Distanz hinweg zu kommunizieren und zu interagieren. Die Globalisierung folgt also nicht auf die Moderne, sondern ruft sie hervor. Entscheidend ist nun die Beobachtung, daß die Globalisierung zwar einerseits eine unpersönliche Form der Kommunikation erfordert, andererseits aber eine wechselseitige Einflußnahme der globalen und der lokalen Ebene ermöglicht, "una dialéctica vertiginosa de anclaje y desanclaje, de territorialización y desterritorialización". 1 '' 7 Während überregionale, abstrakte Systeme wie der Kapitalismus und der Nationalstaat die ökonomischen und politischen Verhältnisse einer Gesellschaft entpersön196
Castro-Gömez 1998. S. 18. Kursivsetzung hier und in den folgenden Zitaten nach der Vorlage.
197
Ebd., S. 12.
95 liehen, liefert umgekehrt die m o d e r n e Wissenschaft, die ebenfalls auf Abstraktion basiert, dem Individuum Informationen über die Gesellschaft, die seinen persönlichen Gesichtskreis übersteigen. Es erhält dadurch eine reflexive Kompetenz, die es ihm ermöglicht, sich als Individ u u m bzw. als G r u p p e auf der lokalen Ebene neu zu definieren und auf die übergeordneten Strukturen Einfluß zu nehmen. Beispielhaft f ü r diesen Mechanismus ist die Entstehung der großen politischen Bewegungen im Europa des 19. Jahrhunderts; er manifestiert sich aber ebenso außerhalb Europas. So beeinflußt die m o d e r n e Ideologie der Selbstbestimmung und des Fortschritts im 19. Jahrhundert auch in A m e r i k a die gesellschaftliche Entwicklung, wenn auch mit widersprüchlichen Folgen. Einerseits zementiert sie die Ausgrenzung unbotmäßiger sozialer Gruppen - "mujeres, locos, indios, negros, homosexuales, campesinos, etc.'" 9 8 - , andererseits nützt sie ihnen indirekt: Im Zuge der Unabhängigkeitsbewegung erweist sich die A b s c h a f f u n g der Sklaverei als unvermeidlich. D e m n a c h ist es eine Illusion, daß es innerhalb einer von der Globalisierung erfaßten Gesellschaft kritische Stimmen geben könne, die außerhalb der M o d e r n e stehen. Vielmehr erlaubt erst das der Moderne inhärente Potential einer Autokorrektur den Subalternen, sich öffentlich bemerkbar zu machen und politischen Einfluß auszuüben. Wer die M o d e r n e pauschal mit dem Zentrum, d.h. der Kolonialmacht bzw. den Industriestaaten, identifiziert und verdammt, und die Peripherie dagegen in einem Zustand v o r m o d e r n e r Unschuld wähnt, erliegt einem Irrtum. 19 '' Die Indios stehen heute vor der Herausforderung, ihren Platz innerhalb der Dialektik lokaler und globaler Machtverhältnisse neu zu bestimmen und dabei eine
198 199
Ebd.. S. 5. Denn, wie Castro-Gómez erläutert: "Desde finales del siglo XVIII hasta nuestros días. 'América Latina' ha sido inevitablemente constituida como objeto del saber desde las mismas sociedades latinoamericanas a partir de metodologías occidentales como el enciclopedismo, el romanticismo utópico, el positivismo, la hermenéutica, el marxismo, el estructuralismo y los estudios culturales. [...] No lo olvidemos: a partir del siglo XIX todos los proyectos cognitivos, económicos, políticos y estéticos del subcontinente han sido legitimados por los saberes expertos que despliega la globalización. El 'proyecto de la modernidad' no puede ser visto, por ello, como un elemento 'extraño' a las dinámicas internas de la(s) cultura(s) latinoamericana(s). sino como parle integral de las mismas." (Ebd., S. 14f.)
96 Alternative zu der Wahl zwischen Isolation oder Anpassung, traditioneller oder moderner Lebensform zu finden. Solche Überlegungen spielen in Sara Castro-Klarens Beitrag zur Postkolonialismus-Diskussion eine zentrale Rolle. Castro-Klaren betrachtet das Werk des Inka Garcilaso de la Vega (1539-1616) als beispielhaften Ausdruck einer "colonial contramodernity" - ein von Homi Bhabha geprägter Begriff mit Bezug auf das englische Kolonialreich des 18. und 19. Jahrhunderts. 200 Bedingt durch die Lage an der Peripherie habe die (permanente) Krise der Moderne - ihre Tendenz, ihr Monopol auf Wissen und Macht selbst in Frage zu stellen - in den Kolonien eine radikalere Form angenommen als im Zentrum. Der Mestize Garcilaso de la Vega, Sohn eines Konquistadors und einer adligen Inka, verfaßt seine Comentarios reales de los Incas (1609) im andalusischen Cordoba - als Außenseiter im ethnischen und religiösen Sinne muß er vor dem Mißtrauen der Inquisition besonders auf der Hut sein. Mit dem Argument, die Chroniken der Eroberer nicht korrigieren, sondern nur ergänzen zu wollen, verteidigt er seinen Standpunkt als kultureller Vermittler zwischen Europa und der Andenwelt. Dabei entwickelt er subtile diskursive Strategien: Die offene, fragmentarische Form des 'Kommentars' erlaubt ihm, die konventionellen Kategorien der Wissensvermittlung - "myth, history, fiction, chronicle, philosophy, ethnography" 201 - zu mischen und damit indirekt die Autorität des kolonialen Diskurses zu relativieren. Mit seiner ambivalenten Stellung zwischen Anpassung und Abweichung nimmt Garcilaso die postkoloniale Befindlichkeit vorweg: In view of the Inca's positionality: a colonial writing in the metropolis in one of the several European languages that he knew; a colonial writing from the inside of the discursive dispositive that casts him as an immature human being with very limited capacity for the use of reason and who yet writes to challenge those very dispositions; a colonial writing mostly given to sly commentary interwoven with delicate irony and devastating
200
Vgl. Homi K. Bhabha, The Location of Culture. London, N e w York: Routledge 1994, S. 173, s o w i e Sara Castro-Klaren, "Mimicry revisited: Latin America, postcolonial theory and the location o f knowledge", in: A. u. F. de Toro 1999, S. 137164, S. 144.
201
Ebd.. S. 143.
97 scholarship, one is very much tempted to portray Garcilaso as the first post-colonial intellectual [...].202 Per postkoloniale Diskurs setzt in diesem Sinne nicht erst mit der Unabhängigkeit von der Kolonialherrschaft ein, sondern begleitet sie seit ihren Anfängen. Anknüpfend an diese Tradition plädiert Castro-Klaren für eine Aufarbeitung der Moderne aus lateinamerikanischer Sicht. In Abgrenzung zum Kult einer neuen Irrationalität propagiert sie eine postmoderne Erneuerung aus dem rationalen Geist der Moderne, eine Rettung ihres aufklärerischen, humanistischen Erbes. Das Projekt der Aufklärung sei daran gescheitert, daß die Moderne das in Europa entwickelte Kulturmodell absolut gesetzt und davon abweichende Entwürfe - "other systems of rationality such as the Aztec, Andean, or Hindu" - unterdrückt bzw nicht ernst genommen hat, "for the other when recognized, has always been domesticated under the label of 'culture', 'myth', 'cubism', and more recently 'magic realism'". 201 Dabei beruft sich Castro-Klaren auf Enrique Dussels Studie 1492: El encubrimiento del otro: Hacia el origen del "mito de la modernidad" (1992). Ausgehend von Kants Beantwortung der Frage: Was ist Auflclärung? (1784) führt Dussel die Genealogie der Moderne auf die Eroberung Amerikas zurück. Kant definiert Aufklärung als den aus eigener Kraft vollbrachten "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" - ein in Faulheit und Feigheit begründeter Zustand, dem große Teile der Menschheit unterworfen seien.204 Diese Formulierung steht nach Dussel in einer Linie mit der seit Kolumbus gängigen Abwertung des amerikanischen Anderen als irrational.205 Kants implizite Definition der Aufklärung - der Gebrauch der Vernunft als das Privileg der
202 203 204
205
Ebd.. S. 144. Ebd.. S. 149. Immanuel Kant. "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?", in: Kant, Erhard. Hamann, Herder, Lessing, Mendelssohn, Riem. Schiller, Wieland, IVas ist Aufltärung? Thesen und Definitionen, hg. v. F.hrhard Bahr, Stuttgart: Reclam 1974. S. 817, S. 9. Als Beleg für Dussels Theorie zitiert Castro-Klaren den spanischen Chronisten Fernández de Oviedo y Valdés, der die Indios als lasterhaft, verlogen, unbeständig, beschränkt und auch als faul und feige charakterisiert und damit ihre Unterwerfung rechtfertigt - Attribute, die bei Kant wörtlich wiederkehren. (Vgl. Castro-Klarén 1999. S. 151.)
98 Fleißigen und Mutigen - spiegele sich wiederum in Hegels idealistischer Geschichtsphilosophie, die den Fortschritt als europäisches Privileg kennzeichne, indem sie ihm das Negativbeispiel amerikanischer Geschichtslosigkeit gegenüberstellt. Der 'Mythos der Moderne' besteht nach Dussel in der Vorstellung, daß die 'selbst verschuldete Unmündigkeit', die man dem Anderen a priori zuschreibt, seine Beherrschung rechtfertige. Dussel kritisiert nicht das Ideal der Vernunft als solches, sondern seine Instrumentalisierung zum Ausschluß des Anderen. Das requerimiento beispielsweise, ein pseudo-juristisches Pamphlet zur Legitimation der Conquista, stützt sich de facto auf das Recht des Stärkeren: Es handelt sich um einen Aufruf an die Indios, sich der Autorität des Papstes und des Königs von Spanien zu unterwerfen und zum Christentum zu bekehren, anderenfalls man sie aufs heftigste bekriegen würde. Die Eroberer verlasen ihn pro forma, ohne sich um eine Übersetzung zu kümmern, und schoben durch diesen absurden rhetorischen Schachzug den Opfern die Schuld für ihre Unterwerfung zu. Aus Descartes' Cogito ergo sum wird ein irrationales 'Ich erobere also bin ich'.206 Der Schuldigsprechung des Anderen im Namen der Religion (bzw. bei Kant im Namen der Vernunft) stellt Dussel Bartolomé de Las Casas' Widerstand gegen eine gewaltsame Missionierung gegenüber. Las Casas lege den Grundstein für einen 'transmodernen' Dialog zwischen Europa und Lateinamerika, der die Beziehung zum Anderen nicht als hierarchische Opposition, sondern als Koexistenz gleichberechtigter Kulturen begreift. 207 Castro-Klarén geht es nun darum, das Wesen des Dialogs zwischen Europa und Lateinamerika genauer zu bestimmen. Dabei bezieht sie sich auf Homi Bhabhas Konzept des mimicry. In Anlehnung an Lacan versteht Bhabha unter Mimikry die unvollständige Angleichung an ein kulturelles Vorbild. Das Prinzip der Kolonialisierung ist die Kontrolle des Anderen: Einerseits erzieht man ihn zur Anpassung, andererseits hält man ihn auf Distanz - "colonial mimicry is the desire for a reformed, recognizable Other, as a subject of a difference that is almost the same, but not quite"™ Die ähnliche, aber nicht identische Kopie hat jedoch eine ambiva206 207 208
Vgl. ebd., S. 153, sowie Enrique Dussel, 1492: El encubrimiento del otro. Hacia el origen del "mito de la modernidad", Santafé de Bogotá: Antropos 1992. S. 55-75. Vgl. zu Dussels Las Casas-Rezeption ebd.. S. 110-116, sowie zu dem Konzept einer 'Trans-Modernidad' S. 247ff. Bhabha 1994, S. 86.
99 lente Wirkung. Sie zeugt einerseits von der vergeblichen Bemühung, einem Ideal gerecht zu werden, stellt aber andererseits das Original und damit auch die Idee des Ursprungs im allgemeinen in Frage: ...the look of surveillance returns as the displazing gaze of the disciplined, where the observer becomes the observed and 'partial' representation rearticulates the whole notion of identity and alienates it from essence. 209
Castro-Klarén beobachtet das Phänomen des Mimikrys auch in der lateinamerikanischen Literatur, "first in relation to Spanish and Portuguese canonical rules and tastes, and later, in differential representation of class and ethnic identities (Arguedas, Párente Cunha, Eltit, L.R. Sánchez) in countless instances".210 Während Bhabha die Hybridität kolonialer und postkolonialer Identitätsbildung jedoch negativ als Zustand der unhomeliness beschreibt - eine kulturelle Entwurzelung, die als politischer Zwang unmittelbar in das alltägliche, private Leben eingreift 2 " - , betont Castro-Klarén dagegen die aktive Rolle von Garcilaso, Guamán Poma, Fray Servando Teresa de Mier, Borges u.a. als Kritiker der Moderne. Bhabhas Deutung der kulturellen Mischung als Zwang zum Mimikry setzt sie Garcilasos Bejahung des mestizaje entgegen: Above all, the Inca, Arguedas, Borges et. al. chose the materiality of a place, a location that despite a condition of uprootedness (unhomeliness) could be mapped into a home, a place from which to speak. Starting with the Inca Latin American intellectuals have looked upon the inevitable situation of mimicry and transform its threat of endless splitting into the will to co-exist, that is to occupy both places at once. That is why Garcilaso, with an Andean ideology of complementarity in mind - hanan and hurin - chooses the excess of both rather than the insufficient part, the lack, in the metonymic game of "presence". Naipaul's "almost but not
209 210 211
Kbd.. S. 89. Castro-Klaren 1999, S. 158. Vgl. Bhabha 1994, S. 15 (mit Bezug auf My Son's Story von Nadine Gordimer): "Aila leads us to the unhomely world where, Gordimer writes, the banalities are enacted - the fuss over births, marriages, family affairs with their survival rituals of food and clothing. But it is precisely in these banalities that the unhomely stirs, as the violence of a racialized society falls most enduringly on the details of life: where you can sit. or not; how you can live, or not; what you can learn, or not; who you can love, or not."
100 quite" therefore falls short of Garcilaso's use of the Spanish language to say, precisely, "porque soy Indio y me precio de ello".212 Wie Castro-Klaren erklärt, beruhte die religiöse und soziale Ordnung der indigenen Andenwelt auf dem Prinzip einer komplementären Dualität. In Anlehnung daran interpretiere Garcilaso die Dualität des mestizaje nicht als Spaltung, sondern als Ergänzung - als die Möglichkeit, die kulturelle Zugehörigkeit frei zu wählen und zu kombinieren. Bhabha begreift kulturelle Hybridität hingegen als ein Manko. Er problematisiert zwar den kolonialen, essentialistischen Identitätsbegriff, aber im Konzept der unhomeliness klingt die Sehnsucht nach dem Ursprung vor der kolonialen Begegnung als einem idealen Zustand mit.211 Am Beispiel von Dussels Kant-Lektüre und Garcilasos Version des mestizaje demonstriert Castro-Klaren das Potential des postkolonialen Diskurses, eine aktive Rolle in dem (post-)modernen Dialog zwischen lokalem und globalem Wissen zu übernehmen. Durch den Rückgriff des Postkolonialismus auf regional verortetes Wissen und spezifische Kulturmodelle läßt sich verhindern, daß die Globalisierung sich auf eine Einbahnstraße von (West-)Europa und den USA zum Rest der Welt reduziert und lokale Traditionen dann tatsächlich einer Gleichmacherei zum Opfer fallen. Dussels Kritik der irrationalen und totalitären Tendenz der Moderne und Garcilasos 'Sowohl als auch' als Devise postkolonialer Identitätsbildung können als Modell für eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Moderne dienen. Sie bilden eine Alternative zu ihrer bedingungslosen Akzeptanz oder pauschalen Ablehnung im Sinne des kolonialen "Entweder-Oder". Entscheidend für dieses Verständnis des Postkolonialismus ist jedoch, daß man lokale Tradition nicht mit Lokalkolorit verwechselt. Borges leistet in dieser Hinsicht einen wichtigen Beitrag zum lateinamerikani212
Castro-Klarén 1999, S. 159.
213
Castro-Klaréns Auseinandersetzung mit Bhabha verweist auf das Denken Jacques Derridas. Ihr Verständnis des mestizaje als ein komplementäres Verhältnis entspricht Derridas Konzept des supplément, den er im Gegensatz zur logozentrischen Philosophie nicht als per se mangelhaften Ersatz für einen vermeintlich perfekten Ursprung definiert ( w i e im Fall der Schrift als Ersatz für das gesprochene Wort), sondern als ein gleichwertiges Element im dynamischen Spiel der dißerance. Vgl. etwa Derridas Kommentar zu Rousseaus Essay sur /'origine des langues in De la grammatologie (1967).
101
sehen Identitätsdiskurs. Während er in frühen Texten wie Hombre de la esquina rosada (1933) und Evaristo Carriego (1930) den arrabal und seine Sprache in einem 'criollismo urbano' zu argentinischen Identitätszeichen erhebt, die Gaucho und Pampa als nationale Symbole ablösen sollen, verwirft er diesen Ansatz in den 1930er Jahren und wendet sich nun universalen Themen und subtileren Formen zu - zum Gegenstand seines Werkes werden nun die Weltliteratur und die Philosophie, Ironie und Parodie prägen seinen Stil.214 1955 pointiert er seine Überlegungen zum Wesen einer nationalen Literatur in El escritor argentino y la tradición: Mit der Beschränkung auf 'typisch argentinische' Themen wie Tango und Gaucho erfasse man nicht das nationale Wesen, sondern bestätige lediglich die darüber kursierenden Stereotype; die Bevorzugung lokaler Stoffe sei eine europäische Erfindung. Das argentinische Wesen spiegele sich vielmehr in einer besonderen Art, die Welt wahrzunehmen und darzustellen. Der Weg zum nationalen Kanon führe nicht über Lokalkolorit, sondern über literarische Qualität. Oft zitiert wird Borges' Argument, daß der Koran als typisch arabisches Buch gelte, obwohl kein einziges Kamel darin vorkommt. 21 ' Als Umsetzung dieser Gedanken nennt er seine Erzählung La muerte y la brújula (1951), eine Parodie der Detektivgeschichte, traditionelles Genre der angelsächsischen Literatur. Hier erklärt am Ende nicht der Detektiv, sondern der Kriminelle Motiv und Ablauf der Verbrechen, und er wird nicht bestraft, sondern tötet den Ermittler. So wie Scharlach, der Verfolgte, sich über das Gesetz erhebt, emanzipiert sich der marginale Schriftsteller Borges vom abendländischen literarischen Kanon durch seine kritische Rezeption: "Scharlach representa al escritor latinoamericano ya que, conociendo bien el código del detective [...], utiliza ese conocimiento para revertir las reglas y triunfar sobre la autoridad.", 216 so Amelia Barili. Borges selbst bestätigt diese Deutung mit der Annahme, daß Juden und Iren, Außenseiter des abendländischen bzw. britischen Kulturraums, 214 215
216
Vgl. Amelia Barili. Jorge Luis Borges y Alfonso Reyes: la cuestión de la identidad del escritor latinoamericano, México: Fondo de Cultura Económica 1999. Vgl. etwa Christian Wentzlaff-Eggebert, "Lateinamerika, Mythos und Realität", in: Ders. (Hg.). Realität und Mythos in der lateinamerikanischen Literatur, Köln. Wien: Böhlau 1989. S. IX-XIV, hierzu S. XIII, sowie F. de Toro 1999. Kbd.. S. 189.
102 so häufig innovative Kunst schaffen, "porque actúan dentro de esa cultura y al mismo tiempo no se sienten atados a ella por una devoción especial". 2 ' 7 Dies gelte auch für Südamerikaner, faßt er seine Gedanken in El escritor argentino y la tradición zusammen: ...podemos manejar todos los temas europeos, manejarlos sin supersticiones, con una irreverencia que puede tener, y ya tiene, consecuencias afortunadas.2'8 Dieser Devise folgend schafft Borges eine Literatur, die gleichzeitig universal, typisch argentinisch und sehr persönlich ist: Der konzise Stil und Leitmotive wie die Atmosphäre von Buenos Aires, bestimmte Lieblingslektüren und die Faszination für martialisches Heldentum geben seinem Werk einen individuellen Charakter. Gleichzeitig problematisiert Borges das Konzept der Autorschaft dahingehend, daß sein Werk nicht als der gleichsam natürliche Niederschlag einer schriftstellerischen Persönlichkeit zu deuten sei - die privaten Anspielungen gleichen absichtlich zurückgelassenen Indizien, die denjenigen in die Irre führen, der sich eine biographische Deutung anmaßen sollte. Die Distanzierung von kostumbristischen Klischees bedeutet indessen nicht, daß Borges die Nostalgie eines volkstümlichen Argentiniens aufgäbe. Eine ungebrochene Faszination für das Archaische äußert sich z.B. in La intrusa (1966). Die volkstümliche Tradition gehört zu Argentinien ebenso wie das Zentrum seiner Hauptstadt, es ist nur unsinnig, sie zum Inbegriff des nationalen Wesens zu erklären.219 217 218 219
Jorge Luis Borges, El escritor argentino y ¡a tradición, in: Discusión. Madrid: Alianza 1986, S. 128-137, S. 136. Ebd. Wie Christian Wentzlaff-Eggebert erklärt, scheitert die B e m ü h u n g Argentiniens, Uruguays und anderer lateinamerikanischer Staaten, im 19. Jahrhundert mittels kostumbristischer Milieustudien und volkstümlicher literarischer Formen eigenständig e Nationalliteraturen aufzubauen, letztlich daran, daß solche Texte zwar das nationale Publikum ansprechen, aber außerhalb des e i g e n e n Landes bzw. des Subkontinents kaum rezipiert und anerkannt werden. Erst die Überwindung des Kostumbrismus und die Erneuerung der phantastischen Erzählung durch Borges, Cortázar und viele andere verhelfen Argentinien zu einem typisch nationalen Genre und weltweit bekannten Identitätszeichen. Den ersten Schritt in diese Richtung tut für Lateinamerika allerdings Rüben Dario mit der A n v e r w a n d l u n g sowohl europäischer als auch amerikanischer Einflüsse in dem e p o c h e m a c h e n d e n Band A:ul.
103 B o r g e s ' V e r b i n d u n g v o n T r a d i t i o n u n d I n n o v a t i o n hat der E r n e u e r u n g der lateinamerikanischen wichtigen
Literatur durch B o o m
Anstoß gegeben.
220
Seine
Essays und
und P o s t - B o o m Erzählungen
einen werden
h e u t e auch in der P o s t k o l o n i a l i s m u s - D i s k u s s i o n v i e l f a c h rezipiert, d a s i e e s s e n t i a l i s t i s c h e D e f i n i t i o n e n v o n i n d i v i d u e l l e r s o w i e k o l l e k t i v e r Identität und Kreativität s y s t e m a t i s c h in Frage stellen. 2 2 1
220 221
Vgl. C. Wentzlaff-Eggebert. "Literatura americana o literatura nacional: Problemas de legitimación después de la Independencia", in: Inge Buisson, Günter Kahle u.a. (Hg.). Problemas de la formación del estado y de la nación en Hispanoamérica, Bonn: Inter Nationes 1984, S. 279-287, und ders., "Costumbrismo e identidad cultural". in: Félix Bécker (Hg.), América Latina en las letras y ciencias sociales alemanas. Caracas: Monte Avila 1988, S. 401-418, sowie zu Darío Wentzlaff-Eggebert 1993. Vgl. Barili 1999, S.207ff. Vgl. z.B. Alfonso de Toro, "Post-Coloniality and Post-Modernity: Jorge Luis Borges: The Periphery in the Centre, the Periphery as the Centre, the Centre of the Periphery". in: F. de Toro 1995, S. 11-44.
105
III. Indio und Konquistador zwischen Zitat, Pastiche und Parodie
Das untersuchte Korpus umfaßt neben den Romanen von Alejo Carpentier, Antonio Benitez Rojo und Carmen Boullosa, die in Kap. IV-VI eingehend besprochen werden sollen, weitere sechzehn Werke.222 1978 erscheint Daimön als erster der neuen historischen Romane über die Eroberung, im nächsten Jahr folgen drei weitere Texte, El arpay la sombra, El mar de las lentejas sowie Lope de Aguirre: Principe de la libertad, und um das Jubiläumsjahr 1992 erreicht die Zahl der Veröffentlichungen einen Höhepunkt. Danach sind nicht mehr so viele, aber immer noch regelmäßige Publikationen zu dem Thema zu verzeichnen. Die vorliegenden Texte stammen von Schriftstellern aus Kuba, Mexiko, Venezuela, Chile, Argentinien, Paraguay und Uruguay. Die auffallend hohe Anzahl mexikanischer Beiträge - acht Stück, also fast die Hälfte des Korpus - läßt sich dadurch erklären, daß der indigene Ursprung im kollektiven Gedächtnis Mexikos eine wichtigere Rolle spielt als in irgendeinem anderen lateinamerikanischen Land. Einen thematischen Schwerpunkt stellt wie erwartet die Entdeckung und Inbesitznahme der Karibik durch Kolumbus dar. Entsprechend der Perspektive, die in den Texten dominiert, teilen sie sich in drei Gruppen: Die Eroberung wird vornehmlich mit Blick auf bzw. aus der Sicht von Indios, Konquistadoren oder Frauen geschildert. Diese Unterscheidung erlaubt eine systematische Abhandlung der ent222
Im Folgenden nach dem Erscheinungsland zusammengestellt: Gonzalo Guerrero ( 1 9 8 0 ) von Eugenio Aguirre. Memorias del nuevo mundo ( 1 9 8 8 ) von Homero Aridjis, Diario maldito de Ñuño de Guzmán ( 1 9 9 0 ) von Herminio Martínez. Gonzalo Guerrero: memoria olvidada, trauma de México ( 1 9 9 3 ) von Carlos Villa Roiz. Duerme ( 1 9 9 4 ) von Carmen Boullosa und Amor y conquista ( 1 9 9 9 ) von Marisol Martín del Campo (Mexiko); Lope de Aguirre: Príncipe de la libertad von Miguel Otero Silva ( 1 9 7 9 ) (Venezuela); Ay Mama Inés ( 1 9 9 3 ) von Jorge Guzmán und Butamalón ( 1 9 9 4 ) von Eduardo Labarca (Chile); Río de las congojas ( 1 9 8 1 ) von Libertad Demitrópulos, El entenado ( 1 9 8 8 ) von Juan José Saer, Daimón ( 1 9 7 8 ) , Los perros del paraíso ( 1 9 8 3 ) und El largo atardecer del caminante ( 1 9 9 2 ) von Abel Posse (Argentinien); Vigilia del Almirante ( 1 9 9 2 ) von Augusto Roa Bastos (Paraguay) und Crónica del descubrimiento ( 1 9 8 0 ) von Alejandro Patemain (Uruguay).
106 sprechenden inhaltlichen und formalen Tendenzen. Die weibliche Perspektive dominiert in vier Texten, neun konzentrieren sich auf das Bild des Konquistadors und sieben auf die Indios, wobei sich die drei Bereiche in Einzelfallen überschneiden.
1. Indios zwischen Vertretung und Darstellung Ein wesentlicher Punkt der Kritik indianistischer Bewegungen am Indigenismus ist die Bevormundung der Indios durch Außenstehende. Gayatri Spivak behandelt dieses Problem mit Bezug auf die Vertretung der Subalternen im allgemeinen. Als Alternative zu dem doppelsinnigen englischen Wort representation unterscheidet sie in Anlehnung an Marx zwischen 'Vertretung' und 'Darstellung'. 223 Während westliche Intellektuelle nach Spivak in der Regel davon ausgehen, den Anderen objektiv zu beurteilen und seine Anliegen angemessen wiederzugeben, stellt sie die Möglichkeit einer objektiven Vertretung grundsätzlich in Frage. Nach Spivak stellt der Andere eine Art Black box dar - 'der Subalterne' bilde keine homogene Gruppe und sei nicht zuletzt aus diesem Grund undurchschaubar. 224 "The Subaltern cannot speak.",225 lautet daher ihre These, die sie am Beispiel des Verbots der indischen Witwenverbrennung durch die britische Kolonialmacht erläutert. Diese Sentenz ist schon allein deshalb fragwürdig, weil auch sie ihr Objekt pauschal vertritt. Die Frage, ob und wie der Subalterne sich selbst Gehör verschaffen kann, ist zu komplex, um sie an einem Fall abzuhandeln. Dennoch ist Spivaks Begriffsunterscheidung sinnvoll: Die Alternative zu einer Vertretung ist eine Darstellung des eigenen Standpunkts mit dem Ziel, die Komplexität des Anderen nicht durch eine vermeintlich allgemeingültige Repräsentation zu reduzieren, sondern umgekehrt die Schwierigkeit, wenn nicht sogar Unmöglichkeit aufzuzeigen, diese Komplexität angemessen wiederzugeben.
223 224
Spivak 1994, S. 70ff. Vgl. ebd., S. 8 4 u. 93.
225
Ebd., S. 104.
107
Diese Untersuchung der Darstellung (bzw. Vertretung) des Indios im neuen historischen Roman orientiert sich an Spivaks Unterscheidung zwischen zwei Haltungen gegenüber dem Anderen.
a) Indigenismus heute: El hablador und La mujer habitada El hablador von Mario Vargas Llosa und La mujer habitada von Gioconda Belli, beide Ende der 1980er Jahre erschienen, zeugen vom Fortbestand der Stereotype des Indigenismus im aktuellen hispanoamerikanischen Roman. El hablador (1987) handelt von den Machiguenga, einem - tatsächlich existenten - Volk, das sich auf der Flucht vor der Zivilisation in die Tiefen des peruanischen Urwalds zurückgezogen hat. Sein Lebensraum ist durch die fortschreitende Ausbeutung der im Amazonasgebiet ruhenden Resourcen gefährdet, seine kulturelle Tradition durch Missionierung bedroht. Diese prekäre Situation gibt dem Ethnologiestudenten Saül Zuratas und dem mit ihm befreundeten Erzähler Anlaß zu einer kontroversen Debatte: Während dieser für eine zügige Integration plädiert, die die Machiguenga einerseits zur Aufgabe ihrer Traditionen zwingen, andererseits aber vor Ausbeutung und Unterdrückung schützen würde, fordert Saül absoluten Respekt vor ihrem rücksichtsvollen Umgang mit der Natur eine Einstellung, die der Erzähler als utopisch diskreditiert, da die Erschließung des Urwalds dem Gros der peruanischen Bevölkerung wirtschaftlich zugutekäme und daher Vorrang vor dem Anliegen einer Minderheit erhalten müsse. Nun verfügen die Machiguenga über eine Institution, die auch den Ich-Erzähler fasziniert, der von Beruf Schriftsteller ist. Es handelt sich um den sogenannten 'hablador', einen Geschichtenerzähler, der vergleichbar ist mit den Spielleuten des europäischen Mittelalters oder den Erzählern, die heute noch auf marokkanischen Marktplätzen oder im brasilianischen Sertäo zu finden sind (für dessen reale Existenz bei den Machiguenga es allerdings keinen Anhaltspunkt gibt). Die fiktive Stimme dieser Figur artikuliert in einem zweiten Erzählstrang die Weltsicht der Machiguenga. Der hablador überbringt Neuigkeiten, erzählt Mythen und Legenden, erinnert an Episoden aus der Vergangenheit, betont die Bedeutung der Tradition und sorgt nicht zuletzt für Unterhaltung. Als Träger
108
des kollektiven Gedächtnisses vergewissert er das kleine Nomadenvolk seiner fragilen Identität. Im Laufe des Romans erfahrt man jedoch, daß die Rede des hablador der Phantasie des Ich-Erzählers entspringt. Die Figur des volkstümlichen Erzählers erscheint als eine Projektion des modernen Schriftstellers, die imaginierte Rede als ein Buch im Buch. Sie wird für den fiktiven Autor zu einer doppelten Obsession: Einerseits betrachtet er sie als das utopische Bild der in Lateinamerika vielfach beschworenen Macht der Literatur als Medium kollektiver Identitätsbildung, andererseits ist er sich der Schwierigkeit bewußt, die orale Tradition der Machiguenga, Ausdruck eines animistischen Geisterglaubens, überzeugend wiederzugeben. Die von dem Schriftsteller-Erzähler vollzogene Idealisierung des hablador als Träger eines kollektiven Gedächtnisses entspricht der romantischen Überhöhung der mündlichen Erzählkultur, mit dem unmittelbaren Kontakt zwischen Erzähler und Zuhörern als Vorbild für die von modernen Autoren vermißte Einheit zwischen Dichter und Publikum. Eine sorgfaltige Lektüre entlarvt den vermeintlich authentischen Diskurs des hablador als poetische Stilisierung der mündlichen Erzählsituation; seine kunstvolle Rhetorik verrät den von der Schriftkultur geprägten Literaten.226 Das literarische Experiment des fiktiven Schriftstellers erscheint nicht zuletzt deshalb fragwürdig, da er die Figur des Ethnologen Saúl auf den hablador projiziert. Nach einigen gescheiterten Versuchen bringt er den Monolog des Machiguenga-Erzählers erst dann zu Papier, als er auf die Idee kommt, daß Saúl, angeblich nach Israel ausgewandert, sich den Eingeborenen angeschlossen und das Amt des Redners übernommen habe, im Bestreben, ihre Kultur vor dem Verfall zu retten. Durch seine jüdische Herkunft und ein riesiges Muttermal im Gesicht doppelt stigmatisiert könnte sich der Außenseiter zu den Machiguenga geflüchtet haben, so wie diese selbst vor den Inka und später vor den Spaniern geflüchtet sind. Der Gedanke an Saúl hinterläßt Spuren im Monolog des hablador. Das Motiv der Flucht, zentrales Element der von dem vermeintlich indianischen Erzähler beschworenen Mythologie, erinnert auffällig an den My226
Vgl. hierzu meinen Aufsatz K. Hanau, "Mario Vargas Llosas El hablador und Gioconda Bellis La mujer habitada. Varianten der Mythenerzählung im hispanoamerikanischen Roman der 80er Jahre", Beate Burtscher-Bechter, Doris Eibl u.a. (Hg.). Sprache und Mythos - Mythos der Sprache, Bonn 1998, S. 227-237.
109 thos der ewigen Wanderschaft des jüdischen Volkes. Neben Details wie dem Muttermal verweist auch eine Metamorphose, die der Sprecher durchgemacht habe, auf Saúls Identität mit dem hablador. Es entsteht der Eindruck, daß der fiktive Schriftsteller oder auch Saúl höchstpersönlich will man an die Verwandlung glauben - Motive des westlichen Kulturkreises, die für diesen eine persönliche Bedeutung haben, auf die Weltsicht der Machiguenga überträgt. Vargas Llosa karikiert damit die naive, nur scheinbar selbstlose Identifikation mit der indigenen Bevölkerung durch Vertreter der westlichen Kultur. Diese Kritik wird dadurch pointiert, daß sich ausgerechnet der Außenseiter Saúl zum Retter der Machiguenga erhebt und auf diese Weise ihre soziale Stellung einer hilflosen Randgruppe bestätigt. Wegen der erzähltechnisch subtilen Problematisierung der romantischen Überhöhung des Autochthonen wird El hablador neben La tía Julia y el escribidor (1977) und Historia de Mayta (1984) als Beispiel für Vargas Llosas Übergang zum postmodernen Erzählen genannt.227 Auf ideologischer Ebene kolportiert der Roman dagegen indigenistische Realpolitik: Das Beispiel der seit Jahrhunderten isoliert lebenden Machiguenga reduziert die Beziehung zwischen der westlichen und der indigenen Kultur auf einen unvereinbar scheinenden Gegensatz zwischen Fortschritt und Naturverbundenheit (hier gleich Rückständigkeit). Natürlich ist der Wunsch unrealistisch, ein Nomadenvolk auf Steinzeitniveau auf Dauer vor der Zivilisation abzuschirmen, insbesondere wenn es ein Gebiet in Beschlag nimmt, wo früher der Kautschuk und heute Ölreserven locken. Ebenso klar ist es, daß es den Machiguenga kaum gelingen wird, ihre archaische Lebensform mit der Modernisierung zu vereinbaren. Ihr Fall ist jedoch keineswegs repräsentativ für die Lebensbedingungen der Indios in Peru. Im Gegensatz zu den im Amazonasgebiet versteckt lebenden Völkern stehen die andinen Indígenas seit der Conquista im Kontakt mit der westlichen Zivilisation und haben ihre Traditionen dabei bewahrt bzw. weiterentwickelt. Zwischen bedingungsloser Anpassung oder Ausgrenzung eröffnet sich die Alternative eines kulturellen Dialogs.228 Vargas Llosa, seit dem Boom der prominen227
Vgl. Keith Booker, l argas
228
Vgl. auch Jean Francos Kritik an Vargas Llosa und Eduardo Galeano in "¿La historia de quién? La piratería postmoderna", in: Revista de crítica literaria latinoamericana. Nr. 33. 1991, S. 11-20.
Llosa among the postmodernists
(1994).
110 teste Schriftsteller Perus - ein Land, wo die Indios insgesamt etwa die Hälfte der Bevölkerung ausmachen - , verharrt in seinem Werk bei der Polarisierung zwischen civilización und barbarie.229 Die Identifikation mit dem autochthonen Ursprung ist in Lateinamerika bis heute ein Leitmotiv nationalistischer Diskurse. So setzt Gioconda Belli in dem Roman La mujer habitada (1988) die nicaraguanische Somoza-Diktatur mit den Konquistadoren gleich und identifiziert analog dazu eine Widerstandskämpferin aus der (weißen) Oberschicht, die einen General des Regimes erschießt, mit einer am Kampf gegen die Spanier beteiligten Aztekin. Auf diese Weise entwirft sie das Wunschbild der nationalen Abkunft von einem vermeintlich aufrührerischen und stolzen Volk. Auf der anderen Seite identifiziert sie die Diktatoren mit Eindringlingen von außen, die man nur zu vertreiben brauche, um ein solidarisches Gemeinwesen aufzubauen. Die Autorin kleidet das 'Zurück-zu-den-Wurzeln'-Motiv in ein im wahrsten Sinne des Wortes eingängiges Bild: Die Heldin trinkt den Saft der Orangen von einem Baum, der scheinbar abgestorben zu neuem Leben erwacht, als die Seele der rebellischen Aztekin von ihm Besitz ergreift - damit nimmt sie den Kampfgeist und die Opferbereitschaft der Vorfahrin in sich auf. Das Stereotyp eines feministischen Aufbruchs wird hier ebenso bedient wie dasjenige des Magischen Realismus: Die Protagonistin Lavinia, eine attraktive junge Frau, steht in der Macho-Welt der Guerilla 'ihren Mann' - als ihr Genosse und Geliebter stirbt, ergreift sie die Waffe an seiner Stelle und opfert ihr Leben dem politischen Kampf. Ein Interesse für Glaubensvorstellungen und Traditionen der Indígenas, die sich bis heute lebendig erhalten haben, ist bei Belli dagegen nicht festzustellen. La mujer habitada und EI hablador enthalten zwei grundlegende Stereotype des Indigenismus - auf der einen Seite steht der prähispanische edle Wilde als mythisiertes Vorbild, auf der anderen die primitive indige-
229
El hablador variiert das Bild des "indio flemático y triste", Lituma en los Andes ( 1 9 9 3 ) dagegen dasjenige des "indio vicioso, idólatra y degenerado", der nach Vargas Llosa in den Anden bis heute Kannibalismus betreibe - neben dem "indio bueno y generoso" oder "mejorable" die überkommenen Stereotype des Indigenismus. Vgl. José Antonio Mazzotti, "Indigenismos de ayer: prototipos perdurables del discurso criollo", in: Morafla 1998, S. 7 7 - 1 0 2 , S. 91 f.
111 ne Gemeinschaft als Hindernis auf dem Weg zur nationalen Modernisierung.
b) Der Indio bei Villa Roiz, Saer, Paternain und Posse Die nueva novela histórica ersetzt gemäß Gayatri Spivaks Unterscheidung die indigenistische Vertretung durch eine Darstellung der eigenen Wahrnehmung des Anderen. Das Augenmerk verschiebt sich dabei vom Indio zu der Beziehung zwischen ihm und dem Betrachter. Dieser Betrachter steht als Ich-Erzähler innerhalb des Textes. In El entenado von Juan José Saer, Gonzalo Guerrero: memoria olvidada, trauma de México von Carlos Villa Roiz und El largo atardecer del caminante von Abel Posse nimmt ein Konquistador diese Rolle ein und resümiert seine Erlebnisse als sein eigener Chronist in einer Ich-Erzählung; in Llanto und Cielos de la Tierra von Carmen Boullosa sowie in Butamalón von Eduardo Labarca schreiben fiktive Übersetzer oder Schriftsteller ausgehend von historischen Dokumenten auf der einen Seite und einem unverhohlen persönlichen Standpunkt auf der anderen die Vergangenheit neu. Das Buch im Buch ist ein Leitmotiv der neuen historischen Romane über die Conquista. Anstatt eine Sicht des Indianischen 'von innen' her zu suggerieren, macht es die Perspektive des Außenstehenden zum Thema. Diese bildet häufig den Rahmen für eine Infragestellung indigenistischer Stereotype. Dabei schlagen die Romane unterschiedliche Richtungen ein. Während der Zugang zum prähispanischen Ursprung in Llanto und El entenado radikal problematisiert wird, bemühen sich Amor y conquista von Marisol Martín del Campo, Gonzalo Guerrero: memoria olvidada, trauma de México und Butamalón um ein sachkundiges Porträt der autochthonen Vorfahren und ihrer Lebensumstände.230 Durch ihr konkretes 230
Vgl. zur Schilderung des indianischen Lebens vor bzw. zur Zeit der Conquista aus einer vorgeblich authentischen Perspektive außerdem die R o m a n e Tenochtitlan. La última batalla de los aztecas ( 1 9 8 6 ) von José León Sánchez, La noche de la obsidiana ( 1 9 9 6 ) von Rafael R o m a n o und Memorias de Doña Isabel de Moctezuma ( 1 9 9 7 ) v o n José Miguel Carrillo über die Eroberung M e x i k o s s o w i e The Iridian Chronicles ( 1 9 9 3 ) von José Barreiro, einem US-amerikanischen Schriftsteller, der sich auf seine Abkunft von kubanischen Tainos beruft und die Eroberung der Kari-
112 Interesse am indianischen Erbe werfen diese Texte eine Reihe von Fragen auf: Welche autochthonen Traditionen gab es, welche gibt es heute noch und welchen Platz könnten sie innerhalb moderner Gesellschaften einnehmen, oder anders gesagt: wie hätte sich Spanien gegenüber den Indios verhalten sollen und wie kann es das moderne Lateinamerika heute besser machen? Welche Formen hat der mestizaje in der Vergangenheit angenommen und welche Perspektiven bietet er heute? Die Ambivalenz von Zitat und Pastiche läßt sich am Beispiel des Romans Gonzalo Guerrero: memoria olvidada, trauma de México (1995) von dem Mexikaner Carlos Villa Roiz (geb. 1953) näher erläutern. Das Buch behandelt neben dem Schicksal des abtrünnigen Konquistadors Gonzalo Guerrero die Eroberung der Karibik, Panamas, Mexikos sowie Yucatans und stützt sich dabei auf zahlreiche Zitate aus den Chroniken, die durch Fettdruck hervorgehoben und deren Quellen in Fußnoten belegt sind. Der Titel läßt wegen seiner Länge, Sachlichkeit und der Aufteilung in Haupt- und Untertitel eher ein Sachbuch als einen Roman vermuten, und in diese Richtung weisen auch eine Bibliographie, ein umfangreicher thematischer Index und ein vollständig abgedruckter Brief des Gouverneurs Cereceda über Guerreros Tod, die am Ende des Buches stehen, sowie nicht zuletzt der in der Widmung enthaltene Dank des Autors "a quienes me han enseñado el bello oficio del periodismo". 2 " Die Unbestimmtheit hinsichtlich Form und Inhalt erweist sich als ein wesentliches Charakteristikum des Buches: Die fiktionale Handlung, die den Rahmen des Textes bildet, wird durch ausführliche historiographische und ethnologische Exkurse nicht nur unterbrochen, sondern über weite Strecken an den Rand der Bedeutungslosigkeit gedrängt. Im ersten Kapitel beschreibt Gonzalo die Vorgeschichte und Begleitumstände der Entdeckung Amerikas, die Ereignisse in der Karibik zu Kolumbus' Zeiten und die Ausdehnung der Conquista auf das Festland. Einige Male erwähnt er seine Teilnahme an diesen Eroberungszügen und erklärt sich selbst ausdrücklich zum Zeitzeugen: "Yo, Gonzalo Guerrero, quien escribe, conocí a muchos de los ilustres personajes que he citado; este fue el ambiente que me rodeó antes que finalizara 1510." (S. 73)
231
bik aus der Sicht Dieguillo C o l o n s erzählt, angeblich ein indianischer Adoptivsohn des Entdeckers. Allerdings setzen sich diese Texte nicht mit der Fragwürdigkeit der historischen Überlieferung durch die Chroniken auseinander. M é x i c o : Plaza y V a l d é s 1995, S. 5.
113
Seine historischen Kenntnisse und sein Urteilsvermögen übersteigen jedoch bei weitem den möglichen Erfahrungshorizont und die Bildung eines "simple marinero" (S. 42) zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Die Illusion, daß es sich bei dem Verfasser dieser Seiten um Guerrero persönlich handele, wird allerdings schon allein dadurch zerstört, daß die von ihm zitierten Quellen erst nach seiner Zeit erschienen sind. Die Erzählhaltung ist hier nicht die einer Romanfigur, sondern die eines Chronisten bereits länger zurückliegender, überschaubarer historischer Ereignisse. Die fiktionale Handlung setzt erst auf S. 91 ein: Im Jahre 1511 fahrt ein Schiff vom Golf von Darien aus in Richtung Hispaniola, zerschellt jedoch in einem Sturm und überläßt die wenigen Überlebenden einem ungewissen Schicksal. In einem Boot an die Küste Yucatans getrieben werden Gonzalo und seine Kameraden von Indios gefangengesetzt und einer nach dem anderen getötet, bis ihnen die Flucht gelingt und sie einem anderen Stamm in die Hände fallen, der sie als Sklaven harte Arbeit verrichten läßt. Während andere verzweifeln, versucht Gonzalo, sich mit der Gefangenschaft zu arrangieren. Bemüht um eine unvoreingenommene Haltung beobachtet er die Sitten der Maya, vergleicht sie mit den eigenen und gelangt zu einem lakonischen Schluß: "Estamos entre dos mundos irreconciliables, el de ellos y el nuestro: las diferencias van más allá de la anatomía y el idioma." (S. 130) Doch lernt er die Kultur der Maya zu schätzen, als man ihn die Goldschmiedekunst lehrt, während er sich seinerseits als militärischer Ratgeber Anerkennung verschafft. Diese vorsichtige Annäherung nimmt eine entscheidende Wendung, als er sich in die Tochter eines verbündeten Stammesoberhaupts verliebt und als Bräutigam die Freiheit erhält. "¿De dónde nace el espíritu de grandeza de Europa? Estas tierras también gozan privilegios únicos y su gente tiene religión y ciencia." (S. 190), räumt er nun ein und belegt sein Urteil durch umfangreiche Ausführungen über Sitten und Gebräuche der Maya, die den Quellen wie Diego de Landas Relación de las cosas de Yucatán zum Teil direkt entnommen sind. Gonzalos Integration wird durch eine Tätowierung besiegelt, Ausdruck einer unumkehrbaren Metamorphose. Die tätowierte und durchstochene Haut ist neben Ehe, Vaterschaft und militärischem Einsatz das Leitmotiv der Überlieferung über die Figur - López de Gomara und Bernal Díaz unterstellen Guerrero, daß er nicht zuletzt aus Scham über sein
114 Äußeres die Einladung zur Rückkehr ausgeschlagen habe.112 Das Initiationsritual bildet zusammen mit der darauf folgenden Hochzeit eine Schlüsselszene des fiktionalen Textes. Motiviert durch die Liebe zu seiner Braut, aber auch unter dem Druck, der mißtrauischen Gemeinschaft Mut und Loyalität zu beweisen, überläßt Gonzalo seinen Körper der schmerzhaften und nicht ungefährlichen Behandlung: Cuando los artistas terminaron su trabajo, mi padre estaba bañado en sangre; tenía serpientes y caracoles, tortugas y ranas, flores, grecas, símbolos sagrados. Como su vista estaba nublada, apenas si pudo conocer el disfraz de su cuerpo; la máscara que le impusieron distorsionaba su personalidad [...] Gonzalo Guerrero, el español, había sido amortajado debajo su propia piel, transformada en una obra de arte india gracias a un artificio maya. (S. 199) Villa Roiz schildert die Erfahrung des mestizaje als einen kulturellen Balanceakt unter dem Druck ungleicher Machtverhältnisse. Guerrero bleibt freiwillig bei den Indios und sieht sich dennoch zur Anpassung an die herrschenden Sitten gezwungen: Er erlebt bei den Maya eine Kolonialisierung mit umgekehrten Vorzeichen. Als in der Hochzeitsnacht die Opfertrommeln ertönen und zum Segen der Verbindung das Blut eines Gefangenen fließt, erfüllt das seine Frau mit Befriedigung, ihn dagegen mit Entsetzen: Sus ojos se iluminarían en el momento del éxtasis y aparecieron brillos que me permitieron ver un alma ingenua, primitiva y místicamente cruel. Escuchamos un grito. [...] A pesar de los juramentos que momentos antes pronuncié en secreto a mi Dios deseaba huir. (S. 205f) So muß er auch hinnehmen, daß seinen Kindern nach Landessitte die Stirn flachgedrückt und das Schielen angewöhnt wird und daß er sie nur im geheimen taufen darf. Das gegenseitige (Nach-)Geben und Nehmen im Rahmen des mestizaje findet hier keinen harmonischen Ausgleich, sondern erweist sich als ein heikles Zusammenspiel kultureller Differenzen. Im Gegensatz zu Octavio Paz mythisiert Villa Roiz weder den indianischen Ursprung noch den mestizaje - er schildert die wechselseitige Akkulturation als einen langwierigen, schwierigen Prozeß. Dieser nüch232
S i e h e zur Tradierung des S t o f f e s in den C h r o n i k e n Kap. I.2.b).
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terne Umgang mit dem Thema Mestizierung unterscheidet das Buch grundlegend von Eugenio Aguirres melodramatischem Roman Gonzalo Guerrero (1980), dessen Protagonist zum Symbol nationaler Einigung stilisiert wird.2" Villa Roiz' Ansatz zu einem differenzierteren Bild Gonzalo Guerreros erstickt jedoch in einer stereotypen Darstellung der Conquista: Während Gonzalo seine persönlichen Erinnerungen in Kap. 2 und 3 zusammenfaßt, nimmt die Geschichte der Conquista im Raum der Karibik, Mittelamerikas und Mexikos über zwei Drittel des Buches ein. Dabei spricht in der Einleitung und in Kap. 4, 5 und 6 überwiegend seine jüngste Tochter.234 Ihr auf das Jahr 1573 datierter Rückblick folgt der Chronologie der historischen Ereignisse, weist aber ansonsten keinerlei Systematik auf. Den roten Faden dieser Vielzahl einzelner Episoden bilden auf der einen Seite die üblichen Topoi der leyenda negra, auf der anderen die Erinnerung an den Vater als ein positives Gegenbild: Den Eroberern gehe es nur um Gold und Frauen, obwohl sie die Missionierung auf ihre Fahnen schreiben;2" getrieben von ihrer maßlosen Gier nach schnellem Reichtum be-
233
Dies entspricht offenbar dem Publikumsgeschmack: Aguirres Roman wurde preisgekrönt und mehrfach neu aufgelegt. Im Gegensatz zu Villa Roiz' Antihelden behält Aguirres Gonzalo die Kontrolle über das Ritual der Tätowierung und wählt Tiersymbole aus beiden Kulturkreisen aus, die sich auf seiner Brust in schönem Gleichgewicht ergänzen. Im übrigen hat er als galanter Held gleich einem antiken Göttervater im Prinzip nur eine Sorge, seine sexuelle Befriedigung. Die Maya werden dagegen aus romantisch-exotisierender Perspektive dargestellt. Erst das Opfer seiner kleinen Tochter an den Regengott stürzt den Spanier in einen dramatischen, aber vorübergehenden Gewissenskonflikt. Salomón González-Blanco Garrido räumt seinerseits schon im Vorwort des als Jugendbuch aufgemachten Romans Gonzalo Guerrero. el primer aliado de los mayas (1991) jeglichen Zweifel an Guerreros Tauglichkeit zum Vorbild für angehende Familienväter und Patrioten aus dem Weg: "Asimismo, hacemos mucho énfasis en su gran amor a su mujer y a sus hijos, pues esa fue la principal razón de quedarse con ellos, en las dos ocasiones que lo 'invitaron' a reincorporarse con los conquistadores." (México: Miguel Ángel Porrúa 1991, S. 13.) Die Popularität der Figur äußert sich auch darin, daß Bemal Díaz' amüsant-versöhnliche Version des Stoffes im heutigen Mexiko häufig zitiert wird, so auch in Eduardo Matos Moctezumas Vorwort zu Villa Roiz' Roman.
234
Das Buch enthält neben einer Einleitung sechs Kapitel, die bis auf das letzte, etwas kürzere, jeweils etwa 100 Seiten umfassen. Vgl. z.B. ebd.. S. 56 u. 118.
235
116 handeln sie die Indios wie Tiere;236 ihre Zerstörungswut und Grausamkeit kennt keine Grenzen; 237 darüber hinaus verraten und bekämpfen sie sich auch gegenseitig, wenn es ihrem Vorteil dient.238 Viele der als Beleg herangezogenen Zitate stammen von Las Casas und zahlreiche Passagen lesen sich dementsprechend wie eine Anklageschrift im Stile der Brevísima relación sobre la destrucción de las Indias. Gonzalo sei dagegen aus Liebe zu seiner Familie bei den Maya geblieben und habe mit seinem militärischen Einsatz erreicht, daß sich die seit 1517 angestrebte Eroberung Yucatans um 20 Jahre verzögerte. Da die Tochter meint, durch Erzählungen und persönliche Aufzeichnungen ihres Vaters unmittelbar mit der Historie vertraut zu sein, nimmt sie sich vor, die spanischen Chroniken zu korrigieren: Los vencedores imponen sus costumbres y su historia. Al escribir la biografía de mi padre le hago justicia porque, quien no guarda sus recuerdos, corre el peligro de que se los inventen y eso es lo que están haciendo los conquistadores, escribir su versión triunfalista de los crímenes que cometieron. En este libro incluyo algunas páginas donde mi padre registró sucesos; cosas olvidadas... Guerrero, más que un apellido, es un símbolo. (S. 22) Hier wird ein zentraler Topos des neuen historischen Romans über die Conquista - die Gefährdung der Erinnerung an den indigenen Ursprung durch die tendenziöse Geschichtsschreibung der Sieger - programmatisch formuliert. Der Roman übergeht jedoch die Probleme, die sich daraus ergeben, daß sich die Überlieferung auf die Perspektive der Eroberer beschränkt. Mit dem Verweis auf das persönliche Zeugnis von Guerrero und seiner Tochter entwirft er die Illusion einer nicht hinterfragbaren Authentizität. Die Naivität des Anspruchs, die 'wahre' Geschichte der Conquista zu erzählen, irritiert bei Villa Roiz besonders, weil die Chronisten hier einerseits als verlogen verurteilt, andererseits aber als Beleg zitiert werden, je nachdem, ob sie das Anliegen der Erzählerin unterstützen oder nicht. So beruft sie sich einerseits auf Las Casas als Zeugen für das von den Spaniern verübte Unrecht, beschwert sich aber andererseits darüber, daß er ihren Vater kein einziges Mal erwähne, und wirft ihm vor, 236 237 238
Vgl. ebd., S. 54 u. 241. Vgl. ebd., S. 59. Vgl. ebd., S. 514.
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sich vor dem heiklen Thema gedrückt zu haben.239 Umgekehrt übernimmt sie den von Bemal Díaz entworfenen Dialog zwischen Jerónimo de Aguilar und ihrem Vater, in dem dieser Cortés' Einladung zur Rückkehr auf die spanische Seite ablehnt, obwohl sie Bernal an anderer Stelle eine unlautere Gesinnung unterstellt: Desde 1568 Bernal Díaz trabaja en la Historia Verdadera de la Conquista de ¡a Nueva España; sus palabras ocultan, muchas veces, las intenciones aunque por su tinta se puede llegar a las brasas ardientes de la avaricia, asi como los lingotes quintados guardan el recuerdo de magníficas joyas labradas por manos indias. (S. 565)
Das Bild der Goldbarren, in denen die Erinnerung an indianische Schmuckstücke weiterlebe, veranschaulicht die Vorstellung, man könne die prähispanische Weltsicht anhand der spanischen Geschichtsschreibung rekonstruieren. Die Problematik dieses Unterfangens kommt im Text jedoch implizit zur Sprache, wenn es heißt: "En esta telaraña del acontecer hay dos versiones: la que cuentan los españoles y la que padecen los indios." (S. 337) Diese Ambivalenz kommt auch in dem folgenden Kommentar zum Untertitel des Romans, Memoria olvidada, trauma de México, zum Ausdruck: Así, las divinidades han quedado dispersas y se han levantado adoratorios en montes, ríos, cavernas y caminos lejanos. El mundo indígena, profundamente religioso, ha caído en la hipocresía y la clandestinidad. La verdad se ha vuelto sectaria, ocultista. Este es el trauma de todo México, la memoria olvidada; nos han obligado a mentir, a ocultar nuestras creencias y sentimientos, a maldecir lo que es propio y a glorificar lo ajeno. [...] Los frailes restringen las expresiones libres que obedecen a sentimientos sinceros; así, el indio que siempre ha adorado el sol, lo tiene que hacer en tinieblas, a oscuras. ¡Adorar al Sol en la noche! contradicción; situación absurda a la que nos llevó la espada. (S. 499)
Hiermit fuhrt der Autor das eigene Unternehmen ad absurdum. Wenn die Indios ihre Kultur nur im Verborgenen bewahren konnten, soweit dies überhaupt möglich war, und sich nach außen verstellen mußten, wie er es so anschaulich beschreibt, wie soll diese dann von späteren Generationen
239
Vgl. ebd.. S. 17.
118 erschlossen werden können? Der Nachwelt bleibt nur die Möglichkeit, zwischen den Zeilen zu lesen. Der ständige Rückgriff auf die Chroniken und Codices macht aus Gonzalo Guerrero: memoria olvidada, trauma de México eine Collage historiographischer und ethnologischer Diskurse. Der mimetische Anspruch der fiktionalen Handlung wird durch die Zitate paradoxerweise gleichzeitig bestätigt und diskreditiert: Sie garantieren einerseits ein Maximum an Authentizität, andererseits markieren sie die Grenze zwischen historischer Wirklichkeit und Überlieferung. Anstatt aber Zitat und Fiktion miteinander zu konfrontieren, ersetzt Villa Roiz die Fiktion durch das Zitat. Der Roman wird auf diese Weise zur Tautologie - Gonzalos Geschichte bildet ein romaneskes Fragment in einem Text ohne Genre. Im Gegensatz zu Villa Roiz stellt der Argentinier Juan José Saer (geb. 1937) den kolonialen Diskurs über den Anderen grundsätzlich in Frage. Sein Roman El entenado (1988) gibt nicht vor, eine wahre Geschichte zu schreiben, sondern parodiert diesen Anspruch. Es handelt sich um eine Ich-Erzählung nach dem Muster der frühen Reiseberichte über die Neue Welt: Ein Spanier, der als junger Mann zehn Jahre unter Indios verbracht hat, bringt im Alter seine Erinnerungen zu Papier. Allerdings schildert er sein gesamtes Leben von der Kindheit bis zum Moment der Niederschrift und folgt damit dem Genre des Picaro-Romans. Als Waise schließt er sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts mit fünfzehn Jahren einer Expedition zu den Molukken an. Bei der Erkundung des Río de la Plata werden der Kapitän und seine Begleiter von Eingeborenen getötet. Der Erzähler wird verschont, aber von den Indios verschleppt und muß mitansehen, wie der Stamm das gegrillte Fleisch seiner Kameraden gemeinsam verspeist, sich betrinkt und anschließend in einer Orgie ohne Rücksicht auf Alter, Geschlecht und Verwandtschaftsverhältnis verausgabt. Er selbst wird nicht behelligt, kann aber erst nach zehn Jahren mit der nächsten Expedition nach Europa zurückkehren und bleibt solange als Gast bei den Indios entenado bedeutet Stief- oder Adoptivsohn, aber auch Waise oder Heimatloser. Der Roman enthält keine präzise Daten, steht aber dennoch mit einem historischen Ereignis in Verbindung: Juan Diaz de Solis entdeckte um 1516 den Río de la Plata und soll dabei mit seinen Leuten einer Gruppe Kannibalen zum Opfer gefallen sein, ausgenommen einen Schiffsjungen, der tatsächlich nach zehn Jahren nach Spanien zurückkehrte, über dessen
119 Aufenthalt bei den Indios aber keine Einzelheiten bekannt sind. Die Wahl dieser nicht dokumentierten Episode, das Fehlen konkreter historischer Angaben und nicht zuletzt der sprachlich und gedanklich moderne, mit dem 16. Jahrhundert unvereinbare Ton der Erzählung zeugen von einem bewußten Verzicht auf Wahrhaftigkeit: Die Historie bildet in Saers Roman vielmehr den Ausgangspunkt für eine Auseinandersetzung mit dem Diskurs über den Anderen und dem Wesen der historischen Erkenntnis im allgemeinen. Wie der Autor mit dem Epigraph, einem Herodot-Zitat über die Menschenfresser, andeutet, bildet der Kannibale seit der Antike das Urbild des Wilden, das absolute Gegenstück zur Zivilisation. Mit der Entdekkung Amerikas erhält dieser Alptraum neuen Stoff. Im Zusammenhang mit den kriegerischen Kariben prägt Kolumbus das Wort 'caníbal', versklavt die Indios unter dem Vorwand des Kannibalismus und etabliert die Dichotomie des guten und des grausamen Wilden. In El entenado wird der koloniale Diskurs dagegen im Keim erstickt. Als der Kapitän seinen ersten Eindruck Uber das erkundete Gebiet formulieren will, "y con la misma expresión de convicción y desconfianza, empezó a decir: Tierra es ésta sin...,"240 trifft ihn ein tödlicher Pfeil. Dem Erzähler geht es ähnlich: Jedes Mal, wenn er sich ein Urteil über die Indios bildet, wird er eines besseren belehrt. Zunächst erleichtert angesichts der Freundlichkeit seiner Entführer beobachtet er sie im nächsten Moment bei der Vorbereitung von Grill und Leichenteilen und muß sein Bild in den kommenden Wochen und Monaten dann aber erneut korrigieren, denn nach dem Exzeß kehren die Indios zu einem friedfertigen und geordneten Alltag zurück, in dem sie auf Menschenfleisch und sexuelle Ausschweifung rigoros verzichten. Dennoch handelt es sich bei dem barbarischen Fest nicht um eine einmalige Entgleisung oder Gelegenheitstat: Jeweils nach Ablauf eines Jahres erfaßt den Stamm eine seltsame Unruhe, ein Hunger, der nur durch ein neues Menschenopfer gestillt werden kann. Der Kannibalismus gehört zum paradoxen Wesen dieses Volkes, nur scheinbar in paradiesischem Einklang mit sich selbst und der Natur. Erst das allmähliche Verständnis seiner Sprache verschafft dem Erzähler einen Einblick in die prekäre Psyche des Stammes. Im Rückblick erklärt er sich sein widersprüchliches - einerseits betont maßvolles, andererseits 240 Barcelona: Oestino 1995. S. 31.
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hemmungsloses - Verhalten durch seine Nähe zum animalischen Ursprung, in den er mit der alljährlichen Überschreitung der kulturellen Tabus von Kannibalismus und Inzest zurückfällt. Die Regression ins Archaische stürzt die Indios in eine Depression, deren Schatten sie das ganz Jahr verfolgt. Nur halb von der Natur gelöst zweifeln sie an der Realität ihrer Umgebung und ihrem eigenen Platz darin - eine Unsicherheit, die sie nur durch die Bindung an einen Ort und eine zwanghaft geordnete Lebensweise zu beherrschen wissen. Nach Ansicht des Erzählers macht jedoch gerade dieser existentielle Zweifel den Menschen aus: ...la certidumbre ciega de ser hombre y solo hombre nos hermana más con la bestia que la duda constante y casi insoportable sobre nuestra propia condición. (S. 109) Die vermeintlichen Wilden, die das Leben als einen täglichen Kampf mit den Instinkten und die Natur als eine fragile Ordnung empfänden, seien nicht weniger human als die Europäer, die ihren primitiven Ursprung verdrängten und in naiver Selbstgewißheit dahinvegetierten. El entenado verweigert sich dem ethnologischen Fragenkatalog zur Erfassung des Anderen und erklärt das Wesen der Kannibalen zum allgemeinen Paradigma menschlicher Existenz. Saer dekonstruiert die Dualität vom guten und bösen Wilden ebenso wie die vom primitiven und zivilisierten Menschen und führt damit auch die romantische Sehnsucht nach dem Ursprung ad absurdum. Nach Saer gibt es keinen Urzustand paradiesischer Unschuld: In der Bemühung um Selbstkontrolle kämpft der Mensch von der archaischen bis zur Hochkultur gegen seinen triebhaften Ursprung an. Von diesem Standpunkt aus löst sich die Opposition zwischen dem Ich und dem Anderen auf in ein universales 'wir': Si sorteamos, valerosos, una noche, otra más grande, un poco más lejos, nos espera. [...] Nuestras vidas se cumplen en un lugar terrible y neutro que desconoce la virtud o el crimen y que, sin dispensarnos ni el bien ni el mal, nos aniquila, indiferente. (S. 190) Die Auflösung dieser Opposition führt nicht zur Befreiung von der kolonialen Fremdheit, sondern umgekehrt zum Gefühl einer universalen Einsamkeit. Bei Saer ist jeder der Andere: "Toda vida es un pozo de soledad que va ahondándose con los años." (S. 42) Mit solchen Reflexionen
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weist der Autor über den kolonialen Kontext hinaus und knüpft an existenzphilosophische Positionen an. Nach Spanien zurückgekehrt fallt es dem mißtrauisch beäugten und befragten Gast der Menschenfresser schwer, in der für ihn nun fremden Alten Welt heimisch zu werden. Von einem väterlichen Mönch in Lesen, Schreiben und humanistischer Bildung unterrichtet schließt sich der Heimatlose nach ziellosem Umherirren einer Theatertruppe an und bringt seine eigene Geschichte erfolgreich auf die Bühne. Allerdings hat das Stück mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun, sondern spiegelt lediglich die Erwartung des Publikums. Nach der Devise "que las respuestas más adecuadas que podemos dar, son aquellas que ya se esperan de nosotros" (S. 142) ersetzt der Erzähler auf der Bühne die Wahrheit durch das Klischee, "el aspecto tolerable de las cosas" (S. 140). Für seine Zeitgenossen reduziert sich die Beziehung zwischen dem Eigenen und dem Anderen auf schematische Kategorien: La condición misma de los indios era objeto de discusión. Para algunos, no eran hombres; para otros, eran hombres pero no cristianos, y para la mayoría no eran hombres porque no eran cristianos. (S. 132) Während 'die Indios' aus der Perspektive der Alten Welt eine homogene Masse bilden, je nach Blickpunkt in paradiesischer Unschuld oder dämonischer Besessenheit lebend, lernt der entenado die Namen und Gebräuche der unterschiedlichen Stämme zu unterscheiden. Die Begegnung mit einer Kultur, die nichts für selbstverständlich hält, erfüllt ihn jedoch mit einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber scheinbar stabiien Kategorien der Erkenntnis. Der Zweifel am Augenschein bildet das Leitmotiv des Romans, konzentriert im Bild des Sternenhimmels, der den Menschen seine Ohnmacht spüren läßt. Ähnlich wie das Firmament und der Traum entzieht sich auch die Erinnerung dem menschlichen Fassungsvermögen: Esos recuerdos que, asiduos, me visitan, no siempre se dejan aferrar; a veces parecen nítidos, austeros, precisos, de una sola pieza; pero, apenas me inclino para asirlos con un solo gesto y perpetuarlos, empiezan a desplegarse, a extenderse, y los detalles que, vistos desde la distancia, el conjunto ocultaba, proliferan, se multiplican, cobran importancia en el conjunto, de modo tal que en un determinado momento una especie de
122 mareo me asalta y ya me resulta difícil establecer una jerarquía entre tantas presencias que me hacen señas. (S. 176) Und doch verdankt und widmet der greise Erzähler sein Leben diesen Erinnerungen. Im Bewußtsein ihrer prekären Existenz hofften die Indios, im Gedächtnis des Fremden weiterzuleben, und machten ihn daher zu ihrem Zeugen. Einzig die Erinnerung an sie überlebt die Conquista, denn der Stamm zeigt sich dieser plötzlichen Veränderung seiner Lebenswelt nicht gewachsen und ergibt sich hilflos dem Ansturm der Spanier. Das Gedächtnis des Augenzeugen liefert keine überprüfbare Erkenntnis und tradiert dennoch eine reale Erfahrung: Otras veces, sin embargo, muchas de esas imágenes se presentan en un orden apacible, desapareciendo y volviendo a aparecer gracias a una fuerza constante y misteriosa que no únicamente les permite conservar sus rasgos inequívocos, sino que pareciera ir puliéndolos y redondeándolos hasta volverlos firmes y nítidos como piedras o como huesos. (S. 177) Einerseits parodiert der Roman die Selbstgewißheit der spanischen Chroniken, andererseits stellt er sich in die Tradition einer Geschichtsschreibung 'von unten' und verweist dabei konkret auf Bernal Díaz del Castillos Historia verdadera de la Conquista de la Nueva España, deren Autor ähnlich wie der entenado als gealterter Mann und aus der Perspektive des Untergebenen seine Erinnerungen verfaßt und sich damit von Cortés' und López de G o m a r a s Berichten abgrenzt. Saer thematisiert eine grundlegende Paradoxie der nueva novela histórica, den Widerspruch zwischen der Skepsis gegenüber j e d e m historischen Wahrheitsanspruch und dem Wunsch, die ü b e r k o m m e n e Geschichtsschreibung durch eine alternative Version zu ersetzen. Wie María Cristina Pons erklärt, begegnet Saer diesem Dilemma durch einen metahistorischen Ansatz: ...lo que se sugiere [en El entenado] es que tanto el relato del entenado como los nativos mismos son construcciones explícitamente ficticias, que no existen más allá del texto y que, en cuanto instrumentos retóricos, no intentan suplir un silencio o una ausencia sino ponerlas de manifiesto,241 241
M. C. Pons, "El entenado: la representación histórica de una otredad ausente", in: Dies., Memorias del olvido. La novela histórica de fines del siglo XX, México: siglo veintiuno 1996, S. 212-253, S. 251 f. (Kursivsetzung von mir.) Pons bezieht ihre
123 Saer maßt sich nicht an, das Verdrängte und mit Phrasen zugedeckte Andere der Geschichte authentisch darzustellen; er erinnert aber daran, daß es existiert hat und totgeschwiegen wurde. El entenado macht Spivaks Unterscheidung zwischen der Vertretung und Darstellung des Subalternen zum Bild für die Fragwürdigkeit der historischen Erkenntnis: Der Andere wird zum Inbegriff einer Vergangenheit, die sich der objektiven Wahrnehmung entzieht. Der Kannibale personifiziert das verdrängte Andere der menschlichen Psyche und Erinnerung, 242 er steht für die dunkle Seite der Historie mit Ereignissen wie dem Verschwinden politisch Mißliebiger während der argentinischen Militärdiktatur. Trotz dieser symbolischen Dimension und Unbestimmtheit der Erzählung erinnert der Roman jedoch durch ein Detail konkret an die Realität der Conquista: Der entenado nennt an einer Stelle den Namen des Volkes, das ihn bei sich aufnahm - es handelt sich um den Stamm der Colastiné, der im Gebiet des Río de la Plata gelebt haben soll, von dem aber heute kaum mehr als der Name bekannt ist.243 Der Roman Crónica del descubrimiento (1980) von Alejandro Paternain (geb. 1933) bildet Uruguays literarischen Beitrag zum Quinto Centenario. Paternains Crónica del descubrimiento ist eine Satire auf Kolumbus' Bordbuch und den kolonialen Diskurs im allgemeinen: Noch vor Kolumbus startet eine Expedition vom indianischen Stamm der 'mitones' zur Entdeckung der Neuen Welt Richtung Osten. Kapitän der drei Kanus ist der Seemann Yasubiré, quien aseguraba que, navegando rectamente hacia donde sale el sol, arribaría a tierras abundantes en armas milagrosas, que permitirían rápidas conquistas; en herramientas mágicas que abreviarían las horas de labor; en hombres ignorantes que no conocían el poder creador de Tebiché ni la inteligencia ordenadora de Tupapá que rige las estrellas, y que serían fácilmente sometidos y convertidos; y sobre todo, en mujeres muy bellas
umfassende und gut dokumentierte A n a l y s e des R o m a n s auf die Diskurstheorie von Hayden White und Michel de Certeau und kommentiert außerdem die bis dahin erschienene Forschung zum Entenado. 242
243
Vgl. ebd.. S. 250: "...en cuanto pasado silenciado la Historia es canibalística en la medida en que siempre 're-muerde' la c o n c i e n c i a histórica, el pasado reprimido siempre retorna.", erläutert Pons in A n l e h n u n g an Certeaus Freud-Rezeption in L'Ecriture de l'histoire. Vgl. zu den Colastiné ebd.. Anm. 6 auf S. 2 1 6 .
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que acrecentarían el número de esposas, siempre y cuando se les tostasen un poco las carnes, demasiado blancas, sin duda. (S. 180 Mit dabei sind neben dem Chronisten und Ich-Erzähler der Schamane Mafiamedi, der Krieger Semancó mit drei Ehefrauen und die zum Rudern abgestellten 'galerones'. Paternains Figuren machen ihrem Namen alle Ehre: Ya/subiré besteht als indianischer Kolumbus darauf, den Ursprung der Sonne zu finden; Maña/me/dí hüllt seine Leute in Nebel, damit sie die Neue Welt ungestört erkunden können; der cholerische Se/mancó bringt die Truppe durch seine Angriffslust in Gefahr und die Götter Te/biché und Tu/papá beschützen die Mitones, die im Spanien des Jahres 1492 für Mauren gehalten und verfolgt werden. Die Neue Welt erweist sich als schon recht abgenutzt und ihre Bewohner als traurige Barbaren, die durch ihre Liebe zur Vergangenheit, zu Gold, Ehre und Ruhm sich selbst und anderen das Leben schwer machen. Anknüpfend an Montesquieus Lettres persanes parodiert Paternain die eurozentrische Rhetorik des Kolonialismus im allgemeinen und die Gemeinplätze der indigenistischen Literatur im besonderen. Diese Gemeinplätze häufen sich in El largo atardecer del caminante (1992), Abel Posses drittem und letztem Roman über die Conquista nach Daimón (1978) über Lope de Aguirre und Los perros del paraíso (1983) über Kolumbus. Hier erzählt der argentinische Schriftsteller (geb. 1939) die 'wahre' Geschichte Alvar Núñez Cabeza de Vacas, der an seinem Lebensabend in einer privaten Version seiner Abenteuer das in den offiziellen Berichten Verschwiegene ergänzt. Im Mittelpunkt der Erzählung stehen die sechs in Florida allein unter Indios verbrachten Jahre, die der reale Cabeza de Vaca in seinem Bericht, den Naufragios (1542), mit wenigen Zeilen resümiert. Posse macht aus Cabeza de Vaca einen zweiten Gonzalo Guerrero: Der Grund für das lange Verweilen bei den Indios sei nicht das Warten auf die Genesung eines Landsmannes gewesen, wie Cabeza de Vaca in seiner Chronik vorgibt, sondern die Ehe mit einer Indianerin. Anlaß zu dieser Spekulation gibt ein mysteriöses 'nosotros' aus Cabezas Chronik, offenbar der Ausdruck eines Gemeinschaftsgefühls, das den Gestrandeten mit den Eingeborenen verbindet. Posse gestaltet Cabeza de Vacas Begegnung mit den Indios nach einem Muster, das bereits in Daimón und Los perros del paraíso anklingt: Die Naturverbundenheit der edlen Wilden
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steht der degenerierten, zerstörerischen Kultur und menschenfeindlichen Religion der Alten Welt als Vorbild gegenüber: "Yo veía en ellos a los hombres en el Origen. Ellos comprobaban en mí los peligros de un ser desbarrancado en la antinaturalidad." 244 Dementsprechend stereotyp sind die Figuren: der weise Häuptling, der den unbedarften Fremdling in Schutz nimmt, das sinnliche Naturkind, der mißtrauische Medizinmann und der ehrgeizige Krieger - allesamt animalische Wesen, "como estos gatos que enigmáticamente especulan por las azoteas de Santa Cruz" (S. 148). Cabeza de Vacas Befreiung von den europäischen Zwängen gipfelt in einer rituellen Drogeneinnahme. Der halluzinogene Rausch, der mehr an New Age-Phantasien erinnert als an prähispanische Kulte, ist ein weiteres Leitmotiv von Posses Conquista-Romanen: Posses Neue Welt ist eine Spielwiese für Aussteiger, die dem westlichen Machthunger entsagen. Die vermeintliche Ursprünglichkeit des präkolumbischen Amerikas liefert den Vorwand für eine stereotype Kulturkritik: Der Autor setzt dem materialistischen 'hacer' des Westens ein - nach Posse genuin amerikanisches - 'estar' entgegen, ein unbefangenes Ausleben des Lustprinzips frei nach Nietzsche und Marcuse. Auf ausgewählte Errungenschaften der Zivilisation wie verführerische Unterwäsche soll jedoch nicht verzichtet werden - die Nacktheit der indianischen Frauen ist Cabeza de Vaca ein Graus. Dessen Auserwählte trägt dagegen nicht zufallig "una camisola de ante [...] como otra delicada piel que se adhieriese a sus formas" (S. 75), um ein harmloses Beispiel für Posses Verbalerotik zu nennen. Die Ethik des Seins setzt sich bei Posse nicht gegen den Ehrgeiz der Karrieristen durch - der tolerante Alvar, der idealistisch-verträumte Kolumbus und der 'südamerikanisierte', durch Selbsterfahrung geläuterte Rebell Aguirre enden als klägliche Figuren. Mit der Umkehrung von civilización und barbarie bestätigt der Autor lediglich die Gültigkeit der Opposition. In El largo atardecer del caminante verzichtet Posse auf die Ironie und die Parodie der Gattungskonvention, die Daimón und Los perros del paraíso den Ruf postmoderner Erzählkunst eingetragen haben.245 Das 244 245
Barcelona: Plaza & Janés 1992. S. 68. Vgl. Ingrid Galster. Aguirre oder: Die Willkür der Nachwelt. Die Rebellion des baskischen Konquistadors Lope de Aguirre in Historiographie und Geschichtsfiktion (¡561-1992), Frankfurt a.M.: Vervuert 1996, S. 731 ff; Daniel A. Capano. "La V07. de la posmodemidad en Daimôn de Abel Posse", in: Alba de América, Bd. 13,
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dem Protagonisten in den Mund gelegte private Bekenntnis, scheinbar der Ausdruck einer alternativen Geschichtsschreibung, wird hier zum Vehikel romantischer Sentimentalität - am Ende des Romans entdeckt Cabeza de Vaca den in Florida zurückgelassenen und nun versklavten MestizenSohn im Hafen von Sevilla, kauft ihn aus der Gefangenschaft frei und schließt den Todkranken ein letztes Mal in seine Arme.
2. Vom Heros zum conquistador-conquistado Analog zur Geschichtsschreibung bestimmt die Opposition zwischen Held und Schurke die Darstellung des Konquistadors im hispanoamerikanischen historischen Roman bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Dies geht beispielhaft aus den von Rainer Domschke untersuchten Texten hervor: Während Octavio Méndez Pereira aus Panama in Núñez de Balboa. El tesoro del Dabaibe (1934) den Entdecker des Pazifiks zum visionären Begründer des mestizaje überhöht, beschreibt Arturo Uslar-Pietri den Rebell gegen die Krone Lope de Aguirre in El camino de El Dorado (1947) als ein machtbesessenes diabolisches Monster, gleichsam eine Personifikation der leyenda negra. Demetrio Aguilera-Malta aus Ecuador instrumentalisiert in El Quijote de El Dorado (1964) und Un nuevo mar para el rey (1965) Conquista-Stoffe für die Oppositionsbildung zwischen einem vorbildlichen Helden und einer gewissenlosen Kontrastfigur zur Idealisierung der patriarchalischen Ordnung. Francisco de Orellana und Nuñez de Baiboa werden hier als moralisch integre caudillos dargestellt, die sich von egoistischen und grausamen Konquistadoren positiv abheben und als Gegenleistung für ihren Opfermut von der Masse Ergebenheit erwarten können.246
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1995, S. 261-270. sowie Amalia Pulgarin, "La reescritura de la historia: Los perros del paraíso de Abel Posse", in: Dies.. Metaficción historiográfica. La novela histórica en la narrativa hispánica posmodernista. Madrid: Fundamentos 1995, S. 57106. Domschke nimmt an. daß Aguilera-Malta die autoritäre Gesellschaftsordnung in Abgrenzung zur kubanischen Revolution propagiere, die das Modell einer sozialistischen Demokratie in greifbare Nähe gerückt hatte. (Vgl. Domschke 1996. S. 48f.)
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1958 begründet Alejo Carpentier (1904-1980) mit der Erzählung El Camino de Santiago jedoch ein neues Bild des Konquistadors. Er nimmt damit die Darstellung der Eroberer in der nueva novela histórica ebenso wie in der neueren Forschung im Kern vorweg. Wie die folgende Analyse zeigt, handelt es sich um einen Schlüsseltext.
a) El Camino de Santiago - Fernweh im Teufelskreis El Camino de Santiago handelt von einem spanischen Soldaten, der in den 60er Jahren des 16. Jahrhunderts in Flandern an den Religionskriegen teilnimmt, dort die Pest überlebt und daraufhin in Erfüllung eines Gelübdes die Pilgerschaft nach Santiago de Compostela antritt. Unterwegs entschließt er sich jedoch, sein Glück in der Neuen Welt zu suchen, verfuhrt durch Legenden über die Reichtümer und Wunder Amerikas, von Fabeltieren bis zum Quell der ewigen Jugend. Ein von dort zurückgekehrter Schausteller überzeugt ihn schnell, sich der nächsten Expedition über den Atlantik anzuschließen. Auf diese Weise gelangt der Soldat Juan nach Kuba. Im heruntergekommenen Havanna hängengeblieben, wo der Goldrausch schon lange vorbei und von den Verheißungen, die auf spanischen Marktplätzen kursieren, keine Spur zu sehen ist, sticht er eines Tages im Streit jemanden nieder und flieht aus der Stadt. An einem einsamen Strand fällt er schließlich einem Franzosen in die Hände, der dem berüchtigten Massaker entkommen ist, mit dem Pedro Menéndez de Avilés 1565 in Florida die dort siedelnden französischen Hugenotten aus dem Weg räumte. Dessen Beschreibung des Gemetzels entsetzt selbst den sonst nicht zimperlichen Juan, der den zornigen Mann gerade noch davon abbringen kann, sich blutig an ihm zu rächen: Seiner Ansicht nach hätten Religionsstreitigkeiten in Europa zwar ihre Berechtigung, seien in der Enklave gleichermaßen Verfemter - der eine Calvinist, der andere ein Mörder - jedoch nicht angebracht. Zusammen mit einem Juden, Indios und von einer Zuckerrohrplantage entkommenen Afrikanern verwirklichen die beiden ein friedliches Zusammenleben der Rassen und Religionen.
128 Dieses vermeintlich utopische Szenario zeigt jedoch Brüche.247 Es hat den Charakter eines Waffenstillstands, in dem jeder die Sitten des Anderen für einen begrenzten Zeitraum stillschweigend akzeptiert, ohne sich dabei auf eine kulturelle Verständigung oder sogar synkretistische Übernahme fremder Gepflogenheiten einzulassen. Bald packt die drei Europäer das Heimweh und sie verfluchen estas tierras ruines, llenas de alimañas, donde el hombre, engañado por gente embustera, viene a pasar miserias sin cuento, buscando el oro donde no reluce, siquiera, una buena espiga de trigo.248 Damit entwirft Carpentier ein radikales Gegenbild zur überkommenen Vision der Conquista als ein glanzvolles Unternehmen, bei dem sich die Eroberer vorkommen wie Amadis de Gaula in einer märchenhaften Welt voller Verlockungen - verborgene Goldschätze, edle Jungfrauen - , um die es sich tapfer zu kämpfen lohnt. Carpentiers Erzählung liest sich als eine Satire auf die romantische Verklärung der Eroberung im Sinne William Prescotts. Sie bricht darüber hinaus mit Carpentiers eigener Überhöhung der Geschichte Lateinamerikas als "crónica de lo real maravilloso".249 Aus Langeweile machen sich die Dahergelaufenen, allesamt aus einfachen Verhältnissen, voreinander mit adligen Stammbäumen wichtig. Bald ist Juan auch der zwei schwarzen Frauen überdrüssig, die dem Spanier selbst in der freien Gemeinschaft der cimarrones, in Sicherheit vor Sklaverei, Gesetz und Inquisition, wie selbstverständlich zu Diensten sind. Die ungleiche ménage à trois versetzt der Fassade des arkadischen Zusammenlebens der drei Rassen einen weiteren Riß.250 Juan wird 247
Antonio Benítez Rojo beschreibt es in einem Aufsatz über die Erzählung als "un hábitat utópico cuyas bondades residen en una naturaleza gratificante y en un sincretismo racial y cultural que disuelve las tensiones propias del Viejo y el N u e v o Mundo" und "un símbolo...de lo que debe y puede ser América" - eine Deutung, die den P e s s i m i s m u s der nur scheinbar utopischen Episode übersieht. ("FJ Camino de Santiago de A l e j o Carpentier y el Canon Perpetuus de Juan Sebastian Bach: Paralelismo estructural", in: Revista Iberoamericana, Bd. 49, Nr. 123/124, 1983. S. 2 9 3 3 2 2 , S. 3 1 5 . )
248 249
Guerra del tiempo y otros relatos, S i e h e Kap. II.l.c).
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Juan gibt den Frauen selbsterdachte N a m e n und reduziert sie auf ihren Nutzwert: "Asi, tiene ahora el tambor Juan de Amberes d o s negras para servirle y darle deleite.
Madrid: Alianza 1987, S. 4 1 - 7 9 . S. 69f.
129 schließlich krank vor Heimweh und ergreift gemeinsam mit dem Calvinisten und dem Juden sofort die Gelegenheit, nach Europa zurückzufahren, als sich ein Schiff vor der Küste zeigt. Ein verhängnisvoller Entschluß für die beiden Ungläubigen: Bei der Ankunft in spanischen Gewässern werden sie prompt von der Inquisition ergriffen. Juans Geschichte schließt sich dagegen zum Kreis: Nun nicht mehr 'el Romero', sondern 'el Indiano', ein neuer Rückkehrer aus Westindien, überzeugt er nun seinerseits den nächsten Juan auf dem Pilgerweg von den unbegrenzten Möglichkeiten der Neuen Welt. Er selbst folgt seinem Wiedergänger zur Casa de la Contratación nach Sevilla, denn nun sehnt er sich nach seinen schwarzen 'Doñas' zurück. El Camino de Santiago entwirft die Utopie einer toleranten Gesellschaft, die daran scheitert, daß sich die Europäer der Verwirklichung dieses Ideals nicht gewachsen zeigen. Nicht bereit zu einem echten Neubeginn auf der sozialen Tabula rasa des unbekannten Kontinents verpassen sie die Gelegenheit zu einer Versöhnung der Rassen und Konfessionen. Menéndez de Avilés' Massaker an den Hugenotten markiert die Durchsetzung kolonialer Interessen über alternative Gesellschaftsmodelle auf der Basis religiöser Toleranz: Thomas Morus' Utopia (1516) und die von Las Casas und Vasco de Quiroga angestrebte friedliche Missionierung werden durch diesen Gewaltakt definitiv ins Reich der Illusion verwiesen. Neben dem Ideal einer toleranten Gemeinschaft scheitern in El Camino de Santiago auch die materialistischen Hoffnungen, die Glücksritter wie Juan in die Neue Welt setzten: der Traum von Reichtum und Ehre, cuando el cuerpo se lo pide. [...] C o m o D o ñ a Mandinga y D o ñ a Y o l o f a hablan idiomas distintos, no discuten a la hora de ensartar los peces por las agallas en el asador de una rama." (S. 6 6 ) In dieser humoristisch pointierten erotischen Idylle gibt es ein Machtgefälle, das Carpentier stillschweigend übergeht. Und dies ist nicht das einzige Beispiel für die Verharmlosung der Gewaltausübung gegenüber (schwarzen) Frauen in seinem Werk: S o erklärt er in "De lo real maravilloso americano" ( 1 9 4 9 ) seine Verachtung für die Dichter des Surrealismus, '"que hallan placer en violar los cadáveres de hermosas mujeres recién muertas', sin advertir que lo maravilloso estaría en violarlas vivas", und postuliert "que hay escasa defensa para poetas y artistas que loan el sadismo sin practicarlo, admiran el supermacho por impotencia" etc. (Carpentier 1987, S. 75.) In El Siglo de las luces stilisiert er dementsprechend eine Massenvergewaltigung von Sklavinnen zu einem revolutionären, ja religiösen Akt "liturgia colectiva, desaforada, ignorante de toda autoridad o ley". (Madrid: Cátedra 1982, S. 2 6 1 . )
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oder allgemeiner gesprochen vom irdischen Glück, der in der Legende vom Quell der ewigen Jugend zum Ausdruck kommt. Juans Reise nach Amerika bringt ihm nichts ein, ganz im Gegenteil - sie kostet ihn die Identität. Mit seiner Rückkehr nach Europa setzt sich ein Teufelskreis des Verlangens nach dem jeweils Anderen in Gang: Er wird weder die Kathedrale von Santiago de Compostela noch die Schätze des El Dorado je erreichen, da er sich immer dann eines besseren besinnt, wenn das Erträumte in Reichweite rückt. So kann er weder das Eigene noch das Fremde genießen, weder die Erotik der Afrikanerinnen noch die der Rubens-Schönheiten. Benítez Rojo vergleicht Juan den Pilger und Juan 'el Indiano' mit "Fausto y Mefistófeles que firman el pacto en la taberna con sangre de tintazo, pues después de todo América era vista por muchos como el Reino del Maligno".251 Die Erzählung läßt sich nicht nur durch das Motiv des Teufelspaktes mit dem Faust-Mythos in Verbindung bringen. Als sich die beiden am Ende des Textes in Sevilla ihrer Schutzheiligen empfehlen, spricht sich der heilige Santiago für die Conquista aus, allerdings mit einem pragmatischen Hintergedanken: "Dejadlos, Señora", spricht er zur Jungfrau Maria, "pensando en las cien ciudades nuevas que debe a semejantes truhanes. Dejadlos, que con ir allá me cumplen." (S. 78) Doch auch der Teufel wirbt Soldaten an: Y c o m o Belcebú siempre se pasa de listo, he aquí que se disfraza de ciego, vistiendo andrajos, poniendo un gran sombrero negro sobre sus cuernos [...] y canta, bordonoeando en la vihuela con sus larguísimas uñas: ¡Animo, pues, caballeros,/ Animo, pobres hidalgos,/ Miserables, buenas nuevas,/ Albricias, todo cuitado!/ ¡Que el que quiere partirse,/ A ver este nuevo pasmo,/ Diez naves salen juntas,/ De Sevilla este año...! (S. 79)
Beelzebub macht der christlichen Seite harte Konkurrenz - die Szene erinnert an die Wette zwischen Gott und Mephisto in Goethes Faust 251
Der Nachsatz bezieht sich auf Lope de Vegas Famosa Comedia del Nuevo Mundo descubiertopor Cristobal Colon. (Benitez Rojo 1983, S. 317.) 252 Sie parodiert außerdem eine allegorische Gerichtsentscheidung über die Zukunft Amerikas in Lope de Vegas Comedia del Nuevo Mundo descubierto por Cristobal Colon. Siehe zum Motiv der allegorischen Gerichtsverhandlung bzw. zum FaustMythos in El arpay la sombra Kap. IV. La) u. 2.a).
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Der Soldat Juan wird für den Teufelspakt mit enttäuschten Hoffnungen und Rastlosigkeit bestraft: Die Entwurzelung ist der Preis dafür, daß er sich auf die Verführung durch das Fremde eingelassen hat. Carpentier demythifiziert den Konquistador: Aus der epischen Figur Held oder Schurke, aber immer von gleichsam übermenschlichem Format - macht er einen einfachen Soldaten, der der Neuen Welt gar nichts Besonderes abgewinnen kann. Zwanzig Jahre später vertieft er dieses Thema in El arpa y la sombra mit Bezug auf Kolumbus' Reiseberichte und nennt den enttäuschten Entdecker einen 'conquistador-conquistado'. Das Motiv des conquistador-conquistado hat sich in der nueva novela histórica zu einem vielfach variierten Topos entwickelt. Die historiographische Forschung ihrerseits bestätigt Carpentiers Darstellung der Conquista.253
b) Der Konquistador bei Posse, Roa Bastos und Aridjis In der nueva novela histórica schrumpft der Übermensch auf Durchschnittsmaß - das gilt für den Eroberer ebenso wie für den Indio. Das Leitmotiv der Darstellung des Konquistadors im neuen historischen Roman ist die enttäuschte Erwartung. So behandeln die unter Kap. Ill.l.b) angesprochenen Romane von Eduardo Labarca, Carlos Villa Roiz, Eugenio Aguirre, Juan José Saer und Abel Posse das Schicksal des unter Indios lebenden Konquistadors als Paradigma einer Begegnung mit dem Fremden außerhalb der kolonialen Hierarchie und Kontrolle. Anders als Odysseus, Sindbad oder Robinson Crusoe kehren literarische Gestalten wie der Soldat Juan und Gonzalo Guerrero nicht zum eigenen Kulturkreis zurück, sondern werden sich selbst fremd. Die Gestalt des conquistadorconquistado bricht mit einem archetypischen Motiv der Weltliteratur, der Heimkehr des in der Fremde Verschollenen. 253
Mit Blick auf Lope de Aguirres Briefe, aber auch unter expliziter Bezugnahme auf EI Camino de Santiago, beschreibt Beatriz Pastor das Schicksal der Eroberer als eine doppelte Entfremdung: "Pero, en aquel proceso de reducción del Nuevo Mundo a mitos europeos y sueños personales, se perdió la posibilidad de un verdadero descubrimiento de América. Y todavía se perdió algo más, porque el proceso de conquista vendría a ser para muchos un viaje sin retorno, que destruiría la identidad del conquistador y lo obligaría a ver con ojos nuevos la propria realidad de origen, revelando contradicciones, destruyendo ilusiones e iluminando su creciente alienación con respecto a Europa y América." (Pastor 1992, S. 158.)
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Die Demythifizierung des Heros erfolgt bei Benítez Rojo und Carpentier durch eine Psychologisierung, bei Posse, Herminio Martínez und Augusto Roa Bastos durch parodistische Überzeichnung. In Posses Daimón (1978) wird Lope de Aguirres Rebellion gegen König und Gesetz zum Vorwand für ein groteskes Schwelgen in erotischen und Gewaltphantasien - als unverbesserlicher Zotenreißer und Tyrann, sentimental und sarkastisch zugleich, wandert Posses unsterblicher Aguirre durch die Jahrhunderte.254 Jonglierend mit Anachronismen, Umgangssprache, impressionistischen Satzfetzen und Zitaten aller Art kreiert der Autor einen Prosa-Cocktail light, dessen Rezept er in Los perros del paraíso (1983) erfolgreich variiert.255 Dieser Roman verhalf Posse 1987 zum angesehenen Premio Rómulo Gallegos und damit auch zur akademischen Rezeption, nachdem der argentinische Kulturbetrieb den Autor wegen seiner diplomatischen Vertretung der Militärdiktatur lange ignoriert hatte. Das Schwelgen in Erotik und Gewalt wiederholt sich bei Martínez, dessen Roman Diario maldito de Ñuño de Guzmán (1990) nicht umsonst einen als grausam verschrienen Konquistador zum Protagonisten hat. Neben Daimón treiben die Kolumbus-Romane von Posse und Roa Bastos die Parodie der Geschichtsschreibung am weitesten. Posse macht in Los perros del paraíso Kolumbus, die Entdeckung und das Spanien der Katholischen Könige zum Gegenstand einer deftigen Satire und verspottet die historiographische Konvention mit Anachronismen, pseudowissenschaftlichen Fußnoten und der Auflistung apokrypher historischer Daten zu Beginn der vier Teile des Romans.256 Die Ansicht, daß eine ideolo254
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In Miguel Otero Silvas Lope de Aguirre: Príncipe de la libertad (1979) erhält das Motiv der hoffnungslosen Rebellion und des enttäuschten Größenwahns dagegen eine tragische Dimension. Vgl. z.B. den Anfang von Los perros del paraíso: "Entonces jadeaba el mundo, sin aire de vida. Abuso de agonía, hartura de muerte. Todos los péndulos recordaban el ser-para-la-muerte. En Rottenburg, en Tubinga, en Avila, Urbino. Burdeos. París o Segovia. Jadeaba la vida sin espacio. El dios hebreo, indigestado de Culpa, había terminado por aplastar a su legión de fervorosos bípedos." (Buenos Aires: Emeeé 1987, S. 11.) Typisch für den burlesken Ton des Buches sind z.B. Kolumbus' Eskapade mit der als Domina dargestellten Beatriz de Bobadilla, der damaligen Herrin der KanarenInsel Gomera, und König Ferdinands Reaktion auf die Nachricht vom Fund des Paradieses ("¡Maldito genovés! ¡Se le manda por oro y tierras y él nos devuelve una caja con moñito llena de plumas de ángel!"; Posse 1987, S. 196). Vgl. hierzu auch
133 giekritische Intention die ludische Dimension des Romans transzendiere,257 ist fragwürdig, denn für Los perros del paraíso gilt das Gleiche, was Galster mit Bezug auf Daimón konstatiert: ...der Ton des Romans [unterminiert] jede ernstgemeinte Aktualisierung seines Bedeutungspotentials, denn die bitteren Wahrheiten, die er vermittelt, werden nicht mit dem Gestus der Anklage vorgetragen, sondern in einer spielerisch ironischen Weise suggeriert, die das Gesagte permanent zugunsten eines anderen Gemeinten zu dementieren scheint.258 Augusto Roa Bastos (geb. 1917) verspricht dagegen im Vorwort zu Vigilia del Almirante ( 1992) eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Historie: Tanto las coincidencias como las discordancias, los anacronismos, inexactitudes y transgresiones con relación a los textos canónicos, son deliberados pero no arbitrarios ni caprichosos.259 Kolumbus' Lebensgeschichte bildet hier den roten Faden einer fragmentarischen Diskussion über das Wesen von Fiktion und Historiographie. Das Wort ergreifen abwechselnd Kolumbus selbst und ein Erzähler, der sich mal allwissend, mal unbedarft gibt und die Bekenntnisse des Admirals kommentiert. Neben bekannten Chroniken und Dokumenten 'zitiert' und diskutiert Roa Bastos apokryphe Schriften, so ein obskures Libro de memorias des Admirals. Dabei gelangt der Erzähler zu der Überzeugung, daß ein legendärer 'Piloto anónimo' noch vor Kolumbus im Westen auf Land gestoßen sei, ihm dieses Geheimnis offenbart und damit den Weg nach Amerika geebnet habe. Kolumbus' überlieferte Lebensge-
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Klzbieta Sklodowska. La parodia en la nueva novela hispanoamericana (19601985). Amsterdam. Philadelphia: John Benjamin Publishing Company 1991. S. 3 7 ff. Vgl. ebd.. S. 43. sowie Mentón 1993. S. 128. Cialster 1996. S. 722. Das betrifft selbst die in Daimón enthaltene Beschreibung einer Folterung in einem lateinamerikanischen Gefängnis des 20. Jahrhunderts, die aus dem Kontext gelöst vielleicht trotz des ironischen Tons als Kritik ausgelegt werden könnte. (Barcelona: Plaza & Janés 1993, S. 271 ff) Dieses Potential wird jedoch durch eine Reihe vergleichbarer Szenen in dem Roman nivelliert, in denen die detaillierte Schilderung von Gewalt lediglich den Zweck hat, ein voyeuristisches Interesse zu befriedigen. Madrid: Alfaguara 1992. S. 12.
134 schichte verliert sich in einem Redestrom über die Frauen, seine Kindheit und Jugend, das Schachspiel, kabbalistische Zahlensymbolik, das Schreiben und vieles mehr, vor allem aber über seine göttliche Bestimmung zum Entdecker. Die Bekenntnisse eines Hochstaplers mit mystischen Neigungen erinnern mitunter an die Romane von Carpentier und Posse, aber auch Don Quijote wird als Pate herangezogen: Roa Bastos' Kolumbus ist eine Kunstfigur ohne Anspruch auf psychologische Stimmigkeit, eine Mischung aus Phantasien des Autors und derer, die sich vor ihm zu Kolumbus geäußert haben. Auf der einen Seite steht die historische Figur, "el puñado de sombra vagamente humana que quedó del Almirante" (S. 1 1), mehr Symbol als Mensch, nach Roa Bastos dennoch sin duda el precursor preclaro de conquistadores, inquisidores y encomenderos que descubrieron y expoliaron para Europa el Orbe Nuevo ampliando y profundizando el proyecto del Almirante. (S. 68) Die literarische Gestalt, beheimatet im zeitlosen Kosmos der Intertextualität, befindet sich dagegen jenseits der Topoi der leyenda negra. Ein Bekenntnis des Memoirenschreibers Kolumbus offenbart die Poetik des Romans: Las palabras y las frases que he robado de los libros, robadas a su vez de otros libros, están ahí, sobre los folios, vacías de su sentido original. [...] Un lector nato siempre lee dos libros a la vez: el escrito, que tiene en sus manos, y que es mentiroso, y el que él escribe interiormente con su propia verdad. (S. 152) Ein Cervantes-Pastiche verweist in diesem Sinne nicht nur auf quijoteske Züge des Porträtierten, sondern darüber hinaus auf Borges' Betonung der Rolle des Lesers in Pierre Menard, autor del Quijote. Vigilia del Almirante enthält einen über das Buch verstreuten Katalog von Schlüsselgedanken der postmodernen Geschichts- und Literaturtheorie. 260 260
Vgl. neben dem Vorwort und dem Epigraph von Edmond Jabés ("Estoy ausente porque soy el narrador. Sólo el relato es real. Tú eres el que escribe y es escrito") die folgenden Äußerungen zum Thema Fiktion und Wirklichkeit, Schein und Sein: "Las cosas no son como las vemos y sentimos sino como queremos que sean vistas, sentidas y hechas." (S. 17); "Lo real y lo irreal cambian continuamente de lugar. Por momentos se mezclan y engañan." (S. 20); "Los héroes se diferencian muy poco de
135 Es handelt sich in diesem Sinne um einen Thesenroman: Zitat, Pastiche und freie Erfindung verschmelzen bei Roa Bastos zu einem Konglomerat ohne stringente Handlungsführung, Struktur oder Argumentation. 261 Roa Bastos überläßt es dem Leser, sich eine eigene Meinung über Kolumbus zu bilden, denn: De todos modos, es casi imposible seguir y penetrar los principios y causas últimas que movieron a este hombre enigmático y contradictorio, amazacotado y sórdido. [...] El pobre Almirante y su desaforada hazaña náutica no fueron más que un instrumento ciego de los cambios profundos que se estaban produciendo en los imperios de Occidente. (S. 207) Vigilia del Almirante schildert weniger die historische Gestalt des Entdeckers als die Schwierigkeit, sie zu erfassen. Roa Bastos zeichnet einen Mann mit Marotten - keinen Helden, sondern einen Spielball der Historie und des Urteils der Nachwelt. Dieses Problembewußtsein vermißt man in Memorias del Nuevo Mundo (1988) von dem Mexikaner Homero Aridjis (geb. 1940). Dieser Roman verknüpft die Geschichte des spanischen Soldaten Juan Cabezón, einer fiktiven Figur, mit einem Panorama der Conquista von Kolumbus' erster Reise über die Eroberung Mexikos und die Konsolidierung NeuSpaniens bis zum Jahr 1560. Ähnlich wie in Carlos Villa Roiz' Gonzalo Guerrero: memoria olvidada, trauma de México bildet die unbedeutende fiktive Handlung dabei lediglich den Rahmen für eine Nacherzählung der historischen Überlieferung. Am Ende des Romans fuhrt Aridjis die Quellen einzeln auf, ergänzt sie durch eine lange Liste von Autoren neuerer Geschichtswerke und dankt schließlich all jenen, "que desde la búsqueda, fundación, construcción, destrucción de la ciudad de México-
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Ios criminales. A veces éstos son más héroes y los héroes más criminales." (S. 32): "¿Cómo optar entre hechos imaginados y hechos documentados? [...] ¿Se excluyen y anulan el rigor científico y la imaginación simbólica o alegórica? No. sino que son dos caminos diferentes, dos maneras distintas de concebir el mundo y de expresarlo." (S. 65): etc. Vgl. zu dem Paradox eines Thesenromans ohne eindeutige Aussagen Maria Caballero Wangüemerts ebenso kundige wie kritische Würdigung des Romans "Colón y la ficción hispanoamericana: 'La Vigilia del Almirante'", in: Entre Puebla de los Angeles y Sevilla. Estudios Americanistas en homenaje al Dr. José Antonio Calderón Quijano. Sevilla: Escuela de Estudios Hispano-Americanos, Universidad de Sevilla 1997. S. 595-606. hierzu S. 596ff.
136 Tenochtitlan han escrito sobre ella".262 Dies scheint angesichts der in dem Roman enthaltenen umfassenden Information nicht übertrieben. So folgt die Darstellung von Cortés' Marsch von Veracruz bis Tenochtitlan über vieje Seiten hinweg Bernal Díaz del Castillos Historia verdadera de la conquista de la Nueva España beinahe aufs Wort, aufgelockert nur durch einige Dialoge und Ergänzungen, die den Text mit dem fiktionalen Rahmen verschränken. Im Gegensatz zu Villa Roiz macht Aridjis die Chronikzitate aber nicht kenntlich, sondern verschmilzt sie als Pastiche mit der Geschichte des Protagonisten Juan Cabezón. Dieser kleine Soldat ist jedoch nichts weiter als ein Statist, ein neutraler Beobachter der Ereignisse. Sein persönliches Empfinden wird nur vage angedeutet: Man erahnt ein Gefühl der Ohnmacht gegenüber einem historischen Geschehen, das die von Cabezón vertretene namenlose Masse überrollt und die Hoffnungen des Einzelnen zunichte macht. Persönlichkeiten wie Kolumbus und Cortés wirken hier jedoch ebenso farblos wie Cabezón. Aridjis schildert Conquista und mestizaje pauschal als das Zusammentreffen zweier grausamer Kulturen, mit Inquisition und Habgier auf der einen Seite, schrecklichen Menschenopfern auf der anderen. Memorias del Nuevo Mundo rekapituliert historiographische Stereotype ohne die ironische Distanz, die die Parodie vom Pastiche unterscheidet. Wie Domschke seine Analyse des Romans zusammenfaßt, erscheint [der Text] zunehmend als .fingierte Fiktion', als poetisch lackierte Wiederholung von prinzipiell Bekanntem, als exemplarisches Repetitorium eines historischen und literarischen Bildungskanons ohne relevante Besonderheit. 2 6 1
Nach einer "konsistenten 'Botschaft' zum Thema Conquista und Vergangenheitsbewältigung"264 sucht man vergeblich. Domschkes abschließende Deutung des Romans als bewußter Rückgriff auf die offene Form der Chronik und "selbstbewußte Hinwendung zu einer 'dezentralistischen' Wirklichkeits- und Textauffassung", mit der Aridjis den Text einem "von autoritären Fremdbestimmungen befreiten croisement der Signifikanten" 262 263 264
Barcelona: Edhasa 1991. S. 396. Domschke 1996, S. 170-215, S. 203. Ebd., S. 208.
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überlasse, überzeugt dagegen nicht.265 Domschkes widersprüchliche Auslegung des Romans spiegelt die Ambivalenz des Pastiches zwischen einer parodistischen Infragestellung und unkritischen Variation überkommener Diskurse - der Unterschied besteht oft nur in einer Nuance. Während Roa Bastos durch metafiktionale Kommentare zu den zitierten Stimmen Stellung nimmt, setzt Aridjis keine derartigen Signale. Die Vorstellung, er schaffe durch diese Zurückhaltung einen herrschaftsfreien Diskurs, ist illusionär, da sich ja bereits in der Auswahl der Zitate die Hand des Autors bemerkbar macht. Treffend ist indessen Domschkes Diagnose einer "Ästhetik der Substanzlosigkeit"266 als Ausdruck der aktuellen Utopieverdrossenheit. Diese Substanzlosigkeit charakterisiert Memorias del Nuevo Mundo ebenso wie die Romane von Posse und Martínez, und in gewissem Maße auch Vigilia del Almirante. Sie bildet eine grundlegende Tendenz der nueva novela histórica.
3. Zwischen den Fronten: die Sicht der Frauen Roger Bartra betrachtet den Tausch, der anläßlich von Cortés' erster kriegerischer Auseinandersetzung mit den Maya stattfand, als Urszene eines durch Frauen vermittelten Kulturkontakts: Die Spanier erhielten zwanzig junge Mädchen, darunter die Malinche, Cortés' spätere Dolmetscherin und Geliebte, die Kaziken dagegen ein Bild der Jungfrau Maria, die sie gerne in ihr heidnisches Götterkorpus aufnahmen. 267 Wie Jean Franco zu recht moniert, verharmlost diese Deutung die Gewalt, die zu diesem Handel führt: Die indianischen Frauen gehörten zur Beute der Konquistadoren wie Gold und Land.268 In El laberinto de la soledad er-
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Ebd.. S . 2 0 6 f . Ebd.. S. 213. Vgl. Bartra 1987. S. 206fY, sowie Bemal Diaz del Castillo, Historia verdadera conquista de la Nueva España, Madrid: Espasa-Calpe 1992 (9. Aufl.). XXXVI, S. 97. Vgl. Jean Franco. "La Malinche. From Gift to Sexual Contract", in: Critical ons. Selected essays, hg. v. Mary Louise Pratt u. Kathleen Newman, Durham, don: Duke University Press 1999, S. 66-82, hier S. 75f.
de la Kap. passiLon-
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klärt Octavio Paz die Malinche in diesem Sinne zum Urbild der passiven chingada und damit zum Inbegriff des von ihm diagnostizierten nationalen Minderwertigkeitskomplexes. In den letzten Jahren erfahrt das Bild der Malinche jedoch einen Wandel, an dem sich eine veränderte Einstellung zu Fragen der Nationalität und Ethnizität ablesen läßt. So betrachten Tzvetan Todorov und Stephen Greenblatt die Malinche nicht mehr als Sinnbild für eine kulturelle Spaltung, sondern als Vermittlerin zwischen den Kulturen und damit als Paradigma des Intellektuellen.269 Die Chicanas erheben sie dagegen zur Symbolfigur einer postnationalen weiblichen Identitätssuche.270 Gemeinsam ist diesen Ansätzen, daß sie der Malinche im Gegensatz zu Paz eine aktive Rolle zuschreiben. Diese Umwertung ist repräsentativ für das im Zuge der Akzentverschiebung von der Ereignis- zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte in den letzten Jahrzehnten allgemein erstarkte Interesse an der Geschichte der Frauen.271 Parallel dazu lösen Figuren der nueva novela wie Susana San Juan aus Pedro Páramo und Ursula Buendia aus Cien años de soledad die Heroinen der foundational fiction ab, deren Bestimmung sich allein in der Ehe und Unterstützung männlichen Tatendrangs erfüllt. Diese Entwicklung setzt sich fort in der nueva novela histórica. Eine Reihe von Texten schildert die Historie aus weiblicher Perspektive, darunter Juanamanuela, mucha mujer (1980) von Martha Mercader aus Argentinien, La tejedora de coronas (1982) von Germán Espinosa aus Kolumbien und Noticias del imperio (1987) von Fernando del Paso aus Me269
N a c h Franco identifizieren sich Todorov und Greenblatt mit der Malinche und vergessen dabei aber, daß diese nicht außerhalb der miteinander konfrontierten Kulturen stand, sondern als Tauschobjekt unter dem Druck wechselnder Machtverhältnisse handelte. Vgl. dies., "La Malinche y el Primer Mundo", in: Margo Glantz (Hg.), La Malinche, sus padres y sus hijos, M é x i c o : Facultad de Filosofía y Letras. U N A M 1994. S. 153-167. hierzu S. I59f.
270 271
Vgl. ebd., S. I62ff. Vgl. zur Geschichte der Frauen in der Conquista z.B. Barbara Potthast-Jutkeit, "Indianerinnen, Spanierinnen und Konquistadoren. Zum Verhältnis von Rasse. Klasse und Geschlecht in Lateinamerika im 16. Jahrhundert", in: André Stoll (Hg.), Sephardert, Morisken, Indianerinnen und ihresgleichen: die andere Sicht der hispanischen Kulturen, Bielefeld: Aisthesis 1995, S. 71-86. Potthast differenziert das pauschale Bild der Indias als passive Opfer der Conquista durch den Verweis auf Abwehrstrategien s o w i e zeitliche, räumliche und soziale Faktoren, die sich auf das Verhältnis zwischen Rasse und Geschlecht unterschiedlich auswirkten.
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xiko. Das vorliegende Korpus von Romanen über die Conquista enthält vier Texte mit weiblichen Protagonisten: Rio de las congojas (1981) von Libertad Demitrópulos (geb. 1922) aus Argentinien, Ay Mama Inés (1993) von Jorge Guzmán (geb. 1931) aus Chile sowie Duerme (1994) von Carmen Boullosa und Amor y conquista (1999) von Marisol Martín del Campo (geb. 1947) aus Mexiko. Schon der Untertitel von Amor y conquista - "La novela de Malinalli mal llamada la Malinche" - verrät den Anspruch dieses Romans über Cortés' rechte Hand. "Esta obra [...] intenta rescatar a esta excepcional mujer del olvido y de los prejuicios, desmitificarla y presentarla como fue, de carne y hueso.", heißt es auf dem Buchrücken. Neben Memorias del Nuevo Mundo und Gonzalo Guerrero, memoria olvidada, trauma de México ist Amor y conquista der dritte Roman aus dem Korpus, der die Eroberung Mexikos detailliert schildert, aber der einzige, der diesem umfangreichen Stoff einen überzeugenden fiktionalen Rahmen gibt. Der Roman erzählt die Geschichte der Malinche bzw. Malinallis, wie sie mit indianischem Namen geheißen haben soll, von ihrer Kindheit bis zum Tod. Die Fußnoten am Ende des Buches belegen eine sorgfaltige Auseinandersetzung mit den Quellen, die aber im Text selbst nicht zitiert werden. Die Erzähler wechseln ab: Es spricht eine Hofdame von Montezumas Gattin, die Tochter dieser Hofdame, die die Erinnerungen ihrer Mutter für die Nachwelt festhält, Malinalli selbst sowie ein auktorialer Erzähler. Martin del Campo berücksichtigt beide Seiten der Conquista: Nicht nur die bekannten Konquistadoren, sondern auch die indianischen Anführer werden lebendig charakterisiert, als Menschen mit Stärken, Schwächen und vor allem mit Gefühl. Obwohl die Autorin zahlreiche Namen und Begriffe in Nahuatl verwendet, um den Zugang zur fremden Kultur zu erleichtern, wie sie in einer Schlußnotiz erläutert (was allerdings trotz des beigefügten Glossars mitunter eine kontraproduktive Wirkung hat), sorgt die Beschreibung indianischer Gepflogenheiten jedoch lediglich für einen dekorativen Hintergrund - die Handlung und das Innenleben der Figuren haben Vorrang. Martin del Campo schafft keine unvergeßlichen Charaktere, aber sie verleiht einem umfangreichen historischen Personal Konturen, ohne gut und böse bzw. Helden und Versager klar zu trennen. Der oft undurchsichtigen Überlieferung gibt sie mitunter überraschende, aber nicht abwe-
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gige Deutungen. So nennt sie als Grund für die Niederlage der Azteken nicht etwa eine wie auch immer geartete Überlegenheit der Spanier, sondern ihre Unterstützung durch die indianischen Verbündeten, die Zerstrittenheit der gegnerischen Partei sowie die Sitte der Azteken, Gefangene zu machen, anstatt den Feind sofort zu töten, und ihn sogar aus Fairness vor der Schlacht mit Nahrung zu versorgen. Die Darstellung der Malinche wirkt verglichen mit der in Paz' Laberinto de la soledad gipfelnden Mythisierung unprätentiös. Ihre Entscheidung, die Spanier zu unterstützen, wird einerseits dem Titel gemäß mit einem romantischen Klischee begründet - der Liebe zu Alonso Puertocarrero, ihrem Gefährten vor Cortés - , andererseits jedoch mit einer eher pragmatischen Motivation: Obwohl sie von Cortés zu Beginn vergewaltigt wird, schätzt es die heimatlose Sklavin unsicherer Herkunft bald, von ihm und seinen Männern wegen ihrer Leistung als Übersetzerin respektiert zu werden, und lernt allmählich die guten Seiten seiner als widersprüchlich beschriebenen Persönlichkeit kennen. Im übrigen "hizo lo que pudo dentro de las circunstancias que le tocó vivir", wie es auf dem Buchrücken in dem anspruchslosen Ton formuliert wird, in dem auch der Roman gehalten ist. Die Titelfigur von Jorge Guzmáns Roman Ay Mama Inés ist Inés Suárez, die spanische Geliebte und Begleiterin Pedro de Valdivias auf seinem Eroberungszug nach Chile. Der Roman rekapituliert die Zeit vom Auszug aus Peru zu Beginn des Jahres 1540 bis zur Fahrt Valdivias zurück in den Norden im Dezember 1547 anläßlich von Pizarros Aufstand gegen die Krone, sowie im letzten Abschnitt die Zeit bis zu Inés' Tod zwanzig Jahre später. Der Großteil der Erzählung gilt jedoch der ersten Phase der Kolonialisierung bis zum 11. September 1541, an dem die von Valdivia gegründete Siedlung Santiago del Nuevo Extremo beinahe einem massiven Angriff der Indios zum Opfer gefallen wäre. An diesem Tag ging Inés Suárez, bis dahin die einzige Spanierin in der Truppe, durch Mut und Entschlußkraft in die Geschichte ein: Sie begann mit der Enthauptung sieben gefangener Kaziken, um die Angreifer zu entmutigen, und rettete auf diese Weise die Kolonie. Über Inés' Herkunft und Leben ist ansonsten wenig bekannt: "Hasta de los hechos hay que decir
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aquí 'parece', 'no se sabe' o 'es casi seguro'",272 erläutert Guzmán in einem Vorwort, das jedoch als erster Teil des ersten Kapitels in den fiktionalen Text integriert ist. Hier gibt der Autor einen ironischen Kommentar zur Überlieferung und formuliert Sätze, die als Motto des Romans und darüber hinaus der nueva novela histórica im allgemeinen gelten können, während der Erzähler sich später total zurücknimmt: Nadie, mucho menos los mayores actores de la historia, ve ni puede ver sus sueños cumplidos. En ese sentido, las intenciones que mueven a los actores de la historia son fracasos sin excepción, incluso las que parecen tener éxito. (S. 13) Ay Mama Inés folgt demselben Schema wie Amor y conquista: Hier werden nicht nur die Höhe- und Tiefpunkte, sondern auch die weniger spektakulären Momente der Eroberung geschildert, gleichsam der Alltag der Conquista: Strapazen und Ängste, Freundschaft und Abneigung, Loyalität und Verrat. Das Interesse für die alltägliche und private Seite der Historie, die von der Ereignisgeschichte ausgeklammert wird, ist charakteristisch für den neuen historischen Roman. Dabei wechselt die Perspektive, kehrt aber immer wieder zur weiblichen Hauptfigur zurück, die zwar im Mittelpunkt des Geschehens steht, die Ereignisse aber als Außenseiter nüchtern und distanziert betrachtet. Das gilt für die Malinche, Paradigma einer Gestalt zwischen den Fronten, ebenso wie für Inés Suárez, einerseits respektiert als tatkräftige und mutige Kameradin, andererseits jedoch als einzige Spanierin und Geliebte des Anfuhrers vom Rest der Expedition mit einer Mischung aus Begierde, Neid und Geringschätzung beobachtet. Da beide im Gegensatz zu den 'Machern' der Geschichte Ruhm oder Reichtum ohnehin kaum zu erwarten haben, zählen für sie eher tägliches Leid oder Freude, weniger die großen Triumphe oder Niederlagen. Damit verbindet sich Anteilnahme am Schicksal der Unterlegenen: Die weiblichen Protagonisten der vier Romane schrecken
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M é x i c o , Santiago de Chile: Fondo de Cultura E c o n ó m i c a 1997, S. 12. Vgl. zur Überlieferung Renato Martínez, "Ay Mama Inés, de Jorge Guzmán: Entre la crónica y el testimonio", in: Revista Chilena de Literatura, Nr. 50, 1997, S. 21-37, hierzu S. 28fT.
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in entscheidenden Momenten nicht vor Gewalt zurück, plädieren aber sonst für die Schonung der Indios.27' Wie die Malinche wird auch Inés nach einigen Jahren von Valdivia mit einem Anderen verheiratet. Beide Frauen stehen auf der Seite der Spanier, mit den Indios verbindet sie jedoch die mit ihrem Geschlecht und ihrer sozialen Stellung verbundene untergeordnete Position - symptomatisch dafür ist, daß sie von Mann zu Mann weitergegeben werden können, was im Roman von beiden als Demütigung empfunden wird. Dieser Zwiespalt prägt die Beziehung zu den Männern an ihrer Seite: Cortés und Valdivia faszinieren ihre Konkubinen durch ihre Autorität, lassen sie aber andererseits ihre Abhängigkeit spüren. Eine ähnliche Rolle spielt die Protagonistin von Rio de las congojas von der Argentinierin Demitrópulos. Der Roman handelt von der Gründung von Santa Fe am Paraná im Jahre 1573 und der Neugründung von Buenos Aires einige Jahre später durch Juan de Garay. Ausgehend von der im Roman erzählten Legende, daß bei der Leiche des von Indios im Schlaf überraschten und getöteten Garays eine als Soldat gekleidete Frau gelegen habe, kreiert die Autorin eine fiktive Gestalt namens Maria Muratore, "mujer de nadie y joven, morena sin compromisos como que no conocía padre más que a la madre que la concibió", 274 die ähnlich wie Inés wegen ihrer Schönheit und ihres Mutes begehrt und respektiert, aber gleichzeitig als Prostituierte geächtet wird. Diese Frau folgt Juan de Garay, im Roman bewundert und gefürchtet als der "Hombre del Brazo Fuerte", von Asunción über Santa Fe nach Buenos Aires. Daran schließt sich eine von der Legende eines gemeinsamen Todes abweichende, aber nicht minder melodramatische Version: Von Garay enttäuscht, erschießt die waffengewandte Maria zwei seiner Schergen, gibt sich auf der Flucht als Mann aus, rudert an Santa Fe vorbei den Fluß hinauf und verschwindet, bis der in sie verliebte Mestize Blas de Acuña sie wiedertrifft, ohne
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Nach Martín del Campo räl die Malinche Cortés da/u. gefangenen Indios zur Warnung die Hände abzuhacken, bittet ihn aber. Cuauhtémoc zur Kapitulation zu überreden. um unnötige Opfer zu vermeiden; Inés köpft die Kaziken "sin furor" (S. 201) und trauert in ihrer Todesnacht über das Schicksal einer von ihrer Herrin mißhandelten Indianerin; Maria Muratore bedrängt in Rio de las congojas beim Einsatz an der Waffe die Frage "¿Para qué la crueldad?" (S. 146) und die ebenfalls kampferprobte Ciaire kritisiert in Duerme die koloniale Hierarchie. Buenos Aires: Editorial Sudamericana 1981. S. 14.
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sie in ihrer Männerkleidung zu erkennen, und erst bei ihrem Tod in einem Kampf gegen Indios ihre Identität entdeckt. Das Motiv der Travestie pointiert das Bild der starken und selbständigen Frau - Maria ist: "Alguien que quiso ser libre, siendo mujer". (S. 150) Hier wird Weiblichkeit explizit mit Marginalität gleichgesetzt: ... las mujeres, como los negros, como los indios, y hasta como nosotros los mestizos, estaban tan desvalidas que cuando veían el pan, aunque duro, lo mordían. (S. 85) Mit Río de las congojas vergleichbar ist der Roman Duerme von Carmen Boullosa. Durch den Bezug auf die frühe Kolonialzeit bildet er gemeinsam mit Llanto und Cielos de la Tierra "una trilogía informal de la mexicanidad",275 jedoch enthält er im Gegensatz zu Boullosas anderen neuen historischen Romanen keine intertextuellen Bezüge auf Chroniken oder andere Quellen. In Duerme kombiniert Boullosa einen realistischen historischen Hintergrund mit märchenhaften Handlungselementen: Auf der Flucht vor einem Dasein als Prostituierte gelangt die junge Französin Ciaire im 16. Jahrhundert als Mann verkleidet nach Mexiko-Stadt. Dort wird ihr die Identität eines Verschwörers gegen den spanischen Vizekönig untergeschoben, aber sie überlebt den Galgen durch indianische Magie - eine Frau öffnet ihre Brust und ersetzt ihr Blut durch ein wundertätiges Wasser. Dadurch wird Ciaire unsterblich, fallt aber in tiefen Schlaf, sobald sie die Stadt verläßt. Nun in indianischer Tracht lernt sie die Lage der Kolonialisierten plötzlich am eigenen Leibe kennen - als vermeintliche Indianerin oder Mestizin ist sie praktisch vogelfrei. Durch ihre Schönheit und Waffengewandtheit erregt sie indessen bald die Aufmerksamkeit des Vizekönigs, dient ihm am Hof und zieht dabei auch gegen Indios zu Felde. Zum Verlassen der Stadt gezwungen ereilt sie jedoch Dornröschens Schicksal: Sie schläft ein und wird erst nach 25 Jahren durch einen gealterten Verehrer zurückgeholt, selber jugendlich wie eh und je. Mit dem Ende des Romans erfüllt sich ihre Bestimmung zu einer zweiten Jeanne d'Arc: Wieder in Hosen will sie die Neue Welt in einer großen Rebellion von den Spaniern 275
Christopher Domínguez Michael, "Cielos de la tierra: Nuevo 'criollismo"', in: Barbara Dróscher u. Carlos Rincón (Hg.), "Conjugarse en infinitivo" - la escritora Carmen Boullosa, Berlín: edition tranvía, Verlag Walter Frey 1999, S. 37-42, S. 39.
144 befreien, "monstruos que aterran y roban orden y cordura a los corazones". 276 Nach Jean Franco steht Ciaire für "el México p r o f u n d o - un subconsciente no individual donde se han fundido elementos subalternos". 277 Die Unsterblichkeit verleihende Infusion, deren Wirkung an den Boden des alten Tenochtitláns gebunden ist, ist ein Bild für das indigene Erbe, überhöht durch die Wassersymbolik, "esa vieja mitificación del pasado indígena que es el corazón del criollismo: lo indígena es lo blanco, lo acuático, lo curativo, el agua vivificante y amniótica", 2 7 8 daher auch der N a m e 'Ciaire'. Mit den phantastischen Motiven kontrastiert die realistische Schilderung des Alltags der j u n g e n Kolonie: opulente Festlichkeiten der Spanier; die Gewohnheit eines Hausherrn, sein gesamtes indianisches Personal aus Bequemlichkeit mit demselben Namen zu rufen; die Regel, daß ein Indio ohne Dienstherrn von j e d e m Spanier unverzüglich zur Arbeit herangezogen werden kann etc. Wie die Protagonistin feststellt, unterscheidet die koloniale Ideologie nur zwischen Weißen und Nicht-Weißen und kennt auch sonst lediglich binäre Oppositionen: El mundo se divide en dos: el viejo y las tierras nuevas. La luz y la oscuridad. El silencio y los sonidos, lo blanco y lo negro. El agua y la tierra. El bien y el mal. Los hombres y las mujeres. Los europeos y los de las otras razas. (S. 57)
Claires geschlechtlicher, rassischer und sozialer Rollenwechsel stellt dieses schematische Denken in Frage. Bei Jorge G u z m á n läuft ' M a m a Inés' 27 '' dem in Chile zum Landesvater überhöhten Valdivia 2 8 0 den Rang ab, nachdem dieser seine Autorität durch Erpressung und Betrug mißbraucht hat, er von den Indios gefangen und getötet w u r d e und seine humanistischen Ambitionen sich zerschlugen. Am Ende des Buches zieht sie in einem langen Monolog Bilanz und
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Duerme, Madrid. Buenos Aires u. México: Alfaguara 1994, S. 145. Jean Franco. "Piratas y Fantasmas", in: Dröscher. Rincón 1999. S. 18-30. S. 29. Domínguez Michael 1999, S. 41. Der Titel zitiert den Refrain einer kubanischen Rumba: "Ay Mama Inés, too lo negro tomamos café." Siehe hierzu Kap. 1.1 .a), Anm. 68.
145 formuliert im Vertrauen auf die schöpferische Kraft des mestizaje vage Hoffnung für die Zukunft Chiles:
eine
...ya tienen hijos grandes los niños que nacieron en esos bellísimos primeros meses; y son distintos; tienen más posibilidades que los indios; tienen futuro; son astutos; muy inteligentes, tanto como los indios, pero muy desenvueltos, hasta la desvergüenza, la mayoría; [...] estamos nosotros, están los indios puros, están los mestizos y están unos pocos negros; en los años que vengan, estas castas se seguirán mezclando entre ellas y producirán algo; en eso, en suma, se nos convirtió el sueño. (S. 262) Umgekehrt sind es in Rio de las congojas Mestizen, die sich mit Maria Muratore identifizieren und die Erinnerung an sie weitergeben. Die Assoziation von Weiblichkeit und mestizaje in Ay Mama Inés und Rio de las congojas ist anders als in Paz' Laberinto de la soledad positiv konnotiert: Die gesellschaftliche Marginalität prädestiniert zu kultureller Offenheit und Beweglichkeit. Auch formal zeigt sich in den vier besprochenen Romanen eine einheitliche Tendenz: Es wird im großen und ganzen linear, geschlossen und ohne stilistische Experimente erzählt, ausgenommen Rio de las congojas mit einer verschachtelten Erzählstruktur, den wechselnden Monologen der Hauptfiguren, aus denen der gesamte Text besteht, und einer an Rulfo erinnernden lakonischen Sprache. Auf Zitat, Pastiche, Parodie und Metafiktion verzichten die Autoren fast vollständig. Vom traditionellen historischen Roman unterscheiden sich die Texte durch den Wechsel der Erzählhaltung, der die Kohärenz des Erzählten jedoch nicht in Frage stellt. Ihre Originalität liegt darin, daß sie weder aus der Sicht der Besiegten noch aus der der Sieger erzählen, sondern eine dritte, dynamische Position einnehmen.
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IV. Alejo Carpentier: El arpa y la sombra (1979)
Alejo Carpentier widmete der Entdeckung und Eroberung Amerikas zwei Werke: die Erzählung El Camino de Santiago (1958) und den Roman El arpa y la sombra, der 1979 als Carpentiers letztes Buch vor dem Tod des Schriftstellers im Jahr darauf publiziert wurde. In El arpa y la sombra schildert Kolumbus sein Leben in einer IchErzählung. Den Anlaß für diese Bekenntnisse bildet der Gedanke an ein göttliches Gericht - der Todkranke befürchtet, sich im Jenseits für seine Taten verantworten zu müssen, und läßt in der Erwartung des Priesters sein Leben vor sich Revue passieren. Dabei bewegt ihn die Furcht vor dem Jenseits zum Eingeständnis aller begangenen Fehler und Schlechtigkeiten. Der Roman ist gleich einem Triptychon in drei einander spiegelnde Abschnitte geteilt, betitelt als "El arpa", "La mano" und "La sombra" die Harfe als Instrument des Lobgesangs, die Hand als Bild der Tat und der Schatten als Verweis auf das Gedächtnis. Dem Monolog des Protagonisten im mittleren und gleichzeitig umfassendsten Teil des Buches stehen im ersten Abschnitt die Erinnerungen von Papst Pius IX. an seine Jugend und eine Amerikareise gegenüber, die er zu Beginn seiner klerikalen Laufbahn unternahm. Der zukünftige Papst zeigt sich von den großartigen Landschaften beeindruckt, betrachtet den Kontinent und seine Bevölkerung aber insgesamt etwas herablassend als zwar unkultiviert aber vielversprechend. In der Absicht, Amerika durch einen gemeinsamen Heiligen an Europa und die katholische Kirche zu binden - zwischen den Zeilen liest man 'zu bändigen' - entwickelt er den Plan, den Entdekker heiligzusprechen. In Anlehnung an Leon Bloy überhöht er ihn zum "Revelador del Planeta".281 Kolumbus' letzte Beichte stellt er sich als eine wundersame Schilderung kosmischer Visionen vor, die die Abenteuer des Odysseus in den Schatten stellt. Die sich daran anschließende nüchterne Erzählung bedeutet eine ironische Brechung dieser Phantasie. 281
Alejo Carpentier, El arpa y la sombra, Madrid: Fondo de Cultura Económica de España, Ediciones de la Universidad de Alcalá de Henares 1994, S. 55. Seitenangaben erscheinen im folgenden nach den Zitaten im laufenden Text.
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Carpentier zeigt Kolumbus als Lebenskünstler und sinnlichen Genußmenschen, vor allem aber als einen maßlos ehrgeizigen, gelegentlich auch zynischen Meister der Selbstdarstellung. So denkt er z.B. in der Nacht vor der Entdeckung: "Si Mateo y Marcos y Lucas y Juan me aguardan en la playa cercana, estoy jodido. Dejo, ante la posterioridad, de ser Christo-phoros para regresar a la taberna de Savona."282 (S. 127) Aus der Rückschau aber erscheint ihm seine Skrupellosigkeit als ungeheuerlich und er empfindet Selbstzweifel und Reue. Die erinnernde Selbstbetrachtung wird als Lektüre der eigenen Tagebücher und Briefe inszeniert - "...observándome a mí mismo a través de lo escrito hace años" (S. 170), erläutert der Ich-Erzähler explizit. Mit diesem Kunstgriff betont der Autor den Kontrast zwischen seiner eigenen Darstellung und dem von Kolumbus selbst lancierten Bild des erfolgreichen und idealistischen Entdeckers. Die Spannung zwischen dem historischen Dokument und seiner Auslegung wird hier effektvoll inszeniert durch die Distanz zwischen dem erlebenden und dem erinnernden Ich. Indem Carpentier den gealterten Seefahrer immer wieder sich selbst zitieren und die eigenen Äußerungen an seinen Taten messen läßt, führt er eine regelrechte Textanalyse durch. Natürlich löst sich der Roman dabei von der historischen Überlieferung, ohnehin spärlich und umstritten, widerspricht ihr aber nicht, sondern bewegt sich im Bereich des historisch prinzipiell Denkbaren, wenn auch nicht unbedingt Wahrscheinlichen. Phantastisch ist dagegen der Auftritt von Kolumbus und anderen Persönlichkeiten aus der Vergangenheit im dritten und letzten Teil des Buches - in einem burlesken Totengespräch parodiert Carpentier den Prozeß über Kolumbus' Seligsprechung, der im Vorfeld der Vierhundertjahrfeier der Entdeckung im Vatikan stattfand. Aber auch hier stützt sich die Urteilsfindung auf ein historisches Dokument, einen Brief, in dem Kolumbus seinem Bruder die Anweisung zum Sklavenhandel gibt. Diese dritte Seite des Triptychons bildet einen weiteren Gegenpart zu Pius' epischer Verklärung der Entdeckung.
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Die Kursivsetzung ist in diesem und den folgenden Zitaten aus der Vorlage übernommen.
149 1. Kolumbus vor Gericht Trotz seiner Reue will Kolumbus dem Beichtvater am Ende allerdings nur das geschönte, offizielle Bild des ruhmreichen Entdeckers präsentieren. Hin- und hergerissen zwischen Selbstbezichtigung und Rechtfertigung hadert er mit sich selbst: ...dentro de ese cuerpo derribado por las fatigas y los achaques, está el yo de lo hondo, aún claro de mente, lúcido, memoriado y compendioso, testigo de portentos, sucio de flaquezas, promotor de escarmientos, arrepentido hoy de lo hecho ayer, angustiado ante sí mismo, sosegado ante los demás, a la vez medroso y rebelde, pecador por Divina Voluntad, actor y espectador, juez y parte, abogado de sí mismo ante el Tribunal de Suprema Instancia donde también quiere ocupar sitial de Magistrado para oírse los argumentos y mirarse a la cara, [...] y sentenciar y apelar, alcanzar las últimas instancias de un juicio donde, en fin de cuentas, estoy solo, solo con mi conciencia que mucho me acusa y mucho me absuelve... (S. 610 Diese Vision des Jüngsten Gerichts wird einige Zeilen weiter durch die komische Vorstellung eines himmlischen Bürokraten, der den armen Sünder auf die Warteliste setzt, ironisiert. Diese im zweiten und dritten Teil des Romans ständig präsente Ironie stellt die Möglichkeit eines objektiven Urteils generell in Frage. Dennoch kennzeichnet El arpa y la sombra eine ernstzunehmende Reflexion über historische Verantwortung. Mit dem programmatischen Diktum "la fuerza del novelista está en su poder de ser juez de la historia" macht Carpentier 1979, im Erscheinungsjahr des Kolumbus-Romans, das Bild der Rechtsprechung auch zum Angelpunkt seiner romantheoretischen Überlegungen. 283 Das Motiv der Gerichtsverhandlung als Bild für die moralische Bewertung der Conquista findet sich auch in einer Comedia Lope de Vegas sowie 400 Jahre später bei einem 1998 von Indios veranstalteten symbolischen Prozeß gegen Kolumbus, im Prinzip auch eine theatralische Inszenierung. Das Urteil Lopes und das der Indios stehen für zwei gegensätzliche Betrach-
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Alejo Carpentier, "La novela latinoamericana en vísperas de un nuevo siglo", in: La novela latinoamericana en vísperas de un nuevo siglo y otros ensayos, México. Madrid: siglo veintiuno 1981, S. 7-32, S. 11.
150 tungsweisen: Man kann historische Persönlichkeiten als treibende Kraft oder als Spiegel der Historie auffassen.
a) Der Entdecker als Motor oder Spiegel der Historie Es handelt sich bei Lopes Famosa Comedia del Nuevo Mundo descubierto por Cristóbal Colón (vermutlich 1598 entstanden) um eine der wenigen fiktionalen Darstellungen der Entdeckung Amerikas aus der Zeit des Siglo de Oro. Noch bevor Kolumbus in See sticht, wird hier in einer allegorischen Verhandlung mit der Vorsehung als Richterin, dem Teufel, dem Götzendienst und der christlichen Religion als Kontrahenten schon vorab über die Berechtigung der Conquista debattiert. Der Entdecker selbst spielt dabei gar keine Rolle, er wohnt der Verhandlung nur als Zuschauer bei. Lope betont den nach damaliger Auffassung 284 in Kolumbus' Person enthaltenen Gegensatz zwischen dem einfachen, praktisch denkenden Seemann und dem erleuchteten Instrument Gottes. Die Doppelung von Kolumbus in der allegorischen Figur der Imaginación als ein Alter ego, das den bescheiden auftretenden Seefahrer über sich selbst hinauswachsen läßt, erscheint als bühnenwirksame Entsprechung dieser Gespaltenheit: Kolumbus ist hier mehr Instrument als selbst bestimmender Akteur der Geschichte, die vielmehr von vornherein einem göttlichen Plan untersteht. Diesen Eindruck vermittelt auch die von den Chroniken aufgebrachte und hier mit eingeflochtene Legende des "piloto anónimo", der, durch einen Sturm nach Westen getrieben und dort an Land gespült, Kolumbus kurz vor seinem Tode dieses Geheimnis anvertraut habe. Diese Version präsentiert die Entdeckung einerseits als eine absichtsvolle Tat und ermöglicht im Gegensatz zu der Vorstellung eines zufälligen Fundes ihre Interpretation als ein "göttlich inspiriertes Erfolgsprogramm imperialer Politik",285 andererseits schmälert sie aber Kolumbus' Verdienst, denn der 284
285
Vgl. zum Bild des Entdeckers im S i g l o de Oro Monika Walter, "La famosa comedia de El Mundo Nuevo descubierto por Cristöbal Colon von Lope de Vega. Jahrhundertbilanz als Puppenspieltheater", in: Titus Heydenreich (Hg.), Columbus zwischen zwei Welten: Historische und literarische Wertungen aus fünf Jahrhunderten. 2 Bde., Frankfurt a.M.: Vervuert 1992, S. 2 7 7 - 2 9 4 . Vgl. ebd., S. 282.
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Plan zur Entdeckungsreise geht ja demnach nicht auf seine Gelehrsamkeit zurück, sondern fallt ihm sozusagen in den Schoß. Dieser Eindruck wird dadurch bestätigt, daß er im weiteren Verlauf des Dramas eine eher untergeordnete Rolle spielt. Trotz der Einwände des Teufels, der die Neue Welt für den Götzendienst in Anspruch nimmt und den Spaniern die pure Gewinnsucht als Motivation des Unternehmens vorwirft, fallt die Providencia ein unumkehrbares Urteil: Das Ziel der Missionierung heilige die Mittel, selbst wenn die Hauptmotivation Goldgier sei. Im übrigen bedeute die königliche Autorität der Auftraggeber eine ausreichende Legitimation. So lautet das Fazit: "La conquista se ha de hacer!"286 Diesem pragmatischen Urteil entspricht Lopes zwiespältige Darstellung der Conquista im dritten Akt: Nachdem der Admiral bereits die Rückkehr angetreten hat, gebärden sich die in Amerika zurückgebliebenen Spanier nicht als gütige Missionare, sondern als gierige Besatzer. Dem Demonio fällt es daher nicht schwer, die Indios durch eine Intrige gegen die Spanier aufzubringen, und ihre Bekehrung gelingt am Ende nur durch den Deus ex machina in Form eines Blätter treibenden Kreuzes. Der Erfolg von Kolumbus' Mission wird also nicht durch seinen persönlichen Einsatz, sondern durch ein Wunder gesichert. Lope de Vegas allegorisches Spiel im Spiel muß Carpentier fasziniert haben. Dem Roman El reino de este mundo (1949) stellte er einen Auszug aus dem Dialog zwischen Providencia und Demonio voran, in dem der Teufel seine Rechte auf die Neue Welt geltend macht; in El Camino de Santiago (1958) macht Beelzebub der christlichen Seite ganz wie bei Lope die Neue Welt streitig, und in El arpay la sombra greift Carpentier das Motiv schließlich noch einmal auf: Die Satire über den KolumbusProzeß des Vatikans läßt sich als Parodie auf Lopes allegorische Verhandlung lesen. Natürlich gewinnt in diesem "solemne Auto Sacramental" (S. 211) nicht der Verteidiger von Kolumbus' Sache, sondern der "Abogado del Diablo" den Streit. Dabei werden eine Reihe historischer Persönlichkeiten in den Zeugenstand zitiert, die sich über Kolumbus geäußert haben: seine emphatischen Biographen Roselly de Lorgues und
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Lope de Vega, El Nuevo Mundo descubierto por Cristóbal Colón, hg. v. Jean Lemartinel u. Charles Minguet. Lille: Presses Universitaires 1980. S. 11.
152 León Bloy, Friedrich Schiller, Victor Hugo, Bartolomé de Las Casas, die katholische Königin Isabella, Alphonse de Lamartine und Jules Verne. Vernes moderne Sicht erscheint der im Geiste des Barock verfaßten Comedia, was die Gedankenführung betrifft, vergleichbar, wenn man einmal von dem jeweils unterschiedlichen Weltbild abstrahiert. Während Lopes Kolumbus als Instrument eines göttlichen Willens agiert und daher weder das Gelingen noch das Scheitern seines Auftrags von ihm abhängt, ordnet ihn Verne der geistigen Entwicklung seiner Zeit unter.287 Beide schreiben der Person des Entdeckers eine Abhängigkeit von übergeordneten Strukturen zu und betrachten die Conquista unter dem Zeichen einer kollektiven menschlichen Unzulänglichkeit: Bei Lope droht die Missionierung an der Habgier der Spanier zu scheitern, Verne sieht die Einführung des Sklavenhandels durch Kolumbus in der mangelnden geistigen Reife der Alten Welt im allgemeinen begründet. Der Tendenz, die bekannte Persönlichkeit als Spiegel und Funktion gesellschaftlicher Strukturen zu begreifen, steht umgekehrt die Neigung gegenüber, historische Ereignisse auf das Wirken einzelner Personen zurückzufuhren. Ein aktuelles und im wahrsten Sinne des Wortes plakatives Beispiel für dieses personenbezogene Geschichtsverständnis ist der symbolische Prozeß, in dem der Rat eingeborener Völker von Honduras Christoph Kolumbus am 12. Oktober 1998 zum Tode verurteilte. Die Hinrichtung wurde mit Pfeilen an einem Porträt des Entdeckers vollzogen, und wie bei Prozessen dieser Art üblich stand das Urteil von vornherein fest. Der Schuldspruch lautete auf Völkermord, Entführung, Zerstörung von Kulturen und Vergewaltigung.288 Hier werden Kolumbus also stellvertretend für alle spanischen Eroberer die gesamten im Laufe der Conquista verübten Verbrechen angelastet. Das symbolischen Prozessen eigene absurde Moment, daß man jemanden verurteilt, über den man faktisch keine Macht hat, gewinnt in diesem Fall eine tragikomische Dimension: Die Indios ziehen einen lange Verstorbenen zur Rechenschaft, während sie offenbar keine Möglichkeit 287
288
Vgl. die Zitate Vernes auf S. 219f sowie zu deren Kontext Ian MacDonald, "Colon y las formas del deseo: Lorca y Verne en El arpay la sombra", in: Alan Deyermond u. Ralph Penny (Hg.). Actas del primer congreso anglo-hispano, Bd. 2 (Literatura). Madrid: Castalia 1993, S. 331-339, hierzu S. 337f. Vgl. die Berichterstattung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 20.7. und 14.10.1998 sowie des Kölner StadtAnzeigers vom 14.10.1998.
153 haben, ihre gegenwärtige Lage zu verbessern. So hat die 1998 amtierende Regierung von Carlos Flores Versprechen seines Amtsvorgängers bezüglich sozialer Hilfsprojekte, einer verbesserten Infrastruktur für die abgelegenen Siedlungsgebiete und Besitzurkunden über die angestammten Ländereien der Indios nicht erfüllt und auch die Morde an Anführern des Widerstands gegen die Großgrundbesitzer, die ihnen das Land streitig machen, nicht aufgeklärt. Indem die Indios ein Ressentiment, das den gegenwärtigen Machthabern gelten müßte, auf den ersten und berühmtesten Vertreter der Kolonialmacht projizieren, verleihen sie ihm den Nimbus einer gleichsam überlebensgroßen historischen Gestalt. Zwar mag die symbolische Rache an dem in Amerika wie in Spanien bis heute mit Standbildern geehrten Entdecker den Indios eine ideelle Genugtuung verschaffen; es ist aber die Frage, ob dieser verzweifelte Versuch, eine Aufmerksamkeit einzuklagen, die weder die Konquistadoren noch die Kolonialmacht oder die Nachfolgeregierungen ihnen entgegengebracht haben, nicht eher von den für ihre aktuelle Lage Verantwortlichen ablenkt. Verteufelung und Überhöhung liegen nah beieinander: Mit ihrer Verurteilung schreiben die Indios indirekt den von den spanischen Chronisten begründeten Ruf der Eroberer als Krieger epischen Formats fort - "großzügig im bösen wie im guten", wie Friederici es formuliert. 289 Lope de Vega und Jules Verne reduzieren Kolumbus dagegen auf ein menschliches Maß, indem sie seine persönliche Bedeutung relativieren und die kollektive historische Verantwortung betonen.
b) Psychogramm eines Ehrgeizigen Carpentier greift in seiner Darstellung den Topos der Kolumbusforschung auf, daß der Entdecker sich trotz seiner scheinbaren Frömmigkeit und der immer wieder betonten Absicht zur Missionierung hauptsächlich an materiellem Gewinn interessiert gezeigt und ganz ungeniert die Versklavung der Indios eingeführt habe. 290 Seinen Reiseberichten nach zu urteilen beherrschte das Gold seine Gedanken wie eine Obsession. Ko289 290
Siehe Kap. I I a). Nach Friederici eine "für ein sittliches Empfinden unerträgliche M i s c h u n g von Christentum und Verbrechen, von Frömmigkeit und Raubsucht". (Friederici 1925. S. 3 6 2 . )
154 lumbus' religiöse Bekundungen diskreditiert der Autor als heuchlerische Allüren: Porque rutinario giro de lenguaje viene a ser el hecho de mencionar sólo Catorce veces el nombre del Todopoderoso en una relación general donde las menciones del ORO pasan de doscientas. (S. 147)291 Er läßt ihn sein Verhalten j e d o c h mit der Angst vor dem Verlust des plötzlich g e w o n n e n e n Prestiges rechtfertigen. Im Gegensatz zu seinen Untergebenen, die er scharf kritisiert, habe er selbst nicht aus Habsucht oder Grausamkeit gehandelt: Yo no quería el oro para mí (al menos, por ahora...). Lo necesitaba primordialmente para mantener mi prestigio en la Corte y justificar la legitimidad de los altos títulos que me habían sido otorgados... Mi enfermedad era enfermedad de Gran Almirante. La de estos españoles de mierda, en cambio, era la de bellacos que querían el metal para sí - para guardarlo, amontonarlo, esconderlo, y abandonar estas tierras lo más pronto posible, fortuna hecha, para saciar allá sus vicios, lujurias y apetitos de propiedad. En mi ausencia, olvidados de mis instrucciones - irrespetando a mi hermano Bartolomé a quien tenían, como a mí, por extranjero - , se habían soltado en ralea de oro por toda la Española, apaleando indios, incendiando sus aldeas, hiriendo, matando, torturando, para acabar de saber dónde, dónde, dónde, estaba la maldita mina invisible que yo mismo buscaba - sin hablar de las cien mujeres y mozas violadas en todas las expediciones. (S. 176f) Nicht nur die Vorstellung, der Hauptbeweggrund für Kolumbus' Handeln sei sein persönlicher Ehrgeiz g e w e s e n , sondern vor allem die Tatsache, daß er sich dessen aus der Rückschau bewußt wird, machen Carpentiers Charakterisierung des Entdeckers aus - er überrascht durch seine Fähigkeit zur Selbstreflexion. Ausgestattet mit einer modernen Subjektivität erscheint er ganz als ein Mensch unserer Zeit. Daß Kolumbus in 291
Roland Forgues, der Carpentier eine einseitig negative Darstellung von Kolumbus vorwirft, legt Wert auf die Feststellung, im Diario werde der N a m e Gottes nicht 14 sondern etwa 50mal und das Gold 'nur' etwa zweieinhalbmal so oft genannt. (Vgl. R. Forgues, "El arpa y la sombra de A l e j o Carpentier: ¿Desmitificación o mixtificación?", in: Revista de Crítica Literaria Latinoamericana, Nr. 14. 1981. S. 8 7 - 1 0 2 . hier S. 92.) Unabhängig von solchen Details ist der Eindruck einer Allgegenwart des Gedankens an das Gold im Bordbuch nicht zu leugnen.
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seinen Schriften schrittweise ein positives Selbstbild konstruiert, wie es Beatriz Pastor plausibel darlegt, spricht in der Tat für die These, daß der 'Große Admiral' krank vor Ehrgeiz war.292 Der Rolle des erfolgreichen Admiráis, Vizekönigs und Gottgesandten steht jedoch ein Alter ego gegenüber, das ständig droht, diese mühsam errungene Identität zu zerstören, nämlich das dunkle Gegenbild des Außenseiters und gescheiterten Abenteurers. Nur indem Kolumbus die entdeckten Gebiete seinen Zielen gemäß interpretiert, kann er sein Unternehmen als Erfolg verbuchen und den verdrängten Anderen auf Distanz halten.2"3 Zur Psychologie dieser Form von Verdrängung gehört es auch, das gefürchtete Alter ego auf die Außenwelt zu projizieren und scharf zu verurteilen. An einen solchen Vorgang erinnert Kolumbus' Bezichtigung der Spanier als eine willkürlich plündernde, gewalttätige Meute in El arpa y la sombra. In einer symptomatischen Verschiebung fuhrt er den Ungehorsam der Leute nicht auf seine mangelnde Autorität, sondern auf seine ausländische Herkunft als eine willkommene Entschuldigung zurück und zeigt sich durch ihre ungenierte Habgier schockiert, die jedoch nur das offen auslebt, was er selbst sich zu beherrschen bemüht.294 Damit gestaltet der Roman ein Phänomen, auf das die Forschung erst später aufmerksam wurde. Die hier Kolumbus in den Mund gelegten Vorwürfe zeichnen ein Szenario kollektiv begangener Verbrechen, das an Bartolomé de las Casas' Brevísima relación de la destruición de las Indias (1552) erinnert, den zwar berühmtesten, aber nicht einzigen Bericht über die im Zuge der Eroberung verübten Grausamkeiten. Carpentier läßt Kolumbus' Gewis292
293 294
Zum einen präsentiert er sich als ein mit besonderer Weisheit Begabter, der das rätselhafte Wesen des Fremden durchschaut und erklären kann, dann als Eroberer, der nicht nur Schätze, sondern sogar das Paradies auf Erden entdeckt und der Krone zugänglich macht, und schließlich als ein von Gott Auserwählter, der dessen besonderen Schutz genießt. Vgl. Beatriz Pastor, El jardín y el peregrino. El pensamiento utópico latinoamericano 1492-1615, Amsterdam, Atlanta: Rodopi 1996, S. I 4 f u. 53-55. Vgl. ebd., S. 46f. Als eine Projektion erscheint auch die im Roman von Kolumbus formulierte Beschwerde mit B e z u g auf eine von ihm überlieferte Äußerung: "...mi ruta a las Indias la siguen ahora cien aventureros -¡hasta los sastres, dije, que abandonan la aguja y las tijeras por el remo!-..." (S. 194), soll doch sein Vater selbst W o l l w e b e r g e w e sen sein.
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sensprüfung so weit gehen, daß dieser sich schließlich für alle schlimmen Folgen der Entdeckung selbst die Schuld gibt: "...fue, en realidad, un Príncipe de Trastornos, Príncipe de Sangre, Príncipe de Lágrimas, Príncipe de Plagas - jinete de Apocalipsis" (S. 193) - hierin gipfelt sein Geständnis. In der folgenden Selbstbezichtigung taucht wieder das Bild der Rechtsprechung auf, und an dieser Stelle meint man, die Stimme des Autors selbst zu hören: Pero lo que no habrá de ser olvidado, cuando hayas de rendir cuentas donde no hay recurso de apelación ni de casación, es que, con tus armas que tenían treinta siglos de ventaja sobre las que pudieran oponérsete, con tu regalo de enfermedades ignoradas donde arribaste, en tus buques llevaste la codicia y la lujuria, el hambre de riquezas, la espada y la tea, la cadena, el cepo, y la tralla que habría de restallar en la lóbrega noche de las minas, allí donde se te vio llegar como hombre venido del cielo... (S. i960 Diese Anklage zeichnet ein Phantombild des Konquistadors als eines anonymen historischen Typus - eine Variable, die durch jedes beliebige negative Stereotyp ersetzt werden kann. Sie entspricht der in der Diskussion über den Quinto Centenario vielfach anzutreffenden Neigung, den Entdecker zum ersten Konquistadoren und damit für die gesamte Eroberung verantwortlich zu erklären. 295 Die polemische Schuldzuweisung paßt aber nicht zu dem im Roman entworfenen Porträt eines eloquenten Hochstaplers und charmanten Liebhabers der Königin, eines Picaro, der im Rückblick hellsichtig den oft absurden Charakter seines Unternehmens erkennt und sich über sich selbst ebenso respektlos lustig macht wie über alle anderen. Man stellt ihn sich als Aufschneider, Schwindler oder auch als größenwahnsinnigen Entdecker vor, nicht aber als skrupellosen Eroberer und Ausbeuter. Er bereut nicht nur die Einführung des Sklavenhandels, sondern auch die Verleumdung harmloser Indios als Kannibalen und setzt ihr eine Kritik der spanischen Sitten aus ihrer Sicht entgegen, ein Pastiche der Lettres per sanes.296
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Das gilt auch für akademische Kreise. Vgl. Ali López u. Alberto Rodríguez. "Visión americanista de la conquista española: El reverso del descubrimiento", in: Costigan. González Stephan 1992. S. 13-26.
296
Vgl. Carpentier 1984. S. 166f.
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Carpentier kommt mit dem polemischen Urteil zwar seinem Anspruch nach, über die Geschichte zu richten; die pauschale Formulierung - Kolumbus als personifizierte Conquista - bedeutet aber einen Bruch mit der im Roman vorherrschenden burlesken Darstellung der Figur. Sie wirkt wie ein Zugeständnis an die politische Korrektheit im Sinne des antikolonialen Diskurses von Roberto Fernández Retamar, Wortführer der kulturtheoretischen Diskussion im K u b a der 70er Jahre. 297 Sollten die weitreichenden Folgen der Conquista nun tatsächlich Kolumbus angelastet werden? Einerseits stellt er gemessen an Cortés oder Pizarro nur eine unbedeutende N e b e n f i g u r der Kolonialisierung dar, andererseits zeichnete er den W e g für die k o m m e n d e Entwicklung vor. Die von ihm ins Rollen gebrachte Ausbeutung w a r aber nur deshalb möglich, weil eine Mehrheit damit einverstanden war. Der Ruf nach Entschädigung wirkt nach 500 Jahren ebenso absurd wie der nach Vergebung. Die historische Verantwortung verjährt nicht, aber, und mit der folgenden Überlegung erfaßt Angel Loureiro den Kern der Diskussion, ...tal vez el territorio de esa responsabilidad no está tanto en el pasado como en el presente y en el futuro. Podemos hoy en día mofarnos de los descabellados ensueños imperiales franquistas y del símbolo de España como la 'madre patria'; pero una vez que nuestras risotadas se acallan y hemos arrojado los símbolos imperiales a la pila de la escoria histórica, todavía deberíamos preguntarnos: ¿y cuál es entonces nuestra actitud hacia los países y las gentes de Latinoamérica? ¿Qué sabemos realmente de esos países y esas gentes? Habría que preguntarse hasta qué punto la insistencia franquista en reconstruir un imperio 'imaginariamente' (la realidad no daba para más) no se fundamentaba simplemente en una política trasnochada sino que tenía su asiento en actitudes profundamente arraigadas en muchos de nosotros, actitudes que vienen de siglos atrás, y que han pervivido calladamente, conformando nuestro pensar y nuestro sentir. No, los viajes de Colón todavía no han llegado a su fin. El derribo de símbolos no es más que una ceremonia simbólica, y resulta dañinamente peligroso para un pueblo el confundir símbolo con actitud, la visibilidad del símbolo que se puede derrocar en un instante con longevas actitudes inconscientes sobre las que el estado erigió ese símbolo. Tal vez entonces la historia no es tanto lo que ya pasó sino lo que pervive calladamente, in-
297
Siehe zu Fernández Retamar Kap. Il.l.b), Anm. 155.
158 sidiosamente, secularmente: el Caribe inconsciente, pero no por eso menos real, que todos llevamos dentro.298 Um es auf den Punkt zu bringen: Es nützt nur dann etwas, Denkmäler und Symbole zu zerstören oder zu errichten, wenn sich damit ein kollektives Umdenken verbindet. (Was nicht heißen soll, daß ein gut gemachtes Denkmal eine derartige Reflexion nicht auch anregen kann.) Die von Loureiro beschriebene historische Verantwortung unterscheidet sich von der persönlichen Schuld eines Verbrechers bzw. desjenigen, der ein Verbrechen befohlen oder geduldet hat. 500 Jahre nach der Entdeckung kann es nicht um eine individuelle, sondern nur um die von Hannah Arendt 'politisch' genannte Verantwortung im Sinne eines kollektiven historischen Erbes gehen. Jede Nation, die sich als Teil einer historischen Kontinuität auf die Leistungen ihrer Vorgänger beruft, hat sich auch deren Vergehen bewußt zu machen. 299 Neben der Verdrängung auf der einen und der fetischistischen Konservierung von Historie auf der anderen Seite (Kolumbus als Pappkamerad) ist ein dritter Weg des Umgangs mit der Last der Geschichte vorstellbar: ihre 'Vergegenwärtigung' im wahrsten Sinne des Wortes, d.h. das Heranziehen des historischen Beispiels als Ausgangspunkt für einen kritischen Blick auf die Gegenwart. Der Akzent läge dabei weniger auf'Schuld' und mehr auf'Bewußtsein'. Carpentiers Kolumbus-Porträt weist in diese Richtung: Die ironisch gebrochene Selbstdarstellung eines ehrgeizigen, aber von seinem Gewissen geplagten Antihelden richtet sich gegen Kolumbus' Glorifizierung als frommer und überdies genialer Idealist ebenso wie gegen das einseitig negative Bild des Entdeckers als skrupelloser Initiator der Kolonialisierung. Seine irritierend ambivalente Charakterisierung in El arpa v la sombra überläßt es dem Leser, ein eigenes Urteil zu fällen, macht es ihm aber nicht leicht dabei. Vor allem erschwert sie es, sich ihm gegenüber moralisch überlegen zu fühlen. Darin liegt ihr Potential für eine gegenwartsbezogene Reflexion über historische Verantwortung.
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Ángel G. Loureiro. Vorwort zu Antonio Benítez Rojo. El mar de las lentejas. Barcelona: Casiopea 1999. S. 7-19. S. I8f. Die Kursivsetzung stammt von mir. Vgl. Hannah Arendt. Eichmann à Jérusalem. Rapport sur Ia banalité du mal. aus dem Englischen übersetzt von Anne Guérin, Paris: Gallimard 1991 (1963). S. 476.
159 2. Kolumbus als Opfer (post-)kolonialer Fremdheitserfahrung a) Faust in der Neuen Welt El arpa y la sombra demontiert die Kolumbus betreffende leyenda dorada ebenso wie die leyenda negra. Diese Tabula rasa wird jedoch zur Grundlage für eine neue Mythisierung, und zwar unter Rückgriff auf den Faust-Mythos.300 1979 empfiehlt Carpentier den lateinamerikanischen Romanciers den Rückgriff auf Melodramatik und Manichäismus. Als Beispiel für die Bedeutung des Melodrams in der Weltliteratur nennt er u.a. den Doktor Faustus von Thomas Mann und erwähnt das Werk in demselben Aufsatz in anderem Zusammenhang noch einmal. Mit Bezug auf den Manichäismus propagiert er eine Figurenkonzeption, die die Opposition zwischen guten und bösen Kräften in das Innere der Person verlegt. Der Kolumbus aus El arpa y la sombra verkörpert genau einen solchen "personaje complejo, alternativamente dominado por pasiones contradictorias".301 Sein Schwanken zwischen Reue und Trotz, Melancholie und Spott, Sentimentalität und Härte, Scheinheiligkeit und schonungsloser Offenheit, sowie die Selbstüberschätzung im guten wie im bösen - einerseits "grande e intrépido embustero" (S. 89) und "jinete de Apocalipsis" (S. 193), andererseits "Gigante Atlas" (S. 122) und "Andante Caballero del Mar" (S. 232) - , zeigen ihn als einen gespaltenen, die Extreme vereinigenden Charakter. Die Figur wirkt menschlich, aber nicht durchschnittlich. Sie verbindet die Sentimentalität und Ruhmsucht des ritterlich Liebenden Amadis de Gaula, mit dem Kolumbus sich im Roman selbst implizit vergleicht,302 mit dem Materialismus eines Picaro sowie dem Erkenntnisdrang, der Skepsis und geistigen Unruhe eines modernen Intellektuellen. Jakob Wassermann, Salvador de Madariaga und auch Tzvetan Todorov verleihen Kolumbus quijoteske Züge. Überzeugt von seiner Wesensverwandtschaft mit dem Ritter von der traurigen Gestalt bescheinigte Wassermann dem Entdecker eine inbrünstige Religiosität und naive Besessenheit von seiner Idee, einen finsteren "Bestimmungsdünkel" sowie "außerordentliche Leidensfähigkeit" und überhöhte ihn zum "ewigen 300 301 302
Kine Tatsache, die von der Forschung bisher nicht bemerkt wurde. Carpentier 1981. S. 27f. Vgl. Carpentier 1994. S. 234.
160 Inbild des Menschentums, menschlicher Torheit, Verwirrung und Größe". 30 ' Der harmlose Don Quijote wird Mitgefühl oder auch Spott, niemals aber Furcht erregen; Carpentiers Kolumbus ist dagegen keine lächerliche, sondern eine tragische Figur. Die scheinbar disparaten Elemente, die sie ausmachen, gehen im Faust-Mythos eine Verbindung ein. Das zentrale Element dieses nicht zufällig zu Beginn der Neuzeit entstandenen Mythos ist der Teufelspakt, der im Roman explizit zur Sprache kommt. 3 0 4 Fausts Bündnis mit Mephistopheles fordert nicht nur die göttliche Autorität, sondern auch die Naturgesetze heraus. Die A u f l e h n u n g gegen Gott und die Naturgewalten bildet wiederum ein grundlegendes Merkmal der Moderne. Als Verkörperung dieser Rebellion wird Faust zu ihrem mythischen Protagonisten. 3 0 5 Als Identifikationsfigur für den modernen Menschen stellt er sich allerdings erst in der Goetheschen Fassung dar, die der Figur ein Seelenleben mit den charakteristischen Ambivalenzen der Romantik verleiht. Es umfaßt einen Erkenntnisdrang, der zwischen Unsicherheit und Hybris, Skepsis und Idealismus schwankt, sowie ein Hin und Her zwischen Lebensgier und Überdruß - Widersprüche, die ein Gefühl der V e r d a m m u n g erzeugen. Damit verbinden sich Gewissen und Sensibilität. Mit einem modernen Unrechtsbewußtsein ausgestattet steigt Goethes Faust gleichsam sehend in den Abgrund.
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305
Jakob Wassermann. Christoph Columbus Der Don Quijote des Ozeans. Eine Biographie. München: dtv 3. Aull. 1992 (1929). S. 52f. Carpentier 1994. S. 181: "Pacto no hubo. Pero hay pactos que no precisan de un pergamino rubricado con sangre. Escrito queda, y en términos indelebles, cuando con mentiras y engaños, inspirados por el Maligno, se goza de maravillas negadas al común de los mortales." Von Carpentiers Vertrautheit mit dem Stoff zeugt auch das íípigraph zu dem Aufsatz "Problemática de la actual novela latinoamericana", ein Zitat aus Goethes Faust IL Vgl. zur Geschichte des Faust-Stoffes Ian Watt. Myths of Modern Individualism Faust. Don Quixote, Don Juan, Robinson Crusoe. Cambridge: University Press 1996. Watt definiert Mythos ähnlich wie Jan Assmann als "a traditional story that is exceptionally widely known throughout the culture, that is credited with a historical or quasi-historical belief, and that embodies or symbolizes some of the most basic values of a society". (S. XII) Vgl. Michael von Engelhardt. "Faust in Amerika", in: Ders., Wolfgang Cziesla (Hg.), l'ergleichende Literaturbetrachtungen: Elf Beiträge zu Lateinamerika und dem deutschsprachigen Europa. München: iudicium 1995. S. 133-153. Als Beispiel für die neuere Faust-Rezeption in Lateinamerika wählt Engelhardt den Roman La luna de Fausto (1983) des Venezolaners Francisco Herrera de Luque.
161 Dieses mythische Charakterbild findet man in El arpa y la sombra wieder. Kolumbus' Überquerung des Atlantiks macht die der Menschheit bis dahin gesetzten Grenzen mit einem Schlag obsolet. Carpentier stellt sie als eine Frucht unbändigen Ehrgeizes und damit als Musterbild eines faustischen Gewaltaktes dar. Wie Goethe betont er die visionäre Selbstüberhöhung seines Protagonisten, um im nächsten Moment zu zeigen, daß er der Rolle des hochfahrenden Rebellen vom Format eines Prometheus oder Don Juan nicht gewachsen ist, denn Unsicherheit und Zweifel holen ihn ein: "Quise cenir la Tierra y la Tierra me quedö grande." (S. 199) Ebenso wie im Goetheschen Faust und im Gegensatz zur Version des 16. Jahrhunderts wird Kolumbus' Anmaßung hier nicht mit Tod und Verdammung, sondern mit der Qual der existentiellen Ungewißheit im Diesseits bestraft. Die dem Entdecker zugeschriebene leidenschaftliche, aber aussichtslose Liebesbeziehung zur Königin Isabella erscheint schließlich als weiteres Element eines Mythos, den Carpentier zwischen Ironie und Pathos schwankend - in bester Tradition von Goethe und Mann - neu formuliert. Indem er den Faust-Mythos auf Kolumbus überträgt, macht er aus der Fabel von der Entdeckung Amerikas ein Menschheitsdrama. Sie wird zum Paradigma einer Fremdheitserfahrung, die dem Entdecker zur - nach Carpentier verdienten - Strafe wird, aber auch jeden anderen treffen kann, der beim Versuch der geistigen Grenzüberschreitung die Orientierung verliert. Neben dieser mythischen Lesart, die dem Roman eine universale Bedeutung gibt, läßt sich El arpa y la sombra jedoch auch auf die postkoloniale Identitätsdiskussion und, noch konkreter, auf die Biographie des Autors beziehen.
b) Natur und Identität im Diario de a bordo Anläßlich des Prozesses im Vatikan im 19. Jahrhundert befürchtet Kolumbus - oder vielmehr sein Wiedergänger, Personifikation seines Gedächtnisses - eine pragmatische Beurteilung als un simple ser humano, sujeto a todas las flaquezas de su condición, tal cual lo pintaban ciertos historiadores racionalistas, incapaces, acaso, de
162 percibir una poesía en actos situada más allá de sus murallas de documentos, crónicas y ficheros. (S. 203f) Sein Gefühlsleben schlägt in zwei Punkten jedoch durchaus poetische Töne an: Neben der Überhöhung seiner Beziehung zur Königin als sublime Liebe - "un instante prodigioso en que, por mirar a lo alto, lo muy alto, desapareció la lujuria de mi cuerpo" (S. 235) - geht es um seine Freude an der Schönheit der karibischen Inselwelt. Die Neue Welt verunsichert den Entdecker jedoch durch ihre Fremdheit. El arpa y la sombra betont das im Diario de a bordo auffallende Schwanken zwischen einem hingerissenen, gleichsam sprachlosen Staunen angesichts der exotischen Natur und dem Wunsch, diese durch genaue Kenntnis und exakte Beschreibung zu erfassen, um sie sich dann als materiellen Besitz anzueignen und sie nutzbar zu machen. Kolumbus' Schriften merkt man die zu erwartende Enttäuschung nicht ohne weiteres an, obwohl die vorgefundene Realität den landläufigen Vorstellungen vom reichen Orient, dem Ziel seiner Reise, nur entfernt entsprach. 106 Der Erfolgsdruck, der auf ihm lastete, wird im Diario de a bordo bei genauem Lesen dennoch erkennbar und relativiert die hyperbolisch, aber seltsam stereotyp vorgetragene Euphorie angesichts der Landschaft, Fauna und Flora.107 Am 28. Oktober 1492 landet der Admiral auf 306 307
Vgl. hierzu Juan Ciil, Mitos y utopías del Descubrimiento, Bd. 1 (Colón y su tiempo). Madrid: Alianza 1989. S. 21-56. So schreibt er am 19. Oktober 1492 über eine von ihm "Isabela" benannte Insel: "Ksta costa toda y la parte de la isla que yo vi es toda cuasi playa, y la isla la más fermosa cosa que yo vi, que si las otras son muy hermosas, esta es más. [ ...] yo no sé adonde me vaya primero, ni me se cansan los ojos de ver tan fermosas verduras y tan diversas de las nuestras, y aún creo que a en ellas muchas yervas y muchos árboles que valen mucho en Kspaña para tinturas y para medicinas de especería, mas yo no los cognozco. de que llevo grande pena. Y llegando yo aquí a este cabo, vino el olor tan bueno y suave de flores o árboles de la tierra, que era la cosa más dul