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German Pages 405 [406] Year 2022
Jana Wolf In der Schmiede des „neuen Menschen“
Studien zur Zeitgeschichte Herausgegeben vom Institut für Zeitgeschichte Band 96
Jana Wolf
In der Schmiede des „neuen Menschen“ Ausleseschulen im italienischen Faschismus
Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie an der Technischen Universität Dresden
ISBN 978-3-11-077463-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-077471-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-077480-1 ISSN 2192-0761 Library of Congress Control Number: 2021940472 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Titelbild: Formationsaufstellung im Heerescollegio Bozen, undatiert; AdV Satz: Typodata GmbH Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 I.
Der „neue Mensch“ als faschistische Gesellschaftsutopie – drei Ansätze 21 1. Benito Mussolini – der Duce . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2. Achille Starace – der Parteisekretär . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 3. Renato Ricci – der Jugendführer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
II. Erziehung und Bildung im Faschismus – ein Überblick . . . . . . . . . 59 1. Die Krise des Schulsystems und die Reform Gentiles . . . . . . . . 59 2. Die Tentakel der ONB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 3. Polykratische Strukturen bei der Faschisierung der Jugend . . . . . 71 4. Ziel: Harmonische Zusammenarbeit zwischen Schule und GIL . . . 78 5. Exkurs: Eine „Ausleseschul-Achse“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 III. Die Geschichte der Collegi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 1. Die Propädeutika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Das Collegio Littorio in Rom (104) Die Collegi navali in Venedig und Brindisi (108) Die Stärkung der Collegi unter Starace (118) Die Scuola marinara Caracciolo in Sabaudia (124) Das Collegio aeronautico in Forlì (126) Die Scuola di specializzazione militare in Bozen (137)
2. Umstrukturierung, Neuausrichtung und Neueröffnung der Collegi zwischen 1940 und 1942 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Die Führungskräfteinitiative der GIL 1941 (150) Die Kriegswaiseninitiative der GIL 1942 (155) Das Collegio per Orfani della Guerra in Lecce (157)
3. Weiterführung, Umzug, Schließung: die Collegi von der Absetzung Mussolinis bis zum Kriegsende 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Die Collegi in Nord- und Mittelitalien (164) Die Collegi in Süditalien (172)
IV. Der „Rohling“ – die Schüler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 1. Die Auswahlmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 2. Schulstellen und Stipendienvergabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 3. Die soziale Herkunft der Schüler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 4. Ausschluss von Schülern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 5. Die Absolventen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
VI Inhalt V. Die „Schmiede“ – das Personal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 1. Die Kommandanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 2. Die Erzieher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 3. Die Lehrerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 4. Die Militär-/Berufsausbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 5. Das Verwaltungs- und Dienstleistungspersonal . . . . . . . . . . . . 253 VI. „Hammer und Amboss“ – die Menschenformung in der Praxis . . . . 255 1. Der Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Der Fachunterricht (255) Die Berufsausbildung (262)
2. Der Internatsalltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 Jahresablauf (267) Tagesablauf (274) Weltanschaulische, sportliche und militärische Erziehung (278) Verpflegung, Hygiene und medizinische Betreuung (290) Sozialverhalten (296) Disziplinierungsmaßnahmen (297) Das Verhältnis zum Elternhaus (300) Das Verhältnis zur Kirche (303)
VII. Das Weiterleben der Collegi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 1. Die Beteiligung ehemaliger Schüler am „Bürgerkrieg“ . . . . . . . 312 2. Die Erzieher und Kommandanten nach 1945 . . . . . . . . . . . . 319 3. Die Schulen nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 4. Die lebensgeschichtliche Bedeutung: Karriereverläufe und Prägungen der ehemaligen Schüler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Tabellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397
Einleitung „Wir werden den neuen Italiener schaffen, einen Italiener, der nicht mehr dem gestrigen ähnelt.“1 Mit diesen Worten beschrieb Benito Mussolini sein ehrgeiziges Projekt, einen „neuen Menschen“ zu formen, das er während seiner 20 Jahre dauernden Herrschaft „mit nahezu paranoider Obsession“ verfolgte.2 Nach seiner Vorstellung sollte das italienische Volk seine Gewohnheiten, seinen Charakter und sogar sein physisches Erscheinungsbild verändern und zu faschismusgläubigen, risikobereiten und kampfesmutigen Menschen geformt werden. Mit dieser neu erschaffenen Spezies von Herrschern und Eroberern – so seine propagierte Verheißung – könne Italien wieder an die glorreiche Tradition des antiken Römischen Imperiums anknüpfen. Trotz der zentralen Bedeutung des Ideologems „neuer Mensch“ im italienischen Faschismus,3 fanden die vom Regime unternommenen Anstrengungen zur Umsetzung dieser Idee in der Geschichtswissenschaft bislang wenig Beachtung, wie etwa Emilio Gentile wiederholt in seinen instruktiven Aufsätzen kritisierte.4 1
Benito Mussolini, Al popolo di Reggio Emilia, 30. 10. 1926, in: Opera Omnia di Benito Mussolini [OO], hrsg. v. Edoardo und Duilio Susmel, Bd. XXII, Florenz 1957, S. 245– 247, hier S. 246. 2 Jürgen Charnitzky, Die Schulpolitik des faschistischen Regimes in Italien (1922–1943), Tübingen 1994, S. 237, Anm. 9. Vgl. auch: Denis Mack Smith, Mussolini. Eine Biographie, München/Wien 1983, S. 236; Silvana Patriarca, Italianità. La costruzione del carattere nazionale, Rom/Bari 2010, S. 140 f.; Renzo De Felice, Mussolini il duce. II. Lo Stato totalitario 1936–1940, Turin 1981, S. 88 f. 3 Darauf machte zuerst Mosse aufmerksam. Vgl. George L. Mosse, The Genesis of Fascism, in: Journal of Contemporary History 1 (1966), S. 14–26, hier S. 26. Auch Griffin verwies auf die zentrale Bedeutung der Idee der Palingenese für den Faschismus: Roger Griffin, The Nature of Fascism, London 1996, S. 38 f. 4 Vgl. Emilio Gentile, L’„uomo nuovo“ del fascismo. Riflessioni su un esperimento totalitario di rivoluzione antropologica, in: Ders., Fascismo. Storia e interpretazione, Rom/ Bari 2002, S. 235–264, hier S. 235; Emilio Gentile, Der „neue Mensch“ des Faschismus. Reflexionen über ein totalitäres Experiment, in: Thomas Schlemmer/Hans Woller (Hrsg.), Der Faschismus in Europa. Wege der Forschung, München 2014, S. 89–106, hier S. 89. Noch immer fehlt eine Gesamtdarstellung zum Konzept des „neuen Menschen“ im italienischen Faschismus. Bislang liegen nur Darstellungen zu verschiedenen Einzelaspekten vor: Francesco Cassata, Building the New Man. Eugenics, Racial Science and Genetics in Twentieth-Century Italy, Budapest 2011; Alessio Ponzio, Shaping the New Man. Youth Training Regimes in Fascist Italy and Nazi Germany, Wisconsin 2015; Jorge Dagnino/ Matthew Feldman/Paul Stocker (Hrsg.), The „New Man“ in Radical Right Ideology and Practice, 1919–1945, London 2018; Lutz Klinkhammer/Patrick Bernhard (Hrsg.), L’uomo nuovo del fascismo. La costruzione di un progetto totalitario, Rom 2017; Luciano Pazzaglia, La formazione dell’uomo nuovo nella strategia pedagogica del fascismo, in: Ders. (Hrsg.), Chiesa, cultura e educazione in Italia tra le due guerre, Brescia 2003, S. 105–146; Luca La Rovere, „Rifare gli italiani“: L’esperimento di creazione dell’uomo nuovo nel regime fascista, in: Annali di storia dell’educazione 9 (2002), S. 51–77; Nicola Labanca, Constructing Mussolini’s New Man in Africa? Italian Memories of the Fascist War on Ethiopia, in: Italian Studies 61 (2006), S. 225–232; Gigliola Gori, Model of Masculinity. Mussolini, the „New Italian“ of the Fascist Era, in: James A. Mangan (Hrsg.), Superman Supreme. Fascist Body as Political Icon – Global Fascism, London 2000, S. 27–61; Marie-
2 Einleitung Auch Jorge Dagnino forderte noch unlängst, den Mythos vom „neuen Menschen“ nicht als Leerformel abzutun, sondern ihn und die damit verbundenen totalitären Aspirationen der Faschisten ernst zu nehmen.5 Viele Historiker haben sich bislang allenfalls mit definitorischen Ungenauigkeiten, konzeptionellen Widersprüchen oder mit dem Scheitern dieses totalitären Experiments befasst, ohne jedoch die praktischen Initiativen des Regimes zur Verwirklichung dieser Utopie einer empirischen Analyse zu unterziehen.6 Exemplarisch dafür stehen die Ausführungen Wolfgang Schieders, der in seiner Geschichte des italienischen Faschismus lediglich konstatiert: „Wodurch der Zukunftsmensch allerdings charakterisiert sein sollte, ist nie eindeutig definiert worden, geschweige denn, daß dieses Projekt in die Praxis umgesetzt worden wäre.“7 Tatsächlich schuf das Regime zahlreiche Institutionen, um das Projekt einer „anthropologischen Revolution“ (E. Gentile) zu realisieren. Es handelte sich dabei vor allem um Institutionen im Bereich der Bevölkerungs- und Erziehungspolitik, die Einfluss auf die Lebenswirklichkeit von mehr als 40 Millionen Italienern nehmen sollten. Praxis, Eindringtiefe und Langzeitwirkung dieser angeblichen Revolution sind nach wie vor ein Desiderat der Forschung. Das ambitionierteste Projekt bei der Schaffung des „neuen Menschen“ seien die Collegi der parteieigenen Jugendorganisation Gioventù Italiana del Littorio (GIL) gewesen, konstatierte unlängst Luca La Rovere, einer der besten Kenner der faschistischen Erziehungspolitik. Aus diesen Internatsschulen sollte nichts weniger als eine „Elite von Superfaschisten“8 hervorgehen. La Rovere sprach zudem von Ähnlichkeiten zwischen den faschistischen Collegi und den nationalsozialistischen „Napolas“ und Ordensburgen, auf die bereits Zeitgenossen wie der Ideologe Julius Evola rekurrierten. Diese Institutionen vertraten bekanntlich einen elitären Anspruch im NS-Bildungssystem und hatten sich ebenfalls die Formung eines „neuen Menschen“ auf die Fahnen geschrieben.9 Eine quellengestützte Untersuchung lieferte La Rovere jedoch nicht. Anne Matard-Bonucci (Hrsg.), L’homme nouveau dans l’Europe fasciste (1922–1945), Paris 2004; Daphne Bolz, Ein neuer Mensch? Die Vorstellung des sportlichen Körpers im faschistischen Italien, in: Michael Krüger (Hrsg.), Der deutsche Sport auf dem Weg in die Moderne. Carl Diem und seine Zeit, Berlin 2009, S. 199–213. 5 Vgl. Jorge Dagnino, The Myth of the New Man in Italian Fascist Ideology, in: Fascism. Journal of Comparative Fascist Studies 5 (2016), S. 130–148, hier S. 130. 6 Vgl. Gentile, Uomo nuovo, S. 236 f.; Arnd Bauerkämper, Der Neue Mensch, 4. 7. 2017, http://docupedia.de/zg/bauerkaemper_neue_mensch_v1_de_2017 [8. 7. 2019]. 7 Wolfgang Schieder, Der italienische Faschismus 1919–1945, München 2010, S. 65. 8 La Rovere, „Rifare gli italiani“, S. 73. Ähnliche Formulierungen in: Luca La Rovere, Miti e politica per la gioventù fascista, in: Marco De Nicolò (Hrsg.), Dalla trincea alla piazza. L’irruzione dei giovani nel Novecento, Rom 2011, S. 205–220, hier S. 216 f.; Luca La Rovere, La formazione della gioventù in regime fascista. La scuola e le organizzazioni giovanili, in: Klinkhammer/Bernhard (Hrsg.), L’uomo nuovo del fascismo, S. 97–121, hier S. 113 f.; Luca La Rovere, Totalitarian Pedagogy and the Italian Youth, in: Dagnino/ Feldman/Stocker (Hrsg.), The „New Man“ in Radical Right Ideology and Practice, S. 19– 38, hier S. 24 f. 9 Vgl. zu Deutschland: Hans-Ulrich Thamer, Der „Neue Mensch“ als nationalsozialistisches Erziehungsprojekt. Anspruch und Wirklichkeit in den Eliteeinrichtungen des NS-Bildungssystems, in: vogelsang ip gemeinnützige GmbH (Hrsg.), „Fackelträger der
Einleitung 3
Bei den Collegi handelte es sich um mehr als 20 Internatsschulen für Jungen und Mädchen, die zunächst die faschistische Jugendorganisation Opera Nazionale Balilla (ONB) und ab 1937 die GIL gründete. Die Propaganda präsentierte diese Einrichtungen als „glühende Schmieden“, deren zentrale Aufgabe darin bestehe, „die jungen Italiener fortwährend zu stählen, um daraus mit Methode und Intelligenz die kommenden Führungskräfte der Nation und des Regimes auszuwählen“.10 Das propagierte Ziel der Collegi war „die geistige und körperliche Aufbereitung der Rasse und die vollständige Formung des neuen Italieners“ mittels Leibeser ziehung.11 Diese Schulen versprachen die Schaffung einer physisch optimierten Leistungs- und Funktionselite12 für Politik, Militär und Gesellschaft, um so die Nation“. Elitebildung in den NS-Ordensburgen, Köln u. a. 2010, S. 81–94. Zu den „Merkmalen“ des „neuen Menschen“ im Nationalsozialismus siehe u. a. die zeitgenössische Darstellung: Otto Gohdes, Der neue deutsche Mensch, in: Der Schulungsbrief 1 (1934), 7, S. 7–9. 10 Vgl. Vitalità dei nostri collegi, in: Collegio „M.O. Aldo Fiorini“ per orfani di guerra, Lecce, supplemento al n. 18 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 21. 7. 1942, S. 1 f., hier S. 1. Vergleichbare Verlautbarungen über die Zielsetzung dieser Collegi: „Sie widmen sich vor allem der integralen Formung des ‚homo novus‘, der den Glauben an die Doktrin und die Kraft der Revolution mit beispielhaftem Verhalten und Taten in Zeit und Raum fortführen und verbreiten wird. Aus dem Grund hat die Revolution diesen Collegi die schwierige und edelste Aufgabe zugewiesen, die kommenden Führungskräfte der Nation und des Regimes zu formen und auszuwählen.“ La scuola nei collegi della G.I.L., in: Collegio „M.O. Aldo Fiorini“ per orfani di guerra, Lecce, supplemento al n. 24 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 21. 10. 1942, S. 1 f. 11 M.B., Propedeutica Marinaresca, in: Collegio marinaro „Caracciolo“, Sabaudia, supplemento al n. 18 del Bollettino del Comando Generale della G.I.L., 21. 7. 1942, S. 11 f., hier S. 11; PNF/Comando Generale GIL, Collegio „M.O. Aldo Fiorini“, Lecce, in: Archivio Centrale dello Stato (künftig: ACS), Partito Nazionale Fascista (künftig: PNF), Direttorio Nazionale, Servizi Vari, Serie II (künftig: DN, SV, S II), b. 251, f. Comando generale della GIL. 12 Der aus dem 17. Jahrhundert stammende Begriff der Elite, der ursprünglich auf erlesene Waren Anwendung fand, ist aufgrund seiner teils uneindeutigen Verwendung und Abgrenzung problematisch. Für gewöhnlich wird er in der Geschichtswissenschaft als Synonym für den Begriff „Führungsschicht“ verwendet. Um dabei nicht im Uneindeutigen zu verharren, bietet es sich an, auf die in der Soziologie vorgenommenen Ausdifferenzierungen des Elitebegriffs zurückzugreifen. Diese unterteilt Elite in Wertelite, Leistungs elite, Selbsteinschätzungselite, Fremdeinschätzungselite, Positionselite, Machtelite und Funktionselite. Auch wenn einige Kritiker die schwierige Abgrenzung der Begriffe untereinander bemängeln, sind die Begriffe dennoch hilfreich bei einer genaueren defini tiorischen Einordnung. Betrachtet man die propagandistische Zielsetzung der Collegi, zeigt sich deutlich, dass mit diesen Institutionen eine Leistungs- und Funktionselite hervorgebracht werden sollte. Als Leistungselite wird „die Gesamtheit der Personen [verstanden], die über eine hervorragende Leistungstüchtigkeit, über erlesene Qualitäten verfügen“. Unter Funktionselite versteht man hingegen „ein soziales Subjekt, dessen Mitglieder für das Sozialsystem charakteristische soziale Prozesse entscheidend beeinflussen und dadurch den anderen Mitgliedern des sozialen Systems überlegen sind“. Vgl. zu den Elitekategorien Günter Endruweit, Elite und Entwicklung. Theorie und Empirie zum Einfluss von Eliten auf Entwicklungsprozesse, Frankfurt a. M. 1986, S. 22–33, Zitate: S. 24, 30; Birgit-Katharine Seemann, Das Konzept der „Elite(n)“. Theorie und Anwendbarkeit in der Geschichtsschreibung, in: Karl-Christian Führer/Karen Hagemann/Birthe Kundrus (Hrsg.), Eliten im Wandel. Gesellschaftliche Führungsschichten im 19. und 20. Jahrhundert, Münster 2004, S. 24–41, hier S. 26.
4 Einleitung Zukunft des Regimes zu sichern. Aufgrund ihrer Zielsetzung und dreier zentraler Merkmale, die Harald Scholtz in seinem Standardwerk über die nationalsozialis tischen Ausleseschulen herausgearbeitet hat – 1. die „Einrichtung des Internats“, 2. der „Anspruch, besondere Maßstäbe für die Aufnahme und den Verbleib der Schüler“ anzulegen, sowie 3. das „Auftreten als uniformierte politische Forma tion“13 – können die Collegi als faschistische Ausleseschulen gelten, auch wenn dieser Begriff keinen Niederschlag in den Quellen gefunden hat. Die Zeitgeschichtsforschung hat die Collegi bisher nicht systematisch untersucht.14 Dieser Befund lässt sich sowohl durch die jahrzehntelange Fokussierung auf die Resistenza, als auch durch die schwierige Quellenlage erklären. Vor diesem Hintergrund beschränken sich die Kenntnisse über die Collegi auf einige wenige, teils ungenaue Aufzählungen der Standorte in Überblickswerken, die zudem die zentrale Funktion dieser faschistischen Ausleseschulen verkennen.15 Lediglich 13 Harald
Scholtz, Nationalsozialistische Ausleseschulen. Internatsschulen als Herrschaftsmittel des Führerstaates, Göttingen 1973, S. 8. 14 Dieser Befund verwundert in Anbetracht der Aufmerksamkeit, den die Forschung den nationalsozialistischen Ausleseschulen, also den Nationalpolitischen Erziehungsanstalten (NPEA), den Adolf-Hitler-Schulen (AHS) und der Reichsschule Feldafing gewidmet hat. Um nur die wichtigsten Monographien zu benennen: Scholtz, Nationalsozialistische Ausleseschulen; Horst Ueberhorst, Elite für die Diktatur. Die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten 1933–1945, Düsseldorf 1969; Klaus Schmitz, Militärische Jugenderziehung. Preußische Kadettenhäuser und Nationalpolitische Erziehungsanstalten zwischen 1807 und 1936, Köln/Weimar/Wien 1997; Christian Schneider/Cornelia Stillke/Bernd Leineweber, Das Erbe der Napola. Versuch einer Generationengeschichte des Nationalsozialismus, Hamburg 1996; Barbara Feller/Wolfgang Feller, Die Adolf-Hitler-Schulen. Pädagogische Provinz versus Ideologische Zuchtanstalt, Weinheim/München 2001; Dirk Gelhaus/Jörn-Peter Hülter, Die Ausleseschulen als Grundpfeiler des NS-Regimes, Würzburg 2003; Stefan Baumeister, NS-Führungskader. Rekrutierung und Ausbildung bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs 1933–1939, Konstanz 1997; Helen Roche, Sparta’s German Children. The Ideal of Ancient Sparta in the Royal Prussian Cadet Corps, 1818– 1920, and in National Socialist Elite Schools (the Napolas), 1933–1945, Swansea 2013; Rainer Hülsheger, Die Adolf-Hitler-Schulen 1937–1945. Suggestion eines Elitebewusstseins, Weinheim 2015; demnächst: Helen Roche, The Third Reich’s Elite Schools. A History of the Napolas. 15 Exemplarisch dafür ist die Darstellung in Patrizia Doglianis Sozialgeschichte des italienischen Faschismus: „In den dreißiger Jahren öffnete die ONB in verschiedenen italienischen Städten Konvikte (in Bozen, Venedig, Brindisi, Lecce, Sabaudia), um Schüler aufzunehmen, die gymnasiale und vor allem berufsvorbereitende Klassen besuchten, mit dem Ziel, im Heer oder der Marine Aufnahme zu finden. Verschiedene Collegi der ONB waren nur Kriegswaisen vorbehalten, für deren Grund- und Berufsvorbereitende Schulausbildung (Turin, Rieti, Padua, Pontinia, Tagliacozzo).“ Patrizia Dogliani, Il fascismo degli italiani. Una storia sociale, Druento 2008, S. 176. Diese kurze Beschreibung verkennt einerseits die zentrale Funktion dieser Schulen und ist andererseits fehlerhaft: Der Großteil der genannten Standorte wurde nicht unter der von 1926 bis 1937 existierenden Jugendorganisation Opera Nazionale Balilla (ONB), sondern erst unter der nachfolgenden GIL zu Beginn der 1940er Jahre errichtet oder – wie Pontinia – lediglich ange kündigt, jedoch nie eröffnet. Vgl. darüber hinaus: Ute Schleimer, Die Opera Nazionale Balilla bzw. Gioventù Italiana del Littorio und die Hitlerjugend – eine vergleichende Darstellung, Münster u. a. 2004, S. 170, bes. Anm. 159; Charnitzky, Schulpolitik des faschistischen Regimes, S. 315, bes. Anm. 456; Tracy H. Koon, Believe, Obey, Fight. Polit ical Socialization of Youth in Fascist Italy, 1922–1943, Chapel Hill/London 1985, S. 150; Commissione alleata in Italia, La politica e la legislazione scolastica in Italia dal 1922 al
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Alessio Ponzio widmete den Collegi in seiner Studie über die 1928 gegründete faschistische Sportakademie Farnesina, an der die späteren Kommandanten und Erzieher der Collegi ausgebildet wurden, ein Überblickskapitel. In ihm ging er allerdings nicht näher auf die zentrale „Praxis des Schmiedens“, d. h. den Unterrichts- und Internatsalltag an den Collegi ein.16 Diesen blendete auch das Staatsarchiv von Brindisi aus, das im Vorwort eines 1994 publizierten Heftchens über das Marinecollegio Brindisi angab, ursprünglich die Absicht verfolgt zu haben, das Leben der Schüler in dem Collegio zu rekonstruieren, jedoch an den fehlenden Dokumenten scheiterte.17 Das Archiv des Marinecollegios in Brindisi sei verloren gegangen und das des Provinzkommissariates der Nachfolgeorganisation Gioventù Italiana (GI) nicht auffindbar, sodass sich die Schrift schließlich nur der Baugeschichte des Collegios widmet.18 Auch gibt es Publikationen zu einzelnen Collegi, etwa dem Luftwaffencollegio in Forlì und dem Marinecollegio in Venedig, die aber lediglich die künstlerische Ausgestaltung (Mosaike in Forlì)19 oder die Entwicklung des Marinestandortes20 fokussieren. Die vorliegende Studie nimmt mit den Collegi nun einen wesentlichen oder – um mit La Rovere zu sprechen – den ambitioniertesten Realisierungsversuch zur Schaffung des „neuen Menschen“ im italienischen Faschismus in den Blick. Erst durch die historische Analyse der Schaffung, Ausgestaltung und unterrichtlichen Praxis können die Versuche zur Umsetzung der totalitären Ambitionen des Regimes genauer geklärt werden. Um Anspruch und Wirklichkeit der Gesellschafts utopie zu analysieren, ist die Studie in sieben Kapitel gegliedert. Bevor sich die Untersuchung der Umsetzung des für den Faschismus zentralen Ideologems „neuer Mensch“ anhand der Collegi widmet, ist zunächst das Ideo logem selbst zu betrachten und die Frage zu beantworten, wie der Mensch der Zukunft gedacht wurde, der aus den Schulen hervorgehen sollte. Daher werden in Kapitel I die Vorstellungen oder Konzepte, die führende Faschisten vom „neuen 1943, Mailand 1947, S. 141 f.; Loreto Di Nucci, Lo Stato-partito del fascismo. Genesi, evoluzione e crisi, 1919–1943, Bologna 2009, S. 481; Emilio Gentile, La via italiana al totalitarismo. Il partito e lo Stato nel regime fascista, nuova edizione, Rom 2008, S. 200; Patrizia Dogliani, Propaganda and Youth, in: Richard J.B. Bosworth (Hrsg.), The Oxford Handbook of Fascism, Oxford 2009, S. 185–202, hier S. 189. 16 Vgl. Alessio Ponzio, La palestra del littorio. L’Accademia della Farnesina. Un esperimento di pedagogia totalitaria nell’Italia fascista, Mailand 2009, Kap. 8. 17 Vgl. Decio De Mauro/Marcella Guadalupi Pomes, Premessa, in: Archivio di Stato Brindisi (Hrsg.), Il Collegio Navale Niccolò Tommaseo 1934–1977. Dalla progettazione al disuso, Oria 1994, S. 7 f., hier S. 8. 18 Vgl. ebenda, S. 7. 19 Vgl. Emanuela Bagattoni, La celebrazione del volo nel collegio aeronautico di Forlì: mosaici di Angelo Canevari, in: Terzoocchio 31 (2005), 115, S. 17–20; dies., L’antica arte del mosaico per la moderna arte aviatoria. Il capolavoro di Angelo Canevari nel collegio aeronautico di Forlì, in: Fernando Mazzocca (Hrsg.), Novecento. Arte e vita in Italia tra le due guerre, Mailand 2013, S. 386–391; Cesare Sangiorgi, Con gli occhi rivolti al cielo. I mosaici del Collegio Aeronautico di Forlì, Forlì 2011. 20 Vgl. Andrea Tirondola, Pale a prora! Storia della Scuola Navale Militare ‚Francesco Morosini‘ e dell’istruzione marinaresca a Venezia dalla Serenissima ai giorni nostri, Vicenza 2012; Andrea Dell’Agnola (Hrsg.), Alzato l’albero, spiegate le vele. Scuola navale militare F. Morosini, Piazzola sul Brenta 2001. Letztgenannte Publikation enthält interessante Erinnerungsberichte ehemaliger Marineangehöriger.
6 Einleitung Menschen“ entwickelten, herausgearbeitet. Es geht in diesem Untersuchungsschwerpunkt insbesondere um die Frage, wie ihr „neuer Mensch“ beschaffen sein und wie er geschaffen werden sollte. Ausgehend von der Feststellung, dass es im Faschismus keine einheitliche Vorstellung vom „neuen Menschen“ gegeben habe, untersucht das Kapitel neben den Ideen Mussolinis auch die Positionen des Jugendführers Renato Ricci und des Parteisekretärs Achille Starace, da beide einen erheblichen Einfluss auf die Jugendpolitik hatten. Renato Ricci führte die Jugendorganisation ONB von 1927 bis 1937 und war der Ideengeber und Initiator der Collegi. 1937 setzte Mussolini ihn ab, die Jugendorganisation ONB wurde in GIL umbenannt und der Partei unterstellt, sodass der langjährige Parteisekretär Achille Starace in Personalunion auch die GIL führte und damit die Geschicke der Collegi federführend mitbestimmte. Im Anschluss an die Bestimmung der Ideen des „neuen Menschen“ bei diesen drei Protagonisten wird überprüft, was die politische Führung im Bereich der Pädagogik praktisch unternahm, um die Herausbildung der neuen faschistischen Gemeinschaft voranzutreiben. Dazu skizziert Kapitel II die Grundlinien der faschistischen Erziehungs- und Bildungspolitik während des Ventennio. Angefangen bei den bildungspolitischen Herausforderungen, vor denen das Regime nach der Machtübertragung im Jahre 1922 stand, wird untersucht, ob Erziehungsministe rium, Partei und Jugendorganisationen das Ziel der Schaffung des „neuen Menschen“ in gleicher Weise verfolgten und wie sie in den polykratischen Strukturen interagierten. In Anlehnung an Mussolinis Rede von der „Schulachse“ werden im sich anschließenden Exkurs-Kapitel Akteure und Initiativen einer vermeintlichen „Ausleseschul-Achse“ nachgezeichnet. Hier nimmt die Arbeit eine transfergeschichtliche, an anderen Stellen auch eine vergleichende Perspektive ein,21 indem sie die nationalsozialistischen Ausleseschulen als Referenzpunkt heranzieht: Südlich wie nördlich der Alpen bestand das propagierte Ziel der Ausleseschulen darin, den „neuen Deutschen“ bzw. den „neuen Italiener“ zu schaffen, der fähig sein sollte, die Fortdauer des jeweiligen Regimes zu garantieren. Wegen des sehr asymmetrischen Forschungsstandes wurden den deutschen Nationalpolitischen Erziehungsanstalten (NPEA), Adolf-Hitler-Schulen (AHS) und Ordensburgen in der ver gleichenden Faschismusforschung auf italienischer Seite bislang lediglich die 1930 auf Anregung Arnaldo Mussolinis gegründete Scuola di Mistica Fascista und die Vorbereitungskurse für zukünftige Parteifunktionäre (Corsi di preparazione politica) gegenübergestellt.22 So kam auch Jens Petersen noch 2006 zu der Feststellung, dass der Faschismus „keine gezielte Elitenauslese nach dem Muster der national21 Reichardt
und Nolzen verweisen auf die wechselseitige Befruchtung von Transfer und Vergleich. Vgl. Sven Reichardt/Armin Nolzen, Editorial, in: Dies. (Hrsg.), Faschismus in Deutschland und Italien. Studien zu Transfer und Vergleich, Göttingen 2005, S. 9–27, hier S. 17 f. 22 Vgl. exemplarisch Alexander De Grand, Fascist Italy and Nazi Germany. The ,fascist‘ Style of Rule, New York 22004, S. 81 f.; auch Goran Miljan kommt in seiner 2018 erschienenen Studie zu der Erkenntnis: „In Nazi Germany, more attention and effort was directed at the education of the youth’s future leaders.“ So verweist er für Deutschland auf die AHS, NPEA, Ordensburgen und die Hohe Schule, während er auf italienischer Seite
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sozialistischen […] Erziehungsanstalten betrieben“23 habe. Abgesehen von dem Hinweis La Roveres, dass es sich bei den Collegi um faschistische Eliteschmieden nach dem Vorbild der nationalsozialistischen Ausleseschulen gehandelt habe, wurden die Collegi bisher also nicht als funktionales Äquivalent der AHS oder NPEA wahrgenommen. Es gilt daher, Transferprozesse sowie Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Ausleseschulen beider Regime punktuell herauszuarbeiten, um zu verstehen, wie sie das gleichermaßen angestrebte Ziel der Schaffung eines „neuen Menschen“ zu realisieren versuchten.24 Die Kapitel III bis VII nehmen dann die Collegi als Realisierungsversuch des Ideologems „neuer Mensch“ sehr intensiv in den Blick. Der Fokus von Kapitel III liegt auf Genese, Organisation, Struktur und Funktion, insgesamt auf der institutionellen Verortung der letztlich 22 in den 1930er und 1940er Jahren errichteten Internatsschulen im Staate Mussolinis. Da nicht sämtliche Schulen untersucht werden konnten, konzentriert sich die Analyse auf fünf Collegi: die Marinecollegi in Brindisi und Venedig, das Heerescollegio in Bozen, das Luftwaffencollegio in Forlì, der „Stadt des Duce“, sowie das Kriegswaisencollegio in Lecce. Die Auswahl des Samples begründet sich mit der Quellenlage, der Entstehungszeit, der Nord-/ Südverteilung der Standorte und vor allem mit der Spezialisierung der Schulen. Jedes betrachtete Collegio verfolgte, wie bereits aus ihrer Bezeichnung hervorgeht, eine spezielle Zielsetzung: Brindisi und Venedig sollten die zukünftigen Führungskräfte der Marine stellen, Forlì die Experten der Luftwaffe und Bozen die Heeresspezialisten. Die Collegi hatten die Aufgabe, fachlich hochversierte und überzeugte Faschisten hervorzubringen, um den grassierenden Fach- und Führungskräftemangel zu beseitigen und jene Institutionen zu durchdringen, die (vermeintlich) schwer zu faschisieren waren, wie die Streitkräfte. Allerdings weist auch der Forschungsstand zu den Streitkräften noch immer erhebliche Lücken auf: Erstens fehlen Arbeiten über das Verhältnis der Streitkräfte zum Faschismus25 und zweitens ist in der Forschung weiter umstritten, wie königstreu oder keine Institution benennt. Goran Miljan, Croatia and the Rise of Fascism. The Youth Movement and the Ustasha during WWII, London/New York 2018, S. 73 f., Zitat: S. 73. 23 Jens Petersen, Italiens Aristokratie, die Savoia-Monarchie und der Faschismus, in: Zibaldone 42 (2006), S. 9–29, hier S. 17. 24 Vgl. Wolfgang Schieder, Angst vor dem Vergleich. Warum die italienische Zeitgeschichtsforschung wenig europäisch ist, in: Heinz Durchhardt (Hrsg.), Nationale Geschichtskulturen – Bilanz, Ausstrahlung, Europabezogenheit, Mainz 2006, S. 169–193, hier S. 191. Auch Arnd Bauerkämper hat darauf verwiesen, dass bisher die „historischkomparativen und beziehungs- oder verflechtungsgeschichtlichen Studien selten geblieben“ seien, und konstatiert, dass „die Geschichte des grenzüberschreitenden Ideentransfers zum Neuen Menschen, des Austausches von Erziehungspraktiken und der (selektiven) Übernahme von Leitbildern aus anderen Staaten oder sogar politischen Systemen ein Desiderat der Forschung“ darstellt. Bauerkämper, Der Neue Mensch. 25 So konstatierte Amedeo Osti Guerrazzi: „Es existieren quasi keine vergleichbaren Arbeiten, wie sie in Deutschland schon seit Langem über die Beziehung NationalsozialismusStreitkräfte sowie über die politische Kultur der hohen Offiziere veröffentlicht wurden.“ Amedeo Osti Guerrazzi, „Wir können nicht hassen.“ Zum Selbstbild der italienischen Armee während des Krieges und nach dem Krieg, in: Harald Welzer/Sönke Neitzel/ Christian Gudehus (Hrsg.), „Der Führer war wieder viel zu human, viel zu gefühlvoll.“ Der Zweite Weltkrieg aus der Sicht deutscher und italienischer Soldaten, Frankfurt a. M. 2011, S. 350–392, hier S. 358.
8 Einleitung faschistisch Heer, Marine oder Luftwaffe waren, sowie drittens, welche Machtfülle Benito Mussolini, der zeitweilig das Kriegs-, Luftfahrt- und Marineministerium führte, dort besaß.26 Da die drei Teilstreitkräfte durch die Bereitstellung von Personal (Kommandanten, Ausbilder) und Material aller Art in den Betrieb der Collegi eingebunden waren, kann im Folgenden auch geklärt werden, wie sich das Verhältnis der Streitkräfte zu der parteieigenen Jugendorganisation exemplarisch in diesem Mikrokosmos entwickelte. Um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu den Schulgründungen mit militärischer Einflussnahme in den 1930er Jahren herauszuarbeiten, wird zudem das erst in den 1940er Jahren eröffnete Kriegswaisencollegio in Lecce untersucht. Das Vorhaben, weitere Gründungen der 1940er Jahre zu beleuchten, aus denen etwa die künftigen Verwaltungsfachkräfte hervorgehen sollten, konnte aufgrund der problematischen Quellenlage ebenso wenig realisiert werden, wie das Ziel, eines der immerhin sieben Mädchencollegi exemplarisch im Hinblick auf die Realisierung eines „faschistischen Frauentyps“27 zu betrachten. Das ist umso bedauer licher, als in der Geschlechterforschung über die Frage emanzipatorischer und modernistischer Tendenzen im italienischen Faschismus noch immer kontrovers diskutiert wird.28 Anzumerken ist, dass hier ausschließlich die Collegi der ONB/GIL, nicht jedoch die Collegi der Auslandsjugendorganisation G.I.L.E. (Gioventù Italiana del Littorio all’Estero) in den Blick genommen werden. Diese Collegi für junge Auslandsitaliener, 21 an der Zahl, wurden nach dem italienischen Kriegseintritt ab Herbst 1940 errichtet, um Jugendliche, die sich in den Sommerferien in Italien befanden und nun nicht mehr zu ihren Eltern zurückkehren konnten, aufzunehmen.29 Sie wurden vom Außenministerium getragen und hatten überdies nicht 26 Vgl.
Daniela Wellnitz, Faschismus und Monarchie im Sommer 1943, in: Welzer/Neitzel/ Gudehus (Hrsg.), „Der Führer war wieder viel zu human, viel zu gefühlvoll.“, S. 393–413, hier S. 394; Giorgio Rochat, Mussolini e le forze armate, in: Alberto Aquarone/Maurizio Vernassa (Hrsg.), Il regime fascista, Bologna 1974, S. 113–132, hier S. 119; Giorgio Rochat, Monarchia e militari dal fascismo alla repubblica, in: Rivista di storia contemporanea 23 (1994), 4, S. 470–483, hier S. 477; Nicola Labanca, I militari del fascismo, in: Mario Isnenghi/Giulia Albanese (Hrsg.), Gli italiani in guerra. Conflitti, identità, memorie dal Risorgimento ai nostri giorni. Volume IV – Tomo 1: Il Ventennio fascista. Dall’Impresa di Fiume alla Seconda guerra mondiale, Turin 2008, S. 391–405, bes. S. 402 f.; Hans Woller, Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 117, 176; Hans Woller, Mussolini. Der erste Faschist. Eine Biografie, München 2016, S. 118, 191; Wolfgang Schieder, Benito Mussolini, München 2014, S. 59; R.J.B. Bosworth, Dictators Strong or Weak? The Model of Benito Mussolini, in: Ders. (Hrsg.), The Oxford Handbook of Fascism, S. 259–275, hier S. 272. 27 Emilio Gentile, Fascism in Power. The Totalitarian Experiment, in: Adrian Lyttelton (Hrsg.), Liberal and Fascist Italy, 1900–1945, Oxford 2006, S. 139–174, hier S. 163. 28 Vgl. Perry R. Willson, Women in Fascist Italy, in: Richard Bessel (Hrsg.), Fascist Italy and Nazy Germany. Comparisons and Contrasts, Cambridge 1996, S. 78–93, hier S. 88– 92; Wolfgang Schieder, Die Geburt des Faschismus aus der Krise der Moderne, in: Ders., Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland, Göttingen 2008, S. 353– 375, hier S. 374 f. 29 Das Außenministerium finanzierte die 21 Collegi für die jungen Auslandsitaliener, deren Eltern zumeist in Frankreich und Tunesien lebten. Die Collegi befanden sich v. a. in Rom und in der Toskana: Chianciano, Bucine, Castiglion Fiorentino („S. Chiara“, „Ser-
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dieselben Aufgaben und Zielsetzungen wie die Collegi, sodass sie in dieser Untersuchung unberücksichtigt bleiben. Nach der chronologisch angelegten Analyse der Entstehungsgeschichte der Collegi beschäftigen sich die folgenden Kapitel diachron mit den diversen Sach themata. Diese Kapitel gehen den zentralen Fragen nach, anhand welcher Krite rien die zukünftigen „neuen Menschen“ ausgewählt, durch wen und vor allem wie sie „geschmiedet“ werden sollten und wurden.30 So untersucht Kapitel IV die Mechanismen der Schülerauswahl, die sich stetig modifizierenden Selektionskriterien sowie die soziale Herkunft der Schülerschaft, um zu überprüfen, welche Eigenschaften sie für ihre Rolle im faschistischen Staat prädestinierten. Die Analyse der aufgenommenen Schülerschaft ist im Hinblick auf ihre soziale Herkunft von ganz besonderem Interesse, da der Faschismus die Entstehung einer neuen Leistungselite propagierte. Unter anderem ist die wichtige Frage zu klären, ob für die Collegi die Sprösslinge der traditionellen Eliten herangezogen wurden oder ob man über die Ausleseverfahren eine möglichst egalitäre, leistungsabhängige Aufstiegsoffenheit zu schaffen suchte, in deren Folge sich dann eine neue Führungsschicht hätte herausbilden können. Damit tangiert dieses Kapitel ganz zentral die noch immer virulente Kontroverse, wie sozialrevolutionär oder sozialkonservativ der italienische Faschismus tatsächlich war.31 In Kapitel V werden die Rekrutierungswege, Qualifikationen und das weltanschauliche Profil der Kommandanten, Lehrer und Erzieher unter dem Gesichtspunkt analysiert, anhand welcher Kriterien und Merkmale das Personal ausgewählt wurde, dem die Aufgabe der faschistischen Menschenformung zukam. Bei der Durchleuchtung des Leitungs- und Lehrpersonals interessiert besonders die Frage, ob der Fokus tatsächlich auf deren frühem faschistischen Engagement lag, wie die Propaganda behauptete, oder ob man eher fachlich versiertes Personal für diese Einrichtungen auswählte. Diese „Formgeber“ sind auch bezüglich ihrer Aufgabengebiete und Arbeitsmethoden genauer zu betrachten. Ausgehend von den propagierten eigenen Erziehungsansprüchen erfolgt eine Analyse, wie sich die tägliche Erziehungspraxis der Collegi wirklich darstellte. ristori“), Florenz, Viareggio, Frascati, Grosseto, Mentone, Montepulciano, Nocera Umbra, Nettunia, Pesaro, Rocca di Papa, Rom („Beda“, „Tor di Quinto“, „Angelucci“, „4 Fontane“), Siena, Tirrenia, Cortona. Vgl. Ministero degli Affari Esteri, Appunto per il duce, Januar 1944, in: Archivio Storico del Ministero degli Affari Esteri, Rom (künftig: ASMAE), Repubblica Sociale Italiana (künftig: RSI) 1943–45, b. 4. Vgl. die Liste Comandanti Capi-Gruppo Collegi G.I.L.E., anno scolastico 1941–42, in: ASMAE, Archivio Scuole 1936–1945, b. 262. Vgl. darüber hinaus die Propagandabroschüre GILE, I Collegi di Roma, Rom 1942. Hinweise zum Personal und den Unterrichtsinhalten in den verschiedenen Collegi der GILE finden sich in: ASMAE, Archivio Scuole, insegnanti, convittori, elenco Collegi GILE, b. 1, und ASMAE, Archivio Scuole 1925–45, b. 173. 30 Patrick Bernhard und Lutz Klinkhammer formulierten dies unlängst als zentrale Forschungsfrage: „Eine wichtige Frage ist jedoch, zu verstehen, wie das Regime seine Führungsschicht formte, aber vor allem auswählte, die das künftige Italien hätte führen sollen […].“ Lutz Klinkhammer/Patrick Bernhard, L’„uomo nuovo“ del fascismo. Tra progetto e azione, in: Dies. (Hrsg.), L’uomo nuovo del fascismo, S. 9–27, hier S. 16. 31 Vgl. Rainer Behring, Italien im Spiegel der deutschsprachigen Zeitgeschichtsforschung. Ein Literaturbericht (2006–2013), in: Archiv für Sozialgeschichte 54 (2014), S. 345–394, hier S. 374.
10 Einleitung Kapitel VI beleuchtet demzufolge das „Schmieden“ selbst, sprich den Unterrichts- und Internatsalltag innerhalb der Collegi. In ihm werden auch die Unterschiede zwischen den regulären staatlichen und diesen elitär-faschistischen Schulen aufgezeigt und die Mechanismen zur Formung überzeugter Faschisten, die dann wiederum als Multiplikatoren u. a. im Militär wirken sollten, erkundet. Wurden innovative, in der zeitgenössischen pädagogischen Literatur diskutierte Unterrichtsmethoden oder -medien eingeführt? Gab es neuartige, eigens entwickelte Fächer, Unterrichtsinhalte und veränderte Stundengewichtungen oder bestand der Unterschied vor allem im Erziehungskonzept der Internatsunterbringung, der durchgehenden, entindividualisierenden Uniformierung der Schüler, der ideologischen Indoktrination und der starken Betonung der sportlichen und vormilitärischen Ausbildung? Welche Maßnahmen ergriffen die Collegi neben der Leibesertüchtigung zur physischen Optimierung der Kollegiaten? Dabei gilt es zu untersuchen, welche Rolle Akteure des Social oder besser Racial Engineering, namentlich der berühmte Endokrinologe Nicola Pende, Mitunterzeichner des Rassenmanifests von 1938 und zugleich Rektor der faschistischen Sportakademie Farnesina,32 bei der Herausbildung des physisch „neuen Menschen“ in den Col legi spielten. Und welche Bedeutung kam eigentlich den traditionellen Institutionen Kirche, Krone und Familie in den Collegi zu, die in der Forschung häufig als Bollwerke gegen den Faschismus und Widerstandskräfte gegen die angestrebte „anthropologische Revolution“ dargestellt werden?33 Das Kapitel VII versucht schließlich, die Ergebnisse all dieser Anstrengungen herauszuarbeiten und zu bewerten. Jahrzehntelang betonte die italienische Zeitgeschichtsforschung das Scheitern der faschistischen Erziehungspolitik.34 Dabei folgte sie beispielsweise der Erzählung eines Ruggero Zangrandi, der in seinem 1948 publizierten und 1962 erweiterten Buch „Der lange Weg [durch den Faschismus]“ in den faschistischen Jugendorganisationen ab Mitte der 1930er Jahre ei32 Vgl.
René Moehrle, Die Institutionalisierung der faschistischen „Rassen“- und Bevölkerungspolitik und der Beitrag italienischer Akademiker, in: ZfG 64 (2016), S. 29–49, hier S. 42 f. 33 Vgl. Paolo Nello, Lo spirito antiborghese e il mito dell’„uomo nuovo“ del fascismo nella seconda metà degli anni Trenta, in: Roberto Giannetti/Mauro Lenci (Hrsg.), Nel labirinto delle ideologie. Scritti su Domenico Settembrini, Soveria Mannelli 2015, S. 141–169, hier S. 166, 168. 34 Vgl. Carmen Betti, L’Opera Nazionale Balilla e l’educazione fascista, Florenz 1984, S. 178 f.; Paolo Nello, Mussolini e Bottai: due modi diversi di concepire l’educazione fascista della gioventù, in: Storia contemporanea 8 (1977), 2, S. 335–366, hier S. 365; Jürgen Charnitzky, Unterricht und Erziehung im faschistischen Italien. Von der Reform Gentile zur Carta della Scuola, in: Jens Petersen/Wolfgang Schieder (Hrsg.), Faschismus und Gesellschaft in Italien. Staat – Wirtschaft – Kultur, Köln 1998, S. 109–131, hier S. 123 f. Zuletzt beispielsweise Paul Corner, The Fascist Party and Popular Opinion in Mussolini’s Italy, Oxford 2012, S. 215, 218 f. Corner geht davon aus, dass es zwar überzeugte Jugendliche, jedoch keine totale Überzeugung der Jugendlichen gab. Dabei schließt er sich den Forschungen von Tracy Koon aus den 1980er Jahren an, die bezweifelte, dass es der Partei gelungen sei, eine Generation überzeugter Faschisten hervorgebracht zu haben. Siehe die Kritik an Zugang und Quellenauswahl von Paul Corner bei Patrick Bernhard, New Directions in the Historiography of a European Dictatorship, in: Contemporary European History 23 (2014), 1, S. 151–163, hier S. 153–155.
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nen Hort des Antifaschismus erblicken wollte.35 So etablierte sich das ohne hinreichende empirische Belege aufgestellte Narrativ, die faschistische Erziehung sei ohne messbare Wirkung geblieben oder habe gar zu antifaschistischen Grundüberzeugungen geführt. Die lange Zeit allein auf die Resistenza fokussierte italienische Zeitgeschichtsschreibung griff dieses Narrativ bereitwillig auf.36 Jüngere Studien (etwa die wegweisende Untersuchung von Luca La Rovere über die faschistischen Studentengruppen) konnten hingegen zeigen, dass die pädagogische Implementierung faschistischen Gedankengutes durchaus Erfolge zeitigte.37 Die „rigenerazione totalitaria“, die „totale Erneuerung“, darauf insistierte auch Silvana Patriarca unlängst, hinterließ bei den betroffenen Jugendlichen durchaus ihre Spuren, wie auch die Antifaschisten einräumten.38 Einer dieser Antifaschisten, der die Wirkung faschistischer Indoktrination diagnostizierte, war der Erziehungsminister in der zweiten Regierung Badoglios, Adolfo Omodeo.39 In einem Artikel aus dem Jahre 1944 machte er auf die bedenkliche Herdenmentalität der meisten Jugendlichen aufmerksam und sah die Notwendigkeit ihrer Umerziehung.40 Namhafte Forscher forderten in den letzten Jahren denn auch, sich die Wirksamkeit der faschistischen Erziehung und deren langfristige Folgen gründlicher vorzunehmen.41 Dazu regten sie gruppenbiographische Untersuchungen an, „um zu überprüfen, inwieweit die durch den Faschismus geprägten Jugendlichen die Ideen internalisiert hatten und welche Wirkkraft sie über 1945 hinaus entfalten konnten“.42 An diese Forderung knüpft die vorliegende Studie an. So skizziert 35 Vgl.
Ruggero Zangrandi, Il lungo viaggio. Contributo alla storia di una generazione, Turin 1948; ders., Il lungo viaggio attraverso il fascismo. Contributo alla storia di una generazione, Mailand 1962; Alessandra Tarquini, Fascist Educational Policy from 1922 to 1943. A Contribution to the Current Debate on Political Religions, in: Journal of Contemporary History 50 (2015), 2, S. 168–187, hier S. 180 f., bes. Anm. 54; Luca La Rovere, Ritorno a Zangrandi? Giovani, politica e cultura nel regime fascista: la storiografia dell’ultimo quindicennio, in: Michele Dantini (Hrsg.), L’entre-deux-guerres in Italia. Storia dell’arte, storia della critica, storia politica, Città di Castello 2019, S. 35–49, hier S. 37 f. 36 Vgl. Luca La Rovere, Gli intellettuali italiani e il problema delle generazioni nella transizione al postfascismo, in: Laboratoire italien 12 (2012), S. 97–110, hier S. 98, 100. 37 Vgl. Luca La Rovere, Storia dei GUF. Organizzazione, politica e miti della gioventù universitaria fascista 1919–1943, Turin 2003. La Rovere beendet seine Studie mit den Worten: „Es begann also [nach 1945] das Drama einer Generation, die sich in ihrer Mehrheit nicht vom Faschismus losgesagt hätte, wenn der Faschismus nicht von der Geschichte besiegt worden wäre.“ Ebenda, S. 398. Luca La Rovere, Fascist Groups in Italian Universities. An Organization at the Service of the Totalitarian State, in: Journal of Contemporary History 34 (1999), S. 457–475, hier S. 474 f. 38 Vgl. Patriarca, Italianità, S. 171. 39 Weitere Beispiele siehe: La Rovere, Intellettuali italiani, S. 104 f. 40 Vgl. Adolfo Omodeo, La rieducazione della gioventù italiana, 13. 1. 1944, in: Ders., Libertà e storia. Scritti e discorsi politici, Turin 1960, S. 152–156. 41 So forderte u. a. Emilio Gentile: „Welches die langanhaltenden Effekte des totalitären Experiments auf den Großteil der Italiener waren, ist ein Problem, das es noch zu untersuchen gilt.“ Gentile, Uomo nuovo, S. 261. 42 Jana Wolf, Tagungsbericht Die faschistische Herausforderung. Netzwerke, Zukunftsverheißungen und Kulturen der Gewalt in Europa 1922 bis 1945, München 28. bis 30. Juni 2012, https://www.ifz-muenchen.de/fileadmin/user_upload/Neuigkeiten%202012/Faschismus-Tagungsbericht-IfZ-Juni-2012.pdf [28. 6. 2019].
12 Einleitung das letzte Kapitel die Lebenswege einiger ehemaliger Kollegiaten und bemüht sich um eine Antwort auf die methodisch schwierige Frage, inwieweit die in den Collegi vermittelten Werte langfristige mentalitätsprägende Wirkung entfaltet haben könnten. Es versucht zu ermessen, welche Folgen die Herausnahme aus dem familiären Sozialisationsfeld, die militärische Sozialisation sowie die weltanschau liche Schulung in der prägenden Phase der Adoleszenz für die Denkmuster und für die Persönlichkeitsentwicklung der Jugendlichen hatten. Damit greift die Arbeit Fragen der Historischen Bildungs- und Sozialisationsforschung in Verbindung mit der Oral History auf, indem sie im Rahmen von Zeitzeugenbefragungen einerseits der pädagogischen Praxis dieser faschistischen Internatsschulen nachgeht und andererseits die systembedingten Prägungen wie auch die Bedeutung, welche die ehemaligen Schüler dieser Institution für ihre Wertorientierung zuschreiben, in den Fokus rückt.43 Die Schwierigkeiten einer solchen Untersuchung liegen auf der Hand. Bereits gegen die angewandte Methode der Oral History bestehen zahlreiche Vorbehalte. Als problematisch werden die selektive Speicherung von Ereignissen, aber vor allem die Gedächtnisleistung und die Umformung der individuellen Erinnerung,44 etwa durch das „kollektive Gedächtnis“ beschrieben. Den von Maurice Halbwachs geprägten Begriff des „kollektiven Gedächtnisses“ differenzierten Jan und Aleida Assmann in ihren kulturwissenschaftlichen Werken weiter aus, sodass sich nunmehr die Unterscheidung von „kommunikativem Gedächtnis“ und „kulturellem Gedächtnis“ durchgesetzt hat.45 Unter dem Begriff „kommunikatives Gedächtnis“ werden „Erinnerungsstrategien [gefasst], auf die sich Kollektive in einem komplexen und komplizierten Prozeß von diskursiven Strategien ‚einigen‘“. Das „kulturelle Gedächtnis“ meint hingegen „Objekte und Rituale, in denen sich solche Strategien manifestieren“. Allen voran beeinflussen oder überformen demnach die dominierenden Erinnerungsnarrative des „kommunikativen Gedächtnisses“ die individuelle Erinnerung der Zeitzeugen. Doch auch Phänomene wie das „False-memory-Syndrom“ sind ganz besonders bei Erinnerungen an Kindheitserlebnisse zu beachten.46 Namentlich Harald Welzer wendet gegen die Zeitzeugeninterviews ein, dass diese weniger 43 Vgl.
Ulrich Herrmann, Historische Sozialisationsforschung, in: Klaus Hurrelmann/ Dieter Ulich (Hrsg.), Neues Handbuch der Sozialisationsforschung, 4., völlig neubearb. Aufl., Weinheim/Basel 1991, S. 231–250, bes. S. 237. 44 Vgl. Alexander von Plato, Zeitzeugen und die historische Zunft. Erinnerung, kommunikative Tradierung und kollektives Gedächtnis in der qualitativen Geschichtswissenschaft, in: BIOS 13 (2000), S. 5–29, hier, S. 8 f. 45 Vgl. hierzu und zu den folgenden Zitaten: Elisabeth Domansky/Harald Welzer, Die alltägliche Tradierung von Geschichte, in: Dies. (Hrsg.), Eine offene Geschichte. Zur kommunikativen Tradierung der nationalsozialistischen Vergangenheit, Tübingen 1999, S. 7–25, hier S. 20. 46 Vgl. Harald Welzer, Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2002, S. 32. Nicht nur die sich über Jahre verändernde Erinnerung ist problematisch, sondern auch die Beeinflussung des Erinnernden in der Phase der Erhebung des Interviews. Dazu zählen etwa das Interviewsetting, Sympathien oder Antipathien für den Interviewer oder die aktuelle politisch-gesellschaftlich-soziale Situation. Vgl. Julia Obertreis, Oral History – Geschichte und Konzeptionen, in: Dies (Hrsg.), Oral History, Stuttgart 2012, S. 7–28, hier S. 24, 28.
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das historisch Faktische zeigen, sondern vielmehr „wie ein Erzähler seine Auffassung von der Vergangenheit einem Zuhörer zu vermitteln versucht“.47 Diese Interviews sagten so mehr über die Gegenwart aus als über das Vergangene.48 Unter Berücksichtigung dieser quellenkritischen Überlegungen ist die Autorin dennoch der Auffassung, dass Zeitzeugeninterviews vor allem zur Verkleinerung von Überlieferungslücken auf dem Gebiet der Alltags- und Erfahrungsgeschichte, wie im vorliegenden Fall zum Schul- und Internatsalltag in den Collegi, von großem Wert sind und bleiben. Eine weitere Herausforderung besteht natürlich darin, die den Kollegiaten vermittelten und schließlich internalisierten Denk- und Verhaltensweisen ex post „messen“ zu wollen, da nur schwerlich sämtliche Faktoren und intervenierende Variablen bei der Persönlichkeitsentwicklung in den Blick genommen werden können und demzufolge die Gefahr eines Post-hoc-Fehlschlusses besteht. Als ebenso problematisch gestaltet sich das Fehlen einer Vergleichsgruppe; in Italien erfreut sich die Methode der Oral History keiner sonderlichen Beliebtheit.49 Bislang gibt es nur eine einzige Studie, für die ehemalige Gymnasiasten der faschistischen Zeit interviewt wurden.50 Bei den Interviewten handelt es sich allerdings auch um Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens der Italienischen Republik (etwa der frühere Ministerpräsident Giulio Andreotti), deren Aussagen bestimmte erinnerungspolitisch erwünschte Äußerungen enthalten, immer dem bekannten Narrativ folgend, wonach die faschistische Erziehung schließlich zur antifaschistischen Haltung geführt habe. Darüber hinaus kann wegen des vorgeschrittenen Alters der Kollegiaten keine Langzeitstudie mehr angestoßen werden, mit der sich Aussagen hinsichtlich gleichbleibender oder sich verändernder Wertevorstellungen treffen ließen. Wie man diesen methodischen Problemen bei empirischen Untersuchungen am besten begegnen kann, wird in der Forschung intensiv diskutiert.51 Gleichwohl: Die mehr als 30 Befragungen ehemaliger Kollegiaten, die für diese Untersuchung vorgenommen wurden, das ausgewertete Videomaterial der seit 1978 regelmäßig stattfindenden Treffen der Bozen-Kollegiaten sowie einige Veröffentlichungen ehemaliger Kollegiaten bilden ein neues empirisches Fundament, um verinnerlichten Einstellungen und langfristigen Prägungen auf die Spur zu kommen. Mit der Analyse der möglichen Wirkung faschistischer Erziehung, aber auch der Auslese der Kollegiaten möchte diese Arbeit zudem einen neuen Akzent auf eine weitere, noch immer virulente Forschungskontroverse legen: Während die ältere Faschismusforschung, namentlich mit Renzo De Felice, darauf insistierte, 47 Harald
Welzer, Das Interview als Artefakt. Zur Kritik der Zeitzeugenforschung, in: Obertreis (Hrsg.), Oral History, S. 247–260, hier S. 257. 48 Vgl. von Plato, Zeitzeugen und die historische Zunft, S. 7. 49 Vgl. Alessandro Portelli, Oral History in Italy, in: David King Dunaway (Hrsg.), Oral History. An Interdisciplinary Anthology, Walnut Creek 1996, S. 391–416, hier S. 392. 50 Vgl. Nemo Villeggia, La scuola per la classe dirigente. Vita quotidiana e prassi educative nei licei durante il fascismo, Mailand 2007. 51 Vgl. Hendrik Hansen/Barbara Zehnpfennig, Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Die Prägung von Mentalität und politischem Denken durch die Erfahrung totalitärer Herrschaft, Baden-Baden 2016, S. 9–19, hier S. 17.
14 Einleitung dass es dem Faschismus nicht gelungen sei, eine eigene neue Führungsschicht herauszubilden,52 kam Hans Woller unlängst in Anlehnung an die Studie von La Rovere zu einer gegenteiligen Feststellung. Es könne „keine Rede davon sein“, schrieb er, „dass die fascistizzazione der Jugend fehlgeschlagen sei und dass der faschistische Staat keine neue Elite hervorgebracht habe“.53 Die Ergebnisse der vorliegenden Studie über die Wirksamkeit der politischen Indoktrination und die Sozialstruktur der ausgewählten Kollegiaten dürften zur Beantwortung der Frage beitragen können, inwieweit der Faschismus wirksame Ansätze entwickelt hat, um eine eigene, neue Führungsschicht zu bilden. Insgesamt bündeln sich in dieser Studie wesentliche Themenbereiche der Forschung zum italienischen Faschismus: So fragt sie nach dem tatsächlichen Umgestaltungswillen des Regimes, also dem Verhältnis von Anspruch und Wirklichkeit am Beispiel der Gesellschaftsutopie „neuer Mensch“ und der Umsetzungsver suche in den Collegi. Damit verbunden sind die zentralen Fragen nach der Schaffung einer eigenen faschistischen Führungsschicht sowie nach einer längerfristigen Wirksamkeit faschistischer Erziehung. Darüber hinaus beleuchtet sie das Verhältnis des Faschismus zu den Streitkräften und der Kirche, und letztlich zeigt sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei dem in Deutschland und Italien gleichermaßen propagierten Ziel der Schaffung eines „neuen Menschen“ am Beispiel der Ausleseschulen auf. Ganz grundsätzlich verbunden ist damit das seit Jahrzehnten kontrovers diskutierte Problem der Verortung des italienischen Faschismus innerhalb des Spektrums diktatorischer Herrschaftsformen im 20. Jahrhundert, also der Streitpunkt, ob oder wie totalitär der Faschismus tatsächlich war. Obwohl der Begriff „totalitär“ seinen Ursprung in Italien hatte54 und Mussolini selbst den Begriff häufig im Munde führte, setzte sich die italienische Geschichtsschreibung erst spät syste matisch mit der Totalitarismustheorie auseinander und wandte sie kaum auf den Faschismus an, zumal zahlreiche Totalitarismustheoretiker, wie etwa Hannah Arendt, dem italienischen Faschismus seinen totalitären Charakter absprachen und dieses „Prädikat“ ausschließlich dem Sowjetkommunismus und dem Nationalsozialismus zuerkennen wollten.55 Namhafte Forscher wie Renzo De Felice oder Alberto Aquarone folgten dieser Deutung. Sie erkannten zwar durchaus die 52 Vgl.
Renzo De Felice, Intervista sul fascismo, hrsg. von Michael A. Ledeen, Rom/Bari 1997, S. 58; Renzo De Felice, Mussolini il duce. I. Gli anni del consenso 1929–1936, Turin 1974, S. 228. 53 Woller, Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert, S. 122. 54 Jüngste Forschungen haben gezeigt, dass nicht, wie jahrzehntelang behauptet, der Antifaschist Giovanni Amendola erstmals das Attribut „totalitär“ benutzte, sondern Don Luigi Sturzo im Dezember 1922. Vgl. Uwe Backes, Luigi Sturzo. Begründer und früher Wegbereiter des Totalitarismuskonzepts, in: Frank Schale/Ellen Thümmler (Hrsg.), Den totalitären Staat denken, Baden-Baden 2015, S. 31–50, hier S. 34. 55 Vgl. Aram Mattioli, Totalitarismus auf Italienisch? Die faschistische Diktatur im Wandel des historischen Urteils, in: Stefano Poggi/Enno Rudolph (Hrsg.), Diktatur und Diskurs. Zur Rezeption des Totalitarismus in den Geisteswissenschaften, Zürich 2005, S. 305–335, hier S. 312–314; Schieder, Geburt des Faschismus aus der Krise der Moderne, S. 355 f.; Emilio Gentile, Der Faschismus. Eine Definition zur Orientierung, in: Mittelweg 36 16 (2007), S. 81–99, hier S. 90 f.; Meir Michaelis, Anmerkungen zum italienischen Totalita-
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totalitären Aspirationen des Regimes an, verwiesen jedoch auf die Bedeutung von Monarchie, Armee und Kirche als Bollwerke, die einen totalitären Staat verhindert hatten, oder aber auf die fehlende Massengewalt oder eine eigenständige Rassenideologie.56 Die Forschungen der letzten Jahre haben viele dieser Behauptungen besonders im Hinblick auf Rassismus, Antisemitismus und Gewaltanwendung als falsch zurückgewiesen. Über den totalitären Charakter des Faschismus wird dennoch weiter diskutiert: Einerseits bestehen noch immer Forschungsdesiderate, andererseits ist in Anbetracht der Vielzahl der bestehenden Totalitarismusdefinitionen und zumeist statischer Merkmalskataloge schwer ein Konsens darüber zu erzielen, was genau „totalitär“ impliziert und ob man überhaupt von „perfekten Totalitarismen“ sprechen kann. In Abgrenzung zu den klassischen, statischen Totalitarismustheorien betont Emilio Gentile in seiner TotalitarismusDefinition den Prozess- und insbesondere den Laborcharakter des totalitären Staates, „in dem man am Experiment einer anthropologischen Revolution arbeitet, an der Erschaffung eines neuen Menschentypus“.57 Ein gemeinsames, zentrales Unterscheidungskriterium zu „bloß“ autoritären Regimen wird so häufig in dem Ziel der Schaffung eines „neuen Menschen“ gesehen.58 Ebenfalls zentral für das Ermessen des totalitären Kerns ist der Stellenwert des Rassismus. Da der „neue Italiener“ nicht nur psychisch, sondern auch physisch verändert werden sollte, muss die Bedeutung faschistischer Biopolitik und tatsächlich ergriffener Maßnahmen zur Verbesserung der „italienischen Rasse“ erfasst werden. Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung sollen demzufolge einen weiteren Baustein liefern, um die grundlegenden Fragen nach dem rassistischen und totali tären Kern des italienischen Faschismus empirisch fundierter beantworten zu können. Um den skizzierten Forschungsleitlinien gerecht zu werden, basiert die Studie auf einem breiten Spektrum von Quellenarten unterschiedlicher Provenienz: auf Reden und Schriften von Faschisten, administrativen Schriftstücken, Gesetzestexten, Veröffentlichungen der Jugendorganisation, Lehrbüchern, Briefen, Tagebüchern, Schülerzeitungen und Abschlussjahrbüchern sowie auf den eben angesprochenen Memoiren ehemaliger Schüler und schriftlichen wie mündlichen Zeitzeugenbefragungen. rismusbegriff. Zur Kritik der Thesen Hannah Arendts und Renzo De Felices, in: QFIAB 62 (1982), S. 270–302, hier S. 270. 56 Vgl. Alberto Aquarone, L’organizzazione dello Stato totalitario, Turin 2003, S. 290 f.; De Felice, Intervista sul fascismo, S. 108; De Felice, Mussolini il duce. II., S. 312; Renzo De Felice, Mussolini il fascista. II. L’organizzazione dello Stato fascista 1925–1929, Turin 1968, S. 9. 57 Gentile, Faschismus, S. 94. 58 Vgl. Beitrag Karl Dietrich Brachers, in: Totalitarismus und Faschismus. Eine wissenschaftliche und politische Begriffskontroverse, München/Wien 1980, S. 70; Michaelis, Anmerkungen zum italienischen Totalitarismusbegriff, S. 276; Carl Joachim Friedrich/ Zbigniew Brzezinski, Die allgemeinen Merkmale der totalitären Diktatur, in: Eckhard Jesse (Hrsg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Bonn 1999, S. 225–236, hier S. 230; Florian Gräßler, War die DDR totalitär? Eine vergleichende Untersuchung des Herrschaftssystems der DDR anhand der Totalitarismuskonzepte von Friedrich, Linz, Bracher und Kielmansegg, Baden-Baden 2014, S. 66.
16 Einleitung Grundlegend für die Untersuchung der Vorstellungen des „neuen Menschen“ bei Mussolini, Ricci und Starace waren deren publizierte Reden und Schriften während der faschistischen Herrschaft. Für die Herausarbeitung der Position Staraces wurden primär die Anweisungsblätter der Partei (Fogli di disposizioni) ausgewertet, in denen Starace während seiner achtjährigen Tätigkeit als Parteisekretär seine Forderungen an den Habitus der Italiener auf das Penibelste formulierte. Die Basis für die Analyse der Position Benito Mussolinis bildeten die 44 Bände seiner gesammelten Reden und Schriften Opera Omnia59 (OO) sowie die Tage bücher seines Schwiegersohns Galeazzo Ciano60 und des langjährigen Erziehungsministers Giuseppe Bottai.61 Keine dieser Editionen verfügt über einen kritischen Apparat, der wissenschaftlichen Ansprüchen genügt.62 Da es jedoch an anderen Ausgaben dieser wichtigen Quellen fehlt und ähnlich hochwertige Dokumente nicht zur Verfügung stehen, bilden sie noch immer eine zentrale „Grund lage für die Faschismusforschung“63 und wurden daher für die Untersuchung ausgewertet. Die Erforschung der Collegi gestaltete sich aufgrund der fragmentarischen Überlieferung ausgesprochen schwierig und machte Recherchen in mehr als 20 Archiven und einer Vielzahl an Bibliotheken notwendig, allen voran der Alessandrina in Rom, der Marciana in Venedig sowie den Nationalbibliotheken in Florenz und Rom. Um die Gründe für die Überlieferungslücken nachvollziehen zu können, sollen kurz die wesentlichen Etappen der italienischen Jugendorganisa tionen und die damit verwobene Geschichte der Collegi skizziert werden: Die ersten Collegi wurden Mitte der 1930er Jahre noch durch die Jugendorganisation ONB unter dessen Präsidenten Renato Ricci errichtet. Mit der Absetzung Riccis, der eingangs erwähnten Umbenennung und Unterstellung der Jugendorganisation unter die Partei im Oktober 1937 wurden die Collegi fortan unter der Ägide der GIL geführt. 1943, nach der Absetzung Mussolinis, wurde die GIL zunächst im südlichen Teil Italiens als Gioventù Italiana (GI) weitergeführt und damit auch das Collegio in Lecce. Im Norden gründete sich hingegen erneut die ONB unter der Führung Riccis, der den Collegi-Betrieb mit aller Kraft aufrechterhielt. Nach dem Untergang des Faschismus bestand die GI bis 1975/1976 fort und führte weiterhin einige Collegi. Vor diesem Hintergrund erweist sich insbesondere die Überlieferung und der Überlieferungsweg der schulspezifischen Schüler-, Personal- und Verwaltungs akten als äußerst disparat. Es ist anzunehmen, dass die Akten der ONB 1937 unmittelbar in den Bestand der GIL übergingen, wenn auch nicht ausgeschlossen 59 Vgl.
Benito Mussolini, Opera Omnia [OO], hrsg. v. Edoardo und Duilio Susmel, 44 Bde., Florenz 1951–1980. 60 Vgl. Galeazzo Ciano, Diario 1937–1943, hrsg. v. Renzo De Felice, Mailand 82004. 61 Vgl. Giuseppe Bottai, Diario 1935–1944, hrsg. v. Giordano Bruno Guerri, Mailand 22006. 62 Vgl. Aram Mattioli, „Viva Mussolini!“. Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis, Paderborn 2010, S. 72. 63 Tobias Hof, Die Tagebücher von Galeazzo Ciano, in: VfZ 60 (2012), S. 507–527, hier S. 508 f. Wolfgang Schieder, Benito Mussolini, in: Ders., Faschistische Diktaturen, S. 31– 56, hier S. 50, kritisierte, die Opera Omnia seien eine „völlig unkritische und politisch tendenziöse Edition“.
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werden kann, dass einige Akten in den persönlichen Besitz Riccis wechselten. Über die Zeit zwischen 1943 und 1945 gibt es widersprüchliche Aussagen. Einerseits behauptete der Sohn Renato Riccis, Giulio, das Archiv sei bereits während der kurzen Regierungszeit Badoglios vom 25. Juli bis 8. September 1943 auf dessen Befehl hin vernichtet worden.64 Andererseits wird vermutet, dass das Archiv der ONB/GIL am Ende der Repubblica Sociale Italiana (RSI) in Kisten verladen und im Gardasee entsorgt worden sei.65 In einem nach 1946 von der GI verfassten Bericht heißt es hingegen, dass die wiedergegründete ONB 1943 mit ihrer Verlagerung von Rom nach Rovigo und dann nach Mailand alle Akten und Dokumente aus den bestehenden Büros in Rom entfernt habe. Im November 1945 sei dann der Rücktransport in die Hauptstadt erfolgt. Der Bericht hält fest: „Zahlreiche Akten und Dokumente allgemeiner Art wurden geprüft und anschließend an die Archivabteilung weitergeleitet.“66 Während die Behauptung Giulio Riccis unmöglich zutreffen kann, ist es sehr wahrscheinlich, dass nicht alle Akten die Wirren des Krieges überstanden. Offensichtlich sind aber doch viele Bestände in den Besitz der GI gelangt, die erst in der Folgezeit kassiert wurden. Dies lässt sich in Ansätzen anhand der Akten des Heerescollegios in Bozen rekonstruieren. Diese lagerten zunächst in einer Berufsschule in Bozen (Istituto Tecnico Industriale) und wurden 1947 an den Provinzkommissar der GI übergeben, der dann wiederum das Material 1962 der Hauptverwaltung der GI in Rom aushändigen musste.67 Vergleicht man die damaligen Listen mit dem heutigen Umfang, springt die umfängliche Kassierung sogleich ins Auge. Der Bestand der Jugendorganisation GI liegt bis heute uninventarisiert in einer Magazinhalle in Monterotondo unweit der italienischen Hauptstadt.68 Dieser Bestand ging nach der Auflösung der GIL-Nachfolgeorganisation Mitte der 1970er 64 Vgl.
Giulio Ricci, Considerazioni sul sistema educativo di Renato Ricci, in: Monumentidiroma 2 (2004), 1/2, S. 35–37, hier S. 36. 65 Vgl. Salvatore Santuccio, Moretti e Ricci, in: Ders. (Hrsg.), Le case e il foro. L’architettura dell’ONB, Florenz 2005, S. 73–90, hier S. 90, Anm. 2. 66 Attività amministrativa relativa al personale dipendente dalla ex Gioventù Italiana del Littorio, in: Ministero dell’Economia e delle Finanze, Ragioneria Generale dello Stato, Ispettorato Generale di Finanza, Ufficio XV: Archivi storici degli enti soppressi, Rom (künftig: Archivio Monterotondo), Gioventù Italiana, Personale – Relazioni sull’attività svolta an. 44/46-51, b. 1173, f. Ufficio del Personale, I° copia, relazione sull’attività svolta dal 12 dic. ’44 al 31 dic. ’46. Diese Darstellung wird gestützt durch die Berichte Riccis aus dem Jahre 1944, der darin angab, dass das Material der ONB-Leitung zunächst von Rom nach Rovigo und dann weiter nach Mailand verbracht wurde. Vgl. Opera Balilla, Relazione sui primi quattro mesi di attività, 24. 9. 1943–24. 1. 1944, in: ACS, Segreteria Particolare del Duce (künftig: SPD), Repubblica SociaIe Italiana, Carteggio Ordinario (künftig: RSI, CO), b. 23, f. 939; Opera Balilla, Relazione sul primo anno di attività, 24. 9. 1943– 24. 9. 1944, in: ACS, SPD, RSI, CO, b. 23, f. 939, Bl. 046930. 67 Vgl. Verbale di consegna, 24. 2. 1947, in: Archivio provinciale Bolzano, Commissariato Gioventù Italiana, f. 264; Ufficio Prov.le Bolzano, Elenco registri e documenti relativi all’ex collegio di specializzazione militare di Bolzano che si trasmettono all’Amm/Centr. le, s. d. [1962], in: Archivio provinciale Bolzano, Commissariato Gioventù Italiana, f. 471. 68 Diesen zentralen Hinweis verdanke ich Patrizia Ferrara (Rom) und Andrea Di Michele (Bozen).
18 Einleitung Jahre in den Bereich des Finanzministeriums über (Ministero dell’Economia e delle Finanze, Ragioneria Generale dello Stato, Ispettorato Generale di Finanza, Ufficio XV: Archivi storici degli enti soppressi). Aufgrund der untypischen Archivierung wurde er von der Forschung bislang kaum berücksichtigt und hier erstmals systematisch für die Collegi ausgewertet. Es handelt sich dabei vor allem um Schülerund Lehrerakten des Marinecollegios in Venedig, Klassenbücher und Schüler akten des Heerescollegios in Bozen sowie Bauakten diverser Collegi. Die Klassenbücher erlaubten die Rekonstruktion der behandelten Unterrichtsthemen sowie in Ansätzen auch der Unterrichtsmethoden. Durch das Sample von 48 venezianischen Lehrerfaszikeln konnten Alter, Ausbildung sowie Präferenztitel der Lehrerschaft herausgearbeitet werden. Da das Erziehungsministerium den Collegi reguläre Lehrer zur Verfügung stellte, wäre die Rekonstruktion der Auswahl durch das Ministerium von Bedeutung gewesen. Akten dazu fanden sich im Bestand des Erziehungsministeriums, der im Zentralen Staatsarchiv (ACS) lagert, jedoch nicht. Allerdings sind in dem Bestand die Akten über die nach 1945 „gesäuberten“ Absolventen der faschistischen Sportakademie Farnesina, die zumeist in den Collegi als Kommandanten und Erzieher fungierten, archiviert. Diese Akten lieferten Aufschluss über Qualifikation und beruflichen Werdegang zahlreicher „Formgeber“. Aufgrund der in den Schülerakten vorhandenen Informationen ließ sich in Ansätzen die soziale Herkunft der Kollegiaten von Venedig und Bozen r ekonstruieren. Für einen Nord-Süd-Vergleich hinsichtlich der sozialen Herkunft der Marine kollegiaten wären die Schülerakten aus Brindisi hilfreich gewesen, doch wurden dafür lediglich acht Akten in einem Antiquariat der Stadt aufgefunden. Dafür konnten im Staatsarchiv von Lecce dank der unkonventionellen Hilfe der Archivarinnen Teile des uninventarisierten Schüleraktenbestandes des Kriegswaisencollegios eingesehen werden.69 Diese drei bisher unerschlossenen Schüleraktenbestände von Venedig, Bozen und Lecce ermöglichten die Kontaktaufnahme zu potenziellen Zeitzeugen. Nach einer Telefonbuchrecherche wurden gut 300 Personen schriftlich kontaktiert. Daraus ergab sich ein Sample von mehr als 30 Zeitzeugen, die über ihre Erinnerungen an die Collegi, aber auch über ihre weiteren Lebenswege befragt werden konnten. Die Befragungen wurden zwischen 2012 und 2014 schriftlich oder mündlich durchgeführt. Zunächst wurden offene Fragen zur Kindheit und Jugend gestellt, gefolgt von gezielten Leitfragen zu verschiedenen Aspekten während ihres Aufenthaltes in den Collegi und der Folgezeit. Die mündlichen Befragungen wurden mit einem Registriergerät aufgezeichnet, transkribiert und den Kollegiaten zur Korrektur vorgelegt, um ihnen damit die Möglichkeit der nachträglichen Präzisierung zu geben. Die Interviews werden daher mit O (Original) und K (Korrektur) zitiert. In einigen Fällen übermittelten auch die Hinterbliebenen ehemaliger Kollegiaten wichtiges Material, wie etwa Briefe,
69 Aufgrund
der Tatsache, dass der Aktenbestand noch nicht inventarisiert ist, konnten letztlich nur 21 der 45 vorhandenen Akten eingesehen werden. Ich danke den Archivarinnen für diese Möglichkeit.
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Rundschreiben der Anstalten, Stundenpläne70 oder berichteten über zentrale Erinnerungsbestandteile, die aufgrund ihrer augenfälligen Kongruenz in die Untersuchung einfließen konnten. Eine zentrale Überlieferungslücke bleibt jedoch bestehen: Die Akten der ONBLeitung bzw. des Generalkommandos der GIL sind weder im ACS archiviert, noch konnten sie in Monterotondo gefunden werden. Zentrale Punkte wie Zielsetzung, pädagogische Ausrichtung oder Finanzierung der Collegi mussten daher über Parallelüberlieferungen erschlossen werden. Nützlich waren hier zeitgenössische Periodika, allen voran das vierzehntägig erscheinende Zentralorgan der Jugendorganisation (Bollettino dell’Opera Balilla, ab 1937 Bollettino del Comando Generale della Gioventù Italiana del Littorio und ab 1941 Gioventù del Littorio) sowie Il Giornale della scuola media, I diritti della scuola und Problemi della Gioventù, aber auch die überregionale Tageszeitung Corriere della Sera sowie regionale Zeitungen wie Il Popolo di Romagna, Atesia Augusta, Giornale di Brindisi, La Provincia di Bolzano oder Il Tribuno salentino. Diese gedruckten Quellen wurden ergänzt durch die im ACS überlieferten Akten des Partito Nazionale Fascista (PNF),71 dem die GIL unterstellt war, des Persönlichen Sekretariats des Duce (SPD), der Regierungskanzlei (PCM) sowie der Ministerien für Luftfahrt und Marine. Zusätzlich zu den Beständen im ACS wurden auch die Bestände des Luftwaffenarchives (AUSAM), des Marinearchives (AUSMM) sowie des Heeresarchives (AUSSME) konsultiert. Wenig ergiebig waren die Akten im AUSSME, die zur Geschichte der Heeresschule in Bozen schweigen. Darüber hinaus wurden an allen fünf ehemaligen Collegi-Standorten die Kommunal-, Provinz- und/oder Staatsarchive aufgesucht, um auch Informationen über die Finanzierung und die wechselvolle Baugeschichte zu gewinnen. Für das Luftwaffencollegio in Forlì konnte zudem das Archiv des Architekten Cesare Valle in Rom zu Rate gezogen werden, der regelmäßig mit der GIL-Führung, der Collegio-Leitung, dem Luftfahrtministerium (sein Bruder war Unterstaatssekretär im Luftfahrtministerium) und den Stadtoberen korrespondierte, sodass dieser Bestand Einblicke in die Haltung der beteiligten Stellen bei der Errichtung eines solchen Internates ermöglichte. Um die von Renato Ricci mit der Errichtung der Collegi verfolgten Intentionen und Ausrichtungswechsel genauer nachvollziehen zu können, wäre dessen Privatarchiv von großem Interesse gewesen.72 Doch auch der Verbleib dieses Archives, das dessen Sohn Giulio Ricci bis zu seinem Tod im Jahre 2008 ausgewählten Forschern zugänglich machte, bleibt vorerst ungewiss.
70 An
dieser Stelle sei besonders Alessandra Mayer gedankt, die mir in großzügiger Art und Weise zahlreiches Material aus der Hinterlassenschaft ihres Vaters, Adriberto Mayer (Venedigkollegiat von 1938 bis 1941), zur Verfügung gestellt hat. 71 Auch dieser Bestand ist sehr redimensioniert. Vgl. Linda Giuva, Storia di carte attraverso carte. Le vicende degli archivi del Partito nazionale fascista conservati negli Archivi di Stato italiani, in: Italia contemporanea (2006), 243, S. 227–241, hier S. 228 f.; Jens Petersen, Die zeitgeschichtlich wichtigen Archive in Italien: Ein Überblick, in: QFIAB 69 (1989), S. 312–378, hier S. 323. 72 Die vier scatole des Archives Renato Ricci im ACS enthalten leider kaum relevante Schriftstücke zum Untersuchungsobjekt.
I. Der „neue Mensch“ als faschistische Gesellschaftsutopie – drei Ansätze Der „neue Mensch“ war einer der Leitbegriffe, wenn nicht gar der Leitbegriff des italienischen Faschismus.1 In den Reden und Schriften Mussolinis und seiner faschistischen Führungsclique, in der Publizistik und allen voran in Schulbüchern war der „neue Italiener“ nahezu omnipräsent.2 Eine genuin faschistische Erfindung war die Idee von der Schaffung eines „neuen Menschen“ jedoch keinesfalls. Gottfried Küenzlen konstatiert in seinem Standardwerk zum Mythos des „neuen Menschen“: „Die Suche des Menschen nach einem Anders- und Neusein seiner selbst, nach Neu- und Wiedergeburt ist freilich uralt und hat die Kulturgeschichte des Menschen immer begleitet.“3 Die Hoffnung auf Vervollkommnung des Menschen beschreibt er als eine Art anthropologische Grundkonstante, die seit Menschengedenken von Einzelnen oder ganzen Bewegungen herbeigesehnt wurde. Dieser emanzipatorischen Sichtweise steht jedoch auch die „Gefahr eines totali tären Umschlagens“ entgegen,4 die der Topos in seiner wechselvollen Geschichte erlebte. Im Laufe der Jahrhunderte verlor die Idee des „neuen Menschen“5 ihren ursprünglich religiösen Bezug6 und entwickelte sich zu einem säkularen Gesellschaftsprojekt der Moderne: „Der Neue Mensch wird nun in der empirischen Realisation als durch die gesellschaftlichen Kräfte herstellbar, planbar und in der Vorstellungswelt einiger Strömungen auch biologisch züchtbar gedacht.“7 Die Französische Revolution markierte dabei den entscheidenden Einschnitt. Seither gingen mit revolutionären Bewegungen häufig die Erwartungen einher, infolge der politischen Umwälzungen auch einen „neuen Menschen“ und damit eine 1
Vgl. Gentile, Uomo nuovo, S. 235, 248; Marie-Anne Matard-Bonucci, L’homme nouveau entre dictature et totalitarisme (1922–1945), in: Dies. (Hrsg.), L’homme nouveau dans l’Europe fasciste, S. 7–20, hier S. 7; Bolz, Ein neuer Mensch?, S. 199. 2 Vgl. die einschlägigen Titel des Ventennio: Rosario Ciaramella (Hrsg.), L’italiano nuovo. Antologia italiana per le scuole medie inferiori, Bologna 1940; Alfredo Petrucci/Piero Bernardini, L’italiano nuovo. Il libro della seconda classe, Rom 1938; Lando Ferretti, Esempi e idee per l’italiano nuovo, Rom 1930; Antonio Beltramelli, L’Uomo Nuovo (Benito Mussolini), Mailand 1923; Ernesto Casalis, Il nuovo italiano. Manuale di educazione della volontà per il popolo d’Italia, Turin 1928; Mario Carli, L’italiano di Mussolini, Mailand 1937; Leo Longanesi, Vademecum del perfetto fascista, Florenz 1926; Gaspare Squadrilli, L’Italia di Mussolini e gli italiani nuovi, Rom 1929. 3 Gottfried Küenzlen, Der Neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, Frankfurt a. M. 1997, S. 9. 4 Birgit Enzmann, Der Neue Mensch – ein totalitäres Projekt?, in: Jahrbuch Extremismus & Demokratie 23 (2011), S. 66–83, hier S. 83. 5 Paulus habe zuerst den Begriff „neuer Mensch“ für diese Verheißung verwendet. Der Begriff homo novus bezeichnete ursprünglich in der Römischen Republik einen Aufsteiger, der dank seiner Leistung und nicht seiner Abstammung in ein hohes politisches Amt gewählt wurde. Vgl. Thomas Tetzner, Der kollektive Gott. Zur Ideengeschichte des „Neuen Menschen“ in Russland, Göttingen 2013, S. 43 f. 6 Vgl. Küenzlen, Der Neue Mensch, S. 20 f.; Tetzner, Der kollektive Gott, Erster Teil. 7 Küenzlen, Der Neue Mensch, S. 20.
22 I. Der „neue Mensch“ als faschistische Gesellschaftsutopie – drei Ansätze neue Gesellschaft erschaffen zu können.8 Hochkonjuktur erlangte die Idee mit Beginn des 20. Jahrhunderts und zwischen den Weltkriegen als Reaktion auf die wahrgenommenen Krisenerscheinungen der Moderne.9 Sowjetkommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus stellten die Erschaffung eines „neuen Menschen“ in das Zentrum ihrer sozialrevolutionären Ideologien: Der „neue Mensch“ fungierte dort als Voraussetzung und Zielpunkt bei der Schaffung einer verheißungsvollen neuen, geordneten, konfliktlosen Gemeinschaft unter den V orzeichen der jeweiligen weltanschaulichen Leitbilder.10 Anhand der Idee des „neuen Menschen“ lassen sich dabei „die verschiedensten Facetten, Wünsche, Hoffnungen und Ziele gesellschaftlicher und politischer Gruppierungen“11 ablesen. Dass die Erwartungen an den „neuen Menschen“ und damit die inhaltliche Konkretisierung des Konzepts von den Akteuren der jeweiligen Bewegung und deren nationaler Herkunftsgeschichte abhängig waren, ist evident.12 In Italien stellte die Hoffnung auf eine Metamorphose der Bevölkerung bereits seit dem 19. und beginnenden 20. Jahrhundert einen häufig bedienten Topos in verschiedenen geistig-kulturellen Strömungen dar.13 Während und infolge des Risorgimentos äußerten Literaten und Politiker wie Francesco De Sanctis, Giuseppe 8 Vgl.
George L. Mosse, Fascism and the French Revolution, in: Journal of Contemporary History 24 (1989), S. 5–26, hier S. 7; Jorge Dagnino/Matthew Feldman/Paul Stocker, Building Illiberal Subjects. The New Man in the Radical Universe, 1919–1945, in: Dies. (Hrsg.), „New Man“ in Radical Right Ideology and Practice, S. 1–15, hier S. 3; Küenzlen, Der Neue Mensch, S. 94, 139 f.; Yinghong Cheng, Creating the New Man. From Enlighten ment Ideals to Socialist Realities, Honolulu 2009, S. 11–13, 46; Alexander Nützenadel, Faschismus als Revolution? Politische Sprache und revolutionärer Stil im Italien Mussolinis, in: Christof Dipper/Lutz Klinkhammer/Alexander Nützenadel (Hrsg.), Europäische Sozialgeschichte. Festschrift für Wolfgang Schieder, Berlin 2000, S. 21–40, hier bes. S. 23. 9 Vgl. Frank-Lothar Kroll, Der Neue Mensch. Eine totalitäre Utopie, in: Albrecht Jebens/ Stefan Winckler (Hrsg.), In Verantwortung für die Berliner Republik. Ein freiheitlichkonservatives Manifest, Berlin 2002, S. 86–93, hier S. 87; Michael Dreyer/Andreas Braune, Vorwort, in: Albert Dikovich/Alexander Wierzock (Hrsg.), Von der Revolution zum Neuen Menschen. Das politische Imaginäre in Mitteleuropa 1918/19: Philosophie, Humanwissenschaften und Literatur, Stuttgart 2018, S. 7–9, hier S. 8. 10 Vgl. etwa Peter Fritzsche/Jochen Hellbeck, The New Man in Stalinist Russia and Nazi Germany, in: Michael Geyer (Hrsg.), Beyond Totalitarianism. Stalinism and Nazism Compared, Cambridge 2009, S. 302–341; Sabine A. Haring, Der Neue Mensch im Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus, in: APuZ (2016), 37–38, S. 10–15; Barbara Zehnpfennig, Der ,Neue Mensch‘ – von der religiösen zur säkularen Verheißung, in: Mathias Hildebrandt u. a. (Hrsg.), Säkularisierung und Resäkularisierung in westlichen Gesellschaften. Ideengeschichtliche und theoretische Perspektiven, Wiesbaden 2001, S. 81–95; Kroll, Der Neue Mensch, S. 86–93; Hans Maier, Der „neue Mensch“. Die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, in: MUT (2006), 469, S. 44–55. Kritisch dazu Tetzner, Der kollektive Gott, S. 14 f., 374 f. 11 Barbara Könczöl/Alexandra Gerstner/Janina Nentwig, Auf der Suche nach dem Neuen Menschen. Eine Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Der Neue Mensch. Utopien, Leitbilder und Reformkonzepte zwischen den Weltkriegen, Frankfurt a. M. 2006, S. VII-XIV, hier S. VII. 12 Vgl. M. Arndt/U. Dierse, Mensch, neuer, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5: L-Mn, Darmstadt 1980, Sp. 1112–1117, hier Sp. 1112; Küenzlen, Der Neue Mensch, S. 274. 13 Vgl. Gentile, Der „neue Mensch“ des Faschismus, S. 91 f.
I. Der „neue Mensch“ als faschistische Gesellschaftsutopie – drei Ansätze 23
Mazzini oder Massimo D’Azeglio die Hoffnung auf eine nationale Wiedergeburt.14 Getrübt wurde diese Hoffnung durch die Tatsache, dass der zwischen 1861 und 1870 durch das Königshaus Savoyen und die Freiheitsbewegung geschaffene italienische Nationalstaat sozial, politisch und kulturell ausgesprochen heterogen war. Der Führungsschicht misslang die Einbindung breiter Bevölkerungskreise in den neu geschaffenen Nationalstaat, sodass die erhoffte patriotische Identifikation mit dem neuen Staat kaum stattfand. Stattdessen dominierte weiterhin die regionale Verankerung. Um den Traum von der nationalen Wiedergeburt realisieren zu können, mussten also zunächst „die Italiener“, mit anderen Worten: ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl gebildet werden. Besondere Verbreitung fand die Vorstellung, die Italiener schaffen zu müssen, durch das häufig zitierte Diktum des Literaten und Politikers Massimo D’Azeglio: „fatta l’Italia, bisogna fare gli italiani“.15 In der Folgezeit waren die Futuristen um Filippo Tommaso Marinetti, die Nationalisten um Enrico Corradini sowie die revolutionären Syndikalisten wichtige Ideengeber für die Vision der Transformation der Italiener und der Schaffung eines „neuen Menschen“. Ihre Vorstellungen luden sie freilich mit sehr unterschiedlichen Inhalten auf.16 Mit dem Kriegseintritt Italiens 1915 verbanden diese politischen und künstlerischen Gruppierungen schließlich die Hoffnung auf die Realisierung ihrer Wunschträume. Viele der späteren Faschisten sahen im Ersten Weltkrieg dann auch tatsächlich eine in Teilen realisierte nationale Wiedergeburt und sich selbst als deren Avantgarde, der nun die Aufgabe zukam, die übrige Bevölkerung umzuformen. Doch nicht nur die Hoffnung auf Einigung, Homogenisierung und nationale Wiedergeburt waren bereits bei vielen italienischen Vordenkern verbreitet. Auch die seit Ende des 19. Jahrhunderts in der westlichen Welt diffundierenden Ängste hinsichtlich der Degeneration der „weißen Rasse“ und der gleichzeitige Optimismus, die eigene Rasse durch bestimmte Maßnahmen perfektionieren zu können, waren auch in Italien virulent.17 Diese skizzierten Ideen und Überzeugungen übernahmen auch einige der führenden Faschisten. Dass der Faschismus kein monolithisches Gebilde war und die 14 Vgl. 15 Vgl.
ebenda, S. 91; Gentile, Uomo nuovo, S. 242 f. zum Hintergrund dieser Redewendung: Simonetta Soldani/Gabriele Turi, Introduzione, in: Dies. (Hrsg.), Fare gli italiani. Scuola e cultura nell’Italia contemporanea. I. La nascita dello Stato nazionale, Bologna 1993, S. 9–33, hier S. 17. 16 Vgl. Marja Härmänmaa, Un patriota che sfidò la decadenza. F.T. Marinetti e l’idea dell’uomo nuovo fascista, 1929–1944, Helsinki 2000; George L. Mosse, Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit, Frankfurt a. M. 1997, S. 204– 206; Giordano Bruno Guerri, Fascisti. Gli italiani di Mussolini. Il regime degli italiani, Mailand 1995, S. 6; Emilio Gentile, Il culto del littorio. La sacralizzazione della politica nell’Italia fascista, Rom/Bari 1993, S. 160 ff.; Emilio Gentile, Partei, Staat und Duce in der Mythologie und der Organisation des Faschismus, in: Karl Dietrich Bracher/Leo Valiani (Hrsg.), Faschismus und Nationalsozialismus, Berlin 1991, S. 195–216, hier S. 197 f.; Gentile, Der „neue Mensch“ des Faschismus, S. 91–93; Gentile, Uomo nuovo, S. 243–245. 17 Vgl. Fabio Chisari, Sports ‚of ‘ the Regime and Sports ‚in‘ the Regime. Mass-Sports versus ‚Campionismo‘ in Fascist Italy, in: Gigliola Gori/Thierry Terret (Hrsg.), Sport and Education in History, Sankt Augustin 2005, S. 280–286, hier S. 280.
24 I. Der „neue Mensch“ als faschistische Gesellschaftsutopie – drei Ansätze tonangebenden Köpfe vor allem in der Anfangszeit unterschiedliche Ideen vertraten, gehört zum common sense in der Forschung. Aus dieser Tatsache resultiert die Erkenntnis, dass es auch kein einheitliches Modell des „neuen Menschen“ im italienischen Faschismus gab. Die „Kollektivperson“ „neuer Mensch“ wurde je nach Situation und ideologischer Position des jeweiligen Repräsentanten unterschiedlich gedacht.18 Im Folgenden werden die Ideen Benito Mussolinis, Achille Staraces und Renato Riccis vorgestellt. Die drei Persönlichkeiten bekleideten zentrale Funktionen in Staat und Partei, Ricci und Starace waren darüber hinaus maßgeblich für den Aufbau der Collegi verantwortlich. Der ONB-Jugendführer Ricci war der spiritus rector der Collegi. Starace leitete nach der Absetzung Riccis in Personalunion sowohl die Partei als auch die neugegründete Jugendorganisa tion GIL und war damit fortan auch für die Entwicklung der Collegi verantwortlich. Welche Vorstellungen hatten nun diese drei Personen von einem „neuen Menschen“, den sie beständig im Mund führten? Durch welche Ereignisse oder Ideen wurden sie geprägt, beeinflusst oder inspiriert, respektive worauf reagierten sie? Welche verheißungsvolle Gesellschaftsutopie hatten sie vor Augen und inwiefern veränderten sich ihre Vorstellungen im Laufe der Zeit? Da dem Traum von der Schaffung eines „neuen Menschen“ auch zugleich der Albtraum der Exklu sion und der Gewaltanwendung gegenüber dem alten Menschen, der sich der oktroyierten Umgestaltung widersetzte, inhärent war, muss auch der Frage nachgegangen werden, wer aus der Sicht dieser drei Faschisten das Unterfangen behinderte und deshalb aus der neu entstehenden Gemeinschaft ausgeschlossen werden musste. Und: Auf welche Art und Weise und mittels welcher Instrumentarien gedachten sie, diese Utopie zu realisieren? Wie schätzten sie zu welchem Zeitpunkt den Stand des Erreichten ein? In Anbetracht der Tatsache, dass der Idee von der Schaffung des „neuen Menschen“ stets das Spannungsverhältnis des bereits Erreichten und des noch zu Realisierenden zur Mobilisierung der Bevölkerung innewohnt, kann die Bestimmung des Status quo auch als ein Indikator dafür gesehen werden, auf welche Bereiche die drei Faschisten noch stärker abzielen wollten. Zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen werden zwei Zugriffe miteinander verbunden. Zum einen soll ausgehend von der Biographie und der Sozialisa tion Mussolinis, Staraces und Riccis untersucht werden, wodurch sie bei der Ausbildung der Idee vom „neuen Menschen“ beeinflusst und geprägt wurden. Zum anderen werden vorrangig die publizierten Reden und Schriften der drei Amtsinhaber analysiert, zu denen auch die Zeitgenossen Zugang hatten, um aufzuzeigen, welche Erwartungen sie an ihre Landsleute formulierten, die es in „neue Menschen“ umzuformen galt.
18 Vgl. Antonio Canepa, Sistema di dottrina del fascismo. Bd. 2: Le fonti, Rom 1937, S. 155 f.
Bereits in dieser zeitgenössischen Darstellung wird darauf verwiesen, dass nicht mit Präzision bestimmt worden sei, wodurch sich der „neue Italiener“ auszeichne. Vgl. darüber hinaus Gentile, Uomo nuovo, S. 263.
1. Benito Mussolini – der Duce 25
1. Benito Mussolini – der Duce Die Idee von der Schaffung eines „neuen Italieners“ stellte während des gesamten Ventennio eine Grundkonstante in Mussolinis Denken dar. Kontinuierlich, schon fast obsessiv oder gar fanatisch,19 sprach er davon, die Italiener von ihren traditio nellen Defekten heilen und sie allumfassend formen zu wollen. Doch worin bestanden die traditionellen Defekte der Italiener, welche Vision entwickelte er vom „neuen Italiener“ und mit welchen Mitteln gedachte er seine Ziele zu erreichen? Benito Mussolini wurde 1883 in der „roten“ Emilia-Romagna geboren und kam bereits früh durch seinen Vater mit linkem Gedankengut in Kontakt. Er studierte die Schriften Georges Sorels, Vilfredo Paretos, Alfredo Orianis und Friedrich Nietzsches, deren Ideen er teils synkretistisch miteinander verband.20 Schon in seiner Zeit als Sozialist beschäftigte sich Mussolini intensiv mit der Idee der Schaffung eines „neuen Menschen“, den er durch die Veränderung von Werten, Moral und Charakter zu realisieren gedachte.21 In einer Vielzahl von Schriften verlieh er seiner Hoffnung Ausdruck, durch ein verändertes Umfeld und wirtschaftlichen Wandel sowie durch direkte Gewaltaktionen gegen politische Gegner eine moralische Umformung der Gesellschaft herbeiführen zu können. Anwendung von Gewalt auf der einen Seite und „Bildung durch Vorträge, Zeitungen, Bücher, Hefte, […] Propagandaschulen und frei zugängliche Bibliotheken“ auf der anderen Seite würden dazu führen, dass sich die „neuen Menschen ihres von der alten, untergehenden Gesellschaft übernommenen moralischen und mentalen Habitus entledigen“,22 so Mussolini bereits im Jahre 1910, als er noch zu den Hoffnungsträgern der sozialistischen Partei zählte. Die Grundidee zur Veränderung der Gesellschaft durch Gewalt und (Um)-Erziehung sowie die Glorifizierung der Gewalt zur Schöpferin einer neuen, besseren Gesellschaft übernahm Mussolini aus seiner revolutionär-sozialistischen Phase und modifizierte sie schließlich weiter während seiner Zeit als Interventionist und später als Faschist.23 19 Vgl. Charnitzky, Schulpolitik des faschistischen Regimes, S. 237, Anm. 9; De Felice, Mus-
solini il duce. I., S. 50; Gentile, Uomo nuovo, S. 259. Emilio Gentile, Le origini dell’ideologia fascista 1918–1925, Rom 1975, S. 14 f. L’uomo e la divinità, Juli 1904, in: OO, Bd. XXXIII, S. 1–37, hier S. 18; La teoria sindacalista, 27. 5. 1909, in: OO, Bd. II, S. 123–128, bes. S. 125, 128; Lo sciopero generale e la violenza, 25. 6. 1909, in: OO, Bd. II, S. 163–168, hier S. 168; Al lavoro!, 9. 1. 1910, in: OO, Bd. III, S. 5–8, hier S. 6; In tema funebre, 19. 11. 1910, in: OO, Bd. III, S. 268–270, hier S. 270; Ernst Nolte, Nietzsche und der Nietzscheanismus, Frankfurt a. M./Berlin 1990, S. 260 ff.; Guerri, Fascisti, S. 43; Gentile, Origini dell’ideologia fascista, S. 6 f.; Woller, Mussolini, S. 21 f., 25; Paolo Ferrario, Sorel e Mussolini. Rapporti, influenze, giudizi, in: Il Risorgimento 36 (1984), S. 195–218. Der Mythos, beispielsweise vom „neuen Menschen“, wecke nach Georges Sorel überhaupt erst beim Volk den Willen zum Handeln. Das Volk werde erst durch den Glauben an den Mythos aktiv und verändere seinen Charakter. Zur Bedeutung Sorels und des revolutionären Syndikalismus für den Faschismus siehe: Zeev Sternhell/Mario Sznajder/Maia Asheri, Die Entstehung der faschistischen Ideologie. Von Sorel zu Mussolini, Hamburg 1999, bes. S. 247–291. 22 Al lavoro!, 9. 1. 1910, in: OO, Bd. III, S. 6. 23 In der Linguistik hat man darauf hingewiesen, dass auch Mussolinis Sprachgebrauch während und nach seiner Metamorphose vom Sozialisten zum Faschisten nahezu kon stant blieb. Vgl. Luigi Rosiello, Introduzione, in: Erasmo Leso u. a. (Hrsg.), La lingua italiana e il fascismo, Bologna 1977, S. 5–13, hier S. 7. 20 Vgl. 21 Vgl.
26 I. Der „neue Mensch“ als faschistische Gesellschaftsutopie – drei Ansätze Interessant an den Frühschriften ist zudem die Identifizierung des „neuen Menschen“ mit dem „antiken Heroen“,24 dem dieser sich annähern sollte, sowie die Gleichsetzung des „neuen Menschen“ mit dem Flieger25 − ein weiteres Motiv, das in späteren Reden und Schriften Mussolinis häufig Verwendung fand. Antipode des „neuen Menschen“ war bereits zu diesem Zeitpunkt das Bürgertum,26 das Mussolini ab Mitte der 1930er Jahre dann immer stärker ins Zentrum seiner Kritik rückte. Ein wesentlicher Unterschied bestand jedoch darin, dass er in seiner Zeit als Sozialist das Bürgertum als wirtschaftliche Klasse, in den 1930er und 1940er Jahren jedoch als amorphe „moralische Kategorie“ verstanden wissen wollte.27 Im Vorfeld des italienischen Kriegseintritts im Jahre 1915 verwies der nun vom sozialistischen Kriegsgegner zum Interventionisten gewandelte Mussolini wiederholt auf die Funktion des Krieges, die Italiener im Sinne des Risorgimentos zu „schaffen“ und zu einen.28 Auch in seinen späteren Reden rekurrierte er vielfach auf das Diktum D’Azeglios und proklamierte die Vollendung dieses Ziels zu einer der wichtigsten Aufgaben des Faschismus.29 Nur ein gemeinsamer Kampf, so die erklärte Hoffnung Mussolinis, könne die Italiener zusammenschweißen und „schnell und radikal die moralischen Übel, die Italien plagen, zerstören“.30 Der Erste Weltkrieg und die damit einhergehenden Erfahrungen und Deutungen prägten die Ausbildung seiner Idee des „neuen Menschen“ maßgeblich. Man denke nur an seine Vorstellung, eine Elite „neuer Menschen“, eine neue Aristokratie, sei im Schützengraben geboren worden, der Mussolini mit dem Wortspiel „Trinceocrazia“ (Schützengrabenaristokratie) einen eigenen Namen gab.31 Die verbindende und vereinigende Kraft des Krieges, die begonnene nationale Wiedergeburt in den Schützengräben, das Härten der Italiener im Artilleriefeuer waren wesentliche Topoi, auf die Mussolini seit Ende des Krieges und während seiner faschistischen 24 Sciopero generale e la violenza, 25. 6. 1909, in: OO, Bd. II, S. 168. 25 Vgl. Bleriot, 28. 7. 1909, in: OO, Bd. II, S. 194 f., hier S. 194. 26 Vgl. Sciopero generale e la violenza, 25. 6. 1909, in: OO, Bd. II,
S. 166; Al lavoro!, 9. 1. 1910, in: OO, Bd. III, S. 6. 27 Al consiglio nazionale del P.N.F., 25. 10. 1938, in: OO, Bd. XXIX, S. 185–196, hier S. 187; Al direttorio nazionale del P.N.F., 3. 1. 1942, in: OO, Bd. XXX, S. 152–157, hier S. 154. 28 Vgl. La prima guerra d’Italia, 14. 2. 1915, in: OO, Bd. VII, S. 196–198, hier S. 197. 29 So erklärte Mussolini etwa unter Verweis auf den Ausspruch D’Azeglios in dem Interview mit der Zeitschrift Chicago Daily News: „Der Faschismus ist das größte Experiment unserer Geschichte im Hervorbringen der Italiener.“ I grandi problemi italiani, 24. 5. 1924, in: OO, Bd. XX, S. 283–294, hier S. 284. „Das Risorgimento ist nichts als der Anfang gewesen, denn es war ein Werk einer Minderheit; der Weltkrieg war hingegen sehr lehrreich. Es geht darum, Tag für Tag fortzufahren, in diesem großen Vorhaben der Bearbeitung des Charakters der Italiener.“ Messaggio per l’anno nono, 27. 10. 1930, in: OO, Bd. XXIV, S. 278–285, hier S. 283. 30 Necessità morale, 6. 3. 1915, in: OO, Bd. VII, S. 235–237, hier S. 237. 31 Vgl. Trinceocrazia, 15. 12. 1917, in: OO, Bd. X, S. 140–142; Fascismo e Alto Adige, 30. 4. 1921, in: OO, Bd. XVI, S. 291–293, hier S. 293; Per la sagra dei combattenti, 23. 6. 1923, in: OO, Bd. XIX, S. 286–288, hier S. 287; I grandi problemi italiani, 24. 5. 1924, in: OO, Bd. XX, S. 284; Ai sindaci d’Italia, 8. 6. 1925, in: OO, Bd. XXI, S. 344 f., hier S. 345; Sandro Bellassai, The Masculine Mystique. Antimodernism and Virility in Fascist Italy, in: Journal of Modern Italian Studies 10 (2005), S. 314–335; Gentile, Uomo nuovo, S. 246.
1. Benito Mussolini – der Duce 27
Herrschaft immer wieder rekurrierte.32 Unablässig sprach er davon, den Charakter der Italiener im Kampf formen zu wollen.33 Somit bestand die Mission der Frontkämpfer, als die sich die Faschisten der ersten Stunde inszenierten, als der Avantgarde der „neuen Italiener“ folgerichtig einzig und allein darin, ihre Landsleute und die folgenden Generationen ebenfalls in „neue Menschen“, in eine national geeinte und disziplinierte Kampfgemeinschaft zu transformieren.34 Konstanten und aufs Engste miteinander verbundene Begriffe im Wortfeld des „neuen Menschen“, dessen sich Mussolini von nun an bediente, waren „Jugend“, „Glaube“, „Imperium“, „Soldat“ bzw. „Kämpfer“ sowie bestimmte Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen, die als soldatische Tugenden verstanden werden können. Hierzu zählten etwa Kameradschaft, Disziplin, Gehorsam, Mut und Tapferkeit. Im Zentrum aller Erziehungs- und Formierungsbemühungen stand die „unverdorbene“ Jugend und mit ihr die erfolgreiche Herausbildung einer neuen faschistischen Führungsschicht, die Mussolini immerfort umtrieb.35 Von der im tiefen Glauben an den Faschismus erzogenen Jugend hingen nach Ansicht Mussolinis die Sicherung der Macht, der Erfolg der Revolution und die erfolgreiche Expansion ab.36 Die Glorifizierung der Jugend und die Verbindung des Jugendmythos mit dem „neuen Menschen“ waren aus seiner Rhetorik nicht wegzudenken. Jugend wurde dabei nicht nur als Lebensphase, sondern vor allem als Geisteshaltung verstanden. Jung war, wer tatkräftig, zupackend und risikobereit handelte; Demokraten, Liberale und Bürgerliche galten hingegen schon per se als alt und überständig.37 Das gesamte italienische Volk und allen voran die italienische Jugend sollten in dem Bewusstsein erzogen werden, für das Vaterland zu kämpfen und sich, wenn nötig, auch dafür zu opfern, um ihre gemeinsame historische Mission zu erfüllen: Italien sollte wieder expandieren, ein neues Imperium begründen und zu Weltruhm gelangen. Bereits 1921 betonte er: „Wir wollen eine nationale Disziplin einführen, denn wir denken, dass Italien ohne diese Disziplin nicht die Mittelmeerund Weltnation werden wird, die wir uns erträumen.“38 Für dieses Zukunftspro32 Vgl.
etwa Discorso di Pola, 21. 9. 1920, in: OO, Bd. XXXV, S. 67–70, hier S. 69; I grandi problemi italiani, 24. 5. 1924, in: OO, Bd. XX, S. 284; Emil Ludwig, Mussolinis Gespräche mit Emil Ludwig, Berlin/Wien/Leipzig 1932, S. 88. 33 „Wenn wir in Spanien fertig sind, werde ich mir eine andere Sache überlegen; den Charakter der Italiener formt man im Kampf.“ Ciano, Diario, 13. 11. 1937, S. 56. 34 Vgl. etwa Discorso di piazza belgioioso, 10. 11. 1919, in: OO, Bd. XIV, S. 122–125, hier S. 124. 35 Vgl. etwa Ai fascisti romani, 2. 8. 1922, in: OO, Bd. XVIII, S. 330 f., hier S. 331; La riforma della scuola, 13. 12. 1923, in: OO, Bd. XX, S. 129 f., hier S. 130; Se avanzo, seguitemi; se indietreggio, uccidetemi; se muoio, vendicatemi, 7. 4. 1926, in: OO, Bd. XXII, S. 107–110, hier S. 107; Punti fermi sui giovani, 20. 1. 1930, in: OO, Bd. XXXVII, S. 358 f., hier S. 358 f. 36 Com’è bella giovinezza!, 18. 12. 1920, in: OO, Bd. XVI, S. 63; Agli insegnanti, 1. 7. 1923, in: OO, Bd. XIX, S. 290 f., hier S. 291. 37 Vgl. Tommaso Baris, Il mito della giovinezza tra realtà e retorica nel regime fascista, und La Rovere, Miti e politica per la gioventù fascista, beide Beiträge in: De Nicolò (Hrsg.), Dalla trincea alla piazza, S. 185–204 und S. 205–220. 38 Discorso di Bologna, 3. 4. 1921, in: OO, Bd. XVI, S. 239–246, hier S. 244.
28 I. Der „neue Mensch“ als faschistische Gesellschaftsutopie – drei Ansätze jekt griff Mussolini auch auf die römische Antike, den Rom-Mythos, zurück. Die Italiener sollten zu „Römern der Moderne“ (romani della modernità) werden,39 die diszipliniert, tatkräftig und zielstrebig die Schaffung dieses erträumten neuen Imperiums vorantrieben, um Träger einer neuen Zivilisation zu werden.40 Der Rekurs auf die glorifizierte Antike erfüllte dabei drei wesentliche Funktionen: Er hatte erstens eine integrative Funktion und sollte helfen, die italienische Bevölkerung zu einen.41 Zweitens diente er als Legitimationsgrundlage für den Anspruch der Italiener auf das mare nostrum42 und sollte den Italienern drittens auch das Vertrauen in die Realisierbarkeit des Projektes vermitteln.43 So suggerierte Mussolini, dass bereits die Vorahnen in der Lage gewesen seien, ein Imperium zu errichten, und dieses Potenzial schlummere auch heute noch in den Italienern. Sie müssten nur in einem voluntaristischen Kraftakt „den abgelagerten Niederschlag im Charakter und der Mentalität aus den schrecklichen Jahrhunderten der moralischen, politischen und militärischen Dekadenz seit 1600 bis zum Beginn Napoleons abkratzen und vernichten. Es handelt sich dabei um eine große Anstrengung. […] Es geht darum, Tag für Tag fortzufahren in diesem großen Vorhaben der Bearbeitung des Charakters der Italiener.“44
Wie bereits erwähnt, griff dieses Projekt nur partiell auf die Vergangenheit zurück, denn realisiert werden sollte es doch durch die Mittel der Moderne. Die Gleichsetzung des „neuen Menschen“ mit dem Flieger, die Verherrlichung der Geschwindigkeit und der Beherrschung von Maschine und Natur durch den Menschen sowie der Technikkult machen deutlich, wie zukunftsgewandt das faschistische Projekt war.45 Es ging eben nicht um die Reaktivierung des alten Legionärs, sondern um die Schaffung des modernen, disziplinierten Kämpfers für den Faschismus. 39 Gentile, Uomo nuovo, 40 Vgl. Intervista con un
S. 254. rappresentante dell‘„Asahi Shinbun“ di Tokio, 4. 5. 1936, in: OO, Bd. XLIV, S. 180–182, hier S. 180; Discorso alle gerarchie provinciali di Torino, 14. 5. 1939, in: OO, Bd. XLIV, S. 230 f.; Giovanni Muscardini, Fascismo, anima di popolo, Bologna 1939, S. 106. 41 Vgl. Emilio Gentile, Il mito dello Stato nuovo. Dal radicalismo nazionale al fascismo, Rom 1999, S. 247 f. 42 Das Ziel sei es, das Mittelmeer wieder zum See der Italiener zu machen und alle Para siten vom Mittelmeer zu vertreiben. Vgl. Dal malinconico tramonto liberale all’aurora fascista della nuova Italia, 4. 10. 1922, in: OO, Bd. XVIII, S. 433–440, hier S. 439; Sintesi del regime, 18. 3. 1934, in: OO, Bd. XXVI, S. 185–193, hier S. 191 f. 43 „Ich sage nicht, dass durch unsere Venen das ganze Blut zirkuliert, welches durch die Venen der antiken Römer zirkulierte; aber es ist sicher, dass wir das Volk sind, durch dessen Venen der größte Teil des Blutes der antiken Römer fließt. Und das werden wir unter Beweis stellen.“ L’ultimo discorso alla camera dei fasci e delle corporazioni, 2. 12. 1942, in: OO, Bd. XXXI, S. 118–133, hier S. 127. 44 Messaggio per l’anno nono, 27. 10. 1930, in: OO, Bd. XXIV, S. 283. 45 Vgl. zur Identifikation des „neuen Menschen“ mit dem „Flieger“: Fernando Esposito, The Aviator as New Man, in: Dagnino/Feldman/Stocker (Hrsg.), „New Man“ in Radical Right Ideology and Practice, S. 65–84; Lorenzo Benadusi, Il nemico dell’uomo nuovo. L’omosessualità nell’esperimento totalitario fascista, Mailand 2005, S. 20 f.; Fritzsche/ Hellbeck, New Man in Stalinist Russia and Nazi Germany, S. 309 f.; Mosse, Bild des Mannes, S. 155 f.
1. Benito Mussolini – der Duce 29
Mussolini zielte nicht allein darauf, Italien wieder zur Mittelmeermacht werden zu lassen, sondern er versprach gigantomanisch gar eine zukünftige Weltmachtstellung. Den Anspruch, über das Erreichte der Vorväter hinauszugehen, äußerte Mussolini gebetsmühlenartig: „Italiener, sorgt dafür, dass der Ruhm der Vergangenheit durch den Ruhm der Zukunft überragt wird!“46 „Für mich ist die Vergangenheit nichts als ein Sprungbrett, von dem aus man Schwung holt für eine herrliche Zukunft.“47 Dass das erträumte, neu zu errichtende impero in seinen Grenzen nie konkretisiert wurde, ist bereits an anderer Stelle hervorgehoben worden.48 Diese Unbestimmtheit ist geradezu symptomatisch für sein Konzept, das nie zu konkret und damit immer adaptierbar blieb, um auf neue Konstellationen reagieren zu können. Grundlegend für das Verständnis von Mussolinis Erwartung an den „neuen Menschen“ ist seine Rede „Absolute Unnachgiebigkeit“ vom 22. Juni 1925. Er hielt sie beim 4. und letzten Parteikongress der Faschisten, wenige Monate nach seinem Staatsstreich im Januar 1925, in dessen Folge Maßnahmen ergriffen wurden, die den Staat in einen totalitären umwandeln sollten.49 Sie ist von zentraler Bedeutung, da Mussolini selbst, aber vor allem auch die Publizistik während des gesamten Ventennio darauf rekurrierte, wenn es um die Bestimmung des „neuen Menschen“ ging.50 Der Fokus dieser Rede lag auf dem Ziel der Veränderung des Charakters und der Lebensweise des gesamten italienschen Volkes: „Was wollen wir? […] Wir wollen die Nation faschisieren, sodass morgen Italiener und Faschist nahezu das Gleiche sind wie Italiener und Katholik. […] Heute ist der Faschismus eine Partei, eine Miliz, eine Korporation. Das reicht nicht: er muss mehr werden, er muss eine Lebensweise werden. Es muss die Italiener des Faschismus geben, wie es die unverwechselbaren italienischen Charaktere der Renaissance und der römischen Klassik gibt.“
In den Eigenschaften des „neuen Menschen“ brachte er die Ideale dieser faschistischen Gesellschaft zum Ausdruck: „Mut; Furchtlosigkeit, Liebe zum Risiko, Abscheu für Pazifismus und die Gegner der Inter vention; Bereitschaft, immer etwas zu wagen und der Ekel vor der Bequemlichkeit. In BeZitat Mussolinis prangte etwa über dem Eingang zur Mostra Augustea della omanità, 1937/1938, vgl. die Abbildung 3 in: Claudia Müller, Politische Religion und R Katholizismus. Geltungsgeschichten im faschistischen Romanità-Kult, Paderborn 2017, S. 152. Vgl. Discorso ai decorati, 28. 10. 1933, in: OO, Bd. XXVI, S. 81 f., hier S. 82. 47 Al gran rapporto della Milizia, 1. 2. 1924, in: OO, Bd. XX, S. 174–177, hier S. 177. 48 Labanca und Rodogno verwiesen bereits auf die ungenauen Vorstellungen über das zu errichtende Imperium. Vgl. Labanca, Constructing Mussolini’s New Man, S. 230; Davide Rodogno, Die faschistische Neue Ordnung und die politisch-ökonomische Umgestaltung des Mittelmeerraums, in: Lutz Klinkhammer/Amedeo Osti Guerrazzi/Thomas Schlemmer (Hrsg.), Die „Achse“ im Krieg. Politik, Ideologie und Kriegführung 1939– 1945, Paderborn u. a. 2015, S. 211–230, hier S. 215–219. 49 Die Gegner des Faschismus wurden noch strikter verfolgt, deren Presse verboten, Grundrechte beschnitten, kurzum mithilfe der sogenannten leggi fascistissime wurden die Herrschaft Mussolinis und seines PNF ausgebaut und gefestigt. Vgl. dazu Schieder, Der italienische Faschismus 1919–1945, S. 40–43. 50 Vgl. exemplarisch: Giorgio Berlutti, La dottrina fascista. Ad uso delle scuole e del popolo, Rom 1930, S. 8 f.; Amerigo Montemaggiori, Dizionario della dottrina fascista, Turin 1934, S. 432 f.; PNF, Il primo libro del fascista, Verona 1939, S. 100; Raul Bacchiani, Scuola fascista, in: Il Popolo di Romagna (künftig: PdR), 24. 6. 1939, S. 10. 46 Dieses
30 I. Der „neue Mensch“ als faschistische Gesellschaftsutopie – drei Ansätze ziehungen die größte Offenheit; offene Gespräche und kein geheimes, anonymes, feiges Munkeln; der permanente Stolz, Italiener zu sein; Arbeitsdisziplin; der Respekt gegenüber der Autorität.“51
Personifiziertes Vorbild und Identifikationsfigur war in den 1920er Jahren neben den Squadristen, die Mussolini zu Prototypen des „neuen Menschen“52 stilisierte, der Pilot Francesco De Pinedo.53 Sowohl in dieser Rede als auch zur Ehrung nach dessen erfolgreichem Flug von Italien nach Australien bezeichnete Mussolini De Pinedo als Abbild des „neuen Italieners“, den er zu realisieren gedachte, eines Italieners, der sowohl sich selbst als auch die Natur bezwinge, also willensstark, „ernst, todesmutig und zäh“ sei.54 Insgesamt zeichnete sich Mussolinis „neuer Mensch“ durch soldatische Tugenden, hierarchisches Denken, Disziplin und Nationalstolz aus. Er identifizierte sich ganz und gar mit der gesamten Nation55 und war nach den Jahren des Niedergangs wieder stolz auf sein Land. Italien sollte zu einer nationalen Einheit verschmelzen. Durch Disziplin und einen „nationalen Willen“ würde Italien zu einer unschlagbaren Kraft, die alle äußeren Feinde bezwingen könnte, so Mussolinis erklärte Hoffnung in dieser Rede.56 Physische Aspekte spielten in dieser zentralen Rede keine Rolle. Die Begriffe razza oder stirpe verwendete er kein einziges Mal. Das verwundert, zumal Mussolini bereits zuvor mehrfach erklärt hatte, dass sich der Faschismus um die Rasse der Italiener sorge.57 Deutliche Kritik übte Mussolini an Einstellungen und Verhaltenweisen, die dem „neuen Italiener“ zuwider seien: Pazifismus und Bequemlichkeit, die alte liberale Mentalität und Sprache prangerte er an.58 Den Begriff des Bürgerlichen (borghese) nutzte er in der Rede jedoch auch kein einziges Mal. Vermutlich spitzte sich erst im Vorfeld des Abessinienkrieges auch begrifflich das konkrete Freund-Feind-Bild zu. Mussolini erklärte in dieser Rede weiter, auf welchem Weg er sich die Realisierung erträumte. Auf die Auswahl des „Rohmaterials“ sollte in Laboratorien der Feinschliff der zukünftigen Funktionseliten erfolgen: „Wir werden die neuen Generationen über eine hartnäckige und zähe Auswahl schaffen und in den neuen Generationen wird jeder eine bestimmte Aufgabe haben. Hin und wieder schwebt mir die Idee vor, Generationen im Laboratorium zu schaffen, etwa die Klasse der Kämpfer, die immer bereit ist zu sterben; die Klasse der Erfinder, die immer dem Ge51 Intransigenza assoluta, 22. 6. 1925, in: OO, Bd. XXI, S. 357–364, hier S. 362. 52 Vgl. Gentile, Uomo nuovo, S. 247. 53 Zu Francesco De Pinedo und dessen Inszenierung durch die Propaganda
siehe: Eric Lehmann, Le ali del potere. La propaganda aeronautica nell’Italia fascista, Turin 2010, S. 101–104. 54 Vgl. Intransigenza assoluta, 22. 6. 1925, in: OO, Bd. XXI, S. 362; Francesco De Pinedo, 7. 11. 1925, in: OO, Bd. XXII, S. 2 f., hier S. 3. 55 Konkret forderte er in der Rede: „Meine Herren, es ist Zeit, den Lokalpatriotismus enden zu lassen.“ Intransigenza assoluta, 22. 6. 1925, in: OO, Bd. XXI, S. 359. 56 Ebenda, S. 363. 57 Vgl. etwa Discorso di piazza Borromeo, 14. 5. 1921, in: OO, Bd. XVI, S. 341–348, hier S. 345; In tema di pace, 2. 7. 1921, in: OO, Bd. XVII, S. 20 f., hier S. 21; Il programma fascista, 11. 11. 1921, in: OO, Bd. XVII, S. 216–223, hier S. 219. 58 Intransigenza assoluta, 22. 6. 1925, in: OO, Bd. XXI, S. 363.
1. Benito Mussolini – der Duce 31 heimen nachspürt; die Klasse der Richter; die Klasse der großen Industriekapitäne, der großen Forscher, der großen Herrscher. Und durch diese methodische Auslese schafft man Eliten, die ihrerseits Imperien schaffen. Das ist ein hochmütiger Traum, aber ich sehe, dass er nach und nach Realität werden wird.“59
Aus den verschiedenen „laborähnlichen“ Institutionen, die der Faschismus schuf, sollten demzufolge die „neuen Italiener“ hervorgehen, die darin entsprechend ihrer zukünftigen Bestimmung (um)erzogen wurden. Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass infolge dieser Rede eine Vielzahl an Einrichtungen ins Leben gerufen wurden, deren erklärtes Ziel es war, den „neuen Italiener“ zu formen. Dazu zählten etwa die Freizeitorganisation (OND, gegründet im Mai 1925), das Mutterund-Kind-Hilfswerk (ONMI, Dezember 1925) oder die Jugendorganisation Balilla (ONB, April 1926). Zu den Charaktereigenschaften des alten, defizitären Italieners, die unter anderem mit Hilfe solcher Institutionen bezwungen werden sollten, zählte Mussolini Egoismus, Individualismus und Disziplinlosigkeit.60 Diese Merkmale geißelte Mussolini am häufigsten an seinen Landsleuten. Ihr egoistisch-individualistisches Dasein musste ihnen ein für alle Mal ausgetrieben werden und sie in dem Geist erzogen werden, ihre eigenen Interessen den höheren Interessen des Staates zu unterstellen. Der Einzelne lebte im Staat und für den Staat. So forderte Mussolini in der 1932 veröffentlichten „Faschistischen Doktrin“ von seinen Landsleuten nichts weniger als „Selbstverleugnung durch das Opfer seiner persönlichen Inte ressen und sogar durch den Tod“.61 Dass auf diesem Weg der Entindividualisierung auch Lokalpatriotismus und Dialekte aufgegeben werden sollten, nimmt sich dabei fast harmlos aus.62 Aus dem gemütlichen Dolce-far-niente-Lokalpat rioten galt es, den ernsten, arbeitsamen Dolce-far-molto-Italiener zu schmieden. An die Lehrer gerichtet forderte Mussolini im Dezember 1925: „Die italienische Schule muss den italienischen Charakter erziehen. Die italienische Schule muss die Antithese zu allem darstellen, was die Schwächen des italienischen Charakters ausmacht: die Oberflächlichkeit, die Leichtfertigkeit, der Glaube, dass alles schon gut gehen wird.“63
In Gruppierungen, die des Individualismus oder des Internationalismus ver dächtig waren, wie etwa Liberale, Demokraten, Sozialisten, Kommunisten und Freimaurer, sah er während des Ventennio durchgängig Feinde des „neuen Menschen“.64 Diese Kräfte behinderten die nationale Einheit und waren demnach 59 Ebenda. 60 Vgl. etwa Margherita Sarfatti, Mussolini. Lebensgeschichte, Leipzig 1938, S. 333. 61 Benito Mussolini, Die politische und soziale Doktrin des Faschismus, Leipzig 1933,
S. 6 f. Dieser „nichtssagende Text“ entstammt wohl der Feder des Philosophen und ersten faschistischen Bildungministers Giovanni Gentile. Schieder, Benito Mussolini [2008], S. 42. 62 Vgl. Maschere e volto della Germania, 25. 3. 1922, in: OO, Bd. XVIII, S. 119–124, hier S. 119; Gioberti Attuale, 10. 2. 1934, in: OO, Bd. XXVI, S. 168 f., hier S. 169. 63 Parole ai docenti, 5. 12. 1925, in: OO, Bd. XXII, S. 22–25, hier S. 23. 64 Vgl. Mussolini, Politische und soziale Doktrin des Faschismus, S. 10 f., 19; Messaggio per l’anno nono, 27. 10. 1930, in: OO, Bd. XXIV, S. 279; Sintesi del regime, 18. 3. 1934, in: OO, Bd. XXVI, S. 185 f.
32 I. Der „neue Mensch“ als faschistische Gesellschaftsutopie – drei Ansätze Störfaktoren bei seiner Mission der Homogenisierung und Verschmelzung der italienischen Gemeinschaft.65 Das Feindbild weitete sich in den folgenden Jahren aus und umfasste schließlich vermeintlich ethnisch, rassisch und sozial minderwertige Gruppen in Abhängigkeit von der aktuellen politischen Großwetterlage. Als Vorbild, dem es nachzueifern galt, diente schon recht früh Mussolini selbst, den seine Anhänger zum Prototyp des „neuen Menschen“ stilisierten.66 Auch Mussolini verstand sich so: „Ich halte mich für einen Teil eurer Generation: d. h. zugehörig zum neuesten Italiener [italiano nuovissimo], den nichts erschüttert, der immer voran schreitet, immer, unerschrocken, auf der Straße, die ihm das Schicksal vorgezeichnet hat.“67 Die Propaganda tat ihr Übriges, das Agieren Mussolinis so darzustellen, dass er seinen Zeitgenossen als lebende Inkarnation des „neuen Menschen“ erscheinen sollte. Er wurde als der ewig junge, agile, schweigsame, selbstlose, disziplinierte, vor Gesundheit strotzende Tatmensch in Szene gesetzt, den der Faschismus erschaffen wollte.68 Er arbeitete rund um die Uhr (das Licht in seinem Arbeitszimmer im Palazzo Venezia brannte auch nachts), packte bei der Ernte in den trockengelegten Pontinischen Sümpfen an, praktizierte erfolgreich jegliche Sportarten und eroberte als Pilot neue Welten. Mussolini wurde zum allwissenden Führer stilisiert, zum von Gott auserwählten Menschen, der, wie etwa in der Hagiographie Beltramellis,69 das Volk in seine glorreiche Zu65 Seine
Geburt kurz nach dem Tode Garibaldis habe Mussolini als Zeichen seiner Mission verstanden, Italien zu nationaler Einheit zu führen, vgl. Mack Smith, Mussolini, S. 15. 66 Zeitungsartikel aus Roma Futurista von Enrico Rocca über Mussolini, in dem jener als „der neue Mensch, den der Futurismus sich vorgestellt hat und den er anbetet“, präsentiert wird. Vgl. Enrico Rocca, Un uomo: Benito Mussolini, in: Roma Futurista, 29. 6. 1919, abgedruckt in: OO, Bd. XIII, S. 386–388, hier S. 387; Gentile, Origini dell’ideologia fascista, S. 360. 67 Per la strada segnata dal destino, 7. 4. 1926, in: OO, Bd. XXII, S. 111; „Ich suche den Kampf. Ich vermeide keine Anstrengung. Anstatt mich zu bezwingen, machen mich die Gegner nur noch härter, zäher und unnachgiebiger.“ Al popolo di Perugia, 5. 10. 1926, in: OO, Bd. XXII, S. 227–230, hier S. 228. Folgende Autoren verweisen auf die Darstellung Mussolinis als „neuen Menschen“, ohne zeitliche Eingrenzungen zu geben: Matard-Bonucci, Homme nouveau entre dictature et totalitarisme, S. 14; Pierre Milza, Mussolini, figure emblématique de l’„homme nouveau“, in: Matard-Bonucci (Hrsg.), Homme nouveau dans l’Europe fasciste, S. 75–86; August Bernhard Hasler, Das Duce-Bild in der faschistischen Literatur, in: QFIAB 60 (1980), S. 420–506, hier S. 427–431; Carlo Galeotti, Mussolini ha sempre ragione. I decaloghi del fascismo, Mailand 2000, S. 84; Gabriele Turi, Lo Stato Educatore. Politica e intellettuali nell’Italia fascista, Bari 2002, S. 121; Clemens Zimmermann, Das Bild Mussolinis. Dokumentarische Formungen und die Brechungen medialer Wirksamkeit, in: Gerhard Paul (Hrsg.), Visual History, Göttingen 2006, S. 225–242, hier S. 228; Gori, Model of Masculinity, S. 27, 37; Dogliani, Fascismo degli italiani, S. 81; Mosse, Bild des Mannes, S. 218 f.; Pazzaglia, La formazione dell’uomo nuovo nella strategia pedagogica del fascismo, S. 110. 68 Vgl. etwa „Mussolini redet nur spärlich, wenn es seine Pflicht ist, zu sprechen und spricht immer kürzer. […] Wir sagen schweigen. Denn das ist der Stil, den Mussolini fordert.“ Novità da segnalare, 9. 1. 1926, in: OO, Bd. XXXVII, S. 306 f., hier S. 307. In den Presseanweisungen wurde verboten, über Krankheiten Mussolinis zu berichten, oder darüber, dass er Großvater geworden war, vgl. Barbara Spackman, Fascist Virilities. Rhetoric, Ideology and Social Fantasy in Italy, Minneapolis 1996, S. 3. 69 Vgl. Beltramelli, Uomo nuovo.
1. Benito Mussolini – der Duce 33
kunft führte. Das zehnte Gebot des von Mussolini selbst verfassten „Dekalog des Legionärs“, den die Mitglieder der Jugendorganisation auswendig lernen mussten,70 lautete: „Mussolini hat immer Recht.“71 Papst Pius XI. nannte ihn gar „Mann der Vorsehung“.72 Die gleichgeschaltete Presse berichtete unaufhörlich über die Leistungen und Fähigkeiten Mussolinis, die, so dessen erklärte Überzeugung, seinen Landsleuten als Vorbild und Modell dienen und diese zu vergleichbarem Aktionismus und Tatendrang animieren sollten.73 Auch wenn seine Landsleute nicht wie Mussolini sein konnten, so sollten sie sich in ihrem Verhalten doch wenigstens immer mehr diesem annähern.74 Neben den Grundkonstanten der Identifizierung Mussolinis mit dem „neuen Menschen“, dem es nachzueifern galt, und der Charakterisierung des „neuen Menschen“ als juvenilen, selbstlosen Kämpfer für die Expansion des faschistischen impero sind auch einige Ergänzungen und Akzentuierungen im Laufe der faschistischen Herrschaft zu erkennen, die sich am deutlichsten an drei Reden herausarbeiten lassen. Es handelt sich dabei um: „Himmelfahrtsrede“ vom 26. Mai 1927, „Synthese des Regimes“ vom 18. März 1934 und „An den PNF-Nationalrat“ vom 25. Oktober 1938. Seit seiner „Himmelfahrtsrede“ im Mai 1927 vor der Abgeordnetenkammer kam der physischen Veränderung der Italiener immer größere Bedeutung zu. Mochten sich die Italiener auch noch so mühen, ihr Verhalten zu ändern, mit einer kranken, schwächlichen, verweichlichten und schrumpfenden Bevölkerung war es schließlich schwer, Kriege zu gewinnen und ein Imperium zu errichten. „[D]as Schicksal der Nationen ist verknüpft mit ihrer demographischen Macht“, erklärte Mussolini, und „wenn die Bevölkerungszahlen abnehmen, meine Herren, wird man kein Imperium, sondern Kolonie.“75 Mussolini stellte nun klar: „Es liegt auf der Hand, dass in einem geordneten Staat der Schutz der körperlichen Gesundheit eines Volkes an erster Stelle steht.“76 Nichts, aber auch gar nichts, sollte mehr privat sein, sondern alles den Bedürfnissen des faschistischen Staates untergeordnet werden. Selbst und vor allem das Kinderkriegen diente dem Schutz der 70 Vgl. PNF, 71 Decalogo
Foglio di Disposizioni (künftig: PNF, FD), Nr. 983, 14. 2. 1938. del Legionario, 22. 1. 1938, in: OO, Bd. XXXVII, S. 219 f., hier S. 220. Martin Clark verweist darauf, dass Mussolini der Verfasser des Dekalogs war, vgl. Martin Clark, Mussolini, Harlow 2005, S. 173, Anm. 46. Bereits in den 1926 von Leo Longanesi verfassten elf Geboten hieß es im siebten Gebot: „Benito Mussolini hat immer Recht.“ 72 Pensieri pontini e sardi, August 1943, in: OO, Bd. XXXIV, S. 271–299, hier S. 287. 73 Vgl. Frammento di carattere politico, 1. 9. 1933, in: OO, Bd. XXXVII, S. 138 f., hier S. 139; Ai segretari federali della Toscana, 8. 2. 1942, in: OO, Bd. XXXI, S. 12–21, hier S. 15 f. 74 Vgl. Guido Bortolotto, Lo Stato fascista e la nazione, Rom 1931, S. 128; Cesare Migliorato, La vita del duce narrata ai fanciulli, Triest 1928, S. 42; Armando Scalise, L’italiano nuovo, in: PdR, 12. 2. 1935, S. 1. 75 Il discorso dell’ascensione, 26. 5. 1927, in: OO, Bd. XXII, S. 360–390, hier S. 365, 367; vgl. Il numero è potenza, 21. 7. 1928, in: OO, Bd. XXXVII, S. 329–332; Discorso al consiglio nazionale del P.N.F., 26. 10. 1933, in: OO, Bd. XLIV, S. 70–76, hier S. 72; Discorso ai componenti il comitato nazionale e ai delegati provinciali dell’unione fascista fra le famiglie numerose, 21. 12. 1937, in: OO, Bd. XLIV, S. 225 f., hier S. 225; Discorso ai presidenti provinciali delle federazioni dell’opera nazionale maternità e infanzia, 21. 12. 1940, in: OO, Bd. XLIV, S. 257 f. 76 Il discorso dell’ascensione, 26. 5. 1927, in: OO, Bd. XXII, S. 361.
34 I. Der „neue Mensch“ als faschistische Gesellschaftsutopie – drei Ansätze Rasse und dem Erreichen der imperialen Wunschträume. Wer kinderlos blieb, handelte egoistisch den höheren Interessen der Nation zuwider, konnte kein „neuer Mensch“ sein und stand somit außerhalb der neuen Ordnung. Aufgabe des faschistischen Staates war es, sowohl die Bevölkerungszahlen zu erhöhen, die hohe Kindersterblichkeit zu verringern als auch die „Volksgesundheit“ und körperliche Fitness im Allgemeinen zu verbessern.77 Neben die Stählung des Charakters trat nun die Stählung des „Volkskörpers“, die fortan untrennbar miteinander verbunden waren. Körperliche Ertüchtigung und Abhärtung wurden mit der Herausbildung von Kampfestugenden wie Mut, Selbstdisziplin und Aufopferung assoziiert. Mussolini blieb auch im sprachlichen Bild vom gesunden „Volkskörper“, als er erläuterte, dass die in die Verbannung geschickten Gegner des Regimes, die die Schaffung des „neuen Menschen“ behinderten, damit genauso aus der Gemeinschaft entfernt würden, wie ein Arzt die Infizierten von der gesunden Bevölkerung trenne.78 Jegliches deviantes Verhalten, das die Einheit, das Harmonie-Ideal störte, müsse verhindert und eliminiert werden. Zuversichtlich erklärte er: „Die Generation der Unverbesserlichen, die den Krieg und den Faschismus nicht verstanden hat, wird das Gesetz der Natur beseitigen. Es werden die Jungen, die Arbeiter, die Bauern kommen, die wir in den Balilla und den Avanguardisti rekrutieren: Machtvolle Institutionen, machtvolle Organismen, die uns die Möglichkeit geben, das Leben der Nation von den Sechs- bis zu den Sechzigjährigen zu überwachen und den neuen Menschen, den faschistischen Menschen zu schaffen. […] Dieses Regime […] stützt sich auf Millionen und Abermillionen von Italienern, die sich selbst perfektionieren, verfeinern und organi sieren.“79
Abermals verlieh er seiner Hoffnung Ausdruck, dass die ins Leben gerufenen Institutionen des Faschismus über kurz oder lang den „neuen Menschen“ formen und erziehen würden bzw. Verhältnisse schufen, in denen sich der „neue Mensch“ entfalten konnte. Dazu zählte beispielsweise auch der Korporativismus, dessen Grundlagen einen Monat zuvor in der Carta del Lavoro formuliert worden waren. Dieser versprach eine Aussöhnung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern und die Vermeidung von Klassenkonflikten.80 Von dem Einzelnen selbst wurde jedoch auch gefordert und erwartet, dass er gewillt war, sich aktiv sowohl körperlich als auch geistig zu optimieren. Der Wille (volontà) war von entscheidender Bedeutung bei der Umformung der Italiener.81 Zudem erhoffte sich Mussolini eine Verbesserung der Rasse durch die Modifikation diverser Umwelteinflüsse. Während einer Rede vor Ärzten verkündete er: 77 Mussolini
klagte, 40 Millionen Italiener seien zu wenig und bis zur zweiten Hälfte des Jahrhunderts sollten es 60 Millionen werden. Vgl. ebenda, S. 364. 78 Vgl. ebenda, S. 378. 79 Ebenda, S. 384 f. 80 Vgl. ebenda, S. 388 f. Dass dieses Versprechen nie eingelöst wurde, ist bereits häufig in der Forschung betont worden. Vgl. etwa Stefan Plaggenborg, Ordnung und Gewalt. Kema lismus-Faschismus-Sozialismus, München 2012, S. 161 f.; Francesco Malgeri, Giuseppe Bottai, in: Ferdinando Cordova (Hrsg.), Uomini e volti del fascismo, Rom 1980, S. 105–144, hier S. 132 f. 81 Vgl. Mussolini, Politische und soziale Doktrin des Faschismus, S. 7; Ludwig, Mussolinis Gespräche mit Emil Ludwig, S. 81.
1. Benito Mussolini – der Duce 35 „Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass unsere Art zu essen, sich zu kleiden, zu arbeiten und zu schlafen, der gesamte Komplex unseres täglichen Verhaltens verändert werden muss. Man muss die Kräfte der Natur auf unseren Körper einwirken lassen, vor allem die Luft, die Sonne und die Bewegung.“82
Die von ihm in der Rede angesprochenen klimatischen Bedingungen trachtete er dann auch tatsächlich, derart zu verändern, dass die dem modifizierten Klima ausgesetzten Menschen ebenfalls umgeformt würden. In vertraulichen Gesprächen erklärte er gegenüber seinem Schwiegersohn Ciano mehrmals, dass er mit der von ihm in Auftrag gegebenen „Aufforstung“83 des Apennin die Hoffnung verband, dass damit das Klima rauer würde: „[S]o sterben die Winzlinge [mezze cartuccie] und diese mittelmäßige italienische Rasse verbessert sich.“84 So befremdlich diese Idee auch erscheinen mag, so war sie doch stark im Denken Mussolinis verhaftet. Der Historiker Aaron Gillette hat bereits vor einiger Zeit darauf hingewiesen, dass die lamarckistische „idea that environmental (and even psychological) changes could affect the evolution of a race would become a core premise of Mussolini’s own racism, and his nearly obsessive determination to elevate the Italian race“.85 In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre erfuhr Mussolinis Konzept des „neuen Menschen“ eine wesentliche Akzentverschiebung. Während der Kriegsvorbereitungen gegen Abessinien86 etablierte er ein nicht fest umrissenes Feindbild vom Bürgertum, das zur Mobilisierung im Inneren beitragen sollte. Der „neue Mensch“ war nun der betont antibürgerliche Staatsbürger-Soldat (cittadino-soldato),87 der seinen Bewährungsraum am Arbeitsplatz genauso wie an der Front fand. Die gesamte Gesellschaft sollte stärker militärisch ausgebildet und noch intensiver auf bevorstehende militärische Aktionen eingeschworen werden. Verdeutlichen lässt sich diese Akzentuierung an der Rede „Synthese des Regimes“ vom 18. März 1934. In dieser Rede brachte Mussolini die Antithese Faschist – Bürgerlicher (borghese) begrifflich dezidiert auf den Punkt: „Das Credo des Faschisten ist der Heroismus, das des Bürgerlichen der Egoismus.“88 Er reaktivierte damit sein altes Feindbild. Bereits als Sozialist hatte er im Bürgertum den Feind gesehen, der – und dabei bezog er sich auf Vilfredo Paretos Elitentheorie – früher oder später 82 Discorso ai medici, 22. 11. 1931, in: OO, Bd. XXV, S. 59–62, hier S. 61. 83 Vgl. PNF, FD, Nr. 259, 19. 6. 1934; Nr. 762, 9. 3. 1937. 84 Ciano, Diario, 24. 12. 1938, S. 491; „Er hat gesagt, dass das Ziel der
Aufforstung des Apennin hauptsächlich darin besteht, das Klima in Italien rauer werden zu lassen: das führt zu einer perfekten Selektion und einer Verbesserung der Rasse.“ Ciano, Diario, 5. 8. 1940, S. 456. 85 Aaron Gillette, Racial Theories in Fascist Italy, London 2002, S. 22. Hierin bestehe auch einer der Unterschiede zum nationalsozialistischen Deutschland, denn dort glaubte man nicht an derlei Einflüsse. 86 Laut Woller begannen die Kriegsvorbereitungen gegen Abessinien bereits Anfang 1933, vgl. Woller, Mussolini, S. 135. 87 Der erste Artikel eines Gesetzentwurfes über die Militarisierung der Nation stellte klar: „Die Aufgaben des Bürgers (cittadino) und des Soldaten (soldato) sind untrennbar im faschistischen Staat.“ 353° riunione del consiglio dei ministri, 18. 9. 1934, in: OO, Bd. XXVI, S. 333–341, hier S. 333. 88 Sintesi del regime, 18. 3. 1934, in: OO, Bd. XXVI, S. 192.
36 I. Der „neue Mensch“ als faschistische Gesellschaftsutopie – drei Ansätze durch das Proletariat abgelöst werden würde.89 Nun war es der Faschist, der den Bürgerlichen abzulösen hatte. Nach der Ausschaltung aller anderen Feinde des Regimes, so Mussolini, wandte sich der Faschismus dem zentralen Gegner, dem „bürgerlichen Geist“ (spirito borghese), zu. Darunter rubrizierte Mussolini „Zufriedenheit, Anpassung, die Tendenz zum Skeptizismus, zur Kompromissbereitschaft, zum bequemen Leben, zum Karrierismus“, aber auch die Ein-Kind-Familie.90 Die von Mussolini in der Rede angeprangerten Verhaltensweisen waren selbstredend inkompatibel für ein Volk, das auf einen Krieg eingeschworen werden sollte und das, um schlagkräftig sein zu können, volle Wiegen benötigte, aus denen zukünftig viele agile Kämpfer hervorgehen würden.91 Das skizzierte Feindbild war nicht klar begrenzt. Letztlich konnte jeder eines bürgerlichen Geistes verdächtigt werden, und so zielte diese antibürgerliche Kampagne auf die Mobi lisierung der gesamten Bevölkerung durch Selbstdisziplinierung. Die „alten Menschen“, die Rasse und Revolution aufgrund ihrer Verhaltensweisen und ihrer Kinderarmut bedrohten, würden am „Wegesrand“ stehen gelassen werden, drohte Mussolini.92 Nach der Ausrufung des impero erfuhr das Konzept eine letzte Modifikation. Der „neue Mensch“ musste sich nun zusätzlich vor allem durch ein hohes Rassenbewusstsein auszeichnen.93 Er sollte sich seiner rassischen und zivilisatorischen Überlegenheit bewusst werden und lernen, seine angeblich minderwertigen Gegner von Grund auf zu hassen. Mussolini sprach wiederholt davon, dass sich die Italiener noch stärker die Bedeutung ihrer Rasse vor Augen führen und den Habitus von Gebietern annehmen sollten.94 Zentral für diese letzte Phase war Musso89 Intermezzo polemico, 25. 4. 1908, in: OO, Bd. I, S. 127–129, 90 Sintesi del regime, 18. 3. 1934, in: OO, Bd. XXVI, S. 192. 91 Vgl. ebenda, S. 190. 92 Vgl. ebenda, S. 193. 93 Die Frage, welche Relevanz Rassismus und Antisemitismus
hier S. 129.
im Denken Mussolinis besaßen und ob es sich bei seinem Rassenverständnis um ein „spirituelles, kulturelles, nationales oder biologistisches“ handelte, wird aufgrund Mussolinis inkonsistenter Äußerungen in der Forschung noch immer kontrovers diskutiert. Giorgio Fabre sucht in seinen Studien die Annahme zu widerlegen, dass Mussolini weder Rassist noch Antisemit gewesen sei, und betont, Mussolini habe bereits als Sozialist antijüdische Vorurteile gehegt. Vgl. Giorgio Fabre, Mussolini Razzista. Dal socialismo al fascismo. La formazione di un antisemita, Mailand 2005; Giorgio Fabre, Mussolinis früher engagierter Antisemitismus, in: QFIAB 90 (2010), S. 346–372. Zur Diskussion über den Stellenwert von Rassismus und Antisemitismus im Italien Mussolinis vgl. mit vielen hilfreichen Literaturangaben Thomas Schlemmer/Hans Woller, Der italienische Faschismus und die Juden 1922 bis 1945, in: VfZ 53 (2005), S. 165–201; Robert S.C. Gordon, Race, in: Bosworth (Hrsg.), The Oxford Handbook of Fascism, S. 296–316, sowie Maurizio Bach/Stefan Breuer, Faschismus als Bewegung und Regime. Italien und Deutschland im Vergleich, Wiesbaden 2010, S. 46–51. 94 In Anlehnung an das Risorgimento-Diktum forderte Mussolini: „Nachdem wir das Imperium geschaffen haben, […] müssen wir die Imperialisten schaffen.“ Discorso agli inviati speciali dei giornali italiani e agli scrittori che lo hanno seguito durante il viaggio in Libia, 21. 3. 1937, in: OO, Bd. XLIV, S. 200 f., hier S. 201. „Uns fehlt die Technik des Hassens, ich sagte: Man muss hassen.“ Rapporto ai gerarchi centrali e provinciali del P.N.F., 16. 4. 1937, in: OO, Bd. XLIV, S. 203–206, hier S. 204. „Der Duce sagte, dass wir unserem Volk einen hohen Rassebegriff geben müssen, welcher auch unerlässlich für den weiteren Aufbau des Reiches sei.“ Ciano, Diario, 20. 4. 1938, S. 128. „Die Revolution muss
1. Benito Mussolini – der Duce 37
linis Rede „An den PNF-Nationalrat“ vom 25. Oktober 1938. Darin betonte er nochmals, dass der Feind des Faschismus das Bürgertum sei, und unterstrich, dass der Faschismus dieses mit drei „Faustschlägen in den Magen“ traktiere.95 Dabei handelte es sich um die Einführung des Paradeschritts, die Antilei-Kampagne, die sich gegen das höfliche, aber distanzierte Anredepronomen Lei richtete, und die Rassenfrage. Mussolini zeigte sich in der Rede schockiert über das unwürdige Verhalten und geringe Rassenbewusstsein seiner Landsleute in Abessinien, das dazu geführt habe, dass die einheimische Bevölkerung die Italiener nicht als Träger einer höheren Zivilisation anerkannt hätte. Die Italiener müssten sich demzufolge ihrer Überlegenheit (superiorità) bewusst werden, sich entsprechend verhalten und dafür die Rassengesetze genauestens einhalten.96 Neben dem Umgang mit der einheimischen Bevölkerung in den afrikanischen Kolonien trieb Mussolini aber auch das Verhalten der Italiener gegenüber den Juden in Italien um. Zwei Monate vor dieser Rede war das Rassenmanifest, wenige Tage zuvor die Rassecharta (Carta della Razza) veröffentlicht worden, an deren Formulierung Mussolini federführend beteiligt war.97 Nun kritisierte Mussolini all jene, die Mitleid mit den „armen Juden“ hatten, und bezichtigte die Juden des Antifaschismus: Er bemühte Verschwörungstheorien, indem er unterstellte, das internationale Judentum sei antifaschistisch, habe die Fäden bei den Völkerbundsanktionen gegen Italien in der Hand gehabt und 1924 die Matteotti-Krise verschärft.98 Mitleid mit den Juden war angesichts dieser Vorwürfe also fehl am Platz. Wer es sich doch erlaubte, konnte kein Faschist sein, sondern war unweigerlich bürgerlich. Doch nicht nur diejenigen, die Mitleid mit den Juden hatten, wurden zu Bürgerlichen und damit zu Feinden des Faschismus erklärt; auch die 44 000 in Italien lebenden Juden wurden gleichgesetzt mit dem Bürgerlichen. Und gesetzt den Fall, dass sie die voranschreitende faschistische Revolution behindern würden, drohte ihnen Mussolini: „Jetzt muss dieser einmal identifizierte bürgerliche Geist isoliert und zertrümmert werden. Von einer Nation kann man nicht behaupten, dass alle im gleichen Maße mutig, entschieden und heroisch sind. Damit würde man zuviel behaupten. Wir können nur behaupten, auch auf die Gewohnheiten der Italiener einwirken. Sie müssen lernen, unsympathisch zu sein, um hart, unerbittlich und verhasst zu werden. Also: Gebieter.“ Ciano, Diario, 10. 7. 1938, S. 156. Vgl. auch Direttive al viceré d’Etiopia, Amedeo di Savoia-Aosta, 18. 11. 1937, in: OO, Bd. XXXVII, S. 148–150, hier S. 150; Al consiglio nazionale del P.N.F., 25. 10. 1938, in: OO, Bd. XXIX, S. 191; Discorso al direttorio del P.N.F. e ai segretari federali, 20. 8. 1936, in: OO, Bd. XLIV, S. 187–189, hier S. 187; Discorso di Trieste, 15. 9. 1938, in: OO, Bd. XXIX, S. 144–147, hier S. 146. Wie Labanca (Constructing Mussolini’s New Man, S. 230 f.) bemerkte, berichteten einige Abessinienkämpfer in ihren Memoiren von dem besonderen Gefühl des Stolzes auf ihre Rasse und der attraktiven Vorstellung, die Farbigen zu beherrschen. 95 Al consiglio nazionale del P.N.F., 25. 10. 1938, in: OO, Bd. XXIX, S. 188. 96 Vgl. ebenda, S. 190 f. Vgl. zu den Rassengesetzen in AOI: Gabriele Schneider, Mussolini in Afrika. Die faschistische Rassenpolitik in den italienischen Kolonien 1936–1941, Köln 2000. 97 Vgl. Schieder, Benito Mussolini [2014], S. 91; Charnitzky, Schulpolitik des faschistischen Regimes, S. 388. 98 Al consiglio nazionale del P.N.F., 25. 10. 1938, in: OO, Bd. XXIX, S. 191.
38 I. Der „neue Mensch“ als faschistische Gesellschaftsutopie – drei Ansätze dass die 44 000, die sich zu Märtyrern machen, niemals genug Kraft haben, um den Wagen aufzuhalten. Sollten sie doch, so werden wir sie am Straßenrand abwerfen. Und wenn besondere Zeiten anbrächen, würden wir nicht zögern, sie nacheinander zu beseitigen.“99
Die vorgeblich national-unzuverlässigen, bürgerlichen, antifaschistischen Juden wurden nun zum klar umrissenen Gegenbild des „neuen Menschen“. Für die Gestaltung des „neuen Menschen“ und dessen Eigenschaften bedeutete das zu jener Zeit noch stärker eingeforderte Rassenbewusstsein dreierlei: Er sollte sich mehren und so seine Rasse stärken. Er sollte sich seiner Rasse aufgrund seiner bereits in der römischen Vergangenheit unter Beweis gestellten Überlegenheit gegenüber der eroberten, afrikanischen Bevölkerung als Zivilisator würdig erweisen. Er sollte sich mitleidlos von Angehörigen der jüdischen Rasse (Mussolini sprach in der Rede davon, dass die Religion mit der Rasse zusammenfalle100) distanzieren. Insgesamt sollte das Rassekonzept als Katalysator zur nationalen Homogenisierung, zur Schaffung eines Zusammengehörigkeitsgefühls durch die Abgrenzung gegenüber Juden und Afrikanern wirken. Immer wieder wird darauf verwiesen, dass Mussolinis Aussagen sich häufig widersprachen, wenn es um das Projekt der Schaffung des „neuen Menschen“ ging.101 Manchmal bezeichnete er es als bereits abgeschlossen, dann musste es überhaupt erst in Angriff genommen werden.102 Betrachtet man die Adressaten seiner Reden und Schriften, so wird deutlich, dass er besonders in Interviews mit Ausländern oder bei Reden im Ausland die erfolgreiche Realisierung seines Projekts proklamierte.103 Er kannte die Vorurteile gegenüber seinen Landsleuten im Ausland nur zu gut104 und wollte seine Zuhörer und Leser glauben machen, dass 99 Ebenda, S. 192. 100 Vgl. ebenda, S. 191. 101 Vgl. Patriarca, Italianità, S. 150; Gentile, Uomo nuovo, S. 236. 102 „Ihr dürft nicht denken, dass die Mühe bereits beendet ist, sie
hat noch nicht einmal begonnen.“ Al popolo di Reggio Emilia, 30. 10. 1926, in: OO, Bd. XXII, S. 246; „Auch unsere erbittertsten Gegner sind nun davon überzeugt, dass wir Italien von oben bis unten umkrempeln und gerade erst damit anfangen.“ Il discorso dell’ascensione, 26. 5. 1927, in: OO, Bd. XXII, S. 380. „Die Revolution ist nicht beendet: betrachtet man die Gewohnheiten, den Charakter, die sozialen Unterschiede, so hat sie gerade erst begonnen.“ Alla Vecchia Guardia, 26. 3. 1939, in: OO, Bd. XXIX, S. 249–253, hier S. 250. 103 „Die Italiener sind nicht mehr Sozialisten, Liberale, Nationalisten oder Genovesen, Neapolitaner oder Milanesen, sondern sie sind stolze Italiener und haben Vertrauen in ihre Kräfte.“ La nuova Italia, Anfang August 1926 (Interview mit Associated Press), in: OO, Bd. XXII, S. 187–192, hier S. 191. „Die nationale Umformung ist so weit abgeschlossen, dass Italien heute eine neue Seele gefunden hat und jeder Italiener faschistisch denkt.“ Mussolini rivela il suo segreto, 12. 12. 1926 (Interview mit der Sunday Pictorial), in: OO, Bd. XXII, S. 286–288, hier S. 288. „Heute hat sich unser Volk tiefgehend geändert. Vierzig Monate harter Kampf haben uns gelehrt, Entbehrungen stoisch zu ertragen, und haben auf unserem Boden ernste, würdevolle Menschen geschaffen, die sich ihrer nationalen Pflicht bewusst sind, die sich geschworen haben, dass die immensen Opfer des Krieges nicht vergebens waren. […] Diese Männer sind die unsrigen. Der Faschismus kann sie als eigene Geschöpfe beanspruchen.“ La necessità di espansione dell’Italia in Africa, 7. 10. 1935 (Interview mit der Paris-Soir), in: OO, Bd. XXVII, S. 160–163, hier S. 161 f. „15 Jahre Faschismus haben Italien ein neues materielles und spirituelles Antlitz gegeben.“ Il discorso di Berlino, 28. 9. 1937, in: OO, Bd. XXVIII, S. 248–253, hier S. 250. 104 Vgl. Victoria De Grazia, Die Radikalisierung der Bevölkerungspolitik im faschistischen Italien: Mussolinis „Rassenstaat“, in: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), S. 219–254, hier S. 233.
1. Benito Mussolini – der Duce 39
die Italiener sich unter seinem Einfluss von einfachen, liebenswerten „Mandolinenspielern“ zu stolzen Patrioten gewandelt hätten, mit denen man in Zukunft als Gegner auf Augenhöhe zu rechnen habe. In der Heimat änderte sich der Ton, dort kam es Mussolini vor allem auf die gesellschaftliche Mobilisierung an. Dabei signalisierte er, das Projekt des „neuen Menschen“ sei auf einem guten Weg, es sei bereits viel geleistet worden, man könne durchaus schon Veränderungen erkennen, es stünde aber noch immer viel Arbeit bevor.105 Es gab zwar auch Momente, in denen er sein Projekt als vollständig realisiert bezeichnete,106 sie waren aber eher selten und verloren sich im Zweiten Weltkrieg fast ganz. Besonders in privaten Gesprächen mit Ciano und Bottai zeigte er sich immer skeptischer. Er beschimpfte die Italiener als „Rasse von Schafen“, die erst in vielen Jahrhunderten zu Wölfen werden würden, und beschwerte sich über das ihm zur Verfügung stehende minderwertige Menschenmaterial.107 Am 27. Mai 1942 notierte Bottai in sein Tagebuch, Mussolini habe erneut davon gesprochen, dass er einen „neuen Italiener“ schaffen wolle, und kommentierte dies lakonisch: „Wie häufig hat er das nicht schon gesagt?“108 In einer seiner letzten überlieferten Äußerungen behauptete Mussolini schließlich, an den typischen italienischen Eigenschaften gescheitert zu sein: dem Hang zum Enthusiasmus, zum Schwadronieren, zur Musik, 105 „Eine
Führungsschicht bildet sich langsam aus. Es gibt tatsächlich schon 9000 Podestà, 2000 Offiziere der Miliz, tausende Organisatoren, die morgen eine Kommandofunktion übernehmen können. Manchmal dachte ich, nach fünf Jahren hätte ich den Großteil meiner Mühen erreicht. Meine Herren, ich bin mir bewusst, dass dem nicht so ist. […] Ich bin mir bewusst, dass ich trotz einer im Aufbau befindlichen Führungsschicht, trotz einer sich immer stärker ausbreitenden Disziplin im Volk, die Aufgabe übernehmen muss, die italienische Nation noch weitere zehn, fünfzehn Jahre zu regieren. Mein Nachfolger ist noch nicht einmal geboren.“ Il discorso dell’ascensione, 26. 5. 1927, in: OO, Bd. XXII, S. 390; 23 marzo 1919, 23. 3. 1931, in: OO, Bd. XXIV, S. 341–343, hier S. 342 f. 106 „Italien ist heute wirklich so, wie ich es wollte: eine Armee von Staatsbürgern und Soldaten, bereit für Werke des Friedens, arbeitswillig, still und diszipliniert.“ All’inizio dell’anno ottavo, 27. 10. 1929, in: OO, Bd. XXIV, S. 154 f., hier S. 155. „Zwanzig Jahre Krieg, Kämpfe, eine Revolution wie die faschistische haben aus der italienischen Seele einen Block gehärtetes Metall gemacht.“ Al popolo di Udine, 20. 9. 1938, in: OO, Bd. XXIX, S. 152 f., hier S. 153. 107 „Hast du jemals ein Lamm zu einem Wolf werden sehen? Die italienische Rasse ist eine Rasse von Schafen. 18 Jahre reichen nicht, um sie zu verändern. Dafür benötigt man 180 oder vielleicht 180 Jahrhunderte.“ Ciano, Diario, 29. 1. 1940, S. 319. „Mir fehlt das Material. Auch Michelangelo brauchte Marmor, um seine Statuen zu schaffen. Wenn er nur Lehm gehabt hätte, wäre er nur ein Töpfer geworden. Ein Volk, das für 16 Jahrhunderte Amboss gewesen ist, kann nicht in wenigen Jahren ein Hammer werden.“ Ciano, Diario, 21. 6. 1940, S. 444 f. „Noch nicht einmal mit einer Revolution kann man die Jahrhunderte politischer Knechtschaft umkehren.“ Bottai, Diario, 1. 1. 1941, S. 242. „Der Duce, der unzufrieden mit dem Lauf der Dinge ist, hat gesagt: ‚Dieser Krieg ist nicht für das italienische Volk gemacht. Es hat weder die Reife noch die Beschaffenheit für eine solch außergewöhnliche und entscheidende Prüfung.‘“ Ciano, Diario, 7. 3. 1942, S. 598; vgl. auch Bottai, Diario, 23. 1. 1943, S. 357. 108 „Einige Aussagen betreffen die Jugendlichen und ihre Moral. Mussolini sagt: ‚Wir müssen einen neuen Italiener schaffen.‘ Wie häufig hat er das nicht schon gesagt? Er fügt hinzu: ‚Karg in Wörtern und Gesten.‘ Und er rühmt sich, Reden zu halten, ohne zu gestikulieren.“ Bottai, Diario, 27. 5. 1942, S. 307.
40 I. Der „neue Mensch“ als faschistische Gesellschaftsutopie – drei Ansätze ohne die großen Aufgaben wirklich in Angriff zu nehmen. Auch sich selbst schloss er davon nicht aus.109 Mussolini war angesichts der schier ausweglosen Situation im Frühjahr 1945 davon überzeugt, dass sein Projekt vollkommen gescheitert war.
2. Achille Starace – der Parteisekretär Achille Starace110 führte die faschistische Partei acht Jahre und damit länger als jeder andere Parteisekretär. Dabei verfolgte er wie kaum ein anderer das Ziel, seinen Landsleuten den neuen Stil des faschistischen Zeitalters einzuimpfen.111 1889 wurde er im süditalienischen Sannicola di Gallipoli in eine wohlhabende Familie geboren. Nach seiner Ausbildung zum Buchhalter in Venedig ließ er sich in Mailand nieder, wo der Irredentist und Interventionist 1914 erstmals mit Mussolini in Kontakt kam.112 Am Ersten Weltkrieg nahm er als Freiwilliger teil und wurde mehrfach militärisch ausgezeichnet und befördert. Zentral und prägend waren für ihn zweifellos die militärische Hierarchie und die Vorbildfunktion des Offiziers, dessen Befehlen bedingungslos Folge geleistet werden musste. Diese Denkweise sollte später für seine Vorstellung des „neuen Menschen“ von entscheidender Bedeutung sein. Starace konnte sich wie viele Kriegsheimkehrer nicht im zivilen Leben einrichten und stilisierte sich selbst zum „neuen Menschen“, der im Krieg geschmiedet worden sei. Später sollte er aus seiner Frontkämpfer- und Squadristenzeit die Berechtigung ableiten, die jungen Generationen zur Weiter109 „In
einer Rede in der Abgeordnetenkammer sagte ich, dass es besser sei, sich mehr um den Charakter zu kümmern, statt die Köpfe mit Wissen zu füllen. Stattdessen hat man mehr geredet, als sich wirklich um die Sitten zu kümmern. Zu viele Aufgaben, zu viel schmückendes Beiwerk, zu viele Lieder, auch für die Jugendlichen, die die Träger eines neuen Systems werden sollten. Ich erinnere mich, dass auch ich mich vom triumphalen Marsch des Enthusiasmus habe mitreißen lassen. Für uns Italiener ist es schwer, der Musik und den Liedern zu widerstehen.“ Soliloquio in „libertà“ all’isola Trimellone, 20. 3. 1945, in: OO, Bd. XXXII, S. 168–182, hier S. 178. „Der Enthusiasmus reicht nicht aus, um von einem Moment auf den anderen den Charakter eines Volkes zu ändern, das heißt, um es reifen zu lassen, es an die neuen Anforderungen, an die neuen Bedürfnisse anzupassen, um ihm die Ehre und den Stolz einer großen Macht zu verleihen.“ Conversazione con Maddalena Mollier, Anfang März 1945, in: OO, Bd. XXXII, S. 157– 161, hier S. 160. 110 Zur Biographie Staraces siehe: Sandro Setta, Achille Starace, in: Cordova (Hrsg.), Uomini e volti del fascismo, S. 443–472; Roberto Festorazzi, Starace. Il mastino della rivoluzione fascista, Mailand 2002; Antonio Spinosa, Starace. L’uomo che inventò lo stile fascista, Mailand 2002. Lechner bewertet die Studien von Spinosa und Festorazzi als „populärwissenschaftlich“ und fügt an: „Beide Arbeiten sind wenig kritisch, Spinosa geht es vor allem um eine Rehabilitierung des ,capitano‘.“ Stefan Lechner, Die Eroberung der Fremdstämmigen. Provinzfaschismus in Südtirol 1921–1926, Bozen 2005, S. 75, Anm. 115. Emilio Gentile bemerkt: „Die Person Starace, wie auch die anderen Generalsekretäre des PNF, hätte mehr Aufmerksamkeit verdient, als die bisherigen allzu einfachen Anmerkungen zum Verhalten.“ Gentile, Via italiana al totalitarismo, S. 119. 111 Vgl. Setta, Achille Starace, S. 452. 112 Vgl. Spinosa, Starace, S. 10–14.
2. Achille Starace – der Parteisekretär 41
führung der von seiner Generation begonnenen Revolution zu erziehen. In der allumfassenden Vorbereitung der Jugend auf die Weiterführung der Revolution sah er dann auch das wichtigste faschistische Erziehungsziel.113 1920 beauftragte Mussolini den Bersaglieri-Hauptmann mit der Bildung des Fascio von Trient. In Ermangelung einer starken Linken in der Region fanden die Faschisten ihr Feindbild dort in den Deutschen, sodass die politischen Ziele seines Fascio in einer stärkeren Italianisierungspolitik bestanden.114 Starace befasste sich in der Zeit nicht mit der Ausarbeitung eines zukunftsweisenden Programmes für die Partei. Der entschiedene Karrierist wartete vielmehr, in welche Richtung sich theoretische Diskussionen entwickelten, und bezog erst Position, nachdem die Richtungsentscheidung gefallen war.115 Dann kamen ihm sein Organisationstalent und sein Eifer bei der Umsetzung zugute.116 Während seiner Trienter Zeit machte er durch squadristische Aktionen auf sich aufmerksam, die er federführend organisierte, wie etwa den „Bozner Blutsonntag“ oder den „Marsch auf Bozen“.117 In einem 1921 erstellten Bericht heißt es über ihn, er sei „,intelligent und kultiviert‘, jedoch habe er einen gewalttätigen Charakter und die ‚Mentalität des Krieges beibehalten‘“.118 Nach seiner Trienter Zeit bekleidete Starace eine Vielzahl an Posten in der faschistischen Partei. So wählte man ihn im Oktober 1921 zum Vizeparteisekretär, seit 1923 führte er die Miliz in Triest, 1924 wurde er Parlamentsabgeordneter. Auf dem Zenit seiner Macht fungierte er von 1931 bis 1939 als Parteisekretär119 und leitete dabei in Personalunion unter anderem die Freizeitorganisation Opera Nazionale Dopolavoro (OND), das Nationale Olympische Komitee Italiens (CONI), die Jugendorganisation der 18- bis 21-jährigen nichtstudentischen Männer Fasci Giovanili di Combattimento (FGC) und ab 1937 die aus FGC und ONB fusionierte Jugendorganisation GIL.120 113 Vgl.
etwa S.E. il Comandante generale della G.I.L. tiene rapporto ai vice comandanti federali, in: PdR, 22. 1. 1938, S. 2; PNF, FD, Nr. 1018, 23. 3. 1938; Nr. 1156 bis, 30. 9. 1938. 114 Vgl. Andrea Di Michele, Die unvollkommene Italianisierung. Politik und Verwaltung in Südtirol 1918–1943, Bozen 2008, S. 305; Lechner, Eroberung der Fremdstämmigen, S. 81. 115 Vgl. Sebastian B. Rappa, Achille Starace and the Italian Fascist Party, 1931–1939. The Creation of the Totalitarian Myth, PhD New York University 1977, S. 42. 116 Lechner konstatiert, dass Starace „als charismatische Führungspersönlichkeit den Faschismus in der Venezia Tridentina praktisch im Alleingang aufgebaut hatte“. Lechner, Eroberung der Fremdstämmigen, S. 99, ebenso S. 367. Diese Einschätzung spricht auch für sein Organisationstalent, das von Rappa mehrfach betont wird, vgl. Rappa, Achille Starace, S. 22, 163. 117 Vgl. Lechner, Eroberung der Fremdstämmigen, Kap. III.3, bes. S. 130. 118 Zit. nach ebenda, S. 76. Auch in einem 1919 über Starace angefertigten Bericht heißt es: „Offizier von außergewöhnlicher Intelligenz, Tapferkeit, Willen und körperlicher Ausdauer“. Zit. nach: Setta, Achille Starace, S. 447. 119 Von Februar bis August 1936 nahm er an den Kämpfen in Afrika teil und wurde durch Adelchi Serena vertreten. Seine wohl nicht von ihm selbst verfassten „Erinnerungen“ finden sich in: Achille Starace, Der Marsch nach Gondar. Eigenbericht aus dem Abessinischen Krieg, Wien 1937. 120 Von 1939 bis 1941 bekleidete er den Posten des Stabschefs der Miliz, wird 1941 brüsk abgesetzt und fällt in Ungnade. Zu den möglichen Gründen der Absetzung siehe: Setta, Achille Starace, S. 469 f.
42 I. Der „neue Mensch“ als faschistische Gesellschaftsutopie – drei Ansätze Welche Vorstellung eines „neuen Menschen“ entwickelte der im Krieg sozialisierte Süditaliener, der in seinen Parlamentsreden häufig die miserablen Zustände seiner Herkunftsregion anprangerte121 und für eine stärkere Italianisierungspoltik in seiner politischen Heimat im Norden eintrat? In den 1930er Jahren beschrieb er den „neuen Menschen“ gleichlautend mit folgenden Worten: „Der junge Fascist ist Ausdruck des neuen Italien. Sein ganzes Sein weiht er dem Streben, sich dessen würdig zu erweisen, was die vorhergehende Generation in Krieg und Revolution geleistet hat; und er bereitet sich vor, das Werk weiterzuführen. Mit eiserner Disziplin zügelt er seine Begeisterung, arbeitet an seiner moralischen, politischen und sozialen Entwicklung, kräftigt Körper und Geist, verachtet Gefahr, freut sich der Kühnheit und dient gläubig, leidenschaftlich und freudig der Sache des Faschismus.“122
Gläubiger Fackelträger der Revolution war sein „neuer Mensch“, diszipliniert, selbstoptimierend und kämpferisch. In seiner letzten Rede als Parteisekretär im November 1939 charakterisierte er den „neuen Menschen“, dessen Schaffung er seine ganze Aufmerksamkeit geschenkt habe, kurz mit dem bekannten Trinom „Glauben-Gehorchen-Kämpfen“: „Die Erschaffung des Menschen, des ‚neuen Italieners‘ von Mussolini, der in der Lage ist, zu glauben, zu gehorchen, zu kämpfen, ist in der Tat das beständige Ziel gewesen, welchem sich die Partei mit all ihren Kräften gewidmet hat.“123 Ein wahrhaft faschistisches Arkadien präsentierte Starace der italienischen Jugend in seinen Schriften also nicht. Die Vision von der Aussöhnung der mannigfachen Unterschiede zwischen Norden und Süden, beides Gebiete, die sich schwer mit der Eingliederung in die italienische Nation taten – die man bei einem Mann mit dem Hintergrund Staraces hätte erwarten können – findet keinen konkreten Niederschlag, wenn es um das Zukunftsbild eines „neuen Italieners“ geht. Doch weshalb blieb sein eigenes theoretisches Konzept so blass? Starace wird in der Literatur für gewöhnlich als Erfüllungsgehilfe Mussolinis beschrieben, als „Kretin“, der dem Duce gehorchte.124 Zeitgenossen wie Historiker 121 Vgl.
etwa Rede Staraces vor der Abgeordnetenkammer, in der er kritisierte, dass seine süditalienische Heimat dem restlichen Italien fünfzig Jahre hinterherhinke, Stato di previsione della spesa del Ministero del ministero dell’economia nazionale per l’esercizio finanziario dal 1° luglio 1924 al 30 giugno 1925, 25. 11. 1924, in: Atti parlamentari/ Camera dei deputati, XXVII Legislatura, Sessione 1924–1925, Bd. I (27. 5. 1924–29. 11. 1924), S. 788–797. 122 Achille Starace, Das Erziehungsideal des Fascismus, in: Europäische Revue 8 (1932), S. 704–708, hier S. 704; Achille Starace, Fasci Giovanili di Combattimento, Verona 1933, S. 25; Achille Starace, Gioventù italiana del Littorio, Mailand 1939, S. 65. 123 Achille Starace, 3. 11. 1939, zit. nach De Felice, Mussolini il duce. II., S. 538. 124 Es gibt kaum eine Darstellung, die nicht auf den Ausspruch Mussolinis verweist: „Er ist ein Kretin, ich weiß, aber er ist ein Kretin, der gehorcht.“ Vgl. etwa Schieder, Benito Mussolini [2014], S. 87; Spinosa, Starace, S. 64; Carlo Galeotti, Achille Starace e il vademecum dello stile fascista, Soveria Mannelli 2000, S. 16; Richard J.B. Bosworth, Mussolini, New Edition, London 2010, S. 210. Diese Aussage habe Mussolini gegenüber Leandro Arpinati getätigt, zeitweise Unterstaatssekretär im Innenministerium und erbitterter Gegner Staraces, der im Juli 1934 schließlich aus der Partei ausgeschlossen wurde. Vgl. PNF, FD, Nr. 269, 23. 7. 1934; Bosworth, Mussolini, S. 226. Aufgrund der Demontage durch Starace verwundert es nicht, dass Arpinati eine solche Äußerung über Starace in die Welt gesetzt hat.
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attestierten ihm begrenzte Intelligenz und Unfähigkeit.125 Die Abwertung Staraces gipfelt in der wenig schmeichelhaften Einschätzung eines Biographen, der gar die Wörter „denken“ und „Starace“ als Oxymoron verstanden haben will.126 Dass ihm aufgrund seiner Ausbildung die kulturelle Tiefe etwa eines Bottai fehlte, kann wohl konstatiert werden.127 Dass er jedoch unfähig war,128 eine eigene Vision auszuarbeiten, erscheint unwahrscheinlich. Er dürfte eher schlau genug gewesen sein, es nicht zu tun. In seinen (wenigen und häufig identischen129) Schriften stilisierte er sich zu einem mussolinigläubigen, gehorsamen Soldaten, der die Befehle des Duce, gemäß seiner idealisierten Vorstellung des hierarchischen SoldatOffizier-Verhältnisses,130 bedingungslos umsetzte. In seinen Veröffentlichungen verschanzte er sich regelrecht hinter Zitaten Mussolinis und war stets darauf bedacht, nicht zu hell neben diesem zu strahlen.131 So forderte er 1938 nur noch die Nennung seines Amtes und nicht seines Namens und verbot den Abdruck seiner Fotos.132 Staraces öffentliches Auftreten, genauer gesagt: sein Agieren im Schatten Mussolinis war offensichtlich kalkuliert. Mussolini duldete nicht zu viel Eigeninitiative und Selbstprofilierung an seiner Seite, die Starace möglicherweise seinen Posten gekostet hätten. Und als Prototyp des „neuen Menschen“ ging es Starace nicht zuletzt auch um die Zurschaustellung seiner bedingungslosen Gefolgschaft gegenüber dem Duce,133 der auch seine Leser nachzueifern hatten. Die Botschaft war einfach: Mussolini hatte die Vision, die Weisheit und den Weitblick, seinem Gefolge/Volk kam die Umsetzung zu. Diese aus Staraces militärischem Ethos entspringende bedingungslose Gefolgschaft gegenüber Mussolini und die Imitation dessen propagierten Verhaltens134 kann als zentrale Erwartung Staraces an den „neuen Menschen“ verstanden werden, zu dessen ersten Repräsentanten (nach Mussolini) er sich selbst stilisierte. 125 Dass
Starace von geringer Intelligenz war, hält etwa De Felice für unbestritten, vgl. De Felice, Mussolini il duce. I., S. 216. Vgl. die zeitgenössischen Briefe und Berichte über die Peinlichkeiten Staraces, in: ACS, SPD, Carteggio Riservato (künftig: CR), b. 94, f. Starace. 126 Vgl. Galeotti, Achille Starace, S. 12. 127 Vgl. Setta, Achille Starace, S. 451. 128 Berichte über ihn aus den Jahren 1919 und 1921 heben durchaus die Intelligenz Staraces hervor: Vgl. den Bericht von 1921, in dem er als „intelligent und kultiviert“ beschrieben wird, zit. nach Lechner, Eroberung der Fremdstämmigen, S. 76. Auch in einem 1919 über Starace angefertigten Bericht heißt es: „Offizier von außergewöhnlicher Intelligenz, Tapferkeit, Willen und körperlicher Ausdauer“. Zit. nach Setta, Achille Starace, S. 447. 129 Vgl. Kap. IV „Per l’educazione dei giovani fascisti“ in: Starace, Fasci Giovanili di Combattimento, und Kap. VIII „Il giovane fascista espressione della nuova Italia“ in: Starace, Gioventù italiana del Littorio, die in weiten Teilen identische Textbausteine beinhalten. Häufig wurde nur der Name der alten Jugendorganisation (FGC) durch den der neuen (GIL) ersetzt. 130 Vgl. Starace, Gioventù italiana del Littorio, S. 66. 131 Vgl. etwa PNF, FD, 13. 5. 1933; 9. 6. 1933; Nr. 405, 19. 5. 1935. 132 Vgl. PNF, FD, Nr. 1110, 6. 7. 1938. 133 Vgl. die Rede Staraces, 12. 12. 1931, abgedruckt in: OO, Bd. XXV, S. 71, Anm.; Rede Staraces, 25. 10. 1938, abgedruckt in: OO, Bd. XXIX, S. 185 f., Anm. 134 Vgl. Starace, Gioventù italiana del Littorio, S. 69, 72.
44 I. Der „neue Mensch“ als faschistische Gesellschaftsutopie – drei Ansätze Auch wenn Starace keine inhaltlich eigenständige Konzeption des „neuen Menschen“ entwarf, war er auf diesem Feld im Sinne Mussolinis in der Praxis aktiv. Er verstand sich als Transmitter und Multiplikator der Ideen Mussolinis, die er auf das tägliche Leben der Italiener herunterbrach. Dafür erließ er während seiner Amtszeit eine Flut an Vorgaben, die nahezu täglich in den Anordnungsblättern der Partei (Fogli di Disposizioni) erschienen135 und darauf zielten, die Lebensweise der Italiener von Grund auf zu ändern und durch den „neuen faschistischen Stil“ zu ersetzen. Als eine Art learning/internalizing by doing könnte man die Intention Staraces beschreiben, die Italiener durch das Praktizieren der Vorgaben umzuformen. Die Anweisungen zielten zunächst darauf ab, das Verhalten der Mitglieder faschistischer Organisationen zu vereinheitlichen und zogen dann immer weitere Kreise, bis sie schließlich Anwendung auf die ganze Gesellschaft finden sollten. Beispielhaft dafür ist die häufig belächelte Antilei-Kampagne: Starace verfügte zunächst, dass die Mitglieder der GIL-Jugendorganisation statt dem lei spanischen Ursprungs nur noch das tu „als Zeichen einer intimeren Kameradschaft und Glaubensgemeinschaft“ verwenden sollten.136 In den folgenden Monaten wurde die AntileiKampagne derart ausgeweitet,137 sodass nur noch Korrespondenz bearbeitet werden sollte, die sich an diese neuen Vorgaben hielt. Die Parteipresse durfte nun nur noch Erzeugnisse abdrucken, die im faschistischen tu-Stil verfasst waren. Ein weiterer Grund, der dazu geführt haben mag, dass Starace kein elaborierteres Programm ausarbeitete, besteht in seiner Stilisierung zum Antibürgerlichen. Der Antipode des „neuen Italieners“ und erklärtes Feindbild Staraces war der Bürgerliche, der sinnbildlich für das alte Italien stand. Bürgerlich und Faschistisch schlossen sich in der veröffentlichten Vorstellungswelt Staraces aus, und Attribute des Bürgerlichen standen denen des Faschisten entgegen. Der Bürgerliche war ein Stubenhocker, der sein ganzes Wissen aus Büchern und nicht aus den täglichen Erfahrungen schöpfte und sich diametral vom Prototyp des „neuen Menschen“ unterschied. In seiner Schrift über die Jugendorganisation GIL schrieb Starace: „Ich muss offen sagen, dass ich nie Traktate über Pädagogik, Moralphilosophie, Leibeserziehung studiert habe. Die Familie, die Schule, die Armee, der Krieg, die Revolution, das Leben haben mich zu dem gemacht, was ich bin. […] Ich kann also keine – und selbst wenn ich es könnte, würde ich es nicht tun – systematische Abhandlung des Themas leisten. Ich ziehe aus meiner Erfahrung die wenigen Regeln, die ich als fundamental für die jungen Faschisten halte.“138
Seit 1934 attackierte er in seinen Vorgaben immer heftiger die überholten Verhaltensweisen der Bürgerlichen, um daraus die „richtigen“ Verhaltensweisen des 135 Während
seiner achtjährigen Parteiherrschaft gab er rund 1500 zunächst nicht nummerierte Anordnungsblätter (Fogli di disposizioni) heraus. Vgl. Rocco Luigi Nichil, La retorica del regime attraverso i Fogli di disposizioni di Achille Starace: la questione della razza, in: Enzo Caffarelli/Massimo Fanfani (Hrsg.), Lo spettacolo delle parole. Studi di storia linguistica e di onomastica in ricordo di Sergio Raffaelli, Rom 2011, S. 237–254, hier S. 237, Anm. 1. 136 PNF, FD, Nr. 983, 14. 2. 1938. 137 PNF, FD, Nr. 984, 15. 2. 1938; Nr. 1046, 20. 4. 1938; Nr. 1109, 5. 7. 1938; Nr. 1112, 8. 7. 1938; Nr. 1123, 25. 7. 1938; Nr. 1347 bis, 19. 6. 1939; Nr. 1393 bis, 19. 8. 1939. 138 Starace, Gioventù italiana del Littorio, S. 66.
2. Achille Starace – der Parteisekretär 45
neuen faschistischen Zeitalters abzuleiten. Exemplarisch für Staraces Kritik ist ein Anordnungsblatt aus dem Jahre 1935, in dem er die bürgerliche Gesellschaft wegen ihrer Bequemlichkeit, Selbstbezogenheit und Auslandstümelei (Kommunikation in feinen Salons in Fremdsprachen, Urlaub im Ausland, Konsum ausländischer Waren) kritisierte und sie eines mangelnden Nationalgefühls verdächtigte. Er prangerte ihre Interessen, die lediglich der neuesten Mode, dem exotischen Haustier und der nächsten Diät gälten, an und warf ihnen Geburtenarmut und Unsportlichkeit vor, da sie allein ausländische „Sportarten“ wie Poker und Bridge praktizieren würden.139 Im Zuge der Rassenkampagne bezichtigte er sie darüber hinaus der Judensympathie. In einem Aufruf, Karikaturen für eine antibürger liche Ausstellung anzufertigen, heißt es zu den möglichen Themen: „Händedruck, Anzug mit Zylinder, Verbeugung, Hutabnehmen, Redner, Gesellschaftsspiele, Fünf-Uhr-Tee, Sommerfrische und Geckengruß“ auch „Mitleid mit den Juden“.140 Ein wahrer Faschist konnte kein Mitleid mit den Juden empfinden und sollte er sich doch für Juden einsetzen, so drohte ihm der Parteiausschluss.141 Nicht nur die bürgerlichen Judensympathisanten, sondern auch die Juden selbst wurden nun zu Gegnern des „neuen Menschen“. Es zeigt sich daran, dass die Gegenbilder des „neuen Menschen“ beliebig erweitert werden konnten und so anpassungs fähig an neue Situationen blieben. Der neue faschistische Stil sollte die eben angesprochenen vecchie usanze, die „alten Gewohnheiten“, ersetzen und zielte vorrangig auf Vereinheitlichung, Militarisierung und Aktionismus in den drei Bereichen Sprache, Verhalten und äußeres Erscheinungsbild. Durch die anfängliche Imitation der Vorgaben erwartete sich Starace schließlich deren Internalisierung und damit die Schaffung des „neuen faschistischen Menschen“. In seinen Vorgaben zur (Schrift-)Sprache forderte er die Ersetzung von Wörtern, die zu undynamisch, „fremden“, etwa britischen oder französischen Ursprungs waren oder durch die „alte Zeit“ kompromittiert schienen.142 Eines der Wörter, das Starace verbannt wissen wollte, war die „Einsetzung“ (insediamento), die ihm wegen des „Sitzens“ zu wenig dynamisch erschien.143 Ebenso dynamisch, knapp und bevorzugt im Telegrammstil sollten Reden und Berichte gehalten sein, um die „tratschenden“ und „wild gestikulierenden Italiener“ zum konzisen Berichterstatten über das Geleistete anzuhalten.144 Insgesamt, so bemerkte Starace, müsse die Sprache martialischer werden. Er selbst verwendete häufig der Militär139 Vgl. PNF, FD, Nr. 399, 9. 5. 1935. 140 PNF, FD, Nr. 1200, 29. 11. 1938. 141 Vgl. PNF, FD, Nr. 1341, 7. 6. 1939. 142 Vgl. PNF, FD, 15. 4. 1932; 4. 9. 1933;
Nr. 1155, 24. 9. 1938; Nr. 1277, 4. 3. 1939; Nr. 1349, 21. 6. 1939. 143 Vgl. PNF, FD, Nr. 355, 4. 2. 1935. 144 Vgl. PNF, FD, Nr. 190, 30. 12. 1933; Nr. 290, 19. 9. 1934; Nr. 501, 29. 11. 1935; Nr. 702, 24. 12. 1936; Nr. 889, 21. 10. 1937; Nr. 895, 3. 11. 1937; Nr. 1039, 13. 4. 1938; Starace, Fasci Giovanili di Combattimento, S. 28. Dabei wurde der erwartete Stil auch an neue Gegebenheiten angepasst: Während des Abessinienkrieges wurde etwa noch häufiger auf die Kurzberichterstattung gedrungen, um damit auch der Ressourcenknappheit in Form von Papier Rechnung zu tragen. Vgl. PNF, FD, Nr. 480, 5. 11. 1935; Nr. 498, 26. 11. 1935.
46 I. Der „neue Mensch“ als faschistische Gesellschaftsutopie – drei Ansätze sprache entlehnte Begriffe, wie bei folgender Forderung: „Auch die Ausdrucksweise ist eine Frontlinie, auf die wir früher oder später zielen müssen.“145 Militärische Begriffe, wie die hier verwendete „Frontlinie“, müssten stärkeren Eingang in den täglichen Sprachgebrauch finden, um auch so die attestierte pazifistische Mentalität der alten Italiener umzuformen. Staraces Intentionen deckten sich mit den Beobachtungen des Romanisten und Philologen Victor Klemperer, der bemerkte: „Wörter können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“146 Auch die Überhöhung Mussolinis und die zeitgleiche Entpersonalisierung der anderen Ämter zeigten sich in der Sprache. 1933 verfügte Starace, dass der „DUCE“ von nun an nur noch in Majuskeln geschrieben werden durfte.147 Um den Italienern ihren Individualismus auszutreiben, verbot Starace zugleich die Namensnennung von Personen und betonte die ausschließliche Bedeutung des Amtes und nicht der Person.148 Das Individuum sollte immer mehr zum Mensch in der Masse werden; von Bedeutung war allein die Funktion im System. Neben den Vorgaben zur Sprachgestaltung kümmerte sich Starace darum, welche Artikel und Bücher zu lesen oder bei Veranstaltungen vorzulesen seien. In den Anordnungsblättern wurde zumeist im letzten Punkt ein „Literaturtipp“ gegeben. Zentral waren dabei die Artikel aus dem Popolo d’Italia, Il primo libro del Fascista, Geschichten über das ruhmreiche Vaterland und dessen Märtyrer sowie Schriften und Reden der Mussolini-Brüder.149 Acht Jahre nach dem Tod Arnaldo Mussolinis wurde aus dessen Schriften der „Dekalog des neuen Italieners“150 zusammengestellt, der die erwünschte faschistische Lebensweise mit den typischen Vokabeln Mühe, Pflicht, Verantwortung, Gefahr, Unnachgiebigkeit, Arbeit, Gehorchen und Kommandieren, Glaube, Zivilisation, Soldat und Vorbild beschrieb. Der Dekalog war bei Arnaldo-Gedenkfeiern vollständig zu verlesen. Neben der Sprache galt es auch, das Verhalten der Italiener zu modifizieren. Dynamik, Tatendrang, Eifer, Verlässlichkeit, Disziplin und Präzision zeichneten den Faschisten in Staraces Denken aus. Funktionsträger der Partei mussten sich ihrer Vorbildrolle jederzeit bewusst sein und wurden durch Staraces Vorgaben gebetsmühlenartig daran erinnert. Sie hatten sich durch zentrale Werte wie Glaube, Fleiß und Kampfgeist von den alten Italienern zu unterscheiden und sollten bei nachlassendem Eifer durch neue „Würdenträger“ ersetzt werden.151 Prokrastina 145 PNF, FD, Nr. 355, 4. 2. 1935. 146 Er fährt dann fort: „Wenn einer
lange genug für heldisch und tugendhaft: fanatisch sagt, glaubt er schließlich wirklich, ein Fanatiker sei ein tugendhafter Held, und ohne Fanatismus könne man kein Held sein“. Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, Berlin 1949, S. 21. 147 Vgl. PNF, FD, 11. 2. 1933; 22. 2. 1933. 148 Vgl. PNF, FD, 29. 9. 1933; Nr. 202, 31. 1. 1934; Nr. 254, 7. 6. 1934; Nr. 1023, 28. 3. 1938. 149 Vgl. etwa Achille Starace, Das Erziehungsideal des Fascismus, in: Europäische Revue 8 (1932), S. 704–708, hier S. 705; PNF, FD, 10. 9. 1932; Nr. 1209, 8. 12. 1938; Starace, Gioventù italiana del Littorio, S. 69. 150 Vgl. Il decalogo dell’Italiano nuovo tratto dagli scritti e dai discorsi di Arnaldo, in: PNF/GIL, Notiziario, Nr. 107, 2. 1. 1940 (ACS, Presidenza del Consiglio dei Ministri [künftig: PCM], 1937–1939, b. 2133, f. 1.1.15.3500, sf. 19). 151 Vgl. PNF, FD, Nr. 321, 21. 11. 1934.
2. Achille Starace – der Parteisekretär 47
tion und Unpünktlichkeit wurden von Starace besonders häufig als „unfaschistisch“ gegeißelt;152 die sportliche Betätigung mit Nachdruck gefordert.153 Auch die Presse wurde immer wieder angehalten, Bilder von Parteifunktionären „in Aktion“ zu drucken und nicht in „Wartehaltung“.154 Sie sollten stets athletisch und dynamisch erscheinen und bei dem häufig belächelten sportlichen Kräftemessen in Rom ihre Vorbildrolle unter Beweis stellen.155 Besonderes Augenmerk lag auf drei weiteren Neuerungen: Erstens, der Einführung des „faschistischen Samstags“ (sabato fascista) mit dem Ziel der politischsportlich-militärischen Weiterbildung von Jung und Alt,156 zweitens, der Einführung des disziplinierenden, gemeinschaftlichen römischen Paradeschritts157 sowie drittens, der Art und Weise des römischen Grüßens, nämlich stets stehend mit erhobenem rechten Arm und als Ersatz des bürgerlichen Händeschüttelns.158 Selbst für das Grüßen wurde das antike Vorbild bemüht, das so freilich nie existierte.159 Die Jugendlichen waren aufgefordert, an den detailliert geplanten Para den,160 an sportlich-vormilitärischen Übungen, an Appellen und Ausflügen zu Kriegsdenkmälern, Schlachtfeldern und Kriegsgräbern teilzunehmen, um so den kriegerischen Geist und die Muskeln zu schmieden.161 Auch die Älteren sollten in der Freizeitorganisation durch gemeinsame Reisen und ein Sportprogramm kollektiv körperlich und mental trainiert werden.162 Dafür schlug Starace konkrete Sportarten vor, die seiner Meinung nach besonders geeignet waren, die Italiener zu optimieren und deren Kampfgeist zu schulen.163 Interessant ist auch im Hinblick auf die Suggestion einer entstehenden Meritokratie die häufig geäußerte 152 Vgl. 153 Vgl. 154 Vgl. 155 Vgl.
PNF, FD, 28. 9. 1932; 12. 7. 1933; 16. 8. 1933; Nr. 345, 19. 1. 1935. PNF, FD, 8. 7. 1933. PNF, FD, Nr. 544, 21. 2. 1935. PNF, FD, Nr. 1370 bis, 27. 7. 1939. Vgl. darüber hinaus den undatierten Zeitungsartikel mit dem Titel „I gerarchi iniziano le prove atletiche guidati dal Segretario del Partito“ und dem handschriftlichen Vermerk „Erkennt ihr nicht den Unfug, den dieser Spinner Tag für Tag macht? Seht ihr nicht, dass ganz Italien lacht?“, in: ACS, SPD, CR, b. 94, f. Starace. 156 Vgl. PNF, FD, Nr. 422, 9. 7. 1935; Nr. 427, 16. 7. 1935; Nr. 445, 20. 8. 1935; Nr. 496, 24. 11. 1935; Nr. 701, 23. 12. 1936; Nr. 756, 3. 3. 1937; Nr. 818, 29. 5. 1937; Nr. 925, 8. 12. 1937; Nr. 1165, 11. 10. 1938; Nr. 1249, 29. 1. 1939; Nr. 1287, 14. 3. 1939; Nr. 1293, 20. 3. 1939; Nr. 1311, 17. 4. 1939. 157 Vgl. PNF, FD, Nr. 973, 4. 2. 1938. 158 Vgl. PNF, FD, 28. 8. 1932; Nr. 50, 20. 11. 1932; Nr. 272, 31. 7. 1934; Nr. 603, 24. 6. 1936; Nr. 706, 2. 1. 1937; Nr. 734, 3. 2. 1937; Nr. 1296, 27. 3. 1939. 159 Martin M. Winkler bemerkt: „the term ‚Roman salute‘ is a misnomer. Not a single Roman work of art – sculpture, coinage, or painting – displays a salute of the kind that is found in Fascism, Nazism, and related ideologies. It is also unknown to Roman literature and is never mentioned by ancient historians of either republican or imperial Rome.“ Martin M. Winkler, The Roman Salute. Cinema, History, Ideology, Columbus 2009, S. 2. 160 Vgl. etwa PNF, FD, Nr. 223, 19. 3. 1934; Nr. 1346, 17. 6. 1939. 161 Starace, Gioventù italiana del Littorio, S. 68, 73. 162 Vgl. Achille Starace, L’Opera Nazionale Dopolavoro, Verona 1933, S. 12, 45–49. 163 Vgl. etwa PNF, FD, 22. 1. 1932; 29. 9. 1932; Nr. 213, 2. 3. 1934; Nr. 338, 1. 1. 1935; Nr. 482, 9. 11. 1935. Dazu zählten widersprüchlicherweise auch die Individualsportarten Leichtathletik, Tennis, Fechten, Schwimmen, Boxen oder das „ausländische“ Rugby, für das dann schnell der italienische Begriff „palla-ovale“ eingeführt wurde, vgl. PNF, FD, 29. 9. 1932.
48 I. Der „neue Mensch“ als faschistische Gesellschaftsutopie – drei Ansätze Kritik Staraces an Günstlingswirtschaft (favoritismo) und Empfehlungsschreiben, einem unsittlichen Verhalten der alten Zeit, das noch nicht der Erkenntnis Rechnung trage, dass allein die Leistung des Bewerbers zähle und nicht Privilegien.164 Jeder sollte seine Bestleistung für das Kollektiv geben und keiner mehr aufgrund seiner sozialen Stellung ausgeschlossen werden, so die egalisierende Verheißung. Bestes Beispiel für die Realisierung war auch hier wieder Mussolini selbst, dem es als Sohn eines einfachen Schmiedes aufgrund seiner Willens- und Tatkraft gelungen war, zum Führer der italienischen Nation aufzusteigen.165 Schließlich ließ sich der „neue Mensch“ bereits durch sein äußeres Erscheinungsbild erkennen. Die äußere Veränderung sollte dabei auf das Innere rückwirken.166 Akribisch schrieb Starace die Art und Weise des Tragens der Uniformen, der Schwarzhemden (nicht täglich, niemals mit gestärktem Kragen im Stil eines Gecken oder mit hochgeschlagenen Ärmeln!) und der Abzeichen sommers wie winters in der Heimat und den Kolonien, bei Mann und Frau vor, um so auch äußerlich aus einem heterogenen Haufen eine homogene Masse zu formen.167 Durch die Veröffentlichung von Negativbeispielen suchte er die Ordnung zu erreichen und den Lesern zu suggerieren, dass er über alle Entwicklungen informiert sei, um so ein Gefühl der permanten Überwachung zu kreieren. So rügte er etwa in einem Anordnungsblatt: „Auf dem Corso Armaioli in Terni sind einige Jungfaschisten mit unordentlicher Uniform erschienen.“168 Die angestrebte Vereinheitlichung wurde aber weder vollständig erreicht, noch waren Staraces Anordnungen frei von Widersprüchen und Inkonsequenzen. So hob er beispielsweise Folklore in Form von regionalen Tänzen, Trachten, Dialekten und Festen in der Schrift zur OND positiv hervor.169 Hierbei wurde nun ge rade auf regional diverse Kleidung, Sprache und Verhalten abgezielt, die der an 164 Vgl.
PNF, FD, 8. 2. 1933; 21. 8. 1933; Nr. 277, 14. 8. 1934; Nr. 1353, 29. 6. 1939; Nr. 1402, 30. 8. 1939; zur Kritik am Favoritismus bei der Ferienplatzvergabe für Kinder: PNF, FD, 6. 7. 1932. Konterkariert wurde dies gleichwohl durch die von Starace unternommenen Versuche, antemarcia-Parteiangehörige bevorzugt in Lohn und Brot zu bringen, vgl. PNF, FD, Nr. 226, 22. 3. 1934; Nr. 290, 19. 9. 1934; Nr. 665, 7. 11. 1936. 165 Vgl. Luigi Timbaldi, Il fascismo spiegato al popolo, Padua 1936, S. 140. Mussolini verkörperte damit gewissermaßen auch den homo novus der Römischen Republik in seinem ursprünglichen Begriffsgebrauch. Vgl. zur Verwendung des Begriffes in der Antike: H. Strasburger, Novus Homo, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, 33. Halbband: Nereiden bis Numantia, Stuttgart 1936, Sp. 1223–1228. 166 Vgl. Emilio Gentile, The Problem of the Party in Italian Fascism, in: Journal of Contemporary History 19 (1984), 2, S. 251–274, hier S. 268. 167 Vgl. PNF, FD, Nr. 4, 13. 1. 1932; 19. 2. 1932; 25. 5. 1932; 16. 8. 1932; 28. 8. 1932; 10. 10. 1932; Nr. 93, 22. 3. 1933; 8. 9. 1933; Nr. 180, 20. 11. 1933; Nr. 182, 29. 11. 1933; Nr. 193, 12. 1. 1934; Nr. 231, 7. 4. 1934; Nr. 233, 11. 4. 1934; Nr. 239, 7. 5. 1934; Nr. 252, 23. 5. 1934; Nr. 259, 19. 6. 1934; Nr. 309, 29. 10. 1934; Nr. 313, 6. 11. 1934; Nr. 420, 2. 7. 1935; Nr. 434, 27. 7. 1935; Nr. 577, 25. 4. 1936; Nr. 757, 4. 3. 1937; Nr. 821, 9. 6. 1937; Nr. 837, 8. 7. 1937; Nr. 843, 26. 7. 1937; Nr. 851, 6. 8. 1937; Nr. 882, 10. 10. 1937; Nr. 895, 3. 11. 1937; Nr. 946, 6. 1. 1938; Nr. 958, 20. 1. 1938; Nr. 974, 5. 2. 1938; Nr. 981, 12. 2. 1938; Nr. 1118, 17. 7. 1938; Nr. 1123, 25. 7. 1938; Nr. 1133, 16. 8. 1938; Nr. 1176, 28. 10. 1938; Nr. 1177, 30. 10. 1938; Nr. 1202, 1. 12. 1938; Nr. 1202 bis, 1. 12. 1938; Nr. 1271, 25. 2. 1939; Nr. 1286, 13. 3. 1939; Nr. 1315, 23. 4. 1939. 168 PNF, FD, Nr. 360, 23. 2. 1935. 169 Vgl. Starace, Opera Nazionale Dopolavoro, S. 62 f.
2. Achille Starace – der Parteisekretär 49
gestrebten Schaffung nationaler Einheitlichkeit widersprachen. Solche Beispiele zeugen von der Erkenntnis der Faschisten, dass man zumindest der älteren Generation ihre Regionalia nicht verbieten konnte. Diese hier nur kursorisch aufgeführten Bestimmungen Staraces vermitteln einen Eindruck von seinen Anstrengungen, zunächst das Verhalten der Parteimitglieder zu vereinheitlichen. Sie sollten zu disziplinierten Vorbildern geformt werden, damit sie widerum dem italienischen Volk als leuchtende Vorbilder dienten und es animierten, ihnen nachzueifern. Von der Kraft des Beispiels („Nichts ist wirksamer als das Beispiel!“),170 das Starace immer wieder in seinen Veröffentlichungen beschwor, hing in seinen Augen wesentlich der Erfolg der Umformung ab.171 Alle Italiener waren zur bedingungslosen Gefolgschaft, zum bedingungs losen Glauben an die weise Führung durch den Duce und zugleich zur aktiven, disziplinierten Partizipation aufgerufen.172 Sie sollten sich selbst optimieren, sich zum „neuen Menschen“ des faschistischen Zeitalters wandeln, um so gemeinsam das vom Duce in Aussicht gestellte Heil zu erreichen. Zum Ende seiner Amtszeit als Parteisekretär konstatierte Starace optimistisch, dass das zur Gesellschaftsumformung notwendige Instrumentarium, also die Partei mit ihren vielen verschiedenen Organisationen nun vollständig geschaffen sei.173 Bereits zuvor hatte er vollmundig verkündet, dass die „Umerziehung von Mentalität und Seele des italienischen Volkes nun als abgeschlossen betrachtet werden kann“.174 Zweifel am Gelingen des Vorhabens ließ er nicht zu, denn das Schicksal, eine der häufig benutzten Vokabeln zur Transzendierung des Irdischen, sei dem Faschismus hold: „Der Kampf um den Stil schreitet voran, aber erfordert nicht den Gebrauch von außergewöhnlichen Mitteln, weil die unwiderstehliche formende Kraft des Faschismus schicksalhaft dazu bestimmt ist, die letzten, vagen Widerstände der alten gebrochenen Welt zu überwinden.“175 Der Umformung war nach der Lesart der Erfolg vorbestimmt. Auch wenn hier noch nicht der Ort ist, die Wirksamkeit der Ideen Staraces zu beurteilen, so soll doch kurz darauf verwiesen werden, dass die Forschung, die dessen Bestrebungen lange Zeit bloß als entpolitisierte Choreographie abquali fizierte,176 mittlerweile auch darauf verweist, dass „the regime’s obsession with forging ‚new‘ Italians was internalised to the point of generating a desire to transcend old bourgeois and liberal habits and become attuned to the revolutionary mindset of fascism“.177 170 PNF, FD, Nr. 182, 29. 11. 1933. 171 Achille Starace, Das Erziehungsideal
des Fascismus, in: Europäische Revue 8 (1932), S. 704–708, hier S. 704 f.; Starace, Fasci Giovanili di Combattimento, S. 23. 172 Vgl. Starace, Opera Nazionale Dopolavoro, S. 95; PNF, FD, Nr. 1425, 5. 10. 1939. 173 Vgl. Gentile, Via italiana al totalitarismo, S. 203 f. 174 Vgl. den undatierten Zeitungsartikel: Il discorso dell’on. Starace, in: ACS, SPD, CR, b. 94, f. Starace. 175 PNF, FD, Nr. 406, 23. 5. 1935. 176 Vgl. Aquarone, Organizzazione dello Stato totalitario, S. 182 f.; Rappa, Achille Starace, S. 190 f., 291 f.; De Felice, Mussolini il duce. I., S. 216 f. 177 Christopher Duggan, Fascist Voices. An Intimate History of Mussolini’s Italy, London 2013, S. XX.
50 I. Der „neue Mensch“ als faschistische Gesellschaftsutopie – drei Ansätze
3. Renato Ricci – der Jugendführer Renato Ricci178 prägte als Jugendführer zehn Jahre lang maßgeblich die Jugendorganisation Opera Nazionale Balilla, die als „faschistischste aller faschistischen Organisationen“179 und vor allem als „Schmiede der neuen Italiener“180 beschrieben wurde. Der 1896 in der Marmorregion Carrara geborene Ricci stammte aus bescheidenen Verhältnissen. Sein Vater war ursprünglich Steinbrucharbeiter und monarchistisch gesinnt.181 Ricci selbst machte eine Ausbildung zum Buchhalter, übte den Beruf jedoch nie aus.182 Die fehlende kulturelle Bildung Riccis kritisierte Mussolini später wiederholt und Ricci selbst versuchte dieses Manko durch Autodidaktismus wettzumachen.183 Unmittelbar nach seinem Abschluss meldete sich Ricci 1915 als Kriegsfreiwilliger, wurde militärisch ausgezeichnet und beteiligte sich nach Kriegsende an der Belagerung Fiumes an der Seite Gabriele D’Annunzios. Nach seiner Rückkehr stieg er im Fascio von Carrara, an dessen Gründung er federführend beteiligt war, zum Ras, zum faschistischen Provinzfürsten, auf und erregte mit seinen Gefolgsleuten durch deren „extreme Gewalttätigkeit und durch spektakuläre ‚militärische‘ Aktionen schon früh nationale Aufmerksamkeit“.184 Im Oktober 1922 eskortierte er mit seinen Anhängern Mussolinis Zug von Mailand nach Rom zum sogenannten Marsch auf Rom und gelangte dadurch immer mehr in dessen Nähe.185 Im Gegensatz zur Mehrheit der anderen Ras zeichnete sich Ricci durch seinen bedingungslosen Gehorsam gegenüber Mussolini aus, der bis in die Tage der Faschistischen Sozialrepublik (RSI) andauern sollte.186 Nach seiner Hochzeit mit der Tochter eines wohlhabenden Marmorunternehmers bezichtigte man Ricci wiederholt der Korruption und Vetternwirtschaft. Mussolinis Schutz verhinderte jedoch eine juristische Überprüfung.187 Persönliche Bereiche178 Zur
Biographie Renato Riccis siehe: Sandro Setta, Renato Ricci. Dallo squadrismo alla Repubblica Sociale Italiana, Bologna 1986; Giuseppe Zanzanaini, Renato Ricci. Fascista integrale, Mailand 2004. Settas Studie aus dem Jahre 1986 fällt in Teilen sehr wohl wollend, wenn nicht gar hagiographisch aus, ist aber dennoch sehr hilfreich, da Setta Material aus dem nunmehr unzugänglichen Privatarchiv Riccis zitiert. Der Studie von Giuseppe Zanzanaini fehlt ein Anmerkungsapparat. Darüber hinaus ähnelt sie sehr der Studie von Setta, sodass sie mit keinen neuen Erkenntissen aufwarten kann. 179 Zit. nach Setta, Renato Ricci, S. 178. 180 Renato Ricci, L’opera balilla, fucina degli italiani nuovi, in: Politica sociale 5 (1933), S. 687–690. 181 Vgl. Roger Engelmann, Provinzfaschismus in Italien. Politische Gewalt und Herrschaftsbildung in der Marmorregion Carrara 1921–1924, München 1992, S. 46. 182 Vgl. ebenda, S. 167. 183 Vgl. etwa Setta, Renato Ricci, S. 166–168; Koon, Believe, Obey, Fight, S. 95. 184 Engelmann, Provinzfaschismus in Italien, S. 11. 185 Ebenda, S. 211. 186 Vgl. etwa Setta, Renato Ricci, S. 118, 158, 206; Engelmann, Provinzfaschismus in Italien, S. 236. 187 Richard J.B. Bosworth, Mussolini’s Italy. Life under the Dictatorship 1915–1945, New York 2005, S. 289; Salvatore Lupo, Il fascismo. La politica in un regime totalitario, Rom 2005, S. 379 f., 430; Zanzanaini, Renato Ricci, S. 69; Koon, Believe, Obey, Fight, S. 95; Niccolò Zapponi, Il partito della gioventù. Le organizzazioni giovanili del fascismo 1926–1943, in: Storia Contemporanea 13 (1982), S. 569–633, hier S. 602 f.
3. Renato Ricci – der Jugendführer 51
rung, seine Nähe zu den Arbeitgebern in der Marmorregion und seine Bereitschaft zur extremen Gewaltanwendung waren eine Seite Riccis. Andererseits setzte er sich für sozialpolitische Maßnahmen ein, wie etwa der Schaffung einer Wohlfahrtseinrichtung für Marmorarbeiter mit angeschlossener Berufsvorbereitungsschule (Istituto di Previdenza e Assistenza operaia Renato Ricci). Er trat nachdrücklich für die Realisierung des integralen/nationalen Syndikalismus ein, d. h. eines Interessenausgleichs von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zum Wohle des Vaterlandes mit dem Ziel der Beseitigung sozialer Antagonismen, die den Klassenkampf obsolet machten. Trotzdem unterstützte er 1924 einen Arbeiterstreik. Dies brachte ihm bei den Gegnern des Carrareser PNF den Ruf ein, einen „schwarzen Bolschewismus“ zu fördern.188 Riccis Verhalten blieb ambivalent und verweist auf die Schwierigkeit, seine tatsächlichen (politischen) Überzeugungen nachzuvollziehen. Hinzu kommt, dass es nur wenige schriftliche Zeugnisse aus seiner squadristischen Frühphase gibt, die es erlauben würden, sein damaliges Denken, das wohl hauptsächlich um Fronterlebnis und Fiumeerfahrung kreiste, zu rekonstruieren.189 Es zeigt sich aber bereits in der Zeit ein Utopieentwurf, der später im Hinblick auf Riccis Konzept eines „neuen Menschen“ von Relevanz blieb und möglicherweise seine Inspirationen aus der fiumanischen Carta del Carnaro zog. Engelmann konstatiert dazu: „Die außergewöhnliche Stärke des Provinzfaschismus der apuanischen Marmorregion ist denn auch vor allem der Tatsache geschuldet, daß es ihm sehr schnell gelang, mit einer gewissen Glaubwürdigkeit eine politisch-soziale Utopie zu entwerfen, in der ein friedlicher und fairer Interessenausgleich zwischen den unterschiedlichen sozialen Gruppen möglich zu sein schien.“190
Den angestrebten Ausgleich sollte Ricci später in seiner Idee über die Ankunft des „neuen Menschen“ wieder aufgreifen. Der aufgrund seiner Machtfülle häufig als Duce apuana191 bezeichnete Ricci wurde bald von Mussolini nach Rom geholt und war dort seit 1924 Parlamentsabgeordneter und mit einigen Unterbrechungen Vizeparteisekretär sowie Leiter der Avanguardie giovanili fasciste, der ersten Jugendorganisation im Schoße des PNF. Aufgrund seiner äußeren Erscheinung und seiner Erfahrungen als Frontkämpfer, Squadrist und Pilot galt Ricci schnell als Prototyp des „neuen Italieners“, der es verstand, Menschen zu formen.192 Seit Februar 1927 führte er die neugegründete Jugendorganisation ONB und bekleidete zugleich ab 1929 den für ihn geschaffenen Posten des Unterstaatssekretärs für Leibeserziehung und Jugenderziehung im Erziehungsministerium. Nach zehn Jahren wurde Ricci aus machtpolitischen Gründen, die es später noch näher zu beleuchten gilt, als Jugendführer abgesetzt. 188 Engelmann,
Provinzfaschismus in Italien, S. 220, 242 f., 263, 272 f.; Ornella Stellavato, Gioventù fascista: l’Opera nazionale balilla, tesi di dottorato, Rom 2008, S. 31. 189 Vgl. Engelmann, Provinzfaschismus in Italien, S. 209, Anm. 182, 215, Anm. 16. 190 Ebenda, S. 281. 191 Vgl. ebenda, S. 216. 192 Vgl. Pietro Solari, Uomini del Fascismo, in: Il Popolo di Trieste, 12. 2. 1926 (Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin (künftig: PA AA), Botschaft Rom Quirinal, 708 A); T. al vicesegretario del P.N.F., Renato Ricci, 10. 7. 1926, in: OO, Bd. XL, S. 87 f., hier S. 88.
52 I. Der „neue Mensch“ als faschistische Gesellschaftsutopie – drei Ansätze Während der RSI führte er dann wieder „seine“ neugegründete ONB bis zu ihrem Ende im April 1945. Welche Ideen von der Schaffung eines „neuen Menschen“ verband der aus der Arbeiterschaft stammende, durch seinen Vater monarchistisch vorgeprägte Ricci, der statt einer beruflichen Sozialisation primär Gewalt- und Kriegserfahrungen gesammelt hatte und sich für einen harmonischen Interessenausgleich von Ar beiternehmern und -gebern zum höheren Wohle des Vaterlandes stark gemacht hatte? Wie sollten die jungen Generationen in seiner Organisation geschmiedet werden und zu welchem Ziel? Welche Verhaltensweisen galt es aus seiner Sicht zu eliminieren? Riccis Kritik am alten Italiener bediente die bekannten zeitgenössischen Topoi. So kritisierte er wiederholt den augenfälligen Egoismus seiner Landsleute und deren „charakteristisches individualistisches Fieber“.193 Er haderte ebenso wie Mussolini mit deren fehlendem Nationalgefühl und ausgeprägtem Regionalismus. In den vielen unterschiedlichen Traditionen und Bräuchen der einzelnen Regionen meinte er den Hemmschuh einer nationalen Einheit, eines nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls zu erkennen.194 Darüber hinaus attackierte auch er das angeblich ausschließlich auf Bildung und nicht auf Erfahrung und Tatendrang ausgerichtete Bürgertum. In der als Negativfolie dienenden vorfaschistischen Zeit sei die Jugend „unter den Einflüssen einer beschränkten kleinbürgerlichen Mentalität heran[gewachsen], deren ganze Erziehungsweisheit mit dem Buch verhaftet war“, kritisierte Ricci.195 Seine Zukunftsvision war stark von der Vorstellung eines homogenen, sozial egalitären Nationalstaates geprägt. Der „neue Italiener“ sollte sich in erster Linie, so banal das auch klingen mag, als Italiener fühlen. Dabei wurden „Italiener“ und „Faschist“ selbstverständlich synonym verstanden. Der Faschismus galt ihm als die vereinigende Kraft, als Integrationsklammer zur Schaffung eines nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls. Sich als Italiener-Faschist zu fühlen, sollte die Verbundenheit mit der Region ersetzen. Der neue Italiener war stolz auf sein Land, seine Nation und nicht auf seine Herkunftsregion. Regionale Besonderheiten, wie Bräuche oder Dialekte, galt es zu beseitigen und durch nationale zu ersetzen. Der „neue Mensch“ sollte sich also radikal-national seiner regionalen Wurzeln entledigen. Besonders zentral war bei Ricci, wie bereits oben dargelegt, die Hoffnung auf Aussöhnung sozialer Unterschiede. Die soziale Herkunft sollte keine Rolle mehr spielen, die Schichten sich zunächst immer weiter annähern. Ricci zielte noch stärker als Mussolini auf eine nationale und vor allem gesellschaftliche Homogenisierung: Sprache, Denken und soziale Schichten sollten, so das erklärte Ziel Riccis, angeglichen werden, dann wäre der neue Italiener geschaffen: „In seinem einigenden Charakter offenbart der Faschismus sein wahres revolutionäres Wesen, weil er es schafft, aus einer völligen Unordnung des kollektiven Bewußtseins und aus 193 Renato
Ricci, I giovani nello stato fascista, in: Gerarchia 8 (1928), S. 954–959, hier S. 955. 194 Vgl. Ricci, Opera balilla, fucina degli italiani nuovi, in: Politica sociale 5 (1933), S. 687 f. 195 Renato Ricci, Die fascistischen Jugendorganisationen (Opera Nazionale Balilla), in: Europäische Revue 8 (1932), S. 734–737, hier S. 735.
3. Renato Ricci – der Jugendführer 53 einem universellen Verlust des historischen Sinnes der Nation und ihrer Aufgaben für die Zukunft mit der Flamme der Leidenschaft, die etwas fast Religiöses hat, die verschiedenen Fragmente des Nachkriegs-Italiens zu verschmelzen, geteilt in Norden und Süden und getrennt durch die unterschiedliche soziale Struktur, um den Typus des neuen Italieners zu schaffen. Dieser Typus muss der ONB entspringen.“196
Doch nicht nur die gesellschaftliche Stellung oder regionale Unterschiede sollten marginalisiert oder gar nivelliert werden, auch das Aussehen, die Physis galt es zu vereinheitlichen: „Der Tag ist vielleicht nicht mehr fern, an dem von den Alpen bis zur Meerenge kein wahrhaft bemerkenswerter somatischer oder sozial-nationaler Unterschied mehr den Piemontesen vom Sizilianer, den Bauern vom Herrn, den Meister vom Arbeiter unterscheidet. Das wird die erhoffte Ankunft von Mussolinis Italiener sein. In der Zwischenzeit wachsen die neuen Generationen blühend und prächtig im Lichte des Liktoriums ohne soziale und regionale Distinktionen heran.“197
Deutlich erkennbar ist auch bei Ricci die adressatenspezifische Betonung bestimmter Attribute des „neuen Menschen“. Während er in einer Zeitschrift wie der Politica sociale den sozialen Aspekt des „neuen Menschen“ besonders stark in den Mittelpunkt rückte, betonte er hingegen in seinem Artikel zum 10. Jahrestag des Sieges Italiens im Ersten Weltkrieg, der in einem Sammelband der Vereinigung der Kriegsfreiwilligen erschien, die militärischen Tugenden des „neuen Menschen“. In dem Beitrag charakterisierte er den „neuen Menschen“ vor allem durch Disziplin, Ordnung, Gehorsam, Pflicht, Kampfbereitschaft, Tatendrang, Schweigsamkeit, Aufopferung, Vaterlandsliebe und Draufgängertum.198 Ein „ neuer Mensch“ konnte demnach nur derjenige sein, der die soldatischen Werte inter nalisiert hatte. Auch wenn es in diesem Kapitel vor allem um die Frage gehen soll, welche Vorstellungen die einzelnen Faschisten von dem „neuen Menschen“ entwickelten, so muss doch besonders bei Ricci auch kurz darauf verwiesen werden, dass dieser das Fahnenwort „neuer Mensch“ offensichtlich gern zur Interessendurchsetzung instrumentalisierte. Im internen Schriftverkehr mit Mussolini verwendete er es auffällig häufig dann, wenn es um die Vorstellung und Finanzierung neuer Projekte der ONB ging.199 Ricci hatte vermutlich bemerkt, dass Projekte dann gute Chancen hatten, von Mussolini bewilligt zu werden, wenn damit die Schaffung des „neuen Menschen“ vorangetrieben wurde. Riccis ONB kam gemäß der Propaganda die Aufgabe zu, den Typus des „neuen faschistischen Menschen“, des in Denken, Aussehen, Sprache und sozialer Stellung angeglichenen, soldatischen Serienmenschen zu schmieden. Welche Wege
196 Ricci,
Giovani nello stato fascista, in: Gerarchia 8 (1928), S. 956. Vgl. darüber hinaus: Opera nazionale Balilla, Il Foro Mussolini, Mailand 1937, S. 5. 197 Ricci, Opera balilla, fucina degli italiani nuovi, in: Politica sociale 5 (1933), S. 690. 198 Vgl. Renato Ricci, Libro e moschetto. Dalla generazione della guerra a quella del fascismo, in: Associazione Nazionale Volontari di Guerra (Hrsg.), Il Decennale. X Anniversario della Vittoria, Florenz 1929, S. 319–328. 199 Vgl. exemplarisch den Bericht Riccis an Mussolini, 20. 9. 1934, in: ACS, SPD, Carteggio Ordinario (künftig: CO), b. 330, f. 111.994.
54 I. Der „neue Mensch“ als faschistische Gesellschaftsutopie – drei Ansätze wollte Ricci mit seiner ONB beschreiten, um dieses ambitionierte Zukunftsversprechen zu erreichen? Der Rekurs auf die Antike, auf die einstige Größe des Römischen Reiches spielte auch bei Ricci eine zentrale Rolle. Der Blick zurück auf die glorreiche Vergangenheit und die Übernahme eines vermeintlich bewährten Systems sollten die Garanten für eine erfolgreiche faschistische Zukunft bieten und den Jugendlichen so das Vertrauen in das Gelingen der Aufgabe suggerieren. Aus der Antike entlehnte Begriffe fanden etwa bei der Eingliederung der Kinder und Jugendlichen in militärische Einheiten ihre Verwendung (Zenturie, Manipel, Kohorte, Legion). Bei der Leibeserziehung verwies Ricci häufig auf die Vorbildfunktion des antiken Gymnasions mit dem Ziel „der ganzheitlichen Verbesserung des Menschen bei dem Versuch, die vollständige Harmonie zwischen körperlicher, geistiger und moralischer Entwicklung zu erreichen“, und betonte in dem Zusammenhang wiederholt, dass der Verfall Roms dann eingesetzt habe, als aus aktiven Sporttreibenden passive Zuschauer geworden waren.200 Die Leibeserziehung erhielt damit eine extreme Aufwertung als disziplinierende, zugleich Körper und Geist (vgl. die ubiquitäre lateinische Redewendung mens sana in corpore sano) formende Tätigkeit und als Antithese zur Stubenhockerei des vermeintlich ausschließlich verkopften Bürgertums. Außerdem unterstrich Ricci damit seine Forderung nach breitem Massensport201 und übte zugleich Kritik an seinen Gegnern. Dazu zählten allen voran Lando Ferretti, Chef der CONI, den die deutsche Presse als „italienische[n] Sportdiktator [bezeichnete], dem auf Befehl der Regierung der ganze Sport Italiens unterstellt wurde, um ihn faszistisch zu machen“,202 und Achille Starace, die dem Leistungssport das Wort redeten und die sportlichen Erfolge während der 1930er Jahre – etwa des Boxers Primo Carnera – als Beweis für die Überlegenheit des Regimes anführten.203 Das Zauberwort der Zeit, um die Jugendlichen auf ihre Rolle als zukünftige Soldaten vorzubereiten und zu formen, war emulazione, die Nacheiferung. Die Erzählungen, Berichte und Lieder über Heldenmut und Opferbereitschaft der tapferen und mutigen römischen Legionäre, über Balilla, den legendären „Jungen aus Portoria“ und Namensgeber der Jugendorganisation, der im 18. Jahrhundert mit seinem mutigen Steinwurf einen Volksaufstand gegen die Besatzer ausgelöst haben soll, über den 13-jährigen Enzo Fusco, der heldenhaft im Abessinienkrieg gekämpft habe und militärisch ausgezeichnet wurde, oder über die standhaften Jungen von Bir el Gobi und Giarabub im Zweiten Weltkrieg waren omnipräsent.204 Die männliche Jugend sollte durch die Heldenerzählungen unterbewusst 200 Ricci, Giovani nello stato fascista, in: Gerarchia 8 (1928), S. 957 f. 201 Ricci habe etwa die Schwimmbahnen kürzer bauen lassen, als
die Vorschriften des olympischen Kommitees sie vorsahen, um damit die Austragung von Leistungssportwettkämpfen zu verhindern, vgl. Edward R. Tannenbaum, L’esperienza fascista. Cultura e società in Italia dal 1922 al 1945, Turin 1974, S. 144, Anm. 22. 202 Ausland, in: Deutsche Turn-Zeitung 72 (1927), 19, S. 299. 203 Vgl. Chisari, Sports ‚of ‘ the Regime and Sports ‚in‘ the Regime, bes. S. 284, 286. 204 Vgl. Renato Ricci, Il Balilla, in: Celso Maria Garatti (Hrsg.), Italiani di Mussolini, Bologna 1937, S. 301–306; Renato Ricci, L’educazione dei giovani trionfo del fascismo, in: La rivista illustrata del Popolo d’Italia 20 (1942), 11, S. 16. Vgl. etwa das damals sehr popu-
3. Renato Ricci – der Jugendführer 55
animiert werden, sich mit diesen tapferen Vorbildern zu identifizieren und es ihnen gleichzutun. Zugleich dienten die letztgenannten Jugendlichen aber auch als Beweis dafür, dass die Erziehung in der Jugendorganisation bereits erfolgreich einige „neue Menschen“ hervorgebracht habe. Zentral war zudem der Vaterlandskult in der ONB, ubiquitär der Patria-Begriff. Die kulturelle Bildung diente der „Belebung der Religion des Vaterlandes in den Herzen und der Schaffung des Charakters der neuen Italiener“.205 Höchstes Erziehungsziel der ONB war die „Vaterlandsliebe“.206 Die Fürsorge-, Unterhaltungs- und Sporthäuser der Jugendorganisation, die Case del Balilla, galten als „Tempel, die dem Kult des Vaterlandes geweiht sind“.207 Die ONB versprach Jugendlichen aller sozialer Schichten Reisen in die verschiedenen Regionen Italiens, um darüber den Austausch der Jugend zu fördern und ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen. Schmelztiegel par excellence, aus dem die Aristokratie „neuer Menschen“ nach Ansicht Riccis hervorgehen würde, war jedoch der 1929 eingeführte Campo Dux, ein fortan jährlich in den Sommerferien stattfindendes sportlich-militärisch-kulturell ausgerichtetes Zeltlager in Rom, an dem Jugendliche aller Schichten aus allen Regionen des Landes teilnahmen und so eine Art „Volksgemeinschaft im Kleinen“, ein Aussöhnen der verschiedenen Schichten und Regionen erfahren konnten. Riccis erklärtes Ziel des Campo Dux bestand darin, „den Bildungsprozess der geistigen Einheit der Italiener zu beschleunigen, der bereits mit dem Faschismus erreicht, aber noch nicht in Gänze konsolidiert ist“.208 Diese Formulierung von einem bereits erreichten Zustand, der jedoch noch gefestigt werden muss, ist nahezu symptomatisch, wenn es darum geht, den Status des Erreichten bei der Schaffung des „neuen Menschen“ vonseiten der Beteiligten zu bestimmen. Hier zeigt sich erwartungsgemäß ein Lavieren in den öffentlichen Statements, demzufolge einige Aspekte bereits errungen seien, andere noch der Erfüllung harrten. Und auch hier zeigt sich, dass besonders gegenüber Ausländern zumeist der Erfolg der Umformung hervorgehoben wurde. In einer Replik auf einen kritischen Times-Artikel betonte Ricci, dass „die Ita liener der neuen Generationen, im höchsten Grade das Fieber des Gehorsams anstatt des charakteristischen individualistischen Fiebers des Italieners von gestern haben“,209 die Disziplinierung demnach schon Erfolge gezeitigt habe. Andernorts bestätigte er, dass die faschistische Bewegung den „neuen Menschen“ geschaffen
läre Lied „La sagra di Giarabub“. Die Bedeutung solcher Vorbilder zeigt sich etwa in folgendem Zeitzeugeninterview: „Es gab den Mythos von Giarabub. Giarabub, diese Oase ist bis zum letzten von den Avanguardisti verteidigt worden. Es gibt ein Lied mit folgender Textzeile: ,Oberst ich möchte kein Brot, gib mir Kugeln für mein Gewehr.‘ Das war der Geist, den wir verinnerlichen sollten.“ Interview mit Anselmo Rossi (Bozen 1940–1943), 17. 3. 2014, S. 3. 205 Ricci, Giovani nello stato fascista, in: Gerarchia 8 (1928), S. 958. 206 Ricci, Opera balilla, fucina degli italiani nuovi, in: Politica sociale 5 (1933), S. 687. 207 Ebenda, S. 689. 208 Ebenda. 209 Ricci, Giovani nello stato fascista, in: Gerarchia 8 (1928), S. 955.
56 I. Der „neue Mensch“ als faschistische Gesellschaftsutopie – drei Ansätze habe, der auf egoistische Tendenzen verzichte.210 Unzufrieden zeigte er sich bei dem zentralen Aspekt seines Ideals vom „neuen Menschen“: der Nivellierung regionaler Unterschiede hin zu einem radikalen Nationalismus: „Es gibt noch einige Unterschiede, die verschwinden müssen, etwa bei den Charakteren, den Denkweisen und sogar den Dialekten, die noch auf ihre Formeln der Zusammensetzung warten.“211 Über die Resultate bei der harmonischen Aussöhnung sozialer Unterschiede, die er zum entscheidenden Kriterium der Ankunft des „neuen Menschen“ erhoben hatte, schwieg er sich wohlweislich aus.
4. Zusammenfassung Die Frage, was den „neuen Menschen“ der faschistischen Zeit laut den Vorstellungen Mussolinis, Staraces und Riccis auszeichnen sollte, d. h. in welchen Aspekten sich ihre Ideen deckten, lässt sich wohl am besten ausgehend von seinem propagierten Gegenbild, dem „alten Menschen“, beantworten. Der „alte Italiener“ war idealtypisch behäbig, pazifistisch, egoistisch-individualistisch und national unzuverlässig. Er dachte nur an seine eigenen Interessen, nicht aber an die des Staates. Der „neue Mensch“, der Faschist, verhalte sich diamentral entgegengesetzt. So entwickelte sich der Begriff zunehmend zum Kampfbegriff gegen die bürgerlichliberale politische Ordnung des vorfaschistischen Italiens. Dem wurde die Utopie einer Zukunft entgegengestellt, in der soziale Unterschiede und regionale Ungleichgewichte angeglichen oder aufgehoben wurden. Der „neue Mensch“ als Personifikation dieser Vision ging ganz und gar im faschistischen Kollektiv auf und identifizierte die Interessen des faschistischen Staates mit seinen eigenen. Er war der faschismusgläubige, ernste, disziplinierte, agile, virile, juvenile und zunehmend rassenbewusste Kämpfer, der am Arbeitsplatz wie an der Front für den Wiederaufstieg des Vaterlandes focht. Militärische Werte wie etwa Pflicht, Gehorsam, Disziplin, Selbstlosigkeit, Mut, Loyalität und Kameradschaft wurden glorifiziert und zu allseits gültigen Leitwerten erklärt. Die erträumte Umformung zielte letztlich auf den ganzen Menschen: Es galt, Charakter und Körper zu stählen und die Italiener für alle kommenden Ereignisse abzuhärten, um aus ihnen – wie vor 2000 Jahren – wieder Herren der Welt zu machen. Der Rom-Mythos und der Mythos vom „neuen Menschen“ waren so aufs Engste miteinander verbunden. Die Transformation der Italiener sollte auf verschiedenen Wegen realisiert werden. Unter den faschistischen Meinungsführern war die Deutung verbreitet, eine Avantgarde des „neuen Menschen“ sei in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges und während der squadristischen Kampfzeit geschmiedet worden. Diesen Pionieren kam nun die Aufgabe zu, der übrigen Bevölkerung als leuchtende Vorbilder die richtigen Verhaltensweisen vorzuleben. Die hier untersuchten drei Faschisten – und allen voran der zum Halbgott stilisierte Mussolini – waren Prototypen des „neuen Menschen“, denen es nachzueifern galt. Emulazione (Nacheife210 Vgl.
Mirko Ardemagni, Supremazia di Mussolini. Prefazione di Renato Ricci, Mailand 1936, S. 7 f. 211 Ricci, Opera balilla, fucina degli italiani nuovi, in: Politica sociale 5 (1933), S. 689.
4. Zusammenfassung 57
rung) – eine in dem Zusammenhang häufig verwendete Vokabel – war einer der Wege, die Landsleute zu verändern. Durch die Imitation des vorbildhaften Verhaltens erhofften sich alle drei, aber allen voran Starace, die Internalisierung der propagierten Tugenden. Daraus erklärt sich auch Staraces Obsession, den faschistischen Funktionsträgern in ganz Italien mit Hilfe von Vorgaben in seinen Anordnungsblättern einen einheitlichen Stil einzuimpfen und sie permanent an das richtige, faschistische Verhalten zu erinnern, sodass diese ihrer Vorbildfunktion nachkommen konnten. Parallel zu dieser vielmehr unbewussten oder unreflektierten Nachahmung erwarteten sich die Faschisten auch eine bewusste, aktive und willentliche Aneignung der neuen erwünschten Verhaltensweisen. Sie suggerierten ihren Landsleuten, dass in jedem das Potenzial zum „neuen Menschen“ schlummerte – man müsse es nur wollen. Der „Wille“ war eine ebenso bedeutende Vokabel bei der erwarteten Umformung. Ein jeder war zur voluntaristischen Selbstoptimierung und Selbstdisziplinierung unter faschistischen Vorzeichen aufgerufen. Zusätzlich musste der Faschismus jedoch auch die Verhältnisse schaffen, in denen sich der „neue Mensch“ entfalten konnte. Die Ausschaltung von Gegnern, die die nationale Einheit behinderten und die Schaffung eines Einparteienstaates sowie die Errichtung eines Wirtschaftssystems, das Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen aussöhnte und Klassenkämpfe verhinderte, gehörten gleichermaßen zum Harmonie-Ideal des „neuen Menschen“. Besonders Ricci rückte diese Aussöhnung der verschiedenen Klassen ins Zentrum seiner Idee des „neuen Menschen“ und setzte gar dessen Ankunft mit der Marginalisierung der Klassenunterschiede gleich. Zugleich forderte er radikaler als Starace eine Vereinheitlichung von Sprache, Tradition und Bräuchen. Sein „neuer Mensch“ hatte seine regionale Herkunft hinter sich gelassen, er war durch und durch Italiener.212 Alle drei untersuchten Konzepte zielten gleichermaßen auf die Veränderung des Charakters, des Verhaltens und zunehmend des Erscheinungsbildes der Ita liener. Dafür schuf der Faschismus eine Vielzahl an sozialdisziplinierenden Institutionen, in denen das gewünschte Verhalten eingeübt werden sollte. Zu erinnern wäre hier etwa an die von der ONB jährlich veranstalteten vormilitärischen Campi DUX, an denen Kinder aus allen Schichten und allen Regionen des Landes teilnehmen sollten, um so ein diszipliniertes, militärisches Gemeinschaftsleben im Kleinen zu erleben und es dabei vorbildhaft agierenden Erziehern gleichzutun. Insgesamt, so darf vermutet werden, sprach der Mythos vom „neuen Menschen“ die Sehnsucht vieler Italiener nach nationaler Einheit an und war somit auch Teil des Nationalisierungsprozesses. Darüber hinaus versprach er ein Ende politischer Grabenkämpfe und eine sozial gerechtere Gesellschaft. Jegliche behindernde Spannungen würden durch die Homogenisierung überwunden und somit eine neue innere Geschlossenheit der italienischen Gesellschaft erzielt. Voraussetzung dafür seien ein Einparteienstaat, eine umfassende und aussöhnende Wirtschaftspolitik und die Einübung eines neuen Lebensstils, zu dem auch die absolu212 Zu
den Problemen, die die faschistische Vereinnahmung und Überformung von regionalen Traditionen mit sich brachte, siehe: Frank Vollmer, Die politische Kultur des Faschismus. Stätten totalitärer Diktatur in Italien, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 238–271.
58 I. Der „neue Mensch“ als faschistische Gesellschaftsutopie – drei Ansätze te Identifizierung mit dem faschistischen Staat gehöre. Die so geschaffene Einheit im Inneren stärke, so die Hoffnung, auch die Schlagkraft nach Außen. Einer nationalen Wiedergeburt unter der „weisen Führung“ des Duce stünde dieser disziplinierten Kampfgemeinschaft, die sich seit Mitte der 1930er Jahre zudem auch immer stärker in eine Rassengemeinschaft wandeln sollte, kaum mehr etwas im Wege. So waren mit diesem Mythos auch Großmachtphantasien verbunden, die letztlich wiederum Hoffnungen auf bessere Lebensbedingungen bedienten. Diese in Aussicht gestellte verheißungsvolle Zukunft, der Glaube und die Hoffnung, wie Phönix aus der Asche aufzusteigen, hatte gleichermaßen eine Vorbild-, Diszi plinierungs- und Mobilisierungsfunktion, die die Menschen zum Aufbau einer neuen Gesellschaft motivieren sollte.213
213 Klinkhammer
und Bernhard sehen in dem Konzept vom „neuen Menschen“ „eines der Schlüsselkonzepte des faschistischen Regimes zur Mobilisierung der Bevölkerung“. Klinkhammer/Bernhard, L’Uomo nuovo del fascismo, S. 27.
II. Erziehung und Bildung im Faschismus – ein Überblick 1. Die Krise des Schulsystems und die Reform Gentiles Betrachtet man die zentrale Rolle, die der „neue Mensch“ in der faschistischen Gesellschaftsutopie bekleidete, ergibt sich daraus die hohe Bedeutung des Erziehungs- und Bildungssektors während des Ventennio. Von der Wirksamkeit der verschiedenen Sozialisationsinstitutionen hingen nach Ansicht der faschistischen Elite die erfolgreiche Formung einer künftigen faschistischen Führungsschicht und damit die erfolgreiche Perpetuierung der faschistischen Herrschaft ab. Bei der Machtübernahme im Jahre 1922 sahen sich die Faschisten einem Bildungssystem gegenüber, das die politische und soziale Entwicklung Italiens seit dem 19. Jahrhundert spiegelte. Dieses System privilegierte die Oberschicht, deren Angehörige in großer Zahl in die Universitäten drängten. Die hohen Studentenzahlen führten infolge des Ersten Weltkrieges zu einer grassierenden Akade mikerarbeitslosigkeit. Andererseits waren teils geringe Schulbesuchsquoten – vor allem in ländlichen Regionen – aufgrund von Kinderarbeit weit verbreitet. Der Anteil der Analphabeten war hoch und die Berufsausbildung noch rudimentär entwickelt.1 Hinzu kamen marode Schulgebäude und Sportstätten, die sich in einigen, vornehmlich südlichen Landesteilen in erbärmlichem und teils gesundheitsschädlichem Zustand befanden. Kurz nach seiner Ernennung zum Unterrichtsminister ging der aus Sizilien stammende Philosoph Giovanni Gentile ans Werk, das bestehende Schulwesen zu reformieren. Die nach ihm benannte umfassende und grundlegende Schul- und Hochschulreform (riforma Gentile) des Jahres 1923 ersetzte das noch aus der Zeit des Risorgimento stammende Schulgesetz Casati von 1859. Mit der Erweiterung der Schulpflicht auf das 14. Lebensjahr sollten zum einen der Analphabetismus und die Kinderarbeit bekämpft werden. Zum anderen galt es, die Akademikerarbeitslosigkeit durch stärkere Selektion einzudämmen. Nur wenigen, vornehmlich gut situierten Jugendlichen sollte der Übergang zum altsprachlichen Gymnasium (liceo classico) ermöglicht werden – dem einzigen Gymnasium mit uneingeschränkter Hochschulzugangsberechtigung. Das neugeschaffene naturwissenschaftliche Gymnasium (liceo scientifico) bot nur eine auf bestimmte Bereiche beschränkte Hochschulzugangsberechtigung, das Gymnasium für Mädchen sah diese gar nicht vor.2 Darüber hinaus dienten die mit der Reform einhergehenden Umstrukturierungen teilweise dazu, unliebsame, politisch unzuverlässige Ange1 Vgl.
etwa den Bericht des Deutschen Generalkonsulats in Mailand, Berufsausbildung und Fortbildungsschulen, 25. 3. 1929, in: Bundesarchiv, Berlin (künftig: BA Berlin), R 1501, 127055, Bl. 264–279; vgl. Charnitzky, Schulpolitik des faschistischen Regimes, S. 21 f., 397 f., 412, 420. 2 Vgl. Ruth Ben-Ghiat, Die italienischen Universitäten unter Mussolinis Diktatur, in: John Connelly/Michael Grüttner (Hrsg.), Zwischen Autonomie und Anpassung: Universitäten in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, Paderborn u. a. 2003, S. 39–65, hier S. 44.
60 II. Erziehung und Bildung im Faschismus – ein Überblick stellte ihrer Posten zu entheben.3 Die von Mussolini wohl auch deshalb als faschistischste aller Reformen gepriesene Schulreform4 war nicht zeitgemäß und sozial brisant, wie Jürgen Charnitzky urteilt: „Anstatt die überfällige Anpassungsmodernisierung des Schulsystems an die durch den Krieg beschleunigten wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen vorzunehmen, zielte Gentiles Reform auf die Restauration der Bildungsprivilegien einer bürgerlichen Elite ab, deren Status ein komplexes, als soziale Barriere fungierendes Selektionssystem und Berechtigungswesen verteidigen sollte. Indem die Reform die soziale Mobilität namentlich der unteren Mittelschichten zu blockieren suchte, traf sie jedoch zugleich die Aspirationen jener, denen der Faschismus seinen Aufstieg […] verdankte.“5
Die durch die Reform hervorgerufene Ausgrenzung von Schülern führte zu landesweiten Protesten, in deren Folge zahlreiche Ausnahmeregelungen („Politik der Retuschen“) erlassen wurden, die die verschiedenen Schichten besänftigen sollten, die Reform jedoch ihrer eigentlichen Ziele beraubte.6 So sank die Zahl der Gymnasiasten kurzzeitig zwar spürbar, stieg jedoch nach 1926 aufgrund der zahlreichen Änderungen, die die Nachfolger Gentiles durchsetzten, wieder an.7 Die miserable Situation der Sportstätten und der Leibeserziehung im Allge meinen an den Schulen suchte Gentile durch das im selben Jahr gegründete Nationale Institut für Leibeserziehung (Ente Nazionale di Educazione Fisica – ENEF) zu beheben. Fortan war die ENEF für den Sportunterricht an den staatlichen Schulen verantwortlich. Sie scheiterte jedoch grandios an der Aufgabe, die schließlich vier Jahre später durch die neugeschaffene Jugendorganisation ONB übernommen wurde.8 Zudem erhielt die Jugendorganisation in den folgenden Jahren genuin staatliche Aufgaben, wie die Gründung und Führung von Schulen, sodass auf dem Gebiet eine immer stärkere Aufgabenvermischung und Kompetenzgerangel bei Partei, Jugendorganisation und Erziehungsministerium die Folge waren.
2. Die Tentakel der ONB Da man der Schule und allen voran ihren Lehrern nicht allein die wesentliche Aufgabe der Faschisierung der Jugend zutraute,9 wurde im April 1926 die Jugendorganisation Nationales Balillawerk (ONB) ins Leben gerufen. Bereits seit 1919 bestanden regionale faschistische Jugend- und Studentengruppen, die 1921 in den 3 4 5 6 7 8
Vgl. Charnitzky, Schulpolitik des faschistischen Regimes, S. 86. Vgl. La riforma della scuola, 13. 12. 1923, in: OO, Bd. XX, S. 129. Charnitzky, Unterricht und Erziehung im faschistischen Italien, S. 115. Vgl. ebenda, S. 115 ff. Vgl. Alexander De Grand, Bottai e la cultura fascista, Rom 1978, S. 180 f. Vgl. Patrizia Ferrara, L’Italia in palestra. Storia, documenti e immagini della ginnastica dal 1833 al 1973, Rom 1992, S. 218–222; Angela Teja, Italian sport and international relations under fascism, in: Pierre Arnaud/James Riordan (Hrsg.), Sport and International Politics, London 1998, S. 147–170, hier S. 148 f.; Charnitzky, Schulpolitik des faschistischen Regimes, S. 99. 9 Vgl. Di Nucci, Stato-partito del fascismo, S. 461.
2. Die Tentakel der ONB 61
Avanguardie giovanili fasciste als Organisation des PNF zusammengefasst wurden. Während der Phase der Machtdurchsetzung zwischen 1922 und 1925 fristeten sie noch ein eher kümmerliches Dasein.10 Mit der beginnenden Machtkonsolidierung schuf der Faschismus nun eine Institution, die nach faschistischer Selbstdarstellung „den umfassendsten und vollkommensten Versuch einer Jugenderziehung [darstellte], der in Europa oder überhaupt je gemacht worden ist“.11 Der seit Februar 1927 amtierende Präsident der ONB, Renato Ricci, war kein Greenhorn: Bereits seit 1924 beschäftigte er sich im Auftrag der Partei mit den Erziehungssystemen anderer Staaten. Während mehrerer Aufenthalte im angelsächsischen Raum ließ er sich wohl durch die Public Schools und die Pfadfinderbewegung von Sir Robert Baden-Powell sowie durch die Lektüre über die militärisch-sportlich ausgerichteten Schülerbataillone im Frankreich des 19. Jahrhunderts inspirieren.12 Darüber hinaus war er bereits an der Führung der Avanguardie giovanili fasciste beteiligt und aufgrund dieser Expertise federführend für die Konzeption der neuen Jugendorganisation zuständig.13 Namensgeber der Organisation und Vorbild einer ganzen Generation war Balil la, ein kleiner Junge aus Genua, der – so will es die Legende – im 18. Jahrhundert in einem heroischen Akt den ersten Stein gegen die österreichische Besatzungsmacht warf und damit eine Volkserhebung auslöste.14 Die Aufgaben des neu geschaffenen Balillawerkes bestanden fortan in der sportlichen, moralischen, politischen, kulturellen, beruflichen und vormilitärischen Ausbildung der Jugend.15 Insgesamt reichte das Angebot der ONB von der warmen Mahlzeit über Ausflüge, 10 Vgl.
Paolo Nello, L’avanguardismo giovanile alle origini del fascismo, Rom 1978, passim; Zapponi, Partito della gioventù, S. 588 f.; Jens Petersen, Jugend und Jugendprotest im faschistischen Italien, in: Dieter Dowe (Hrsg.), Jugendprotest und Generationenkonflikt in Europa im 20. Jahrhundert, Bonn 1986, S. 199–208, hier S. 200; Stellavato, Gioventù fascista, Kap. 1. 11 Arturo Marpicati, Die fascistische Partei, in: Europäische Revue 8 (1932), S. 728–732, hier S. 730. 12 Vgl. Angela Teja, L’ONB tra educazione fisica e sport, in: Santuccio (Hrsg.), Case e il foro, S. 13–35, hier S. 20 f.; Santuccio, Moretti e Ricci, S. 100. Zeitgenossen meinten zudem Ähnlichkeiten der ONB zu den Kadettenkorps in Südafrika zu erkennen, aus denen sich wiederum die Pfadfinderbewegung entwickelt hatte. Vgl. A Great Youth Movement, in: Action, 4. 6. 1936 (BA Berlin, NS 43, 384, Bl. 78). 13 Vgl. Stellavato, Gioventù fascista, S. 30, 39 f., Kap. II; Rosalia Vittorini, Costruire per educare: le case del balilla, in: Rinaldo Capomolla/Marco Mulazzani/Rosalia Vittorini (Hrsg.), Case del balilla. Architettura e fascismo, Mailand 2008, S. 14–37, hier S. 36, Anm. 8. 14 Während des Faschismus wurde am 5. Dezember Balilla gedacht und Heranwachsende ausgezeichnet, die sich in ihrem Verhalten Balilla würdig erwiesen hatten. Dazu veröffentlichte die ONB und dann die GIL Broschüren („Giovinezza eroica“), in denen die Namen und deren Verdienste aufgeführt wurden. Vgl. PNF/GIL, Notiziario, Nr. 66, 8. 12. 1938 (ACS, PCM, 1937–1939, b. 2133, f. 1.1.15.3500, sf. 19). 15 Zeitgenössische Kommentatoren merkten häufig an, dass insbesondere die vormilitärische Ausbildung in der ONB noch stärker als in der im selben Jahr gegründeten Hitlerjugend (HJ) ausgeprägt war. Vgl. Francesco Piccardi, Nach dem Zehnjahrestag der Balilla, in: Kreuz-Zeitung, 26. 4. 1936 (BA Berlin, R 4902, 8445, Bl. 74 RS); Johann von Leers, Der Elitebegriff des Faschismus, in: Die nationalsozialistische Landpost, 11. 6. 1937 (BA Berlin, NS 22, 594).
62 II. Erziehung und Bildung im Faschismus – ein Überblick Wanderungen, Ferienlager bis hin zu Kreuzfahrten. Das alles bot die ONB ihren Mitgliedern für wenig Geld, wie sich Ricci rühmte.16 Das erklärte Ziel der Jugend organisation war die Hervorbringung von vitalen, disziplinierten und militärisch vorgebildeten überzeugten Faschisten von acht bis 18 Jahren (Balilla/Avanguardista). Seit 1929 fanden auch die jungen Italienerinnen (Piccola/Giovane Italiana) Aufnahme in der ONB, die zuvor der Partei unterstanden, und ab 1935 wurden gar die Sechs- bis Achtjährigen in der ONB (Figli della Lupa) organisiert.17 In einer undatierten Rede unterstrich Ricci die zentrale Aufgabe seiner Organisation: „Die faschistische Regierung hat schon mit anderen Maßnahmen die Notwendigkeit bestätigt, exklusiv in der Opera Balilla das Erziehungssystem und die totalitäre und integrale Vorbereitung des italienischen Menschen, die die faschistische Revolution als eine der grundlegenden Aufgaben des Staates betrachtet, zu konzentrieren.“18
Ricci vertrat mit seiner ONB einen Alleinvertretungsanspruch für die italienische Jugend, suchte seinen Einfluss auf diesem Gebiet immer stärker auszuweiten und duldete keine Einmischungen durch andere Institutionen. Die wenigen in Italien existierenden Jugendorganisationen wurden nach der Gründung der ONB sukzessive ausgeschaltet oder kamen dem Zwangsakt durch Selbstauflösung zuvor.19 Einzig und allein die Jugendorganisation der Azione Cattolica konnte nach einigen Querelen und einem kurzzeitigen Verbot ihr Überleben sichern.20 Die ONB übernahm zudem auch die religiöse Betreuung durch ausgewählte Militärkapläne, die die Azione Cattolica mehr und mehr überflüssig werden lassen sollte. Begünstigt wurde das Gebaren des Präsidenten durch die rechtlich uneindeu tige Stellung der ONB. Ricci war mehr oder minder nur dem Regierungschef Mussolini selbst zur Rechenschaft verpflichtet, woran sich im Übrigen auch nichts änderte, als die ONB 1929 dem Erziehungsministerium eingegliedert und für Ricci eigens ein Unterstaatssekretärsposten geschaffen wurde.21 Er blieb während seiner zehnjährigen Präsidentschaft auf die Autonomie seiner ONB bedacht und zielte darauf, seinen Einfluss auf dem Schulsektor auszubauen. Durch die Eingliederung in das Erziehungsministerium erhoffte er sich, diesem Ziel näherzukommen.22 Auch innerhalb seiner Organisation verfolgte er einen uneingeschränkten 16 Vgl.
Renato Ricci an Benito Mussolini, undatierter Bericht über das Jahr IX (1930/31) der ONB, in: ACS, PCM, 1928–1930, b. 1097, f. 1.1.15.2104, sf. 41. 17 Vgl. Patrizia Ferrara, Corpo e politica: storia di un’Accademia al femminile (1919–45), in: Lucia Motti/Marilena Rossi Caponeri (Hrsg.), Accademiste a Orvieto. Donne ed educazione fisica nell’Italia fascista 1932–1943, Perugia 1996, S. 39–74, hier S. 56; Charnitzky, Schulpolitik des faschistischen Regimes, S. 278. 18 Rede, s. d. [vermutlich Dezember 1928], in: ACS, PCM, 1928–1930, b. 1096, f. 1.1.15.2104, sf. 30. 19 Vgl. Roberta Vescovi, Boy Scout Associations and the ONB. The Struggle between two Systems of Youth Education in Fascist Italy, in: Gori/Terret (Hrsg.), Sport and Education in History, S. 118–125, hier S. 119 f. 20 Vgl. David I. Kertzer, Der erste Stellvertreter. Papst Pius XI. und der geheime Pakt mit dem Faschismus, Darmstadt 2016, Kap. 12. Zu diesen Vorgängen und dem Verhältnis zwischen Kirche und ONB im Allgemeinen siehe: Stellavato, Gioventù fascista, Kap. V. 21 Vgl. Charnitzky, Schulpolitik des faschistischen Regimes, S. 266 f. 22 Carmen Betti vermutet, dass Ricci mit der Unterstellung der ONB unter das Erziehungsministerium und der Schaffung des Unterstaatssekretärspostens die Hoffnung verband,
2. Die Tentakel der ONB 63
Führungsanspruch. Kritiker, wie der ehemalige ONB-Provinzpräsident in Forlì, Nicola Stagnani, warfen ihm seine Selbstherrlichkeit und uneingeschränkte Machtfülle vor: Ricci allein – so Stagnani – entschied über Personalien, Bilanzen und Projekte, ohne dass es ein Gremium gegeben hätte, das ihm Einhalt gebot.23 Innerinstitutionelle Konflikte und Reibungen waren dabei ebenso vorprogrammiert wie Spannungen mit dem Erziehungsministerium und der Partei. Während sich Ricci im Laufe seiner Amtszeit mit allen drei Parteisekretären (Turati, Giuriati, Starace), die die Partei zusehends als „großen Pädagogen“ verstanden, mehr oder minder erbittert im Konflikt befand, waren ihm doch zumindest die ersten Unterrichts-/Erziehungsminister (Fedele, Belluzzo, Giuliano, Ercole) grundlegend wohlgesonnen und unterstützten den Expansionskurs der ONB, wenn auch mit Einschränkungen. Erst Mitte der 1930er Jahre boten ihm Cesare Maria De Vecchi und dessen Nachfolger Giuseppe Bottai24 Paroli. Die beiden strebten die Faschisierung der Jugend durch das Erziehungsministerium an und suchten die Abtretung weiterer Kompetenzen an die ONB zu verhindern.25 Erstes Opfer von Riccis Ambitionen der Ausweitung seines Einflusses war die ENEF, die seit 1923 mit der Aufgabe betraut war, den Sportunterricht an allen staatlichen Schulen zu organisieren. Im Jahre 1927 übernahm die ONB diese Aufgabe, offensichtlich mit dem Ziel, auf diese Weise im Bereich der öffentlichen Bildung Fuß zu fassen.26 Und tatsächlich muss diese Einverleibung als erster Schritt gesehen werden, der schließlich nach der Übernahme der Land- und Marineschulen (scuole rurali und scuole marinaretti) in der Schaffung der Collegi, ONBeigenen Schulen mit Hochschulzugangsberechtigung, gipfelte. Doch bevor es dazu kam, musste Ricci zunächst einmal das heikle Problem der Leibesertüchtigung erfolgreich angehen. Nicht nur die Räumlichkeiten, in denen der Sportunterricht abgehalten werden sollte, sondern vor allem auch die Verfügbarkeit von Lehrern dieses Fachgebietes und die Ausbildungssituation für angehende Leibeserziehungslehrer waren defizitär vor dem Hintergrund der Bedeutung, die der Faschismus der Leibesertüchtigung beimaß. Besonders nach der Schließung der Ausbildungseinrichtungen für Leibeserziehung im Jahre 1923 durch die ENEF hatte sich die Situation massiv zugespitzt, sodass die ONB 1928 eine Akademie für Leibeserziehung für Männer und 1932 eine für Frauen als die einzigen ihrer Art in ganz Italien eröffnete.27 Mit der Gründung der Akademie für Männer
stärkeren Einfluss auf die Schulen zu nehmen, bessere finanzielle Zuwendungen zu erhalten oder gar selbst seine Chancen zu erhöhen, einmal den Ministerposten zu bekleiden. Vgl. Betti, Opera Nazionale Balilla e l’educazione fascista, S. 134, 150. 23 Vgl. den undatierten Bericht Nicola Stagnanis, in: ACS, PCM, 1940–1943, b. 2664, f. 1.1.15.3500, sf. 1–5. Stellavato vermutet eine Entstehungszeit zwischen Ende 1929 und Anfang 1930, vgl. Stellavato, Gioventù fascista, S. 124, Anm. 67. 24 Zur Person Giuseppe Bottais und seiner Ambiguität siehe: Giulia Beltrametti, Pensare il fascismo: Giuseppe Bottai, in: Isnenghi/Albanese (Hrsg.), Gli italiani in guerra, Volume IV – Tomo 1, S. 532–538. 25 Vgl. Stellavato, Gioventù fascista, S. II f. 26 La Rovere, Formazione della gioventù in regime fascista, S. 112. 27 Ferrara, Italia in palestra, S. 219, 222, 241, Anm. 131.
64 II. Erziehung und Bildung im Faschismus – ein Überblick suchten Ricci und Mussolini zwei drängende Probleme zu lösen:28 Erstens sollten aus dieser Akademie die dringend benötigten ideologisch geschulten Leibeserziehungslehrer für alle staatlichen Schulen des Landes hervorgehen, wodurch perspektivisch auch die Infiltration der Schulen durch die ONB und die Ausweitung deren Einflusses erreicht werden sollte. Und zweitens galt es, mit den Absolventen das enorme Führungskräftedefizit der ONB zu beheben, das mit Zunahme der Mitgliederzahlen immer deutlicher zutage trat. Im Gegensatz etwa zu Deutschland, wo die Hitlerjugend auf Jugendführer und Organisationsstrukturen der Jugendbewegung zurückgreifen konnte, fehlte in Italien die Tradition der Jugendbewegung, sodass das Personalproblem dort weitaus gravierender war und sich der Aufbau der Organisation schwieriger gestaltete. Zudem griff die ONB auch nicht auf die wenigen italienischen Pfadfinderleiter nach Auflösung derer Organisationen zurück, sondern behalf sich zumeist bei den Balilla (acht bis 14 Jahre) mit den Grundschullehrern und bei den Avanguardisti (14 bis 18 Jahre) mit den Milizionären.29 Diese Praxis war aber in zweifacher Hinsicht unglücklich, wie Ricci in einem Jahresbericht an Mussolini betonte: Einerseits fehlten den Milizionären erzieherische Fähigkeiten und andererseits wurden sie häufig wieder abgezogen, sodass es in der Jugendführung an Kontinuität fehlte, die künftig durch die Absolventen der Akademie sichergestellt werden sollte.30 Da die Geschichte der Collegi nicht ohne die Geschichte der Akademie für Leibeserziehung in Rom zu erzählen ist, soll diese im Folgenden detaillierter betrachtet werden.31 Im Jahr seiner Ernennung berief Renato Ricci Eugenio Ferrauto zum Chef der Leibeserziehung in der ONB. Ferrauto32 war ausgebildeter Fechtund Leibeserziehungslehrer und Schüler des Begründers der italienischen Gymnastik Emilio Baumann. Aus dessen Ideen, verbunden mit der Theorie Angelo Mossos, konzipierte Ferrauto sein eigenes Programm der Leibeserziehung. Dabei 28 So
schrieb Mussolini an Ricci: „Das Führungskräfteproblem der O.N.B. kann nur durch die Akademie für körperliche Erziehung gelöst werden. […] Dafür benötigen wir die Schüler und eine Entlohnung, die nicht unter ihrer Würde ist. Also: Freiplätze, Verbes serung der Entlohnung der Lehrer für Leibeserziehung.“ L. al sottosegretario per l’Educazione Fisica e Giovanile, Renato Rirci [sic!], 21. 9. 1933, in: OO, Bd. XLII, S. 63 f., hier S. 63. 29 Vgl. Vescovi, Boy Scout Associations and the ONB, S. 123; Roberta Suzzi Valli, Jugendfeiern im faschistischen Italien. Die leva fascista, in: Sabine Behrenbeck/Alexander Nützenadel (Hrsg.), Inszenierungen des Nationalstaates. Politische Feiern in Italien und Deutschland seit 1860/71, Köln 2000, S. 113–125, hier S. 115; Ponzio, Shaping the New Man, S. 53. Vgl. darüber hinaus: Ricci, Die fascistischen Jugendorganisationen, in: Europäische Revue 8 (1932), S. 736. 30 Vgl. Riccis Jahresbericht zum Jahr VIII an Mussolini, 10. 11. 1930, in: ACS, PCM, 1928– 1930, b. 1097, f. 1.1.15.2104, sf. 62. Selbst eine zeitgenössische Propagandaschrift betonte die Durchschnittlichkeit der Milizionäre, sodass schnell durch geeignete Jugendführer Abhilfe geschaffen werden musste. Vgl. Alfred Weidenmann, Junges Italien, Stuttgart 1940, S. 51–53. 31 Grundlegend zu der Akademie sind die Studien von Alessio Ponzio: Alessio Ponzio, L’Accademia della Farnesina: Un esperimento di pedagogia totalitaria nell’Italia fascista (1927–1943), in: Mondo contemporaneo 4 (2008), S. 35–66; Ponzio, Palestra del littorio. 32 Zum biographischen Profil Eugenio Ferrautos (1888–1976) siehe: Salvatore Finocchiaro, Eugenio Ferrauto, in: Santuccio (Hrsg.), Case e il foro, S. 51–54.
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vertrat er die These, dass die Leibeserziehung sowohl Körper als auch Charakter forme und im Wesentlichen zur Vermittlung von Werten wie Mut und Opfer bereitschaft beitrage.33 Noch im Jahr seiner Ernennung erarbeitete Ferrauto die Konzeption für die Akademie.34 Offenkundig ließ er sich dabei durch die 1920 in Berlin gegründete Deutsche Hochschule für Leibesübungen (DHfL) inspirieren, die gleichermaßen Ausbildungs- und Forschungsstätte war.35 Bereits ein Jahr später weihte Mussolini die umgangssprachlich und in der Presse oft als Farnesina bezeichnete Akademie für Leibeserziehung36 in Rom ein, die 1932 ihr repräsentatives Gebäude auf dem Foro Mussolini bezog. Sowohl der Gebäudekomplex als auch die athletischen, jungen Akademisten standen fortan auf nahezu jedem Besuchsprogramm ausländischer Staatsgäste und wurden auch im Ausland gern als Aushängeschild des „neuen Italiens“ präsentiert.37 Namentlich die nationalsozialistische Propaganda feierte dann auch diese Einrichtung des „neuen Italiens“ und lobte sie überschwänglich: „Diese Akademie ist ausgestattet mit allem, was sich nur ein junger sport- und lernbegieriger Mensch wünschen kann: einer Bibliothek, einem Museum, einer Aula Magna, Versammlungssälen, den nötigen Studieneinrichtungen im modernsten Stil und daneben Sportplätzen r i e s i g e n Ausmasses, Plätzen für alle Sportarten, einem Freilichttheater,
33 Vgl.
Marco Impiglia, Dopolavoristi e balilla, in: Adolfo Noto/Lauro Rossi (Hrsg.), Coroginnica. Saggi sulla ginnastica, lo sport e la cultura del corpo, 1861–1991, Rom 1992, S. 204–219, hier S. 206 f.; Ferrara, Italia in palestra, S. 242–244; Eugenio Ferrauto, L’educazione fisica, in: Ministero dell’Educazione Nazionale (Hrsg.), Dalla Riforma Gentile alla Carta della Scuola, Florenz 1941, S. 343–353. 34 Vgl. Teja, ONB tra educazione fisica e sport, S. 21. 35 Somit muss die These, die Farnesina sei Vorbild der 1939 eröffneten HJ-Akademie der Jugendführung in Braunschweig gewesen, durch den Hinweis ergänzt werden, dass bereits zuvor die Farnesina nach dem Vorbild der DHfL konzipiert wurde. Diesen Hinweis verdanke ich Angela Teja. Zur These, dass die Farnesina Vorbild für die 1939 eröffnete HJ-Akademie der Jugendführung in Braunschweig war, vgl. Hartmann Lauterbacher, Erlebt und mitgestaltet. Kronzeuge einer Epoche 1923–1945. Zu neuen Ufern nach Kriegsende, Preußisch-Oldendorf 1984, S. 129; Jürgen Schultz, Die Akademie für Jugendführung der Hitlerjugend in Braunschweig, Braunschweig 1978, S. 29 f.; Ponzio, Shaping the New Man, Kap. 7. 36 Der offizielle Name wechselte häufig: Erst Scuola superiore fascista di magistero per la cultura ginnico-sportiva, dann Scuola superiore fascista per l’educazione fisica, gefolgt von Accademia fascista di educazione fisica und Accademia fascista di educazione fisica e giovanile sowie Accademia della gioventù del littorio, vgl. Ponzio, Accademia della Farnesina, S. 40, 44, 57. 37 Vgl. etwa die Besuche nationalsozialistischer Potentaten: Goebbels und Ley im Mai 1933, ASMAE, Affari Politici (künftig: AP) 1931–1945, Germania, b. 17, f. 1; Himmler im Oktober 1936, La giornata romana del capo della polizia tedesca, in: La Stampa, 21. 10. 1936, S. 2; Göring im Januar 1937, Il Duce riceve il Ministro Goering al Foro Mussolini, in: Bollettino dell’Opera Balilla, 15. 1. 1937, S. 1; Ley im April 1937, Dr. Ley über das faschistische Italien, in: Völkischer Beobachter 21. 4. 1937; Rust im September 1940, Il Ministro dell’Istruzione del Reich visita il Foro Mussolini e l’Accademia della G.I.L., in: Bollettino del Comando Generale della GIL (künftig: Bollettino GIL), 1. 10. 1940, S. 455. Vgl. hierzu auch: Carl Krümmel/Peter Jaeck (Hrsg.), Die Sporthochschulen der Welt. Der Kongreß für körperliche Erziehung und das Internationale Sportstudentenlager, Olympia 1936, Berlin 1937, S. 17 f.; Ponzio, Shaping the New Man, S. 58 f., 71, 121.
66 II. Erziehung und Bildung im Faschismus – ein Überblick Reitbahn und Stallungen und einer großen Anzahl weiterer Einrichtungen. Diese Anlage ist der ganzen Welt unter dem Namen ‚Forum Mussolini‘ bekannt geworden.“38
Carl Diem, ehemaliger Leiter der DHfL und Organisator der Olympischen Spiele in Berlin 1936, notierte nach einem Besuch der Farnesina ähnlich euphorisch in sein Tagebuch: „Völliger Universitätsrang. Gründliche medizinische Schule. Waffenausbildung. […] Die Studenten saßen alle in blauem Trainingsanzug in brillanter Haltung gleichmäßig und sauber da. Ich dachte an meine vergeblichen Kämpfe, vereitelt vor allem durch den Lehrkörper, Einheitssportkleidung durchzusetzen. […] Tadellose saubere, schneidige Arbeit, ausgezeichnet kräftige Burschen, der HfL jetzt weit überlegen, vor allem auch in gesellschaftlichem Schliff, eben Offizierston und -haltung besten Formats. Anlage von großem Reichtum, wie ein stolzes Volk ihn für seine beste Jugend aufwendet. Nicht kleinkrämerisch, aber mit manchen Fehlern und groben Geschmacklosigkeiten.“39
Ricci selbst beschrieb seine Akademie in der HJ-Zeitschrift „Wille und Macht“ wie folgt: „Die römische Hochschule […] hat rein militärischen Charakter und soll den Typ des faschistischen Erziehers heranbilden, welcher fähig ist, der neuen Jugend die körperliche und geistige Erziehung angedeihen zu lassen, welche sie für ihr späteres kämpferisches Leben benötigt.“40
Die Ausbildung des „Typ des faschistischen Erziehers“ erfolgte in der Akademie gemäß moderner Standards im faschistischen Sinn. In einer zwei- bis dreijährigen Ausbildung wurden die jungen Männer in Politik, Pädagogik, Psychologie, Medizin und Leibeserziehung ausgebildet. Da die Absolventen der Farnesina auch die zukünftigen Erzieher und Kommandanten der Collegi waren, werden die Ausbildungsinhalte in Kapitel V noch detaillierter vorgestellt. Ähnlich wie ihre späteren Schützlinge wurden die Akademisten während ihres Internatsaufenthaltes wissenschaftlichen Untersuchungen unterzogen, um Möglichkeiten der Leistungsoptimierung zu analysieren, sodass Ponzio sie sogar als „Labortiere“ bezeichnet.41 Wie in vergleichbaren Institutionen der damaligen Zeit in Deutschland nahm man auch hier Versuche und anthropometrische Vermessungen vor, um die Sportlerkörper zu perfektionieren.42 Zwischen 1930 und 1937 gab die Akademie 38 Opera
Nazionale Balilla, in: Deutsche Zeitung in Frankreich, 1. 3. 1936 (BA Berlin, NS 43, 384, Bl. 79). 39 Tagebucheintrag Carl Diem, 1. 6. 1934, zit. nach Frank Becker, Den Sport gestalten. Carl Diems Leben (1882–1962). Bd. 3: NS-Zeit, 2., durchges. Aufl., Duisburg 2013, S. 102. 40 Renato Ricci, Die Opera Balilla. Jugendliche Kampftruppe zur Verfügung des Duce, in: Wille und Macht 5 (1937), 9, S. 5–10, hier S. 8. 41 Ponzio, Shaping the New Man, S. 53–57. 42 Während der Weimarer Republik wurden an der Deutschen Hochschule für Leibesübungen (DHfL) vergleichbare Untersuchungen vorgenommen, vgl. Noyan Dinckal, Der Körper als Argument. Die Deutsche Hochschule für Leibesübungen und die Produktion wissenschaftlicher Gewissheiten über den Nutzen des Sports, in: Krüger (Hrsg.), Der deutsche Sport auf dem Weg in die Moderne, S. 173–197, hier v. a. S. 180. Vgl. darüber hinaus die zeitgenössische Darstellung in Wolfgang Kohlrausch, Körperbau und Wachstum, in: Alfred Schiff (Hrsg.), Die Deutsche Hochschule für Leibesübungen 1920–1930, Magdeburg 1930, S. 49–54.
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eine Zeitschrift, die Rivista di scienze applicate all’educazione fisica giovanile, he raus, in der diese Untersuchungsergebnisse präsentiert wurden.43 Der wissenschaftlich-medizinische Anspruch der Farnesina zeigte sich auch bei der Auswahl der Rektoren: Mit Riccardo Versari,44 einem Anatom, sowie Nicola Pende,45 einem Endokrinologen, führten keine Pädagogen, sondern exponierte Mediziner die Einrichtung. Insgesamt kann die Akademie – auch wenn sie niemals einen Universitätsrang erhielt46 – als Konglomerat aus universitätsähnlicher Einrichtung, Militärkonvikt und Laboratorium für Untersuchungen zur Optimierung der Leibeserziehung beschrieben werden, deren Aufgabe darin bestand, überzeugte faschistische Lehrer, Ausbilder, Erzieher und Dozenten auszubilden.47 In den folgenden Jahren errichtete die ONB weitere vergleichbare Einrichtungen, wie die Akademie für Leibeserziehung für Frauen in Orvieto,48 die Fechtakademie sowie die Musik akademie, die auf ihren Gebieten faschistisch überzeugte Führungskräfte hervorbringen sollten.49 Darüber hinaus zielte Ricci darauf, mit seinen regimetreuen Absolventen, welche die katholische Kirche kritisch „seine Kreaturen“50 nannte, in immer weitere Bereiche einzudringen, um so nicht nur die Faschisierung des Erziehungswesens, sondern mittelbar auch des Militärs voranzutreiben. Nicht nur die Leibeserziehungslehrer aller staatlichen Schulen des Landes sollten sich zukünftig aus der Farnesina rekrutieren, sondern ebenso die Ausbilder für Leibes 43 In
seinem Jahresbericht bemerkte Ricci zur Aufgabe der Zeitschrift, dass diese „in erster Linie einen wissenschaftlichen Charakter [trägt] und ihre Existenz sich als notwendig erweist, um die Ausbildung der Akademisten zu vervollständigen und auf dem neuesten Stand zu halten. Neben den Professoren der wissenschaftlichen Fächer der Akademie, die in der Zeitschrift die Ergebnisse ihrer Untersuchungen, Kenntnisse zu Jugendbewegungen in allen Nationen der Welt, Kommentierungen zu Arbeiten von italienischen und ausländischen Wissenschaftlern auf dem Gebiet der jugendlichen Leibeserziehung beigetragen haben, haben im Jahr IX auch viele unserer Biologen und Wissenschaftler mitgearbeitet. Diese folgen und sympathisieren mit der von der Akademie begonnenen wissenschaftlich-erzieherischen Bewegung, sie stimmen der Ausrichtung und den Postulaten zu und verbreiten diese von ihren Kathedern: die gesunden Prinzipien und neuen, ertragreichen Methoden für die Stärke und Gesundheit der jungen Generation.“ ONB, Relazione anno IX, in: ACS, PCM, 1928–1930, b. 1097, f. 1.1.15. 2104, sf. 46. 44 Vgl. Renato Ricci, Delibera, 18. 2. 1928, in: ACS, PCM, 1928–1930, b. 1095, f. 1.1.15.2104. 45 Zu Nicola Pende siehe: Francesco Cassata, Biotypology and Eugenics in Fascist Italy, in: Dagnino/Feldman/Stocker (Hrsg.), „New Man“ in Radical Right Ideology and Practice, S. 39–63. 46 Bottai verwahrte sich bis zuletzt gegen die Gleichsetzung der Farnesina mit Akademien mit Universitätsrang, vgl. Zapponi, Partito della gioventù, S. 622; Giovanni Belardelli, Il Ventennio degli intellettuali. Cultura, politica, ideologia nell’Italia fascista, Rom/Bari 2005, S. 59. Gegenteiliges behauptete Koon, Believe, Obey, Fight, S. 150. 47 Vgl. auch Riccis Jahresbericht zum Jahr VIII an Mussolini, 10. 11. 1930, in: ACS, PCM, 1928–1930, b. 1097, f. 1.1.15.2104. 48 Vgl. zur Frauenakademie in Orvieto: Motti/Caponeri (Hrsg.), Accademiste a Orvieto. 49 Zum zehnjährigen Bestehen der ONB sollten im April 1936 die Accademia Littoria, die Accademia fascista delle Belle Arti, die Accademia fascista di muscia und die Accademia fascista di scherma eingeweiht werden. Vgl. Convegni e manifestazioni per il decennale dell’Opera Balilla, in: Corriere della Sera (künftig: CdS), 6. 3. 1936, S. 2. 50 Mimmo Franzinelli, Stellette, croce e fascio littorio. L’assistenza religiosa a militari, balilla e camicie nere 1919–1939, Mailand 1995, S. 168, Anm. 128.
68 II. Erziehung und Bildung im Faschismus – ein Überblick erziehung der Marineakademie von Livorno51 und der Luftfahrtakademie von Caserta.52 Zusätzlich streckte die ONB ihre Tentakel nach den Schulschiffen (navi-scuola), den Landschulen (scuole rurali)53 und den altehrwürdigen Nationalkonvikten (convitti nazionali) aus, um ihren Einfluss innerhalb des Schulsektors auszu weiten. Im Zuge der Bestrebungen der ONB, jegliche Institutionen, die sich der Jugenderziehung und -fürsorge widmeten, einzuverleiben, fanden 1928 die Schulschiffe das Interesse Renato Riccis.54 Um die Jahrhundertwende eingerichtet,55 orientierten sie sich an den britischen training ships und waren geschaffen worden, um verwahrlosten oder verwaisten Kindern von Seemännern ein Obdach und erzieherische Fürsorge – verbunden mit einer beruflichen Ausbildung auf See – angedeihen zu lassen. Geführt wurden die Schulschiffe durch die Opera Nazionale di Patronato per le Navi-Scuola Marinaretti; sie unterstanden der Aufsicht durch das Marineministerium. In einer Notiz des Ministerpräsidiums an Mussolini hieß es, dass die Marine prinzipiell nichts gegen die Übernahme der Schulschiffe durch die ONB einzuwenden habe. Das Militär meldete aber Zweifel an, ob die ONB in der Lage sei, diese neue Aufgabe zu bewältigen.56 Die Bedenken der Marine wischte Mussolini auf dem Dokument mit der Randnotiz „Die Marine hat Unrecht“ beiseite und erfüllte Ricci seinen Wunsch, die Schulschiffe in den Einflussbereich der ONB zu bringen. Zum Zeitpunkt der Übernahme gab es insgesamt vier Schulschiffe (Scilla in Venedig, Caracciolo in Neapel, Eridano in Bari, Azuni in Cagliari) und ein Marinewaisenhaus (orfanotrofio marittimo Vittorio Emanuele III in Anzio) mit insgesamt 571 Zöglingen.57 Per Erlass gingen diese Einrichtungen 1928 in den Besitz der ONB über, die sich zudem verpflichtete, weitere Schulschiffe entstehen zu lassen (Art. 1).58 Die ONB übernahm somit 51 Vgl.
378° riunione del consiglio dei ministri, 30. 5. 1936, in: OO, Bd. XXVIII, S. 8–12, hier S. 12; Regio Decreto, Nr. 2064, 14. 10. 1937, Soppressione del ruolo organico dei maestri della Regia Accademia navale, in: Gazzetta Ufficiale (künftig: GU), Nr. 294, 21. 12. 1937. 52 Vgl. 396° riunione del consiglio dei ministri, 21. 10. 1937, in: OO, Bd. XXIX, S. 10–14, hier S. 13; Regio Decreto, Nr. 1408, 6. 6. 1939, Messa a disposizione del Ministero dell’Aeronautica di alcuni istruttori di educazione fisica, in: GU, Nr. 229, 30. 9. 1939. 53 Zur historischen Verbindung zwischen den Schulschiffen und den Landschulen siehe etwa Luca Montecchi, I contadini a scuola. La scuola rurale in Italia dall’età giolittiana alla caduta del fascismo, Diss., Macerata 2013, bes. S. 165. 54 Vgl. die Schreiben Renato Riccis an Benito Mussolini bezüglich des Übergangs der Schulschiffe in den Einflussbereich der ONB, 14./27. 4. 1928, in: ACS, PCM, 1928–1930, b. 1096, f. 1.1.15.2104, sf. 30. 55 Einrichtungen: Garaventa (Genua) 1883, Scilla (Venedig) 1904/1906, Caracciolo (Neapel) 1911/1913. Vgl. Tirondola, Pale a prora!, S. 68 f. 56 PCM, Appunto per S.E. il Capo del Governo, 24. 5. 1928, in: ACS, PCM, 1928–1930, b. 1096, f. 1.1.15.2104, sf. 30. 57 Scilla (Venedig) = 214 marinaretti; Caracciolo (Neapel) = 148 marinaretti; Eridano (Barì) = 109 marinaretti; Azuni (Cagliari) = 52 marinaretti, sowie das orfanotrofio marittimo „Vittorio Emanuele III“ (Anzio) = 48 marinaretti, vgl. Navi-scuola marinaretti, in: Bollettino dell’Opera Balilla, 15. 10. 1928, S. 3. 58 Regio Decreto, Nr. 2106, 10. 8. 1928, in: GU, Nr. 224, 26. 9. 1928; Legge, Nr. 2958, 6. 12. 1928, in: GU, Nr. 5, 7. 1. 1929.
2. Die Tentakel der ONB 69
neben dem Sportunterricht auch Verantwortung in der Berufsausbildung, denn ihr kam mit diesen Schulen die Aufgabe der „maritimen beruflichen Ausbildung der Marine- und Fischerwaisen“59 zu. Im Jahr 1930 erließ die ONB ein neues Reglement für die Schulschiffe: Das Marineministerium war demnach weiterhin für die Pflege der Schiffe und die Entsendung des Personals verantwortlich (Art. 2). Gleichzeitig hielt sich die ONB die Möglichkeit offen, die bestehenden Schulschiffe auch als scuole marinaretti auf dem Land zu errichten und die Marine auch künftig daran zu beteiligen (Art. 3, 4).60 Intern beklagte die Marine wiederholt, dass sie trotz der Personalentsendung kein direktes Mitspracherecht bei der Art und Weise der Ausbildung habe, und wünschte sich von der ONB eine stärkere Einbeziehung bei der Ausbildung der Jungmatrosen.61 Dabei handelt es sich um ein Problem, das auch später bei den aus den Schulschiffen entstehenden Marinecollegi – die während der Entstehungsphase als scuole marinaretti, im Sinne von Marineschulen auf dem Land klassifiziert wurden – virulent blieb: Die Kommunikation und Kooperation von Marine und Jugendorganisation verbesserte sich kaum. Des Weiteren verfügte das Reglement von 1930, dass auf den Schulschiffen bzw. in dem Marinewaisenhaus nachweislich bedürftige Kinder und Jugendliche zwischen sechs und 18 Jahren erzogen werden sollten (Art. 25, 28, 29), die durch den Besuch der Grund- und Berufsschule auf ihre zukünftige Tätigkeit bei der Handels- und Kriegsmarine vorbereitet werden sollten (Art. 34). Tatsächlich erhielten von den 638 Schülern im Jahr 1930/1931 lediglich 197 eine kostenlose Aufnahme.62 In der Presse feierte sich Ricci hingegen dafür, die Schulschiffe den ärmsten Jugendlichen zugänglich gemacht zu haben.63 Wie sich auch bei den Collegi zeigen wird, war die ONB in der Praxis weitaus weniger darauf bedacht, den Ärmsten Unterstützung zukommen zu lassen oder gar soziale Distinktionen zu überwinden, als Ricci in seinen Schriften beteuerte.64 Die Einverleibung bereits bestehender Schulen durch die ONB schritt parallel dazu weiter voran. Im September 1928 übernahm die ONB mit den zunächst als scuole non classificate bezeichneten nichtstaatlichen Landschulen eine Vielzahl von Schulen in ländlichen Gebieten – vor allem in Süditalien – die „als eine Art Laboratorium für die Schaffung der neuen faschistischen Schule, eine Schmiede junger Anhänger des Regimes und Liebhaber der Feldarbeit“65 charakterisiert 59 Sottosegretario
della Marina an Presidenza del Consiglio dei Ministri, 18. 6. 1928, in: ACS, PCM, 1928–1930, b. 1096, f. 1.1.15.2104, sf. 30. 60 Vgl. Regolamento per le navi scuola marinaretti, in: Bollettino dell’Opera Balilla, 1. 7. 1930, S. 3–8, hier S. 3. 61 Vgl. La premilitare marittima, s. d. [vermutlich 1937], in: Archivio dell’Ufficio Storico della Marina Militare, Rom (künftig: AUSMM), Archivio di base, b. 2696. 62 ONB, Relazione anno IX, in: ACS, PCM, 1928–1930, b. 1097, f. 1.1.15.2104, sf. 46. 63 Ricci, Opera balilla, fucina degli italiani nuovi, in: Politica sociale 5 (1933), S. 689. 64 Auch bei Sommerlagern bzw. Kreuzfahrten kam es zu keiner gesellschaftlichen Homogenisierung, sondern vielmehr zur Zementierung einer Zwei-Klassen-Gesellschaft. Den Preis für eine Kreuzfahrt in Höhe von 500 Lire, was in etwa dem Monatsgehalt eines Angestellten entsprach, konnten sich viele Eltern schlichtweg nicht leisten, sodass bereits dadurch ein Austausch verhindert wurde. Vgl. Betti, Opera Nazionale Balilla e l’educazione fascista, S. 127 f. 65 Montecchi, Contadini a scuola, S. 82.
70 II. Erziehung und Bildung im Faschismus – ein Überblick worden sind. Mit Hilfe dieser Schulen sollten drei Probleme in Angriff genommen werden: Erstens galt es, den Analphabetismus und die geringen Schulbesuchsquoten zu bekämpfen, zweitens sollte die Faschisierung der Schule, deren Schüler und Lehrer vor allem in den ländlichen Regionen vorangetrieben und drittens durch medizinische Angebote die Physis der Schüler verbessert werden.66 Anfänglich übernahm die ONB rund 1200 Schulen, die von Grund- über Berufsvorbereitungs- bis hin zu Abendschulen für Analphabeten reichten und deren Zahl bis zu ihrem Übergang in die GIL im Jahre 1937 auf mehrere Tausend anstieg und nahezu alle Regionen Italiens umfasste.67 Sein Ziel, alle Schulen dieser Art der ONB einzuverleiben, konnte Ricci jedoch nicht realisieren,68 da sowohl der langjährige Parteisekretär Starace als auch der zeitweilige Unterrichtsminister Pietro Fedele ihre „schützenden Hände“ über einige Schulen hielten und damit den Zugriff Riccis verhinderten.69 Vereitelt wurden darüber hinaus auch die Versuche einiger ONB-Unterstützer, der Organisation gleich die gesamte Grundschulführung zu überstellen.70 Zusätzlich zur Übernahme der Schulschiffe und Landschulen, bei denen es sich vornehmlich um Grund- und Berufsvorbereitende Schulen handelte, errichtete die ONB im Jahr 1928 noch zwei Schulen der istruzione media. In den Jahresberichten der ONB ist der Schultyp nicht genauer klassifiziert und der zeitgenössischen Literatur ist nichts über diese Schulen zu entnehmen, sodass ungeklärt bleibt, um welche Schulen es sich konkret handelte.71 Die Berichte informieren lediglich darüber, dass die Schulen zunächst in Rom und Catania ihre Arbeit aufnahmen, gefolgt von einer Schule in Cagliari, um, so das erklärte Ziel Riccis, „die Schulkinder den Spekulationen privater Schulen zu entziehen“.72 Der Verdacht liegt jedoch nahe, dass Ricci mit diesen Schulen vielmehr den Versuch unternahm, seinen Einfluss auch auf andere Schularten auszudehnen, wie sein Agieren in den nächsten Jahren unter Beweis stellen sollte.
66 Vgl.
ebenda, S. 81 f.; Betti, Opera Nazionale Balilla e l’educazione fascista, S. 141–143, 170. Vgl. auch Riccis Jahresbericht zum Jahr VIII an Mussolini, 10. 11. 1930, in: ACS, PCM, 1928–1930, b. 1097, f. 1.1.15.2104. 67 Vgl. Stellavato, Gioventù fascista, S. 156 f., 162, 168. Stellavato spricht von insgesamt 6535 Landschulen (S. 172). Charnitzky (Schulpolitik des faschistischen Regimes, S. 272 f.) nennt unter Berufung auf Koon (Believe, Obey, Fight, S. 105) eine Gesamtzahl von 7900 Landschulen. 68 Koon behauptet jedoch das Gegenteil, vgl. Koon, Believe, Obey, Fight, S. 103. 69 Starace protegierte den „Ente pugliese di cultura“, der ehemalige Unterrichtsminister Fedele die „Scuole dell’Agro Romano“. Vgl. Montecchi, Contadini a scuola, S. 94. 70 Vgl. Betti, Opera Nazionale Balilla e l’educazione fascista, S. 170, bes. Anm. 83. 71 Zur „Istruzione media“ gehörten: ginnasio, istituto tecnico inferiore, istituto magistrale inferiore, scuola complementare/scuola di avviamento professionale. 72 ONB, Relazione anno IX, in: ACS, PCM, 1928–1930, b. 1097, f. 1.1.15.2104, sf. 46; Riccis Jahresbericht zum Jahr VIII an Mussolini, 10. 11. 1930, in: ACS, PCM, 1928–1930, b. 1097, f. 1.1.15.2104.
3. Polykratische Strukturen bei der Faschisierung der Jugend 71
3. Polykratische Strukturen bei der Faschisierung der Jugend In den 1930er Jahren entbrannten über die Faschisierung der Jugend und insbesondere über die Frage der Kompetenzen und der Umsetzung immer wieder Konflikte zwischen dem Erziehungsministerium, der Partei und den Jugendorganisationen, die zudem häufig durch persönliche Befindlichkeiten weiter angefacht wurden. Das 1929 in Erziehungsministerium umbenannte Unterrichtsministe rium73 mühte sich nach der Schulreform Gentiles und der „Politik der Retuschen“ zunehmend, die Faschisierung des Schulwesens voranzutreiben. Lehrer und Lerninhalte sollten nun noch stärker den Gegebenheiten der neuen Zeit angepasst werden. Infolge Mussolinis programmatischer Rede zur Faschisierung der Gesellschaft wurden seit Mitte der 1920er Jahre gesetzliche Regelungen geschaffen, um politisch unzuverlässige Lehrer zu entlassen. Nach Ansicht des Parteisekretärs setzte das Ministerium die Vorgaben aber nicht mit der entsprechenden Rigorosität durch. Statt einer Entlassung erhielten nicht linientreue Lehrer meist nur eine Versetzung.74 Um die Pädagogen politisch auf Linie zu bringen, wurden die Lehrerverbände seit Mitte der 1920er Jahre aufgelöst oder liquidierten sich selbst. Schließlich wurden alle Lehrergruppen in der 1931 gegründeten Associazione Fascista della Scuola (AFS) zusammengefasst, wobei weitaus mehr Volksschullehrer als Sekundarschullehrer einen Mitgliederausweis besaßen.75 Die AFS, die als Pendant zum Nationsozialistischen Lehrerbund (NSLB) gesehen werden kann, bildete die Lehrer in faschistischer Kultur aus und unterstand dem Parteisekretär, sodass die Partei über den Lehrer im Klassenraum präsent war.76 Zudem war die Mitgliedschaft in der Partei ab 1933 für alle Lehrer, die sich an Stellenausschreibungen beteiligen wollten, verpflichtend.77 Parallel zur Eingliederung der Lehrer in die Partei schritt die Faschisierung und Militarisierung der Lehrinhalte voran. Dies zeigte sich allen voran in der Einführung der jahrelang kontrovers diskutierten Einheitsschulbücher für Volksschüler im Schuljahr 1930/1931,78 deren Inhalte hoch ideologisiert waren, wie die Inhaltszusammenfassung dieser Bücher eindrücklich unter Beweis stellt:
73 In
einer Rede des Jahres 1929 vertrat Mussolini den Standpunkt, dass „der Staat nicht nur das Recht, sondern die Pflicht [habe], das Volk zu erziehen und es nicht nur zu unterrichten“, und begründete damit die Umbenennung des „Unterrichtsministeriums“ in „Erziehungsministerium“. Al gran rapporto del fascismo, 14. 9. 1929, in: OO, Bd. XXIV, S. 138. 74 Vgl. Charnitzky, Schulpolitik des faschistischen Regimes, S. 250–256. 75 Vgl. Saverio Santamaita, Storia della Scuola. Dalla scuola al sistema formativo, Mailand 1999, S. 113 f.; Charnitzky, Schulpolitik des faschistischen Regimes, S. 244–247. 76 Ricciotti Lazzero, Il Partito Nazionale Fascista. Come era organizzato e come funzionava il partito che mise l’Italia in camicia nera, Mailand 1985, S. 224. 77 Vgl. Charnitzky, Schulpolitik des faschistischen Regimes, S. 247. 78 Vgl. Luigi Cajani, „I bimbi d’Italia son tutti Balilla“. Die Kinder Italiens sind alle Balilla. Politische Erziehung in den Fibeln des faschistischen Italiens, in: Gisela Teistler (Hrsg.), Lesen lernen in Diktaturen der 1930er und 1940er Jahre. Fibeln in Deutschland, Italien und Spanien, Hannover 2006, S. 191–215, hier S. 196.
72 II. Erziehung und Bildung im Faschismus – ein Überblick „16 pages devoted to the personal anecdotes about il Duce, 26 to fascism, and 90 to some phase of war, 5 pictures of Mussolini, 31 showing the fascist uniform or emblem, and 36 featuring rifles, 11 maps of Italy and her colonies, not one shows other continents.“79
Selbst die Kleinsten in den entlegensten Winkeln des Landes kamen nun un weigerlich durch ihre Schulbücher mit den „Großtaten“ des Faschismus und allen voran ihres Duce in Berührung und sollten vorrangig für den Krieg begeistert werden. Kampf und Krieg gehörten für die Heranwachsenden nunmehr zur Normalität. Auch wenn für die Mittel- und Oberstufe nie Einheitsschulwerke eingeführt wurden,80 so veränderte sich doch auch deren Lehrplan: Nichtitalienische Autoren verbannte man zugunsten der Werke italienischer Patrioten, im gymnasialen Philosophieunterricht erklärte man die Dottrina del Fascismo zur verpflichtenden Lektüre, in einigen Schularten wurde cultura fascista als Schulfach eingeführt und die cultura militare zum Pflichtfach hochgestuft, ohne dessen Bestehen kein Abschluss möglich war.81 Nach Einführung der Rassengesetze im Jahre 1938 ging der Erziehungsminister Bottai mit großem Eifer daran, Lehrer und Schüler jüdischen Glaubens aus staatlichen Schulen auszuschließen, die Lehrbücher von jüdischen Autoren zu „säubern“ und auf die stärkere Verbreitung der rassistischen und antisemtischen Zeitschrift La difesa della razza zu drängen.82 Seit Mitte der 1930er Jahre übernahmen nach den fachlichen Experten mit Cesare Maria De Vecchi (Januar 1935 bis November 1936), Mitglied des Quadrumvirats beim „Marsch auf Rom“, und Giuseppe Bottai (November 1936 bis Feburar 1943), ehemaliger Korporationsminister, Faschisten der ersten Stunde das Erziehungsministerium. Beide verfolgten intensiv das einzige Ziel, die Faschisierung der Jugend voranzutreiben, ohne dass diese Aufgabe zusätzlich durch Partei oder Jugendorganisationen übernommen werden sollte. Zu dem Zeitpunkt bestanden drei faschistische Jugendorganisationen, die in unterschiedliche Institutionen eingegliedert waren. Dabei handelte es sich um die ONB, die faschistische Studentenorganisation (Gruppi Universitari Fascisti – GUF) und die Fasci giovanili di combattimento (FGC) für die 18- bis 21-jährigen Nicht-Studenten. Während die ONB seit 1929 de jure dem Erziehungsministerium unterstand und die Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr organisatorisch erfasste, übte über die bereits 1921 gegründeten GUF83 sowie die 1930 ins Leben gerufenen FGC die Partei die Obhut aus. Auch unter diesen Organisationen herrschte kein Einver 79 Zit.
nach George L. Williams, Fascist Thought and Totalitarianism in Italy’s Secondary Schools. Theory and Practice 1922–1943, New York 1994, S. 38. 80 Vgl. Cajani, „Bimbi d’Italia son tutti Balilla“, S. 193. 81 Vgl. La Rovere, Formazione della gioventù in regime fascista, S. 104; Lazzero, Partito 229 f.; Charnitzky, Schulpolitik des faschistischen Regimes, Nazionale Fascista, S. Kap. IV.3; Giuseppe Ricuperati, La scuola italiana e il fascismo, Bologna 1976, S. 22 f. 82 Vgl. Ministero dell’Educazione Nazionale, Gabinetto an Ministero dell’Interno, Provvedimenti adottati dal Ministero dell’Educazione in materia di difesa della razza, 1. 9. 1938, in: ACS, Ministero dell’Interno (künftig: MI), Direzione Generale Demografia e Razza (künftig: Demorazza), b. 11, f. 26. Vgl. darüber hinaus: Charnitzky, Schulpolitik des faschistischen Regimes, S. 385–393; Eden K. McLean, Mussolini’s Children. Race and Elementary Education in Fascist Italy, Nebraska 2018, S. 193. 83 Siehe zu den GUF und insbesondere zum Konflikt mit der ONB: La Rovere, Storia dei GUF, S. 152–159.
3. Polykratische Strukturen bei der Faschisierung der Jugend 73
nehmen,84 wie die Versuche belegen, sich gegenseitig die Mitglieder streitig zu machen, da man der anderen Organisation vorgeblich nicht die erfolgreiche Faschisierung der Jugend zutraute, um de facto die eigene Position und Organisa tion zu stärken. Konkret unternahm Carlo Scorza, Leiter der FGC und GUF, im Jahr 1931 Versuche, der ONB sowohl Fachkräfte als auch unter 18-Jährige zu entreißen und den eigenen Organisationen einzuverleiben.85 Riccis Proteste bei Mussolini über die fragwürdigen Rekrutierungsmethoden Scorzas führten zwar zur Unterstützung Riccis, nicht jedoch zum endgültigen Rückzug der FGC auf dem Gebiet der ONB.86 Auch nahm Mussolini diesen Konflikt, der zwischen der Amtszeit Giuriatis und Staraces schwelte, nicht zum Anlass, eine einheitliche Jugendorganisation zu schaffen, sodass die zentrale Frage nach der Zuständigkeit bei der Erziehung der Jugend, ob Partei oder Erziehungsministerium, weitere Jahre virulent blieb. Während der „Ära Starace“ (1931–1939) entbrannten die Konflikte zwischen Partei, Erziehungsministerium und ONB zunehmend, da jeder die einheitliche Führung der Jugend unter seiner Ägide beanspruchte. Anfänglich handelte es sich um kleinere Scharmützel. So sammelte Starace kompromittierendes Material gegen Ricci. 1932 schwärzte er ihn bei Mussolini an und kritisierte, dass die Kinder der Mittel- und Oberschicht in der ONB gegenüber der Arbeiterklasse bevorzugt würden.87 1935, kurz nach der Einsetzung des Erziehungsministers De Vecchi, kam es dann zu einem ersten großen Schlagabtausch zwischen diesem und Starace. Ausgelöst wurde dieser Konflikt durch das Ansinnen De Vecchis, die der Partei unterstehenden GUF und deren populären Wettbewerb der Littoriali in den Einflussbereich des Erziehungsministeriums zu bringen. Starace, dem die Forderungen De Vecchis übermittelt wurden, wies dessen Ansinnen brüsk zurück, bezichtigte das Ministerium in seinem typischen Feindbildmodus einer „faulen bürgerlichen Bürokratie“, das somit per se der wesentlichen Aufgabe der Faschisierung der Jugend gar nicht gewachsen sein konnte.88 Zugleich stellte er die maliziöse Frage, ob es nicht ein Fehler gewesen sei, die ONB nicht der Partei einzugliedern und sinnierte über die Vorteile und Möglichkeiten, die Jugendorganisation nun der Partei zu unterstellen.89 Doch nicht nur zwischen Starace und De Vecchi verhärteten sich die Fronten, sondern auch zwischen den Alphatieren Ricci und De Vecchi.90 So forderte De Vecchi etwa: „Alle Initiativen, alle Aktivitäten, die sich jedoch auf die körperliche und geistige Erziehung der Jugendlichen beziehen, müssen von der Schule ausgehen und in ihr ihre volle Umsetzung finden. Das 84 Vgl. Tannenbaum, Esperienza fascista, S. 136 f. 85 Vgl. Charnitzky, Schulpolitik des faschistischen Regimes, S. 298–300. 86 Vgl. Di Nucci, Stato-partito del fascismo, S. 468. 87 Eine PNF-Untersuchung hätte u. a. ergeben, dass bei den ONB-Sommerlagern
Plätze für Kinder einflussreicher Wohlhabender reserviert worden waren. Vgl. Rappa, Achille Starace, S. 218; Zapponi, Partito della gioventù, S. 612. 88 Starace an Mussolini, 19. 3. 1935, in: Alberto Aquarone, Due lettere di Starace a Musso lini sulle organizzazioni giovanili fasciste, in: Rassegna degli archivi di stato 28 (1968), S. 634–647, hier S. 640. 89 Vgl. ebenda, S. 641. 90 Vgl. Stellavato, Gioventù fascista, S. 171 f.
74 II. Erziehung und Bildung im Faschismus – ein Überblick bedeutet nicht, dass die bestehende Organisation zerstört werden muss; es genügt, diese Organisation in die Schule einzufügen.“91 Ein solches Ansinnen konnte dem stets auf seine Autonomie bedachten Ricci nicht gefallen. Letztlich blieb organisatorisch und strukturell jedoch alles unverändert. Wieder ließ Mussolini eine Möglichkeit verstreichen, klare Fronten zu schaffen, sodass sich die Situation weiter zuspitzte. Auch der Nachfolger De Vecchis im Erziehungsministerium Giuseppe Bottai geriet in Konflikt mit Renato Ricci. Im April 1937 schrieb Ricci dem seit fünf Monaten amtierenden Bottai einen Brief, in dem er von diesem zur Faschisierung und Erneuerung der Schule die Übertragung der Grundschul- und weite Teile der Sekundarschulausbildung sowie der Nationalkonvikte (convitti nazionali) und der Lehrerausbildungsstätten (istituti magistrali) forderte.92 Bereits zuvor hatte Ricci erfolglos Versuche unternommen, diese Einrichtungen seinem Einflussbereich einzuverleiben. In einem Bericht an Mussolini erkannte er in den Sekundarschullehrern ein wesentliches Hindernis auf dem Weg zur Faschisierung der Schule. Seiner Meinung nach seien sie in vielen Fällen antifaschistisch eingestellt.93 Durch die Ausbildung der zukünftigen Lehrer für Leibeserziehung in den Akademien habe die ONB bereits Expertise bei der Lehrerausbildung gesammelt, suggerierte Ricci vielfach, sodass die ONB in der Lage wäre, diese Aufgabe auf andere Schularten bzw. -fächer auszuweiten und so die existierenden Lehrerausbildungsstätten zu übernehmen. Ebenso kritisch wie Ricci den Sekundarschullehrern gegenüberstand, betrachtete er das Personal respektive die altehrwürdigen Nationalkonvikte überhaupt. Bereits seit 1929 suchte er den Einfluss der ONB auf die Nationalkonvikte auszudehnen, die unter der Aufsicht des Erziehungsministeriums standen.94 Diese rund 40, zumeist durch Jesuiten gegründeten Internate konnten in Italien bereits auf eine lange, teils jahrhundertealte Tradition zurückblicken.95 In einem vermutlich im Mai 1931 verfassten Bericht zeichnete Ricci die Zustände innerhalb der Convitti in schwärzesten Farben und schlug als einzige Möglichkeit zur Rettung dieser Institutionen deren Übergang in die ONB vor. Er unterstellte deren Rektoren Rückwärtsgewandtheit, warf ihnen vor, „unnütz und teilweise schädlich zu 91 Schreiben
De Vecchis, s. d., in: ACS, SPD, CR, b. 49, f. Starace. Vgl. darüber hinaus: die Äußerungen De Vecchis, Seguito della discussione del disegno di legge: Stato di previ sione della spesa del Ministero dell’educazione nazionale per l’esercizio finanziario dal 1° luglio 1935 al 30 giugno 1936, 7. 5. 1935, in: Atti parlamentari/Camera dei deputati, XXIX Legislatura, Sessione 1934–1935, Bd. I (28. 4. 1934–29. 3. 1935), S. 883–902, hier S. 890. 92 Vgl. Renato Ricci an Giuseppe Bottai, 14. 4. 1937, in: ACS, SPD, CO, b. 809, f. 500.009/I. 93 Vgl. Renato Ricci an Benito Mussolini, undatierter Bericht über das Jahr IX (1930/31) der ONB, in: ACS, PCM, 1928–1930, b. 1097, f. 1.1.15.2104, sf. 41. 94 Vgl. Stellavato, Gioventù fascista, S. 158. 95 Eine 1941 erschienene Publikation listete insgesamt 44 bestehende Nationalkonvikte auf und benannte die erste Gründung um 1500 in Tivoli durch die Jesuiten und die letzte Gründung 1931 in Bozen. Vgl. Constantino Pecorelli, I Convitti Nazionali e i Reali Educandati, in: Ministero dell’Educazione Nazionale (Hrsg.), Dalla Riforma Gentile alla Carta della Scuola, S. 735–747, hier S. 736 f.; Commissione alleata in Italia, Politica e la legislazione scolastica in Italia dal 1922 al 1943, S. 88–93, 220–224.
3. Polykratische Strukturen bei der Faschisierung der Jugend 75
sein“, und klagte, dass „keiner das faschistische Programm durchführt“.96 In einem Großteil der Convitti würden teils anarchische Zustände herrschen, sodass die Eltern ihre Kinder bevorzugt religiösen Einrichtungen anvertrauen würden. Um dieser Entwicklung zu begegnen und die staatlichen Internate wieder attraktiv werden zu lassen, bot er die ONB an. Ricci erklärte: „Möglicherweise ist die Opera Balilla, die bereits perfekt organisiert ist, in der Lage, Leitung und Verwaltung zu ersetzen, um die Konvikte wieder aufleben zu lassen, die kurz vor dem unvermeidlichen Niedergang stehen. Die ONB hat bereits ein vom Regierungschef gewünschtes Programm aufgelegt, sodass es für diese Organisation ein leichtes wäre, eine Reform zu beginnen und sich von den bestehenden Regelungen zu lösen […] und so das Erziehungsproblem zu lösen. […] Ich denke, dass lediglich zwei bis drei Prozent der derzeitigen Funktionäre in der Lage sind, den neuen Geist zu verstehen, der den Schülern eingeimpft werden soll, […] sodass der Großteil in Rente gehen könnte.“97
Ob das undatierte und unadressierte, wahrscheinlich im Mai 1931 entstandene Dokument je abgeschickt wurde und Mussolini tatsächlich jemals ein Revisionspapier angefordert hat und dieses ausgearbeitet worden ist, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Dem zumindest in Teilen widersprechen würde die Tatsache, dass im Oktober 1931 auf Wunsch Mussolinis ein neues Nationalkonvikt in Bozen errichtet wurde.98 Wäre es tatsächlich Mussolinis Intention gewesen, die Nationalkonvikte der ONB zu unterstellen, hätte er möglicherweise keiner Neugründung unter dem Erziehungsministerium zugestimmt. Da Mussolinis Entscheidungen aber alles andere als widerspruchsfrei waren, kann es letztlich auch nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Die Frage, ob Ricci zwischenzeitlich weitere Versuche unternahm, die Nationalkonvikte in seinen Einflussbereich zu übertragen, um sie dann in Collegi der ONB umzuwandeln, muss ebenfalls unbeantwortet bleiben. Es gelang ihm lediglich, seinen Einfluss auf die Konvikte durch die Entsendung von Absolventen der Farnesina als Erzieher geltend zu machen.99 Interessant ist in Bezug auf die Nationalkonvikte auch die Einschätzung der alliierten Erziehungskommission von 1947, die festhielt: „Es ist merkwürdig, dass sich die Faschisten nicht auf sie stürzten und sie nicht sofort für ihre Propagandazwecke einsetzten. Möglicherweise verstanden sie nicht, welche Möglichkeiten sie damit gehabt hätten; und zu einem gewissen Grad stimmt es auch, dass die Faschisten vor allem Opportunisten bei ihren Mitteln und ihren Zielen waren und sie nicht von vornherein eine dekadente Organisation haben wollten, die eine vollständige Erneuerung benötigt hätte, um wieder populär und nützlich zu werden.“100 96 Il
decadimento dei convitti nazionali e il loro passaggio all’O.N.B., s. d., in: ACS, Archivio Renato Ricci, sc. 2, f. 4. Stellavato vermutet die Entstehung des Dokuments im Mai 1931, vgl. Stellavato, Gioventù fascista, S. 166, Anm. 76. 97 Il decadimento dei convitti nazionali e il loro passaggio all’O.N.B., s. d., in: ACS, Archivio Renato Ricci, sc. 2, f. 4. 98 Vgl. Regio Decreto, Nr. 1241, 17. 9. 1931, Istituzione in Bolzano di un Convitto nazionale maschile, in: GU, Nr. 238, 14. 10. 1931; Commissione alleata in Italia, Politica e la legislazione scolastica in Italia dal 1922 al 1943, S. 233. 99 Vgl. Regio Decreto, Nr. 405, 5. 3. 1934, Norme per i concorsi a posti di istitutore nei Convitti nazionali, in: GU, Nr. 68, 22. 3. 1934. 100 Commissione alleata in Italia, Politica e la legislazione scolastica in Italia dal 1922 al 1943, S. 233.
76 II. Erziehung und Bildung im Faschismus – ein Überblick Diese Feststellung trägt überhaupt nicht der Erkenntnis Rechnung, dass es nicht die Faschisten gab, die gemeinsam auf ein Erziehungsziel hinarbeiteten, und lässt damit die Konflikte, die zwischen Erziehungsministerium, Partei und Jugendorganisation bestanden, komplett außer Acht. Ricci schien durchaus die Potenziale dieser Konvikte erkannt zu haben und hatte die Intention, daraus seine eigenen Erziehungsanstalten zu schmieden. Doch wie so häufig muss es auch hier Beharrungskräfte gegeben haben, die einer solchen Umwandlung im Wege standen. Im Mai 1937 unternahm Ricci also einen erneuten Versuch, sowohl über die Nationalkonvikte als auch über weite Teile der Schul- und Lehrerausbildung die Oberhand zu gewinnen. Die Antwort Bottais macht jedoch deutlich, dass dieser unter den bestehenden Umständen keineswegs bereit war, Ricci Zugeständnisse zu machen: „Du weißt, dass das Gesetz vom 14. November 1929, mit dem die Opera Balilla gesetzlich in das neue Erziehungsministerium eingefügt wurde, praktisch nicht angewendet wurde, weil beobachtet werden konnte, dass die ONB tatsächlich weiterhin in direktem Abhängigkeitsverhältnis zum Regierungschef steht, was sich im Gesetz selbst nicht widerspiegelt. Die ONB, die also in das Ministerium eingegliedert wurde, ist heute eine vom Ministerium losgelöste und unabhängige Organisation. Ich beschwere mich nicht; ich konstatiere. Vielleicht ist es sogar besser so. Aber wenn die ONB kein Teil der zentralen Schulautorität ist, weiß ich nicht, wie man ihr rein schulische Aktivitäten überlassen kann, ohne gegen den Befehl des Duce zu verstoßen, die absolute Einheit unserer Schulsysteme zu verwirklichen. Zu deren Erneuerung kann die ONB entscheidend beitragen; aber nicht durch die Aufteilung in verschiedene Bereiche: ein Bereich für die ONB mit der gesamten Grundschulbildung sowie weite Teile des Sekundarschulbereichs, einschließlich Internate und Lehranstalten; der andere mit höherer Bildung im Ministerium. Wo das Regime, das alle Schulen in den Zuständigkeitsbereich des Erziehungsministeriums übertrug, eine Einheit schuf, würde es in diesem Fall zwei unabhängige Schulsysteme geben.“101
Ebenso wie sein Vorgänger im Erziehungsministerium betonte Bottai die Einheit der faschistischen Erziehung innerhalb der Schule und war nicht bereit, weitere Kompetenzen an Riccis ONB abzugeben, die sich betont autonom gerierte. In einem auf den selben Tag datierten Schreiben an Mussolini machte Bottai deutlich, dass er sich eine eindeutige Lösung von Mussolini erhoffte, um diesen bestehenden Dualismus und die daraus resultierende Ungewissheit endlich zu beenden.102 Überhaupt hätte Bottai gern alle Jugendeinrichtungen, sowohl die der Partei als auch die des Staates, unter der Ägide seines Erziehungsministeriums geführt.103 Doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Der Konflikt um das Zepter bei der Faschisierung der Jugend spitzte sich im Jahr 1937 schließlich derart zu, dass Mussolini ihn letztlich zugunsten der Partei entschied. Die ONB fusionierte im Oktober 1937 mit den FGC in der neugegründeten Gioventù Italiana del Littorio (GIL), die nun der Partei unterstand. Ricci verlor seinen Posten als Jugendführer und Bottai die ONB, die seinem Ministerium lediglich de jure eingegliedert war.
101 Giuseppe Bottai an Renato Ricci, 11. 5. 1937, in: ACS, 102 Vgl. ebenda. 103 Vgl. De Grand, Bottai e la cultura fascista, S. 192.
SPD, CO, b. 809, f. 500.009/I.
3. Polykratische Strukturen bei der Faschisierung der Jugend 77
Was den konkrekten Ausschlag für Mussolinis Entscheidung gegeben haben mag, ist nicht en detail zu rekonstruieren. Mussolini selbst behauptete in seiner Rede vor der Abgeordnetenkammer, dass die Gründe, die zur neuen Jugend organisation geführt hatten, so offensichtlich seien, dass er sie gar nicht weiter kommentieren wolle, und er tat dies auch nicht.104 Sein Schwiegersohn Ciano vermerkte bereits Ende August 1937 in seinem Tagebuch, dass nach Aussage Mussolinis das Amtsende Riccis nahte.105 Wenige Tage später, am 17. September 1937, notierte Ciano in seinem Tagebuch: „Der Duce hat mir die Absetzung Riccis mit folgenden Worten angekündigt: ‚Wer gegen die Partei ist, ist gegen mich und das wird ihm das Kreuz brechen.‘“106 Dabei bezog sich Mussolini vermutlich auf eine Analyse von Präfekturberichten, die in der Mehrheit ein zerrüttetes Verhältnis von ONB und Partei konstatierten und die Parteisekretär Starace wenige Tage zuvor in einem Brief an Mussolini zum Anlass genommen hatte, um seinem Ziel, die Jugendorganisation endlich der Partei zu unterstellen, Nachdruck zu verleihen.107 Mögen diese Berichte und der Brief Staraces der Tropfen gewesen sein, der das Fass zum Überlaufen brachte, so werden in der Forschung jedoch gemeinhin drei Punkte aufgeführt, die letztlich zur Absetzung Riccis führten:108 Erstens die langjährigen Machtrangeleien mit dem Parteisekretär Achille Starace, der immer wieder Initiativen unternahm, um die ihm zu autonom und in Sachen Faschisierung der Jugend zu wenig erfolgreich agierende Jugendorganisation der Partei einzuverleiben und somit seinen Kontrahenten Ricci auszustechen. Zweitens die Konflikte mit dem Erziehungsminister Bottai wie auch bereits mit dessem Vorgänger De Vecchi, da Ricci immer stärker auch auf dem Gebiet des Schulwesens aktiv wurde, die Minister aber die Schule selbst faschisieren und ihre Kompetenzen weder an die ONB noch an den PNF abtreten wollten. Und schließlich drittens Mussolinis Angst vor Konkurrenz aus seiner Entourage, da der charismatische Ricci sich immer größerer Beliebtheit bei der Jugend erfreute. Auch wenn nun eine einheitliche Jugendorganisation für die sechs- bis 21-jährigen Italiener und Italienerinnen geschaffen worden war, gestaltete sich die Realisierung einer einheitlichen faschistischen Erziehung weiterhin recht schwierig, wie das folgende Kapitel zeigen wird.
104 Vgl. 105 Vgl. 106 Vgl.
Aquarone, Organizzazione dello Stato totalitario, S. 267, Anm. 1. Ciano, Diario, 31. 8. 1937, S. 30 f. ebenda, 17. 9. 1937, S. 38. Am selben Tag informierte Mussolini Ricci über dessen Absetzung, vgl. Mussolini an Ricci, 17. 9. 1937, in: ACS, SPD, CR, b. 48. 107 Vgl. Starace an Mussolini, 7. 9. 1937, in: Aquarone, Due lettere di Starace a Mussolini, S. 642–645. 108 Vgl. Setta, Renato Ricci, Kap. 7; Ponzio, Shaping the New Man, S. 152–155; Teja, ONB tra educazione fisica e sport, S. 32; Antonella Greco, Architettura e arte, in: Santuccio (Hrsg.), Case e il foro, S. 173–192, hier S. 175; Betti, Opera Nazionale Balilla e l’educazione fascista, S. 171 f., sowie die interessante zeitgenössische Einschätzung des deutschen Botschafters in Rom: Ulrich von Hassell an Auswärtiges Amt, Abberufung Riccis als Leiter der italienischen Jugendorganisation, 8. 10. 1937, in: PA AA, Botschaft Rom Quirinal, 709 B.
78 II. Erziehung und Bildung im Faschismus – ein Überblick
4. Ziel: Harmonische Zusammenarbeit zwischen Schule und GIL109 Im Gründungsdekret110 der Gioventù Italiana del Littorio (GIL) vom 27. Oktober 1937 hieß es, sie sei „die einheitliche und totalitäre Organisation der jugendlichen Kräfte des faschistischen Regimes, gegründet im Schoße des Partito Nazionale Fascista in direkter Abhängigkeit vom Sekretär des Partito Nazionale Fascista, […] der ihr Generalkommandant ist“ (Art. 1). Nach zehn Jahren der personellen Kontinuität mit Ricci an der Spitze der Jugendorganisation ONB kam es nun bis zum Ende der faschistischen Herrschaft zu einer starken Fluktuation im Amt des GIL-Generalkommandanten, der in Personalunion die Partei führte. Zwischen 1937 und 1943 bekleideten fünf, respektive sechs Personen die Position: Achille Starace (bis Oktober 1939), Ettore Muti (offiziell bis Oktober 1940; zwischen Juni und Oktober 1940 jedoch unter der Vormachtstellung von Pietro Capoferri), Adelchi Serena (bis Dezember 1941), Aldo Vidussoni (bis April 1943) und Carlo Scorza (bis Juli 1943). Der häufige Wechsel an der Spitze trug dazu bei, dass sich die Jugendorganistion nun schwerlich organisatorisch und programmatisch konsolidierte. Als problematisch erwies sich darüber hinaus, dass Ricci die ONB sehr autonom und auf sich zugeschnitten geführt hatte und sich die GIL nun mühte, funktionierende Verwaltungsstrukturen zu schaffen. Nach einem Jahr arbeitete die GIL-Verwaltung aufgrund fehlenden qualifizierten Personals noch immer nicht zufriedenstellend, sodass mangelnde Koordinierung und Überwachung die Folgen waren.111 In den sechs Jahren des Bestehens der GIL wechselte wiederholt deren organisatorischer Aufbau und damit auch die Anzahl der Vizegeneralkommandanten und der (Unter)Stabschefs der GIL, die den Generalkommandanten bei seiner Arbeit unterstützen sollten.112 Namentlich Erwähnung fanden dabei vor allem Oberst Giuseppe Bodini sowie die beiden gelernten Diplomkaufmänner Orfeo Sellani und (Ales)Sandro Bonamici,113 die die Geschicke der Jugendorganisation zeitweilig nach den Vorgaben des Generalkommandanten lenkten. 109 Vgl.
„Das oberste Prinzip der harmonischen Zusammenarbeit zwischen Schule und GIL ist bekräftigt worden, demzufolge die beiden Institutionen gemeinsam für ein Ziel kooperieren: die Schaffung des Menschen der faschistischen Zeit.“ La formazione dell’uomo del tempo fascista nella collaborazione tra la scuola e la G.I.L., in: Bollettino GIL, 1. 8. 1940, S. 343. 110 Vgl. Regio Decreto-Legge, Nr. 1839, 27. 10. 1937, Istituzione della Gioventù italiana del Littorio, in: GU, Nr. 262, 12. 11. 1937. Das Dekret wurde im Folgenden in ein Gesetz umgewandelt, vgl. Legge, Nr. 2566, 23. 12. 1937, Conversione in legge del R. decretolegge 27 ottobre 1937, Nr. 1839, riguardante l’istituzione della Gioventù Italiana del Littorio, in: GU, Nr. 48, 28. 2. 1938. 111 Vgl. Relazione al comandante generale circa la modificazione del sistema di amministrazione della Gioventù Italiana del Littorio, 15. 10. 1938, in: ACS, PNF, DN, SV, S II, b. 251. 112 Vgl. Ordinamento della Gioventù Italiana del Littorio, in: Bollettino GIL, 1. 11. 1937; Ordinamento del Comando Generale, in: Bollettino GIL, 1. 12. 1940, 1° supplemento; Il nuovo ordinamento del Comando generale, in: Gioventù del Littorio (künftig: GdL), 15. 2. 1941, S. 173 f.; Ordinamento del Comando Generale della Gioventù Italiana del Littorio, in: GU, Nr. 308, 30. 12. 1942. 113 Vgl. Marine-Rundschau 46 (1941), S. 454.
4. Ziel: Harmonische Zusammenarbeit zwischen Schule und GIL 79
Personalkontinuität, die diese institutionellen Veränderungen überdauerte, bestand hingegen lediglich auf einigen Fachgebieten. Eugenio Ferrauto, ONB-Chef für den Sektor Leibeserziehung, Konzeptionist und Dozent der Farnesina, blieb im GIL-Generalkommando weiterhin Chef für Leibeserziehung, verfasste die Leibeserziehungsprogramme und zeichnete fortan verantwortlich für die Inspektion der Durchführung der Leibeserziehung in den verschiedenen Provinzen.114 Auch der Architekt Luigi Moretti, seit 1933 technischer Leiter der ONB, blieb bis in die 1940er Jahre verantwortlich für die Bauten der Jugendorganisation.115 Aufgrund der bereits angedeuteten Probleme bei der Institutionalisierung der GIL wurde es nun offenkundig schwieriger, Bauprojekte durchzusetzen, die zuvor aufgrund des häufig unbürokratischen Agieren Riccis schneller realisiert werden konnten. Auf Provinzebene wurden die Ricci ergebenen ONB-Provinzpräsidenten durch die Starace treuen Parteiprovinzsekretäre – vergleichbar mit den Gauleitern im Nationalsozialismus – abgelöst, die nun zusätzlich als Jugendführer fungierten. Bei ihrer Arbeit erhielten sie Unterstützung durch Vizeprovinzkommandanten.116 Doch auch diese Besetzung wechselte häufig,117 sodass insgesamt festgehalten werden muss, dass die GIL durch personelle Diskontinuität geprägt war. Nach der Gründung der GIL stiegen ihre Mitgliedszahlen dennoch kontinuierlich. Sie entwickelte sich fortan zum „mit Abstand größten Einzelverband im faschistischen Organisationssystem“, wobei der Erfassungsgrad stark von Geschlecht, Herkunftsregion, sozialer Schicht und Alter abhängig war.118 Parallel zu den Mitgliedszahlen stiegen auch die finanziellen Zuwendungen: Während die ONB gerade einmal ein jährliches Maximum von knapp 80 Millionen Lire erhielt, erreichten die Zuwendungen für die GIL ca. 200 Millionen Lire im Jahre 1939 und schließlich sogar 1,13 Milliarden Lire im faschistischen Jahr 1942/1943.119 114 Vgl. Renato Ricci, Delibera, 18. 2. 1928, in: ACS, PCM, 1928–1930, b. 1095, f. 1.1.15.2104;
PNF, FD, Nr. 1211, 10. 12. 1938; Teja, Italian Sport and International Relations under Fascism, S. 153; Teja, ONB tra educazione fisica e sport, S. 18 f. 115 Die Zeit zwischen 1942 und 1945 ist nicht genau rekonstruierbar. Es liegen Dokumente vor, die Moretti im August 1943 unter der neugegründeten Gioventù Italiana weiterhin als technischen Leiter ausweisen. Vgl. Luigi Moretti, Pro Memoria per S.E. il Generale G.A. De Benedetti, Commissario straordinario per la Gioventù Italiana, 18. 8. 1943, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Atti Nord, Accademia Castello dei Cesari, Roma. Möglicherweise, so eine Behauptung des Sohnes von Renato Ricci, habe er danach der wiedergegründeten ONB unter Ricci seine Dienste erwiesen. Vgl. Federico Bucci/Marco Mulazzani, Luigi Moretti. Works and Writings, New York 2002, S. 213, Anm. 3; Marco Mulazzani, L’architettura per la gioventù: forme e tipi, in: Capomolla/ Mulazzani/Vittorini (Hrsg.), Case del balilla, S. 64–87, hier S. 82; Salvatore Santuccio, L’architettura della „casa per la gioventù“, in: Parametro 20 (1989), 172, S. 26–55, hier S. 27 f. 116 Vgl. Ordinamento della Gioventù Italiana del Littorio, Tabella 2, in: Bollettino GIL, 1. 11. 1937, S. 5. 117 Vgl. Stefano Cavazza, Faschismus vor Ort. Die faschistische Partei auf lokaler Ebene, in: Ders./Thomas Großbölting/Christian Jansen (Hrsg.), Massenparteien im 20. Jahrhundert. Christ- und Sozialdemokraten, Kommunisten und Faschisten in Deutschland und Italien, Stuttgart 2018, S. 141–156, hier S. 152. 118 Petersen, Jugend und Jugendprotest im faschistischen Italien, S. 201 f. 119 Vgl. Zapponi, Partito della gioventù, S. 572.
80 II. Erziehung und Bildung im Faschismus – ein Überblick Auch wenn es sich dabei um scheinbar extrem hohe Summen handelte, litt die GIL dennoch an notorischer Finanznot und suchte fortwährend bei anderen Institutionen nach finanzieller wie materieller Unterstützung.120 Die GIL, die die italienische Jugend vom sechsten bis zum 21. Lebensjahr unter dem Motto „Glauben-Gehorchen-Kämpfen“ organisatorisch erfasste (Art. 4), übernahm die Aufgaben und jegliches Eigentum der ONB und der FGC (Art. 2). Sie sorgte sich um die geistige, sportliche und vormilitärische Erziehung der Jugend und kümmerte sich um deren materielle wie auch gesundheitliche Unterstützung (Art. 5a/d). Sie verantwortete weiterhin den Sportunterricht in den staatlichen Schulen, veranstaltete Ferienlager, Reisen und Kreuzfahrten und durfte – das ist besonders hervorzuheben – eigene Schulen, Collegi und Akademien betreiben (Art. 5b-e). Mit der Umwandlung kam es jedoch mitnichten zu einer sofortigen Harmonie zwischen Erziehungsministerium und Jugendorganisation auf dem Gebiet des Schulwesens. Vielmehr setzten sich die Konflikte um die Schulen zwischen Jugendorganisation und Erziehungsministerium fort. Bedauerlicherweise ist die Überlieferung hierzu derart fragmentarisch, sodass die Gründe hierfür nicht detailliert geklärt, sondern lediglich Entwicklungen skizziert werden können. Die Behauptung De Grands, dass alle Schulen der ONB beim Wechsel zur GIL dem Erziehungsministerium zufielen, ist keinesfalls korrekt.121 Eine solch klare Aufteilung gab es nicht. Die Collegi und Schulschiffe verblieben bei der GIL und erst mit dem Dekret 1771 vom 14. Oktober 1938 fielen nahezu alle Landschulen in den Zuständigkeitsbereich des Erziehungsministeriums.122 Dabei handelte es sich um die Schulen, die sich seit 1928 im Einflussbereich der ONB befanden, 1937 in den der GIL übergegangen waren und nun laut Dekret ab 1. Januar 1939 (Art. 13) dem Erziehungsministerium unterstehen sollten.123 120 Exemplarisch
hierfür etwa die Anfrage der GIL beim Marineministerium um materielle Unterstützung für den Hitlerbesuch 1938 in Italien: „Da jedoch allen Jungmatrosen, die der GIL angehören, nur ein paar hundert Gewehre zur Verfügung stehen, ist es dringend notwendig, dass sich dieses Ministerium um die Bewaffnung der Kompanien sorgt, die an der Kundgebung in Rom teilnehmen werden.“ PNF/GIL, Moretti an Ministero della Marina, 7. 1. 1938, in: AUSMM, Archivio di base, b. 2696. 121 Vgl. De Grand, Bottai e la cultura fascista, S. 192; etwa übernommen durch: Dario Ragazzini, L’amministrazione della scuola, in: Giacomo Cives (Hrsg.), La scuola italiana dall’unità ai nostri giorni, Florenz 1990, S. 263–322, hier S. 299. 122 Vgl. Regio Decreto-Legge, Nr. 1771, 14. 10. 1938, Ordinamento delle scuole rurali, in: GU, Nr. 270, 26. 11. 1938. In Artikel 11 und 14 wurden die Ausnahmen benannt. Die letzten nichtstaatlichen Landschulen hätten dem Erziehungsministerium am 30. September 1943 unterstellt werden müssen. Doch dazu kam es aufgrund der Absetzung Mussolinis im Juli 1943 nicht mehr. Vgl. Legge, Nr. 570, 31. 5. 1943, Collocamento dei direttori didattici nel grado 9°, gruppo B, sistemazione dei maestri elementari incaricati della direzione didattica delle scuole rurali e passaggio alla diretta amministrazione dei Regi provveditorati agli studi delle scuole gestite dall’Opera nazionale di assistenza all’Italia redenta e dall’Ente „Le Scuole per i contadini dell’Agro romano“, in: GU, Nr. 152, 3. 7. 1943. 123 So die Darstellung von Montecchi, Contadini a scuola, S. 99. In dem angesprochenen Dekret heißt es jedoch in Art. 17, dass der Königliche Kommissar der bereits von der ONB geführten Landschulen, der mit dem Dekret vom 27. 10. 1937, also dem Gründungsdekret der GIL, ernannt wurde, bis 30. 6. 1939 seine Tätigkeit ausführen wird.
4. Ziel: Harmonische Zusammenarbeit zwischen Schule und GIL 81
Im Dezember 1939 startete Staraces Nachfolger Ettore Muti auf Anweisung Mussolinis eine neue Initiative, Grundschulen in geeigneten Parteieinrichtungen (den örtlichen Fasci, der GIL oder der OND) entstehen zu lassen, damit die Schüler ihrer Schulpflicht nachkommen konnten.124 In einem im Anordnungsblatt der Partei veröffentlichten Rundschreiben des Erziehungsministers Bottai wenige Tage später verlieh dieser seiner Hoffnung Ausdruck, die Schulen nach den Weihnachtsferien bereits eröffnen zu können.125 Es handelte sich konkret um die Errichtung von nicht weniger als 2472 Grundschulen mit ebensovielen Lehrern und rund 125 000 Schülern, die nun in Gebäuden der Partei untergebracht werden sollten.126 Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde das Projekt letztlich nicht realisiert.127 Der Historiker Ricciotti Lazzero vermutet, dass das Vorhaben Mutis torpediert worden sei: „Wahrscheinlich wurde von oben angeordnet, die Initiative fallen zu lassen und die Finger nicht in Sektoren zu stecken, die ihn nichts angehen.“128 Wer da „oben“ konkret gegen das Projekt optierte und warum, obwohl es sich doch nach offizieller Darstellung um eine Anweisung Mussolinis in Übereinstimmung mit dem Erziehungsminister gehandelt hatte, konnte nicht rekonstruiert werden. Im Herbst 1940 kam es dann zu einer Einverleibung aller von der GIL oder den Fasci geschaffenen Schuleinrichtungen (scuole medie) durch das Erziehungsministerium.129 Ausgenommen von dieser Maßnahme blieben einzig und allein die zu dem Zeitpunkt bereits bestehenden Collegi der GIL. Während also der Großteil der Schulen in den Zuständigkeitsbereich des Erziehungsministeriums zurückkehrte, konnte die Partei andere Schulen, wie etwa die Collegi, weiterführen oder neu gründen, ohne dass ein klares Muster ersichtlich würde, nach dem diese Entscheidungen getroffen wurden und welche Aushandlungsprozesse sich dahinter verbargen. Es lässt sich nur vermuten, dass Bottai einerseits darauf drängte, ordentliche Lehrer an diese Schulen zu entsenden, um damit auch innerhalb der Parteischulen seinen Einfluss geltend machen zu können und andererseits nur beruflich ausgerichteten Schulneugründungen der Partei seine Zustimmung gab, die ihm als Spiritus Rector der auf Arbeit fokussierten Schulcharta (Carta della Scuola) nur recht sein konnten. In seiner Rede vor dem Faschistischen Großrat im Wie dieser Kommissar institutionell verankert war, konnte nicht in Erfahrung gebracht werden. In dem Gründungsdekret der GIL findet ein solches Amt ebensowenig Erwähnung wie in der Arbeit von Montecchi. Lediglich Tannenbaum und Mazzatosta erwähnen diese Kommission in ihren Darstellungen. Tannenbaum gibt an, dass die Kommission 1938 an die Stelle der ONB getreten sei, um die Landschulen im Folgenden dem Erziehungsministerium zu unterstellen, ohne Quellen- oder Literaturangaben zu benennen. Vgl. Tannenbaum, Esperienza fascista, S. 200; Teresa Maria Mazzatosta, Il regime fascista tra educazione e propaganda, Bologna 1978, S. 79. Bereits diese kurze Skizze zeigt, dass auch auf dem Gebiet der Landschulen noch viele Ungereimtheiten über deren institutionelle Entwicklung bestehen. 124 Vgl. PNF, FD, Nr. 19, 5. 12. 1939. 125 Vgl. PNF, FD, Nr. 24, 11. 12. 1939. 126 Vgl. PNF, FD, Nr. 58, 17. 1. 1940. 127 Luca La Rovere ließ hingegen jüngst keinen Zweifel daran, dass das Projekt realisiert worden sei, vgl. La Rovere, Totalitarian Pedagogy and the Italian Youth, S. 24. 128 Lazzero, Partito Nazionale Fascista, S. 233. 129 Vgl. PNF, FD, Nr. 192, 13. 9. 1940; Nr. 206, 25. 10. 1940.
82 II. Erziehung und Bildung im Faschismus – ein Überblick Januar 1939 bezeichnete Bottai, zuvor im Korporationsministerium tätig und für die korporativistische Arbeitscharta (Carta del Lavoro) mitverantwortlich, die Schulreform Gentiles als „ungenügend und mangelhaft“130 und zielte mit seiner eigenen Schulreform auf eine harmonische Verknüpfung von Schule, Wirtschaftsund Sozialpolitik im Dienste des zu errichtenden impero. Die Trias „Studium, körperliche Ertüchtigung und Arbeit stehen nach dieser Reform harmonisch nebeneinander, um den „neuen Italiener“, den Italiener Mussolinis, den Italiener des faschistischen Jahrhunderts herauszubilden“,131 erklärte Bottai und bezeichnete seine Schulcharta zugleich als „Magna Charta vom neuen Menschen“.132 Die Schulcharta Bottais bestand konkret aus 29 Erklärungen, in denen er das zukünftige Schulsystem und dessen Grundlagen skizzierte.133 In der 1. Erklärung hieß es: „In der geistigen, politischen und wirtschaftlichen Einheit der italienischen Nation, die im faschistischen Staate ihre totale Verwirklichung findet, formt die Schule, als Grundlage für die Solidarität aller sozialen Kräfte von der Familie bis zur Korporation und zur Partei, das menschliche und politische Bewußtsein der neuen Generationen.“
Bottai vertrat hier den Anspruch, dass die Schule das Fundament der Bewusstseinsbildung sei und nicht die Partei. Auch wenn die 2. Erklärung bestimmte: „Schule, GIL (Faschistische Jugend) und GUF (Faschistischer Studentenbund) bilden gemeinsam das einheitliche Werkzeug faschistischer Erziehung“, so resultierten dennoch aus dem Primatanspruch Bottais weitere Konflikte mit der Partei/Jugendorganisation, die in den folgenden Jahren durch klar definierte und abgegrenzte Arbeitsgebiete behoben werden sollten. Mit der Schulcharta sollten die vier- bis 21-Jährigen verpflichtet werden, ihren „Dienst“ in Schule, GIL oder später als Studenten in der GUF zu tun (2. Erklärung). In einem Schuldienstbuch sollte die Dienstpflicht protokolliert werden. Bis zum Ende der faschistischen Herrschaft fehlte jedoch eine rechtliche Grundlage für eine obligatorische schaft in der Jugendorganisation.134 Zentrale Bedeutung kam in der Mitglied Schulcharta der Arbeit zu, die dort als „Hauptnenner der italienischen Schule“135 herausgestellt wurde und die von der Volksschule bis zur Hochschule in den Lehrplänen ihre Verankerung finden sollte (5. Erklärung). Erst das beständige Arbeiten und Lernen formten und disziplinierten demnach den „neuen Italiener“.136 Die lange Zeit stiefmütterlich behandelte Berufsausbildung rückte bereits vor der Charta zunehmend in den Fokus von Erziehungs- und Korporationsministerium sowie Jugendorganisation, sodass die Abkehr von der klassischen Ausbildung, die bei Gentile im Vordergrund gestanden hatte, immer stärker hervortrat. Die Schule hatte sich immer mehr an den Bedürfnissen der Arbeitswelt auszurichten. Der 130 Giuseppe
Bottai, Die „Carta della Scuola“. Das neue faschistische Schulstatut, Leipzig 1941, S. 3. 131 Ebenda, S. IV. 132 Giuseppe Bottai, Von der Formung des Menschen durch die neue italienische Schule, in: Europäischer Wissenschafts-Dienst 3 (1943), 1, S. 2–4, hier S. 3. 133 Die folgenden Zitate sind Bottai, „Carta della Scuola“, S. 60–74, entnommen. 134 Vgl. Charnitzky, Schulpolitik des faschistischen Regimes, S. 317. 135 Vgl. Bottai, „Carta della Scuola“, S. 9. 136 Vgl. Michel Ostenc, La scuola italiana durante il fascismo, Rom/Bari 1981, S. 247.
4. Ziel: Harmonische Zusammenarbeit zwischen Schule und GIL 83
Volksschulunterricht (6. bis 11. Lebensjahr) sollte grundlegend „Freude an der Handarbeit“ wecken (9. Erklärung). Den elf- bis 14-Jährigen vom Lande stand der Besuch der Handwerksschule (scuola artigiana), denen aus den Städten die Berufsschule (scuola professionale) offen (10./12. Erklärung). Während die Handwerksschüler keine Möglichkeit besaßen, ihre Schulkarriere fortzusetzen, konnten die städtischen Schüler ihre Ausbildung an Fachschulen (scuola tecnica) weiterführen und sich spezialisieren (13. Erklärung). Gleichaltrigen Schülern bot sich erst nach einem „strengen Auslesegrundsatz“ die Möglichkeit, die Einheitsmittelschule (scuola media unica) zu besuchen, in der dem Latein eine eminente Bedeutung zukam, das gar zum Hauptselektionskriterium für weiterführende Schulen avancierte (11. Erklärung). Alle weiterführenden Schulen wie Gymnasien (liceo classico/scientifico), Lehrerbildungsanstalten und Höhere Handels- oder Fachschulen konnten nur nach erfolgreichem Abschluss der stark selektierenden Mittelschule besucht werden. Auch der Zugang zu den Universitäten sollte durch Aufnahmeprüfungen stark beschränkt bleiben.137 Auslese nach Befähigung war ein zentrales Schlagwort in der Charta, und so sollten nun die Nationalkonvikte, die bereits Renato Ricci für die Zwecke seiner ONB umzustalten gedachte, im Rahmen der Schulcharta unter diesem Schlagwort als Collegi di Stato neu ausgerichtet werden.138 In der 3. Erklärung hieß es: „Die staatlichen Erziehungsanstalten [collegi di stato] sichern fähigen, aber unbemittelten Jugendlichen die Fortsetzung ihres Studiums.“ Näher konkretisiert wurde die Idee der Collegi di Stato in der Charta nicht, jedoch hatte Bottai sie bereits in seiner Rede im Januar 1939 vor Mussolini und dem Großen Faschistischen Rat vorgestellt. Demnach sah er das Ziel seiner Reform in der Schaffung einer speziellen „Schule für das faschistische Volk und den faschistischen Staat […], damit er sich ihrer für seinen Personalnachwuchs und seiner eigenen Zwecke bedienen kann.“139 Bottai beabsichtigte mit den Collegi di Stato, „das ganze große Gebiet der Internatserziehung auf einer breiteren Grundlage neu zu ordnen, indem sie […] endlich den ganzen Aufbau der Kollegs auf einer ausgesprochen militärischen und faschistischen Grundlage neu regelt“.140 Er suchte also neben den parteieigenen Collegi der GIL eigene Collegi di Stato des Erziehungsministeriums zu institutionalisieren, die auf der Grundlage einer kontinuierlich selektierenden Bestenauslese und über eine kostenlose Ausbildung eine zukünftige Führungselite hervorbringen sollten, die „dem Volk“ entspringen sollte.141 Bottai schwebte offensichtlich mit der Umwandlung der Nationalkonvikte in Collegi di Stato die Schaffung faschistischer Internate vor, die ähnlich wie die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten (NPEA) in Deutschland dem Erziehungsministerium unterstanden und parallel zu den der Partei unterstehenden Collegi der GIL faschistische Führungskräfte ausgebildet hätten. In der zeitgenössischen 137 Vgl. Charnitzky, Schulpolitik des faschistischen Regimes, S. 374. 138 Vgl. Pecorelli, I Convitti Nazionali e i Reali Educandati, S. 736. 139 Bottai, „Carta della Scuola“, S. 27. 140 Ebenda, S. 28. 141 Vgl. Nino Guglielmi, I Collegi, in: Insegnare 2 (1940), 24, s. p.;
Collegi, in: Insegnare 3 (1941), S. 734 f.
Umberto Marvardi, I
84 II. Erziehung und Bildung im Faschismus – ein Überblick Literatur finden sich hingegen nur Vergleiche mit den Deutschen Heimschulen.142 Inwieweit Bottai selbst sich mit ausländischer – inbesondere der deutschen – Internatserziehung beschäftigte, um sich für die Ausrichtung seiner Internate inspirieren zu lassen, ist nur ansatzweise rekonstruierbar. Fest steht, dass Bottai im Februar 1938 offiziell durch Mussolini mit der Ausarbeitung der Schulreform beauftragt wurde143 und sich im Folgenden mit ausländischen Erziehungssystemen auseinandersetzte. Bereits Ende 1937 ließ sich einer seiner engsten Mitar beiter, der spätere Unterstaatssekretär im Erziehungsministerium, Riccardo del Giudice, von Robert Ley, dem Mitinitiator der Adolf-Hitler-Schulen, über die nationalsozialistische Führungskräfteausbildung unterrichten.144 Im Juni 1938 hätte Bottai die Möglichkeit gehabt, mit seinem deutschen Kollegen, dem Reichserziehungsminister Bernhard Rust, bei seinem Besuch in Köln über dessen NPEA zu sprechen. Über den Inhalt der Unterredung ist jedoch nichts bekannt.145 In den nächsten Monaten vermerkte Bottai in seinem Tagebuch die Lektüre französischer Schriften über die englischen Public Schools und die Adolf-Hitler-Schulen (AHS).146 Dabei interessierte ihn insbesondere das Faktum, dass in den Bibliotheken der AHS Schriften Lenins und Rathenaus zu finden seien. Er charakterisierte die AHS als „Ausbildungszentren einer ‚Volksgemeinschaft‘, einer Rassengemein schaft“.147 Im Jahre 1939 stattete er der Ordensburg Sonthofen, auf der AdolfHitler-Schüler untergebracht waren, wahrscheinlich einen Besuch ab,148 doch darüber findet sich kein Hinweis in seinem Tagebuch. Inwiefern die dabei gewonnenen Erkenntnisse in seine Konzeption der Collegi di Stato geflossen sind, ist 142 Laut
dem Artikel „I ‚collegi di Stato‘ in Germania“ (in: Insegnare 3 [1941], S. 966) seien die Collegi di Stato und die Deutschen Heimschulen in Aufbau und Zielsetzung vergleichbar gewesen. Zu den Deutschen Heimschulen: Deutsche Heimschulen, in: Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 7 (1941), 17, S. 330; Anke Klare, Die Deutschen Heimschulen 1941–1945. Zur Gleichschaltung und Verstaatlichung kirch licher, privater und stiftischer Internatsschulen im Nationalsozialismus, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 9 (2003), S. 37–58. Klare betont die Vorbildfunktion der NPEA für die Heimschulen, verweist jedoch darauf, dass „das Ziel der Deutschen Heimschulen ausdrücklich nicht in einer Begabtenauslese [bestand], auch wenn der Heimschulerlaß an dritter Stelle vorgab, ‚besonders begabte Kinder‘ zu fördern“. (S. 38) In Bottais Collegi di Stato sollte der Begabtenauslese in der Theorie eine zentrale Bedeutung zukommen. Auch wenn es sich hier um einen asymmetrischen Vergleich handelt, sind Zweifel angebracht, in den Heimschulen die Entsprechung der Collegi di Stato zu sehen. 143 Vgl. Charnitzky, Schulpolitik des faschistischen Regimes, S. 368. Leider schweigt sich das Tagebuch Bottais weitestgehend zur Schulreform aus. Vgl. Meir Michaelis, Giuseppe Bottai, la pretesa totalitaria e la svolta razziale. Riflessioni sui diari di un gerarca fascista, in: Rivista storica italiana 113 (2001), S. 457–496, hier S. 458. 144 Vgl. Riccardo del Giudice, Relazione sui problemi sociali e scolastici tedeschi, s. d. [Oktober, November 1937], in: Fondazione Ugo Spirito, fondo Riccardo del Giudice, b. 4, f. Viaggio in Germania. 145 Vgl. Il ministro Bottai a Colonia per il giubileo dell’Università, in: CdS, 26. 6. 1938, S. 6; Scambio di telegrammi fra Bottai e il ministro Rust, in: CdS, 9. 7. 1938, S. 5; Bottai, Diario, 23. 6. 1938, S. 121. 146 Vgl. ebenda, 10. 7. 1938, S. 123; 21. 7. 1938, S. 127. 147 Ebenda, 21. 7. 1938, S. 127. 148 Vgl. Hülsheger, Adolf-Hitler-Schulen, S. 30, 154. Über den Besuch und das konkrete Datum macht der Autor keine genaueren Angaben.
4. Ziel: Harmonische Zusammenarbeit zwischen Schule und GIL 85
leider nicht ersichtlich, auch aufgrund der Tatsache, dass seine Pläne vage blieben und die Collegi letztlich nie realisiert wurden.149 Die Nationalkonvikte blieben schließlich bis zum Ende der faschistischen Herrschaft in ihrer bestehenden Form unangetastet. Wesentlich ist jedoch, dass die Charta, abgesehen von den Äußerungen zur Förderung und zum Aufstieg von Begabten, darauf ausgelegt war, die bestehenden sozialen Verhältnisse nicht anzutasten. Insgesamt „ist festzuhalten, dass zum Ausgang der faschistischen Herrschaft in Italien der Entwurf eines Schulwesens vorlag, der eine eindeutige Zuordnung von Ausbildungs- und Beschäftigungssystem vorsah und die Sicherung imperialistischer Ansprüche gerade auch über die Ausbildung von handwerklich geschulten Fachkräften für möglich hielt. So wurde der Ausbildung dieser Fachkräfte als der Mehrheit der Bevölkerung Vorrang eingeräumt. Es sollte sichergestellt werden, daß nur ein geringer Anteil der Jugendlichen über die Mittelschulen bis zum Abschluß der Sekundarstufe II und der Hochschulen kam. Ein restriktives und selektives Ausbildungssystem entsprach nach diesem Entwurf einem streng hierarchisch gegliederten Wirtschafts- und Gesellschaftssystem.“150
Die Schulcharta trug also genauso wenig zur sozialen Mobilität bei wie 16 Jahre zuvor die Reform Gentiles. Die Mehrheit der Jugendlichen sollte in den Berufen tätig werden, die ihre Väter bereits ausübten, und nicht „dazu verleitet [werden], ihre ererbte soziale Stellung aufzugeben“.151 Unter den Kriegsbedingungen und den begrenzten finanziellen Mitteln ging von dieser Schulreform keine tatsächliche Veränderung des Schulwesens mehr aus. Bottais Schulcharta blieb, bis auf die Einführung der Einheitsmittelschule im Schuljahr 1940/1941 und die Eröffnung eines Nationalen Didaktikzentrums in Florenz, das für die Collegi hätte von Bedeutung werden sollen, eine „Schule auf dem Papier“, wie bereits Zeitgenossen spotteten.152 Um die bestehenden Zuständigkeitskonflikte zu überwinden, die ungeachtet des Reformversuchs fortbestanden, arbeitete eine Kommission unter der gemeinsamen Leitung des Parteisekretärs und des Erziehungsministers ein Maßnahmenpapier aus, die Rapporti scuola-GIL, welches das Verhältnis der beiden Institutionen neu ordnen sollte.153 In dieser Verfügung vom 9. Juni 1940 wurden die Aufgabenfelder der GIL und des Erziehungsministeriums in Bezug auf das Schulwesen klar geregelt. Dabei ging es unter anderem um die Verwendung der Lehrer innerhalb der Jugendorganisation, die Festlegung von Zeiten, die der Schule bzw. der GIL vorbehalten waren, und die Absprachen von Feierlichkeiten und Zusammenkünften, die durch regional eingerichtete Schule-GIL-Kommissionen geplant werden sollten.154 149 Auch
in der Spezialstudie zur Schulcharta von Rino Gentili finden sich keine grund legenden Hintergründe zu den Collegi di Stato. Vgl. Rino Gentili, Giuseppe Bottai e la riforma fascista della scuola, Florenz 1979, S. 75 f., 83 f. 150 Viktor von Blumenthal, Die Reform der Sekundarstufe II in Italien. Zum Legitima tionsproblem bildungspolitischer Entscheidungen, München 1980, S. 36 f. 151 Vgl. Bottai, „Carta della Scuola“, S. 23. 152 Vgl. Charnitzky, Schulpolitik des faschistischen Regimes, S. 378 f.; Williams, Fascist Thought and Totalitarianism in Italy’s Secondary Schools, S. 56. 153 Giovanni Vinci, Le organizzazioni giovanili, in: Ministero dell’Educazione Nazionale (Hrsg.), Dalla Riforma Gentile alla Carta della Scuola, S. 401–410, hier S. 409. 154 Vgl. La formazione dell’uomo del tempo fascista nella collaborazione tra la scuola e la G.I.L., in: Bollettino GIL, 1. 8. 1940, S. 343.
86 II. Erziehung und Bildung im Faschismus – ein Überblick Auch wenn sich Bottai damit abgefunden haben mochte, dass die von ihm beanspruchte Jugendorganisation der Partei unterstand, so suchte er dennoch den Einfluss der Schule und insbesondere der Lehrer innerhalb der GIL geltend zu machen, indem diese einerseits zu einer stärkeren Mitarbeit innerhalb der Jugendorganisation angehalten wurden und andererseits der GIL verboten wurde, Zeiten in Anspruch zu nehmen, die in die Schulzeit fielen. Wenige Monate später, im Dezember 1940, wurde zudem die Consulta della GIL, eine beratende Versammlung, ins Leben gerufen, die durch den Generalkommandanten der GIL geleitet wurde und sich aus dem Erziehungsminister, den Staatssekretären des Innen-, Kriegs-, Marine- und Luftfahrtministeriums, dem Generalstabschef der Miliz, der Inspekteurin der faschistischen Frauengruppe sowie den beiden Vizegeneralkommandanten der GIL zusammensetzte.155 Ziel der Consulta, die auf Anordnung Mussolinis entstanden sein soll, war die Koordinierung der Arbeit der GIL mit den beteiligten Ministerien auf dem Gebiet der Erziehung, der Gesundheit und der vormilitärischen Ausbildung.156 Bei den regelmäßig stattfindenden Treffen sollten die bestehenden Probleme auf kurzem Wege angesprochen und behoben werden. In erstaunlicher Deutlichkeit verwies der Messaggero auf die Notwendigkeit dieser Consulta. Es galt, das unkooperative Verhalten mancher Ministerien zu unterbinden und „jene Unstetigkeiten und Einmischungen zu vermeiden, die in einem Regime, das den Namen Mussolinis trägt, nicht hinnehmbar sind“.157 Nach allem was wir wissen, trat die Consulta lediglich drei Mal zusammen.158 Wie effektiv diese Instrumente bei Voranschreiten des Krieges und der Einberufung des Personals waren, um den Einfluss der GIL auf das Schulwesen zu konsolidieren und künftige Konflikte zu vermeiden, kann schwer ermessen werden. Bottai berichtet in seinem Tagebuch im Dezember 1942 von einem Gespräch mit Mussolini, in dem beide bestätigen, dass die GIL zusehends weniger Einfluss besitze: „Ich spreche mit ihm über die Lockerung der Beziehung zwischen Schule und gil, zwischen Schule und guf, im Allgemeinen vom Rückgang des revolutionären Interesses an den Beziehungen zwischen Schule und Partei. ‚Alles zerbricht, alles zerfällt‘, schließe ich. Und er stimmt mit fast resignierter Traurigkeit zu: ‚Ja, es stimmt, alles fällt auseinander.‘“159
Sofern sich die Beziehungen zwischenzeitlich tatsächlich verbessert hatten, wie diese Passage suggeriert, so lösten sie sich offensichtlich nun mit Verschlechterung der Kriegsentwicklungen wieder auf.160 155 Vgl.
PNF, FD, Nr. 26, 20. 12. 1940; Nomina dei componenti la consulta del Comando Generale della G.I.L., in: Bollettino GIL, 1.1.1941, S. 105. 156 Vgl. La Consulta della G.I.L., in: GdL, 1. 2. 1941, S. 145–148. 157 Costituzione di una consulta del Comando generale della GIL, in: Il Messaggero, 1. 12. 1940 (ACS, SPD, CO, b. 837, f. 500.018 (GIL)). 158 La prima riunione della Consulta della G.I.L., in: GdL, 1. 2. 1941, S. 152; Riunione della Consulta, in: I diritti della scuola (künftig: DS) 42 (1940/41), 25, 20. 7. 1941, S. 393; La vasta attività della G.I.L. all’esame della consulta, in: GdL, 1.1.1942, S. 184. 159 Vgl. Bottai, Diario, 15. 12. 1942, S. 345. 160 Zur stärkeren Kooperation von Schule und GIL siehe auch: Mazzatosta, Il regime fascista tra educazione e propaganda, S. 213 f., die sich hierbei jedoch auf Rundschreiben bezieht, deren Realisierung letztlich nicht überprüft werden kann. Nichtsdestotrotz
4. Ziel: Harmonische Zusammenarbeit zwischen Schule und GIL 87
Abschließend bleibt festzuhalten, dass sich der Fokus während der faschistischen Herrschaft von der Bildung hin zur Charaktererziehung der Jugend verschob. Es ist wenig überraschend, dass das Hauptaugenmerk eines in seinem Selbstverständnis totalitären Staates nicht auf der Entfaltung und Allgemeinbildung des Individuums lag, sondern auf der Erziehung seiner Jugend zum Nutzen des faschistischen Staates. Unterricht und Freizeit wurden vielfach für Kriegsbegeisterung und Kriegsvorbereitung instrumentalisiert, was sich beispielsweise am Unterrichtsfach Militärkunde, den Inhalten der Einheitslehrbücher und der vormilitärischen Ausbildung innerhalb der Jugendorganisationen zeigte. Viele der grundlegenden Probleme, wie die weiterhin hohe Analphabetenrate und die mangelhafte Berufsausbildung, löste der Faschismus nicht zufriedenstellend. Auch wenn sich die Analphabetenrate von 27,3 Prozent (1921) auf 20,9 Prozent (1931) italienweit verringerte (die nächsten verfügbaren Daten liegen für 1951 mit 12,9 Prozent vor), so war sie dennoch auch weiterhin vor allem im Süden sehr hoch (trauriger Spitzenreiter Kalabrien mit 48 Prozent, gefolgt von Basilikata 46 und Sizilien 40 Prozent im Jahre 1931).161 Gerade auf dem Gebiet der Kriegsführung war dieser Missstand besonders deutlich zu spüren, wie Thomas Schlemmer konstatiert: „Das italienische Bildungssystem brachte zu wenige Ingenieure, Techniker, ja selbst Mechaniker und Kraftfahrer hervor, um den Bedarf der Streitkräfte zu decken, die sich zudem mit dem Problem konfrontiert sahen, daß zahlreiche Soldaten kaum lesen und schreiben konnten und so praktisch für alle anderen Aufgaben als einfachen Dienst ausfielen.“162
So kam es zu der paradoxen Situation, dass die jungen Italiener zwar mental auf den Krieg vorbereitet wurden, ihnen jedoch teils grundlegende Fähigkeiten fehlten, um daran wirkungsvoll teilzunehmen. Sie waren den Anforderungen einer modernen, hochtechnisierten Kriegsführung schlichtweg nicht gewachsen. Zudem ermöglichte das Erziehungs- und Bildungssystem kaum sozialen Aufstieg und auch die faschistischen Schulreformen änderten daran nichts. Anders ausgedrückt: Während der Faschismus die Überwindung sozialer Distinktionen verhieß, zementierte er de facto durch die Schulreform und einige Initiativen der Jugendorganisation die bestehenden Zustände. Insgesamt lässt sich konstatieren, dass die auf dem Gebiet von Bildung und Erziehung ergriffenen Maßnahmen häufig inkonsequent umgesetzt wurden. Zahlreiche Wechsel an der Spitze der Jugendorganisation (sechs Jugendführer) und im Unterrichts- bzw. Erziehungsministerium (neun Minister zwischen 1922 und 1943), die Flut von Gesetzen und Erlassen (rund 3500)163 sowie polykratische verstummten die Stimmen nicht, denen der Einfluss der Partei zu stark in den Schulen präsent war und die die intensive Inanspruchnahme der Schüler durch die GIL kritisierten. Ebenda, S. 215 f. 161 Vgl. Charnitzky, Schulpolitik des faschistischen Regimes, S. 412, Tab. 2. 162 Thomas Schlemmer, Die Italiener an der der Ostfront 1942/43. Dokumente zu Mussolinis Krieg gegen die Sowjetunion, München 2005, S. 11. 163 Vgl. Jürgen Charnitzky, Die italienische Grundschule im faschistischen Staat. Schulpolitische Rahmenbedingungen und Maßnahmen, in: Teistler (Hrsg.), Lesen lernen in Diktaturen der 1930er und 1940er Jahre, S. 63–76, hier S. 75.
88 II. Erziehung und Bildung im Faschismus – ein Überblick Strukturen, verknüpft mit persönlichen Rivalitäten, hemmten Versuche zur systematischen Faschisierung der Jugend.
5. Exkurs: Eine „Ausleseschul-Achse“? Die eben angesprochenen polykratischen Strukturen und persönlichen Rivalitäten bestanden im faschistischen Italien und im nationalsozialistischen Deutschland auf dem Gebiet der Erziehungs- und Bildungspolitik gleichermaßen. Jedoch war die personelle Kontinuität der Ressortleiter in Deutschland wesentlich höher: Bernhard Rust, zunächst Preußischer Kulturminister und seit 1934 Reichserziehungsminister, leitete sein Ministerium bis 1945. Sein Gegenspieler,164 der Jugend führer Baldur von Schirach, führte die Hitlerjugend von 1933 bis 1940, gefolgt von seinem langjährigen Stellvertreter Arthur Axmann, der bis zum Untergang des „Dritten Reiches“ an der Spitze der HJ stand. Beide Regime zielten in gleichem Maße auf Machtstabilisierung und Perpetuierung der faschistischen respektive nationalsozialistischen Herrschaft durch die Herausbildung einer neuen Führungsschicht und errichteten zu eben diesem Zweck Ausleseschulen. Während es in Deutschland drei Typen von Ausleseschulen unter der Führung unterschiedlicher Träger gab – die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten (Reichs erziehungsministerium), die Adolf-Hitler-Schulen (HJ/DAF) sowie die Reichsschule Feldafing (zunächst SA, dann NSDAP)165 –, errichtete in Italien nur die Jugendorganisation mit ihren Collegi Ausleseschulen. Die Intention des Er ziehungsministers Bottai, Staatsinternate (Collegi di Stato) zu gründen, realisierte sich hingegen nicht. In Anbetracht zahlreicher transfergeschichtlicher Studien der letzten Jahre,166 die auf die gegenseitige Perzeption, den Ideenaustausch, das Lernen und die Ko164 Vgl.
Armin Nolzen/Marnie Schlüter, Das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, in: Klaus-Peter Horn/Jörg-W. Link (Hrsg.), Erziehungsverhältnisse im Nationalsozialismus. Totaler Anspruch und Erziehungswirklichkeit, Bad Heilbrunn 2011, S. 341–355, hier S. 350. Die Rivalitäten zwischen Rust und von Schirach sowie Ley kamen besonders auch in der Gründungsphase der AHS zum Tragen: Rust an Ley, 21. 1. 1937, in: BA Berlin, R 2, 12769; Ley an Rust, 22. 1. 1937, in: BA Berlin, R 43 II, 956a, Bl. 12 f.; v. Schirach an Rust, 22. 1. 1937, in: BA Berlin, R 43 II, 956 a, Bl. 15 f.; Rust an Ley, 25. 1. 1937, in: BA Berlin, R 43 II, 956 a, Bl. 18–22; zu HJ und NPEA: Vermerk, 2. 6. 1942, in: BA Berlin, R 4901, 6599, Bl. 91 f., hier Bl. 91 RS. 165 Vgl. Elke Fröhlich, Die drei Typen der nationalsozialistischen Ausleseschulen, in: Johannes Leeb (Hrsg.), „Wir waren Hitlers Eliteschüler“. Ehemalige Zöglinge der NSAusleseschulen brechen ihr Schweigen, Hamburg 1998, S. 192–210. 166 Vgl. Sven Reichardt, Globalgeschichte des Faschismus. Neue Forschungen und Perspektiven, in: APuZ (2017), 42–43, S. 10–16, hier S. 13 f. Siehe etwa Daniela Liebscher, Freude und Arbeit. Zur internationalen Freizeit- und Sozialpolitik des faschistischen Italien und des NS-Regimes, Köln 2009; Harald Oelrich, „Sportgeltung – Weltgeltung“. Sport im Spannungsfeld der deutsch-italienischen Außenpolitik von 1918 bis 1945, Münster 2003; Patrick Bernhard, Blueprints of Totalitarianism: How Racist Policies in Fascist Italy Inspired and Informed Nazi Germany, in: Fascism. Journal of Comparative Fascist Studies 6 (2017), 2, S. 127–162; Patrick Bernhard, Konzertierte Gegnerbekämp-
5. Exkurs: Eine „Ausleseschul-Achse“? 89
operation der beiden Regime verwiesen, stellt sich auch die Frage, welche Kontakte es auf dem für beide Regime zentralen Gebiet der Erziehungs- und Bildungspolitik gegeben hat. In Anlehnung an die Wortschöpfung Mussolinis, der während einer Bernhard Rust gewährten Audienz von der „Schulachse“167 sprach, soll gefragt werden, ob sich eine „Ausleseschul-Achse“ bildete. Anzumerken gilt, dass es sich dabei ebenfalls um ein gänzlich unbeackertes Feld handelt. Während nunmehr eine Studie über die Zusammenarbeit von HJ und ONB vorliegt,168 ist das Verhältnis der Erziehungsministerien noch nicht systematisch erforscht worden.169 Im Folgenden sollen nun erste Befunde präsentiert werden. Nils Fehlhaber betonte in seiner kürzlich erschienenen Studie „Netzwerke der ‚Achse Berlin-Rom‘“170 die Bedeutung persönlicher Kontakte zwischen den Amtsträgern der beiden Länder. Um diese war es auf dem Gebiet der Erziehungspolitik zeitweilig schwierig bestellt. Nach der Machtübertragung 1933 begann eine intensive Austauschbewegung zwischen HJ und ONB, die nur kurzzeitig infolge der Ermordung des österreichischen Kanzlers Engelbert Dollfuß abebbte.171 Während dieser Besuche habe sich zwischen Renato Ricci und Baldur von Schirach eine „wahre Freundschaft“172 entwickelt, die auch zur Planung zahlreicher Projekte führte. So beabsichtigten sie beispielsweise die Errichtung deutsch-italienischer fung im Achsenbündnis. Die Polizei im Dritten Reich und im faschistischen Italien 1933 bis 1943, in: VfZ 59 (2011), S. 229–262; Patrick Bernhard, Die „Kolonialachse“. Der NS-Staat und Italienisch-Afrika 1935 bis 1943, in: Klinkhammer/Osti Guerrazzi/ Schlemmer (Hrsg.), Die „Achse“ im Krieg, S. 147–175. 167 Bottai, Diario, 23. 9. 1940, S. 226. 168 Vgl. Ponzio, Shaping the New Man. Die Arbeit von Ute Schleimer (Opera Nazionale Balilla bzw. Gioventù Italiana del Littorio und die Hitlerjugend – eine vergleichende Darstellung) nimmt hingegen keinen Bezug auf Netzwerke oder gegenseitige Wahrnehmung. 169 Erste Hinweise liefern hier lediglich die Arbeiten von Jens Petersen (Vorspiel zu „Stahlpakt“ und Kriegsallianz: das deutsch-italienische Kulturabkommen vom 23. November 1938, in: Bracher/Valiani (Hrsg.), Faschismus und Nationalsozialismus, S. 243–282) und Andrea Hoffend (Zwischen Kultur-Achse und Kulturkampf. Die Beziehungen zwischen „Drittem Reich“ und faschistischem Italien in den Bereichen Medien, Kunst, Wissenschaft und Rassenfragen, Frankfurt a. M. u. a. 1998). 170 Vgl. Nils Fehlhaber, Netzwerke der „Achse Berlin-Rom“. Die Zusammenarbeit faschistischer und nationalsozialistischer Führungseliten 1933–1943, Köln 2019. 171 So besuchte Ricci im Sommer 1933 mit rund 400 ONB-Mitgliedern Deutschland. Vgl. Presseschau und Besuchsprogramm, in: ASMAE, AP, 1931–1945, Germania, b. 17, f. 2. Im Frühjahr 1936 hielt sich Ricci erneut in Deutschland auf und traf dabei mit Hitler, Goebbels und Rust zusammen; vgl. Goebbels, Tagebuch, Teil I, Bd. 3/I, 6. 2. 1936, S. 375; AA an Ulrich von Hassell, 11. 2. 1936, in: PA AA, RAV Rom (Quirinal Geheim) 40. Im September 1936 besuchte Baldur von Schirach mit rund 450 HJ-Mitgliedern Italien. Vgl. zu der Reise die Korrespondenz in: PA AA, Botschaft Rom Quirinal, 668 B. Im Frühjahr 1937 kam Ricci zum Gegenbesuch nach Deutschland und besichtigte dabei u. a. die Ordensburg Krössinsee. Vgl. Programm des Besuches in: PA AA, R 98863, Bl. 2–8 [hier noch Vogelsang], aktualisiert in: BA Berlin, NS 10/43 [nun Crössinsee]. Im Sommer 1937 bereiste Ricci erneut mit 1200 Schülern der ONB-Akademien Deutschland. Vgl. Il viaggio di S.E. il Presidente e degli Accademisti dell’O.B. in Germania, in: Bollettino dell’Opera Balilla, 1. 7. 1937, S. 1; Presseberichterstattung in: ASMAE, AP, 1931–1945, Germania, b. 42. 172 Ambasciata d’Italia Berlino an Ministero Affari Esteri, Visite italiane in Germania, 6. 5. 1937, in: ASMAE, AP, 1931–1945, Germania, b. 40.
90 II. Erziehung und Bildung im Faschismus – ein Überblick Institute für Jugenderziehung und -führung in Berlin und Rom zur Vertiefung des gegenseitigen Austausches.173 Die plötzliche Absetzung Riccis im Herbst 1937 bereitete dem regen Austausch dann ein jähes Ende und führte zu einer Abkühlung des Verhältnisses der Jugendorganisationen. Dazu bemerkte der deutsche Botschafter in Rom, Ulrich von Hassell, Anfang 1938 in seinem Tagebuch: „Politisch ist aus den letzten Wochen interessant das wachsende italienische Mißtrauen gegen uns, besonders ausgelöst durch […] Schirachs Flirten mit den Franzosen, nachdem dieser durch das Absägen seines Freundes Ricci verschnupft den Italienern die kalte Schulter zeigt.“174
In Ermangelung einer solchen „Männerfreundschaft“ unter den folgenden Jugendführern kam es augenscheinlich zu keinem engeren Gedanken- und Erfahrungsaustausch mehr.175 Vielmehr beklagte sich von Schirach über die „Kälte“ Staraces und beide Seiten lamentierten über die recht vagen Austauschversuche.176 Erst im Sommer 1939 nahmen sie langsam wieder an Fahrt auf, als jedoch 173 Vgl.
auch: „Das römische Institut wird Führer der Hitlerjugend aufnehmen und mit den kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Errungenschaften des faschistischen Systems bekanntmachen. Die entsprechenden Aufgaben fallen dem Berliner Institut hinsichtlich der Führer der italienischen Balilla zu. […] Schirach betonte ausdrücklich, daß die bloße Kopie der gegenseitigen Jugenderziehung nicht im Plan der Gründung der beiden Institute liege.“ Graf Ciano als Gast der deutschen Jugend. Errichtung deutsch-italienischer Institute für Jugenderziehung und -führung, in: Hamburger Fremdenblatt, 22. 10. 1936 (ASMAE, AP, 1931–1945, Germania, b. 35). Das Haus wurde von deutscher Seite aus tatsächlich zwischen 1937 und 1938 am Havelufer (Hohengatow – Bezirk Spandau – Breitehornweg) errichtet und dann als „Auslandshaus der HJ“ genutzt. Vgl. Wolfgang Schäche, Architektur und Städtebau in Berlin zwischen 1933 und 1945. Planen und Bauen unter der Ägide der Stadtverwaltung, Berlin 21992, S. 360–362; Fritz Abt, Das Auslandshaus der Hitlerjugend, in: Die Kunst im Dritten Reich 2 (1938), 11, S. 350–357. Der Plan für eine römische HJ-Akademie wurde weiter verfolgt, jedoch letztlich nicht realisiert. Vgl. Von Mackensen an Wilke, 2. 3. 1940, in: PA AA, Botschaft Rom Quirinal, 1394 A, Bd. 5. Für die Pläne scheint Luigi Moretti verantwortlich gewesen zu sein, der 1936 ein „Italian-German House of Friendship at the Foro Mussolini, Rome“ ersann. Vgl. Bucci/Mulazzani, Luigi Moretti, S. 217. 174 Ulrich von Hassell, Römische Tagebücher und Briefe 1932–1938, München 2004, 27. 1. 1938, S. 210. Vgl. dazu: Galeazzo Ciano an Massimo Magistrati, 4. 12. 1937, in: ASMAE, Gabinetto del Ministro e del Segretario Generale 1923–1943, b. 1119; Gale azzo Ciano an Bernardo Attolico, 19. 12. 1937, in: ASMAE, Gabinetto del Ministro e del Segretario Generale 1923–1943, b. 1119. 175 Im Sommer 1938 erstellte die italienische Seite ein umfangreiches Besuchsprogramm für von Schirach, um an die guten Kontakte anzuknüpfen. Vgl. Programma di massima della visita di von Schirach, s. d., in: ASMAE, AP, 1931–1945, Germania, b. 49. Letztlich ließ von Schirach die Italiener jedoch wissen, dass er privat und in zivil nach Rom komme, um mit Starace die „Probleme der Zusammenarbeit unserer Organisationen“ zu besprechen. Appunto per il Segretario del Partito, s. d., in: ASMAE, AP, 1931–1945, Germania, b. 49. Den mehrfach von Starace geäußerten Wunsch, von Schirach möge 1939 nach Rom kommen, wies dieser zurück und forderte, dass Starace zunächst nach Deutschland kommen solle. Vgl. Heinz Wilke an von Mackensen, 23. 5. 1939, in: PA AA, Botschaft Rom Quirinal, 698 B; Heinz Wilke an von Mackensen, 5. 7. 1939, in: PA AA, Botschaft Rom Quirinal, 697 B. 176 Vgl. Oelrich, „Sportgeltung – Weltgeltung“, S. 374; von Mackensen an Auswärtiges Amt Berlin, 31. 3. 1939, in: PA AA, R 99049, Bl. 117 f.; darüber hinaus Ambasciata d’Italia Berlino an Ministero degli Affari Esteri, 28. 1. 1939, in: ASMAE, AP, 1931–1945, Germania, b. 61.
5. Exkurs: Eine „Ausleseschul-Achse“? 91
nicht der Jugendführer, sondern „lediglich“ der HJ-Stabschef Hartmann Lauterbacher nach Italien kam, um etwa das Collegio in Venedig sowie die Akademien für Leibeserziehung in Rom und Orvieto zu besuchen.177 Kompliziert gestaltete sich auch das Verhältnis der Erziehungsminister der beiden Länder. Bernhard Rust war gegenüber Giuseppe Bottai skeptisch eingestellt, da dieser als deutschfeindlich und franzosenfreundlich galt.178 Seit 1937 gab es italienische Initiativen, Rust nach Italien einzuladen, doch die Reise wurde immer wieder verschoben.179 Erstmals trafen sich die beiden im Juni 1938 in Köln zur 550-Jahrfeier der Universität.180 Bei dieser Gelegenheit sprach Bottai nochmals eine persönliche Einladung aus: Im Oktober 1938 sollte Rust nach Rom kommen, um nun endlich die italienischen Schulen und Universitäten kennenzulernen.181 Die Vorbereitungen dieser Reise liefen auf Hochtouren, die Presse berichtete über den bevorstehenden Besuch mitsamt gemeinsamer Unterzeichnung des Kulturab kommens,182 doch dann sagte die deutsche Seite den Besuch wieder kurzfristig ab.183 Was war geschehen? Hitler waren Gerüchte zu Ohren gekommen, Bottai sei Jude, sodass er Rust die Reise kurzerhand verbot.184 Noch im Mai 1939 beklagte sich Bottai in der deutschen Botschaft: „[E]s sei doch etwas eigenartig, daß auf allen Gebieten zwischen Italien und Deutschland dauernd Besuche ausgetauscht würden, dieses aber auf dem Gebiete des Schulwesens, wie er sich ausdrückte, nicht möglich sein solle.“185 Eine Reise nach Deutschland verbot Mussolini Bottai 177 Vgl.
Programma della visita in Italia del Capo di Stato Maggiore e di 30 dirigenti provinciali e capi servizio della HJ dal 3 all’11 giugno 1939, s. d., in: ASMAE, AP, 1931– 1945, Germania, b. 64. 178 Vgl. AA an Botschaftsrat Baron von Plessen, 27. 8. 1937, in: PA AA, Botschaft Rom Quirinal, 697 B; Hermann Goldbrunner, Aus der Bibliothek eines intellektuellen Faschisten: Giuseppe Bottai, in: QFIAB 60 (1980), S. 535–578, hier S. 542, 567; Nicola D’Elia, Giuseppe Bottai e la collaborazione culturale italo-tedesca negli anni dell’Asse Roma-Berlino, in: Andrea Albrecht/Lutz Danneberg/Simone De Angelis (Hrsg.), Die akademische „Achse Berlin-Rom“? Der wissenschaftlich-kulturelle Austausch zwischen Italien und Deutschland 1920 bis 1945, München/Wien 2017, S. 25–47, hier S. 26; Hoffend, Kultur-Achse und Kulturkampf, S. 351. 179 Vgl. Massimo Magistrati an Galeazzo Ciano, 25. 2. 1937, in: ASMAE, AP, 1931–1945, Germania, b. 40; Plessen an Frey, REM, 28. 4. 1937, in: PA AA, Botschaft Rom Quirinal, 697 B; Schriftwechsel von Hassell und REM Rust, 28. 4./10. 5./1. 6./21. 6. 1937, in: PA AA, Botschaft Rom Quirinal, 697 B; Hassell an von Tschammer und Osten, 10. 11. 1937, in: PA AA, Botschaft Rom Quirinal, 697 A. 180 Vgl. Il ministro Bottai a Colonia per il giubileo dell’Università, in: CdS, 26. 6. 1938, S. 6. 181 Vgl. Scambio di telegrammi fra Bottai e il ministro Rust, in: CdS, 9. 7. 1938, S. 5. 182 Vgl. Ciano an Ambasciata d’Italia Berlino, 20. 7. 1938, in: ASMAE, AP, 1931–1945, Germania, b. 56; Detailliertes neunseitiges Besuchsprogramm der Reise Rusts, s. d. [Anfang Oktober 1938], in: PA AA, Botschaft Rom Quirinal, 697 B; Prossima visita a Roma del ministro tedesco dell’istruzione, in: CdS, 5. 10. 1938, S. 5. 183 Attolico an Ministero degli Affari Esteri, 9. 10. 1938, in: ASMAE, AP, 1931–1945, Germania, b. 49. 184 Vgl. den Schriftwechsel in: PA AA, Botschaft Rom Quirinal, 697 B; Goldbrunner, Bibliothek, S. 555 f. 185 Pfeiffer an von Mackensen, 11. 5. 1939, in: PA AA, Botschaft Rom Quirinal, 697 B. An dem Reiseverbot Hitlers für Rust nach Italien wurde dennoch nicht gerüttelt: „Herr Luther bestätigte auf eine Andeutung meinerseits, daß sich an der wahren Begründung nichts geändert habe und der Führer die Reise überhaupt nicht wünsche.“ Aufzeichnung, 12. 5. 1939, in: PA AA, Botschaft Rom Quirinal, Geheimakten 53, Bl. 465462.
92 II. Erziehung und Bildung im Faschismus – ein Überblick wiederum im Juli 1939,186 sodass es erst ab Herbst 1940 zu intensiveren persönlichen Kontakten zwischen den Erziehungsministern kam.187 Im September 1940 besuchte Rust das Foro Mussolini und Bottai ein Jahr später die NPEA in Dresden-Klotzsche.188 Bei diesen persönlichen Treffen sei wohl auch die Idee zum Austausch mit Napola-Schülern entstanden.189 Erst nach dem italienischen Kriegseintritt und dem Abbruch der Beziehungen zu nun „feindlichen“ Jugendorganisationen schienen auch die Vertreter von HJ und GIL die Beziehungen auf eine höhere Ebene heben zu wollen. Im November 1940 vereinbarten sie, endlich über die „rein repräsentativen Veranstaltungen“ ihrer Jugendorganisationen hinaus kommen und den persönlichen Austausch intensivieren zu wollen.190 In der Folgezeit fanden gegenseitige Kennenlernreisen zwischen deutschen und italienischen Ausleseschülern statt (Abb. 1),191 wobei der 186 Vgl.
den Schriftverkehr im Juli 1939, in: ASMAE, Gabinetto del Ministro e della Segreteria Generale 1923–1943, b. 702, f. Invito a S.E. Bottai a recarsi in Germania (luglio 39). 187 Bernhard Rust besuchte Italien offiziell zwei Mal: im September 1940 mit Besichtigung des Foro Mussolini (Programma della Visita del Ministro del Reich per le scienze, l’istruzione e l’educazione del popolo, Dr. Bernardo Rust, 22–27 settembre 1940, in: ACS, SPD, CO, b. 663, f. 206. 484; Il Ministro dell’Istruzione del Reich visita il Foro Mussolini e l’Accademia della G.I.L., in: Bollettino GIL, 1. 10. 1940, S. 455) und im Oktober 1942 (Il ministro Rust ricevuto a Venezia da Bottai, in: CdS, 14. 10. 1942, S. 4). Giuseppe Bottai besuchte Deutschland offiziell sechs Mal: im September 1933 zum Reichsparteitag (Berichte über Kontakte und Programmpunkte der Reise Bottais, in: ASMAE, AP, 1931–1945, Germania, b. 17, f. 2); im November 1933 zu Vorträgen in Berlin und Köln (Nicola D’Elia, Giuseppe Bottai e la Germania nazista. I rapporti italotedeschi e la politica culturale fascista, Rom 2019, S. 60 f.); im Juni 1938 zur 550-JahrFeier der Universität zu Köln (Il ministro Bottai a Colonia per il giubileo dell’Università, in: CdS, 26. 6. 1938, S. 6); im September 1941 mit Besichtigung der NPEA DresdenKlotzsche (Rapporto al Duce sul viaggio in Germania [21.–29. 9. 1941], Oktober 1941, in: ACS, Archivio Dino Alfieri, sc. 6, f. 22.); im Februar 1942 zur Buchmesse (Il ministro Bottai è giunto a Berlino, in: CdS, 15. 2. 1942, S. 5) und im Dezember 1942 zur Eröffnung der Studia Humanitatis (Il ministro Bottai a Berlino, in: CdS, 7. 12. 1942, S. 1). Rainer Hülsheger verweist zudem auf einen Besuch Bottais in Sonthofen 1939, der quellenmäßig nicht anderweitig gestützt werden kann. Vgl. Hülsheger, Adolf-HitlerSchulen, S. 30, 154. 188 Zur NPEA Klotzsche siehe Hanka Blesse, Rudolf-Schröder-Schule – Staatliche Nationalpolitische Erziehungsanstalt (1934–1945), in: DGUV (Hrsg.), Lernräume. Von der Landesschule Dresden zur Akademie, Dresden 2018, S. 94–123. 189 Vgl. Gerhard Herrlinger, NPEA Backnang an Ferdinand Siebert, 12. 6. 1941, in: PA AA, Botschaft Rom Quirinal, 1405 A, Bd. 2. 190 Oberbannführer Heinz Wilke, Aufzeichnung über die am 5. 11. 1940, 9 Uhr 50 geführte Besprechung mit Oberst Bodini, in: PA AA, Botschaft Rom Quirinal, 1394 A, Bd. 5. 191 Es lassen sich fünf Fahrten von deutschen Ausleseschülern an italienische Ausleseschulen nachweisen: November/Dezember 1940: Feldafinger in Forlì (PA AA, Botschaft Rom Quirinal, 1398; PA AA, R 98927); Juli 1941: NPEA Backnang im Foro Mussolini (Visite al Foro Mussolini, in: GdL, 1. 8. 1941, S. 605); Juli 1941: NPEA Traiskirchen im Foro Mussolini (ebenda); März 1942: AHS-Thüringen in Collegi von Bozen, Turin, Rom (Gerhard Preiß, Unsere Italienfahrt, in: Arbeitsbericht und Elternbrief, Folge 5, Herausgegeben von der Adolf-Hitler-Schule Thüringen, Arbeitsjahr 1941/42, S. 19–21 [BA Berlin, NS 1/3048, Bl. 100 f.]); April/Mai 1942 NPEA Oranienstein im Foro Mussolini (Italienfahrt des 7. Zuges, in: Ueberhorst, Elite für die Diktatur, Dok. 171, S. 323–
5. Exkurs: Eine „Ausleseschul-Achse“? 93
„Austausch in erster Linie politischen und kulturpolitischen Charakter [tragen], schulische Fragen daher nebengeordnet“192 sein sollten. Die Dokumente über die Reisevorbereitungen belegen deutlich, dass eine beachtliche Unkenntnis über die Ausleseschulen der Gegenseite vorhanden war.193 Auch in der Publizistik informierte man auf deutscher wie italienischer Seite in der Anfangszeit häufig nur unzureichend über die Ausbildung des Führungsnachwuchses des jeweiligen Achsenpartners. Im deutschen Fokus stand zumeist die bereits in den 1920er Jahren gegründete Farnesina, die Collegi fanden kaum oder keine Beachtung.194 Erst parallel zu den Reisen während des Zweiten Weltkrieges häuften sich auch die Publikationen auf beiden Seiten über die Ausleseschulen.195 327). Eine erste Übersicht über Auslandsfahrten von NPEA-Schülern findet sich jetzt in: Juliane Tiffert, „Auf Fahrt für Führer, Volk und Vaterland“. Narrative der Grenzund Auslandsfahrten Nationalpolitischer Erziehungsanstalten, Münster 2021, S. 65, Tab. 1. Diese Aufstellung ist jedoch für Italien nicht vollständig. Weitere Hinweise auf Reisen der NPEA finden sich u. a. in den Dokumenten des DAAD: PA AA, Rom, Quirinal, 698 C, 1345 A und 1405 A Bd. 1. Zwei Fahrten lassen sich für italienische Ausleseschüler an deutsche Ausleseschulen nachweisen: Juli 1941: Kollegiaten aus Venedig und Forlì in Feldafing (vgl. Steiner, Mit italienischer Jugend auf Deutschlandfahrt, in: Feldafing 1940/41, S. 76–78 [BA Berlin, NS 20, 137 h], Viaggio in Germania, in: Corso Sagittario, Collegio navale G.I.L. 1939– 1942, Venedig 1942, s. p.); März 1942: GIL-Delegation (u. a. Kollegiaten aus Forlì) auf Ordensburg Sonthofen und NPEA Oranienstein (Veniamo dal Brennero, in: Collegio aeronautico della G.I.L. „Bruno Mussolini“, Forlì, supplemento al n. 12 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 22. 4. 1942, S. 13). 192 Luther an Generalkonsul Wüster, 7. 10. 1940, in: PA AA, Botschaft Rom Quirinal, 1398. 193 Vgl. dazu von Plessen an Auswärtiges Amt, Betreff „Gründung einer italienischen ,Ordensburg‘ in Rom“, 2. 8. 1939, in: PA AA, Botschaft Rom Quirinal, 709 D; AA an Deutsche Botschaft Rom, 27. 8. 1940, in: PA AA, Botschaft Rom Quirinal, 1398; Deutsche Botschaft Rom an AA, 6. 9. 1940, in: PA AA, R 98927, Bl. 104; Deutsche Botschaft Rom an Reichspropagandaamt München, 30. 9. 1940, in: PA AA, R 98927, Bl. 100; Deutsche Botschaft Rom an AA, 31. 10. 1940, in: PA AA, Botschaft Rom Quirinal, 1398. 194 Exemplarisch folgende zeitgenössische Aufzählung: „Nationalsozialismus und Faschismus haben beide weiter auch einen besonderen Ausbildungsweg für künftige politische Führer geschaffen: Adolf-Hitler-Schulen und Ordensburgen, Akademien der Gil (der Organisation der Jugend bis zu 21 Jahren) in Rom und Orvieto.“ Egon Heymann, Centro di preparazione politica, in: Wille und Macht 8 (1940), 3, S. 16 f., hier S. 16. Wenn dann doch einmal vergleichend über die Ausleseschulen berichtet wurde, waren diese Berichte fehlerhaft. So informierte beispielsweise das HJ-Organ „Wille und Macht“ 1939 über das Collegio Littorio: „Den weitaus größten Teil des Nachwuchses für die Akademie stellt jedoch das ihr angeschlossene ‚Colleggio [sic!] Littorio‘ (Kollegium des Liktoriums), eine Erziehungsanstalt, die sich ebenfalls in Rom befindet und die mehr oder weniger unseren Adolf-Hitler-Schulen entspricht. Diese Anstalt hat ein Humanistisches, ein Real-Gymnasium und ein Lehrerseminar.“ Die Jugend Mussolinis, in: Wille und Macht 7 (1939), 2/3, S. 3–18, hier S. 9. Tatsächlich handelte es sich bei diesem Collegio ausschließlich um ein Lehrerseminar und bot eben keine Hochschulzugangsberechtigung. 195 Siehe etwa für die deutsche Seite den Bildband des „Jugendattaches“ Heinz Wilke aus dem Jahre 1943, in dem den Collegi einige Seiten gewidmet sind: Heinz Wilke, GILJugend in Italien. Ein Bilderwerk über Aufgaben, Aufbau und Arbeit der italienischen Staatsjugend, Berlin 1943, S. 17, 30, 70 f.; sowie die Monographie Hermann Stocks aus dem selben Jahr: Die faschistische Staatsjugend, München 1943, S. 103 f.
94 II. Erziehung und Bildung im Faschismus – ein Überblick
Abb. 1: Kollegiaten aus Venedig und Forlì in der Reichsschule Feldafing, Juli 1941 (Titelblatt des Jahresberichtes der Schule Feldafing 1940/41)
Insgesamt überwiegt der Eindruck, dass das Interesse der obersten Führungsebene speziell an den Ausleseschulen der Gegenseite jahrelang gering gewesen ist. Es kam zwar sicherlich zu einem Austausch der Jugendführer über die Ausleseschulen, schließlich besuchte Baldur von Schirach im September 1936 das Foro Mussolini mitsamt dem Propädeutikum, ein Jahr später empfing er diese Schüler mit großem Bahnhof in Berlin und im Frühjahr 1937 besuchte Ricci die gerade erst im Entstehen begriffenen Adolf-Hitler-Schulen.196 Quellenmäßig lässt sich
Siehe die italienischen Berichte über deutsche Initiativen hinsichtlich des Führungsnachwuchses: Julius Evola, Iniziative di educazione „qualitativa“ in Germania: le „Napolas“, in: Insegnare 2 (1940), S. 557 f.; Julius Evola, L’esperimento dei „Castelli dell’Ordine“, in: Insegnare 2 (1940), S. 455 f.; Istituti di educazione nazional-politica, in: Problemi della Gioventù 2 (1941/1942), 1–2, S. 38 f.; Scuole Adolfo Hitler, in: Problemi della Gioventù 2 (1941/1942), 5–6, S. 198–200; L’organizzazione scolastica, in: Problemi della Gioventù 2 (1941/1942), 9–10, S. 365 f.; Idee sulla scuola, in: Problemi della Gioventù 2 (1941/1942), 11–12, S. 447 f.; Institute für nationalpolitische Erziehung, in: Problemi della Gioventù 2 (1941/1942), 15–16, S. 695–697; Adolf Hitler Schulen, in: Problemi della Gioventù 2 (1941/1942), 15–16, S. 697–700; L’organizzazione scolastica tedesca, in: Problemi della Gioventù 2 (1941/1942), 17–20, S. 770 f.; Gli Istituti di Educazione di Politica nazionale, in: Bollettino di legislazione scolastica comparata 1 (1941), 6, S. 271–275. 196 Zunächst war für Riccis Deutschlandbesuch die Ordensburg Vogelsang vorgesehen, letztlich besuchte er jedoch die Ordensburg Krössinsee. Auf dieser Ordensburg wurden
5. Exkurs: Eine „Ausleseschul-Achse“? 95
der Austausch jedoch schwer fassen, da sich in den Dokumenten keine konkreten Hinweise auf das Propädeutikum oder die Adolf-Hitler-Schulen fanden. Für die Erziehungsminister ist der Nachweis wechselseitigen Einflusses ebenso schwierig zu erbringen. Von Rust konnte keinerlei Äußerung über die Ausbildung des italienischen Führernachwuchses gefunden werden. Auf Bottais Lektüre und den möglichen Besuch einer AHS-Anstalt wurde bereits im vorherigen Kapitel verwiesen. Hinsichtlich der NPEA kann nur festgehalten werden, dass er auch den Besuch in der NPEA Dresden-Klotzsche im September 1941 weder in seinem Tagebuch vermerkte noch in seinem Bericht an Mussolini. In sein Tagebuch notierte er nur allgemein: „Wir besichtigen einige Schulen, mittelmäßig. Nichts zu Lernen.“197 Interessant ist in dem Zusammenhang vielmehr die augenscheinliche Instrumentalisierung dieser Reisen, um eigene Interessen bei Mussolini durchzusetzen. In einem Ende 1942 verfassten Reisebericht für Mussolini hielt Bottai fest: „Im Gespräch mit meinem Kollegen Rust erfuhr ich von bevorstehenden schulpolitischen Richtlinienänderungen, die der Führer bereits beschlossen hatte. Der bisher mehr oder weniger latente oder offensichtliche Konflikt zwischen der staatlichen Schule und der Parteischule wird vollständig zugunsten der ersteren gelöst: Alle, wirklich alle, bisher von der Partei geschaffenen Schulen werden an die Staatsverwaltung übergeben. Dies ist sowohl auf die Schwierigkeiten zurückzuführen, die beiden Schularten im Hinblick auf Karrieremöglichkeiten organisch zu verbinden, als auch auf die geringeren Leistungen der von der Partei geschaffenen und verwalteten Schulen. Dabei ist anzumerken, dass selbst die HitlerSchulen (sechs im ganzen Reich und nicht eine im Gau, wie vorgesehen) nicht die erwarteten oder gewünschten Ergebnisse erbrachten, da nur wenige der Absolventen dann tatsächlich die Karrieren in der Partei aufnahmen, wofür die Schulen geschaffen wurden.“198
Es kann vermutet werden, dass Bottai Mussolini mit der Behauptung, die AdolfHitler-Schulen kämen aufgrund ihrer Erfolglosigkeit unter staatliche Verwaltung, dazu bringen wollte, auch die italienischen Parteischulen, sprich die Collegi der GIL, in den Einflussbereich seines Erziehungsministeriums zu übertragen und damit seine eigene Position zu stärken. Die konsultierten Dokumente zeigen, dass sich die deutsche und die italienische Seite vielmehr für die weiterführende Ausbildung etwa in den Sportakademien in Rom und Orvieto sowie den NS-Ordensburgen bzw. dem Zentrum für politische Vorbereitung (Centro di preparazione politica) interessierten. Dies verdeutlichen unter anderem der Vorbildcharakter der römischen Sportakademie für am 19. 4. 1937 die AHS eingeweiht. Vom 20. 4. 1937 bis zu den Sommerferien fand hier der erste Unterricht statt. Vgl. Hülsheger, Adolf-Hitler-Schulen, S. 45, 47. Der Verdacht liegt nahe, dass die Reiseroute Riccis geändert wurde, um ihm die AHS zu zeigen. 197 Bottai, Diario, 22. 9. 1941, S. 285. 198 Bericht Bottais an Mussolini, 13. 12. 1942, S. 7 f., in: Fondazione Mondadori, fondo Bottai, b. 6, f. 31; Giuseppe Bottai, Vent’anni e un giorno. Con un saggio introduttivo di Giordano Bruno Guerri, Mailand 2008, 9. 12. 1942, S. 231. Es gibt bisher in deutschen Quellen keine Hinweise auf eine solche Idee. Tatsächlich gab es vielmehr Versuche, die NPEA dem REM zu entziehen und der SS zu unterstellen. Vgl. Erhard Naake, Zur Theorie und Praxis der Erziehung in den Nationalpolitischen Erziehungsanstalten und ähnlichen faschistischen „Eliteschulen“, Dissertation, Jena 1970, S. 64 f. Dies spricht gegen eine einheitliche Führung der Ausleseschulen unter der Ägide des REM.
96 II. Erziehung und Bildung im Faschismus – ein Überblick die HJ-Akademie in Braunschweig199 oder auch die Explorationsfahrt einer BDM-Funktionärin nach Orvieto. Ursel Stein, Leiterin der BDM-Gymnastikschule in Traunstein, reiste 1941 nach Orvieto, um sich über Aufbau und Methode der Akademie zu informieren, da sie „ein ähnliches Institut im Auftrag der Reichs jugendführung in Berchtesgaden errichten“200 sollte. Ihre Eindrücke schilderte sie letztlich in recht überheblichem Ton: „1. Das Ziel der körperlichen Erziehung in Italien ist ein anderes als bei uns und hat zunächst nur die Aufgabe, ein Mindestmass an Disziplin in das Volk zu tragen. 2. Die Entwicklung der Leibesübungen ist in Italien stehen geblieben und ist der unsrigen gegenüber um mindestens 10–20 Jahre zurück. […] Die Leibesübungen an der Accademia haben eine Einschränkung und Einengung der Bewegung, die für uns unerträglich sind.“201 Inwiefern dennoch Elemente der italienischen Akademie in die Konzeption der Akademie in Berchtesgaden eingeflossen wären, kann nicht mehr nachvollzogen werden, da die Einrichtung kriegsbedingt ihren Betrieb nicht mehr aufnahm.202 An dem Zentrum für politische Vorbereitung (Centro di preparazione politica) war hingegen der sogenannte NS-Chefideologe Alfred Rosenberg interessiert, wie die übersetzte Satzung des Centro sowohl in den Akten der Kanzlei Rosenberg203 als auch des Außenpolitischen Amtes der NSDAP204 belegen. Das ist umso inte ressanter, als sich Rosenberg rühmte, sich „überhaupt von der ganzen Pilgerei unserer Führerschaft nach Rom zurückgehalten“205 zu haben, jedoch durchaus nach Rom „pilgerte“ und gern Informationen über faschistische Initiativen sammelte.206 So fand das 1939 in Rom gegründete und am 3. Januar 1940 durch Mussolini eingeweihte Centro207 in einer Zeit die Aufmerksamkeit Rosenbergs, 199 Siehe Kap. II.2. 200 Notiz, 25. 11. 1941,
in: PA AA, Botschaft Rom Quirinal, 1394 A, Bd. 5. Siehe ebenso: Deutsche Botschaft Rom an AA, 16. 1. 1941, in: Ebenda. 201 Ursel Stein, Bericht über den Einsatz an der Accademie [sic!] Femminile in Orvieto (21. 11.–20. 12. 1941), in: PA AA, Botschaft Rom Quirinal, 1394 A, Bd. 5; wohlwollender die Veröffentlichung: Ursel Stein, Die Schule von Orvieto, in: Mädel – eure Welt 4 (1943), S. 319–325. 202 Vgl. die Ausführungen der ehemaligen BDM-Leiterin: Jutta Rüdiger, Die Hitler-Jugend und ihr Selbstverständnis im Spiegel ihrer Aufgabengebiete, Lindhorst 1983, S. 95 f. 203 BA Berlin, NS 8, 217, Bl. 143–150. 204 BA Berlin, NS 43, 23, Bl. 45–42. 205 So Rosenbergs Tagebucheintrag am 26. 7. 1943, einen Tag nach der Absetzung Mussolinis. Siehe Jürgen Matthäus/Frank Bajohr (Hrsg.), Alfred Rosenberg. Die Tagebücher von 1934 bis 1944, Frankfurt a. M. 2015, S. 476. 206 Bereits 1932 bat er in der Funktion als Chefredakteur des Völkischen Beobachters und Reichstagsabgeordneter um eine kurze Darstellung zur Erziehung im Faschismus: Ministero degli affari esteri an Ministero dell’educazione nazionale, Deputato socialnazionale Alfredo Rosenberg – richiesta di un breve scritto sull’educazione nazionale della gioventù, 17. 8. 1932, in: ACS, PCM, 1931–1933, b. 1701, f. 15.2.13.6470. Im selben Jahr „pilgerte“ er gemeinsam mit Hermann Göring, Franz Seldte und Hjalmar Schacht für eine Konferenz nach Rom. Daniel Hedinger, Die Achse. Berlin-Rom-Tokio 1919–1946, München 2021, S. 93 f. 207 Vgl. Michele Pandolfo, Preparazione politica. Il centro di preparazione politica per i giovani in Italia. Gli Ordensburgen in Germania, Oxford e Cambridge in Inghilterra, Harvard e Yale in America, Rom 1941, S. 17. In dieser Propagandabroschüre wird das Zentrum für politische Vorbereitung als Schule des „neuen Menschen“ präsentiert, der
5. Exkurs: Eine „Ausleseschul-Achse“? 97
als dieser von Hitler offiziell den Befehl erhielt,208 die „Hohe Schule der NSDAP“ zu errichten.209 Es scheint somit gut möglich, dass Rosenberg dafür auch Inspirationen beim Achsenpartner suchte. Das Centro, welches bereits fünf Monate nach der Einweihung aufgrund des italienischen Kriegseintritts seine Tätigkeit einstellte, wies zahlreiche Ähnlichkeiten zu den NS-Ordensburgen auf, für die sich wiederum niemand Geringeres als Camillo Pellizzi interessierte. Pellizzi, sowohl mit Bottai als auch mit Mussolini befreundet, war lange Jahre als Italianist am Uni versity College in London tätig und leitete seit 1940 das Nationale Faschistische Kulturinstitut (INCF).210 Auf Einladung Leys besuchte er im Oktober 1941 die Ordensburg Sonthofen.211 Obwohl er, wie sein Freund Bottai, die Dichotomie von Staat und Partei zugunsten des Staates lösen wollte, und das Centro der Partei durch die Schaffung staatlich-universitärer Collegi di educazione politica obsolet zu machen suchte, orientierte er sich bei seinem Vorhaben an den Ordensburgen der NSDAP.212 So schlug er die Übernahme der Kosten für die Zöglinge sowie die Errichtung mehrerer spezialisierter Collegi, die die Absolventen nacheinander zu durchlaufen hatten, vor.213 Während seines Aufenthaltes kam er jedoch gar nicht mit den sogenannten Ordensjunkern ins Gespräch, sondern mit den dort untergebrachten Adolf-Hitler-Schülern, über die er sich in einem 1942 im Corriere della Sera erschienenen Artikel begeistert zeigte:214 In dieser Institution habe man tatsächlich das Gefühl, dass Klassen und Schichten überwunden und nahezu vergessen sind. Da sitze der Sohn eines Staatsrates neben dem eines Schreiners oder Gärtners und alle hätten die gleichen Karrierechancen. Eher zufällig, so scheint es, war Pellizzi mit den AHS konfrontiert worden, der zu dem Zeitpunkt eigentlich Anregungen für seine universitären Collegi suchte. sich durch Disziplin, Gehorsam, unbedingten Glauben, Opferbereitschaft und Kampfes freude auszeichne. Ebenda, S. 13. 208 Vgl. Martin Moll (Hrsg.), „Führer-Erlasse“ 1939–1945, Stuttgart 1997, Dok. 20, S. 111. Mit den Planungen begann Rosenberg jedoch schon wesentlich früher. Vgl. Matthäus/ Bajohr (Hrsg.), Alfred Rosenberg. Die Tagebücher, 11. 12. 1937, S. 250. 209 Vgl. zur „Hohen Schule“: Reinhard Bollmus, Zum Projekt einer nationalsozialistischen Alternativ-Universität: Alfred Rosenbergs „Hohe Schule“, in: Manfred Heinemann (Hrsg.), Erziehung und Schulung im Dritten Reich. Teil 2: Hochschule und Erwachsenenbildung, Stuttgart 1980, S. 125–152. 210 Vgl. Patrick Ostermann, „Col ‚Duce‘ e con dio!“ Historische und wissenssoziologische Untersuchung zu der katholisch-faschistischen Intellektuellengruppe um Guido Manacorda (1879–1965), Habilitationsschrift, Dresden 2012, S. 364. 211 Vgl. Danilo Breschi/Gisella Longo, Camillo Pellizzi. La ricerca delle élites tra politica e sociologia (1896–1979), Soveria Mannelli 2003, S. 166–168. 212 Vgl. Convegno interuniversitario per la riforma delle facoltà di scienze politiche, Relazione del prof. Camillo Pellizzi (all’inizio della prima giornata), S. 6 f., in: Fondazione Ugo Spirito, fondo Camillo Pellizzi, b. 5, f. 16; Camillo Pellizzi, Convegno interuniversitario sulla funzione e struttura delle facoltà di scienze politiche, März 1942, S. 5–8, in: Ebenda. 213 Vgl. Camillo Pellizzi, Convegno interuniversitario sulla funzione e struttura delle facoltà di scienze politiche, März 1942, S. 12 f., in: Fondazione Ugo Spirito, fondo Camillo Pellizzi, b. 5, f. 16. Vgl. zum vorgesehenen Wechsel in den Ordensburgen: Harald Scholtz, Die „NS-Ordensburgen“, in: VfZ 15 (1967), S. 269–298, hier S. 275, 285. 214 Camillo Pellizzi, Fiaccole nell’Algäu [sic!], in: CdS, 3. 1. 1942, S. 3; Relazione sulla visita in Germania del Presidente dell’Istituto Nazionale di Cultura Fascista con alcuni collaboratori (10–20 ottobre XIX), in: Fondazione Ugo Spirito, fondo Camillo Pellizzi, b. 5, f. 17.
98 II. Erziehung und Bildung im Faschismus – ein Überblick Weitere mögliche Kontakte auf den unteren Hierarchieebenen und bei verwandten Ressorts konnten im Rahmen dieser Arbeit nicht systematisch erforscht werden. Dass eine solche Untersuchung zweifellos lohnenswert wäre, zeigen jedoch noch zwei weitere Fundstücke. Bei dem ersten Fundstück handelt es sich um eine Anfrage des späteren Ministerialrates im Reichserziehungsministerium Herman-Walther Frey.215 Dieser wandte sich im Oktober 1933, noch im Finanzministerium beschäftigt, bezüglich der italienischen „Führerschulen“ an die deutsche Botschaft in Italien. In seinem Schreiben betonte er: „Für den Aufbau der nationalsozialistischen Führerschulen in Deutschland, insbesondere soweit sie die Heranbildung und Schulung der Jugend und eines geeigneten Führernachwuchses aus ihr sich zum Ziele gestellt haben, ist es dringend notwendig, die Erfahrungen und Methoden, die unsere Nachbarländer bei der Schulung ihres Führernachwuchses erprobt haben, eingehend kennen zu lernen. […] Gerade Italien ist ja ein Land, welches auf diesem Gebiet vieles Wissenswerte getan und zweifellos Erfahrungen gesammelt und Wege erprobt hat.“216
Mit seinem Schreiben übermittelte er einen detaillierten zweiseitigen Fragebogen zu den Führerschulen und bat darum, Renato Ricci über sein Anliegen zu in formieren, sowie um Übersendung von geeignetem Informationsmaterial. Die Botschaft zeigte sich jedoch wenig kooperativ: Der Fragebogen war nach deren Ansicht „nicht geeignet, [um] den hiesigen zuständigen Stellen zugeleitet werden zu können“.217 Darüber hinaus sah sie sich außerstande, Frey Material zuzusenden. Tatsächlich war die Entwicklung der italienischen „Führerschulen“ zu diesem Zeitpunkt, als auch erste zahlreiche Kennenlernreisen von faschistischen und nationalsozialistischen Funktionären stattfanden, noch nicht weit fortgeschritten. Auf dem Gebiet gab es, abgesehen von der Farnesina und der Schule für faschistische Mystik218 (Scuola di Mistica Fascista), schlichtweg noch kein Anschauungsmaterial für Interessierte nördlich der Alpen. Das Schreiben Freys zeigt jedoch deutlich das frühe, deutsche Interesse an den faschistischen Schulen, wenn auch bisher im Dunkeln liegt, in wessen Auftrag Frey agierte.219 Bei dem zweiten Fundstück handelt es sich um eine wechselseitige Austauschreise des Militärs zum Kennenlernen von Methoden zur vormilitärischen 215 Vgl.
Oliver Bordin, Herman-Walther Freys wissenschaftspolitische Bedeutung – eine Skizze, in: Michael Custodis (Hrsg.), Herman-Walther Frey. Ministerialrat, Wissenschaftler, Netzwerker. NS-Hochschulpolitik und die Folgen, Münster/New York 2014, S. 91–144. 216 Herman-Walther Frey an Deutsche Botschaft Rom, 8. 10. 1933, in: PA AA, Botschaft Rom Quirinal, 1359 A. 217 von Bülow an Herman-Walther Frey, 10. 11. 1933, in: PA AA, Botschaft Rom Quirinal, 1359 A. 218 Zur Scuola di Mistica Fascista siehe: Daniele Marchesini, Un episodio della politica culturale del regime: la scuola di mistica fascista, in: Rivista di storia contemporanea 3 (1974), S. 90–122; Daniele Marchesini, La scuola dei gerarchi, Mailand 1976; Aldo Grandi, Gli eroi di Mussolini. Niccolò Giani e la Scuola di Mistica fascista, Mailand 2004; Tomas Carini, Niccolò Giani e la Scuola di Mistica fascista 1930–1943, Mailand 2009. 219 Das Schreiben trägt seine Privatadresse. Ich danke Oliver Bordin für einige weiterführende Hinweise zu Frey.
5. Exkurs: Eine „Ausleseschul-Achse“? 99
Vorbereitung der jeweiligen Jugendorganisation im Jahre 1935, also in der brisanten Phase nach der Dollfuß-Ermordung.220 Zu diesen Austauschreisen heißt es in dem Bericht: „Im vergangenen Januar weilte ein Offizier der deutschen Armee für zwei Wochen bei diesem Inspektorat zum Studium der italienischen Jugendorganisationen. Voraussichtlich im kommenden Mai – vorausgesetzt es gibt keine neuerlichen Komplikationen – sollte sich ein Offizier dieses Inspektorats nach Berlin begeben, um dort die vergleichbaren Institutionen kennenzulernen.“221
Bei dem Gegenbesuch in Deutschland besichtigten die Italiener unter anderem die Reichsschule Feldafing und zeigten sich sehr beeindruckt: „Diese direkt von der Partei abhängige Schule ist ein interessantes Experiment, das mit der Zeit Elemente zur Verfügung stellen sollte, die geeignet sind, die herrschende Klasse des Landes zu bilden.“222 Besonders hoben sie den Pedantismus hervor: „[P]enibel bis ins kleinste Detail (z. B. Zahnbürsten alle gleich ausgerichtet)“ und verwiesen auf die exklusive Schülerschaft: „In der Schule finden sich die Enkel Uhlands, Fichtes und Humboldts, sowie der Sohn Streichers, dem Anführer der nazistischen Antisemiten.“ Dieser detaillierte Bericht, der auch Mussolini vorlag, stellt die bislang umfangreichste Ausarbeitung über eine deutsche Ausleseschule dar und verdeutlicht die Notwendigkeit, nicht nur die Kontakte der Ressortleiter, sondern auch die unteren Ebenen und verwandten Ressorts noch intensiver zu untersuchen, um Austausch und Transfer, aber auch bewusste Abgrenzung angemessen bewerten zu können. Darüber hinaus verweisen diese ersten Befunde deutlich auf die Notwendigkeit weiterer Forschungen zur tatsächlichen Substanz einer „AusleseschulAchse“, auch um die Gründe zu eruieren, die scheinbar zu einem geringeren Interesse an den Ausleseschulen führten, wohingegen andere Erziehungsinstitutionen in den Fokus von Transferbestrebungen rückten. Zudem sollte das Augenmerk nicht nur auf Deutschland und Italien liegen, sondern weitere „befreundete Länder“ mit in den Blick genommen werden. Wie die Studie von Goran Miljan über die kroatische Ustascha-Jugendbewegung deutlich macht, studierte die Ustascha das Gebiet der Führerausbildung sowohl bei den beiden Achsenmächten als auch bei der slowakischen Hlinka-Jugend.223 Dabei kamen die Funktionäre letztlich zu dem Schluss, dass die Methoden der GIL wesentlich adaptierbarer als etwa die der HJ waren.224 Dies führte im September 1941 auch zu einer Kooperationsvereinbarung zwischen der GIL und der Ustascha-Jugendorganisation, sodass Mitglieder der Ustascha in den Akademien und 220 Vgl.
PCM, Ispettorato Generale per la preparazione premilitare e postmilitare della Nazione an Capo del Governo, 18. 8. 1935, in: AUSMM, Archivio di base, b. 2696. 221 PCM, Ispettorato Generale per la preparazione premilitare e postmilitare della Nazione an Sottosegretario di Stato alla R. Marina, Cavagnari, 30. 3. 1935, in: AUSMM, Archivio di base, b. 2696. 222 Capitano di Vascello G. Bertoldi an Ispettorato Generale per la preparazione premilitare e postmilitare della Nazione, Missione in Germania, Visita alle organizzazioni giovanili hitleriane, 14. 8. 1935, in: AUSMM, Archivio di base, b. 2696. 223 Vgl. Miljan, Croatia and the Rise of Fascism, S. 8 f., 111 f. 224 Vgl. ebenda, S. 168 f.
100 II. Erziehung und Bildung im Faschismus – ein Überblick Collegi der GIL aufgenommen und ausgebildet wurden.225 Auch von rumäni scher,226 ungarischer227 und bulgarischer228 Seite gab es Interesse an der Führerausbildung der Deutschen und Italiener, die bis heute nicht aufgearbeitet ist. Ein weiteres Forschungsdesiderat ist die inhaltliche Arbeit des im September 1942 in Wien gegründeten Europäischen Jugendverbandes (EJV). Bei diesem von 14 Staaten getragenen faschistischen Jugendverband hatte der Vizegeneralkommandant der GIL, Sandro Bonamici, den Vorsitz auf dem Gebiet der „Führererziehung“.229 Welche Ziele, Aufgaben und Initiativen bei der „Führererziehung“ verfolgt werden sollten, die schließlich angesichts der sich verschlechternden Kriegslage kaum mehr umgesetzt werden konnten, gilt es ebenfalls, in zukünftigen Forschungen zu eruieren.
225 Vgl. 41 giovani Ustascia ai Corsi dell’Accademia della G.I.L. a Roma, in: GdL, 1. 11. 1941,
S. 18; Attività delle accademie e collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 11. 1941, S. 57; Attività delle accademie e collegi della G.I.L., in: GdL, 1. 12. 1941, S. 102; La missione della Gioventù ustascia ha lasciato Roma, in: CdS, 6. 10. 1941, S. 6; Attività delle accademie e collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 12. 1941, S. 145; Attività delle accademie e collegi della G.I.L., in: GdL, 1. 1. 1942, S. 183; Giovani croati e bulgari ai Collegi della G.I.L., in: GdL, 1. 2. 1942, S. 260; Attività delle accademie e collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 2. 1942, S. 293; Attività delle accademie e collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 4. 1942, S. 434; Attività delle accademie e collegi della G.I.L., in: GdL, 1. 5. 1942, S. 468; Accademie e collegi, in: GdL, 15. 1. 1943, S. 223. 226 „Dieser Besuch [einer Adolf-Hitler-Schule] entspricht dem ausdrücklichen Wunsch des General Iliescu, da der Marschall für Rumänien eine ähnliche Einrichtung plant. Vielleicht lässt sich ein Abstecher von München nach Sonthofen ermöglichen.“ Hauptbannführer Muths an Oberbannführer Lauterbacher, 17. 11. 1942, in: BA Berlin, NS 28, 123, Bl. 121. 227 Informationsreise des Ungarn Zoltan Toth zur Besichtigung der AHS und Akademie für Jugendführung mit der Absicht, „beauftragt durch Feldmarschallleutnant von Beldy, die Erziehung der ungarischen Jugend nach deutschem Beispiel einzuführen“. Bauer, HJ Wien, an Fink, RJF Berlin, 15. 6. 1943, in: BA Berlin, NS 28, 120, Bl. 241/RS. 228 „Der bulgarische Ministerpräsident und die bulgarische Staatsjugend planen die Errichtung einer Adolf-Hitler-Schul-ähnlichen Schule in Bulgarien. Möglichkeit der Zurverfügungstellung eines besonderen Beraters dafür.“ Besprechungspunkte mit Dr. Kletschkoff, s. d. [vermutlich Frühjahr 1942], in: BA Berlin, NS 28, 117, Bl. 20; Attività delle accademie e collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 1. 1942, S. 227; Giovani croati e bul gari ai Collegi della G.I.L., in: GdL, 1. 2. 1942, S. 260; Attività delle accademie e collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 4. 1942, S. 434; Calendario attività anno XX, in: Bollettino GIL, 1. 11. 1941, 2° supplemento, S. 4. 229 Vgl. Oelrich, „Sportgeltung – Weltgeltung“, S. 545.
III. Die Geschichte der Collegi Im Februar 1928 weihte Benito Mussolini die Akademie für Leibeserziehung der ONB ein, aus der die dringend benötigten ideologisch geschulten Jugenderzieher der ONB und Lehrer für Leibeserziehung hervorgehen sollten. Ausgehend von dieser Initialzündung errichteten zunächst die ONB und dann die GIL bis zum Jahre 1942 insgesamt fünf Akademien und 22 Collegi.1 Das Ziel dieser Einrichtungen bestand darin, eine faschistische Führungsschicht herauszubilden und das auf nahezu allen Gebieten bestehende Fach- und Führungskräfteproblem zu lösen, ganz besonders jedoch in den Bereichen, in denen sich die institutionelle Durchdringung als schwierig erwies. Die in diesen „Schulen des faschistischen Glaubens“2 ausgebildeten Jugendlichen sollten zu selbstlosen, arbeitsamen, disziplinierten Staatsbürger-Soldaten des imperialistischen Italiens, zu enthusiastischen Multiplikatoren der faschistischen Doktrin erzogen werden.3 Von deren erfolgreicher Ausbildung hing also im besonderen Maße die Herrschaftssicherung und -perpetuierung ab. Das propagierte Ziel der Schaffung des „neuen faschistischen Italieners“ kann als kleinster gemeinsamer Nenner aller Collegi gesehen werden, die jedoch aufgrund ihrer Spezialisierungen sehr unterschiedliche Ausrichtungen, Schultypen, 1
Akademien: 1) Accademia della G.I.L., Rom; 2) Accademia femminile della G.I.L., Orvieto; 3) Accademia di scherma della G.I.L., Rom; 4) Accademia di musica della G.I.L., Rom; 5) Accademia femminile di musica, Rom; Collegi: 1) Collegio „Littorio“ della G.I.L., Rom; 2) Collegio magistrale della G.I.L., dann Collegio per istitutori di ruolo della G.I.L., Udine; 3) Collegio magistrale femminile della G.I.L., Orvieto; 4) Collegio navale della G.I.L., Brindisi; 5) Collegio navale della G.I.L., Venedig; 6) Collegio marinaro „Caracciolo“ della G.I.L., Sabaudia; 7) Collegio aeronautico „Bruno Mussolini“ della G.I.L., Forlì; 8) Collegio della G.I.L. di specializzazione militare, Bozen; 9) Collegio per istitutrici di ruolo della G.I.L., Rom-Montesacro; 10) Collegio per istitutrici di ruolo della G.I.L., Rom-Castello dei Cesari; 11) Collegio femminile per dirigenti della G.I.L., Florenz; 12) Collegio femminile per commandanti della G.I.L., Vittorio Veneto; 13) Collegio per istruttori corali della G.I.L., Vicenza; 14) Collegio per istruttrici corali della G.I.L., Bergamo; 15) Collegio della G.I.L. „3 gennaio“ per orfani di guerra, Turin; 16) Collegio della G.I.L. „Aldo Fiorini“ per orfani di guerra, Lecce; 17) Collegio della G.I.L. per orfane di guerra, Teramo; 18) Collegio della G.I.L. per orfani di guerra, Padua; 19) Collegio della G.I.L. per orfani di guerra, Spoleto; 20) Collegio della G.I.L. per orfani di guerra, Tagliacozzo; 21) Collegio per dirigenti e funzionari amministrativi della G.I.L., Città di Castello; 22) Collegio per dirigenti della G.I.L., Rieti. 2 La scuola nei collegi della G.I.L., in: Collegio „M.O. Aldo Fiorini“ per orfani di guerra, Lecce, supplemento al n. 24 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 21. 10. 1942, S. 2. 3 Vgl. Il rapporto ai comandanti e vice-comandanti federali della G.I.L., in: Bollettino GIL, 1. 3. 1940, supplemento, S. 17. Über die Zielsetzung heißt es in den Collegi-Anweisungen: „Ein in den Collegi geformter Jugendlicher wird zu einer Zeit in der nahen Zukunft der Fortführer der faschistischen Revolution, ein Pionier, ein Soldat, ein Apostel, ein Dreh- und Angelpunkt sein, kurzum unerschütterlich, enthusiastisch und weise, um den sich zukünftig die Kameraden versammeln werden, um Licht, Trost und Ansporn zu finden.“ Sandro Bonamici, Accademie e collegi. Direttive per le Accademie e i collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 1. 1943, S. 191 f., hier S. 191; Gaetano Rossi, Educazione fascista, Verona 1942, S. 83.
102 III. Die Geschichte der Collegi Ausbildungsinhalte, Altersgrenzen und Schulgebühren aufwiesen. In der Werbe broschüre hieß es dazu: „Jede Einrichtung hat, trotz des Ziels der ganzheitlichen Schaffung des faschistischen Staatsbürgers, eine besondere Zielsetzung; somit kann nicht ‚jedermann‘, ‚jeden Alters‘ aufgenommen werden, sondern nur die Jugendlichen, die im Hinblick auf Glauben, Intellekt und Disziplin die Besten sind, die für die Spezialisierung notwendigen Fähigkeiten und den Abschluss vorweisen können und das vorgeschriebene Alter noch nicht überschritten haben.“4
Aufgenommen wurden weibliche und männliche Schüler (jedoch nicht koedukativ), zwischen sechs und 21 Jahren, für die Dauer von einem Jahr bis zu zehn Jahren, die auf ihre künftige Funktion in der Marine, der Luftwaffe, dem Heer, den Einrichtungen der Partei bzw. der Jugendorganisation oder zivilen Berufen vorbereitet werden sollten. Die GIL strebte offiziell die Errichtung von Collegi in allen Regionen Italiens an,5 tatsächlich bestand jedoch ein Fokus auf Nord- und Mittelitalien, sodass lediglich zwei Collegi in Apulien gegründet wurden. Die Geschichte der Collegi, die als „erstes Experiment totalitärer Erziehung“6 gepriesen wurden, ist unmittelbar mit den zuvor skizzierten Konflikten zwischen Jugendorganisation, Partei und den verschiedenen beteiligten Ministerien ver woben. Aufgrund dieser Konflikte, institutioneller Umbrüche (von ONB zu GIL) und persönlicher Rivalitäten, aber auch aufgrund des häufigen Wechsels von wesentlichen Akteuren verlief die Errichtung der Collegi – ähnlich wie bei den deutschen Ausleseschulen7 – mehr improvisiert als geplant. Der Spiritus Rector der Collegi, der ONB-Präsident Renato Ricci, modifizierte häufig die Ausrichtungen und Standorte der Collegi, Bauverzögerungen taten ein Übriges, sodass erst 1936 und 1937 die ersten fünf Collegi offiziell eingeweiht wurden. Der Beginn der vier 1937 eröffneten Collegi fiel zudem genau in die Übergangszeit von ONB zu GIL, was deren Institutionalisierung zusätzlich erschwerte. Diese ersten fünf Collegi – das Collegio Littorio in Rom, das Collegio magistrale in Udine, das Collegio femminile in Orvieto sowie die Marinecollegi in Venedig und Brindisi – nahmen ihre Tätigkeit als Propädeutika der Akademien für Leibes erziehung respektive der Marineakademie von Livorno auf. Im Jahre 1938 öffnete – nun schon unter der Ägide der GIL – zudem das Luftwaffencollegio in Forlì seine Pforten als Vorbereitungsstätte der Luftfahrtakademie von Caserta. Zusätzlich begannen die Einheitsmarineschule in Sabaudia (1938) und die Heeresschule in Bozen (1939) mit dem Lehrbetrieb, jedoch nicht als Vorbereitungsschulen für 4 PNF/GIL, Accademie e 5 Vgl. Vitalità dei nostri
collegi della G.I.L., Ammissioni anno XX-XXI, Rom 1942, S. 3. collegi, in: Collegio „M.O. Aldo Fiorini“ per orfani di guerra, Lecce, supplemento al n. 18 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 21. 7. 1942, S. 1. 6 Ebenda, S. 2. 7 Scholtz bemerkt etwa „den improvisatorischen Charakter der Gründungen“ der NPEA. Demzufolge hätten die Anstaltsleiter der NPEA „ohne Lehrpläne und ohne Dienstanweisung, ohne Vorbild und ohne Erörterungen von sich aus die nötigen Maßnahmen zu treffen“ gehabt. Scholtz, Nationalsozialistische Ausleseschulen, S. 12, 36, Anm. 3. Ähnlich urteilt er über die AHS: „Die Macht Leys reichte nur für ein Provisorium aus.“ Ebenda, S. 177.
III. Die Geschichte der Collegi 103
Abb. 2: Regionale Verteilung der Collegi, SJ 1942/1943
die Militär- oder Marineakademie, sondern lediglich zur Ausbildung von spezialisierten Unteroffizieren, weshalb sie zum Zeitpunkt ihrer Gründung als „Schulen“ und nicht als „Collegi“ klassifiziert und erst später in Collegi umbenannt wurden.8 Damit endete die erste Phase der stark militärisch ausgerichteten Collegigründungen, die – wenn auch nicht ganz korrekt aufgrund der beiden letztgenannten Einrichtungen – als Phase der Propädeutika bezeichnet werden kann. Nach der Absetzung Staraces, der als Parteisekretär und GIL-Generalkommandant einen wesentlichen Beitrag zur beginnenden Konsolidierung der Collegi leistete, begann unter dessen Nachfolgern, allen voran Ettore Muti und Adelchi Serena, eine Phase der Umstrukturierung und Neuausrichtung der Collegi. Besonders Serena drängte einerseits darauf, den bestehenden Collegi einen stärkeren Impuls (maggiore impulso) zu verleihen und schob andererseits zahlreiche Neugründungen an. Damit begann die zweite Phase der Collegigründungen. Für die Jahre 1941 und 1942 kündigte die GIL 18 neue Collegi an, die sich vornehmlich der Erzieherausbildung und der beruflichen Ausbildung von Waisenkindern 8
Die Schule in Bozen wurde erstmals am 1. 12. 1941, die Schule in Sabaudia am 15. 12. 1941 als Collegio benannt. Vgl. Attività delle accademie e collegi della G.I.L., in: GdL, 1. 12. 1941, S. 102 und 15. 12. 1941, S. 145.
104 III. Die Geschichte der Collegi widmen sollten und damit eine ganz andere Zielsetzung als die Collegigründungen der ersten Phase verfolgten. Die zivile Berufsausbildung, aber auch eine stärkere Politisierung standen nun im Fokus. Auch in dieser durch Krieg und Materialknappheit geprägten Phase trugen die letztlich 15 realisierten Collegigründungen eher improvisierten Charakter, wie auch die Ausrichtungsänderungen sowie die diesbezüglichen Ankündigungen und Verwerfungen deutlich machen, sodass man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass eher plötzlich auftretende Sachzwänge (Anmeldezahlen, Gebäude, Personalknappheit) als ein langfristig erstellter Masterplan die Collegigründungen beeinflussten. Im Folgenden werden nun Entstehungsgeschichte, Ausrichtung, Organisation und Finanzierung der Marinecollegi in Venedig und Brindisi, des Luftwaffencollegios in Forlì, des Heerescollegios in Bozen sowie des Kriegswaisencollegios in Lecce untersucht.
1. Die Propädeutika Das Collegio Littorio in Rom Seit Ende der 1920er Jahre lähmte ein anhaltender Personalmangel Renato Riccis Jugendorganisation.9 Mit der kontinuierlichen Zunahme der Mitgliederzahlen verschärfte sich der Mangel zusehends und konnte durch die teils unqualifizierten und häufig nach kurzer Zeit wieder abgesetzten Milizionäre nicht aufgefangen werden. Ricci wusste nur zu gut, dass die Absolventen der Farnesina nicht ausreichten, um den Bedarf zu decken,10 da man viele kleine ideologisch überzeugte, enthusiastische Führer auch für die entferntesten Dörfer im Süden Italiens benötigte. Andererseits fehlte es den zukünftigen Akademisten häufig an entsprechender Vorbildung, sodass bereits 1929 ein propädeutischer Zweijahreskurs auf dem Gelände der alten Farnesina für jüngere Schüler ins Leben gerufen wurde.11 Ricci zielte zu diesem Zeitpunkt mit dieser Modelleinrichtung darauf, den Jugendlichen einen festen faschistischen Glauben – vergleichbar mit religiösen Konvikten – angedeihen zu lassen, um sie dann an der Farnesina ausbilden und von da aus in die Ränge der ONB als Erzieher und Führungskräfte übernehmen zu können.12 Aus 9 Vgl. etwa Bericht Riccis an Mussolini, 10 In einer Propagandaschrift des Jahres
20. 9. 1934, in: ACS, SPD, CO, b. 330, f. 111.994. 1930 heißt es, dass jährlich nicht weniger als 150 Absolventen diese Akademie verließen. Vgl. Pietro Caporilli, L’educazione giovanile nello stato fascista, Rom 1930, S. 124. In einem Zeitungsartikel des Jahres 1940 wird angegeben, dass seit 1929 über 1200 Jugendführer diese Akademie absolviert hätten. Vgl. Ludwig Alwens, Credere, obbedire, combattere. Das Bekenntnis der faschistischen Jugend, in: Völkischer Beobachter, 17. 10. 1940 (BA Berlin, NS 43, 384, Bl. 206). 11 Vgl. Ponzio, Palestra del littorio, S. 185 f. Im folgenden Jahr wurde erneut ein Propädeutikkurs ausgeschrieben, vgl. Bando di concorso per l’ammissione di 50 giovani al Collegio-Convitto Fascista annesso all’Accademia di Educazione Fisica, in: Bollettino dell’Opera Balilla, 15. 6. 1930, S. 3. 12 Vgl. Renato Ricci an Benito Mussolini, 7. 5. 1932, in: ACS, PCM, 1931–1933, b. 1595, f. 7.2.4605.
1. Die Propädeutika 105
einem Brief Riccis an Mussolini aus dem Jahre 1932 wird ersichtlich, dass die Ausgangsbedingungen dieses Propädeutikums überaus schwierig waren, da weder die vorhandenen Räumlichkeiten noch die ausgewählten Schüler die Erwartungen erfüllten. Um zumindest das Unterbringungsproblem zu lösen und das Expriment doch noch zu einem Erfolg zu führen, bat Ricci Mussolini um die Immobilie Castello dei Cesari auf dem Aventin unweit des Circus Maximus.13 Die Jugendorganisation erhielt 1933 den Nutzungszuschlag,14 nahm dann jedoch bereits kurz darauf aus unbekannten Gründen von dem Plan Abstand,15 auf dem Aventin das Propädeutikum zu errichten. Auf dem Gelände wurde zunächst eine Casa del Balilla,16 eine Hauswirtschaftsschule17 (Scuola Economia Domestica), in den 1940er Jahren ein Erzieherinnencollegio18 (Collegio per istitutrici di ruolo della G.I.L.) und schließlich eine Musikakademie für Frauen19 (Accademia femminile di Musica) geschaffen.20 Nachdem das Propädeutikum nicht auf dem Aventin errichtet wurde, erhielt der Architekt Cesare Valle wahrscheinlich im Mai 1933 von Ricci den Auftrag für dessen Errichtung in Forlì, der „Stadt des Duce“.21 1934 legte Valle dem ONBPräsidenten erste Pläne vor.22 Die Öffentlichkeit erfuhr im September 1934 erstmals etwas über diese Pläne, im kommenden Jahr in Forlì ein propädeutisches Konvikt zu gründen, das zur Akademie gehören sollte, wie das Militärcollegio in Modena zu den Militärakademien.23 Im Januar 1935 konnte man schließlich einer Vielzahl regionaler und überregionaler Zeitungen Informationen und Skizzen 13 Vgl. ebenda. 14 Vgl. Appunto per S.E. il capo del governo, 8. 4. 1933, in: Ebenda. 15 Am 6. 6. 1934 schloss die ONB einen Vertrag mit der Baufirma, um
eine Casa del Balilla zu errichten. Der Vertrag wurde im Oktober 1934 jedoch aufgrund der Bauverzögerungen bereits wieder annulliert. Eine neue Firma beendete die Arbeiten im Juli 1935. Aufgrund schlecht ausgeführter Arbeiten und der Insolvenz der ersten beiden Firmen wurde schließlich eine weitere Firma für Nachbesserungsarbeiten herangezogen. Vgl. Ministero dei Lavori Pubblici, Restauro e trasformazione del Castello dei Caesari in Casa della G.I.L., 14. 3. 1939, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Atti Nord, Accademia Castello dei Cesari, Roma. 16 Vgl. Aktennotiz, 30. 7. 1936, in: ACS, SPD, CO, b. 349, f. 122.499. 17 Ricci an Società Romana del Gas, 8. 8. 1937, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Atti Nord, Accademia Castello dei Cesari, Roma. 18 Gaetano Minnucci an Comando Generale GIL, Servizio Tecnico Edilizio, 15. 1. 1942, in: Ebenda. 19 Verbale di licitazione privata in data 25-6-XX [1942] per l’aggiudicazione dell’appalto dei lavori per la costruzione dell’Accademia femminile di musica (I° lotto) aventinoRoma, in: Ebenda. 20 Die verantwortlichen Architekten waren zwischen 1934 und 1943 Gaetano Minnucci, ab 1943 schließlich Luigi Moretti unter Aufsicht durch die Gioventù Italiana. Vgl. den Schriftwechsel in: Ebenda. 21 Vgl. undatiertes Schriftstück mit dem Vermerk „maggio 1933 – incarico?“, in: Archivio Cesare Valle, CV-CAR-044, faldone 8. 22 Vgl. Progetto per il collegio di educazione fisica dell’Opera Balilla a Forlì, 1934, in: Archivio Cesare Valle, CV-FOT-061. 23 O.N.B. – Nuove iniziative, in: Il giornale della scuola media (künftig: GSM) 3 (1933/34), 33, 9. 9. 1934, S. 4; ebenso: Un collegio propedeutico a Forlì dell’Accademia Fascista a Roma, in: PdR, 22. 1. 1935, S. 1.
106 III. Die Geschichte der Collegi über das in Forlì geplante Propädeutikum entnehmen.24 250 bis 300 Jugendlichen sollte es die Möglichkeit bieten, auf die Farnesina vorbereitet zu werden und einen gymnasialen Abschluss (ginnasio/liceo) zu machen.25 Im Frühjahr 1935 sollten die Bauarbeiten beginnen und im faschistischen Jahr XIV, d. h. zwischen Oktober 1935 und Oktober 1936 beendet sein. Auch Mussolini und sein näheres Umfeld scheinen erst über die Presse von dem Vorhaben in Forlì erfahren zu haben. In den Akten fand sich ein offenbar von Mussolini herausgetrennter Zeitungsartikel über das Collegio vom 17. Januar 1935 mit der Aufforderung, Auskünfte bei der ONB darüber einzuholen.26 Aufgrund der Abwesenheit Riccis war dessen Mit arbeiter Giuseppe De Ponte redlich bemüht, Informationen zur Finanzierung und weiteren offenen Fragen zu beschaffen, musste jedoch eingestehen, dass keine Akten zur Finanzierung vorlagen. Er wandte sich schließlich an die Zentralverwaltung und das Provinzkomitee der Opera Balilla in Forlì, doch „weder die erste noch die zweite konnte mir konkrete Informationen geben. Offensichtlich ist die Sache – von der auch ich nur vage gehört habe – zwischen S.E. Ricci und dem Architekten vereinbart worden.“27 Nach kurzer Zeit änderte sich die Zielsetzung auch bei diesen Planungen. Nun sollte das geplante Gebäude in Forlì als Akademie für Leibeserziehung für Frauen, die seit 1932 ihren Sitz in Orvieto hatte, genutzt werden. Der Stadtrat von Forlì stimmte bereits einen Monat nach der Medienoffensive, im Februar 1935, dafür, die Errichtung der Frauenakademie mit einer Summe in Höhe von 1 000 000 Lire zu unterstützen.28 Doch erst im Juli 1935 informierte Ricci den Persönlichen Sekretär des Duce über diese Pläne, bei denen es sich genau genommen um einen Gebäudetausch handeln sollte: Die Sportakademie für Frauen in Orvieto sollte in das neu zu errichtende Gebäude nach Forlì ziehen und das Propädeutikum in die bisherigen Gebäude der Akademie in Orvieto.29 Anschließend unterrichtete Ricci den Architekten über die Baugenehmigung für die Frauenakademie in Forlì und teilte sogleich weitgehende Veränderungswünsche der Planungen mit.30 Erst knapp ein Jahr später, im Juni 1936, wurde in Forlì mit 24 Vgl.
ebenda; Il Collegio fascista a Forlì per i futuri accademici della Farnesina, in: CdS, 17. 1. 1935, S. 2; Bild mit Unterschrift „Il progetto del Collegio Convitto propedeutico della Accademia Fascista di Roma, che sorgerà prossimamente a Forlì (Arch. Cesare Valle)“, in: Bollettino dell’Opera Balilla, 1. 1. 1935, S. 1; Un collegio per gli aspiranti all’Accademia di educazione fisica, in: DS 36 (1934/35), 16, 27. 1. 1935, S. 275 f. 25 Vgl. Un collegio propedeutico a Forlì dell’Accademia Fascista a Roma, in: PdR, 22. 1. 1935, S. 1. 26 Vgl. Zeitungsartikel, 17. 1. 1935, in: ACS, SPD, CO, b. 1854, f. 528. 123/1. 27 Vgl. die beiden Schreiben Giuseppe De Pontes an die Segreteria Particolare del Duce, s. d. [auf beiden Schreiben ist nachträglich das Datum 23. 1. 1935 eingetragen], in: ACS, SPD, CO, b. 1854, f. 528. 123/1. Das nebenstehende Faszikel 158.958 zu diesem Sachverhalt ist leer. 28 Comune di Forlì, Atti della Consulta Municipale, Seduta del 13 febbraio 1935, oggetto 13: Contributo a favore dell’Opera Balilla per costruzione in Forlì della sede dell’Accademia femminile fascista di educazione fisica, in: Archivio di Stato, Forlì (künftig: ASFo), Comune di Forlì, Deliberazioni, nr. 18, 1935. 29 Ricci an Osvaldo Sebastiani, 21. 7. 1935, in: ACS, SPD, CO, b. 2150, f. 540. 186. 30 Ricci an Cesare Valle, 11. 8. 1935, in: Archivio Cesare Valle, CV-CAR-044, faldone 8.
1. Die Propädeutika 107
dem Bau begonnen.31 Etwa zur selben Zeit ließ Ricci im Rahmen der Feierlichkeiten zum zehnten Jahrestag der ONB-Gründung jedoch weder in Orvieto noch in Forlì dieses Propädeutikum eröffnen, sondern ebenfalls auf dem Gelände des Foro Mussolini in Rom mit dem Namen Accademia Littoria, später in Collegio Littorio umbenannt.32 Möglicherweise nahm Ricci letztlich aufgrund der Bauverzögerungen Abstand von dem Orvieto/Forlì-Plan für sein Propädeutikum. Auf welcher rechtlichen Grundlage die Einrichtung ihre Tätigkeit aufnahm, bleibt unklar, denn der Rechtsstatus der Collegi wurde erst 1938 geregelt. Die zwischen zehn und 18 Jahre alten Schüler der ersten Kurse lebten teils in den Gästehäusern des Foro Mussolini, teils in einem Gebäude auf dem Hügel Monte Mario oberhalb des Foro.33 Erst im Jahre 1940 bezogen die Schüler end gültig ein großzügigeres Gebäude für 800 Schüler auf dem Hügel Monte Mario der Camilluccia.34 Die Frauenakademie blieb schließlich durchgängig bis 1943 in Orvieto35 und das in Forlì bereits im Bau befindliche Gebäude wurde ab 1938 als Luftwaffencollegio genutzt.36 Insgesamt gilt es festzuhalten, dass dieses Vorgehen von schnellem Planen und Verwerfen, mündlichen Zusagen an die Architekten und geringer Bürokratie charakteristisch für das Handeln Riccis gewesen zu sein scheint.37 Auch in der Planungsphase der anderen Collegi finden sich diese häufigen Wechsel, die in der Folge zu Erweiterungen und Umbauten führten, da die Gebäude den Ansprüchen der Nutzung letztlich nicht gerecht wurden. Doch nicht nur die Orte, auch die inhaltlichen Ausrichtungen wechselten wiederholt, und dies erweist sich als symptomatisch für die Geschichte der Collegi: Berichtete die Presse 1935 noch darüber, dass die Absolventen des Propädeutikums ähnlich wie die Absolventen der Militärschulen einen gymnasialen Abschluss mit Hochschulzugangsberechtigung erwerben konnten, so handelte es sich schließlich um eine Lehrerausbildungsanstalt (istituto magistrale), an der sie lediglich eine Lehrbefähigung für Volksschulen erhielten.38 An dieser Stelle lässt sich aufgrund der fehlenden Quellen wieder nur spekulieren, wie es zu dieser 31 Vgl.
Inizio dei lavori dell’Accademia Fascista Femminile di Educazione Fisica a Forlì, in: PdR, 9. 6. 1936, S. 2. 32 Vgl. Annibale Tona, Al Foro Mussolini, in: DS 38 (1936/37), 32, 12. 6. 1937, S. 499 f.; Angelo Cammarata, Fucine della Rivoluzione. Le Accademie dell’O.N.B., in: Lo sport fascista 9 (1936), 4, S. 13–15, hier S. 14. 33 Vgl. L’organigramma dell’Accademia Littoria, in: Storia Verità IV (1999), 19, S. 64; Accademie e Collegi dell’Opera Balilla, Turin 1937, S. 8–10. 34 Vgl. Ettore Muti inaugura il Collegio Littorio, in: La Stampa, 4. 4. 1940, S. 1. 35 Im Juli 1937 legte Ricci Mussolini erneut Pläne vor, die Änderungen vorsahen: Nun sollte die Frauenakademie im Geburtsort Mussolinis, Predappio, und das Propädeutikum (er spricht hier von einem collegio maschile) wiederum in dem für die Frauenakademie geplanten Gebäude in Forlì untergebracht werden. Auf der Notiz prangt jedoch ein großes, von Mussolini gezeichnetes „no“. Vgl. Vermerk von Sebastiani für Mussolini, 28. 7. 1937, in: ACS, SPD, CO, b. 837, f. 500.018 (ONB). Das nebenstehende Faszikel 158.958 zu diesem Sachverhalt ist leer. 36 Siehe Kap. III. 1., Das Collegio aeronautico in Forlì. 37 Vgl. Santuccio, Moretti e Ricci, S. 83; Greco, Architettura e arte, S. 181; Santuccio, Architettura della „casa per la gioventù“, S. 30. 38 Accademia Littoria, in: GSM 6 (1936/37), 11.–20. 4. 1937, S. 10.
108 III. Die Geschichte der Collegi Wandlung kam: Entweder erhoffte sich Ricci 1935 noch die rechtliche Gleichstellung seines Collegios zu den Militärschulen, die ihm dann möglicherweise versagt wurde, oder – weitaus wahrscheinlicher – er selbst änderte seine Meinung und zielte zunehmend auf die Lehrerausbildung, um damit noch stärkeren Einfluss auf die staatlichen Schulen zu gewinnen. Dieses Propädeutikum, das in der Presse als „Keimling der zukünftigen Vorbereitung aller italienischen Lehrer“39 gepriesen wurde, kann so als Brückenkopf in diesen Bereich gedeutet werden. Wie bereits in der Auseinandersetzung zwischen Ricci und Bottai im April/Mai 1937 gesehen, war Bottai jedoch nicht bereit, Ricci die gesamte Lehrerausbildung zu übertragen. In der Folgezeit übernahm weder die ONB noch die GIL dieses Aufgabengebiet. Die Jugendorganisationen boten zwar Kurzzeitausbildungskurse in faschistischer Kultur für Lehrer an und bildeten die zukünftigen Leibeserziehungslehrer aus, die grundständige Lehrerausbildung verblieb jedoch beim Erziehungsministerium.40 Neben der Accademia Littoria wurde lediglich ein vergleichbares, der Frauen akademie angeschlossenes Institut errichtet sowie 1937 ein Collegio magistrale in Udine. Erst in den 1940er Jahren errichtete die GIL noch einige Erzieher(innen) collegi, jedoch aufgrund der Kriegssituation mit nur mäßigem Erfolg. Die Hoffnung, dass von dieser Einrichtung eine Initialzündung ausginge, die schließlich zur Übernahme der gesamten Lehrerausbildung führte, blieb demnach unerfüllt.
Die Collegi navali in Venedig und Brindisi Parallel zur Schaffung des Propädeutikums für die Sportakademie in Rom trieb Renato Ricci Mitte der 1930er Jahre auch die Errichtung von Marineschulen voran. Seit 1928 befanden sich vier Schulschiffe in Venedig, Neapel, Bari und Cagliari sowie ein Marinewaisenhaus in Anzio im Einflussbereich der ONB, die sich in dem Reglement von 1930 dazu bereit erklärt hatte, weitere Scuole marinaretti auf dem Land zu errichten. Im Juni 1934 legte der Architekt Gaetano Minnucci Planungen für eine Accademia marinara in Brindisi vor, in der 600 Jungen im Alter von sechs bis 16 Jahren eine „komplette berufliche Ausbildung und eine moralische sowie vor allem körperliche und sportliche Erziehung“ erhalten sollten.41 Die beiden Flügel des Gebäudes waren geteilt in Grundschule und Berufsschule. Geplant waren zudem eine große Turnhalle, Einrichtungen zum Fechten, ein großer Saal für Konferenzen und Projektionen, Erholungsräume sowie ein 5200 m2 großer Innenhof für gemeinsame Turnübungen und Versammlungen. Hinzu kommen sollten eine Laufbahn, ein Fußballfeld, Einrichtungen zum Speerwurf sowie Hoch- und Weitsprung, ein großes und drei kleine Basketballfelder. Der Gebäudekomplex sollte innerhalb von 18 Monaten realisiert werden, so lautete zumindest die Prognose des Architekten. Sowohl die Altersstruktur der Schüler als auch die Schularten machen deutlich, dass für Brindisi zu dem Zeitpunkt eine Marinelandschule ge39 Tona, Al Foro Mussolini, in: DS 38 (1936/37), 32, 12. 6. 1937, S. 499. 40 Vgl. Ponzio, Shaping the New Man, S. 72 f. 41 Gaetano Minnucci, Relazione sulla costruzione dell’Accademia marinara
e relativo campo sportivo a Brindisi, 30. 6. 1934, in: Archivio di Stato, Brindisi (künftig: ASBr), PREF, Serie I, ante ’63, b. 11, f. 14.
1. Die Propädeutika 109
plant war. Am 8. September 1934 stattete Mussolini Brindisi einen medienwirk samen Besuch ab und begab sich dabei auch zu dem Gelände der zukünftigen Accademia marinara dell’ONB, für die er höchstpersönlich Brindisi als Standort ausgesucht habe.42 In der typischen Berichterstattung der damaligen Zeit wurde Mussolini als Tatmensch gefeiert, der „mit festen Händen eine gewöhnliche Spitzhacke hielt, energisch dort die Erde entfernte, wo das Fundament des großartigen Gebäudes gegossen werden sollte“.43 Mit dieser Akademie verband er nichts weniger als die Hoffnung, die „höchsten nationalen Aufgaben“, nämlich die „Formung der Seelen der jungen Generation und der Marinesoldaten“, zu erfüllen.44 Wie nahezu alle Regionen Italiens Mitte der 1930er Jahre großen Bauprojekten entgegenfieberten, um die Arbeitslosigkeit und damit das Risiko von Unruhen zu senken, setzte auch Brindisi auf diese seine Hoffnungen.45 Der Präfekt von Brindisi machte sich für die sofortige Aufnahme und Intensivierung der Arbeiten stark, „um die Arbeitslosigkeit der Bauarbeiter vor Ort zu beseitigen“.46 Doch auch dort kamen die Bauarbeiten nur schleppend voran. Aufgrund des Mangels an Baumaterialien, der Unzuverlässigkeit der beauftragten Firma, die im Oktober 1935, ein Jahr nach Auftragsvergabe, ihre Arbeit einstellte, und einer Neuausschreibung47 verzögerten sich die Bauarbeiten, sodass die für das faschistische Jahr XIV (Okt. 1935-Okt. 1936) angekündigte Einweihung der ONB-Marineakademie in Brindisi48 nicht zustande kam. Während die Bauarbeiten in Brindisi in Verzug gerieten, erhielt im Norden Italiens zu Beginn des Jahres 1936 das Architektenduo Francesco Mansutti und Gino Miozzo von Ricci den Auftrag, ein Gebäude für etwa 200 Schüler des Schulschiffes Scilla in Venedig zu errichten.49 Aufgrund der unhaltbaren Zustände auf dem Anfang des 20. Jahrhunderts von David Levi Morenos eingerichteten Schulschiff Scilla,50 das seit 1928 der ONB unterstand, erklärte sich die Gemeinde Venedig 42 Vgl.
Al popolo di Brindisi, 8. 9. 1934, in: OO, Bd. XXVI, S. 324 f.; Le linee generali del programma della visita a Brindisi, in: Giornale di Brindisi, 8. 9. 1934, S. 1. 43 Le forze del fascismo brindisino, in: Puglia in linea. Volume celebrativo del lavoro della gente di Puglia, anno 1, Bari, settembre XVII, Mailand 1939, S. LXXIII-LXXV. 44 Nella città custode del monumento al Marinaio d’Italia, in: La Stampa, 9. 9. 1934, S. 1. 45 Vgl. Rinaldo Capomolla, La costruzione delle case del balilla e l’edilizia nell’Italia fascista, in: Capomolla/Mulazzani/Vittorini (Hrsg.), Case del balilla, S. 40–61, hier S. 41 f., 60, Anm. 5. 46 Prefettura di Brindisi an Capo Ufficio Genio Civile, 23. 9. 1934, in: ASBr, Genio Civile, 1° versamento, b. 33, f. 172. 47 Vgl. die Schreiben zu dem Vorgang in: ACS, MI, Direzione Generale Amministrazione Civile (künftig: DG Am Civ), Ctg 16.500 opere pubbliche, b. 2630, f. Brindisi – Lavori all’Accademia Marinara sowie Archivio Storico Provinciale, Brindisi (künftig: ASPBr), cat. XI, cl. 6, b. 182, f. 9. 48 Vgl. Il Calendario del Regime per l’anno XIV, in: La Stampa, 22. 8. 1935, S. 1. 49 Accademia nazionale premarinara dell’Onb, Venezia, Punta di Sant’Elena, in: Marco Mulazzani (Hrsg.), Francesco Mansutti e Gino Miozzo. Architetture per la Gioventù, Mailand 2005, S. 156–160, hier S. 156. Der Autor verweist darauf, dass in den Unterlagen der Architekten ein Faszikel fehlt, sodass deren Beauftragung und die wechselnde Zielsetzung des Gebäudes schwer zu rekonstruieren sind. 50 Vgl. Emilio Ninni, La nave-scuola marinaretti ,Scilla‘, in: Rivista mensile della città di Venezia, August 1927, S. 363–380, hier S. 363.
110 III. Die Geschichte der Collegi bereit, der ONB das Gelände auf Sant’Elena zu schenken, um dort ein Gebäude für die bedürftigen Schüler zu erstellen.51 Am 9. Oktober 1936 wurde die Grundsteinlegung gefeiert, die niemand Geringeres als Admiral Ferdinand von Savoyen, Duca von Genua und Kriegsmarinekommandant der Oberen Adria mit Sitz in Venedig, durchführte.52 Sowohl der bürokratische Prozess des Projekts als auch einige Konflikte während der Bauphase sind beispielhaft für die Art und Weise der Beziehung zwischen der ONB und den lokalen Institutionen, die ein Eigeninteresse am Bau der Gebäude hatten: Es wurde bereits mit dem Bau begonnen, ohne dass die ONB überhaupt im Besitz des Grundstückes gewesen wäre,53 bei Streitigkeiten zwischen der ONB und der kommunalen Baubehörde wegen der Höhe des Gebäudes setzte sich Ricci einfach über die Bedenken hinweg und ließ, einen angeordneten Baustopp ignorierend, die Arbeiten weiter vorantreiben und sich nachträglich bereits durchgeführte Arbeiten bestätigen.54 Vor dem Hintergrund des Verhaltens der ONB und später der GIL ergaben sich Gemeinde und Baubehörde schließlich resignierend ihrem Schicksal.55 Beide Einrichtungen waren offensichtlich als Marinelandschulen mit Grundschul- und Berufsvorbereitungszweig in der Tradition der Schulschiffe geplant worden. Davon zeugt auch eine Übersicht der im Bau befindlichen ONB-Einrichtungen aus dem Sommer 1936, auf der die Bauten als Scuole Marinaretti aufgeführt wurden.56 Dennoch nahmen die Zwillingsschulen Mitte Oktober 1937 ihre Tätigkeit als gymnasiale Marinecollegi der ONB auf. Doch wie und wann kam es zu dem Sinneswandel? Über das Marinecollegio in Venedig existiert eine Erzählung, die prima facie in das Bild von Riccis sprunghaftem Agieren passt. Derzufolge habe sich Ricci während seines Besuches der venezianischen Baustelle am 22. Februar 193757 spontan zu der Ausrichtungsänderung entschieden. Bereits in einem zeitgenössischen Zeitungsartikel wurde berichtet: „Vergangenen Frühling begab sich Seine Exzellenz Ricci nach Venedig und besuchte dabei auch das bereits auf gutem Wege befindliche Gebäude. Aufgrund der besonderen Schönheit des Ortes und des besonderen Baus änderte er damals die Ausrichtung und betraute Venedig mit dem Privileg, nicht nur eine, sondern zwei Marineschulen zu betreuen. Für die Marineschule 51 Vgl.
Presidente del Consiglio Nazionale delle Ricerche an Ministero della Marina, 7. 5. 1946, in: ACS, Ministero della Marina, Gabinetto 1934–1950, b. 993, f. Corsi P.I.G.P. a Venezia. 52 Vgl. Opera Balilla, Collegio navale di Venezia. Statuto e regolamento, Venedig 1937, S. 15. 53 Nach Zustimmung des Stadtrates im November 1936 schenkte die Stadt Venedig der ONB erst im Oktober 1937 das Gelände, und zwar explizit für den Bau eines ScillaHauses. Vgl. Donazione, 25. 10. 1937, in: Archivio Generale della Giunta Regionale del Veneto, Ente Gioventù Italiana (künftig: ExGIL), b. 59, f. collegio navale. 54 Accademia nazionale premarinara dell’Onb, S. 157. Vgl. zu den Vorgängen den Schriftverkehr in: Archivio del Comune di Venezia, Municipio di Venezia, 1936-40 X/7/3 prot. 15802/1940. 55 Vgl. Accademia nazionale premarinara dell’Onb, S. 157. 56 Vgl. Case del balilla, scuole di economia domestica, palestre ginnastiche, in costruzione, 14. 7. 1936, in: ACS, SPD, CO, b. 837, f. 500.018 (ONB). 57 Vgl. Venezia, in: DS 38 (1936/37), 20, 28. 2. 1937, S. 318. Laut diesem Artikel sollte die für 250 Jungmatrosen geschaffene Einrichtung am 24. 5. 1937 eingeweiht werden.
1. Die Propädeutika 111
sollte ein anderer Sitz gesucht werden und das im Bau befindliche Gebäude sollte ein Marinecollegio werden mit Gymnasium und Vorbereitungen auf hohe Marinekarrieren.“58 Ein vorgeblich anwesender Zeitzeuge erinnerte sich Jahrzehnte später: „Wir waren bei ihm, als er in Venedig während einem seiner bekannten Anfälle der sofortigen Entscheidung sagte: ‚Hier wird das schönste Marinecollegio Italiens entstehen.‘“59 Einen Monat zuvor, am 21. Januar 1937, hatte Ricci zudem die Baustelle in Brindisi besichtigt.60 Ob bereits zu diesem Zeitpunkt seine Entscheidung gefallen war, beide Einrichtungen in Gymnasien zu verwandeln, die als Propädeutika auf die Marineakademie in Livorno vorbereiten sollten, oder erst nach dem Besuch in Venedig, ist nicht mehr rekonstruierbar. Auch wenn nicht endgültig geklärt werden kann, ob Ricci nun spontan entschied oder von langer Hand plante, ist wohl eher vom Zweiten auszugehen, denn die „Schönheit von Ort und Bau“ dürfte ihn, der maßgeblich seine Vorstellungen in die Projekte einbrachte, nicht überrascht haben, sodass er die Scuole marinaretti vermutlich als Trojanisches Pferd nutzte, um deren Ausrichtung dann kurz vor Fertigstellung zu ändern und die beteiligten Institutionen zu überrumpeln. Drei Indizien unterstützen die These, dass es sich bei der Ausrichtungsänderung um ein länger geplantes Vorgehen handelte: Erstens muss angenommen werden, dass er mit dem venezianischen Collegio eines der ihm verhassten Nationalkonvikte, das altehrwürdige Convitto Marco Foscarini,61 zu verdrängen gedachte, was sich deutlich an der erfolgreichen Stimmungsmache seines ONB-Provinzpräsidenten Angelo Meloni gegen das Konvikt zeigte, die schließlich zu dessen Schließung und der Übernahme des Namens des Konvikts durch das Collegio führte.62 Weshalb der Erziehungsminister Bottai dieser Schließung zugunsten des neuen ONBCollegios im Sommer 1937,63 kurz nach dem konfrontativen Briefwechsel mit Ricci zustimmte, bleibt fragwürdig und kann auch durch die vorliegenden Quellen nicht geklärt werden.64 Dabei gilt es kurz anzumerken, dass Bottai zwei Jahre nach der angeordneten Schließung die Reaktivierung des Convitto Foscarini als 58 Ottorino L. Passarella, Un istituto nuovo per l’Italia. Il collegio navale di Venezia, in: Le tre
Venezie, Dezember 1937, S. 396–399, hier S. 398. Vgl. Paolo Bembo, Il Collegio navale della G.I.L. ed il periodo delle scuole, in: Andrea Dell’Agnola (Hrsg.), Alzato l’albero, spiegate le vele. Scuola navale militare F. Morosini, Piazzola sul Brenta 2001, S. 78–84, hier S. 78. 59 Antonio Esposito, Come si insegnava ad essere uomini, in: Storia Verità IV (1999), 19, S. 53–55, hier S. 54. 60 Vgl. Questura di Brindisi, Visita di S.E. Renato Ricci, an den Prefetto di Brindisi, s. d., in: ASBr, PREF, Gabinetto, b. 1, f. 2; S.E. Ricci nel Mezzogiorno, in: DS 38 (1936/37), 16, 31. 1. 1937, S. 253. 61 Siehe zu dieser 1807 gegründeten Institution: Mario Isnenghi, Un liceo veneziano: dal „Santa Caterina“ al „Marco Foscarini“, in: Silvio Lanaro (Hrsg.), Storia d’Italia. Le regioni dall’Unità a oggi. Il Veneto, Turin 1984, S. 233–263. 62 Vgl. Marino Tegon, Le carte veneziane della Gioventù Italiana del Littorio (1937–1943), tesi di laurea, Università degli Studi di Venezia, anno accademico 2006/2007, S. 81–83. 63 Vgl. ebenda, S. 93 f. 64 Bereits im August 1937 entschied Bottai über die Schließung des Convitto und stattete Venedig am 12/. 13. September 1937 einen Besuch ab, bei dem er auch das einen Monat später öffnende Marinecollegio inspizierte. Vgl. Appunto per S.E. Il Prefetto, s. d., in: Archivio di Stato, Venedig (künftig: ASVe), Gabinetto della Prefettura, Versamento 1893–1957, b. 32, f. arrivo personaggi vari, sf. Visita a Venezia di S.E. Bottai, 12 e 13 settembre 1937.
112 III. Die Geschichte der Collegi Collegio di Stato anstrebte, mehr oder minder in direkter Konkurrenz zu dem Marinecollegio, was ihm jedoch aufgrund der Opposition der venezianischen Parteistelle versagt blieb.65 Zweitens unternahm Ricci mit den Marinecollegi den Versuch, für diese denselben Rechtsstatus zu erlangen wie für die Militärschulen, um somit seinen Einfluss auch auf Gymnasien auszudehnen. Während des Faschismus bestanden drei gymnasiale Militärschulen als Vorbereitungsschulen für die Militärakademien: Neapel (Nunziatella, gegründet 1787), Rom (Palazzo Salviati, gegründet 1883) und Mailand (Teulié, gegründet 1802). In diesen Militär schulen wurden dieselben Inhalte wie an staatlichen Gymnasien unterrichtet und die Lehrer durch das Unterrichtsministerium zur Verfügung gestellt.66 Da es zu dem Zeitpunkt noch keine expliziten Marinevorbereitungsschulen gab, dürfte Ricci versucht haben, seine Marinecollegi auf der rechtlichen Grundlage der Militärschulen zu institutionalisieren und sich damit drittens auch den Einfluss auf die zukünftige Marineführung zu sichern. Deutlich wird diese Bestrebung der Faschisierung der Marine durch die zukünftigen Absolventen der Collegi auch in der Erinnerung eines Zeitzeugen des Marinecollegios in Venedig. Dieser zitierte Propagandaminister Dino Alfieri, dessen Sohn ebenfalls in Venedig Kollegiat war, mit folgenden Worten: „Ihr müsst, wenn ihr Marineoffiziere seid, unter dem weißen Hemd der Marine in euren Herzen das Schwarzhemd tragen. Ihr müsst die Injektionen des Faschismus in die Königliche Marine sein.“67 Bevor wir uns der wesentlichen Frage zuwenden, welche Position die Marine bezüglich der Collegi vertrat, soll kurz die weitere Entwicklung der Collegi nach dem Ausrichtungswechsel skizziert werden. Dieser Wandel dokumentiert vor allem eines deutlich: die Bevorzugung gut situierter gegenüber bedürftigeren Schülern. Entgegen der Behauptung, für die Schüler der Scilla ein anderes Gebäude in Venedig zu errichten, mussten diese Ende 1936 ihr in Venedig ankerndes Schulschiff aufgeben und in die Kaserne Santa Croce nach Chioggia ziehen, ehe sie 1938 in der neu geschaffenen Einheitsmarineschule in Sabaudia Aufnahme fanden.68 Eingang in das „vornehme und herrschaftliche“69 Collegio fanden sie nicht − und das, obwohl sich die Grundstücksschenkung der Stadt an die ONB explizit auf das Schulschiff Scilla bezog.70 Aufgenommen wurden in Venedig und Brindisi 65 Vgl. 66 Vgl.
Tegon, Le carte veneziane della Gioventù Italiana del Littorio, S. 98 f. zu den Militärschulen im Allgemeinen und zu den (zeitgenössischen) Verweisen auf die Ähnlichkeiten zwischen Collegi und Militärschulen: Disma Zanetti, I licei presso le scuole militari, in: Ministero dell’Educazione Nazionale (Hrsg.), Dalla Riforma Gentile alla Carta della Scuola, S. 677–679; Gino Belardinelli, I collegi e le scuole della Gioventù Italiana del Littorio, in: Ebenda, S. 680 f.; Collegi e scuole della Gioventù Italiana del Littorio, in: Scuola e cultura. Annali dell’Istruzione media XV (1938), 1, S. 68–70; Commissione alleata in Italia, Politica e la legislazione scolastica in Italia dal 1922 al 1943, S. 233 f. 67 Interview mit Giorgio Gasparini (Venedig 1939–1942), 4. 4.2014-K, S. 1. 68 Vgl. Tegon, Le carte veneziane della Gioventù Italiana del Littorio, S. 73 f., bes. Anm. 22. Die Idee, die Schüler aus Chioggia zurück nach Venedig in das Gebäude des 1937 geschlossenen Nationalkonvikts Marco Foscarini zu verbringen, wurde nicht mehr realisiert. Vgl. ebenda, S. 83, 93. 69 Accademie e Collegi dell’Opera Balilla [1937], S. 14, ebenso S. 15. 70 Vgl. Donazione, 25. 10. 1937, in: Archivio Generale della Giunta Regionale del Veneto, ExGIL, b. 59, f. collegio navale.
1. Die Propädeutika 113
ab Mitte Oktober 193771 hingegen mehrheitlich gut situierte Jugendliche, die die intellektuellen und physischen Voraussetzungen mitbrachten, die zweijährige Oberstufe (ginnasio superiore) sowie das altsprachliche oder naturwissenschaft liche Gymnasium (liceo classico/liceo scientifico) zu besuchen und den sportlichmarinaren Ausbildungsplan zu bewältigen. Wenige Tage nach der Aufnahme des Internatsbetriebes kam es zur Umwandlung der ONB in die GIL: Achille Starace löste Renato Ricci als Jugendführer ab und stattete dem Marinecollegio „Marco Foscarini“, wie es in der Anfangszeit häufig tituliert wurde,72 in Venedig am 14. November 1937 seinen ersten Besuch ab.73 Da das Collegio ursprünglich für lediglich 200 bis 250 Jungmatrosen geplant war, kündigte Starace während des Besuches sogleich die Erweiterung des Gebäudekomplexes an. In den folgenden Jahren wurden Grundstück und Gebäude um weitere Schlafsäle sowie Sport- und Paradeplätze erweitert, um schließlich Kapazitäten für insgesamt 450 Schüler zu schaffen.74 Ähnlich wie später in Forlì kam es auch in Venedig und Brindisi noch während des Schulbetriebes zu Bauarbeiten, sodass beispielsweise erst im Januar 1941 für Brindisi die Fertigstellung bestätigt wurde.75 Nach seinem Besuch in Venedig verfügte Starace die offizielle Einweihung der beiden Marinecollegi für den 5. Dezember 1937, den Jahrestag des legendären Steinwurfes von Balilla.76 Einen Tag nach der offiziellen Einweihung inspizierte
71 Das
Marinecollegio Venedig nahm die Internatsschüler am 16. 10. 1937 auf. Vgl. Collegio Navale di Venezia, Circolare Nr. 1, 5. 10. 1937, in: ACS, SPD, CO, b. 990, f. 509.031. Die Angaben über die Schülerzahlen schwanken für Venedig zwischen 120 und 140, Brindisi habe mit 200 Schülern seine Tätigkeit begonnen. Vgl. Bembo, Collegio navale della G.I.L. ed il periodo delle scuole, S. 82; Annuario del Collegio Navale G.I.L. Venezia. Anno 1937–38, Venedig 1938, S. 44–61; Passarella, Istituto nuovo per l’Italia, in: Le tre Venezie, Dezember 1937, S. 398; I collegi navali per la Gioventù del Littorio inaugurati a Venezia e Brindisi, in: La Stampa, 6. 12. 1937, S. 6. 72 Vgl. etwa Venezia, Nobile gesto, in: DS 39 (1937/38), 12, 6. 1. 1938, S. 190; Annuario del Collegio Navale G.I.L. Venezia. Anno 1937–38, S. 6. 73 Vgl. Il Segretario del Partito a Venezia, in: CdS, 15. 11. 1937, S. 1; Fonogramma dalla R. Questura, Il Questore Gorgoni an S.E. Prefetto, Venezia, 14. 11. 1937, in: ASVe, Gabinetto della Prefettura, Versamento 1893–1957, b. 32, f. arrivo personaggi vari, sf. arrivo a Venezia di S.E. Starace. 74 Vgl. Cessione gratuita, 23. 12. 1939, und Rinnovazione di atto di cessione gratuita, 19. 6. 1940, in: Archivio Generale della Giunta Regionale del Veneto, ExGIL, b. 59, f. collegio navale; Archivio del Comune di Venezia, Municipio di Venezia, 1936-40 X/7/3 prot. 15802/1940 und 1941-47 X/7/3 prot. 34538/1941; Architetti F. Mansutti G. Miozzo, Collegio navale della G.I.L. Venezia, Costruzione del corpo dei servizi delle camerate, relazione al progetto, 29. 1. 1942, und dies., Collegio navale della G.I.L. Venezia, Studio per la sistemazione del centro studi, relazione, 2. 5. 1942, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Patrimonio, Collegio Navale Venezia, Permute di Proprietà. 75 Maria Genoveffa Mancarella, Il Collegio navale „Niccolò Tommaseo“. Una questione di scelte (1934–1946), in: Archivio di Stato Brindisi (Hrsg.), Collegio navale Niccolò Tommaseo 1934–1977, S. 11–25, hier S. 21 f. 76 Vgl. PNF, FD, Nr. 913, 26. 11. 1937; Annuale di Balilla, in: DS 39 (1937/38), 9, 5. 12. 1937, S. 137. Siehe zur Eröffnung in Brindisi: L’inaugurazione del Grande Collegio Navale della Gioventù Italiana del Littorio, in: Giornale Luce B1217, 15. 12. 1937; Siehe zu Venedig: Venezia. L’inaugurazione del Collegio Navale della Gioventù Italiana del Littorio, in: Giornale Luce B1218, 15. 12. 1937.
114 III. Die Geschichte der Collegi Starace auch das Collegio in Brindisi.77 Zufrieden konnte Starace mit dem Start des Collegios nicht sein. Dies verhinderten vor allem Finanzierungsprobleme, wie eine Anfrage des Marinecollegios in Brindisi an die Provinzverwaltung deutlich macht. Der Bitte um Bereitstellung von Geldern „für das reibungslose Funktionieren der dem Collegio angeschlossenen Schulen“78 kam die Provinzverwaltung überraschenderweise nicht nach, obwohl sie sich sonst sehr entgegenkommend zeigte. In den folgenden Jahren war die Provinzverwaltung immer wieder in Sorge, das Collegio könne die Stadt verlassen, womit für die Stadt ein nicht unerheblicher Wirtschaftsfaktor weggefallen wäre. Einmal zerstreute der Parteiprovinzsekretär die Ängste der Provinzverwaltung mit den indirekt drohenden Worten: „Der Generalkommandant hat entschieden, dass das Marinecollegio der G.I.L., so wie es ist, in der Stadt bleibt, in der Gewissheit, dass die lokalen Behörden es nicht versäumen werden, ihm weiterhin das Leben zu erleichtern.“79 Dass das Collegio in Brindisi dann doch zwischenzeitlich seinen Sitz nach Forte dei Marmi verlegte, hatte wahrscheinlich mehr mit dem mangelnden Luftschutz während des Krieges80 als mit den Rekrutierungsproblemen im Süden zu tun, auf die die Marine mehrfach verwies und die aus diesem Grund einen Standortwechsel gern gesehen hätte. Damit kommen wir zu der zentralen Frage, welche Rolle nun die Marine in diesen Marinecollegi spielte − eine Marine, der für gewöhnlich eine monarchistische Gesinnung attestiert wird. Hatte sie überhaupt ein Interesse daran, die Absolventen aus der „faschistischsten aller faschistischen Organisationen“ in die eigene Marineakademie zu übernehmen? Leider liegen für die Frühphase keine Dokumente vor, die die Position der Marine erhellen würden. Rein rechtlich ge 77 Vgl.
Ispezione al Collegio navale della G.I.L. di Brindisi, in: Bollettino GIL, 15. 12. 1937, S. 1; Starace a Lecce e a Brindisi, in: CdS, 7. 12. 1937, S. 2. 78 Vgl. Amministrazione Provinciale di Brindisi, Collegio navale – contributo, 8. 1. 1938, in: ASPBr, cat. XI, cl. 6, sc. 1, b. 275, f. 3. 79 Segretario federale Fasci di Combattimento Brindisi an Commissario straordinario per l’amministrazione Provinciale Brindisi, 12. 4. 1940, in: ASPBr, cat. XI, cl. 6, sc. 1, b. 275, f. 6. 80 Im Schuljahr 1940/1941 wechselte das Collegio in Brindisi nach Forte dei Marmi (Lucca). Leider konnten keine Quellen zu diesem Vorgang ausfindig gemacht werden, der vermutlich im Zusammenhang mit den häufigen Luftangriffen der britischen Luftwaffe Ende 1940/Anfang 1941 auf Brindisi steht, wie Zeitzeugenerinnerungen nahelegen: „Bei jedem dieser Angriffe ließen die Verantwortlichen des Marincollegios die Schüler auf den Boden legen, um dem Druck auszuweichen, der durch die Fenster kam. Im Januar 1940 [gemeint ist 1941] erschien Brindisi nicht mehr sicher, und Personal sowie Schüler wurden nach Forte dei Marmi verlegt. Das Gebäude dort ist ein riesiger zylinderförmiger Wolkenkratzer mit einer Wendeltreppe in der Mitte [vemutlich die Colonia Marina Ilva].“ Daniela Pandolfo, Mettetevi comodi! È la guerra!, http://www.forumlive.net/Dentrolastoria/metteteviComodi/capII.htm [16. 9. 2016]. Im Schuljahr 1941/1942 befand sich das Collegio dann wieder in Brindisi. Der Minister für Öffentliche Bauten stattete ihm im November 1941 einen Besuch ab, bei dem er sich für das Funktionieren der Luftschutzbunker interessierte. Vgl. Attività delle accademie e collegi della G.I.L., in: GdL, 1. 1. 1942, S. 183. Es muss also davon ausgegangen werden, dass während der Abwesenheit der Schüler Schutzunkterkünfte errichtet wurden, über die jedoch nicht berichtet wurde. Für das Schuljahr 1942/1943 stellte die GIL ohne Angabe von Gründen eine Anfrage an das Marineministerium, das Collegio in eine andere Unterkunft, die colonia „Italcementi“ nach Forte dei Marmi zu verlegen, die jedoch abgelehnt wurde. Vgl. den Schriftverkehr zwischen GIL und Marineministerium, April/Juni 1942, in: ACS, Ministero della Marina, Gabinetto 1934–50, b. 584.
1. Die Propädeutika 115
sehen war die Marine nach dem Schulschiffreglement von 1930 verpflichtet, auch die Marinelandschulen, als die die Collegi zunächst geplant waren, durch Personal und Material zu unterstützen. Aber dabei handelte es sich um Grund- bzw. Berufsvorbereitende Schulen. Nun waren aus den Schulen jedoch Gymnasien geworden, die zudem auf die Marineakademie vorbereiten sollten. In einem Bericht aus dem Jahre 1937 bemerkte die Marine lapidar: „Die ONB tendiert dazu, die Schulschiffe abzuschaffen und durch Gebäude zu ersetzen.“81 Hier findet sich kein Hinweis auf die Marinecollegi. Betrachtet man die Finanzierung der beiden Collegi, zeigt sich zudem, dass sich die Marine finanziell nicht an der Errichtung der Gebäude beteiligte. Von den insgesamt drei Millionen Lire, die bis 1937 für das Collegio in Venedig aufgewendet worden waren, übernahm die ONB zwei Millionen Lire, den Rest brachten regionale Institutionen auf.82 Das rund zwei Millionen Lire teure Grundstück schenkte die Stadt der ONB.83 Von den sechs Millionen Lire, die das Marinecollegio in Brindisi gekostet haben soll, übernahmen Provinz und Kommune von Brindisi etwa die Hälfte, die Marine trat als Finanzier ebenfalls nicht in Erscheinung.84 Gemäß dem Reglement des ONB-Marinecollegios, das aufgrund des Wechsels von ONB zu GIL nur knapp zwei Wochen in Kraft war, wurde das Collegio durch einen Rat geleitet, dem zwar der ONB-Provinzpräsident vorstand, der aber sowohl durch einen Vertreter des Comando militare marittimo dell’alto adriatico als auch durch einen vom Marineministerium bestellten hochrangigen Offizier der Königlichen Marine zusammengesetzt war.85 Die Aufgabe des Offiziers bestand laut Statut in der Formulierung eines premarinaren und vormilitärischen Ausbildungsplans und der Beaufsichtigung der Umsetzung sowie in der Oberaufsicht über die dem Collegio zugeteilten weiteren Marineangehörigen.86 Nach der Umwandlung der ONB in die GIL unterstützte die Marine den laufenden Betrieb der Collegi weiterhin sowohl durch Personal (Offiziere als 1. bzw. 2. Kommandant sowie Unteroffiziere als Ausbilder) und Material (etwa Boote und Schiffstechnik) als auch durch jährliche finanzielle Zuwendungen,87 die sich beispielsweise im Jahre 1938 auf die moderate Summe von jeweils 100 000 Lire pro Collegio belaufen haben sollen.88 81 La premilitare marittima, s. d. [vermutlich 1937], in: AUSMM, Archivio di base, b. 2696. 82 100 000 Lire Gruppo Volpi, 100 000 Lire Associazione Industriali Maghera, 150 000 Lire
Cassa di risparmio, 50 000 Lire Società Veneziana di Navigazione, 50 000 Lire Amministrazione Provinciale, 10 000 Lire Assicurazioni Generali di Venezia, sowie 540 000 Lire durch andere Einrichtungen und Privatleute. Vgl. Passarella, Istituto nuovo per l’Italia, in: Le tre Venezie, Dezember 1937, S. 399. 83 Vgl. Giampiero Rellini Lerz, La nascita del „Morosini“. Il progetto, in: Il Brogliaccio (2008), 8, S. 32–34, hier S. 32. 84 Le forze del fascismo brindisino, in: Puglia in linea. Volume celebrativo del lavoro della gente di Puglia, anno 1, Bari, settembre XVII, Mailand 1939, S. LXXIII-LXXV. 85 Vgl. Opera Balilla, Collegio navale di Venezia. Statuto e regolamento, S. 14. 86 Vgl. ebenda, S. 16. 87 Vgl. Relazione sull’attività e sviluppo della premarinara, anno 1940–41, S. 46, in: ACS, Ministero della Marina, Gabinetto 1934–50, b. 452. 88 Pro Memoria di Servizio, Collegio aeronautico di Forlì, U. Nannini, 3. 1. 1938, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1938, b. 35, f. Collegio aeronautico di Forlì 1° vol.
116 III. Die Geschichte der Collegi In den Propagandabroschüren und Werbeartikeln versprach man den Eltern nicht nur, ihre Kinder würden „nach den modernsten Kriterien, in bester Um gebung und unter den besten didaktischen und hygienischen Bedingungen“ in eigens dafür errichteten komfortablen Gebäuden erzogen, sondern auch, dass sie nach erfolgreicher Absolvierung des Collegios einen erleichterten Zugang zur Marineakademie in Livorno erhielten, mit der Aussicht, anschließend die Offizierslaufbahn einschlagen zu können.89 Tatsächlich mühte sich die GIL jahrelang redlich, einen solch erleichterten Zugang für die Absolventen ihrer Marinecollegi zu erwirken, aber das Marineministerium kam dieser Forderung nicht nach.90 Die Anfragen der Jugendorganisation, die Absolventen der Collegi navali direkt und ohne Aufnahmeprüfungen auf die Marineakademie in Livorno zu übernehmen, wurden von der Marine abgelehnt. Offiziell führte die Marine für diese Absage die großen qualitativen Unterschiede bei der Ausbildung in den beiden Marinecollegi an. Insgesamt zeigte sich bereits bei der Gründung der Zwillingscollegi das „typische“ Nord-Süd-Gefälle. Das Collegio in Venedig sollte „besonders herrschaftlich“ sein, wie Ricci in einem Schreiben an den Persönlichen Sekretär des Duce anmerkte, womit er zugleich auch die höhere Schulgebühr begründete (monatlich 400 Lire Venedig, 300 Lire Brindisi).91 In den folgenden Jahren wurden die Unterschiede immer deutlicher, wie die Marine meinte, beobachten zu können. Die Absolventen aus Venedig seien weit häufiger für die Marineakademie von Livorno geeignet als die Aspiranten aus Brindisi, was vor allem auf die südliche Lage und daraus resultierend auf Probleme bei der Schülerauswahl und der Stellenbesetzung zurückzuführen war.92 Bevor die Marine zu den durch die GIL geforderten Konzessionen bereit wäre, müsste sich das Niveau von Brindisi dem von Venedig annähern.93 Tatsächlich ging es der Marine aber wohl eher um einen stärkeren inhaltlichen und personellen Einfluss. Zwischen den Zeilen kann man dem Schriftverkehr durchaus die Vorbehalte entnehmen, Absolventen der Collegi navali direkt für die höhere Offizierslaufbahn an der Marieneakademie aufzunehmen, ohne vorher intensiver in deren Auswahl und Ausbildung einbezogen worden zu sein.94 Wie im Kapitel V 89 Accademie
e collegi dell’Opera Balilla, in: Bollettino dell’Opera Balilla, 1. 6. 1937, S. 7; vgl. bspw. Giovanni Cenzato, Un’ora coi „Lupetti di mare“, in: CdS, 26. 3. 1938, S. 5. 90 Vgl. den Schriftverkehr zwischen Segretario di Stato della Marina, Arturo Riccardi, und dem GIL-Generalkommando vom 3. 11., 25. 11., 14. 12. 1941, in: ACS, Ministero della Marina, Gabinetto 1934–50, b. 452; Relazione sull’attività e sviluppo della premarinara, anno 1940–41, S. 46, in: Ebenda. 91 Vgl. Renato Ricci an Osvaldo Sebastiani, 27. 5. 1937, in: ACS, SPD, CO, b. 837, f. 500.018 (ONB). 92 Relazione sull’attività e sviluppo della premarinara, anno 1940–41, S. 47, in: ACS, Ministero della Marina, Gabinetto 1934–50, b. 452. 93 Vgl. Ministero della Marina an Adelchi Serena, Comandante generale della G.I.L., 14. 12. 1941, in: Ebenda. 94 Möglicherweise wurde dies erst Mitte 1942 ausgelotet, als zunächst der Kommandant von Livorno, Riccardo Paladini, und in Folge mehrere Lehrer der Akademie das Collegio aufsuchten, um mit Schülern, dem Rektorat und der Leitung Verbindungen herzustellen. Vgl. Attività delle accademie e collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 6. 1942, S. 564 f.; Attività delle accademie e collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 7. 1942, s. p.
1. Die Propädeutika 117
näher ausgeführt wird, forderte die Marine ihre personelle Stärkung in den Collegi sowie die Marineausbildung der als Erzieher fungierenden Farnesina-Absolventen, damit diese so schon eine „gewisse Bindung zur Marine“ besäßen. Das Ziel der Marine bestand ganz klar darin, stärkeren Einfluss auf Schüler, Erzieher und Ausbildungsinhalte auszuüben, auch wenn sie diplomatisch davon sprach, „eine immer engere Zusammenarbeit zwischen Partei und Marine auf dem Gebiet der Offiziersausbildung zu schaffen“.95 Die Marine unterbreitete Vorschläge, wo neue Collegi navali zu errichten seien: nicht in der Peripherie, sondern an Orten, an denen aus vielen potenziellen Schülern die geeignetsten aus gewählt und auf einen fähigen Lehrkörper zurückgegriffen werden konnte, was ungenannt als Kritik am Standort Brindisi zu verstehen war. Man forderte die Einschreibung der ältesten Schüler zum Wehrdienst in der Militärmarine sowie die Verbesserung der Kooperation auf dem wesentlichen Gebiet der Mathematik zwischen den Collegi und der Marineakademie.96 Die Partei kam den Wünschen der Marine auch in Teilen entgegen, was etwa die Einführung von Mathematiktests bei den Aufnahmeprüfungen der Marinecollegi ab dem Schuljahr 1942/1943 unterstreicht.97 Die rechtliche Festschreibung eines bevorzugten Zuganges zur Marineakademie in Livorno gab es jedoch nie. Und das – so muss hier betont werden – vor dem Hintergrund, dass Mussolini zwischen 1933 und 1943 auch das Amt des Marineministers innehatte. „Als Regierungschef, für die Teilstreitkräfte zuständiger Minister und oberster Kriegsherr verfügte er gerade im militärischen Bereich über eine Machtfülle, die fast an Omnipotenz grenzte“, konstatierte Woller unlängst, und fügte sogleich einschränkend an: „In Realität besagte das aber nicht viel, weil der ‚Duce‘ […] sich nur um das Große kümmerte, um die großen Ziele und die große Strategie, während er das Klein-Klein der Kriegsvorbereitung den militärischen Fachleuten überließ.“98 Ordnete ein quasi omnipotenter Mussolini die rechtliche Festschreibung eines privilegierten Zuganges nicht an, weil er sich nicht um dieses „Klein-Klein“ kümmerte, obwohl er doch ein Interesse daran haben musste, die Marine mit überzeugten Faschisten zu „infiltrieren“? Oder gab es andere Gründe? Scheute er den Konflikt mit dem Militär99 oder respektierte er dessen traditionelles Autonomiestreben?100 Leider fehlen auch hier wieder die Quellen, die die Position Mussolinis näher beleuchten würden. Sicher ist jedoch, dass die Marine durchaus Interesse an diesen Einrichtungen zur Nachwuchsrekrutierung hatte, jedoch nicht unter den gegebenen Bedingungen, sodass sie peu à peu Versuche unternahm, ihren Einfluss auszuweiten und den der GIL/Partei zurückzudrängen. Diesem Ansinnen kam die GIL/Partei nur begrenzt nach, sodass einerseits Reibungen dieser beiden Institutionen aufgrund der geschilderten Inte 95 Segretario
di Stato della Marina, Arturo Riccardi, an GIL-Generalkommando, 3. 11. 1941, in: ACS, Ministero della Marina, Gabinetto 1934–50, b. 452. 96 Ebenda. 97 Vgl. PNF/GIL, Circolare Nr. 87, 21. 7. 1942, in: Archivio di Stato, Lecce (künftig: ASLe), Gioventù Italiana del Littorio (künftig: GIL), b. 15. 98 Woller, Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert, S. 176. 99 Woller, Mussolini, S. 191. 100 Rochat, Monarchia e militari dal fascismo alla repubblica, S. 477; vgl. darüber hinaus: Rochat, Mussolini e le forze armate, S. 119.
118 III. Die Geschichte der Collegi ressenkonflikte unvermeidlich waren und die Marineakademie andererseits kein gesteigertes Interesse an den Absolventen der Marinecollegi hatte.101
Die Stärkung der Collegi unter Starace Nach der Absetzung des zehn Jahre amtierenden Präsidenten der ONB und Ideengebers der Collegi, Renato Ricci, leitete seit Ende Oktober 1937 der Parteisekretär Achille Starace in Personalunion als Generalkommandant die Jugendorganisation GIL, die dem PNF unterstand. Laut Artikel 2 des Gründungsdekrets der GIL gingen die Einrichtungen der ONB, also auch die Collegi, in den Besitz der GIL über, deren Aufgabe es nun nach Artikel 5c auch war, im Einklang mit den Zielen der Jugendorganisation für die Fortführung bestehender und die Errichtung weiterer Akademien, Collegi und Schulen Sorge zu tragen.102 Die GIL übernahm damit die auf dem Foro Mussolini in Rom bestehende Akademie für Leibeserziehung, das Propädeutikum Accademia Littoria, eine Musikakademie, eine Fechtakademie sowie die Akademie für Leibeserziehung für Frauen. Zusätzlich führte sie die bestehenden Schulschiffe weiter. Das organisatorische Wirrwarr, das mit dem Übergang von ONB zu GIL einherging, kam für die Collegi zu einem mehr als ungünstigen Zeitpunkt. Nach den jahrelangen Verzögerungen nahmen zu Beginn des Schuljahres Mitte Oktober 1937 mit den Marinecollegi in Venedig und Brindisi, dem Collegio zur Volksschullehrerausbildung in Udine103 und dem Collegio zur Ausbildung der jüngeren Akademieaspirantinnen in Orvieto vier neue Institutionen ihre Arbeit auf. Bereits seit Mai 1937 rührte die Presse beständig die Werbetrommel für die insgesamt zehn Akademien, Collegi und Schulen der ONB, die in dem kommenden Schuljahr 2200 Jugendliche neu aufnehmen würden.104 Angemerkt sei, dass Mussolini wieder einmal kaum über die Collegi informiert und sein Persönlicher Sekretär erneut damit beschäftigt war, Informationen etwa über das zu zahlende Schulgeld in den Collegi einzuholen.105 101 Siehe Kap. IV.5. 102 Vgl. Regio Decreto-Legge,
Nr. 1839, 27. 10. 1937, Istituzione della Gioventù italiana del Littorio, in: GU, Nr. 262, 12. 11. 1937. 103 Das Gebäude in Udine plante der Architekt Ermes Midena. Vgl. Capomolla/Mulazzani/Vittorini (Hrsg.), Case del balilla, S. 245. Zur künstlerischen Ausgestaltung siehe: Isabella Reale/Paolo Casadio, La riscoperta delle tempere murali di Afro nel Collegio dell’Opera nazionale Balilla a Udine, in: Bollettino d’Arte 74 (1989), 58, S. 73–86. 104 Vgl. Duemiladuecento posti a concorso nelle Accademie e Collegi dell’Opera, in: DS 38 (1936/37), 31, 29. 5. 1937, S. 491; Opera Nazionale Balilla – Accademie e Collegi dell’Opera, in: DS 38 (1936/37), supplemento al n. 32, 12. 6. 1937, „Prontuario di in formazioni e questioni legali“, S. 138 f.; Accademie e Collegi dell’Opera Balilla, in: Bollettino dell’Opera Balilla, 1. 6. 1937, S. 6 f.; 15. 6. 1937, S. 4 f.; 1. 7. 1937, S. 2 f.; I posti a concorso nelle Scuole e Istituti dell’O.N.B., in: CdS, 26. 5. 1937, S. 2. 105 Nach einem Zeitungsartikel über 2200 Schulstellen an den Einrichtungen der ONB forderte Sebastiani im Auftrag Mussolinis Angaben dahingehend, ob Schulgeld erhoben werde oder nicht. Daraufhin informierte Ricci Sebastiani ausführlich über die unterschiedlichen Varianten und übermittelte ihm zugleich die Ausschreibungsbroschüre, vgl. den Vorgang in: ACS, SPD, CO, b. 837, f. 500.018 (ONB).
1. Die Propädeutika 119
Nach nur zwei Wochen Tätigkeit unter der Ägide der ONB wechselten die neuen Collegi in den Schoß der Partei bzw. der GIL. Die anfängliche Ungewissheit über die Zugehörigkeit zeigt sich beispielsweise in einem Schreiben des Leiters des Marinecollegios Venedig, Angelo Meloni, der die Einrichtung im Dezember 1937 als Collegio navale del P.N.F. bezeichnete.106 Erst in den folgenden Monaten änderten sich die Briefköpfe hin zu der dann üblichen Bezeichnung Collegi della G.I.L. Verwaltet wurden die Collegi während Staraces Amtszeit durch das jewei lige GIL-Provinzkommando. Zudem bestand beim GIL-Generalkommando in Rom der Bereich Accademie e Collegi, der zunächst unterhalb des Generalkommandanten, dessen Vizegeneralkommandanten und dem Stabschef der GIL an gesiedelt war.107 Wie bereits geschildert, gelang es der GIL nur schwerlich eine funktionierende Verwaltung aufzubauen, nachdem Ricci zuvor in nahezu allen Belangen seine Finger selbst im Spiel hatte. Ob bei den Collegi bereits auf bestehende Strukturen zurückgegriffen werden konnte oder ob sich der Bereich der Akademien und Collegi neu konstituierte und wie schnell ihm das gelang, muss unbeantwortet bleiben. Auch die Eruierung der federführenden Personen dieses Bereiches gestaltete sich aufgrund der fehlenden Akten der Jugendorganisation als sehr schwierig: Die im Bullettin der Jugendorganisation veröffentlichten Anweisungen hinsichtlich der Collegi wurden lediglich mit Servizio Accademie e Collegi unterschrieben. Erster namentlich erwähnter Chef für diesen Bereich war im November 1938 der vorherige Parteisekretär von Görz, Benesperando Luraschi.108 Zudem korrespondierten die wechselnden Stabschefs der GIL, Umberto Moretti, Roberto Nasi und Giuseppe Bodini sowie der Generaldirektor Giovanni Vinci auf dem Briefpapier des Servizio.109 Erst für das Jahr 1941 wird wieder namentlich ein Chef des Bereiches, ein gewisser Gaetano Rossi, genannt,110 der auch durch einige Veröffentlichungen zur faschistischen Erziehung glänzte.111 Insgesamt machen die häufigen Wechsel deutlich, dass es auch in diesem Bereich keine Personalkontinuität gegeben hat. Nach seiner Amtsübernahme setzte sich Starace unmittelbar für die Stärkung der Collegi ein. Nachdem er sich zunächst bei Inspektionen in Venedig und Brindisi einen persönlichen Eindruck verschafft hatte, hielt Starace schließlich Ende Dezember 1937 eine Rede vor den Parteiprovinzsekretären, in der er betonte, die Akademien und Collegi zukünftig durch die Bereitstellung von Stipendien stärken zu wollen.112 Aufgrund des hohen Schulgeldes für den Besuch der Collegi 106 Vgl. 107 Vgl.
Schreiben Angelo Melonis, 1. 12. 1937, in: ACS, SPD, CO, b. 990, f. 509.031. Ordinamento della Gioventù Italiana del Littorio, Tabella 1, in: Bollettino GIL, 1. 11. 1937, S. 4. 108 Vgl. Schreiben Luraschis an Ministero Aeronautica, 29. 11. 1938, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1938, b. 35. 109 Vgl. den Bestand ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto. 110 Vgl. Attività delle accademie e collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 11. 1941, S. 57. 111 Vgl. Rossi, Educazione fascista; Gaetano Rossi, I nuovi collegi della G.I.L., in: GdL, 1. 10. 1941, S. 765 f.; Gaetano Rossi, Compiti attuali dei dirigenti della G.I.L., in: GdL, 15. 1. 1943, S. 220 f. 112 Vgl. Rapporti del Segretario del P.N.F., in: Bollettino GIL, 1. 1. 1938, S. 1; Il rapporto di Starace ai federali di tutta Italia, in: La Stampa, 31. 12. 1937, S. 1.
120 III. Die Geschichte der Collegi unternahm er in der Folgezeit Anstrengungen, Stipendien für die potenziellen Kollegiaten zu akquirieren, und rief die regionalen Parteistellen zur Auslobung von Stipendien auf deren Kosten auf.113 Zudem kündigte er bei dieser Gelegenheit die Gründung des Luftwaffencollegios in Forlì an. In einer weiteren Rede Ende Januar 1938 vor den Vizeprovinzkommandanten hob er die Bedeutung der bereits bestehenden Akademien und Collegi hervor und forderte nochmals, deren Entwicklung nachdrücklich zu unterstützen.114 Sie sollten zu Zentren werden, in denen die fähigen, aus der Masse der GIL-Angehörigen ausgewählten Jugendlichen eine integrale faschistische Erziehung erhalten und für künftige Führungsaufgaben geschult werden sollten, um so die Revolu tion weiterzutragen. Die Collegi wandelten sich also erst unter Starace in „Schmieden des neuen Menschen“, in denen „die Gestalt des Bürgersoldaten im faschistischen Italien geformt und gestaltet“115 werden sollte. Zwischen 1938 und 1941 verfolgte die Partei mit diesen Internatsschulen konkret drei Ziele: „a) die Ausbildung der zukünftigen Schüler der Marine-, Luftfahrt-, Fecht- und Leibeserziehungsakademie, b) die Formung des kriegerischen Charakters der Jugendlichen, Erweckung und Erhaltung des Ehr- und Pflichtgefühls und der Disziplin, sowie aller moralischen und spirituellen Energien, die gemeinsam mit einer gesunden Physis den faschistischen Menschen ausmachen, c) die Vermittlung der notwendigen Kenntnisse, um eine solide Allgemeinbildung zu erreichen, sowie sportlicher und militärischer Grundlagen für diejenigen, die eine Karriere in der Armee oder als Leibeserziehungslehrer anstreben.“116
Unter Starace setzte die Vereinheitlichung der Institution der Collegi ein: an gefangen bei der Vorgabe dieser einheitlichen Zielrichtung über ein vereinheitlichtes Auswahlprozedere117 samt medizinischer Begutachtung,118 der angestrebten einheitlichen Ausstattung der Schüler aller Collegi119 bis hin zur einheitlichen 113 Vgl.
Circolare del segretario amministrativo del P.N.F., Nr. 606 A., 10. 1. 1938, in: Atti del PNF VII (1937/1938), 3, S. 317. 114 Vgl. S.E. il Comandante generale della G.I.L. tiene rapporto ai vice comandanti federali, in: PdR, 22. 1. 1938, S. 2. 115 Relazione della Commissione permanente, presidente Fera, 8. 8. 1938, in: Archivio Storico della Camera dei Deputati, Rom (künftig: ASCD), Disegni, proposte di legge e incarti delle Commissioni (künftig: DPLIC), XXIX Legislatura, vol. 1361, f. 2400, Bl. 286. 116 PNF/GIL, Accademie e Collegi, Rom 1938, S. 12; PNF/GIL, Accademie, Collegi, Scuole, Rom 1939, S. 22; PNF/GIL, Accademie, Collegi, Scuole. Bando di concorso XVIII-XIX, Rom 1940, S. 22; PNF/GIL, Accademie, Collegi, Scuole. Ammissioni a. XIX-XX, Rom 1941, S. 25. 117 Vgl. Ammissione degli allievi alle accademie, collegi e scuole della G.I.L., in: Bollettino GIL, 15. 8. 1938, S. 6; Commissione per l’esame delle domande di ammissione, in: Bollettino GIL, 1. 9. 1938, S. 12 f.; Ammissione degli allievi alle accademie, collegi e scuole marinare della G.I.L., in: Bollettino GIL, 1. 9. 1938, S. 13. 118 Vgl. PNF/GIL, Norme per la visita medica dei candidati all’ammissione alle Accademie, Collegi e Scuole della G.I.L. Estratto dal Bollettino del Comando Generale della GIL, n. 21 del 1 settembre 1938, Rom 1938. 119 Vgl. Rette e spese a carico degli allievi, in: Bollettino GIL, 1. 8. 1938, S. 10.
1. Die Propädeutika 121
Namensgebung. Wie ein Rundschreiben im Juli 1938 festlegte, führte die GIL fortan die folgenden Erziehungseinrichtungen unter diesen Namen:120 • Scuola di perfezionamento istruttori premilitari della G.I.L., Mirandola121; • Accademia della G.I.L., foro Mussolini – Roma; • Accademia di scherma della G.I.L., foro Mussolini – Roma; • Accademia di musica della G.I.L., foro Mussolini – Roma; • Accademia femminile della G.I.L., Orvieto; • Collegio navale della G.I.L., Brindisi; • Collegio navale della G.I.L., Venezia; • Collegio aeronautico della G.I.L., Forlì [nahm erst Ende des Jahres 1938 seine Tätigkeit auf]; • Collegio „Littorio“ della G.I.L., foro Mussolini – Roma; • Collegio magistrale della G.I.L., Udine; • Collegio magistrale femminile della G.I.L., Orvieto; • Scuola marinara „Azuni“ della G.I.L., Cagliari; • Scuola marinara „Caracciolo“ della G.I.L., Sabaudia; • Scuola marinara „Eridano“ della G.I.L., Bari122; • Scuola marinara „Sicilia“ [sic!, gemeint ist Scilla] della G.I.L., Venezia [zu dem Zeitpunkt in Chioggia]
Die wesentlichste Normierung fand sich jedoch in der Festschreibung des Rechtsstatus der Collegi, womit deren juristischer Schwebezustand endete. Auf Initiative des Erziehungsministeriums, der GIL und des Finanzministeriums erging im Juni 1938 das Dekret 994, welches die fünf bereits existierenden Collegi in Rom, Udine, Orvieto, Brindisi und Venedig und das im kommenden Schuljahr er öffnende Luftwaffencollegio in Forlì den staatlichen Schulen gleichstellte.123 Es wurde verfügt, dass die staatliche Schulaufsicht dieser Vorbereitungsinstitute für die Marine-, Luftfahrt- und Leibeserziehungsakademien, die der Partei/GIL ge120 Denominazioni, in: Bollettino GIL, 15. 7. 1938, S. 11 f. 121 Diese Einrichtung gehörte zuvor der MVSN und ging dann in den Zuständigkeitsbereich
der GIL über, die sie in den Bereich „Servizio Accademie e Collegi“ eingliederte. Vgl. PNF, Foglio d’ordini, Nr. 198, 11. 5. 1938. Fortan fand sie nur sporadisch Erwähnung. Vgl. PNF, FD, Nr. 1152, 17. 9. 1938; Nr. 86, 22. 2. 1940. Bisher existiert keine Forschung zu dieser interessanten Institution, sodass selbst die Gründung im Unklaren bleibt. Als Gründungsjahre werden 1925 (La storia della Milizia, http://www.regioesercito.it/ milizia/mvsnstoria.htm [13. 1. 2018]) bzw. 1931 (Piergiorgio Renna, Lo sport fascista e le forze armate, in: Maria Canella/Sergio Giuntini [Hrsg.], Sport e fascismo, Mailand 2009, S. 500–516, hier S. 510) genannt. In einer zeitgenössischen deutschen Broschüre heißt es: „Jedes Jahr speit die Offiziersschule in Mirandola wieder ein paar tausend Instrukteure aus, die sich im ganzen Land auf die Zenturien und Legionen verteilen. Allein in diesem Jahr sind über 150 000 neunzehnjährige Jungen durch deren Kurse und Ausbildungslehrgänge gegangen. Eine Zahl, die ständig wächst.“ Weidenmann, Junges Italien, S. 100 f. 122 In dem Anweisungsblatt des PNF wurde 1939 die Umbenennung eines „Collegio della GIL“ in Bari in „Scuola di preparazione artigiana della GIL Ferruccio Barletta“ angekündigt. Vgl. PNF, FD, Nr. 1341, 7. 6. 1939. Unklar bleibt, ob es sich dabei um diese ehemalige Schulschiffseinrichtung handelte. In der Folgezeit fand diese Institution keine Erwähnung mehr. Es findet sich jedoch in der Persönlichen Kanzlei des Duce ein Schriftwechsel bezüglich eines Collegio in Bari. Vgl. ACS, SPD, CO, b. 489, f. 188.476. 123 Vgl. Regio Decreto-Legge, Nr. 994, 3. 6. 1938, Sistemazione delle scuole medie dei Collegi della Gioventù italiana del Littorio, in: GU, Nr. 163, 20. 7. 1938.
122 III. Die Geschichte der Collegi hörten, vom Parteisekretär unter Mitwirkung des Erziehungsministers ausgeübt werden sollte (Art. 1, 6). Bei der Debatte über die Umwandlung des Dekrets in ein Gesetz im Januar 1939124 blieb der Erziehungsminister dann schon ungenannt, und Starace war demnach allein verantwortlich für die Collegi: „Die Oberaufsicht über die Collegi und Schulen führt der Sekretär des Partito Nazionale Fascista, Staatsminister und Generalkommandant der GIL.“125 Die Collegi erhielten mit dieser rechtlichen Gleichstellung zu den staatlichen Schulen, wie zuvor von Ricci intendiert, den gleichen Rang wie die Militärschulen. Analog zu diesen Militärschulen wurde den Schülern eine weiterführende Schulbildung, Kurse zur speziellen Vorbereitung auf die Akademien und eine strenge Disziplin vermittelt.126 Neben der rechtlichen Gleichstellung der Schulen und der erworbenen Abschlüsse zu staatlichen Schulen (Art. 1, 5) wurde verfügt, dass Rektoren wie Lehrkräfte der GIL durch das Nationale Erziehungsministe rium zur Verfügung gestellt werden (Art. 2). Ausgenommen davon waren die Lehrkräfte für Leibeserziehung, Militärkunde und Religion.127 Das Dekret 994 erging im Eilverahren, um die rechtliche Stellung dieser Schulen noch vor Ablauf des laufenden Schuljahres zu klären,128 sodass schließlich die Entscheidung auf den 16. Oktober 1937, also den Tag des Schulbeginns, zurückdatiert wurde. Der Historiker Niccolò Zapponi bemerkte bereits vor vielen Jahren, dass der Erziehungsminister Bottai der Gleichstellung von Abschlüssen der Parteischulen mit denen staatlicher Schulen nur unter ganz restriktiven Bestimmungen zustimmte, jedoch ohne diese Regularien genauer zu bestimmen.129 Denkbar ist, dass Bottai nur unter der Bedingung einwilligte, dass die Lehrer regulär vom Erziehungsministerium gestellt werden mussten, um so eine gewisse Kontrolle über diese Parteischulen zu behalten. Nach all den ergriffenen Maßnahmen zur Potenzierung und Regulierung der Collegi unterstrich Starace schließlich während seiner Rede vor dem PNF-Nationaldirektorium im Oktober 1938 nochmals den Richtungswechsel und die wesentliche Funktion der Collegi: „Der Akademie und den Collegi ist eine neue Ausrichtung gegeben worden, mit dem Ziel einer noch vollumfänglicheren Vorbereitung der Schüler, die deren Verwendung nicht nur auf dem Gebiet der 124 Vgl.
Legge, Nr. 255, 16. 1. 1939, Conversione in legge del R. decreto-legge 3 giugno 1938-XVI, n. 994, concernente la sistemazione delle scuole medie dei Collegi della Gioventù italiana del Littorio, in: GU, Nr. 46, 24. 2. 1939. 125 Undatierte Rede, in: ASCD, DPLIC, XXIX Legislatura, vol. 1361, f. 2400, Bl. 289. Ebenso: „Es sind weiterführende Schulen verschiedener Art zugelassen: und auch die stehen unter der genauesten Überwachung durch den Parteisekretär, Staatsminister und Generalkommandant der GIL.“ Relazione della Commissione permanente, presidente Fera, 8. 8. 1938, in: ASCD, DPLIC, XXIX Legislatura, vol. 1361, f. 2400, Bl. 287. 126 Vgl. Collegi e scuole della Gioventù Italiana del Littorio, in: Scuola e cultura. Annali dell’Istruzione media XV (1938), 1, S. 69. 127 Vgl. La sistemazione delle scuole medie nei collegi della G.I.L., in: CdS, 21. 7. 1938, S. 2. 128 Vgl. Presidenza del Consiglio dei Ministri, Appunto per il Duce, 22. 4. 1938, in: ACS, Atti PCM, 1938–1939, Educazione Nazionale, b. 342. 129 Vgl. Zapponi, Partito della gioventù, S. 622. Die von Zapponi benannten Akten zu dem Sachverhalt sind nach einer Bestandsumordnung im ACS im Jahre 1996 nicht mehr auffindbar.
1. Die Propädeutika 123
körperlichen Ertüchtigung, sondern auch als Führungskräfte erlaubt.“130 Mit dem Schuljahr 1938/1939 wurden nun 2694 Schüler in den GIL-Einrichtungen zu potenziellen faschistischen Führungskräften ausgebildet.131 Die Collegi schienen sich zu einer Erfolgsgeschichte für die faschistische Partei zu entwickeln, denn am 20. November 1938 ließ Starace im Anordnungsblatt verlautbaren: „Die Akademien und Collegi sind voll besetzt und daher konnte eine Vielzahl von Bewerbungen trotz termingerechter Einreichung und Vollzähligkeit der Unterlagen nicht berücksichtigt werden. Mit dem kommenden Jahr XVIII [1939–1940] werden mehr Plätze eingerichtet.“132 Aufgrund der fehlenden Akten sind die tatsächlichen Schülerzahlen schwer rekonstruierbar und die in der Presse genannten Zahlen schwanken sehr häufig. Für das in diesem Jahr gegründete Luftwaffencollegio waren beispielsweise zunächst 120 Stellen ausgeschrieben, die Presse berichtete letztlich jedoch nur von 80 Schülern, die in Forlì lernten, sodass die Behauptung Staraces über die Vollbesetzung mit Vorsicht zu genießen ist.133 Auch von den ausgewählten Lehrern und Schülern scheint Starace nicht voll überzeugt gewesen zu sein, der während seiner Amtszeit immer wieder persönlich die Collegi inspi zierte,134 um deren Entwicklung und reibungslosen Ablauf zu überwachen. So sei „veranlasst worden, das Lehrpersonal in Bezug auf die neuen Anforderungen umzuordnen“, ohne dass ergänzt worden wäre, worin diese Veränderung konkret bestand.135 Darüber hinaus mahnte er in einer Rede vor dem Nationaldirektorium im Juli 1939 die „Notwendigkeit einer sorgfältigen Auswahl der Elemente [an], um sie an die Akademien und Collegi zu schicken.“136 Das heikle Problem der Auswahl geeigneter Schüler sollte auch Staraces Nachfolger, ähnlich wie die Führungskräfte der nationalsozialistischen Ausleseschulen, bis zum Untergang beider Regime umtreiben. Die kurze Amtszeit Staraces als Generalkommandant der GIL von Oktober 1937 bis Oktober 1939, die am besten als Versuch der institutionellen Stärkung und Konsolidierung oder – um den Quellenbegriff zu bemühen – als „Potenzierung“ der Collegi charakterisiert werden kann, war die eigentliche Geburtsstunde der Collegi als „Schmieden des neuen Menschen“. Die in dieser Zeit eröffneten Einrichtungen, namentlich das Luftwaffencollegio in Forlì, die Einheitsmarineschule in Sabaudia,137 sowie die Heeresschule in Bozen138 werden nun im Folgenden einer genaueren Betrachtung unterzogen. 130 Relazione
del Segretario al Direttorio Nazionale del P.N.F., in: Bollettino GIL, 1. 11. 1938, S. 2. 131 Vgl. Il Segretario del Partito, in: Bollettino GIL, 15. 11. 1938, S. 21. 132 PNF, FD, Nr. 1192, 20. 11. 1938. 133 Vgl. Al collegio aeronautico della Gil, in: PdR, 31. 12. 1938, S. 2 f. 134 Vgl. Il Segretario del Partito visita i lavori del costruendo collegio Pre-Aeronautico, in: PdR 18. 6. 1938, S. 5; Il Segretario del Partito fra gli allievi del Collegio magistrale della G.I.L. a Udine, in: CdS, 17. 6. 1938, S. 6; Il Segretario del Partito a Venezia, in: CdS, 20. 6. 1938, S. 6. 135 La Gioventù Italiana del Littorio nell’anno XVII, in: Bollettino GIL, 28. 10. 1939, supplemento, S. 2. 136 PNF, FD, Nr. 1370 bis, 27. 7. 1939. 137 Vgl. Il primo annuale della Gil, in: La Stampa, 29. 10. 1938, S. 1. 138 Vgl. PNF, Foglio d’ordini, Nr. 242, 18. 10. 1939.
124 III. Die Geschichte der Collegi
Die Scuola marinara Caracciolo in Sabaudia Auch die Entstehung dieser Einheitsmarineschule in Sabaudia ist aufs Engste mit der Geschichte der Schulschiffe verknüpft. Da sich die durch das Marineministerium zur Verfügung gestellten Schulschiffe inzwischen als „unbrauchbar“ erwiesen hatten, mussten die Schüler (zumeist Waisen von Marineangehörigen und Fischern) an Land gehen.139 Bereits im Mai 1935 fanden die ersten Schüler des zwei Monate zuvor geschlossenen Marinewaisenhauses von Anzio Aufnahme in Sabaudia. Im Jahr darauf zogen dann die Schüler des Schulschiffes Caracciolo von Neapel in die neugegründete Stadt im Agro Pontino.140 Gemeinsam mit den Marinecollegi von Venedig und Brindisi nahm die Internatsschule offiziell im Schuljahr 1937/1938 als Scuola marinaretti Sabaudia ihre Tätigkeit auf und wurde am 5. Dezember 1937 eingeweiht.141 Auf Anordnung Staraces übernahm die Marineschule in Sabaudia zum 1. Oktober 1938 die Schüler der anderen Schulschiffe und avancierte so zur einzigen Marineschule der GIL. Die Aufgabe der Schule war es, die dringend benötigten Militärspezialisten,142 wie Kanoniere, Steuermänner, Mechaniker, Funker und Motorschlosser für die Handels- und Kriegsmarine auszubilden.143 Noch 1941 beklagte die Marine, lediglich etwa ein Drittel des Bedarfes an Spezialisten mit ihrer eigenen Ausbildung abdecken zu können.144 Dieser eklatante Mangel sowie die Tatsache, dass die an der Einheitsmarineschule der GIL in Sabaudia aufgenommenen Schüler zumeist Matrosenwaisen waren und dem zufolge bereits eine gewisse Bindung zur Marine aufwiesen, führten dazu, dass die Marine offensichtlich größeres Interesse an dieser Schule und ihren spezialisierten Absolventen für die Handels- und Kriegsmarine als an den Absolventen der Marinecollegi hatte, da es an Interessenten für die Marineakademie nicht fehlte.145 139 Relazione
sullo schema di disegno di legge concernente la soppressione delle navi scuola marinaretti esistenti e l’istituzione in Sabaudia della Scuola marinara „Caracciolo“ della G.I.L., in: ACS, PCM, 1940–1943, b. 2665, f. 1.1.15.3500, sf. 1/17; ASCD, DPLIC, XXX Legislatura, vol. 1389, f. 835. 140 Vgl. Sezione IV: Trasferimento del Collegio da Napoli a Sabaudia, 1935–1962, in: Daniela Carfagna (Hrsg.), La marina militare e la città di Sabaudia. Immagini e storia del Collegio d’arte marinara „Caracciolo“, Priverno 2004, S. 85–113, hier S. 85. 141 Vgl. Annuale di Balilla, 5. 12. 1937, S. 137; PNF, FD, Nr. 913, 26. 11. 1937; Zeugnis mit Aufschrift Opera Balilla, Scuola marinaretti O.B. „Sabaudia“, korrigiert durch Schriftzug „G.I.L.“, SJ 1937/38, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Allievi, Bolzano, PIO-ROF, b. 1369, f. Rinaldi, Riccardo. 142 Vgl. Commissione Suprema di Difesa, Sessione XV, Relazione sulla preparazione premilitare e postmilitare della nazione durante l’anno 1937, 10. 1. 1938, in: AUSMM, Archivio di base, b. 2731. 143 Vgl. La Scuola marinara della G.I.L. a Sabaudia, in: DS 39 (1937/38), 39, 20. 9. 1938, S. 623; Giuseppe Bodini an PCM, 17. 11. 1939, in: ACS, PCM, 1940–1943, b. 2665, f. 1.1.15.3500, sf. 1/17. 144 Vgl. Relazione sull’attività e sviluppo della premarinara, anno 1940–41, S. 26, in: ACS, Ministero della Marina, Gabinetto 1934–50, b. 452. Der Berichterstatter ging von 3270 spezialisierten Absolventen aus, woraufhin der Marinestaatssekretär Arturo Riccardi handschriftlich anmerkte, dass man 10 000 benötige. 145 Relazione sull’attività e sviluppo della premarinara, anno 1940–41, S. 48, in: Ebenda.
1. Die Propädeutika 125
Erst zwei Jahre nach der offiziellen Eröffnung der Einheitsmarineschule erfolgte die juristische Fixierung dieser Entwicklung.146 Es wurde konstatiert, dass die Schulschiffe zugunsten der Einheitsmarineschule Caracciolo abgeschafft worden waren (Art. 2) und das Dekret 994, also die rechtliche Gleichstellung der Collegi zu staatlichen Schulen, auch auf die Einheitsmarineschule Anwendung fand (Art. 4). Die Königliche Marine verpflichtete sich zudem, sich für die Einheitsschule genauso zu engagieren, wie zuvor für die Schulschiffe, indem sie Personal und Material zur Verfügung stellte und die Werkstätten betreute (Art. 5). Bewerben konnten sich für die Einheitsmarineschule Jungen zwischen neun und 14 Jahren, die zunächst die Volksschule, dann die dreijährige Berufsvorbereitende Schule industrieller Ausrichtung sowie die zweijährige Industriefachschule absolvierten, ehe sie sich anschließend als Freiwillige bei der Marine meldeten und Aufnahme in den Spezialschulen des Kgl. Korps für Marinebesatzungen (Corpo reale equipaggi marittimi, CREM) fanden.147 Laut einem Marinebericht besuchten Ende 1941 rund 450 Schüler die Marineschule in Sabaudia.148 Doch die Marine benötigte weitere spezialisierte Unteroffiziere, sodass sie die Intention der GIL begrüßte, ein neues Gebäude am römischen Strand in Ostia für rund 1000 Schüler zu errichten.149 Tatsächlich hatte sich die GIL zunächst bemüht, das Gelände in Sabaudia zu erweitern und erhielt Anfang des Jahres 1941 auch die Zusage durch das Ministerium für Öffentliche Bauten.150 Aufgrund des Interesses der Militärverwaltung, Unterkünfte für Offiziere auf dem Erweiterungsgebiet der Marineschule zu errichten, entschied sich der Podestà jedoch, dem Militär den Vortritt zu lassen.151 Nun galt es ein anderes, am Meer gelegenes Grundstück zu akquirieren. Dabei fiel die Entscheidung auf den Lido von Rom. Im November 1941 übermittelte das GIL-Generalkommando dem Gouverneur von Rom dessen Entscheidung, die Marineschule von Sabaudia nach Ostia umzusiedeln und erteilte zugleich den Auftrag: „Ich wäre Ihrer Exzellenz sehr dankbar, wenn Sie dafür Sorge tragen wollen, dass das erforderliche Gebiet, nicht weniger als sechzigtausend Quadratmeter, am Meer gelegen, dafür abgetre146 Vgl.
Legge, Nr. 1210, 1. 7. 1940, Soppressione delle navi scuola marinaretti e istituzione della Scuola marinara „Caracciolo“ della G.I.L. in Sabaudia, in: GU, Nr. 208, 5. 9. 1940. Vgl. darüber hinaus ACS, Atti PCM, 1940/41, Presidenza, b. 12, f. 12; ACS, PCM, 1940– 1943, b. 2665, f. 1.1.15.3500, sf. 1/16 f. 147 Vgl. PNF/GIL, Accademie, Collegi, Scuole [1940], S. 37 f.; PNF/GIL, Accademie, Collegi, Scuole [1941], S. 43 f.; Ivo Ceccarani, Vita e aspetti del Collegio marinaro „Caracciolo“, in: Collegio marinaro „Caracciolo“, supplemento al n. 12 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 21. 4. 1942, S. 4–7. 148 In dem Tätigkeitsbericht der GIL für das SJ 1938/1939 wurden hingegen bereits 602 Schüler aufgeführt. Vgl. La Gioventù Italiana del Littorio nell’anno XVII, in: Bollettino GIL, 28. 10. 1939, supplemento, S. 3. 149 Vgl. Relazione sull’attività e sviluppo della premarinara, anno 1940–41, S. 35, 48, in: ACS, Ministero della Marina, Gabinetto 1934–50, b. 452. 150 Ingegnere Achille Pintonello an Comando Generale GIL, Ampliamento Scuola Marinara „Caracciolo“ Sabaudia, 17. 2. 1941, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Casa GIL, Lido di Roma, 1937. 151 Vgl. Podestà von Sabaudia an Comando Generale della G.I.L., 21. 10. 1941, in: Ebenda.
126 III. Die Geschichte der Collegi ten wird.“152 Letztlich kam es zu keinem Umzug nach Ostia mehr. Spätestens seit September 1942 bestand neben dem Hauptgebäude in Sabaudia zusätzlich eine Ausbildungsstelle in der südöstlich von Rom gelegenen Hafenstadt Formia.153 Die Betreibung dieser zwei Standorte unterstreicht das anhaltende Interesse von GIL und Marine an den dort ausgebildeten Spezialisten bis zur Absetzung Mussolinis.
Das Collegio aeronautico in Forlì Das Luftwaffencollegio „Bruno Mussolini“ in Forlì stand im Mittelpunkt der Propaganda über die neuen faschistischen Ausleseschulen,154 wofür dreierlei Gründe ausschlaggebend waren: Erstens war der Standort symbolträchtig, da Forlì besonders in den 1930er Jahren propagandistisch zur „Stadt des Duce“ stilisiert wurde.155 Zweitens waren, wie bereits erwähnt, der Fliegermythos und der Mythos vom „neuen Menschen“ aufs Engste miteinander verwoben, sodass dieses Fliegercollegio als „Schmiede junger Adler für die Luftwaffe“,156 gleichsam als prototypischer Horst des „neuen Menschen“ inszeniert wurde. Und drittens wurde dieses 1938 eröffnete Collegio im Oktober 1941, zur offiziellen Einweihung, nach dem Pilot Bruno Mussolini, dem kurz zuvor tödlich verunglückten Sohn Benito Mussolinis benannt. Innerhalb kürzester Zeit entwickelte die Propagandamaschinerie einen regelrechten Bruno-Kult, wozu im Übrigen auch die hagiographische Schrift Mussolinis „Ich rede mit Bruno“ ihren Beitrag leistete. Darin verklärte Mussolini seinen Sohn insbesondere im Kapitel „Als Faschist geboren und als Faschist gelebt“ zur Inkarnation seines geforderten „neuen Italieners“.157 Im auffälligen Gegensatz zur propagandistischen Überhöhung, war auch der Aufbau dieses Collegios mit massiven Schwierigkeiten verbunden: Die Zielsetzung des Gebäudes hatte mehrfach gewechselt. Zunächst war es, wie bereits oben dargestellt, als Propädeutikum (Abb. 3) und dann als Sportakademie für Frauen (Abb. 4) konzipiert wurden. Im Juni 1936 begannen die Bauarbeiten.158 152 GIL-Vizegeneralkommandant,
Orfeo Sellani, an Gian Giacomo Borghese, Gouverneur von Rom, 25. 11. 1941, in: Ebenda. 153 Vgl. PNF, FD, Nr. 111, 4. 9. 1942. 154 Siehe beispielsweise den 14-minütigen Propagandafilm „Ansia di volo“ der LUCE über das Collegio aeronautico: Ansia di volo, Luce, D034804, 1942. Umso bedauerlicher ist die fehlende Erwähnung des Collegios in der Studie Lehmanns über die Aeronautikpropaganda während des Faschismus, vgl. Lehmann, Le ali del potere. In Kapitel 7 informiert er zwar über die diversen Initiativen der Jugendorganisation, die Jugendlichen für die Luftfahrt zu begeistern, benennt jedoch nicht explizit das Collegio. 155 Vgl. Ferruccio Canali, Architetti romani nella „città del Duce“, in: Memoria e ricerca 3 (1995), S. 163–191, hier S. 164. 156 Il Collegio aeronautico fucina di aquilotti per l’Arma Azzurra si aprirà con il nuovo anno scolastico, in: PdR, 1. 10. 1938, S. 6. 157 Vgl. Benito Mussolini, Ich rede mit Bruno, Essen 1942, S. 131–134; L’esempio di Bruno, in: Collegio aeronautico Bruno Mussolini, Forlì, supplemento al n. 12 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 22. 4. 1942, S. 1 f.; Alessandro Alesiani, Finalità e ordinamento del Collegio aeronautico di Forlì intitolato a Bruno Mussolini, in: Il Popolo d’Italia, 5. 10. 1941 (BA Berlin, R 4902, 8445, Bl. 33 RS). 158 Vgl. Inizio dei lavori dell’Accademia Fascista Femminile di Educazione Fisica a Forlì, in: PdR, 9. 6. 1936, S. 2.
1. Die Propädeutika 127
Abb. 3: Das Propädeutikum in Forlì (PdR, 22. 1. 1935, S. 1)
Abb. 4: Die Frauenakademie für Leibeserziehung in Forlì (PdR, 2. 6. 1936, S. 1)
Noch am 29. November 1937 korrespondierte der Parteiprovinzsekretär von Forlì mit dem Architekten über die in Errichtung befindliche faschistische Frauenakademie,159 ehe dann der Parteisekretär und nun auch Führer der Jugendorganisation Starace einen Monat später, am 30. Dezember 1937, verkündete, in Forlì ein Luftwaffencollegio errichten zu wollen (Abb. 5).160 Für die Ausrichtungsänderung dürften mehrere Gründe maßgebend gewesen sein: Ein relevanter Faktor könnte die Verwandtschaft des Architekten Cesare Valle mit Giuseppe 159 Comandante
federale Forlì, Pio Teodorani Fabbri, an Cesare Valle, 29. 11. 1937, in: Archivio Cesare Valle, CV-CAR-022. 160 Rapporti del Segretario del P.N.F., in: Bollettino GIL, 1.1.1938, S. 1; Il rapporto di Starace ai federali di tutta Italia, in: La Stampa, 31. 12. 1937, S. 1.
128 III. Die Geschichte der Collegi
Abb. 5: Die Errichtung des Luftwaffencollegios in Forlì (PdR, 22. 1. 1938, S. 1)
alle, dem Unterstaatssekretär im Luftfahrtministerium, gewesen sein. Aufgrund V dessen Kenntnisse über das Bauprojekt seines Bruders in Forlì insistierte Giuseppe Valle möglicherweise auf einer Umwidmung des Gebäudes als Luftwaffenvorschule. Die Stadt war schließlich prädestiniert für eine solche Luftwaffeneinrichtung, verfügte sie doch seit 1936 über einen sehr großen Militärflughafen. Und auch der Bürgermeister von Forlì hatte starkes Interesse daran, seine Stadt durch Einrichtungen der Luftwaffe zu stärken. Bereits Ende 1936 korrespondierte er mit Cesare und Giuseppe Valle sowie Felice Porro, dem Kommandanten der 2. Zona Aerea Territoriale, und schlug Forlì als möglichen Standort für Schüler der in Caserta befindlichen Luftwaffenakademie vor, was diese jedoch ablehnten.161 Schließlich behauptete die zeitgenössische Presse, Mussolini selbst habe die „geniale Idee“ zu diesem Collegio in Forlì gehabt.162 Auch in der Literatur findet sich die Annahme, Mussolini habe entschieden, das im Bau befindliche Gebäude nicht als Propädeutikum oder Frauenakademie zu nutzen, sondern darin ein Collegio pre-aeronautico entstehen zu lassen.163 Sollte Mussolini tatsächlich diese Idee gehabt haben, so bestanden jedoch unterschiedliche Vorstellungen zur Ausrichtung eines solchen Collegio pre-aeronau161 Vgl.
den Schriftwechsel zwischen Cesare Valle, Giuseppe Valle, Felice Porro und Fante Luigi Panciatichi, November/Dezember 1936, in: ASFo, Comune di Forlì, Atti riservati, b. 10 (1936/37). 162 Il Duce inaugura l’anno scolastico del Collegio Aeronautico „Bruno Mussolini“, in: L’Ala d’Italia 22 (1941), 19, 1.–15. Oktober 1941, S. 49–51, hier S. 49. Vgl. darüber hinaus C.P., Il collegio pre-aeronautico ha raddoppiato le sue attrezzature, in: CdS, 21. 8. 1940, S. 4; I giovanissimi dell’aviazione – Il Collegio aeronautico „Bruno Mussolini“ della G.I.L. in Forlì, in: Ali di guerra, 10. 10. 1941, S. 1–6, hier S. 6. 163 Vgl. Canali, Architetti romani nella „città del Duce“, S. 185, Anm. 35.
1. Die Propädeutika 129
tico. In einem Anfang Januar 1938 verfassten Memorandum des Luftfahrtministeriums wurde festgehalten, dass das Collegio analog zu den 1937 eingeweihten Marinecollegi in Venedig und Brindisi mit Gymnasium entstehen solle und das Reglement bereits durch Starace bestätigt worden sei.164 Um die Zielsetzung und das Programm des Luftwaffencollegios zu besprechen, kam der Verfasser des Memorandums, der Oberst der Luftwaffe Umberto Nannini, im Februar 1938 im Auftrag Staraces nach Forlì und traf mit dem Parteiprovinzsekretär, dem Präfekt, dem Bürgermeister und dem Chef der Provinzverwaltung zusammen.165 Mitte Oktober 1938 nahm das Collegio seine Tätigkeit mit zweijähriger Oberstufe (ginnasio superiore) sowie altsprachlichem und naturwissenschaftlichem Gymnasium (liceo classico/liceo scientifico) auf, für die sich Schüler zwischen 14 und 17 Jahren bewerben konnten.166 Am 28. Dezember 1938,167 kurz nach der Öffnung, besuchte Mussolini höchstpersönlich das Collegio und schien alles andere als erfreut zu sein, wie eine Notiz vom 1. Januar 1939 zu einem Telefonat zwischen ihm, der auch das Amt des Luftfahrtministers innehatte, und seinem Unterstaatssekretär, Giuseppe Valle, verdeutlicht. Darin heißt es: „Der Duce hat S[eine] E[xzellenz] Valle persönlich angerufen, um ihm zu sagen: Entgegen der Vereinbarung, eine Schule für Unteroffiziere zu schaffen, hat man ein Collegio mit einem gänzlich unnützen Gymnasium geschaffen. Es gibt schon zu viele Gymnasien in Italien. Valle sollte doch bemerkt haben, dass die Sache der GIL, also der Partei, untersteht. Der Duce hat das Gespräch mit folgenden Worten beendet: ‚Wir machen daraus nun eine 2. Caserta.‘“168
Schließlich entstand weder eine zweite Luftwaffenakademie noch eine Schule für Unteroffiziere: Es blieb bei dem von Mussolini – zumindest laut der zitierten Telefonnotiz – unerwünschten Gymnasium. Der Corriere della Sera lobte hingegen im August 1940: „Es ist bekannt, […] dass diese Einrichtung vom Duce gewollt war, […] dass dieser die Inspiration für dieses einzigartige Gymnasium hatte.“169 Nach dieser Episode öffnete jedoch kein weiteres Collegio mit angeschlossenem Gymnasium für Jungen mehr seine Pforten.170 Das ein Jahr später eröffnete Heerescollegio in Bozen war im Sinne des Diktators eine Schule für Unteroffiziere. Es ist anhand des vorliegenden Materials nicht recht nachvollziehbar, weshalb Mussolini Valle vorwarf, sich gewissermaßen über Partei oder GIL hinwegzu setzen: Sowohl in dem bereits genannten Memorandum als auch in dem Presse artikel schien es übereinstimmende Vorstellungen hinsichtlich der Ausrichtung zu geben. Auch ein Schreiben des Luftfahrtministeriums aus dem Sommer 1938 164 Pro
Memoria di Servizio, Collegio aeronautico di Forlì, U. Nannini, 3. 1. 1938, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1938, b. 35, f. Collegio aeronautico di Forlì 1° vol. 165 Il Collegio Nazionale Aeronautico a Forlì, in: PdR, 12. 2. 1938, S. 2. 166 Vgl. PNF/GIL, Accademie e Collegi [1938], S. 12. 167 Vgl. Il DUCE visita a Forlì il collegio aeronautico della Gioventù italiana del Littorio, in: Bollettino GIL, 1.1.1939, S. 65. 168 Telefonnotiz Osvaldo Sebastiani, 1. 1. 1939, in: ACS, SPD, CO, b. 1854, f. 528. 123/1. Auf der Telefonnotiz ist die Jahreszahl (1938 oder 1939) schwer leserlich, die Hinzu fügung XVII macht jedoch deutlich, dass es sich um das Jahr 1939 handeln muss. 169 Il collegio pre-aeronautico ha raddoppiato le sue attrezzature, in: CdS, 21. 8. 1940, S. 4. 170 Lediglich ein gymnasiales Collegio für Mädchen wurde 1942 noch eingeweiht.
130 III. Die Geschichte der Collegi zu einer Anfrage bezüglich des Fliegercollegios, bei dem es sich außerstande sah, genauere Details zu geben und auf den Initiator Partei/GIL verwies, vermittelt nicht den Eindruck, als habe Valle federführend diese gymnasiale Ausrichtung bestimmt,171 auch wenn er daran zweifelsohne Interesse gehabt haben dürfte: Die Königliche Luftwaffe war die jüngste, erst am 28. März 1923 gegründete Teilstreitkraft und stand in dem Ruf, faschistisch zu sein,172 während Marine und Heer als traditionell monarchistisch galten. Acht Monate nach der Konstituierung als eigenständige Streitkraft nahm die Luftwaffenakademie ihre Tätigkeit auf, jedoch zunächst in den Räumlichkeiten der Marineakademie in Livorno, ehe sie schließlich 1926 ihren Sitz in Caserta einweihte. Von 1926 bis 1928 leitete niemand Geringeres als Giuseppe Valle die Luftwaffenakademie, der darauf bedacht war, seine Akademie gegenüber der altehrwürdigen Marineakademie zu stärken. Es ist aus dem Grund sehr wohl denkbar, dass Valle ein Interesse daran hatte, nun auch das Luftwaffenpropädeutikum den Marinepropädeutika ebenbürtig, d. h. gymnasial zu realisieren. Dass er dabei jedoch der Partei/GIL das Heft des Handelns aus der Hand genommen hätte, ist anhand des ausgewerteten Quellenmaterials nicht belegbar. Zudem drängt sich die Frage auf, welche Stellung Mussolini als Luftfahrtminister innehatte, wenn sein Unterstaatssekretär gegen seinen Willen die Ausrichtung einer solch wichtigen Institution änderte. Schließlich hatte er noch in seiner Rede im März 1938 zur Lage der Streitkräfte die Bedeutung der Ausbildung betont: „Ein Flugzeug macht man innerhalb eines Tages, nicht so einen Piloten.“173 Omnipräsent war auch dessen Diktum: „Unser Geschlecht muss ein Geschlecht von Fliegern werden, genauso wie es ein Geschlecht von Seemännern war und ist.“174 Wo, wenn nicht in dieser Einrichtung, hätten die zukünftigen Piloten von morgen zur Verteidigung und Erweiterung des impero ausgebildet werden sollen? Wurde Mussolini unzureichend von Starace oder Valle informiert oder interessierte er sich kaum für diese vermeintlich bedeutende Einrichtung, wenn ihm erst nach der Eröffnung, während eines persönlichen Besuches, auffiel, dass diese eine ganz andere Form angenommen hatte, als ihm zunächst vorschwebte? Wie bereits in dem Kapitel über die Marinecollegi stellt sich auch hier die Frage nach dem Verhältnis Mussolinis bzw. des Faschismus zum Militär und auch hier muss die Beteiligung der Luftwaffe an dem Collegio und das Interesse, welches sie den Absolventen schenkte, eruiert werden. Valles Verhalten und dessen Einflussnahme kann aufgrund der derzeitigen Quellenlage nicht weiter geklärt werden. Er selbst ging auch in seinen eigenen Publikationen nie auf das Collegio ein.175 Der Mili171 Ministero
dell’Aeronautica, Gabinetto an SPD, 16. 7. 1938, in: ACS, SPD, CO, b. 990, f. 509.031. 172 Bis heute steht eine umfassende Untersuchung zur Geschichte der Luftwaffe während des Faschismus aus. Vgl. Gregory Alegi, „L’arma fascistissima“: il falso mito dell’Aeronautica come preferita del regime, in: Massimo Ferrari (Hrsg.), Le ali del Ventennio. L’aviazione italiana dal 1923 al 1945. Bilanci storiografici e prospettive di giudizio, Mailand 2005, S. 111–154, bes. S. 111–113. 173 Le forze armate della nazione, 30. 3. 1938, in: OO, Bd. XXIX, S. 74–82, hier S. 80. 174 Zit. nach I giovanissimi dell’aviazione, in: Ali di guerra, 10. 10. 1941, S. 1. 175 Weder in der faschistischen (Giuseppe Valle, Meine dreißig Fliegerjahre, Leipzig 1941) noch in der postfaschistischen (Giuseppe Valle, Uomini nei cieli. Storia dell’aeronautica italiana, Rom 1981) Selbstdarstellung Valles findet das Collegio Erwähnung.
1. Die Propädeutika 131
tärhistoriker John Gooch behauptet in seiner Studie über Mussolini und dessen Generäle, dass Mussolini Valle im Juli 1934 ein exorbitantes Zusatzbudget von 1,2 Mrd. Lire zur Verfügung stellte, was dieser unter anderem dafür genutzt habe, um dieses Luftwaffencollegio ins Leben zu rufen.176 Da Gooch seine Aussage nicht belegt, bleibt unklar, woher die disputable Information über die Verwendung dieses Geldes stammt. Aus dem Entwurf eines Abkommens zwischen Partei und Luftfahrtministerium lässt sich entnehmen, dass das Luftwaffencollegio im Besitz der Partei war. Der PNF überantwortete es der GIL. Aufgrund des „zweifellosen Interesses“ des Luftfahrtministeriums an dem Collegio sollte sich das Ministerium aber mit einer Zahlung in Höhe von 3,5 Millionen Lire beteiligen.177 Ob und wann dieses Abkommen unterzeichnet und die hohe Summe je bezahlt wurde, konnte nicht geklärt werden, da es weder im Bestand des ACS noch des AUSAM ratifiziert auffindbar war. Jahrzehnte später hielt das Luftfahrtministerium in einem internen Schreiben fest: „Das Fehlen jeglicher Anordnung des Instituts und zeitgenössische Presseberichte zeigen, dass das Institut nur der GIL und nicht dem Militär an geschlossen war, auch wenn die damalige Königliche Luftfahrt Offiziere zur Verfügung stellte.“178 Damit marginalisierte sie ihre eigene Rolle innerhalb des Collegios, denn die Luftwaffe leistete weit mehr als nur die Entsendung von Offizieren. Personell beteiligte sich das Luftfahrtministerium, ebenso wie die Marine, mit der Entsendung des 2. bzw. 1. Kommandanten, Ausbildern und Dienstpersonal. Darüber hinaus half das Luftfahrtministerium immer dann, wenn sich die Verwaltung der GIL wieder als dilettantisch erwies und deren Finanzen nicht ausreichten, um die hochfliegenden Pläne zu realisieren. Anfang Oktober 1938 wandte sich die GIL an das Luftfahrtministerium, mit der Bitte um Bereitstellung von Stipendien, wie sie beispielsweise die Militärschulen den Kindern von Militärangehörigen zur Verfügung stellten.179 Um die zahlreichen, bei der GIL eingegangenen Anfragen von Militärangehörigen nach finanziellen Erleichterungen 176 Vgl.
John Gooch, Mussolini and His Generals. The Armed Forces and Fascist Foreign Policy, 1922–1940, Cambridge 2007, S. 228. In zeitgenössischen Publikationen findet sich lediglich der Hinweis, dass „der von Mussolini angekündigte Sonderkredit für die italienischen Luftrüstungen [.] von 1 Milliarde auf 1,2 Milliarden Lire erhöht“ worden sei. Vgl. Keesings Archiv der Gegenwart, 18. 9. 1934, S. 1633 A. 177 Schema di convenzione fra il Partito Nazionale Fascista ed il Ministero dell’Aeronautica per la costruzione e l’uso degli edifici per il collegio aeronautico di Forlì, s. d. [vermutlich Dezember 1938], in: Archivio Cesare Valle, CV-CAR-044, faldone 9. 178 Stato Maggiore dell’Aeronautica, 1a reparto, an Stato Maggiore dell’Aeronautica, 5a reparto, 13. 6. 1988, in: Archivio dell’Ufficio Storico dell’Aeronautica Militare, Rom (künftig: AUSAM), monografie, b. 35, f. 9 bis. In einer zentralen Publikation des Luftwaffenarchives über die Luftwaffe während des Faschismus heißt es ohne Hinweis auf die Initiatoren des Collegios lapidar: „Im selben Jahr wurde in Forlì das Luftwaffencollegio für die an einer Luftwaffenkarriere interessierten Jugendlichen errichtet. Die Kurse waren den staatlichen gleichgestellt.“ Antonio Pelliccia, La regia aeronautica. Dalle origini alla seconda guerra mondiale (1923–1943), Rom 1992, S. 177. 179 Vgl. Umberto Nannini, Pro Memoria per il Generale D.A. Eraldo Ilari, 3. 10. 1938, und Ministero dell’Aeronautica, Istituzione di borse di studio per figli di ufficiali della R.A. presso il Collegio Aeronautico di Forlì, 30. 11. 1938, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1938, b. 35, f. Collegio aeronautico di Forlì 1° vol.
132 III. Die Geschichte der Collegi nicht negativ bescheiden zu müssen und den schleppenden Bewerbungseingang (nur 40 Bewerbungen auf 120 Plätze) anzukurbeln,180 bat die GIL, die sich aufgrund der Ausgaben für Bau und Ausstattung des Gebäudes nicht in der Lage sah, Stipendien zu vergeben, das Luftfahrtministerium um die Bereitstellung von 80 Stipendien für die Söhne seiner Mitarbeiter. Das Luftfahrtministerium kam diesem Ansinnen, wenn auch nur in sehr begrenztem Rahmen nach, indem es zwölf Halbstipendien zur Verfügung stellte. Obwohl die ärztlichen Untersuchungen bereits am 8. Oktober stattfanden und das Schuljahr am 16. Oktober 1938 beginnen sollte, wurden die Informationen über die Stipendien erst am 30. November 1938 veröffentlicht. Trotz der geringen Anzahl der Halbstipendien konnten aufgrund der niedrigen Bewerberzahl und der mangelhaften Bewerber letztlich nur acht vergeben werden.181 In den folgenden Jahren stieg die Zahl der vergebenen Stipendien für deren eigene Luftwaffenangehörige jedoch exponentiell an. Die Luftwaffe unterstützte das Collegio also mit Stipendien, wohingegen die Marine nie Stipendien für die Marinecollegi auslobte. Zusätzlich unterstützte die Luftwaffe das Luftwaffencollegio durch Material und fliegerische Aktivitäten. Kurz vor Ende des ersten Schuljahres schrieb die GIL an das Luftfahrtministerium: „Aufgrund verschiedener Umstände hat das Collegio noch keine Luftfahrtaktivität aufgenommen. Die zu Beginn wirklich enthusiastischen Jugendlichen wurden immer wieder enttäuscht und sind nunmehr verärgert, weil das Luftfahrtcollegio von der Luftfahrt nur den Namen hat. Wenn dieser Zustand fortbestehen sollte, befürchte ich, dass wir, anstatt eines fliegerischen Bewusstseins in diesen Jugendlichen zu entwickeln, letztlich das Gegenteil erreichen. Bevor wir die Schüler in die Sommerferien schicken, möchte ich den Schülern deshalb etwas Positives auf dem Gebiet der Luftfahrt bieten, andernfalls befürchte ich, dass die nächste Ausschreibung ein Misserfolg wird und die Schüler selbst Gegenpropaganda betreiben.“182
Daraufhin organisierte das Luftfahrtministerium ein Sommerfluglager, das, wenn man dem Bericht Glauben schenkt, die Schüler nachdrücklich begeisterte.183 Der nunmehr bereits zweite amtierende Kommandant des Collegios und GIL-Vizeprovinzkommandant Antonio Perfetti bedankte sich dafür wie auch für die materielle Unterstützung des Collegios, etwa durch Bereitstellung eines Busses, wiederholt bei den Valle-Brüdern und betonte: „Das Collegio kann in dieser ersten 180 In
der Presse wurde hingegen behauptet, dass die Eröffnung des Collegios auch über das Radio verbreitet worden sei, sodass die Bewerberzahlen in die Höhe schnellten. Vgl. Il Collegio aeronautico fucina di aquilotti per l’Arma Azzurra si aprirà con il nuovo anno scolastico, in: PdR, 1. 10. 1938, S. 6. 181 Vgl. GIL, Umberto Moretti, an Ministero dell’Aeronautica, 8. 11. 1939, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1939, b. 40, f. Collegio aeronautico Forlì – Concorso per l’assegnazione di borse di studio. 182 GIL, Umberto Moretti, an Ministero dell’Aeronautica, Eraldo Ilari, 2. 5. 1939, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1939, b. 40, f. Collegio aeronautico Forlì – Attività aeronautiche. 183 Bericht des Ispettore delle scuole, F. Zapelloni, Corso volo a vela per gli allievi del Collegio Aeronautico di Forlì, 29. 7. 1939, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1939, b. 40, f. Collegio aeronautico Forlì – Attività aeronautiche; Collegio aeronautico, Raoul Moore an Cesare Valle, 13. 6. 1939, in: Archivio Cesare Valle, CV-CAR-044, faldone 8.
1. Die Propädeutika 133
und keineswegs einfachen Zeit seines Bestehens gar nicht genug Unterstützer und Enthusiasten haben. Wir zählen also auf sie.“184 Ein weiterer wesentlicher Punkt der Unterstützung war die juristische Festschreibung eines Vorzugsrechts der Absolventen des Collegios bei entsprechender Eignung bei der Aufnahme in die Luftwaffenakademie in Caserta im Jahre 1940.185 In der Begründung zum Erlass hieß es: „Die körperliche, moralische, geistige, militärische und aeronautische Erziehung, die die Jugendlichen des genannten Collegios erwerben, lässt sie einer besonderen Behandlung würdig erweisen, ähnlich der Schüler der Militärschulen und der Opera Nazionale per i figli degli aviatori, die von vergleichbaren gesetzlichen Bestimmungen profitieren.“186
Die Absolventen des Fliegercollegios mussten die regulären Aufnahmeprüfungen in Caserta absolvieren und erhielten dieses Vorzugsrecht neben den Absolventen der beiden anderen genannten Institutionen, aber ihnen wurde nun rechtlich eine bevorzugte Platzvergabe eingeräumt – eine juristische Fixierung, die es in der Form nie für die Schüler der Marinecollegi gab. Insgesamt hatte die Luftwaffe deutlich größeres Interesse an den Absolventen des Fliegercollegios als die Marine an denen der Marinecollegi. So hoffte General Felice Porro nach einem Besuch des Collegios, dass die Absolventen von Forlì „in Caserta fähige Elemente zur weiteren Festigung unserer derzeit in Verschlechterung befindlichen Führungsriegen werden“.187 Dabei wies er jedoch auch auf die mannigfachen Missstände hin, echauffierte sich im Besonderen über die „Offizierchen“ der GIL und forderte: „[E]s bedarf zunächst einer vollständigen und gegenseitigen Zusammenarbeit von Luftfahrt und GIL, die sich durch gegensei tige Sympathie und Kameradschaft auszeichnet.“188 Auch die „faschistische“ Luftwaffe hatte demnach große Bedenken gegenüber den „Parvenüs“ der GIL und suchte die eigene Stellung zu stärken. Wie bereits deutlich geworden ist, verlief der Start des Luftwaffencollegio holprig und konnte nur dank der Unterstützung der Luftwaffe gemeistert werden. Schenkt man dem langjährigen Kommandanten und Piloten Raoul Moore (ab Februar 1939 2. Kommandant, von Februar 1940 bis Juli 1943 1. Kommandant)
184 Collegio
aeronautico, Antonio Perfetti, an Cesare Valle, 24. 5. 1939, und Collegio aeronautico, Antonio Perfetti, an Cesare Valle, 2. 6. 1939, in: Archivio Cesare Valle, CVCAR-044, faldone 8. 185 Vgl. 420° riunione del consiglio dei ministri, 23. 1. 1940, in: OO, Bd. XXIX, S. 350–352, hier S. 351; Regio Decreto, Nr. 563, 19. 2. 1940, Agevolazioni ai fini del servizio militare agli allievi del Collegio aeronautico della G.I.L. di Forlì, in: GU, Nr. 139, 15. 6. 1940. Vgl. darüber hinaus: ACS, Atti PCM, 1940–1941, Aeronautica, b. 62; ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1939, b. 40, f. Collegio aeron. di Forlì – Ammissione allievi alla R. Accademia; Facilitazioni a favore degli allievi del Collegio aeronautico della G.I.L. di Forlì, in: Bollettino GIL, 15. 6. 1940, S. 266. 186 Relazione al Consiglio dei Ministri, s. d. [vermutlich 23. 1. 1940], in: ACS, Atti PCM, 1940–1941, Aeronautica, b. 62. 187 Comandante 1^Squadra Aerea Milano, Generale Felice Porro, an Capo di Gabinetto, Generale Eraldo Ilari, 7. 7. 1939, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1939, b. 40, f. Collegio aeronautico Forlì – Varie. 188 Ebenda.
134 III. Die Geschichte der Collegi Glauben, wandelte sich das Collegio dann jedoch durch dessen unermüdliches Tun zu einem Vorzeigeobjekt: „[E]s hatte wegen der Qualität der ersten zugelassenen Schüler, der mangelhaften Disziplin des Personals, der kontinuierlichen Zwietracht unter den Führungskräften und fehlerhafter Richtlinien einen traurigen und desolaten Start, im Verlaufe weniger Monate hat es in jeder Beziehung eine wundersame Verwandlung erlebt.“189
Auch der Präfekturbericht stellte für das zweite Schuljahr fest: „Das Collegio preaeronautico, das dieses Jahr seine Schülerzahl verdoppelt hat, funktioniert ausgezeichnet.“190 Tatsächlich schnellten auch die Bewerberzahlen in die Höhe. Für das zweite Schuljahr bewarben sich mehr Schüler, als Forlì Plätze hatte, sodass einige Schüler nach Brindisi geschickt werden mussten.191 Weiteres Indiz für die positive Wandlung war die Präsentation des Collegios Ende 1940 gegenüber dem deutschen Achsenpartner als „Musteranstalt“.192 Nach der Anfrage der Reichsschule Feldafing hinsichtlich eines Schüleraustausches wurden nicht etwa die Marinecollegi vorgeschlagen, sondern eben dieses Fliegercollegio. Im November/ Dezember 1940 hielten sich die Feldafinger in Forlì auf und zeigten sich vom Collegio sehr beeindruckt: „In repräsentativen Bauten wird hier die italienische Jugend in der Weltanschauung des Credere, Obbedire und Combattere erzogen, die der unseren so nahe verwandt ist. Hier zeigt der Faschismus, daß er wie wir in der Jugend das wertvollste Gut sieht und gewillt ist, aus dieser Jugend die Kämpfer der Zukunft heranzubilden. Ich konnte feststellen, daß dank einer straffen Erziehung die männliche und weibliche Jugend diszipliniert auftritt und bereit ist, ihrem von ihnen über alles geliebten Duce durch dick und dünn zu folgen.“193
Führt man sich vor Augen, wie sorgsam Reiseteilnehmer für Deutschland ausgewählt wurden, um dem Achsenpartner – auch wortwörtlich – auf Augenhöhe zu begegnen,194 muss man zu der Annahme kommen, dass sich die Verhältnisse nach dem desolaten Start – im faschistischen Sinne – zum Guten hin gewendet haben müssen. 189 Pro-Memoria,
Col. Moore, Riservato, 23. 10. 1941, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1942, b. 94, f. Collegio aeronautico di Forlì – Personale. 190 Prefettura della Provincia di Forlì, Situazione economica – politica – amministrativa della Provincia, 12. 11. 1939, in: ASFo, Gabinetto Prefettura, b. 342, f. 10. 191 Um diese Schüler nicht gänzlich zu enttäuschen, sollten sie von der R.U.N.A. in Brindisi theoretisch-praktischen Unterricht erhalten. Vgl. Capo di Stato Maggiore GIL, Moretti, an Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto, 5. 11. 1939, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1939, b. 40, f. Collegio aeronautico Forlì – Varie. 192 Aufzeichnung Straub, 5. 11. 1940, in: PA AA, Botschaft Rom Quirinal, 1398. 193 Dr. Flink, Bericht über die Italienfahrt der 8. Klasse der Reichsschule der N.S.D.A.P. Feldafing vom 7. Nov. bis 6. Dez. 1940, in: PA AA, R 98927, Bl. 60–62, hier Bl. 61. Vgl. die Vorbereitung des Austausches: PA AA, Botschaft Rom Quirinal, 1398; PA AA, R 98927. 194 Zur Auswahl des Personals für eine bevorstehende Deutschlandreise hieß es in einem Telegramm vom 17. 6. 1941: „Für mögliche Auswahl Teilnehmer Kulturmission Deutschland 1. Juli mir vorschlagen wer würdig und unter körperlichen Gesichtspunkten geeignet ist […] Sende ausdrucksstarken Lebenslauf unter Angabe der Körper größe.“ Vgl. Segreteria Comando an Comandi federali Regno, 17. 6. 1941, in: Bollettino GIL, 15. 10. 1941, 6° bis supplemento, S. 7.
1. Die Propädeutika 135
Nichtsdestotrotz hörten die Beschwerden Moores nicht auf. Er forderte mehr Unterstützung vonseiten des Luftfahrtministeriums195 und wollte sich persönlich über die Probleme beim Stabschef der GIL beschweren, was ihm jedoch nicht gewährt wurde: „Oberst Luraschi [Benersperando Luraschi, Generalinspekteur der GIL und Vater eines Venedigkollegiaten] erlaubte ihm nicht, zum Generalkommando nach Rom zu fahren, und begründete dies damit, dass der GIL-Stabschef sehr beschäftigt sei.“196 Neben Fragen zur Schüler- und Personal auswahl und dem Reglement trieben Moore auch zunehmend die ständigen Bauarbeiten an dem Collegio um. Da das Gebäude zunächst für 240 Frauen geplant war, nun aber über 400 Jungen Platz bieten und zudem um einen Krankenbau erweitert werden sollte,197 entwickelte sich das Collegio zu einer Dauerbaustelle. Aufgrund des Mangels an Baumaterialien während des Krieges gerieten die Arbeiten immer wieder ins Stocken. Exemplarisch für die Problematik ist ein Schreiben des Bauleiters an den Architekten: „Um Sie auf dem Laufenden zu halten teile ich Ihnen mit, dass die Arbeiten an der Krankenstube aus folgenden Gründen still stehen: Camerani hat die Errichtung nicht abgeschlossen; der Elektriker hat sich nicht blicken lassen; weder die Rolläden, noch die Türen und Fenster sind angekommen. Von den im April bestellten 350 Doppelzentnern Zement sind 150 geliefert worden. Im Anhang finden Sie die Bestellung mit der Bitte, sich an die GIL zu wenden, da die Arbeiten sonst weiter ausgesetzt werden müssten. Oberst Moore lässt mir keinen ruhigen Moment, weil die Arbeiten nicht ausgeführt werden.“198
Besonders im Vorfeld der offiziellen Einweihung durch Mussolini am 6. Oktober 1941 wurde mit Hochdruck an der Fertigstellung des Gebäudekomplexes gearbeitet. Mussolini hingegen interessierte sich weitaus mehr für die Büste Brunos, die ihm bei der Eröffnung nicht zusagte und nachträglich noch umgearbeitet werden musste.199 Abgeschlossen wurden die Arbeiten erst im Jahre 1943.200 Letztlich konnte das Collegio maximal 320 Schüler und 50 Angestellte beherbergen.201 Tatsächlich geeignet war der Standort jedoch nicht. Moore kritisierte diesen wiederholt, da das Hauptgebäude mit Klassenräumen und Stuben der Schüler an der Straße mit großem Verkehrsaufkommen lag. Nur sehr teure Er 195 Vgl.
Berichte von Perfetti aber auch noch von Moore im Jahre 1941, in dem er schreibt: „3°) Dem Collegio mit klaren und energischen Aktionen Unterstützung geben, wie es die Marine bei dem Marinecollegio macht.“ Pro-Memoria, Col. Moore, Riservato, 23. 10. 1941, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1942, b. 94, f. Collegio aeronautico di Forlì – Personale. 196 Bruno Samoray an Cesare Valle, 21. 2. 1940, in: Archivio Cesare Valle, CV-CAR-044, faldone 8. 197 Siehe die Pläne der Erweiterung: ASFo, Comune di Forlì, b. 403 (1939). 198 Bruno Samory an Cesare Valle, 25. 6. 1941, in: Archivio Cesare Valle, CV-CAR-044, faldone 8. 199 Vgl. Collegio aeronautico, Raoul Moore an Cesare Valle, 3. 2. 1942, in: Archivio Cesare Valle, CV-CAR-044, faldone 9. 200 Vgl. Archivio Cesare Valle, CV-CAR-044, faldone 8. 201 Vgl. I giovanissimi dell’aviazione, in: Ali di guerra, 10. 10. 1941, S. 3; PNF, Collegio aeronautico della G.I.L. „Bruno Mussolini“ Forlì. Fascicolo di propaganda per i prossimi concorsi di ammissione per l’anno 1943–44, Forlì 1943, s. p.; Marcello Piacentini, Col legio aeronautico „Bruno Mussolini“ della Gioventù Italiana del Littorio a Forlì, in: Architettura 21 (1942), 12, S. 383–406.
136 III. Die Geschichte der Collegi
Abb. 6: Die Schüler defilieren vor Mussolini im Paradeschritt, 6. 10. 1941 (Archivio Cesare Valle, CV-FOT-061)
Abb. 7: Mussolini überreicht dem jüngsten Schüler des Kurses „Gloria“ die Standarte, 6. 10. 1941 (Archivio Cesare Valle, CV-FOT-061)
1. Die Propädeutika 137
Abb. 8: Pläne des nicht realisierten Luftwaffencollegios in Littoria (Comune di Littoria, fondo Oriolo Frezzotti)
weiterungsmöglichkeiten hätten die „Sklaverei“, wie er die gemeinsame Nutzung des Sportplatzes mit der GIL von Forlì bezeichnete, beendet.202 Resultierend aus dieser Kritik ließ die GIL vermutlich ein neues Fliegercollegio in einer neuerschlossenen Region planen. Aus dem Jahre 1942 liegen Pläne des faschistischen Vorzeigearchitekten Oriolo Frezzotti203 für ein Luftfahrtcollegio in Littoria vor (Abb. 8).204 Möglicherweise sollte aber auch ein weiteres Fliegercollegio errichtet werden, da bekanntlich zwei Marinecollegi bestanden. Realisiert wurde dieses Projekt im Agro Pontino letztlich nicht, sodass nur das Fliegercollegio an seinem Stammplatz in Forlì bis zum Sommer 1943 seine „jungen Adler“ ausbildete.
Die Scuola di specializzazione militare in Bozen Die Heeresschule von Bozen wurde rund um die Feierlichkeiten zum Jahrestag des „Marsches auf Rom“ am 29. Oktober 1939 offiziell eröffnet. Sie sollte analog zur Marineschule von Sabaudia explizit nicht auf die hohe Offizierslaufbahn vorbereiten – da zu dem Zweck bereits die drei Militärschulen in Rom, Neapel und 202 Undatiertes,
unadressiertes, lediglich mit einem Stempel des Collegios versehenes Schriftstück, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1940, b. 161, f. Collegio aeronautico di Forlì – Varie. 203 Frezzotti gilt „als quasi exklusiver Vater und Schöpfer des gesamten historischen Zentrums Littoria-Latinas“. Chiara Barbato, Nota biografica, in: Carlo Fabrizio Carli/Massimiliano Vittori (Hrsg.), Oriolo Frezzotti 1888–1965. Un architetto in territorio pontino, Marigliano 2002, S. 101. 204 Vgl. Capomolla/Mulazzani/Vittorini (Hrsg.), Case del balilla, S. 240. In dem Bestand des Architekten Oriolo Frezzotti finden sich laut Bearbeiter des Repertoriums, Pietro Cefaly (wissenschaftlicher Direktor der Casa dell’architettura, Latina), nur die Gebäudezeichnungen, jedoch keine Berichte oder Korrespondenz über dieses Projekt.
138 III. Die Geschichte der Collegi Mailand bestanden –, sondern die dringend benötigten Spezialisten für das Heer, die Marine und die Luftwaffe ausbilden.205 In einem Vermerk für den Duce zur Zielsetzung dieser Schule hieß es, dass diese zuvörderst Militärspezialisten wie Mechaniker, Elektriker, Funker, Munitionstechniker und Monteure auszubilden habe.206 Diese Schule dürfte demnach den Vorstellungen Mussolinis entsprochen haben, der sich noch im Januar 1939 über das völlig unnütze Gymnasium an dem Fliegercollegio in Forlì echauffiert und eine Schule für Unteroffiziere präferiert haben soll. Dennoch besuchte Mussolini die Schule zur Einweihung und auch später nicht, sondern ließ ihr lediglich ein Bildnis mit Unterschrift zukommen.207 Kurz vor der Eröffnung wurde das Dekret 994 „auf Wunsch des Duce“ auch auf diese Militärschule ausgeweitet.208 Die zwischen elf und 14 Jahre alten Bewerber besuchten gemäß der 12. und 13. Erklärung von Bottais Schulcharta drei Jahre die Berufsvorbereitende Schule mit technischer Ausrichtung, gefolgt von der zweijährigen technischen Fachoberschule, um sich dann als Spezialisten freiwillig bei den Streitkräften zu melden und den Rang eines Unteroffiziers bekleiden zu können.209 Hatte die Einrichtung zunächst ihre Arbeit zur Ausbildung von Spezialisten für alle drei Teilstreitkräfte begonnen, wechselte ihr Fokus immer mehr auf das Heer. In den Ausschreibungen ab 1942 hieß es konkret zu den Perspektiven der Absolventen dieser Schule, dass diese nach ihrem Abschluss durch eine Kommission von Offizieren, die das Kriegsministerium benannte, auf ihre Tauglichkeit überprüft und zum Sergente des Königlichen Heeres ernannt werden konnten.210 Daran schloss sich eine dreijährige Dienstzeit mit der Möglichkeit der Verlängerung um zwei Jahre und einer Beförderung zum Sergente Maggiore an. Auch danach bestand die Möglichkeit, in der Armee weiter aufzusteigen und bei aus gezeichneter Führung gar den Offiziersgrad zu erreichen.211 Das Ziel dieser 205 Vgl.
Relazione sullo schema di disegno di legge concernente l’estensione alla scuola della G.I.L. di specializzazione militare in Bolzano delle disposizioni riguardanti i collegi della G.I.L., s. d., in: ACS, Atti PCM, 1938/39, Presidenza, b. 308, f. 152. 206 Vgl. Appunto per il Duce, 27. 9. 1939, in: Ebenda. 207 Vgl. zu dem Vorgang: ACS, SPD, CO, b. 352, f. 123.372. 208 Vgl. 416° riunione del consiglio dei ministri, 30. 9. 1939, in: OO, Bd. XXIX, S. 314 f., hier S. 315; Legge, Nr. 1910, 20. 11. 1939, Estensione alla Scuola della Gioventù Italiana del Littorio (G.I.L.) di specializzazione militare in Bolzano delle disposizioni riguar danti i collegi della Gioventù italiana del Littorio, in: GU, Nr. 302, 30. 12. 1939; vgl. dazu ACS, Atti PCM, 1938/39, Presidenza, b. 308, f. 152; ACS, PCM, 1940–43, b. 2665, f. 1.1.15.3500, sf. 1/15; ASCD, DPLIC, XXX Legislatura, vol. 1380, f. 415. 209 Vgl. La Scuola di specializzazione militare a Bolzano, in: GSM 8 (1938/39), 26, 1.– 10. 10. 1939, S. 6; La scuola della G.I.L. di specializzazione militare in Bolzano, in: Bollettino GIL, 1. 10. 1939, S. 389; La relazione al Senato sulla Scuola della Gil di specializzazione militare, in: La Provincia di Bolzano, 25. 11. 1939, S. 3; PNF/GIL, Accademie, Collegi, Scuole [1941], S. 49; Relazione sullo schema di disegno di legge concernente l’estensione alla scuola della G.I.L. di specializzazione militare in Bolzano delle dis posizioni riguardanti i collegi della G.I.L., s. d., in: ACS, Atti PCM, 1938/39, Presidenza, b. 308, f. 152. 210 Vgl. PNF/GIL, Accademie e collegi della G.I.L. [1942], S. 47. 211 Vgl. Fernando Di Mattia, Il Collegio di specializzazione militare di Bolzano, in: Collegio della G.I.L. di specializzazione militare, Bolzano, supplemento al n. 18 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 21. 7. 1942, S. 3.
1. Die Propädeutika 139
„Kaserne der faschistischen Jugend“ bestand laut Presse in nichts Geringerem als der „Formung der wahren Verbreiter des faschistischen Glaubens“.212 Letztlich ging es darum, das Heer, das traditionell als königstreu galt, mit den Absolventen dieser Schule zu faschisieren. Ein ehemaliger Bozen-Kollegiat erinnerte sich: „Wir, die wir Faschisten waren, sollten in die Armee integriert werden, weil die Armee zu der Zeit nicht so faschistisch war.“213 Zwischen 1939 und 1943 durchliefen in Bozen wohl insgesamt mehr als 800 Schüler die Ausbildung zu zukünftigen faschistischen Heeresspezialisten.214 Die Rekonstruktion der Planungen zu dieser Schule gestaltet sich ungemein schwierig, da kein konkreter Initiator ausfindig gemacht werden konnte und die Akten des Kriegsministeriums zu dieser Einrichtung schweigen. Bei der Standortwahl muss man sich vor Augen führen, dass es sich bei der Provinz Bozen um ein Gebiet handelte, das die Jugendorganisation nur langsam und gegen Widerstände erschloss.215 Bereits unter Ricci wurde die Italianisierung der Südtiroler Jugend forciert.216 Starace war in der Frühphase des Faschismus von Mussolini mit der Aufgabe betraut worden, die Faschisierung Südtirols voranzutreiben. Dabei sorgte er sich im Besonderen um die Stärkung der italienischen Schule in dem Gebiet.217 Denkbar scheint, dass aus diesem frühen Engagement nun die Entscheidung erwuchs, dort eine Militärschule zu errichten. Das Gebäude, in dem sich die Schule für militärische Spezialisierung in Bozen befand, wurde 1936 zunächst als Kaserne der Miliz (MVSN) konzipiert.218 Die MVSN nutzte dieses an der Viale Trieste gelegene Gebäude jedoch nie: Während die Presse noch im März 1938 über die Errichtung der Kaserne berichtete,219 kündigte das Parteiblatt im Mai 1939 schon die Eröffnung der GIL-Schule zum Jahrestag des „Marsches auf Rom“ an.220 In einem Schreiben des Jahres 1946 heißt es konkret: „[E]rrichtet für die ehemalige MVSN, wurde es nach der Errichtung zur
212 La
Scuola della G.I.L. di Specializzazione Militare nel XX Annuale dei Fasci lancia al vento di tutte le vittorie il suo grido di fede, di entusiasmo, di dedizione assoluta al DUCE, in: Combattere! 28. 10. 1941, S. 4. 213 Interview mit Giuseppe Cinquepalmi (Bozen 1940–1942), 23. 4.2014-K, S. 3. 214 In einer Liste der ehemaligen Schüler werden 836 Namen aufgeführt, vgl. Ufficio Provinciale G.I. Bolzano, Elenco Cartelle Personali degli alunni che hanno frequentato le scuole dell’ex Collegio di specializzazione militare di Bolzano, in: Archivio provinciale Bolzano, Commissariato Gioventù Italiana, f. 471. Die vorhandenen Register führen für das SJ 1939/1940 281 Schüler, für das SJ 1940/1941 410 Schüler; für das SJ 1941/1942 425 Schüler und für das SJ 1942/1943 658 Schüler. Vgl. Registri delle iscrizioni, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Registri, iscrizioni, e documentazione varia, Scuola militare GIL, Bolzano, b. 1374. 215 Vgl. Di Michele, Unvollkommene Italianisierung, S. 353, 355 f. 216 Vgl. AA an Ulrich von Hassell, 11. 2. 1936, in: PA AA, Botschaft Rom Quirinal, Geheimakten 40, Bl. D 682434 f. 217 Vgl. Di Michele, Unvollkommene Italianisierung, S. 305; Lechner, Eroberung der Fremdstämmigen, S. 81. 218 Siehe die Skizze aus dem Jahre 1936, in: Archivio storico Bolzano, ABZ 5.12.4, cartella 89, f. 1. 219 Vgl. La caserma della Milizia, in: La Provincia di Bolzano, 4. 3. 1938, S. 5. 220 Vgl. PNF, FD, Nr. 1329, 23. 5. 1939.
140 III. Die Geschichte der Collegi
Abb. 9: Der Eingang des Heerescollegios mit Wachposten, undatiert (AdV)
Nutzung der ehemaligen GIL übergeben, die es in ein Militärcollegio für Jugendliche umwandelte.“221 Dabei blieb aber die Eigentumsfrage ungeklärt: „Das Finanzamt […] behauptet, dass die Gebäude des Ex-Collegio […] öffentliches Gut sind, da sie für die Ex-Miliz gebaut wurden, die sie jedoch nie nutzte, sondern dann zur Nutzung an das GIL-Generalkommando abgetreten wurden, jedoch ohne jemals zum vorgesehenen Abschluss eines Vertrages zu kommen.“222
Durch die Gebäudeumwidmung musste das Gebäude im Folgenden seiner neuen Bestimmung angepasst werden, sodass es auch hier zu regelmäßigen Bauarbeiten kam, die sich bis 1943 hinzogen. Da die praktische Arbeit gemäß der Schulcharta im Mittelpunkt stehen sollte, galt es, Gebäudeflügel für Werkstätten zu errichten. Auch die Essenseinrichtungen mussten an die große Zahl der Schüler angepasst werden.223 So hielt ein ehemaliger Kollegiat im März 1943 in seinem Tagebuch fest: „Heute hat die Einzelmensa begonnen. Statt in zwei Durchgängen zu essen, 221 Commissario
provinciale della GI an Avvocatura Distrettuale, 21. 3. 1946, in: Archivio provinciale Bolzano, Commissariato Gioventù Italiana, f. 264. 222 Commissariato provinciale della GI an Commissariato Nazionale della GI, 24. 12. 1945, in: Ebenda. 223 Affluiscono i primi allievi alla scuola della G.I.L. di specializzazione militare, in: La Provincia di Bolzano, 25. 10. 1939, S. 3; Attività delle accademie e collegi della G.I.L., in: GdL, 1. 12. 1942, S. 95 f.
1. Die Propädeutika 141
hat heute das erste Mal das gesamte Bataillon in einer Mensa gegessen, die neu errichtet worden ist.“224 Noch schwieriger als bei den anderen Collegi ist bei dieser Schule die Einflussnahme und Beteiligung des Kriegsministeriums und dessen Interesse an den Absolventen zu rekonstruieren. In den Akten des Ministeriums fand sich keinerlei konkrete Überlieferung zu dieser Militärschule. Überliefert sind lediglich die allgemeinen Lamenti der GIL, sich trotz der zur Verfügung gestellten Haushaltsmittel bei der Spezialistenausbildung in finanziell schwierigem Fahrwasser zu befinden: „Das Generalkommando weist jetzt darauf hin, dass es in ernsten Schwierigkeiten stünde, wenn es ganz auf den Beitrag des Kriegsministeriums verzichten müsste, weil das Budget von 344 Millionen es nicht erlaubt, alle Ausgaben für die Ausbildung von Spezialisten für die Armee zu decken. Das Kriegsministerium schlägt in Anbetracht […] der größeren Zahl der bei der GIL angeforderten spezialisierten Experten vor, die Bedürfnisse der GIL zu erfüllen, indem es folgendes aus dem eigenen Haushalt begleicht: – die Auszahlung von Prämien für die Ausbildung von Spezialisten, etwa 7 000 000 Lire.“225
Dass das Kriegsministerium mit der Bitte um Ausbildung von Spezialisten an die GIL herangetreten war, kann damit belegt werden, nicht jedoch, dass es sich dabei konkret um diese Militärschule handelte, die in den Dokumenten unbenannt bleibt. Möglicherweise bestanden noch weitere Schulen, denn bereits im März 1938 betonte Mussolini in seiner Rede über die Lage der Streitkräfte: „In der modernen Kriegsführung sind die Aufgabenbereiche der Unteroffiziere und Spezialisten immer bedeutender. Die Schulen zur Vorbereitung dieser Spezialisten funktionieren tadellos. Die Gioventù Italiana del Littorio hat daran ihren Anteil.“226 Welche Schulen Mussolini dabei im Sinn hatte, bleibt unklar, denn die Militär schule der GIL öffnete bekanntlich erst im Oktober 1939, sodass von der GIL zum Zeitpunkt der Rede – nach bisheriger Erkenntis – lediglich die Einheitsmarineschule zur Ausbildung von Spezialisten geführt wurde. Deutlich zeigt sich jedenfalls auch hier wieder das widersprüchliche Reden und Handeln Mussolinis. Obwohl er der Ausbildung von Spezialisten offensichtlich eine große Bedeutung zumaß, bewilligte er, der an der Spitze des Kriegsministeriums stand, eine ähn liche, wenige Monate zuvor unterbreitete Anfrage der GIL bezüglich der Zahlungen durch das Kriegsministerium nicht, sodass ungewiss ist, ob Mussolini nun die sieben Millionen Lire freigab.227 In den Bilanzen des Ministeriums wird das Collegio erst später namentlich erwähnt, jedoch bleibt die konkrete finanzielle
224 Diario Silvano Traina (Bozen 1942–1943), 20. 3. 1943, S. 14. 225 Ministero della Guerra, Gabinetto, Promemoria per il Duce,
Contributo del Ministero della Guerra a favore della G.I.L., Juni 1941, in: Archivio dell’Ufficio Storico dello Stato Maggiore dell’Esercito, Rom (AUSSME), H-9, b. 10. 226 Le forze armate della nazione, 30. 3. 1938, in: OO, Bd. XXIX, S. 78. 227 Vgl. Ministero della Guerra, Gabinetto, Promemoria per il Duce, Contributo del Ministero della Guerra a favore della G.I.L., Juni 1941, in: AUSSME, H-9, b. 10. Diesem Schreiben ist zu entnehmen, dass die vorhergehende Anfrage abgelehnt wurde. Diese findet sich in: Ministero della Guerra, Gabinetto, Promemoria per il Duce, Contributo del Ministero della Guerra a favore della G.I.L., Dezember 1940, in: AUSSME, H-9, b. 9.
142 III. Die Geschichte der Collegi Unterstützung für die Schule auch da unbekannt, da sie gemeinsam mit anderen Ausbildungsstätten aufgeführt wurde.228 Das Heer beteiligte sich sowohl personell als auch materiell an dem Collegio. Es entsandte den 2. bzw. 1. Kommandanten sowie Militärausbilder und stellte Lastwagen, Motorräder und Motoren zur Verfügung.229 Die Frage, in welchem Umfang das Heer schließlich die ausgebildeten Spezialisten in die eigenen Reihen übernommen hätte, kann nicht beantwortet werden, da der Übernahme der e rsten Absolventen die Absetzung Mussolinis zuvorkam. So konnte die für Herbst 1943 angesetzte Überprüfung der Tauglichkeit durch eine Kommission des Kriegsministeriums nicht mehr vorgenommen werden. In Anbetracht der Tatsache, dass es sich bei den Absolventen um dringend benötigte spezialisierte Unteroffiziere handelte, darf jedoch angenommen werden, dass diese großzügig in den Reihen des Heeres Aufnahme gefunden hätten. Nimmt man nun abschließend die Bewerberzahlen als Gradmesser für die Akzeptanz und den Erfolg einer Einrichtung, so kann die Schule in Bozen durchaus als erfolgreiche Einrichtung gelten, denn dort bewarben sich regelmäßig mehr Schüler, als es vorhandene Plätze gab.230
2. Umstrukturierung, Neuausrichtung und Neueröffnung der Collegi zwischen 1940 und 1942 Nach der Absetzung Achille Staraces kam es unter dessen Nachfolgern Ettore Muti, Adelchi Serena und Aldo Vidussoni zu weitreichenden Veränderungen in der Organisationsstruktur der Collegi und zum Ausbau des Colleginetzes. Im Mai 1941 verkündete das Zentralorgan der Jugendorganisation die perspektivische Schaffung von rund 40 Instituten.231 Auch wenn dieses Ziel nie erreicht wurde, nahmen zwischen 1941 und 1942 immerhin 15 weitere Einrichtungen der GIL ihre Tätigkeit auf,232 sodass Ende 1942 der Zenit mit insgesamt fünf Akademien und 22 Collegi erreicht war; davon zwei Akademien und sieben Collegi für Mädchen. Ettore Muti bekleidete den Parteisekretärsposten de facto nur von Oktober 1939 bis Juni 1940, meldete sich dann freiwillig für den Krieg und wurde durch 228 Vgl.
Conto consuntivo per l’esercizio finanziario dal 1° luglio 1943 al 30 giugno 1944 – Spesa del Ministero della guerra, S. 1996 f. 229 Vgl. Relazione sintetica delle attività svolte al Collegio nel trimestre gennaio – febbraio – marzo XX, in: Collegio della G.I.L. di specializzazione militare, Bolzano, supplemento al n. 12 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 21. 4. 1942, S. 11 f., hier S. 12. 230 Vgl. Vice Comandante Generale GIL an Capo Gabinetto Ministro della Cultura Popolare, 11. 12. 1940, in: ACS, SPD, CO, b. 2524, f. 19 A; vgl. auch Telegramm des Comando generale an GIL Regno, 27. 8. 1942, in: Bollettino GIL, 15. 10. 1942, 2° supplemento, S. 143. 231 Vgl. Giovanni Vinci, Compiti della G.I.L., in: GdL, 1. 5. 1941, S. 345–348, hier S. 348, spricht von 40 weiteren Instituten; Marziola Pignatari, I quadri dirigenti, in: GdL, 15. 5. 1941, S. 385–387, hier S. 387, spricht hingegen davon, dass die Anzahl der Institute auf 40 erhöht werden soll. 232 Vgl. I dieci nuovi Collegi istituiti dalla G.I.L., in: GdL, 15. 10. 1941, S. 827; Otto nuovi collegi, in: DS 43 (1941–42), 27, 30. 8. 1942, S. 470; Otto nuovi collegi, in: GSM 12 (1942/43), 25, 1.–15. 9. 1942, S. 6.
2. Umstrukturierung, Neuausrichtung und Neueröffnung der Collegi 143
Pietro Capoferri vertreten, ehe dieser offiziell durch Adelchi Serena, einen Staracianer, im Oktober 1940 ersetzt wurde. Trotz dieser kurzen Amtszeit erließ Muti zwei für die Collegi wesentliche Bestimmungen. Im Januar 1940 ordnete er an, dass die Akademien, Collegi und Schulen der GIL fortan direkt dem GIL-Generalkommando unterstanden und sich die Provinzkommandos nicht mehr in die Institute ihres Hoheitsgebietes einmischen durften.233 Der Kommandant eines jeden Collegios war künftig nur noch dem GIL-Generalkommando gegenüber verpflichtet. Retrospektiv wurde diese Kontrolle aus der Distanz als extrem problematisch bewertet, da somit jegliche regionale Kontrollinstanzen ausgeschaltet wurden.234 Muti begründete diesen Schritt jedoch mit der für das Regime zent ralen Aufgabe der Führungskräfteausbildung in den Collegi, die allein durch das Generalkommando überwacht und perfektioniert werden sollte.235 Aus dem Grund kamen die Kommandanten und Rektoren der Collegi fortan regelmäßig nach Rom, um sich beim Generalkommando die aktuellen Richtlinien abzuholen und gemeinsame Probleme zu besprechen.236 Den degradierten Provinzkommandos kamen hingegen fortan nur noch administrative Aufgaben zu: Sie hatten beständig die Werbetrommel für die Collegi zu rühren, geeignete Schüler der Provinz auf die Aufnahme vorzubereiten, deren Bewerbungen termingerecht zu übermitteln, Stipendien zu akquirieren und die Kollegiaten während der Sommer- und Winterferien in ihre Arbeitsgebiete miteinzubeziehen.237 Diese Politik der Zentralisierung, das gilt es zu betonen, steht in direktem Gegensatz zu der gewöhnlichen Charakterisierung von Mutis Handeln. Bisher wird seine Politik in der Forschung unter dem Begriff der „Dezentralisierung“ subsumiert.238 Im Februar 1940 verfügte Muti schließlich für die beiden Marinecollegi und das Luftwaffencollegio die Umstrukturierung der Kommandoposten.239 Seit der Gründung der GIL führten drei Kommandanten ein jedes Collegio. Der 1. Kommandant war ein regionaler Parteifunktionär, der 2. Kommandant ein hoher Offizier der jeweiligen Streitkraft und der 3. Kommandant ein Absolvent der Farnesina. Nun übertrug Muti das Kommando ausschließlich hohen Offizieren der Marine bzw. der Luftwaffe, die durch den 2. Kommandanten, einen Farnesina-Absolventen, unterstützt wurden. Den Posten des regionalen faschistischen Parteifunktionärs strich Muti in diesen drei Collegi ersatzlos. An der Umwandlung der Führungsebene zeigt sich eindeutig die gegen Starace gerichtete Politik Mutis, der 233 Vgl. PNF, FD, Nr. 49, 6. 1. 1940. 234 Prefettura di Lecce an Commissario
Nazionale della Gioventù Italiana, 2. 6. 1944, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Personale, pratiche, varie, Collegi – Asili, b. 1162, f. Collegio Fiorini Lecce. 235 Il rapporto ai comandanti e vice-comandanti federali della G.I.L., in: Bollettino GIL, 1. 3. 1940, S. 17. 236 Vgl. Rapporto ai dirigenti delle Accademie, Corsi e Scuole della G.I.L., in: Bollettino GIL, 1. 6. 1940, S. 244; Il Rapporto del Segretario del Partito ai Comandanti delle Accademie e dei Collegi, in: Bollettino GIL, 1. 12. 1940, S. 49 f. 237 Vgl. Il rapporto ai comandanti e vice-comandanti federali della G.I.L., in: Bollettino GIL, 1. 3. 1940, S. 17. 238 Vgl. Gentile, Via italiana al totalitarismo, S. 230. 239 Vgl. PNF, FD, Nr. 75, 10. 2. 1940; Nomine, in: Bollettino GIL, 15. 2. 1940, S. 118.
144 III. Die Geschichte der Collegi darauf bedacht war, dessen regionale Anhänger durch Militärs zu ersetzen.240 Erst unter dessen Nachfolger, dem Starace treuen Serena, hielt sich die GIL wieder die Möglichkeit offen, erneut einen regionalen Vertreter der Partei in die CollegioFührung zu integrieren.241 Auf das Unbehagen der Streitkräfte aufgrund dieser unsicheren Besetzungspolitik wird in Kapitel V noch detaillierter eingegangen. Eine weitere Stärkung der Collegi erhoffte sich Muti durch die Bereitstellung von Halbstipendien, die für familiäre und persönliche Verdienste vergeben wurden. Die Stipendien sollten dazu führen, mehr finanziell schlecht gestellten Jugendlichen die Ausbildung in den Collegi zu ermöglichen.242 Kurz nach dieser Festlegung zog sich Muti schon von seinem Posten zurück. Sein Nachfolger, der Interimsparteisekretär Capoferri, erklärte im Juli 1940 in einem internen Schreiben, die Collegi unter den Kriegsbedingungen ausbauen zu wollen. Ob Capoferri selbst der Initiator der Expansion der Collegi war oder dieser nur die Pläne Mutis aufgriff, kann nicht mehr rekonstruiert werden. Ziel sollte es jedenfalls sein, weitere Institute zu schaffen und die Kapazitäten der bestehenden Einrichtungen zu erhöhen.243 Es galt, immer mehr Kinder und Jugendliche in diesen Internatsschulen im Geiste des Faschismus zu erziehen. Doch auch bei der forcierten Expansion der Collegi zeigte sich erneut die Ineffizienz der Jugendorganisation, die kurz exemplifiziert werden soll: Im Mai 1938 wurde für Bagnoli (Neapel) die Errichtung einer Kinderfürsorgeeinrichtung mit dem Namen Collegi riuniti della G.I.L. Fondazione Banco di Napoli für zunächst 3000 bedürftige neapolitanische Kinder angekündigt.244 Da innerhalb dieses Gebäudekomplexes sowohl Jungen als auch Mädchen betreut und ausgebildet werden sollten, bestand Mussolini bei der Vorstellung des Projektes auf einer stärkeren Geschlechtertrennung, sodass die Architekten den Plan modifizierten und schließlich statt der 3000 Kinder „nur“ 2000 Jungen und 500 Mädchen aus armen Verhältnissen im Alter von sechs bis 18 Jahren eine Grund- und Berufsschulausbildung erhalten sollten.245 Im Rahmen der Feierlichkeiten des 400-jährigen Bestehens des Banco di Napoli ließ er auf eigene Kosten zwischen 1939 und 1940 das „Institut für die Kinder des Volkes“ errichten, um es der „Partei zu schenken“.246 240 Vgl.
Walter Cavalieri/Francesco Marrella, Adelchi Serena. Il gerarca dimenticato, L’Aquila 2010, S. 141. 241 Vgl. PNF/GIL, Ammissione al collegio navale GIL di Venezia per l’anno scolastico 1941/42, Venedig 1941, S. 3. 242 Vgl. Accademie e collegi: beneficio della mezza retta, in: Bollettino GIL, 1. 5. 1940, S. 213; Agevolazioni per i collegi e le accademie della GIL, in: GSM 9 (1939/40), 15, 21. 4.–10. 5. 1940, S. 13. 243 Vgl. Comando generale GIL an Presidenza del Consiglio dei Ministri, 17. 7. 1940, in: ACS, PCM, 1940–1943, b. 2666, f. 1.1.15.3500. 244 Vgl. 401° riunione del consiglio dei ministri, 28. 5. 1938, in: OO, Bd. XXIX, S. 104–107, hier S. 105. In dem Gesetz findet die GIL dann keine Erwähnung mehr: Legge, 30. 1. 1939, Nr. 283, Riordinamento delle istituzioni pubbliche di assistenza e beneficenza del comune di Napoli, in: GU, Nr. 48, 27. 2. 1939. 245 Vgl. Alessandro Castagnaro/Roberta Ruggiero, Il Collegio Costanzo Ciano nella „città moderna“ di fondazione a Napoli, in: Eikonocity I (2016), 2, S. 55–73, hier S. 66. 246 Il Segretario del Partito assiste allo Stadio di Napoli alle gare della Gil femminile, in: La Stampa, 16. 10. 1939, S. 4. Die Idee dieses Gebäudekomplexes stammte von Marcello Piacentini, die Umsetzung besorgte hingegen federführend Francesco Silvestri.
2. Umstrukturierung, Neuausrichtung und Neueröffnung der Collegi 145
Auf dem kleinstadtähnlichen Gelände wurden Unterkunftshäuser, Schulen, eine Kirche, ein Theater für 1000 Personen, Werkstätten, eine Bäckerei, eine Wäscherei, ein Stadion, Krankengebäude, Spielplätze und ein GIL-Kommando errichtet, was sich die Bank rund 50 Millionen Lire kosten ließ.247 Diese kurzzeitig als Marinecollegio der GIL präsentierte Einrichtung248 wurde am 9. Mai 1940, am Jahrestag des impero, von niemand Geringerem als König Vittorio Emanuele III. als Collegio Costanzo Ciano eingeweiht.249 Apologetisierend heißt es in einem 2016 erschienenen Artikel über die Ziele des Collegios: „Das Collegio sollte Kinder aus armen Verhältnissen aufnehmen und sie für Beruf und Armee ausbilden und sie so von der Straße fernhalten. Die Jugendlichen hätten eine kulturelle Erziehung, eine politische und körperliche Vorbereitung mit Turn- und Militärausbildung erhalten. Das Regime arbeitete für die Formung des ‚neuen Italieners‘. Die Umsetzung hatte weichtreichenden philanthrophischen, erzieherischen und sozialen Antrieb.“250
Zwei Jahre nach der Einweihung durch den König wurde ein Gesetz erlassen, demzufolge dieses „philanthrophische“ Collegio ein Parteiinstitut sein sollte, das direkt dem Generalkommando der GIL unterstellt sein und nun den Namen Collegio Costanzo Ciano della Gioventù Italiana del Littorio – Fondazione Banco di Napoli tragen sollte.251 Seine Tätigkeit nahm es aber auch jetzt nicht mehr auf. Weshalb dieses fertiggestellte Gebäude, das ab 1943 für die Unterbringung deutscher und später angloamerikanischer Truppen und schießlich von 1954 bis 2012 als NATO-Kommandostelle genutzt wurde,252 nie seinem eigentlichen Zweck zugeführt wurde, ist nicht mehr nachvollziehbar. Während zwischen 1941 und 1942 ein Dutzend weiterer Einrichtungen für Führungskräfte und Kriegswaisen in teils ungeeigneten Gebäuden eröffnet wurden, ließ man diese neu errichtete „Kleinstadt“ für 2500 Kinder im Süden ungenutzt. Auch Mutis respektive Capoferris Nachfolger Adelchi Serena drang mit Nachdruck auf die numerische Stärkung der Collegi zur Ausbildung politisch überzeugter, spezialisierter Führungskräfte.253 Zentral war dabei dessen programmatische Rede im November 1940 vor dem Führungspersonal der Collegi, in der er die Collegi zu einem avantgardistisch-antibürgerlichen Hort erhob: „Die Akademien und Collegi der G.I.L. müssen stolzer und reiner Ausdruck des Willens der Partei sein, mit dem Ziel, ein für allemal die Überbleibsel der kleinbürgerlichen Mentalität kleinlicher Berechnungen zu zerstören, um diese durch den Geist der Revolution zu 247 Vgl.
Ufficio Tecnico, Il Collegio „Costanzo Ciano“ a Napoli, in: L’Architettura italiana 35 (1940), 12, S. 305–321; Vittorini, Costruire per educare, S. 35. 248 Vgl. Attilio Crepas, Alla Reggia di Napoli, in: La Stampa, 27. 2. 1940, S. 1. 249 Antonio Antonucci, Tutta Napoli intorno al Sovrano per l’inaugurazione della Mostra d’Oltremare, in: La Stampa, 10. 5. 1940, S. 2. 250 Castagnaro/Ruggiero, Collegio Costanzo Ciano, S. 63–65. 251 Vgl. 443° riunione del consiglio dei ministri, 2. 5. 1942, in: OO, Bd. XXXI, S. 57–60, hier S. 59 f.; Legge, 17. 7. 1942, Nr. 995, Modificazioni alla legge 30 gennaio 1939-XVII, n. 283, sul nuovo ordinamento delle istituzioni pubbliche di assistenza e beneficenza del comune di Napoli, in: GU, Nr. 214, 11. 9. 1942. 252 Vgl. Castagnaro/Ruggiero, Collegio Costanzo Ciano, S. 56, 68, 70. 253 Die erste Amtshandlung des neuen Generalkommandanten Serena sei ein Zusammentreffen mit den Führungskräften der Collegi gewesen. Vgl. Vinci, Compiti della G.I.L., in: GdL, 1. 5. 1941, S. 348.
146 III. Die Geschichte der Collegi ersetzen […]. Der Kampf zwischen diesen beiden gegensätzlichen Welten, der alten im Niedergang befindlichen und der jungen, von Mussolini entflammten zuversichtlichen und enthusiastischen Welt, ist offen und in vollem Gange: die Akademien und Collegi müssen zur Avantgarde gehören, klarer und treuer Ausdruck des revolutionären faschistischen Geistes sein.“254
Nicht weniger überschwänglich fuhr er fort: „Die Akademien und Collegi sind bereits und sollen immer mehr zu Schmieden des faschistischen Glaubens werden: neben die kulturelle und technische Schulung muss auch eine immer bedeutendere politische Schulung treten, die geeignet ist, die Jugend auf die großartigen bevorstehenden Aufgaben vorzubereiten.“255
Um dieses Ziel zu erreichen, mahnte er „die sorgfältige Auswahl der Erzieher und des Personals an und beleuchtete, auf welche Art und Weise diese ihre schwierige, von größtem Enthusiasmus getragene und im Bewußtsein, eine politische Mission von erstem Rang zu erfüllende Aufgabe zu realisieren hätten.“256
Konkrete Handlungsanweisungen waren dieser Rede jedoch nicht zu entnehmen. Schließlich kündigte er erstmals öffentlich die Schaffung weiterer Collegi an sowie zusätzlicher Spezialcollegi zur Ausbildung des Erziehernachwuchses, um damit „das seit langem bestehende Problem der Erzieher zu lösen, deren mangelhafte Anzahl und nicht immer ausreichende Ausbildung einen wesentlichen Beitrag zum Verfall der öffentlichen wie privaten Internate geleistet hat“.257 Die Entscheidung, spezielle Einrichtungen für männliche und weibliche Internatsfachkräfte zu errichten, sei nach Rücksprache mit dem Erziehungsministerium getroffen worden.258 Leider fehlt dazu die Überlieferung, sodass nicht bestimmt werden kann, unter welchen Voraussetzungen das Erziehungsministerium dieser Ausbildung zustimmte, die deutlich die Aspirationen der GIL widerspiegelt, durch die eigenen Erzieher weiteren Einfluss auch auf andere Internatseinrichtungen auszuüben. Die Zustimmung durch das Erziehungsministerium erfuhr eine weitere Initiative der GIL. Nach offensichtlich umfassender Besprechung und Modifikation der Gesetzesvorlage erlaubte das Ministerium der GIL die Errichtung von Waisen collegi.259 Die Möglichkeit zur Gründung dieser Collegi bot sich der GIL durch die 1941 erfolgte Fusion mit dem 1929 gegründeten Nationalen Werk für Kriegswaisen (Opera Nazionale degli orfani di guerra; ONOG). Per Gesetz übernahm die 254 Rapporto
del Segretario del Partito ai Comandanti delle Accademie e dei Collegi, in: Bollettino GIL, 1. 12. 1940, S. 49. 255 Ebenda. 256 Ebenda. 257 Fernando Feliciani, Collegi della G.I.L., in: Giacomo di Giacomo (Hrsg.), Panorami di realizzazioni del fascismo, Bd. 3/2: Dai Fasci al Partito Nazionale Fascista, Rom 1942, S. 435–438, hier S. 437. 258 Vgl. Rapporto dei comandanti, in: DS 42 (1940/41), 7, 10. 12. 1940, S. 105 f.; Il rapporto del Segretario del P.N.F. ai Comandanti delle scuole della G.I.L., in: GSM 10 (1940–41), 2, 11.–30. 11. 1940, S. 11. Dieser Verweis auf das Erziehungsministerium findet sich interessanterweise nicht im Bollettino. 259 Vgl. Giuseppe Bottai an PCM Gabinetto, 30. 6. 1941, in: ACS, PCM, 1940–1943, b. 2668, f. 1.1.15.3500, sf. 29.
2. Umstrukturierung, Neuausrichtung und Neueröffnung der Collegi 147
GIL die Aufgaben der Betreuung, Erziehung und Berufsausbildung von Kriegswaisen.260 Zu ihrer Realisierung durfte sie laut Artikel 2 des Gesetzes Collegi mit „beruflicher, technischer und vormilitärischer Ausbildung“ errichten bzw. erhielt die Möglichkeit, sich bestehender Collegi und Institute zu bedienen und diese zu diesem Zweck der GIL-Aufsicht zu unterstellen. So betrieb sie fortan die Heime der ONOG.261 Die Jugendorganisation übernahm damit ein weiteres Feld zur Kontrolle und Einflussnahme auf Kinder und Jugendliche, denn durch die Kriege in Abessinien (1935/1936), Spanien (1936), Albanien (1939) und den Eintritt Italiens in den Zweiten Weltkrieg im Jahre 1940 wuchs die Zahl der Kriegswaisen stetig. Die Waisen sollten nun nicht mehr in karitativen, zumeist religiösen Einrichtungen, sondern in Institutionen der Jugendorganisation untergebracht werden, da man durch das Fehlen einer väterlichen Führungsfigur besondere Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Sozialisation des Zöglings im Sinne der Partei erwartete. Wie bereits angedeutet, einigte sich die GIL vor der Verabschiedung des Gesetzes mit dem Erziehungsministerium darauf, dass es in diesen Collegi ganz im Sinne der auf Arbeit fokussierten Schulcharta Bottais lediglich eine Berufsausbildung der Waisen geben durfte. Da Bottai wahrscheinlich während des Krieges die Realisierung seiner Collegi di Stato in weite Ferne rücken sah, gab er diesen Berufscollegi der GIL seine Zustimmung. In der Propaganda wurden die Collegi der GIL dann auch als „erstes Experiment dieser Collegi di Stato“ interpretiert.262 Es ist aber auch denkbar, dass Bottai zu der Zeit aufgrund seiner voranschreitenden Amtsmüdigkeit eher zu Zugeständnissen an die Jugendorganisation bereit war.263 260 Vgl.
435° riunione del consiglio dei ministri, 7. 6. 1941, in: OO, Bd. XXX, S. 87–89, hier S. 87; Legge, Nr. 942, 17. 8. 1941, Attribuzione alla Gioventù Italiana del Littorio della assistenza, dell’educazione e dell’addestramento professionale degli orfani di guerra, in: GU, Nr. 217, 13. 9. 1941. L’assistenza e l’educazione degli orfani di guerra affidati alla G.I.L., in: GdL, 1. 7. 1941, S. 523. Vgl. zur Entstehung des Gesetzes: ACS, PCM, 1940– 1943, b. 2668, f. 1.1.15.3500, sf. 29. 261 Vgl. etwa den Bericht vom 12. 5. 1942, vermutlich verfasst von Marchese Majnoni D’Intignano, über das Istituto Vittorio Veneto Orfani di guerra in Florenz, in: ACS, Istituto per la Ricostruzione Industriale (künftig: IRI), Numerazione Nera (NERA), ISP-85, f. 7.2.5.2. 262 N.F. Cimmino, Funzione dei collegi della G.I.L., in: Collegio Littorio della G.I.L., supplemento al n. 18 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 21. 7. 1942, s. p. 263 Bereits im Oktober 1939, wenige Monate nach der Verabschiedung seiner Schulcharta, war Bottai von der Perspektive enttäuscht, nun lange Zeit auf deren Realisierung warten zu müssen und liebäugelte mit einem anderen Posten. Mussolini gab seinen Aspirationen einen Dämpfer: Um eine mögliche Gegenreform eines neuen Erziehungsministers zu verhindern, sollte Bottai im Amt bleiben (vgl. Bottai, Diario, 26. 10. 1939, S. 167). Im April 1941 schrieb er erneut, dass er seine Arbeit nicht mehr liebe und er am liebsten keinen Fuß mehr in das Erziehungsministerium setzen wolle (vgl. Bottai, Diario, 2. 4. 1941, S. 261). Einen Monat später bemerkte Ciano in seinem Tagebuch: „Ich sehe Bottai. […] Er strebt danach, sich vom Erziehungsministerium zu befreien, das ihn schon lange bedrückt, ohne ihm eine Befriedigung zu verschaffen. Ich denke, dass er Ambitionen entwickelt, als Botschafter nach Berlin zu gehen.“ (Ciano, Diario, 19. 5. 1941, S. 514). Dazu kam es nicht. Auch seine Hoffnungen auf das Amt des Botschafters beim Heiligen Stuhl zerschlugen sich im Februar 1942 (vgl. Ciano, Diario, 9. 2. 1942, S. 589), ebenso wie seine Hoffnungen auf den Posten als Parteisekretär (vgl.
148 III. Die Geschichte der Collegi Vorbehalte gegen dieses Waisengesetz hatte hingegen der Unterstaatssekretär im Kriegsministerium, der eine Änderung des Gesetzestextes anregte. Das Kriegs ministerium schien zu befürchten, dass auch in ihren, auf die höhere Offizierslaufbahn vorbereitenden Militärschulen Waisen untergebracht werden könnten, womit der GIL die Oberaufsicht über die Militärschulen zugestanden hätte. Um die eigenen Militärschulen der möglichen Einflussnahme durch die GIL zu entziehen, forderte der Unterstaatssekretär die Einsetzung des Wörtchens „zivil“ hinter die bereits bestehenden „Collegi und Institute“ in dem Gesetzestext.264 Seine Forderung blieb ungehört: In dem Gesetzestext wurden die Einrichtungen nicht näher spezifiziert. Zu einer „feindlichen Übernahme“ der Militärschulen durch die GIL kam es jedoch auch nie. Das lag offensichtlich auch nicht im Interesse Serenas, der zu einem verbesserten Modus Vivendi mit den Streitkräften gelangen wollte. Zur Verbesserung der Beziehungen schuf er die bereits thematisierte Consulta della GIL (beratende Versammlung), um die Aktivitäten der GIL und der verschiedenen Ministerien, die die militärische Ausbildung der Jugendlichen betrafen, besser koordinieren und absprechen zu können. Zusätzlich wurde unter ihm die GIL umstrukturiert, womit er ebenfalls das Ziel verfolgte, „unsere Beziehungen zu den Militärministern zu stärken und die vormilitärische und kriegerische Vorbereitung unserer Jugend weiterzuentwickeln“.265 Doch dabei handelte es sich um ein Ziel, das auch in den nächsten Jahren immer wieder auf der Agenda stand und offensichtlich auch aufgrund der sich verschlechternden Kriegslage und der wechselseitigen Schuldzuschreibungen an eben dieser Situation kaum zu der erwünschten Kontinuität und Vertrautheit zwischen den beteiligten Stellen führte.266 Ganz im Sinne seines Mentors Starace verfolgte Serena darüber hinaus die weitere Vereinheitlichung der Collegi hinsichtlich der internen Ordnung und der Stipendien. Erstens suchte er durch die Umstrukturierung der GIL auch zu einer stärkeren Ausdifferenzierung des Aufgabenbereiches Servizio Accademie e Collegi zu gelangen.267 Aufgrund der fehlenden Verwaltungsakten können jedoch keine Aussagen über die Folgen hinsichtlich der Effizienz dieser Umstrukturierung geFabrizio Amore Bianco, Mussolini e il „nuovo ordine“. I fascisti, l’asse e lo „spazio vitale“ (1939–1943), Mailand 2018, S. 299). Im August 1942 unternahm er einen weiteren Versuch, aus dem Ministerium auszuscheiden, um seine journalistische Tätigkeit fortzusetzen, doch auch diesen Versuch wies Mussolini unter Verweis auf die Bedeutung seiner Schulreform zurück: „Deine Reform […] ist nicht eine Reform, sondern die Schulreform. Ihre Erfüllung kann man nicht anderen übertragen, die sie auf ihre Weise retuschieren würden.“ (Bottai, Diario, 10. 8. 1942, S. 316). Die Frage Mussolinis, wie lange Bottai noch für die Realisierung der Schulreform benötigte, beantwortete dieser mit drei bis vier Jahren, worauf Mussolini gesagt habe: „Nun, du wirst die notwendigen Jahre bleiben.“ Sechs Monate später verlor Bottai seinen Posten. 264 Vgl. Ministero della Guerra, Sottosegretario Antonio Scuero an PCM Gabinetto, 25. 7. 1941, in: ACS, PCM, 1940–1943, b. 2668, f. 1.1.15.3500, sf. 29. 265 Il comandante generale della GIL Adelchi Serena an Francesco Pricolo, Sottosegretario di Stato all’Aeronautica, Roma, 28. 11. 1940, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1940, b. 159. 266 Vgl. Punto di vista delle FF.AA. in merito alla nuova organizzazione dell’attività della GIL, 15. 10. 1941, in: ACS, Ministero della Marina, Gabinetto 1934–50, b. 584. 267 Vgl. Ordinamento del Comando Generale, in: Bollettino GIL, 1. 12. 1940, 1° supplemento, S. 10.
2. Umstrukturierung, Neuausrichtung und Neueröffnung der Collegi 149
troffen werden. Zweitens konstituierte sich im Januar 1941 eine Kommission, deren Aufgabe darin bestand, ein Reglement zu formulieren, „das möglicherweise auf alle Collegi der G.I.L. anwendbar wäre, die, da sie alle vormilitärisch ausgerichtet sind, nach ein und demselben Reglement geführt werden könnten“.268 Klar zuordenbare Ergebnisse dieser Kommission konnten nicht eruiert werden. Es liegt aber für das Waisencollegio in Lecce ein umfassendes Reglement vor, welches in Teilen so allgemein gehalten ist, dass davon ausgegangen werden kann, dass es sich dabei um ein für alle Collegi geltendes Reglement handelte und somit das Resultat dieser Kommission darstellte.269 Drittens suchte er die verworrene regionale Stipendienvergabe zu vereinheitlichen, sodass im Oktober 1941 eine weitere Kommission geschaffen wurde. Ihr Ziel bestand in der Erstellung einheitlicher Kriterien zur zentralisierten Vergabe von Stipendien.270 Bereits im Sommer 1941 legte Serena Mussolini eine Abhandlung mit dem vielsagenden Titel: „Bericht über die Notwendigkeit, den Collegi der GIL stärkere Impulse bei der Erziehung der Jugendlichen auf den verschiedenen Gebieten der zivilen und militärischen Aktivitäten zu verleihen“ vor. Leider wurde dieser von Mussolini zur Kenntnis genommene Bericht am 7. Juli 1941 an den Parteisekretär Serena zurückgegeben, ohne dass etwas vom Inhalt überliefert worden ist.271 Somit bleibt unklar, ob Serena neben der numerischen Stärkung der Collegi etwa für Kriegswaisen, der engeren Kooperation mit den Streitkräften, der Vereinheitlichung des Reglements und der Stipendienvergabe sowie einer intensiveren politischen Schulung noch weitere Modifikationen hinsichtlich der Collegi vorschwebten, die womöglich aufgrund des Krieges und der sich verschlechternden Kriegslage nicht mehr in Angriff genommen wurden. Unter dem jungen 27-jährigen Nachfolger Serenas, Aldo Vidussoni, gewann – wie von Serena angestoßen – die politische Schulung an Bedeutung. Weitere Collegi öffneten ihre Pforten und er unternahm Versuche, das Auswahlprozedere entsprechend der Kriegssitutation zu vereinfachen bzw. die Kandidaten besser hinsichtlich ihrer zukünftigen Spezialisierung auszuwählen. So schnellten innerhalb der Collegi ab Januar 1942 plötzlich die Vorträge über faschistische Kultur in die Höhe,272 im Mai 1942 kündigte das Generalkommando die Eröffnung acht weiterer Kriegswaisencollegi an,273 die sich dann jedoch reduzierten und erneut ihre Ausrichtung änderten. Vidussoni stärkte die Rolle der Provinzkommandos, indem erste Eignungstests bereits in der Heimatprovinz des Aspiranten vorgenommen werden sollten und nicht erst in den Collegi.274 Das bis dato übliche Prozedere, die Aspiranten in dem jeweiligen Collegio zu testen, war in Anbetracht 268 Orfeo
Sellani an Ministero della Marina, Gabinetto, 27. 6. 1941, in: ACS, PCM, 1940– 1943, b. 2665, f. 1.1.15.3500, sf. 1/17. 269 Vgl. das unpaginierte und undatierte Reglement des Collegios Lecce, in: ASLe, Prefettura, Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455. 270 Vgl. PNF/GIL, Lettera Circolare 133, 10. 10. 1941, in: ASLe, GIL, b. 15. 271 Vgl. Aktennotiz, in: ACS, SPD, CO, b. 837, f. 500.018 (GIL). 272 Vgl. Attività delle accademie e collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 2. 1942, S. 293. 273 Vgl. PNF/GIL, Foglio di comunicazioni N. 13, 27. 5. 1942, in: ACS, PNF, DN, SV, S II, b. 251. 274 Vgl. PNF/GIL, Circolare Nr. 87, 21. 7. 1942, in: ASLe, GIL, b. 15.
150 III. Die Geschichte der Collegi des Krieges und der damit einhergehenden Reiserestriktionen schließlich mehr als hinderlich. Darüber hinaus führte er erst zu diesem späten Zeitpunkt obligatorische schriftliche Prüfungen für einige Collegi ein, um eine bessere Auswahl zu gewährleisten.275 Schließlich veröffentlichte das GIL-Generalkommando erst unter der Ägide Vidussonis grundlegende Richtlinien zu den Akademien und Collegi.276 Im Folgenden gilt es nun, die Neugründungen der frühen 1940er Jahre einer näheren Betrachtung zu unterziehen.
Die Führungskräfteinitiative der GIL 1941 Der Ankündigung Serenas im November 1940, weitere Collegi errichten und mehr pädagogisches Personal für die Collegi ausbilden zu lassen, folgten trotz des Krieges schnell Taten. Im April 1941 gab die GIL Ausschreibungen für die Aus bildung von nicht weniger als 500 Erziehern in Rom, Neapel und Udine heraus, die in einem Ein-Jahres-Kurs realisiert werden sollte.277 Parallel dazu sollten 250 Collegi-Erzieherinnen ausgebildet werden.278 Neben den Aspiranten suchte das GIL–Generalkommando „zur Errichtung weiterer Collegi große Gebäude oder Villen mit viel Land, die nicht allzuweit von städtischen Zentren entfernt und leicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen sind“.279 Diese Gebäude sollten rund 150 Schüler aufnehmen, Hygieneeinrichtungen und Schulausstattung vorweisen können und eine bauliche Vergrößerungsmöglichkeit bieten. Dieses Ausweichen auf bestehende Gebäude führte jedoch dazu, dass die Gebäude nicht immer den Anforderungen entsprachen, die sie erfüllen sollten.280 Trotz des Krieges und in Anbetracht der Ressourcenknappheit nahm die GIL jedoch nicht gänzlich Abstand von der Errichtung von Neubauten und plante zahlreiche Neuerrichtungen. An diesem „Führerschulenneubau“ war auch die nationalsozialistische Reichsjugendführung interessiert und regte einen deutsch-italienischen Architektenaustausch an, der jedoch von der GIL unter Verweis auf die zum Kriegseinsatz eingezogenen Architekten zurückgewiesen wurde.281 Im Jahr 1941 hielt der lang275 Vgl.
ebenda; Accademie e Collegi per istitutori, in: DS 43 (1941–42), 27, 30. 8. 1942, S. 470; Accademie e Collegi per istitutori, in: GSM 12 (1942/43), 25, 1.–15. 9. 1942, S. 6. 276 Vgl. Bonamici, Accademie e collegi. Direttive per le Accademie e i collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 1. 1943, S. 191 f. 277 Vgl. Bando di concorso per istitutori di ruolo della G.I.L., in: GdL, 1. 4. 1941, S. 299; Corso per istitutori di ruolo aperti ai maestri, in: DS 42 (1940/41), 18, 10. 4. 1941, S. 283; Concorso per cinquecento allievi istitutori di ruolo della G.I.L., in: GSM 10 (1940–41), 12, 1.–20. 4. 1941, S. 7. 278 Vgl. Bando di concorso per Istitutrici di ruolo della GIL, in: DS 42 (1940/41), 25, 20. 7. 1941, S. 394. 279 Ricerca fabbricato per collegio, in: GdL, 15. 7. 1941, S. 587. 280 So bemerkte etwa der Architekt Gaetano Minnucci in Bezug auf ein neu eröffnendes Erzieherinnencollegio: „Der bereits vorhandene und angepasste Teil wird pünktlich fertig sein. Es gilt jedoch anzumerken, dass er nur unzureichend die Bedürfnisse des Collegios, besonders im Hinblick auf den Unterricht, erfüllt.“ Gaetano Minnucci an GIL-Generalkommando, 2. 9. 1942, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Atti Nord, Accademia Castello dei Cesari, Roma. 281 Vgl. HJ Lauterbacher an AA, 29. 10. 1940, in: PA AA, R 98927; MAE, Nota Verbale, 20. 1. 1941, in: PA AA, Botschaft Rom Quirinal, 1394 A, Bd. 5.
2. Umstrukturierung, Neuausrichtung und Neueröffnung der Collegi 151
jährige Architekt der GIL, Luigi Moretti, in einem Schriftstück den geplanten Neubau neun weiterer Collegi fest:282 • • • • • • • • •
Collegio istruttori – Foro Mussolini Collegio Magistrale – Foro Mussolini Collegio GIL femminile – Palermo283 Collegio GIL femminile – Verona Collegio GIL femminile – Abbazia (Opatija, Kroatien)284 Collegio GIL femminile – Rieti Collegio GIL femminile – Como Collegio GIL – Pontinia Collegio GIL – Genova
Insgesamt fünf der neun Collegi waren für Mädchen vorgesehen. Diese Verteilung unterstreicht auch den Anspruch Serenas, die „faschistische Frau“ zu stärken.285 Neben diesen Projekten fanden sich zudem Hinweise zu einem von Luigi Moretti selbst geplanten Collegio di alta educazione classica auf dem Gelände des Foro Mussolini aus dem Jahre 1941286 sowie Planungen, um das Foro Mussolini, ähnlich dem Collegio Littorio, eine Vielzahl von Collegi errichten zu lassen.287 Einer der vorgesehenen Architekten war Cesare Valle, der Architekt des Luftwaffencollegios in Forlì. In seinem Nachlass findet sich die Zusage für das Bauprojekt eines Collegios in Rom, das dann jedoch nicht weiter verfolgt wurde.288 Insgesamt liegen zu diesen zahlreichen Planungen nur rudimentäre Überlieferungen vor, da sich die Bauarbeiten größtenteils aufgrund der enormen Bürokratie des GIL-Generakommandos, des Personalmangels und der Materialknappheit, etwa beim Eisen, während des Zweiten Weltkrieges verzögerten und die Gebäude nicht fertiggestellt wurden.289 Wenn man einem Bericht Renato Riccis aus dem Jahre 282 Vgl. 283 Das
Santuccio, Architettura della „casa per la gioventù“, S. 36. Collegio della GIL femminile in Palermo wurde zwischen 1941/1942 als Collegio magistrale durch die Architekten Bruno Ernesto Lapadula und Emanuele Mongiovì „in bewaldetem Gebiet ohne städtischen Bezug [geplant], der es uns heute erlauben würde, das Projekt zu lokalisieren“. Vgl. Paola Barbera, Architettura in Sicilia tra le due guerre, Palermo 2002, S. 62, 65, 67 f. (Zitat: S. 67), 236; Capomolla/Mulazzani/Vittorini (Hrsg.), Case del balilla, S. 229, 241. 284 Das Collegio femminile in Abbazia wurde im Jahre 1941 durch Adalberto Libera und Mario De Renzi geplant. Vgl. Capomolla/Mulazzani/Vittorini (Hrsg.), Case del balilla, S. 228, 242. 285 Vgl. Gentile, Via italiana al totalitarismo, S. 249 f. 286 Vgl. Capomolla/Mulazzani/Vittorini (Hrsg.), Case del balilla, S. 83, 246; Bucci/Mulazzani, Luigi Moretti, S. 76. 287 Vgl. Greco, Architettura e arte, S. 181. 288 Vice Comandante Generale, Orfeo Sellani, an Cesare Valle, 7. 11. 1941, in: Archivio Valle, CV-CAR-096. 289 Vgl. Gaetano Minnucci an GIL-Generalkommando, 2. 9. 1942, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Atti Nord, Accademia Castello dei Cesari, Roma; Capomolla, Costruzione delle case del balilla, S. 49–56. Die Bauverzögerungen bei dem Collegio Montesacro (Rom) seien beispielsweise aufgrund der langen Wartezeiten auf kontingentiertes Material entstanden, vgl. PFR, Opera Nazionale Balilla, Comando Generale, Costruzione Collegio Istitutrici di Montesacro in Roma, April 1944, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Collegio Monte Sacro, Registri, Contabilità Lavori, 1941– 42.
152 III. Die Geschichte der Collegi 1944 Glauben schenken darf, hatten diese Bauvorhaben jedoch Priorität und erst während der 45 Tage dauernden Regierung Badoglios sollen die Bauarbeiten an zehn Collegi eingestellt worden sein.290 Im August 1941 kündigte das GIL-Generalkommando die Eröffnung von zunächst sechs Collegi für das im Oktober 1941 beginnende Schuljahr an: Dazu gehörten ein GIL-Führungskräftecollegio für Frauen in Florenz, ein Kommandantinnencollegio in Vittorio Veneto, zwei Chorleitercollegi – je eins für Frauen (Bergamo) und eins für Männer (Vicenza) – sowie zwei Kriegswaisencollegi für Jungen in Turin und Lecce.291 Auffällig ist die nicht nur mit der Kriegszeit zu erklärende Fokussierung auf das weibliche Geschlecht und die Kriegswaisen, welche die GIL personell stärken sollten. Bei diesen beiden Personengruppen erwartete man sich offensichtlich besonders effektive Möglichkeiten der Indoktrination. Den Waisen fehlte zumeist die väterliche Führungsfigur, die nun durch die glühenden GIL-Erzieher ersetzt werden sollte, und den Mädchen, in denen die offizielle Propaganda „die Begleiterin des Mannes, die Seele des Hauses, die Hüterin des Herdes [und] im Wesentlichen die Mutter“292 sah, verhieß man Führungs positionen, also Partizipation, was die weiblichen Jugendlichen wiederum mit begeisterter faschistischer Anhängerschaft danken sollten.293 Führt man sich vergleichend mit Deutschland vor Augen, dass es schließlich sieben Collegi für Mädchen gab, jedoch keine einzige Adolf-Hitler-Schule für Mädchen und eine verschwindend geringe Anzahl an Nationalpolitischen Erziehungsanstalten für Mädchen, so gewinnt man den Eindruck, dass zumindest die italienische Jugendorganisation die Mädchen doch stärker in das öffentliche Leben einbinden wollte,294 als gemeinhin unter Verweis auf Kirche und traditionelles Rollenbild 290 Opera
Balilla, Relazione sul primo anno di attività, 24. 9. 1943–24. 9. 1944, in: ACS, SPD, RSI, CO, b. 23, f. 939, Bl. 046938. Um welche Collegi es sich dabei konkret handelte, verschwieg Ricci. Die Presse berichtete noch im Mai 1943 von einem baldigen Collegio in Macerata, das dem Squadristen Severino Ricottini gewidmet sein sollte. Vgl. Un collegio della G.I.L. sorgerà a Macerata, in: La Stampa Sera, 15. 5. 1943, S. 3. 291 Vgl. Nuovi collegi della G.I.L., in: GdL, 1. 9. 1941, S. 719. Das hier abgedruckte Rundschreiben 228 ist auf den 16. 8. 1941 datiert. In diesem Rundschreiben finden sich zwei fehlerhafte Ortsangaben (Vicenza statt Vittorio Veneto; Venedig statt Vicenza), sodass diese in einem Folgetelegramm korrigiert werden mussten. Vgl. Telegramm des Comando generale an alle comandi federali della GIL, 27. 8. 1941, in: Bollettino GIL, 15. 10. 1941, 6° bis supplemento, S. 13. Vgl. darüber hinaus die öffentliche Ausschreibung: I bandi per l’ammissione ai nuovi collegi della G.I.L., in: Il Popolo d’Italia, 26. 8. 1941 (BA Berlin, R 4902, 8445, Bl. 38 RS). 292 Vgl. Starace, Gioventù italiana del Littorio, S. 57 f. 293 Vgl. ebenda, S. 58. 294 Rolf Eilers betonte in seiner Studie zur nationalsozialistischen Schulpolitik: „Kennzeichnend für die geplante Zurückdrängung der Frau war auch die Nichtberücksichtigung der Mädchen bei der Einrichtung nationalsozialistischer Eliteschulen. 1939 gab es unter den 39 Nationalpolitischen Erziehungsanstalten nur zwei Mädchenschulen, die man übernommen hatte. Die Forderungen der Reichsreferentin des BDM Bürckner [sic!] nach Adolf-Hitler-Schulen für Mädchen verhallten ungehört.“ Rolf Eilers, Die nationalsozialistische Schulpolitik. Eine Studie zur Funktion der Erziehung im totalitären Staat, Köln 1963, S. 20. Die Zahlen zu den NPEA für Mädchen sind schwer zu rekonstruieren. Selbst die Spezialistin auf dem Gebiet der NPEA Mädchenschulen legt sich nicht auf die genaue Anzahl der Schulen fest und verweist auf die Problematik der „Umzüge, Neugründungen, Tochteranstalten und Umbenennungen“, die eine eindeuti-
2. Umstrukturierung, Neuausrichtung und Neueröffnung der Collegi 153
angenommen wird. Dass viele Mädchen dieses Angebot offensichtlich nicht so dankend annahmen, wie noch an den Bewerberzahlen gezeigt wird, steht dabei auf einem anderen Blatt. Kurz vor Beginn des neuen Schuljahres im Oktober 1941 kündigte das GILGeneralkommando dann plötzlich an, nicht nur die ursprünglich vorgesehenen sechs neuen Collegi, sondern vier weitere errichten zu wollen.295 Tatsächlich handelte es sich bei den vier zusätzlichen Collegi um die Einrichtungen zur Ausbildung von Erziehern und Erzieherinnen. Die Ausbildung der angekündigten 500 Erzieher in Rom, Neapel oder Udine sollte nun in Rieti und Udine stattfinden. Für die Erzieherinnenausbildung waren hingegen zwei Einrichtungen in Rom (Montesacro/Castello dei Cesari) geplant.296 Nahezu jedes dieser zehn geplanten Collegi hatte eine andere Ausrichtung und damit ein anderes Eintrittsalter und unterschiedliche Schulgebühren.297 Identisch war hingegen das eine große Ziel, wie Gaetano Rossi, der Chef der Abteilung „Akademien und Collegi“, in seinem Aufsatz über die neuen Collegi betonte. Ihnen oblag nicht, wie in früheren Internaten, die Rückgabe des allseits und korrekt gebildeten Jugendlichen an seine Familie, sondern die Schaffung des cittadinosoldato für die Nation, „d. h. einen charakterlich geformten Italiener, fachlich in der Lage, produktiv tätig zu werden, körperlich gesund und ausgeglichen, in der Lage, vor allem geistig, das nationale Recht mit der Waffe zu verteidigen und überall und zu jeder Zeit die Idee der Revolution zu verbreiten“.298 Es galt nicht, die Entfaltung des Individuums zu fördern, sondern den Gemeinschaftssinn und die gemeinsame Ausrichtung auf die Perpetuierung der Revolution. Im Gegensatz zu den bis dahin errichteten Collegi waren diese nicht mehr an den Bedürfnissen des militärischen Nachwuchses orientiert. Mit dem Collegio femminile per dirigenti della GIL in Florenz (Pozzolatico-Villa Mirafiori) öffnete nun zum ersten Mal ein Mädchencollegio mit Gymnasium (ginnasio superiore, liceo classico). Die Aspirantinnen durften zur Aufnahme das 16. Lebensjahr noch nicht überschritten haben und sollten zukünftig als Führungskräfte in den Provinzkommandos der GIL tätig werden. Das Collegio femminile per comandanti ge Festlegung erschweren. Stefanie Jodda-Flintrop, „Wir sollten intelligente Mütter werden“. Nationalpolitische Erziehungsanstalten für Mädchen, Diss., Düsseldorf 2009, S. 26. Laut Benze bestanden 1943 insgesamt 33 Napolas für Jungen im Reich und vier für Mädchen, vgl. Rudolf Benze, Erziehung im Großdeutschen Reich. Eine Überschau über ihre Ziele, Wege und Einrichtungen, 3., erw. Aufl., Frankfurt a. M. 1943, S. 61. Scholtz führt insgesamt 35 NPEA für Jungen auf, sowie zwei NPEA für Mädchen, wovon eine nicht selbstständig war. Die Standorte variierten: Hubertendorf, Türnitz, Colmar-Berg und Achern, vgl. Scholtz, Nationalsozialistische Ausleseschulen, S. 328–332. 295 Vgl. Apertura di nuovi collegi, in: DS 42 (1940/41), 28, 20. 9. 1941, S. 427; Nuovi collegi della GIL, in: GSM 10 (1940–41), 23, 1.–15. 8. 1941, S. 3; Rossi, Nuovi collegi della G.I.L., in: GdL, 1. 10. 1941, S. 765 f. 296 Vgl. I dieci nuovi Collegi istituiti dalla G.I.L., in: GdL, 15. 10. 1941, S. 827. 297 Vgl. zu den folgenden Ausführungen: Ebenda. 298 Rossi, Nuovi collegi della G.I.L., in: GdL, 1. 10. 1941, S. 765; vgl. ebenso: R., Gli istituti educativi della G.I.L., in: Collegio marinaro „Caracciolo“, Sabaudia, supplemento al n. 12 del Bollettino del Comando generale, 21. 4. 1942, S. 2; La scuola nei collegi della G.I.L., in: Collegio „M.O. Aldo Fiorini“ per orfani di guerra, Lecce, supplemento al n. 24 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 21. 10. 1942, S. 1.
154 III. Die Geschichte der Collegi della GIL in Vittorio Veneto war hingegen eine Lehrerinnenausbildungsanstalt (Istituto magistrale inferiore/superiore) für zukünftige Kommandantinnen der GIL, deren Aspirantinnen ebenfalls nicht älter als 16 Jahre sein durften. Die beiden Chorleitercollegi (Collegio per Istruttori corali della G.I.L., Vicenza/Collegio per Istruttrici corali della G.I.L., Bergamo) waren Mittelschulen (scuola media) und nahmen SchülerInnen im Alter von elf bis 15 Jahren auf, die zukünftig als Chorlehrer in Schulen und den Provinzkommandos der GIL eine Anstellung finden sollten. Die Kriegswaisencollegi (Collegi per Orfani della Guerra) in Turin und Lecce konnten hingegen Jungen zwischen acht/neun und 14 Jahren besuchen, die in der Einrichtung einen Grundschulabschluss (IV, V scuola elementare) und eine Berufsvorbereitende Ausbildung mit kaufmännischer (Turin) oder industrieller (Lecce) Ausrichtung erwerben konnten, mit dem Ziel, als Adjutanten (aiutanti) in den kleineren GIL-Zentren beschäftigt zu werden. Für die CollegiErziehereinrichtungen (Collegi per Istitutori e Istitutrici della G.I.L.) konnten sich Männer zwischen 17 und 25 Jahren und Frauen zwischen 21 und 30 Jahren bewerben, die innerhalb eines Jahres zu Erziehern ausgebildet werden sollten und perspektivisch bei entsprechender Eignung bis zum Collegiokommandanten aufsteigen konnten.299 Während die beiden Erzieherinneneinrichtungen in Rom (Montesacro, Castello dei Cesari) ihre Tätigkeit aufnahmen, öffnete das Erziehercollegio in Rieti seine Pforten nicht und in Udine wurde lediglich das bereits seit 1937 bestehende Collegio in seiner inhaltlichen Ausrichtung verändert. So wurden von den zunächst geplanten zehn Collegi letztlich nur acht neu eröffnet. Höchstwahrscheinlich bewarben sich während des Krieges nicht genügend geeignete Männer zwischen 17 und 25 Jahren, sodass die Pläne der GIL, mehr männ liche Erzieher auszubilden, keine Realisierung fanden. Aber auch in den anderen neuen Collegi blieben die Anmeldungen teils hinter den Erwartungen zurück, wie die eilig verschickten Telegramme des GIL-Generalkommandos belegen. Darin kündigte es die Verschiebung der Bewerbungsfrist an,300 forderte die regionalen Parteistellen auf, in der örtlichen Presse die Werbetrommel für die Collegi zu rühren301 oder geeignete Mädchen direkt anzusprechen: „Ich richte eure Aufmerksamkeit auf die Notwendigkeit, Bewerbungen für die Collegi femminili in Florenz, Bergamo, Vittorio Veneto zu fördern. Geht auf geeignete Mädchen zu und hebt die Karrierevorteile hervor und verweist auf die Stipendien, die jedem Provinzkommando zustehen.“302 299 Vgl.
Bando di concorso per Istitutrici di ruolo della GIL, in: DS 42 (1940/41), 25, 20. 7. 1941, S. 394; Bando di concorso per istitutori di ruolo della G.I.L., in: GdL, 1. 4. 1941, S. 299. 300 „Ich bewillige einen Aufschub von zehn Tagen für Bewerbungen für den Kurs istitutrici ruolo GIL. Es liegt in deiner Verantwortung, größtmögliche Propaganda für diesen Kurs zu betreiben. Sellani“, Telegramm des Comando generale an GIL Regno, 3. 8. 1941, in: Bollettino GIL, 15. 10. 1941, 6° bis supplemento, S. 11. 301 „Ich bitte dich, die Bekanntmachungen der Aufnahme in die Collegi der GIL in der örtlichen Presse mit Nachdruck zu verbreiten. Sellani“, Telegramm des Comando generale an Segretari Federali Regno, 16. 9. 1941, in: Bollettino GIL, 15. 10. 1941, 6° bis supplemento, S. 14. 302 Telegramm des Comando generale an alle ispettrici federali GIL Regno, 30. 9. 1941, in: Ebenda, S. 15.
2. Umstrukturierung, Neuausrichtung und Neueröffnung der Collegi 155
Darüber hinaus weitete es die Aufnahmevoraussetzungen für die Kriegswaisencollegi in Lecce und Turin aus, um auch hier mehr potenzielle Bewerber erreichen zu können.303 Sicherlich trug auch die Sorge vieler Eltern, ihre Kinder während des Krieges mit dem Zug quer durch Italien reisen zu lassen, dazu bei, dass die Bewerberzahlen stagnierten. Eine wachsende Skepsis gegenüber dem Regime in Anbetracht der sich verschlechternden Kriegslage mag ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Die Mehrheit der acht Collegi, die offiziell im Frühjahr 1942 eingeweiht wurden,304 hatte einen schweren Start. Sie benötigten zumeist das gesamte erste Schuljahr, um sich langsam zu konsolidieren.
Die Kriegswaiseninitiative der GIL 1942 Nachdem im Schuljahr 1941/1942 zwei Waisencollegi in Turin und Lecce ihre Tätigkeit aufgenommen hatten, kündigte das GIL-Generalkommando in dem „berühmten“305 Rundschreiben Nr. 13 die Eröffnung weiterer acht Kriegswaisencollegi mit beruflicher Ausbildung für das Schuljahr 1942/1943 an, die jedoch angesichts der verheerenden Kriegssituation nicht mehr vollumfänglich ihre Tätigkeit aufnahmen. Um die Kriegswaisen den Schulen in religiöser oder privater Trägerschaft zu entziehen, sollten Jungen und Mädchen in „reizvollsten und gesundheitsfördernden Gegenden“306 in Teramo, Spoleto, Pontinia, Tagliacozzo, Mailand, Padua und in zwei florentinischen Einrichtungen eine Schul- und Berufsausbildung erhal303 „Falls
dieses Kommando nicht die erforderliche Anzahl von Bewerbungen von Kriegswaisen des derzeitigen Krieges für die neuen Collegi erreicht hat, so können auch Bewerbungen von Kriegswaisen des Spanien- oder Afrikakrieges akzeptiert werden. Sellani“, Telegramm des Comando generale an alle comandanti federali GIL Regno, 9. 10. 1941, in: Ebenda, S. 16; „Den bisherigen Bestimmungen folgend ist die Aufnahme in die Waisencollegi von Lecce und Turin auch für Kinder möglich, deren Brüder oder andere Verwandte im aktuellen Krieg, im Spanien- oder Afrikakrieg gefallen sind und in Ausnahmefällen auch für Kinder, deren Väter verschollen sind. Ich erinnere des Weiteren an die Anweisung Sellanis, die Anwerbung für die Collegi zu intensivieren und sich die vielen vom Generalkommando zur Verfügung gestellten Stipendien vor Augen zu führen. Feliciani“, Telegramm des Comando generale an Vice comandante federale GIL Regno, 10. 10. 1941, in: Ebenda. „In dem Collegio 3 Gennaio in Turin ist auch eine ausreichende Zahl an Plätzen für Nicht-Kriegswaisen reserviert. Ihr habt bis zum Ende des Monats Zeit, weitere Bewerbungen einzureichen. Bitte bemüht euch dringend darum. Teilt mir bis zum 15. des Monats die Anzahl der neu eingegangenen Bewerbungen mit. Sellani“, Telegramm des Comando generale an Vice comandanti Federali Regno, 8. 11. 1941, in: Ebenda, S. 19. 304 Vgl. Nuovi collegi della G.I.L. inaugurati il 15 febbraio XX, in: GdL, 1. 3. 1942, S. 322; Il Segretario del P.N.F. inaugura a Roma due Collegi per istitutrici della G.I.L., in: GdL, 15. 3. 1942, S. 354. 305 Häufig wird in der Literatur auf dieses Rundschreiben Bezug genommen, ohne jedoch der Tatsache Rechnung zu tragen, dass es sich dabei lediglich um eine Ankündigung und noch lange nicht um eine Realisierung handelte. Vgl. Schleimer, Opera Nazionale Balilla bzw. Gioventù Italiana del Littorio und die Hitlerjugend, S. 315, bes. Anm. 456. 306 Vgl. Otto nuovi collegi della G.I.L., in: Giornale d’Italia, 8. 8. 1942 (BA Berlin, R 4902, 8445, Bl. 17).
156 III. Die Geschichte der Collegi ten.307 Auch hier unterschieden sich Schultypen und Zugangsbedingungen: Von der Grundschule für Jungen (Tagliacozzo, Bewerbungsalter: sechs bis zwölf) über die Mittelschulen für Jungen (Padua [Ponte di Brenta], Spoleto, Bewerbungsalter: zehn bis zwölf) und Mädchen (Florenz, Bewerbungsalter: zehn bis zwölf) bis hin zu der Berufsvorbereitenden Handwerksschule für Jungen (Florenz, k. A.), der Industrieschule für Mädchen (Teramo, Bewerbungsalter: neun bis 14), der Landwirtschaftsschule für Jungen (Pontinia, Bewerbungsalter: zehn bis 15) und der Handelsschule für Mädchen (Mailand, Bewerbungsalter: zehn bis 14) sollte den Kriegswaisen – wie mit dem Erziehungsministerium vereinbart – alles bis auf eine gymnasiale Ausbildung geboten werden. Im neuen Schuljahr 1942/1943 nahmen dann jedoch nicht alle acht Einrichtungen für Kriegswaisen ihre Tätigkeit auf, sondern lediglich sieben Institute, von denen nur noch vier für Kriegswaisen vorgesehen waren. Dabei handelte es sich um die Collegi in Teramo, Padua, Spoleto und Tagliacozzo.308 Was aus den geplanten Kriegswaiseneinrichtungen in Florenz, Mailand und Pontinia wurde, ist unklar. Vermutlich spielten auch hier die zu geringen Bewerberzahlen eine wesentliche Rolle. Das Kriegswaisencollegio für Landarbeiter in Pontinia kam, so ist zu vermuten, nicht zustande, da die Witwen von Landarbeitern ihre Kinder schlichtweg zur Landarbeit auf den Feldern benötigten und nicht gewillt waren, sie an die Collegi abzugeben. An Stelle dieser Einrichtungen starteten zusätzlich eine Mädchenmusikakademie in Rom und zwei Führungskräftecollegi in Rieti und Città di Castello mit ihrem Unterricht. Bei der Musikakademie handelte es sich um ein Konservatorium, das Mädchen ab dem 10. Lebensjahr aufnahm. Zuvor war in dem Gebäude auf dem Aventin (Castello dei Cesari) eines der römischen Erzieherinnencollegi untergebracht, das nun seine Tätigkeit einstellte, sodass nur noch das Collegio in Rom-Montesacro Erzieherinnen ausbildete. Die Aspiranten (Bewerberalter: zwölf bis 15) des Führungskräftecollegio in Città di Castello, das die zukünftigen Verwaltungsfachkräfte hervorbringen sollte, hatten die Möglichkeit, eine Mittelschule und eine Handelsschule zu besuchen. Die maximal 15-jährigen Führungskräfteaspiranten in Rieti konnten hingegen einen Industrieschulabschluss absolvieren. Wie bereits ein Jahr zuvor, sandte das Generalkommando auch in diesem Jahr wiederholt Telegramme an die Provinzkommandos mit der Bitte, unter den Mitgliedern noch stärker für die neuen Collegi Propaganda zu betreiben und die Karrierevorzüge dieser Institutionen hervorzuheben. Während es sowohl für die „etablierten“ Collegi in Venedig, Forlì, Sabaudia und Bozen als auch für die Kriegswaisencollegi in Turin und Lecce und das neu eröffnete Führungskräfte collegio in Rieti in dem Schuljahr mehr Bewerbungen als Plätze gab,309 waren es insbesondere wieder die Stellen in den Collegi für Mädchen, die auf wenig Inte resse stießen. So hieß es in einem Telegramm: 307 Vgl.
PNF/GIL, Foglio di comunicazioni n. 13, 27. 5. 1942, in: ACS, PNF, DN, SV, S II, b. 251. 308 Vgl. Attività delle accademie e collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 12. 1942, S. 128. 309 Vgl. Telegramm des Comando generale an GIL Regno, 27. 8. 1942, in: Bollettino GIL, 15. 10. 1942, 2° supplemento, S. 143; Vice Comandante Generale GIL an Segreteria Particolare del Duce, 23. 3. 1943, in: ACS, SPD, CO, b. 2185, f. 541.892.
2. Umstrukturierung, Neuausrichtung und Neueröffnung der Collegi 157 „Unser weibliches Aushilfspersonal in Besitz eines Lehrdiploms und max. 30 Jahre alt mit dem Wunsch, die Karriereaussichten zu verbessern und in der GIL eine Festanstellung zu erhalten, kann einjährigen Kurs im Erzieherinnencollegio absolvieren. Es wird eine kostenlose Aufnahme gewährt. Bitte um dringende Mitteilung der Namen und sofortige Einreichung der Bewerbung.“310
Insgesamt lässt sich konstatieren, dass die groß angekündigte Kriegswaiseninitiative des Jahres 1942/1943 mit gerade einmal vier Neueröffnungen reichlich moderat ausfiel. Interessant ist diese Feststellung vor allem vor dem Hintergrund, dass die staatliche Industrieholding IRI (Istituto per la Ricostruzione Industriale – Institut für industriellen Wiederaufbau) im Mai 1942 von Mussolini aufgefordert wurde, die industriell ausgerichteten Kriegswaisencollegi finanziell zu unterstützen. So wäre ein stärkerer Fokus auf die Institutionalisierung dieser Einrichtungen zu erwarten gewesen. Letztlich konnte der IRI nur dem bereits 1941 gegründeten Kriegswaisencollegio in Lecce finanziell unter die Arme greifen, dessen Geschichte nun beispielhaft für die Spätgründungen nachgezeichnet werden soll.
Das Collegio per Orfani della Guerra in Lecce Wie bereits mit den anderen Collegi verfolgte die GIL mit dem Kriegswaisencollegio in Lecce als oberstes Ziel die Formung des „neuen Italieners“. Im Reglement des Collegios heißt es ausführlich zu den „Allgemeinen Pflichten des Schülers“: „Der Schüler des Collegio Fiorini muss in jedem Moment stolz sein, einer Institution des Regimes anzugehören, die vom DUCE gewollt war, um die Helden zu ehren, die ihr L eben für die Größe des Vaterlandes gaben. Nicht aus Gründen der Fürsorge, sondern um die neuen Generationen des Liktorenbündels auf Kommandostellen und verantwortungsvolle Posten vorzubereiten, hat die GIL ihre Collegi gegründet: In ihnen werden die Kinder der Gefallenen als verdienstvolle Kinder des faschistischen Vaterlandes aufgenommen. Ziel der Collegi ist es, die faschistische Erziehung ganz und gar zu realisieren, in dem Sinne, dass der Mensch allumfassend geformt wird: also eine Verbindung von körperlicher, beruflicher, kriegerischer, moralischer, intellektueller, spiritueller und politischer Erziehung. Aus ihnen muss der neue Italiener Mussolinis hervorgehen, gesund, robust, belastbar, das bequeme Leben verachtend, in permanentem Kampf, um sich und die anderen auf eine höhere moralische Stufe zu heben, loyal, mutig, großzügig, uneigennützig, fest an die hohen Ideale glaubend, die die Völker und die Menschheit immer vorangebracht haben; arbeitsfreudig, mit dem Bewußtsein, dass die Arbeit der einzige wahre Wert ist, um im Leben voranzukommen, eine starke selbstbewußte Persönlichkeit mit stark ausgeprägtem Ehrgefühl, intelligent und willensstark, bewußt diszipliniert, da er weiß, dass nur Diszi plin und Ordnung kollektives Leben ermöglichen und nur dann können Völker große Dinge schaffen; fest an das Genie des Duce glaubend, der durch tausend gewonnene Schlachten Italien von Demut zur Macht, von Verunglimpfung zu einer führenden Macht unter den Völkern gebracht hat, stolz darauf, Italiener zu sein und stolz darauf, in dieser Ära zu leben, in der durch Kämpfe und Opfer das Licht der Zivilisation nach Italien zurückgebracht wird.“311
310 Telegramm
des Comando generale an Comandanti federali GIL Regno, 27. 8. 1942, in: Bollettino GIL, 15. 10. 1942, 2° supplemento, S. 143. Vgl. darüber hinaus: Telegramm des Comando generale an Ispettrici Federali GIL Regno, 27. 8. 1942, in: Ebenda. 311 Siehe das unpaginierte und undatierte Reglement des Collegios Lecce, in: ASLe, Prefettura, Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455.
158 III. Die Geschichte der Collegi Dabei wurde den hier aufgenommenen Kindern, die den schmerzlichen Verlust eines nahen Angehörigen verkraften mussten, auf besonders perfide Art abverlangt, sich ihres gefallenen Familienmitgliedes als würdig zu erweisen. Unter dem Deckmantel der Wohltätigkeit wurde ihre psychische Fragilität instrumentalisiert und Rache geschürt, um sie zu überzeugten faschistischen mussolinigläubigen Kämpfern zu formen. Ein Aufruf an die Kollegiaten von Lecce enthielt die Mahnung: „Erinnere dich, dass dein Vater gestorben ist, um gegen die angelsächsische Hybris zu kämpfen, die dein Land in ewiger Knechtschaft halten wollte und gegen den bolschewistischen Wahnsinn, der ganz Europa verrohen wollte. Erinnere dich, dass er nicht nur einmal, sondern hunderte Male sein Leben gegeben hätte, um mit seinem Opfer seinen Beitrag zu leisten, dass Italien seinen Platz in der Welt erhält. Erinnere dich, dass er sein Leben auch für dich geopfert hat, damit du in einer besseren Welt lebst, in der Vaterlandsliebe, Aufrichtigkeit, Mut und Selbstlosigkeit gewohnheitsmäßige Lebensgrundsätze sind. Erinnere dich, dass er in den letzten Momenten seines Lebens, fallend an der Feindesfront, an dich gedacht hat und dich segnete, weil du dich durch sein Opfer ernähren wirst und so aufwachsen wirst, wie er es für dich erträumte. Erinnere dich, dass der DUCE dich im Namen des Opfers deines Vaters in dieser großartigen Institution aufgenommen hat und dich als Lieblingssohn der Revolution aufwachsen und erziehen lässt. Deine Aufgabe ist es, hier jeden Tag deinen Körper, deinen Geist und deinen Intellekt mithilfe der liebevollen Unterstützung der Oberen zu verbessern. Mit diesem festen Willen, inspiriert am erhabenen Vorbild deines Vaters und des Ideals der faschistischen Revolution, nimmst du dir vor, jeden Tag ein würdigerer Sohn eines Helden und ein würdiger Italiener Mussolinis zu sein.“312
Die kleinen Waisenjungen, die in dem Collegio ab dem 9. Lebensjahr Aufnahme fanden, besuchten zunächst die Volksschule und daran anschließend die Industrieschule, um sich durch die ihnen zuteil werdende sportlich-militärisch-politische Erziehung in „neue Menschen“ zu wandeln. Später sollten sie als Adjutanten „in den kleinen Komunen die Kontinuität und die Entwicklung der Aktivitäten und das Funktionieren der GIL und der Institutionen des PNF gewährleisten“.313 Tatsächlich blieb das 1941 eröffnete und 1942 eingeweihte Collegio im süditalienischen Apulien jedoch ein Provisorium. Bis zur Absetzung Mussolinis im Sommer 1943 und darüber hinaus arbeitete es behelfsmäßig, da weder die Bauarbeiten am Gebäude noch die mangelhafte Ausstattung, noch das ständig wechselnde männliche Personal während der Kriegszeit eine kontinuierliche Arbeit zuließen. Bessere Ausgangsbedingungen hatte offensichtlich das gleichzeitig entstehende Kriegswaienscollegio in Turin, das seine Tätigkeit in einem funktionstüchtigen Gebäude einer ehemaligen Kinderkolonie für 700 bis 800 Kinder314 aufnahm. 312 Ricordati,
allievo!, in: Collegio „M.O. Aldo Fiorini“ per orfani di guerra, Lecce, supplemento al n. 24 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 21. 10. 1942, s. p. 313 PNF/GIL, Collegio „M.O. Aldo Fiorini“ per Orfani di Guerra, Bando di Concorso per l’ammissione al Collegio per l’anno scolastico 1941–42, in: ASLe, GIL, b. 4. 314 Langen an AA, 12. 4. 1939, in: PA AA, Botschaft Rom Quirinal, 1373; La „3 gennaio“ trasformata in collegio per gli orfani di guerra, in: La Stampa, 6. 9. 1941, S. 4; L. Ferroglio, Colonia Elioterapica „3 gennaio“ a Torino, in: Architettura italiana 31 (1936), 7, S. 145–161.
2. Umstrukturierung, Neuausrichtung und Neueröffnung der Collegi 159
Für das nach dem ehemaligen Farnesina-Absolventen und Kriegsgefallenen benannte Kriegswaisencollegio „M.O. Aldo Fiorini“315 in Lecce wurde auf ein bestehendes Gebäude zurückgegriffen, das jedoch erst in weiten Teilen umgebaut werden musste. Für die Umbauten des Collegios zeichnete der Architekt Cino Pennisi verantwortlich, den mit Luigi Moretti, dem GIL-Chefarchitekten, schon eine jahrelange Freundschaft und ein vertrauensvolles Arbeitsverhältnis verband.316 Auch bei diesem Objekt scheint die GIL der gängigen Praxis gefolgt zu sein, Grundstücke zu okkupieren, ohne je den vereinbarten Kaufpreis zu zahlen und damit rechtmäßige Eigentümerin zu werden. In dem Fall betrug der damalige Wert 1,5 Millionen Lire für Grundstück und Gebäude, der jedoch nie beglichen wurde,317 wie ein Schreiben aus dem Jahre 1944 deutlich macht: „Das Gebäude wurde an die ex GIL durch das Antituberkulosekonsorzium der Provinz im Jahre 1940 verkauft und obwohl es einen durch die Behörde genehmigten Kaufbeschluss gab, folgte aufgrund der Eile, mit der der Parteisekretär der Provinz das Collegio zu besetzen und zu eröffnen gedachte, nie die Überschreibung des Eigentums. Jetzt fordert das Antituberkulosezentrum der Provinz entweder die Aktualisierung des Preises, der nie bezahlt wurde oder die Rückgabe des Eigentums. Schließlich veranlasste das GIL-Generalkommando einige Erweiterungsbauten des Collegios, die im Juli 1943 eingestellt wurden und die Firmen auf den Rechnungen sitzen blieben. Von diesen Praktiken ist dem Collegio nichts bekannt, da alles direkt im GIL-Generalkommando bearbeitet wurde.“318
Das Collegio, das sich auf der Landstraße zwischen Lecce und Monteroni/Arne sano befand, war sehr abgeschieden und aus dem Grund nur sehr mühsam mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. Der unattraktive Standort verschärfte die ohnehin während des Krieges schwierige Personal- und Schülerrekrutierung. Dass die Aspiranten nach der Prüfung ihrer Bewerbung zu den jeweiligen Collegi fahren mussten, um sich der sportlich-medizinischen Eignungsprüfung zu unterziehen, mag auch einige Witwen von der Anmeldung ihres Kindes abgehalten haben. Welche Witwe ließ ihr Kind allein während des Krieges durch Italien reisen oder nahm die Kosten und Strapazen auf sich, um es in einem Collegio vorzustellen, ohne zu dem Zeitpunkt gewiss sein zu können, dass es überhaupt aufgenommen werden würde? Auch aufgrund eines solchen Hindernisses besuchten das Collegio, das im Oktober 1941 seine Tätigkeit startete und 120 Kriegswaisen einen Platz bieten konnte, Mitte November 1941 lediglich 30 Schüler.319 315 Aldo
Fiorini wurde 1916 in Ancona geboren und fiel 1940 in Albanien. Zuvor hatte er sich an der Accademia di Educazione Fisica in Rom diplomiert. Posthum zeichnete man ihn mit der Goldmedaille aus. Vgl. Il nuovo anno accademico della G.I.L. inaugurato alla presenza del segretario del partito, in: GdL, 1. 12. 1941, S. 103; Cronache della G.I.L., in: Problemi della Gioventù 2 (1941/1942), 3–4, S. 99. 316 Vgl. Bucci/Mulazzani, Luigi Moretti, S. 213, 217. 317 Vgl. Del Collegio Fiorini, in: Il Tribuno salentino, 23. 8. 1944, S. 1. 318 Prefettura di Lecce an Commissario Nazionale della Gioventù Italiana, 2. 6. 1944, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Personale, pratiche, varie, Collegi – Asili, b. 1162, f. Collegio Fiorini Lecce. 319 Vgl. Telegramm von Comandante Marelli an Generalgil, Rom, 12. 11. 1941, in: ASLe, Commissariato Provinciale per la Gioventù Italiana (künftig: Com. Prov. G.I.), b. cartelle allievi lettera B (3), f. Barricella, Alfonso Mario. Mitte Dezember 1941 waren dann 120 Schüler anwesend, vgl. Gli allievi presenti ed in arrivo, 19. 12. 1941, in: ASLe, Com. Prov. G.I., b. cartelle allievi lettera F (19), f. Foti, Domenico.
160 III. Die Geschichte der Collegi Unzufriedenstellend waren letztlich offensichtlich auch die Leistungen der a usgewählten Schüler, wie ein Bericht über das erste Schuljahr nahelegt. Dieser konstatierte am Ende des Schuljahres, dass nun die Bildungslücken geschlossen worden seien und man im zweiten Schuljahr mit der Arbeit am Intellekt beginnen könne.320 Doch nicht nur den Schülern fehlte es an Grundlagen, auch dem Gebäude mangelte es an Basisausstattung, wie etwa einer Heizung, woran sich während des Krieges auch nichts änderte.321 Und auch die entsprechenden Ge rätschaften für die Industrieausbildung waren in Anbetracht des Krieges nicht zu beschaffen, sodass man die Schüler kurz vor Ende des 1. Schuljahres zu einem einmonatigen Kurs in das Collegio von Sabaudia schickte, um sie dort die praktischen Übungen durchführen zu lassen.322 Trotz der Defizite konnte das Collegio im zweiten Schuljahr voll besetzt werden. Einerseits wurde das Collegio mit Schülern aus Sabaudia und Turin auf gefüllt.323 Eltern, deren Kinder in Turin untergebracht waren, stellte man vor vollendete Tatsachen: Sie erfuhren, dass ihre Kinder mitten im Krieg von Norden nach Süden verbracht werden sollten, und hatten keine Möglichkeit, gegen diese durch das Generalkommando angeordnete Versetzung zu intervenieren.324 Andererseits gingen tatsächlich so viele Bewerbungen für das Schuljahr 1942/1943 ein, dass das Generalkommando die Regionalstellen anwies, die Aspiranten auf die anderen Collegi aufmerksam zu machen, für die weniger Bewerbungen eingegangen waren.325 Zur Stärkung der Waisencollegi der GIL unternahm Mussolini eine wesentliche Initiative:326 Um Kriegswaisen kostenlos in den Collegi auf dem Industriesektor ausbilden zu lassen, das duale Ausbildungssystem zu etablieren und die Industrialisierung des Landes voranzutreiben, verfügte Mussolini im Mai 1942, dass die 320 Vgl.
Il primo anno di lavoro del collegio, in: Collegio „M.O. Aldo Fiorini“ per orfani di guerra, Lecce, supplemento al n. 18 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 21. 7. 1942, S. 3. 321 Comandante Bruno Marelli an Assunta Garofalo-Bellini, 3. 2. 1942, in: ASLe, Com. Prov. G.I., b. cartelle allievi lettera B (4), f. Bellini, Nicola. 322 Il primo anno di lavoro del collegio, in: Collegio „M.O. Aldo Fiorini“ per orfani di guerra, Lecce, supplemento al n. 18 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 21. 7. 1942, S. 3. 323 Vgl. Comandante Bruno Marelli an Giuseppe De Leonardis, 4. 2. 1943, in: ASLe, Com. Prov. G.I., b. cartelle allievi lettera D (13), f. De Leonardis, Umberto; Collegio 3 gennaio della GIL per orfani di guerra. Torino, Lettera circolare N. 13, 13. 8. 1942, in: ASLe, Com. Prov. G.I., b. cartelle allievi lettera F (19), f. Forgione, Amerigo; Comandante Bruno Marelli an Felice Siena, 12. 3. 1942, in: ASLe, Com. Prov. G.I., b. cartelle allievi lettera S (39), f. Siena, Luigi. 324 Vgl. Teresa Valvo an Direzione del Collegio „3 gennaio“, s. d., in: ASLe, Com. Prov. G.I., b. cartelle allievi lettera U-V (42), f. Valvo, Giovanni. 325 Vgl. Telegramm des Comando generale an GIL Regno, 27. 8. 1942, in: Bollettino GIL, 15. 10. 1942, 2° supplemento, S. 143. 326 Dem vorangegangen war bereits ein Zusammentreffen Mussolinis mit Oddone Fantini, dem Präsidenten des Istituto centrale delle Banche popolari italiane, der Mussolini 200 000 Lire zur Verfügung stellte, wovon dieser 160 000 Lire für die Collegi von Kriegswaisen verwenden wollte. Vgl. Dichiarazioni sulla politica dei prezzi, 26. 3. 1942, in: OO, Bd. XXXI, S. 28 f., hier S. 28, Anm.
2. Umstrukturierung, Neuausrichtung und Neueröffnung der Collegi 161
staatliche Industrieholding IRI die angesichts des Krieges und der Kriegsausgaben horrende Summe von 100 Millionen Lire (rund 13 Mill. Reichsmark) für diese Ziele zur Verfügung stellen sollte.327 Die Hintergründe dieser Anweisung liegen aufgrund der fehlenden Dokumente vonseiten der Partei im Dunkeln. In der sechsbändigen „Geschichte des IRI“ findet sich zudem kein Verweis auf diese Übereinkunft zwischen GIL und IRI.328 Der den Zeitraum bearbeitende Historiker, Gian Luca Podestà, teilte auf Anfrage lediglich mit, dass es auch mit anderen Schulen – auch in der Nachkriegszeit – ähnliche Vereinbarungen gegeben habe.329 Da diese Projekte während des Faschismus weiterhin unerforscht sind, ist es derzeit nicht möglich, den Fall des Kriegswaisencollegios in Lecce in Relation zu setzen. Rein hypothetisch ist die Annahme, dass Renato Ricci, ehemaliger ONB-Jugendführer und nun Korporationsminister, Interesse daran gehabt haben könnte, die Collegi mithilfe des IRI finanziell zu stärken und diesen für „soziale Belange“ einzuspannen. Die Industrieausbildung der Kriegswaisen sollte in Zusammenarbeit von Erziehungsministerium, GIL und IRI realisiert werden. Die Aufgabenverteilung sah vor, dass die GIL die Institute führen, die IRI die Industrieausrüstung und die kostenlosen Schulstellen zur Verfügung stellen sowie die Verbindung zwischen Firmen und Schulen herstellen und das Erziehungsministerium die Lehrer entsenden sollte. Nach kriegsbedingten Problemen bei der Standortwahl330 entschied man sich schließlich, das seit 1941 bestehende Collegio in Lecce mit den nötigen Apparaturen auszustatten und perspektivisch 320 Waisenkinder auf ihre Zukunft in der Industrie vorzubereiten.331 Die Schüler sollten innerhalb von fünf Jahren, d. h. nach drei Jahren Berufsvorbereitung und zwei Jahren Berufsschule, zum Facharbeiter ausgebildet werden. Den Besten stellte man sogar einen Ingenieursabschluss in Aussicht.332 Um seine Aufgaben zu erfüllen, arbeitete der IRI mit dem ihm eingegliederten Automobilhersteller Alfa Romeo zusammen sowie mit 327 Vgl.
Il potenziamento dell’IRI nell’annuale relazione al Duce, in: Il lavoro, 27. 5. 1942 (ACS, IRI NERA, ISP-85, f. 7.2.5.12). Der offizielle Umrechnungskurs Lira-Reichsmark betrug 1942 7,6 Lire = 1 RM, vgl. Amtsblatt des Reichspostministeriums, Nr. 101, 6. 11. 1942, S. 771. 328 Vgl. Gian Luca Podestà, Nella Guerra, in: Valerio Castronovo (Hrsg.), Storia dell’IRI. 1. Dalle origini al dopoguerra 1933–1948, Rom/Bari 2011, S. 455–518. In dem Unterkapitel 2 „L’IRI dal 10 giugno 1940 all’8 settembre 1943“ (S. 472–488) bleibt die Anweisung Mussolinis vom Mai 1942 unerwähnt. In dem Unterkapitel 4.3 „I corsi di preparazione alle carriere industriali“ (S. 454) des Aufsatzes von Gian Luca Podestà, Nell’economia fascista: autarchia, colonie, riarmo, in: Ebenda, S. 421–454, findet sich lediglich der Hinweis, dass in einem IRI-Statut des Jahres 1937 festgelegt wurde, 10 Prozent des Gewinnes in einen Fonds fließen zu lassen, durch den dann begabte Jugendliche finanziell in ihrer Vorbereitung für die Industrie unterstützt werden sollten. Konkrete Zahlen zu den folgenden Jahren fehlen jedoch. 329 Vgl. die Korrespondenz mit Gian Luca Podestà, 28. 9. 2016, in: AdV. 330 In Frage kamen zunächst Mailand, Genua und Neapel als Standorte des IRI, sie wurden dann aber aufgrund der Luftangriffe verworfen. Vgl. Scuola di avviamento professionale per orfani di guerra, 21. 7. 1943, in: ACS, IRI NERA, ISP-85, f. 7.2.1.4. 331 Vgl. Convenzione, premesso f, g, s. d., in: ACS, IRI NERA, ISP-85, f. 7.2.1.2. 332 Vgl. Scuola di avviamento professionale per orfani di guerra, 21. 7. 1943, in: ACS, IRI NERA, ISP-85, f. 7.2.1.4.
162 III. Die Geschichte der Collegi dem Ministerium für Kriegsproduktion.333 Im Mai 1943 besichtigte der Schulbuchautor und Alfa-Romeo-Mitarbeiter Ramiro Morucci im Auftrag des IRI das Collegio in Lecce. In dem Bericht beschreibt er den Kenntnisstand der Schüler als sehr niedrig und die Ausstattung für den technischen Unterricht als unzu reichend, sodass umgehend Anschaffungen nötig waren und Personal von Alfa Romeo gestellt werden sollte, um das Niveau der Schule zu heben:334 „Die Schüler von Lecce bleiben weiterhin untätig, nicht nur wegen der Unmöglichkeit an Maschinen praktisch tätig zu werden, sondern auch wegen des Mangels ausgebildeter Lehrer, denen wir unsere genauen Anweisungen geben könnten.“335 Darüber hi naus mussten einige Gebäude noch fertiggestellt werden, ehe die Technik überhaupt genutzt werden konnte.336 Der IRI bemühte sich in der Folgezeit um die Verbesserung der Zustände innerhalb des Collegios, indem er Lehrer entsandte und Ausbildungsmaterial stellte. Doch auch der IRI zeigte sich – ähnlich wie die Streitkräfte – unzufrieden über die Zusammenarbeit mit der GIL und hätte es bevorzugt, ein eigenes Konvikt zur Nachwuchsförderung ohne Einflussnahme der GIL aufzubauen.337 Nichtsdestotrotz wollte sich der IRI auch an einem für Rieti angekündigten Kriegswaisencollegio der GIL mit industrieller Ausrichtung beteiligen.338 Aber auch dieses Projekt fand keine Realisierung mehr, da Mussolini wenige Tage nach der Formulierung des Gedankens abgesetzt wurde.
3. Weiterführung, Umzug, Schließung: die Collegi von der Absetzung Mussolinis bis zum Kriegsende 1945 Die Werbebroschüren für nicht weniger als fünf Akademien und 18 Collegi für das im Oktober beginnende Schuljahr 1943/1944 waren bereits gedruckt und verteilt,339 als Mussolini in der Nacht vom 24. zum 25. Juli 1943 überraschend eine Abstimmung im Großen Faschistischen Rat verlor und daraufhin durch den König abgesetzt wurde. Da sich seine Absetzung während der Sommerferien ereignete, befand sich ein Großteil der Kollegiaten bei ihren Familien.340 Einige Schüler des venezianischen Marinecollegios weilten hingegen gerade auf Aus 333 Vgl.
Francesco Giordani, Präsident IRI, an General Carlo Favagrossa, Minister für Kriegsproduktion, 8. 4. 1943, in: ACS, IRI NERA, ISP-85, f. 7.2.1.2. 334 Vgl. Brief Ramiro Morucci an Pasquale Saraceno, IRI, 26. 5. 1943, in: Ebenda. 335 Vgl. Pasquale Saraceno an Ramiro Morucci, 23. 3. 1943, in: Ebenda. 336 Vgl. Pasquale Saraceno an Ramiro Morucci, 2. 4. 1943, in: Ebenda. Siehe das endgültige Projekt: Il progetto definitivo, in: Collegio „M.O. Aldo Fiorini“ per orfani di guerra, L ecce, supplemento al n. 24 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 21. 10. 1942, S. 4 f. 337 Vgl. Scuola di avviamento professionale per orfani di guerra, 21. 7. 1943, in: ACS, IRI NERA, ISP-85, f. 7.2.1.4. 338 Le iniziative dell’IRI per la formazione professionale di orfani di guerra da avviarsi all’attività industriale, 15. 7. 1943, in: Ebenda. 339 Darin finden sich keine Ausschreibungen mehr für die Collegi in Udine, Orvieto und Turin. Vgl. PNF/GIL, Accademie e collegi della G.I.L., Ammissioni anno XXI-XXII. Concorsi borse di studio anno XXI-XXII, Rom 1943. 340 Vgl. Alberto Rea, L’Accademia Aeronautica. Cronistoria dalle origini al 1975, Rom 1977, S. 153; Angela Teja, Elisa Lombardi, „comandante“, in: Santuccio (Hrsg.), Case e il foro, S. 42–46, hier S. 44.
3. Weiterführung, Umzug, Schließung 163
bildungsschifffahrt an der istrischen Küste.341 Nur wenige Jugendliche ohne Familienangehörige in der näheren Umgebung oder dem nötigen Geld für eine Zugfahrkarte hielten sich in den Collegi auf, als sie von den sich überschlagenden Ereignissen erfuhren. Wie sollte es nun mit ihren Collegi weitergehen? Wenige Tage nach der Absetzung Mussolinis trat das Gesetz zur Auflösung des PNF in Kraft und die Aufgaben der GIL sollten dem Kriegs- und dem Erziehungsministerium übertragen werden (Art. 6).342 Die GIL selbst wurde vorerst nicht aufgelöst. Begründet wurde dies damit, dass die Jugendorganisation eine Reihe an Aufgaben übernommen hatte, die bereits zuvor bestanden, wie etwa der Sportunterricht oder Fürsorgeangebote für Schüler. Diese sollten nun geordnet von der GIL auf die zuständigen Ministerien rückübertragen werden.343 Um den Übergang durchzuführen und „die Vermögenswerte und Schulden der GIL aufzuschlüsseln“, schuf die Regierung Badoglio ein Außerordentliches Kommissariat der Italienischen Jugend (Commissariato straordinario della Gioventù Italiana (GI)) unter der Leitung von Giovanni De Benedetti.344 Zu den Tätigkeitsfeldern der GI gehörte auch die Weiterführung der Collegi unter dem „Aspekt der Fürsorge“,345 sodass der außerordentliche Kommissar am 18. August 1943 verfügte, die Bewerbungen für die Akademien und Collegi weiter zu sammeln und an die zuständigen Institutionen weiterzuleiten.346 Zugleich begann man mit der Aufteilung der Collegi.347 Das Nationale Erziehungsministerium sollte die Collegi erhalten, deren Aufgabe in der Ausbildung zukünftiger Lehrer bestand, wohingegen die drei Militärministerien (Krieg, Marine, Luftfahrt) Anspruch auf ihre Ausbildungsinstitute mit militärischem Schwerpunkt erhoben. Mit der Verkündung des Waffenstillstandes am 8. September 1943, der Flucht des Königs und der Regierung Badoglio in den durch die Alliierten besetzten Süden des Landes sowie der Errichtung der Faschistischen Sozialrepublik (RSI) Ende September 1943 und der Schaffung von Sonderverwaltungsgebieten wie der „Operationszone Alpenvorland“ wurde die Situation auch für die Collegi immer chaotischer. Einen Tag nach der offiziellen Gründung der RSI, am 24. September 341 Vgl.
Bembo, Collegio navale della G.I.L. ed il periodo delle scuole, S. 82; Erinnerungen Ulrico Guerrieris (Venedig 1940–1943), 15. 11. 2012, http://www.guerrieriulrico.it/ sogni_nel_cassetto.php#gilvenezia [29. 5. 2017]. 342 Vgl. Regio Decreto Legge, Nr. 704, 2. 8. 1943, Soppressione del Partito nazionale fascista, in: GU, Nr. 180, 5. 8. 1943. 343 Vgl. Headquarters Allied Commission, Education Subcommission an Ministro della Pubblica Istruzione, 3. 3. 1945, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1944–45, b. 75, f. Gioventù Italiana – Corpo Nazionale Giovani Esploratori Italiani. 344 Attività amministrativa relativa al personale dipendente dalla ex Gioventù Italiana del Littorio, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Personale – Relazioni sull’atti vità svolta an. 44/46-51, b. 1173, f. Ufficio del Personale, I° copia, relazione sull’attività svolta dal 12 dic. ’44 al 31 dic. ’46. 345 Vgl. Commissariato Nazionale della Gioventù Italiana, Competenze nei riguardi dei beni ex „gil“, 16. 1. 1945, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1944–45, b. 75, f. Gioventù Italiana – Corpo Nazionale Giovani Esploratori Italiani. 346 Vgl. Commissario straordinario per la Gioventù Italiana, Circolare N. 3, 18. 8. 1943, in: ASLe, GIL, b. 4. 347 Vgl. Ministro di Educazione Nazionale an Presidenza del Consiglio dei Ministri, 13. 8. 1943, in: ACS, PCM, 1940–1943, b. 2668, f. 1.1.15.3500.
164 III. Die Geschichte der Collegi 1943, wurde Renato Ricci, der ehemalige Präsident der Opera Nazionale Balilla und Ideengeber der Collegi, zum neuen Führer der Gioventù Italiana del Littorio ernannt. Seine erste Amtshandlung bestand in der Rückbenennung der Jugend organisation in Opera Balilla (OB). Ricci führte seine OB bis zum Untergang der RSI und suchte die Tätigkeit der Collegi durch zahlreiche Verlegungen bis zum Ende aufrechtzuerhalten. Die Arbeit der GI kam hingegen nach der Flucht ihrer Führungspersonen in den Süden fast zum Erliegen und legte erst mit dem Dekret des Regierungschefs vom 6. Mai 1944 im befreiten Gebiet in Salerno wieder an Intensität zu.348 Infolge der Befreiung Roms durch die Alliierten im Juni 1944 zog die Regierung zurück in die Hauptstadt, wo die GI im August 1944 offiziell wieder gegründet wurde. Geführt werden sollte sie durch den Nationalkommissar Giorgio Candeloro und dessen Vizekommissare Luigi Chatrian (Vertreter des Kriegsministeriums) und Cesare Tallarico (Vertreter des Unterrichtsministeriums), die einen Monat später ihre Tätigkeit im Sitz des Unterrichtsministeriums aufnahmen.349 Aus diesen institutionellen Veränderungen und regionalen Unterschieden resultierten die heterogenen Entwicklungen der einzelnen Anstalten, die nun im Folgenden näher betrachtet werden.
Die Collegi in Nord- und Mittelitalien Nach der Verkündung des Waffenstillstandes und der Besetzung weiter Teile der italienischen Halbinsel durch die Wehrmacht wurden einige Anstalten geschlossen, andere konnten hingegen nach der Beschlagnahmung der Gebäude durch deutsche Truppen Ausweichgebäude beziehen und damit unter der Ägide der wiedergegründeten OB ihren Schulbetrieb beschränkt aufrechterhalten. Als erstes Collegio stellte das Luftwaffencollegio in Forlì seine Tätigkeit ein. Ausschlaggebend dafür war jedoch weder die Absetzung Mussolinis noch der Waffenstillstand, sondern der tobende Luftkrieg. Aufgrund der alliierten Luftangriffe musste die Luftwaffenakademie von Caserta ihr Gebäude verlassen und zog in das Gebäude des Collegio aeronautico. Bereits am 16. Juli 1943 – also noch neun Tage vor der Absetzung Mussolinis – erteilte der Parteisekretär Carlo Scorza seine Zusage, das Gebäude des Collegios in Forlì der Akademie zu übertragen.350 Da in den Sommerferien keine Schüler in dem Gebäude waren, zogen die Soldaten der Akademie im August 1943 dort ein.351 Ende des Monats informierte das Luftfahrtministerium dann die neugegründete Gioventù Italiana über die Unterbre348 Vgl.
Attività amministrativa relativa al personale dipendente dalla ex Gioventù Italiana del Littorio, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Personale – Relazioni sull’attività svolta an. 44/46-51, b. 1173, f. Ufficio del Personale, I° copia, relazione sull’attività svolta dal 12 dic. ’44 al 31 dic. ’46. 349 Vgl. Nomina del Commissario e di due vice commissari della Gioventù Italiana, 19. 8. 1944, in: ASLe, GIL, b. 24; Attività amministrativa relativa al personale dipendente dalla ex Gioventù Italiana del Littorio, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Personale – Relazioni sull’attività svolta an. 44/46-51, b. 1173, f. Ufficio del Personale, I° copia, relazione sull’attività svolta dal 12 dic. ’44 al 31 dic. ’46. 350 Vgl. Rea, Accademia Aeronautica, S. 150. 351 Vgl. ebenda, S. 153.
3. Weiterführung, Umzug, Schließung 165
chung der Tätigkeit des Luftwaffencollegios für die Dauer des Krieges aufgrund der Unmöglichkeit, beide Einrichtungen gleichzeitig in dem Gebäude unterzubringen.352 Nach der Waffenstillstandsverkündung wurden die Kadetten am 10. September 1943 aufgefordert, das Collegio in Zivilkleidung zu verlassen, um so der deutschen Kriegsgefangenschaft zu entgehen. Beim Verlassen des Gebäudes hätten sie alles entwendet, was nicht niet- und nagelfest war, wie die Questura anschließend in ihrem Bericht kritisierte.353 Einige Offiziere und Kadetten blieben jedoch bis zur Auflösung und Übernahme nach dem 25. September 1943 durch die Deutschen im Gebäude, die dort bis zur Befreiung Forlìs im November 1944 ein Militärkrankenhaus betrieben.354 Das Collegio in Bozen arbeitete bis zur Verkündung des Waffenstillstandes und wurde erst nach der Errichtung der „Operationszone Alpenvorland“ aufgelöst. Ein Zeitzeuge, dessen Mutter als Garderobenfrau in dem Collegio arbeitete, er innerte sich an wenige, vor allem albanische Schüler, die sich zu dem Zeitpunkt in dem Collegio befanden.355 In einem Bericht an den Obersten Kommissar für die „Operationszone Alpenvorland“ wird der Vorgang der Liquidation des Heeres collegios in Bozen minutiös – aber in krudem Deutsch – geschildert: „Dieses Institut wurde ebenfalls im Auftrag des G. [Gauleiters] von mir aufgelöst und erfolgte der Abtransport der militärischen Zöglinge und Offiziere laut Weisung unter Mitnahme der gesamten Lebensmittel und vielen Einrichtungsgegenstände nach Udine [Operationszone Adriatisches Küstenland]. Die reichliche Bekleidungskammer übernahm Gebietsführer Weber jedenfalls auch viele Einrichtungsgegenstände, und wurde dasselbe von der HJ abgeschleppt. Darauf erfolgte die Besetzung der Anstalt durch die Polizei nach einer Vereinbarung zwischen SS-Gruppenführer Wolf und dem letzten Leiter der Anstalt M. Delasega. Die Polizei führte alles Brauchbare fort und verweigerte mir, durch eine Wache den Eintritt. Sie gab dann das Gebäude nach vollständiger Ausplünderung mir wieder zurück. Teile der Zahnabteilung 6 die noch vorhanden waren, übernahm die Zahn station Mondschein Bozen. Zurückgelassen wurden 2 im Hofe stehende LKW und wurden dieselben der Provinzversorgung zugeführt und wurde der von mir hierfür erzielte Betrag von L 70 000 nach Abzug der Spesen weisungsgemäß an das Balillakommando nach Mailand durch Dr. Marello überwiesen. Bankeinlage liegt bei den Verrechnungen bei. Durch Bombentreffer inzwischen beschädigt, blieb das Gebäude mit den vielen Magazinen leer und besetzte hernach dasselbe die Organisation Todt!“356
Zwischenzeitlich wurde das Gebäude auch durch das Polizei-Regiment Bozen genutzt.357 Die wenigen Kollegiaten wurden schließlich, wie in dem Bericht ange352 Vgl.
Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto, an Commissariato straordinario per la Gioventù Italiana, 30. 8. 1943, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1943, b. 116, f. Collegio aeronautico di Forlì – Varie. 353 Vgl. R. Questura di Forlì an R. Prefettura di Forlì, Relazione mensile sulla situazione politica – economica, 1. 10. 1943, in: ASFo, Gabinetto Prefettura, b. 364, f. 20. 354 Vgl. Rea, Accademia Aeronautica, S. 154 f. 355 Interview mit Luciano Soffritti (Bozen 1942–1943), 17. 4. 2014, S. 1. 356 Toni Ruedl an Obersten Kommissar für die Operationszone Alpenvorland, Gesamtüberblick des Abschlusses G.I.L. Liquidation, 18. 9. 1944, in: Archivio provinciale Bolzano, Commissariato Gioventù Italiana, f. 260. 357 Vgl. Der Befehlshaber im Sicherungsgebiet Alpenvorland an Oberkommando der Heeresgruppe B, Aufstellung über Liegenschaften im Bereich des Sicherungsgebietes Alpenvorland, 14. 11. 1943, in: Bundesarchiv Militärarchiv, Freiburg i. Br. (künftig: BA-MA), RH 24-73/4, Bl. A 148.
166 III. Die Geschichte der Collegi deutet, in das Kriegswaisencollegio der OB nach Udine verbracht, welches schließlich – nach einem kurzen Zwischenstopp in Piano di Arta – in Laveno weiterarbeitete. Das venezianische358 Marinecollegio bestand bis April 1945 und war bis zur Auflösung wesentlichen institutionellen und örtlichen Veränderungen unterworfen. Im November 1943 legte der ehemalige Kommandant des Marinecollegios, Kapitän zur See Ugo Cosentini, einen dreiseitigen Bericht über die Ereignisse nach dem Sturz Mussolinis bis zu seiner Entlassung vor, die verdeutlichen sollten, dass der Betrieb innerhalb des Gebäudes unter seiner Ägide zunächst aufrechterhalten werden konnte: „Nach dem 25. Juli 1943 und dem Ende der GIL wurde diese durch die Außerordentliche Kommission der GI ersetzt, die vorschlug, die Collegi der GIL den verschiedenen Erziehungsinstanzen zu übergeben. Die Marinecollegi von Venedig und Brindisi hätten nach Vereinbarungen der Marine unterstehen und durch diese geführt werden müssen. Zu diesem Zeitpunkt verließen der 2. Kommandant, Erzieher der GIL, und die anderen Erzieher der GIL ihre Posten und wurden durch Reserveoffiziere der Marine ersetzt, die das Ma rineministerium zur Verfügung stellte. […] Trotz der Ereignisse, die sich nach diesem Datum [8. 9. 1943] ereigneten, blieb das ganze Personal unter meiner Ägide an seinem Platz und mit den gelegentlichen Vorsichtsmaßnahmen wurde die Disziplin und das Funktionieren des Collegios in keinster Weise gestört, sodass es all seine Aufgaben weiter führen konnte. […] Nachdem ich zum deutschen Besatzungskommando gerufen wurde, hätte ich mit zwei anderen Admirälen interniert werden müssen, aber nachdem ich meine besondere Aufgabe und das normale Funktionieren des Collegios geschildert hatte, in dem sich zu dem Zeitpunkt etwa 40 Schüler befanden, wurde ich unter der Auflage freigelassen, das Collegio und das Personal weiterzuführen. Ab dem 15. September wurden regulär die Wiederholungsprüfungen der Schüler durchgeführt, die bis zum 2. Oktober dauerten. In der Zwischenzeit besuchten einige deutsche Marineoffiziere das Collegio, um herauszufinden, ob sie einige der Räume für sich nutzen könnten.“359
Interessanterweise thematisiert dieser zeitnah entstandene Bericht keinen Abtransport von Kollegiaten durch die Deutschen nach dem Waffenstillstand, wie er durch die Erinnerungsnarrative der Resistenza behauptet wird. Diesen zufolge seien zunächst einige Kollegiaten nach dem Waffenstillstand aus dem Collegio geflohen und hätten beispielsweise Zuflucht bei der Brigade Osoppo im Friaul gefunden.360 Dazu schreibt die Historikerin Maria Teresa Sega: „Die anderen Schüler, diejenigen, denen es nicht gelungen war, zu fliehen, wurden im Auftrag der deutschen Besatzungstruppen für die Deportation zu Fuß und in Begleitung ihrer Kommandeure durch Venedig zum Bahnhof gebracht. Auf dem Weg dorthin gelang es vielen von ihnen, durch die Menschenmenge zu entkommen, dank der Hilfe der Venezianer, die ihnen die Wege zeigten, wo sie sich entlang schlängeln konnten oder die ihnen die Türen der Häuser öffneten usw. Auf dem Markt von San Leonardo stifteten die Frauen solche 358 Allgemein
zur Besatzung Venedigs zwischen 1943 und 1945 siehe Lutz Klinkhammer, L’occupazione tedesca nello spazio veneziano (1943–1945), in: Sabine Meine (Hrsg.), Spazi veneziani. Topografie culturali di una città, Rom/Venedig 2014, S. 213–247. 359 Ugo Cosentini an Ministero Marina, Gabinetto, 5. 11. 1943, in: AUSMM, Marina RSI, b. D, f. 13. 360 Vgl. Maria Teresa Sega/Alice De Perini, „L’idea antifascista è sempre idea di libertà“. La Resistenza di Maria Raicevich Zannier, in: Resistenza e futuro (2014), 1, S. 10 f., hier S. 10.
3. Weiterführung, Umzug, Schließung 167 Verwirrung, dass etwa zwanzig Menschen entkommen konnten. Einige wurden dann für mehrere Monate beherbergt und versteckt, bis sie einen Weg fanden, nach Hause zu gehen, einige blieben bis zum Ende des Krieges, einer heiratete eine Venezianerin und wurde Venezianer.“361
Es ist vielmehr zu vermuten, dass es sich bei dem Fußmarsch durch Venedig gar nicht um einen Abtransport gen Deutschland infolge des Waffenstillstandes handelte, sondern um die Verbringung der Kollegiaten in ein anderes Gebäude, da die Deutschen das Marinecollegio okkupierten. Der Bericht des ehemaligen Kommandanten fährt fort, dass in der Folgezeit Vereinbarungen mit der deutschen Kriegsmarine getroffen worden seien, sodass die Kriegsmarine einige Räumlichkeiten für sich hätte nutzen und parallel dazu 150 Schüler weiterhin in dem Collegio hätten verbleiben können. Nach dieser Übereinkunft habe sich der Kommandant sowohl an die OB im Norden als auch an das Außerordentliche Kommissariat der GI gewandt, um Anweisungen bezüglich der Neuaufnahmen für das Schuljahr 1943/1944 zu erhalten, jedoch ohne Erfolg. Auf Anordnung der OB-Leitung von Anfang Oktober 1943 musste Cosentini schließlich die Führung dem Farnesina-Absolventen Paolo Carboni übergeben, da Ricci darauf insistierte, dass das Marinecollegio in Venedig nunmehr wieder der OB unterstünde und die Angehörigen der Marine ihre Tätigkeit einzustellen hätten, was sie dann auch taten.362 In der Zwischenzeit besetzten die Deutschen immer weitere Gebäudeteile und vereitelten auch die Idee der OB, die faschistische Akademie für Leibeserziehung in das Collegio ziehen zu lassen. Seinen Bericht schloss Cosentini mit den Worten: „Es scheint, dass die faschistische Akademie aus Rom einen anderen Sitz wählen wird und wenn es möglich wird, die Räumlichkeiten des ehemaligen Marco Foscarini herzurichten, wird dort auch das Marinecollegio seine Tätigkeit aufnehmen, das bis heute eine geringfügige Zahl an Schülern besitzt.“363 Schließlich zogen weder die Farnesina noch das Marinecollegio in das ehemalige Gebäude des Foscarini, noch kehrten sie in das Gebäude des Marinecollegios zurück. Die deutsche Kriegsmarine okkupierte das Gebäude in Venedig bis Juli 1944, danach befanden sich darin nur noch Einheiten der RSI-Marine und der Decima Flottiglia Mas, die sich im Gegensatz zu den anderen Verbänden erst am 2. Mai 1945 den Engländern ergaben.364 Aufgrund der Besetzung durch die Militäreinheiten wich das Marinecollegio zunächst auf die 361 Schreiben Maria Teresa Segas, 15. 6. 2017, in: AdV. 362 Vgl. Renato Ricci an Ministero della Marina, 4. 10. 1943, in: AUSMM, Marina RSI, b. D,
f. 13.
363 Ugo Cosentini an Ministero Marina, Gabinetto, 5. 11. 1943, in: Ebenda. 364 Vgl. Renato Ricci an Sottosegretario di Stato della Marina Repubblicana,
4. 8. 1944, und Renato Ricci an Sottosegretariato di Stato per la Marina del Ministero delle FF.AA., 30. 10. 1944, in: Ebenda; Commissario Provinciale della Gioventù Italiana an Ufficio del Genio Civile, 28. 10. 1953, in: Archivio Generale della Giunta Regionale del Veneto, ExGIL, b. 61; Schreiben Fabio Masciadris (Venedig 1941–1943), s. d. [September 2012]. In der apologetischen Zeitschrift ACTA, der Fondazione RSI, wurde 2011 berichtet, dass auf dem Appellplatz des Marinecollegios in Venedig die letzte Flagge der RSI gehisst worden sei. Diese wurde schließlich eingezogen, zerschnitten und den Kämpfern der Marina Nazionale Repubblicana und der Decima Flottiglia Mas zur Erinnerung übergeben. Vgl. Ultimo ancoraggio a Venezia, in: ACTA XXV (2011), 3, S. 9.
168 III. Die Geschichte der Collegi Casa della Giovane Italiana in Padua aus, wo im Dezember 1943 der Internats betrieb mit knapp 100 Kollegiaten unter der Leitung ehemaliger Farnesina-Ab solventen wieder aufgenommen wurde.365 Laut Ricci beherbergte das Collegio Schüler aus Venedig, Brindisi und Forlì, bot weiterhin eine gymnasiale Ausrichtung und zielte vorrangig auf die „Charakterformung“.366 Nach Luftangriffen musste auch dieses Gebäude wieder verlassen werden, sodass sich das Collegio seit Mai 1944 kurzzeitig in einer Sommerkolonie in Albavilla (Como) und dann in der Casa del Balilla in Busto Arsizio befand, sowie schließlich von Oktober 1944 bis April 1945 in Saronno.367 Ähnlich häufige Umzüge konnten auch für die anderen, weiterhin bestehenden Akademien und Collegi rekonstruiert werden, die sich ab 1944 größtenteils in der Provinz Varese nordwestlich von Mailand befanden:
365 Vgl.
Il Collegio Navale nella nuova sede di Padova, in: CdS, 10./11. 12. 1943, S. 2; Opera Balilla, Relazione sul primo anno di attività, 24. 9. 1943–24. 9. 1944, in: ACS, SPD, RSI, CO, b. 23, f. 939, Bl. 046872; Regolamenti delle Accademie e Collegi dell’Opera Balilla per l’anno scolastico 1944–45, in: Bollettino dell’Opera Balilla, 15. 10. 1944, supplemento, S. 1–16, hier S. 8. Das Collegio führte Giuseppe Bandini bis Februar 1944, gefolgt von Dionisio Tardioli (bis April 1945). Vgl. Einlassung Paolo Carbonis, 16. 4. 1946, in: ACS, Ministero della Pubblica Istruzione (künftig: MPI), Ispettorato educazione fisica e sportiva, Fascicoli del personale insegnante epurato 1945–1947 (künftig: IEFS, FPIE), b. 8, f. Carboni, Paolo. 366 Vgl. Opera Balilla, Relazione sul primo anno di attività, 24. 9. 1943–24. 9. 1944, in: ACS, SPD, RSI, CO, b. 23, f. 939, Bl. 046872; Collegio Navale nella nuova sede di Padova, in: CdS, 10./11. 12. 1943, S. 2. 367 Vgl. Einlassung Dionisio Tardiolis, 5. 7. 1945, in: ACS, MPI, IEFS, FPIE, b. 41, f. Tardioli, Dionisio; Rektor Carlo Parri an Intendenza di Finanza, 26. 6. 1944, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Registri vari, Collegio Navale GIL, Venezia, b. 1354; Opera Balilla, Relazione sul primo anno di attività, 24. 9. 1943–24. 9. 1944, in: ACS, SPD, RSI, CO, b. 23, f. 939, Bl. 046872; Domenico Canti, Erklärung, 15. 5. 1945, in: ACS, MPI, IEFS, FPIE, b. 41, f. Tardioli, Dionisio.
k. A.
Vicenza
Padua
Udine
Bergamo
Vittorio Veneto
Accademia femminile
Accademia di M usica dell’Opera Balilla
Collegio navale Opera Balilla
rfani di Guerra Collegio per O Opera Balilla
Collegio Femminile per Orfane di Guerra Opera Balilla
Collegio Femminile Opera Balilla
Ursprung: Vittorio Veneto Umzug: Gemonio
–
Ursprung: Udine Umzug: Piano di Arta Aktuell: Laveno
Ursprung: Venedig Umzug: Padua, Albavilla Aktuell: Busto Arsizio
Ursprung: Rom Aktuell: Trissino
Ursprung: Orvieto Voraussichtlich: Castiglione Olona
Kein Kurs – Akademis ten sind alle anderweitig eingesetzt
Ende September 1944369
60 Schülerinnen (aus Collegi Vittorio Veneto, B ergamo, Florenz, Teramo, Orvieto und Musikakademie Rom)
–
250 Schüler (aus Collegi Udine, Rieti, Sabaudia, Bozen, [Turin])
k. A. (aus C ollegi Venedig, Brindisi, Forlì)
81 Schüler
Voraussichtlich reaktiviert SJ 1944/1945
–
Personale, Remo Silla Verin, 15. 3. 1946, in: ACS, MPI, IEFS, FPIE, b. 43, f. Verin, Remo Silla.
k. A.
–
k. A.
k. A.
k. A.
k. A.
k. A.
Vgl. Allegato Scheda
Gemonio
–
Laveno
k. A. (Saronno)
Torno
Castiglione Olona
Gemeinsam mit Collegio Littorio Gallarate371
9. November 1944370
368 Opera Balilla, Relazione sui primi quattro mesi di attività, 24. 9. 1943–24. 1. 1944, in: ACS, SPD, RSI, CO, b. 23, f. 939. 369 Opera Balilla, Relazione sul primo anno di attività, 24. 9. 1943–24. 9. 1944, in: Ebenda, Bl. 046872-046875. 370 Dislocazioni Accademie e Collegi dell’Opera Balilla, 9. 11. 1944, in: ACS, SPD, RSI, CO, b. 23, f. 939. 371 Hier soll sich zudem zwischen September 1944 bis mind. April 1945 ein Collegio „orfani di guerra e libici“ befunden haben.
Tabelle 1: Die Verteilung der Akademien und Collegi in Norditalien, 1944
60
31
202
92
40
k. A.
165
Vicenza
371
Accademia Fascista Opera Balilla (ex Farnesina)
370
Ende Januar 1944368
369
Einrichtung
368
3. Weiterführung, Umzug, Schließung 169
170 III. Die Geschichte der Collegi Trotz der zunehmenden Auflösungserscheinungen während des „Bürgerkrieges“ hielt Ricci an seinen Akademien und Collegi fest und übernahm noch zusätzlich die Waisencollegi der Miliz für männliche (160 Schüler in Cividale del Friuli) und weibliche Waisen (93 Schülerinnen in Luino).372 Noch im April 1945 forcierte er den Plan, ein Collegio Foscarini für Kriegswaisen in Venedig zu errichten.373 Für das Schuljahr 1944/1945 schrieb die OB in vier Institutionen Stellen aus, welche die Presse auch breit bewarb: Insgesamt sollten in den Akademien für Leibeserziehung für Männer, für Frauen, in der Musikakademie und dem Marine collegio 475 neue Schüler aufgenommen werden.374 Die insgesamt 165 zur Verfügung stehenden Stellen für das Marinecollegio wurden nicht einmal in Ansätzen besetzt,375 was jedoch nicht nur auf die Kriegssituation, sondern sicher auch auf die Kosten zurückzuführen war. Denn auch in der RSI fand der Faschismus nicht, wie gern behauptet wird, zu seinen sozialistischen Anfängen zurück: Die jährliche Gebühr für den Besuch des Marinecollegios sollte 6000 Lire betragen sowie 4500 Lire für die Kleidung. Auch wenn die Möglichkeit von Vollstipendien bestand, musste dennoch für die Kleidung aufgekommen werden, was es vielen Eltern unmöglich machte, ihre Kinder auf das Collegio zu schicken.376 Hatten sich die Parteisekretäre seit Starace und insbesondere Muti mit ihren Initiativen zur Stipendienvergabe zumindest in Ansätzen um eine soziale Heterogenität bemüht, zeigte sich unter Ricci wieder eine elitärere Ausrichtung. Betrachtet man die Kursbeschreibung im Vergleich mit der Kriegsrealität, so könnten die Unterschiede kaum offener zutage treten. In der Broschüre wurde tatsächlich noch das jährlich stattfindende Sommerlager beworben, an dem verdienstvolle Schüler teilnehmen durften, „um seemännische und sportliche Aktivitäten, Bäder im Meer und Besu372 Opera
Balilla, Relazione sul primo anno di attività, 24. 9. 1943–24. 9. 1944, in: ACS, SPD, RSI, CO, b. 23, f. 939, Bl. 046873. 373 Vgl. Allegato Scheda Personale, Remo Silla Verin, 15. 3. 1946, in: ACS, MPI, IEFS, FPIE, b. 43, f. Verin, Remo Silla. Tenente Verin (Jg. 1915) war im ersten Halbjahr 1944 Komandant der 2. Kompanie der Scuola Allievi Ufficiali GNR di Vicenza, so der neue Name der ehemaligen römischen Akademie für Leibeserziehung, unter der Führung von Giuseppe Bandini. Von September 1944 bis April 1945 arbeitete er in Gallarate im Collegio Orfani di guerra e libici, bis er den Auftrag erhielt, das in Venedig neu zu errichtende Waisencollegio Foscarini zu leiten. 374 Vgl. Normale svolgimento dei corsi nelle accademie e nei collegi dell’Opera Balilla per l’anno 1944–45, in: CdS, 22./23. 9. 1944, S. 2; Regolamenti delle Accademie e Collegi dell’Opera Balilla per l’anno scolastico 1944–45, in: Bollettino dell’Opera Balilla, supplemento, 15. 10. 1944. 375 Wenn man den vorhandenen Schülerakten Glauben schenken mag, wurden 78 Stellen besetzt: Es sind 41 Schülerakten für das liceo classico (Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Allievi, Liceo Classico, Collegio Navale, GIL, Venezia, 1944–1945, b. 1349) und 37 Schülerakten für das liceo scientifico überliefert (Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Allievi, Liceo Scientifico, Collegio Navale, GIL, Venezia, 1944–1945, b. 1350). In einem Schreiben an das örtliche Schulamt vom November 1944 gab der Rektor nur 61 Schüler an, vgl. Schreiben an den Provveditore agli Studi, Situazione Scuola, 29. 11. 1944, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Registri vari, Collegio Navale GIL, Venezia, b. 1354. 376 Regolamenti delle Accademie e Collegi dell’Opera Balilla per l’anno scolastico 1944–45, in: Bollettino dell’Opera Balilla, supplemento, 15. 10. 1944, S. 9 f.
3. Weiterführung, Umzug, Schließung 171
che von touristischen Attraktionen durchzuführen“.377 Tatsächlich war die Situation aufgrund des Krieges und der häufigen Umzüge mehr als prekär, sodass der reguläre Schulbetrieb nur mit äußersten Schwierigkeiten aufrechterhalten werden konnte. Es mangelte an ausreichend männlichem Lehrpersonal, sodass Stundenkürzungen die Regel waren, es fehlte an Schul- und Heizmaterial und auch an leistungsbereiten Schülern.378 So informierte der Rektor die Eltern etwa darüber, dass er „in dieser ungewissen Zeit hinsichtlich Ort, Zeit und Organisation keine Verantwortung für die Prüfungsvorbereitung übernehmen, noch die Arbeit der Lehrer in dieser Hinsicht sicherstellen“ könne.379 Die Geschichte des Marinecollegios endete in Saronno entgegen einer Behauptung eines Zeitzeugen, der angab: „Bei der Ankunft der Partisanen gab es eine Schießerei mit schlimmen Folgen für die Schüler dieser Schule“,380 recht friedlich. Der letzte Kommandant des Collegios, Dionisio Tardioli, händigte den ersten heranrückenden Partisanen unmittelbar Waffen und Munition aus und verhinderte damit eine Eskalation, wie er in seiner Verteidigungsschrift angab.381 In seinen Akten wird diese Schilderung auch von Mitgliedern der Resistenza mehrfach bestätigt, sodass die Darstellung als weitgehend zuverlässig betrachtet werden kann. Nach der Übergabe habe das Befreiungskomitee der Marine angeordnet, die übrigen verbliebenen Güter des Collegios in den Besitz der Marine zu übertragen.382 Das Kommando über dieses Befreiungskomitee übte im Übrigen niemand Ge ringeres als Admiral Ugo Cosentini aus, der von 1940 bis 1943 die Geschicke des „faschistischsten Marinecollegios“383 geleitet hatte. Die Kollegiaten kehrten weitestgehend auf sich allein gestellt in ihre Heimat zurück. Die Tochter eines bereits verstorbenen Schülers erinnerte sich an die Erzählungen ihres Vaters: „Ich weiß, dass er, um den heranrückenden Partisanen zu entkommen, die Strecke von Saronno nach Mailand zurückgelegt hat, wo er sich in das Haus seiner Onkel flüchtete.“384 Ein anderer Schüler entsann sich: „Anfang Mai, mit Ende des Krieges, kehrte jeder von uns mit Glück aufgrund der Konfusion nach Hause zu rück.“385 377 Ebenda, S. 8. 378 Vgl. etwa das
Rundschreiben: Opera Nazionale Balilla, Collegio navale di Venezia, Saronno, Lettera Circolare N° 9, 19. 1. 194[5], in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Giudizi, votazioni, esami, provvedimenti disciplinari, programmi, Collegio Navale, GIL, Venezia, 1944–45, b. 1353; Schreiben an den Provveditore agli Studi, Situazione Scuola, 29. 11. 1944, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Registri vari, Collegio Navale GIL, Venezia, b. 1354. 379 Rektor Carlo Parri an Teresa Salvi, 4. 6. 1944, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Allievi, Collegio Navale GIL, Venezia, S, b. 1347, f. Salvi, Giancarlo. 380 Schreiben Vincenzo Borrutos (Venedig bzw. Saronno 1944), 12. 9. 2012. 381 Vgl. Einlassung Dionisio Tardiolis, 10. 7. 1945, in: ACS, MPI, IEFS, FPIE, b. 41, f. Tardioli, Dionisio. 382 Vgl. Comitato di Liberazione Nazionale Alta Italia, Comando R. Marina per la Lombardia, Ugo Cosentini an Comando del Collegio Navale di Venezia, 18. 5. 1945, in: Ebenda. 383 Corso Sagittario [Venedig 1942], s. p. 384 Mitteilung der Tochter Aldo Magnanis (Venedig bzw. Saronno 1944–1945), 26. 11. 2013. 385 Schreiben Ottavio Villanis (Venedig bzw. Saronno 1944–1945), 24. 11. 2013.
172 III. Die Geschichte der Collegi
Die Collegi in Süditalien Im Süden Italiens befanden sich lediglich zwei Collegi: das Marincollegio in Brindisi und das Kriegswaisencollegio in Lecce. Nach der überhasteten Flucht des Königs und der Regierung Badoglio fanden diese ihre Zuflucht in Brindisi. Kurz darauf legten auch die Kadetten der Marineakademie von Livorno, die bereits zuvor auf den Lido von Venedig verlegt worden waren, mit der Saturnia in Brindisi an. Am 12. September 1943 endete die Tätigkeit des Marinecollegios in Brindisi durch die Übergabe des Kommandos an die Marineakademie, die das vorhandene Personal und Material des Collegios für die eigenen Auszubildenden übernahm. Noch am selben Tag, einem Sonntag, feierte der geflüchtete König mit seiner Regierung, den Schülern und dem Personal der Marineakademie im Marinecollegio erstmals die Heilige Messe.386 Schließlich beherbergte das Collegio bis Juli 1946 die Kadetten der Marineakademie sowie zusätzlich von November 1943 bis 1945 die der Luftfahrtakademie, die zunächst von Caserta nach Forlì verbracht worden waren und sich dann ungeordnet nach Brindisi durchgeschlagen hatten.387 Das Collegio Aldo Fiorini in Lecce hielt hingegen – auch unter diesem Namen – bis weit in die 1960er Jahre den Ausbildungsbetrieb in seinem Stammhaus aufrecht. Mit der Umwandlung der GIL in die GI habe die Schule des Collegios „mit demselben Kollegium, denselben Lehrplänen und derselben didaktischen Ausstattung seine Tätigkeit fortgesetzt“.388 Im Sommer 1944 übte die Regionalpresse wochenlang heftige Kritik an der unveränderten Situation und den teils unhaltbaren Zuständen innerhalb des Collegios. Sie kritisierte das weiterhin bestehende „Reglement purer faschistischer Marke“ und namentlich den Haushaltsverwalter, einen alten Squadristen, der sowohl im ehemaligen Marinecollegio in Brindisi als auch in Lecce tätig war. Auch die Farnesina-Erzieher übten weiterhin ihre Tätigkeit aus. Hinzu kamen illegale Ernennungen alter Freunde aus anderen Collegi und Schwarzmarkthandel mit Gütern des Collegios. Vor diesem Hintergrund forderte man öffentlich die umgehende „Säuberung“ des Collegios.389 Auch andere Institutionen beschwerten sich über die Zustände in dem Collegio etwa hinsichtlich der Ernährung der Kollegiaten und prangerten an, dass die Zöglinge auf den Feldern umherzögen, um Obst und Gemüse zu stehlen.390 Da das Waisencollegio aufgrund der schwierigen Finanzlage der GI 1944 unter der Aufsicht der Präfektur in Lecce 386 Vgl. 387 Vgl.
Rea, Accademia Aeronautica, S. 162. Ufficio storico della Marina Militare, L’Accademia navale 1881–1981, Rom 1981, S. 198–205, 211; Rea, Accademia Aeronautica, S. 163–170; Tirondola, Pale a prora!, S. 106; Mancarella, Collegio navale „Niccolò Tommaseo“, S. 23; Maria Genoveffa Mancarella/Maria Ventricelli, Accademia Marinara dell’ONB (poi Collegio Navale „Niccolò Tommaseo“), in: Elena Lenzi (Hrsg.), Brindisi 1927–1943. Da Capoluogo a capitale. I progetti, le architetture, Oria 22000, S. 140–146, hier S. 142–144. 388 Direttore dr. A. Cardinale, Condizione giuridica della Scuola, 9. 4. 1948, in: ASLe, Com. Prov. G.I., b. 11. 389 Vgl. Del Collegio Fiorini, in: Il Tribuno salentino, 23. 8. 1944, S. 1; Del Collegio Fiorini, in: Ebenda, 6. 9. 1944, S. 1; Del Collegio Fiorini, in: Ebenda, 20. 9. 1944, S. 1; Del Collegio Fiorini, in: Ebenda, 4. 10. 1944, S. 1. 390 Vgl. Opera Nazionale per gli orfani di guerra, Comitato Provinciale di Brindisi, an Prefettura Lecce, 7. 6. 1944, in: ASLe, Prefettura, Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455.
3. Weiterführung, Umzug, Schließung 173
stand,391 gab diese schließlich eine Untersuchung in Auftrag, die zu dem Schluss kam, dass die Anschuldigungen in Teilen zutrafen.392 Die faschistischen Ideen und Bekanntschaften waren selbstverständlich nicht sofort vergessen. In dieser Institution arbeitete das alte Personal weiter und auch die Zielsetzung des Collegios blieb bemerkenswert unverändert. Wie die folgende Gegenüberstellung zeigt, wurden Begriffe wie „Faschismus“ kurzerhand durch „Patriotismus“ ersetzt und die Schüler nun nicht mehr zum perfekten Faschisten, sondern zum perfekten vaterlandsliebenden Bürger erzogen. Die von den Medien geforderte „Säuberung“ blieb aus. 393 394 1941393
1944394
1) Vorbereitung der Kinder von Gefallenen für das Vaterland und den Faschismus auf die Aufgabe als Adjutant der GIL durch eine umfassende faschistische Erziehung.
Vorbereitung der Kinder von Gefallenen, um durch eine umfassende moralische, patriotische und professionelle Umerziehung, ausgezeichnete spezialisierte Arbeiter zu werden.
2) Betreuung der Kinder von Gefallenen für das faschistische Vaterland mit Liebe und Stolz und Vermittlung einer umfassenden politischen und beruflichen Erziehung. 3) Vorbereitung der jungen Waisen auf die Aufgabe als Adjutanten der GIL, sodass sie in den kleinen Kommunen die Kontinuität und die Entwicklung der Aktivitäten und das Funktionieren der GIL und der Institutionen des PNF gewährleisten können. 4) Entwicklung ausgeprägter revolutionärer Tendenzen in den jungen Kriegswaisen und Hervorrufen von Gefühlen der Ehre, der Pflicht, der Disziplin sowie all jener moralischer und spiritueller Energien in Verbindung mit einer gesunden Physis, die den perfekten Faschisten charakterisieren.
Entwicklung ausgeprägter patriotischer Tendenzen in den jungen Kriegswaisen und Hervorrufen von Gefühlen der Vaterlandsliebe, der Ehre, der Pflicht, der Disziplin sowie all jener moralischer und spiritueller Energien in Verbindung mit einer gesunden Physis, die den perfekten Bürger charakterisieren.
5) Vermittlung einer beruflichen Bildung, über einen Kurs der industriellen Berufsvorbereitung gefolgt von einer zweijährigen Industrieschule. 6) Vermittlung einer sportlichen und militärischen Kultur als Notwendigkeit für diejenigen, die Aufgaben in der GIL übernehmen.
Vermittlung einer beruflichen Bildung, über einen Kurs der industriellen Berufsvorbereitung gefolgt von einer zweijährigen Industrie schule. [unverändert] Vermittlung einer gesunden sportlichen Kultur, mit dem Ziel neben der Physis in den Schülern Mut, Wille und Vertrauen in die eigenen Kräfte zu entwickeln.
Tabelle 2: Zielsetzung des Kriegswaisencollegios in Lecce im Vergleich 1941/1944 391 Prefettura
di Lecce an Commissario Nazionale della Gioventù Italiana, 2. 6. 1944, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Personale, pratiche, varie, Collegi – Asili, b. 1162, f. Collegio Fiorini Lecce. 392 Antonio Di Milia, Relazione sull’inchiesta al collegio „Fiorini“ per orfani di guerra in Lecce, 20. 5. 1944, in: Ebenda. 393 PNF/GIL, Collegio „M.O. Aldo Fiorini“ per Orfani di Guerra, Bando di Concorso per l’ammissione al Collegio per l’anno scolastico 1941–42, in: ASLe, GIL, b. 4. 394 Comandante Pasquale Fiore an Commissario Nazionale della G.I., 25. 6. 1944, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Personale, pratiche, varie, Collegi – Asili, b. 1162, f. Collegio Fiorini Lecce.
174 III. Die Geschichte der Collegi Auch an der Ausstattung des Collegios änderte sich in den letzten beiden Kriegsjahren nichts. Sie blieb erwartungsgemäß schlecht. Kurz nach Kriegsende unternahm der neue Anstaltsleiter diverse Versuche, die Situation seiner Einrichtung zu verbessern. Sein Schreiben vom Mai 1945, in dem er den Autobauer Alfa Romeo an sein Versprechen erinnerte, den Waisenkollegiaten in dem Collegio eine industrielle Ausbildung zu ermöglichen, zeugt angesichts der sozialen Lage kurz nach Kriegsende von der Verzweiflung des Verantwortlichen.395 Alfa Romeo kam diesem Ansinnen nicht nach. Die im Juli 1943 abgebrochenen Baumaßnahmen wurden nicht wieder aufgenommen, die versprochenen Materialien nicht geliefert, sodass die Situation des Collegios und seiner Zöglinge prekär blieb.
395 Vgl.
etwa Dr. A. Cardinale an Alfa Romeo, 21. 5. 1945, in: ACS, IRI NERA, ISP-85, f. 7.2.1.2.
IV. Der „Rohling“ – die Schüler Im Zentrum dieses Kapitels steht die Frage nach den Rekrutierungs- und Auswahlmechanismen sowie der sozialen Herkunft der zukünftigen faschistischen Führungskräfte. Es untersucht, welche konkreten Anforderungen diese Institution an die herauszubildende neue Führungsschicht stellte, respektive welche Grundvoraussetzungen die künftigen Garanten faschistischer Herrschaft aufweisen mussten, um Zugang zu diesen faschistischen Schmieden zu erhalten. Zudem wird die Kongruenz von propagierten Selektionskriterien und tatsächlich Ausgewählten einer Analyse unterzogen und schließlich diskutiert, inwiefern die in der Propaganda postulierte Egalisierung von Aufstiegschancen in der Praxis umgesetzt wurde.
1. Die Auswahlmechanismen Die Aufnahme der Schüler in die Collegi war von Anbeginn an bestimmte Kriterien geknüpft. Sie wurden jährlich – wenn auch nur marginal – modifiziert, um das Ausleseverfahren fortwährend zu verfeinern. Unverändert blieb jedoch die Form der Anmeldung: Künftige Schüler konnten nur durch ihre Väter oder durch Personensorgeberechtigte angemeldet werden. Im Gegensatz zu den national sozialistischen Ausleseschulen1 gab es in Italien weder vorgeschaltete Ausleselehrgänge, noch waren Anmeldungen oder Vorschläge durch andere Personen oder Institutionen zulässig, wodurch sich die Rekrutierungsbasis verbreitert hätte. Die formalen Grundvoraussetzungen für eine Bewerbung waren zunächst die italienische Staatsbürgerschaft, die Mitgliedschaft in der Jugendorganisation, eine robuste Physis, ein adäquates Schulzeugnis, ein tadelloses Führungszeugnis des Aspiranten und dessen Familie sowie der Nachweis, noch von keiner staatlichen Schule ausgeschlossen worden zu sein.2 Als Beleg für die „robuste Physis“ benötigte der Aspirant das ärztliche Attest eines Vertrauensarztes der Jugendorganisation, welches bestätigte, dass „in der Familie keine Krankheiten wie Psychopathie, Epilepsie, Bettnässen oder andere Erbkrankheiten vorkommen. Sie dürfen keine Krankheiten aufweisen, die irgendwann zur militärischen Dienstunfähigkeit in Italien oder den Kolonien führen könnten. Das Attest muss darüber hinaus das uneingeschränkte Funktionieren der Atemwege, des Blutkreis laufes, des Nervensystems, des Sehens und des Hörens bestätigen.“3
Ab 1939 wurde zudem der Nachweis der Zugehörigkeit zur „arisch-italienischen Rasse“ obligatorisch.4 Die Bewerbung reichte das Familienoberhaupt mitsamt den geforderten Unterlagen bei dem zuständigen GIL-Provinzkommando ein.
1 2 3 4
Vgl. Feller/Feller, Adolf-Hitler-Schulen, S. 65, 70 f., 80 f., 87–91. Vgl. Accademie e Collegi dell’Opera Balilla [1937], S. 15. PNF/GIL, Accademie, Collegi, Scuole [1939], S. 24. Vgl. ebenda.
176 IV. Der „Rohling“ – die Schüler Auf die Frage nach der Motivation für eine Bewerbung gaben die meisten eitzeugen ihre damalige faschistische Überzeugung oder die ihrer Eltern an,5 Z die Hoffnung auf einen erleichterten Zugang zu den Militärakademien6 oder die Empfehlung anderer enthusiastischer Kollegiaten.7 Ein Zeitzeuge erinnerte sich: „Ein Freund meines Vaters hatte ihm das Marinecollegio in Venedig vorgeschlagen. Es handelte sich um ein sehr modernes Militärcollegio mit absoluter Strenge im Unterricht und bei der Erziehung der Jugendlichen. Sein Sohn besuchte das Marinecollegio von Brindisi und sowohl er als auch seine Familie waren begeistert davon.“8
Ein anderer nannte als Movens seine Bekanntschaft mit Nardini, Sohn der Grappa-Dynastie, „der mir mit Enthusiasmus von dem Collegio, der Kreuzfahrt und den sportlichen Aktivitäten berichtete“.9 Mit Einreichung der Bewerbung beim Provinzkommando der GIL begann ein fünfstufiges Auswahlverfahren. Zunächst holte die GIL Informationen, etwa bei den Carabinieri, über die moralische und politische Zuverlässigkeit des Zöglings und dessen Familie sowie deren finanzielle Verhältnisse ein, da für den Besuch der meisten Collegi eine nicht unerhebliche Gebühr zu entrichten war.10 Nach der Durchleuchtung der Verhältnisse erstellte das Provinzkommando eine Einschätzung über die Eignung des Aspiranten, die gemeinsam mit der Bewerbung an das gewünschte Collegio übermittelt wurde. In einem zweiten Schritt überprüfte eine collegiointerne Kommission, bestehend aus den zwei bzw. drei Kommandanten, dem Rektor und dem Arzt des Collegios, die Richtigkeit der eingereichten Unterlagen und erstellte auf Grundlage der Noten, unter besonderer Berücksichtigung von Verhalten und Leibeserziehung, eine Rangliste.11 Diese Rangliste wurde dem GIL-Generalkommando in Rom übermittelt, das in einem dritten Schritt über die Zulassung der geeigneten Aspiranten zu den Eignungstests entschied. Wie auch an den Militärschulen üblich, wurde viertens innerhalb der jeweiligen Collegi auf der Grundlage von Sport- und Gesundheitstests die Tauglichkeit des Aspiranten festgestellt. Dazu mussten die Aspiranten rennen, springen und am Seil empor-
5 Vgl.
etwa: „Ich habe mich für das Collegio entschieden, weil ich dumm und Faschist war und Karriere im Militär machen wollte.“ Schreiben Tullio Cavalleros (Venedig bzw. Saronno 1944–1945), 20. 12. 2013. 6 Vgl. Schreiben Giancarlo Pasinatis (Venedig 1941–1943), 31. 10. 2012; Interview mit Carlo Gottardi (Brindisi, Venedig 1937–1940), 3. 4. 2014-O, S. 3. 7 Vgl. Schreiben Pietro Buiarellis (Bozen 1942–1943), 4. 3. 2012; Schreiben Giovanni Carbonis (Bozen 1940–1943), 20. 5. 2014; Interview mit Donato Fantetti (Bozen 1942–1943), 26. 3. 2014-K, S. 5; Mitteilung der Tochter von Giancarlo Giusti (Bozen), 24. 9. 2012; Interview mit Anselmo Rossi (Bozen 1940–1943), 17. 3. 2014, S. 1. 8 Schreiben Feliciano Ciardis (Venedig 1939–1942), 27. 6. 2012. 9 Interview mit Giorgio Gasparini (Venedig 1939–1942), 4. 4. 2014-O, S. 2. 10 Vgl. Ammissione degli allievi alle accademie, collegi e scuole della G.I.L., in: Bollettino GIL, 15. 8. 1938, S. 6. 11 Vgl. Commissione per l’esame delle domande di ammissione, in: Bollettino GIL, 1. 9. 1938, S. 12 f.; Commissione per l’esame delle domande di ammissione alle accademie e collegi, in: Bollettino GIL, 15. 9. 1939, S. 377; Accademie e collegi – ammissioni, in: Bollettino GIL, 1. 10. 1940, S. 463.
1. Die Auswahlmechanismen 177
klettern.12 Die berühmt-berüchtigten „Mutproben“13 nationalsozialistischer Ausleseschulen sind für Italien nicht nachzuweisen. Für die Einschätzung der gezeigten sportlichen Leistung war allein der Farnesina-Absolvent (2. bzw. 3. Kommandant) verantwortlich.14 Die nochmalige intensive ärztliche Untersuchung der Aspiranten nahm ein Ärztegremium vor, das aus drei Mitgliedern bestand: einem Präsidenten (dem jeweiligen GIL-Provinzarzt) sowie zwei Mitgliedern (einem von der zuständigen Streitkraft zur Verfügung gestellten Arzt und dem Arzt des Collegios).15 Für jeden Schüler sollte ein siebenseitiger Fragebogen ausgefüllt werden, der die Begutachtung des gesamten Körpers und der Psyche des Aspiranten offensichtlich auf der Grundlage der Biotypologie des Endokrinologen Nicola Pende umfasste.16 Grundvoraussetzung für die Aufnahme in ein Jungen-Collegio im Alter von 13 Jahren war eine Mindestgröße von 145 cm, ein Mindestgewicht von 38 kg und ein Brustumfang von mindestens 68 cm.17 Schriftliche Aufnahme12 In
Sabaudia testete man zudem die Geschicklichkeit. Vgl. Ernesto Brucculeri, Gli allievi del Collegio Caracciolo, in: Collegio marinaro „Caracciolo“, Sabaudia, supplemento al n. 12 del Bollettino del Comando generale, 21. 4. 1942, S. 13 f. 13 Vgl. Feller/Feller, Adolf-Hitler-Schulen, S. 94–102; Helen Roche, Schulische Erziehung und Entbürgerlichung, in: Norbert Frei (Hrsg.), Wie bürgerlich war der Nationalsozialismus, Göttingen 2018, S. 154–172, hier S. 156. 14 Vgl. PNF/GIL, Scuola marinara „Caracciolo“, Ammissione, in: ASLe, Com. Prov. G.I., b. cartelle allievi lettera M (24), f. Maffei, Franco. 15 Vgl. Rundschreiben der GIL, Visita medica collegiale, 4. 9. 1939, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1939, b. 40, f. Collegio aeronautico Forlì – Ammissione allievi. In einem Artikel des Jahres 1941 über das Luftwaffencollegio wird hingegen behauptet, dass die körperliche Eignung durch eine Ärztekommission des medizinischen Zentrums in Ferrara festgestellt würde. Vgl. Alesiani, Finalità e ordinamento del Collegio aeronautico di Forlì intitolato a Bruno Mussolini, in: Il Popolo d’Italia, 5. 10. 1941 (BA Berlin, R 4902, 8445, Bl. 33 RS). 16 Bei diesen medizinischen Untersuchungen erfolgte zunächst eine Überprüfung des Äußeren (Größe, Gewicht, Rumpf-, Arm- und Beinlänge, Brust- und Bauchumfang, Augen- und Haarfarbe, Haarform). Im Weiteren wurden Angaben zu den folgenden Bereichen erhoben: Anomalien und Deformierungen, Ernährungszustand, Blutbildung, Lymphdrüsen, Muskeln, Knochen und Gelenke, Atemwege, Herzgefäße, Bauchorgane, Geschlechtsmerkmale, Nervensystem, Nasenrachenraum, Hören und Sehen, Krankheiten, die bisher in der Familie des Kandidaten aufgetreten sind. Es schlossen sich radiologische Untersuchungen und die Untersuchung des Urins an, gefolgt von einer psychischen Bewertung (Untersuchung der Konzentrationsfähigkeit und der Aufmerksamkeit, der psychomotorischen Reaktivität, Überprüfung der Genauigkeit und Fähigkeit, Muskelbewegungen zu koordinieren, Untersuchung der Wahrnehmung von Bewegungen und der Fähigkeit, emotionale Reaktionen zu hemmen). Die Broschüre führt 13 Gründe für einen Ausschluss an: etwa psychopathische Erkrankungen in der Familie, unnormaler Charakter oder Verhalten, körperliche Unvollkommenheit oder Gebrechen, wozu bereits vier kariöse Zähne oder Stottern und Stammeln zählten. Der Fragebogen (Scheda di valutazione medica per l’ammissione alle Accademie, Collegi e Scuole della G.I.L.) und die dazugehörige Broschüre (Norme per la visita medica dei candidati all’ammissione alle Accademie, Collegi e Scuole della G.I.L.) finden sich in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1939, b. 40, f. Collegio aeronautico Forlì – Ammissione allievi. Vgl. Nicola Pende, Scienza dell’ortogenesi, Bergamo 1939. 17 Vgl. PNF/GIL, Norme per la visita medica dei candidati all’ammissione alle Accademie, Collegi e Scuole della G.I.L., S. 7. Mädchen durften nicht kleiner als 140 cm und leichter als 35 kg sein und sollten einen Mindestbrustumfang von 65 cm haben (ebenda, S. 9).
178 IV. Der „Rohling“ – die Schüler prüfungen waren für die Collegi ab 1938 laut Reglement nicht vorgesehen, obwohl die Aspiranten des Propädeutikums Accademia Littoria bereits zuvor einen verbindlichen faschistischen Allgemeinbildungstest basierend auf dem Handbuch Il Capocenturia bestehen mussten.18 Erst für das Schuljahr 1942/1943 ordnete das GIL-Generalkommando für einige Collegi insbesondere auf Wunsch der Marine die Einführung zusätzlicher schriftlicher Eignungstests in „Allgemeinbildung“ und Mathematik an.19 Nichtsdestotrotz erinnern sich auch früher zugelassene Zeitzeugen an schriftliche Prüfungen: Für die Accademia Littoria ist folgendes Aufsatzthema überliefert: „Die Jugend ist schön, weil sie mit klaren Augen das gewaltige und stürmische Panorama des Reiches betrachten kann.“20 Und auch Venedig- und Bozen-Kollegiaten erinnerten sich an Überprüfungen in „Allgemeinbildung“, Italienisch und Mathematik.21 Für die Eignungstests hatten sich die Aspiranten in Venedig am Untersuchungstag 7.00 Uhr im Collegio einzufinden und die sportlichen, medizinischen und schriftlichen Untersuchungen durchzuführen. Noch am selben Tag erhielten sie nach 19 Uhr Auskunft über ihre Leistungen.22 Die Leitung des Collegios erstellte auf der Grundlage der vorgenommenen Überprüfungen, der Zensuren sowie zusätzlicher Vorzugstitel (wie etwa Kriegswaisen, Waisen von Gefallenen für die Revolution, in Abessinien oder in Spanien; Waisen von Angehörigen der Streitkräfte, die während des Dienstes gefallen sind; Kinder von Verletzten der Revolution oder der Kriege; Kinder in Großfamilien; Kinder von Faschisten, die Dienst in der GIL tun; Kandidaten, die mit Erfolg an Kursen der GIL-Dienstgrade teilgenommen haben)23 eine Rangliste der provisorisch Zugelassenen bzw. der aufgrund von Platzmangel Abgelehnten und sandte diese an das Generalkommando. Das Generalkommando bestätigte die Entscheidung dann in einem fünften und letzten Schritt endgültig bzw. hielt sich bis zuletzt die Möglichkeit offen, Schüler ohne Angabe von Gründen von der Aufnahme auszuschließen. Die Resultate dieses mehrstufigen Verfahrens zur Auswahl robuster, leistungsfähiger und regimeloyaler Schüler fielen insgesamt recht unterschiedlich aus, wie 18 Vgl. Concorso per l’ammissione di 100 avanguardisti all’Accademia Littoria, in: Bollettino
ONB, 15. 1. 1937, S. 3 f., hier S. 3. PNF/GIL, Circolare Nr. 87, 21. 7. 1942, in: ASLe, GIL, b. 15. L’organigramma dell’Accademia Littoria, in: Storia Verità IV (1999), 19, S. 64. Schreiben Feliciano Ciardis (Venedig 1939–1942), 27. 6. 2012; Schreiben Giuseppe Lises (Venedig, Padua 1940–1943), 11. 9. 2012; Erinnerungen Ulrico Guerrieris (Venedig 1940–1943), 15. 11. 2012; Schreiben Giancarlo Pasinatis (Venedig 1941–1943), 31. 10. 2012; Schreiben Giovanni Carbonis (Bozen 1940–1943), 20. 5. 2014. 22 Vgl. PNF, Collegio navale della GIL, Venezia, Disposizioni circa concorso di ammissione al „Navale“, 1940, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Allievi, Cartelle Sciolte, Collegio Navale, GIL, Venezia, A-B-C-D, b. 1357, f. Consoli, Vittorio. Im ersten Schuljahr 1937/1938 mussten die Venedig-Kollegiaten hingegen keine dieser Vorprüfungen über sich ergehen lassen und trafen sich erstmals zu Schuljahresbeginn im Versammlungssaal. Vgl. Tre anni di simbiosi, in: Corso Prima Prora, Collegio navale Venezia 1937–1940, Venedig 1940, s. p. 23 Vgl. PNF/GIL, Accademie, Collegi, Scuole [1939], S. 24. Hinzu kamen schließlich die Waisen von Gefallenen des aktuellen Krieges sowie die Aspiranten mit besten schulischen Leistungen, vgl. PNF/GIL, Ammissione al collegio navale GIL di Venezia per l’anno scolastico 1941/42, S. 12. 19 Vgl. 20 Vgl. 21 Vgl.
1. Die Auswahlmechanismen 179
die internen Berichte von Streitkräften und Lehrern belegen. Ein Lehrer des venezianischen Marinecollegios stellte im Jahre 1939 die Leistungsfähigkeit und körperliche Eignung der Schüler für die Marineakademie in Livorno in Frage: „Es handelt sich in weiten Teilen um eine Klasse mit mittelmäßigen Elementen, und was noch schlimmer ist, sie sind sich ihrer Unzulänglichkeit in Mathematik durchaus bewusst, ein Mangel der bereits einige Jahre zurückreicht und der nicht innerhalb eines Schuljahres behoben werden konnte. Sie sind also schon lustlos und haben wenig Vertrauen. Weitere und zwar nicht wenige Elemente wissen, dass sie körperlich nicht für die Marineakademie geeignet sind und sind demzufolge auch unter dem Aspekt enttäuscht.“24
Die Marine hingegen beurteilte die Auswahl 1941 grosso modo positiv: „Die Schüler der Marinecollegi sind vielversprechende Elemente, im Allgemeinen Jugendliche aus gut situierten Familien, erzogen und von stattlicher Natur […] und haben alle Qualitäten, die Offizierslaufbahn in der Marine einzuschlagen.“25 Auch wenn die Marine in der folgenden Zeit die qualitativen Unterschiede zwischen Brindisi und Venedig thematisierte, liegt doch die Vermutung nahe, dass sich die Auswahl hinsichtlich der körperlichen Eignung durch die Einbindung der durch die Streitkräfte zur Verfügung gestellten Ärzte verbesserte.26 Unzufrieden mit den ersten ausgewählten Schülern zeigte sich der Kommandant des Luftwaffencollegios in Forlì, Moore: „Kurz nach Öffnung des Collegios ist eine Gruppe von Schülern, wahrer Abschaum anderer Schulen, zugelassen worden, mit unzulänglichen Noten, verwerflichem Benehmen und weitestgehend zu alt für die Jahrgangsstufen.“27 Aufgrund der fehlenden Schülerakten für Forlì kann nicht mehr rekonstruiert werden, ob die ausgewählten Schüler tatsächlich derart ungeeignet waren. Es gibt dafür und dagegen sprechende Indizien, sodass es schlechterdings nicht möglich ist, eine eindeutige Position zu vertreten. Wie 24 Lehrer Carlo Viangino an den Rektor, 24. 10. 1939, in: Archivio Monterotondo, Gioventù
Italiana, Personale, Collegio Navale, GIL, Venezia, A-L, b. 1163. sull’attività e sviluppo della premarinara, anno 1940–41, S. 47, in: ACS, Ministero della Marina, Gabinetto 1934–50, b. 452. 26 Ähnliches lässt sich auch für Sabaudia konstatieren. Vgl. PNF/GIL, Scuola marinara „Caracciolo“, Ammissione, in: ASLe, Com. Prov. G.I., b. cartelle allievi lettera S (39), f. Sensini, Gaetano. 27 Undatiertes, unadressiertes, lediglich mit einem Stempel des Collegios versehenes Schriftstück [vermutlich von Raoul Moore], in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1940, b. 161, f. Collegio aeronautico di Forlì – Varie. Ähnlich lautende von Raoul Moore geäußerte Kritik: „[E]s hatte wegen der Qualität der ersten zugelassenen Schüler einen traurigen und desolaten Start.“ Pro-Memoria, Col. Moore, Riservato, 23. 10. 1941, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1942, b. 94, f. Collegio aeronautico di Forlì – Personale; „Erste Rekrutierungen wenig ernsthaft durchgeführt, mit Zulassungen von Schülern, die wahrer Abschaum der Gesellschaft und der Schulen waren. Jugendliche, die die Altersgrenzen um einige Jahre überschritten hatten, mit schlimmsten Vorstrafen, unter denen sich gar zahlreiche Diebe fanden.“ Stempel des Collegios Forlì, ProMemoria, 10. 1. 1942, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1942, b. 94, f. Collegio aeronautico di Forlì – Varie. „In vergangener Zeit wurden Elemente geringer Qualität zugelassen, deren Ergebnisse in einem beiliegenden Brief dokumentiert sind.“ Collegio aeronautico, Raoul Moore, an Ministero dell’Aeronautica, General Urbani, 23. 10. 1941, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1941, b. 127, f. Collegio aeron. di Forlì – Varie. 25 Relazione
180 IV. Der „Rohling“ – die Schüler bereits erwähnt, wurden für das erste Schuljahr aufgrund der Untauglichkeit der Aspiranten nicht alle zur Verfügung gestellten Stipendien der Luftwaffe verwendet, sodass davon ausgegangen werden darf, dass die Auswahl nicht derart oberflächlich durchgeführt wurde, wie von Moore behauptet.28 Darüber hinaus wechselte der Sohn des zukünftigen Stabschefs der italienischen Luftwaffe, Rino Corso Fougier (1941 bis 1943), im Jahre 1939 von dem Marinecollegio in Venedig an das Luftwaffencollegio nach Forlì.29 Sollten die zugelassenen Schüler wirklich so „minderwertig“ gewesen sein, hätte ein hochrangiger Militär seinen Sohn sicher nicht aus dem „distinguierten“ Marinecollegio genommen, um ihn inmitten „gesellschaftlichen Abschaums“ ausbilden zu lassen. Andererseits zeigte sich auch die Luftwaffenakademie unzufrieden über die ersten Absolventen des Luftwaffen collegios: „Trotz des besonderen Wohlwollens, dass ich dir versichern kann, mit dem die Schüler des Luftwaffecollegios von Forlì geprüft worden sind, ist es leider unvermeidbar gewesen, dass ein beträchtlicher Teil von ihnen, genau genommen sieben, heute abgelehnt wurden. Es tut mir wirklich aufrichtig leid, aber der allgemeine und wirklich gravierende Mangel an Vorbereitung, mit dem die Gesamtheit die Prüfungen angegangen ist, hat der Kommission keine andere Wahl gelassen. […] Ich kann dir versichern, dass die Abgelehnten keine O pfer der Prüfer, sondern ihrer absoluten Unkenntnis auf einfachstem Gebiet geworden sind.“30
Fraglich ist, ob die angesprochene Kritik allein der Auswahl oder nicht weitaus mehr der Ausbildung anzurechnen ist, auch wenn Moore sie exklusiv Ersterer zuschrieb. Im Sinne der Erzielung besserer Ausleseergebnisse wollte Moore zukünftig folgende Punkte in Angriff nehmen: „Entfernung unerwünschter Schüler. […] Durchführung einer sehr strengen Auslese der neuen Kandidaten. Nichtzulassung der unwürdigen und schädlichen Plage von Empfehlungsschreiben.“31 Ein Jahr später brüstete er sich mit der rigorosen Auswahl der Schüler32 und betonte zudem die Verbesserung der Bewerbersituation: „Für die neun Plätze der 1. Klasse im altsprachlichen Gymnasium gab es 79 Bewerbungen und davon viele mit brillanten Noten und Vorzugstiteln.“33 Kurz darauf kritisierte er die Aufnahme der Schüler aufgrund dieser Vorzugstitel und forderte, dass die 28 Vgl.
ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1939, b. 40, f. Collegio aeronautico orlì – Concorso per l’assegnazione di borse di studio; ACS, Ministero dell’Aeronautica, F Gabinetto 1939, b. 40, f. Collegio aeronautico Forlì – Ammissione allievi. 29 Vgl. GIL, Umberto Moretti, an Ministero dell’Aeronautica, 8. 11. 1939, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1939, b. 40, f. Collegio aeronautico Forlì – Concorso per l’assegnazione di borse di studio. 30 Kommandant R. Accademia Aeronautica, Ravagli, an Kommandant Collegio aeronautico Forlì, Raoul Moore, 20. 10. 1941, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1941, b. 127, f. Collegio aeron. di Forlì – Varie. 31 Undatiertes, unadressiertes, lediglich mit einem Stempel des Collegios versehenes Schriftstück [vermutlich von Raoul Moore], in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1940, b. 161, f. Collegio aeronautico di Forlì – Varie. 32 Vgl. Collegio aeronautico, Raoul Moore, an Ministero dell’Aeronautica, General Urbani, 23. 10. 1941, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1941, b. 127, f. Collegio aeron. di Forlì – Varie. 33 Vgl. Collegio aeronautico, Raoul Moore, an Ministero dell’Aeronautica, General Urbani, 25. 9. 1941, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1941, b. 127, f. Collegio aeronautico di Forlì – Borse di studio anno scolastico 1941–1942 2° vol.
1. Die Auswahlmechanismen 181 „Rekrutierung der Schüler mit stärkerem Nachdruck durchgeführt wird, in dem Sinne, dass bei der Auswahl die Profiteure der endlosen Vergünstigungen, die sie hier genießen, vermieden werden und zwar zu Gunsten von Jugendlichen auserlesener moralischer und kultureller Qualitäten mit der Leidenschaft für die Luftwaffe.“34
Von dieser Linie – der Vergabe von Vergünstigungen aufgrund von Vorzugstiteln – wich die Jugendorganisation jedoch nie ab. Doch nicht nur die Streitkräfte, auch die Jugendorganisation war mit einigen Ausleseergebnissen unzufrieden – übrigens ähnlich wie in Deutschland35 –, auch wenn sie durch ihre letztinstanzliche Entscheidungsgewalt über die Zulassungen vermutlich einen nicht unerheblichen Eigenanteil an diesen Problemen trug. Mögliche Erklärungen für die Probleme bei der Schülerauswahl finden sich erstens in oberflächlichen Berichten über die Aspiranten, wie die wiederholten Anweisungen, die Provinzkommandos mögen genauere Informationen über die Familien einholen, nahelegen.36 Ein weiterer Grund bestand in der von Kommandant Moore bereits thematisierten „Plage der Empfehlungsschreiben“, die dazu führte, dass den Collegi teils ungeeignete Schüler ans Herz gelegt wurden. Hier tritt wieder eine der Ambivalenzen des Faschismus und – wenn man so möchte – ein Hemmschuh bei der Realisierung der faschistischen Gesellschaftsutopie „neuer Mensch“ ganz deutlich zutage. Starace sprach sich in einer seiner Anordnungen zwar strikt gegen Empfehlungen aus: „Auch der Sektor Akademien und Collegi der GIL ist nicht von der Gefahr der Empfehlungsschreiben verschont geblieben; und schon zeigen sich die ersten Anzeichen für das Zentrum für politische Vorbereitung. Es ist wichtig zu wissen, um böse Überraschungen zu vermeiden, dass das Faktum, von wem auch immer empfohlen worden zu sein, für sie, auch bei hundertprozentiger Erfüllung der Voraussetzungen, die Nichtzulassung zur Folge hat. Die Jugendlichen, die in die Akademien und Collegi eintreten, um in der strengen Schule des Faschismus erzogen zu werden, müssen von Anfang an das Gefühl bekommen, dass der von der Revolution geschaffene unnachgiebige Stil keinerlei Ausnahmen zulässt.“37 34 Stempel
des Collegios Forlì, Pro-Memoria, 10. 1. 1942, in: ACS, Ministero dell’Aeronau tica, Gabinetto 1942, b. 94, f. Collegio aeronautico di Forlì – Varie. 35 Beschwerden über die Auswahl finden sich ebenso für die nationalsozialistischen Ausleseschulen, die u. a. mit der mangelhaften Berücksichtigung der teils recht vagen Ausleserichtlinien („wertvoller, ganzer Kerl“) begründet werden, sowie der anfänglichen Vernachlässigung geistiger Fähigkeiten. Vgl Feller/Feller, Adolf-Hitler-Schulen, S. 104 f. Vgl. etwa auch: Aktenvermerk, 12. 8. 1937, in: BA Berlin, NS 8, 238, Bl. 118–125, hier Bl. 122 f.; Kreisleiter an die Gauleitung Mainfranken, Auslese für die Adolf-Hitler-Schulen, Datum unleserlich, in: BA Berlin, NS 22, 1253, Bl. 253 f.; Petter, Bericht über die Adolf Hitler-Schulen, vorgetragen am 12. 1. 1943 auf der Gebietsführertagung in Braunschweig vom Kommandeur der Adolf Hitler-Schulen, in: BA Berlin, NS 22, 1240, Bl. 99–105, hier Bl. 101. 36 Vgl. etwa Telegramm des Comando generale, Sellani, an Comandanti federali GIL Regno, 24. 8. 1941, in: Bollettino GIL, 15. 10. 1941, 6° bis supplemento, S. 12; PNF/GIL, Circolare Nr. 87, 21. 7. 1942, in: ASLe, GIL, b. 15. Dies zeigte sich beispielsweise auch daran, dass ein Schüler des Marinecollegios Venedig, der in der Persönlichen Kanzlei des Duce um ein signiertes Buch bat, zunächst durch den Präfekten von Taranto überprüft wurde, bevor ihm die Bitte erfüllt wurde. Ohne den überlieferten Einzelfall überinterpretieren zu wollen, ist das schon ein Indiz dafür, dass man der Überprüfung durch die GIL nicht vollstens vertraute. Vgl. Prefetto di Taranto an Segreteria Particolare del Duce, 11. 8. 1942, in: ACS, SPD, CO, b. 2148, f. 540.099. 37 PNF, FD, Nr. 1402, 30. 8. 1939.
182 IV. Der „Rohling“ – die Schüler Dennoch kam es häufig zu Empfehlungen über die Persönliche Kanzlei des Duce38 oder durch andere Persönlichkeiten. So wurde beispielsweise der Sohn des in Mussolinis Diario di guerra erwähnten Giovanni Minini, der bereits zu alt war und nur mittelmäßige schulische Leistungen vorweisen konnte,39 durch den Sekretär Mussolinis vorgeschlagen und schließlich wohlwollend begutachtet und aufgenommen.40 Auch die befragten Zeitzeugen gingen davon aus, dass die Auswahl „aufgrund persönlicher Erfahrung oder Hinweise durch Parteigrößen oder hohe Offiziere der Marine“ vorgenommen wurde. Einer fügte an: „Ich selbst bin durch Anwalt Rossi, unseren Mitbürger und damals weit oben in der GIL in Rom, unterstützt worden.“41 Darüber hinaus verwies er auf den Sohn eines Arbeiters, der dem Ras von Cremona, Roberto Farinacci, seine Aufnahme in das Collegio verdankte.42 Ein anderer Schüler gab an, dass sein Vater in freundschaftlichem Kontakt zu Admiral Tur stand, der wiederum dem Collegio eng verbunden war.43 Aber auch das GIL-Generalkommando selbst setzte sich über das Votum der Kommission des Collegios hinweg, um bestimmte Schüler an den Collegi aus bilden zu lassen. Deutlichster Ausdruck der Ignoranz eines Urteils einer Kommission stellt der Fall eines thailändischen Schülers dar, der schon qua seiner Staatsbürgerschaft eine zentrale Aufnahmevoraussetzung nicht erfüllte. Die Kommis sion kam zu dem Urteil, dass der Aspirant „nicht das Minimum an Organisation und Kultur besitzt, die es ihm ermöglichen, eine weiterführende Schule zu besuchen“,44 und lehnte demzufolge dessen Aufnahme ab. Das GIL-Generalkommando wies jedoch dessen Aufnahme an, da „der junge Snidvongs wegen politischer Erwägungen ins Collegio aufgenommen wurde und nicht wegen vorhandener kultureller Vorbereitung. Aus dem Grund muss man ihm gegenüber höchst wohlwollend sein und aufgrund der Notwendigkeit, dass er in Europa ausgebildet werden muss, ist es gut, dass er in Italien und in einem Collegio der GIL ausgebildet wird.“45
Da das GIL-Generalkommando die letzte Instanz bei der Zulassung oder Ablehnung war, ist fraglich, wie häufig es davon Gebrauch machte, um bestimmte, empfohlene Schüler auch gegen das Votum der Kommission in den Collegi aufzunehmen. Insgesamt zeigt sich hier recht deutlich das Bild des weiterhin vorherretwa die Anfrage einer Mutter an die Persönliche Kanzlei des Duce, die letztlich für ihren Sohn einen Platz im Collegio in Sabaudia angeboten bekam. Vgl. den Vorgang in: ACS, SPD, CO, b. 2524, f. 19 A. 39 Vgl. Collegio navale G.I.L. Venezia, Notizie informative, 3. 11. 1939, in: ACS, SPD, CO, b. 990, f. 509.031. 40 Vgl. Schriftwechsel Osvaldo Sebastiani, Renato Ricci, 21./24. 9. 1937, in: Ebenda. 41 Interview mit Giorgio Gasparini (Venedig 1939–1942), 4. 4. 2014-K, S. 1. 42 Vgl. Interview mit Giorgio Gasparini (Venedig 1939–1942), 4. 4. 2014-O, S. 2. In den Akten wird der Vater jedoch als Angestellter geführt. Vgl. Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Allievi, Venezia, T-U-V-Z, b. 1348, f. Zontini, Adriano. 43 Interview mit Iginio Bonoldi (Venedig 1941–1943), 7. 4. 2014-K, S. 5. 44 Collegio navale della GIL, Venezia, Rektor Giorgio Berzero, Relazione della Commissione esaminatrice dell’aspirante: Teaw Snidvongs, s. d. [8. 10. 1942], in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Allievi, Collegio Navale GIL, Venezia, S, b. 1347, f. Snidvongs, Teaw. 45 PNF/GIL, Capo di Stato Maggiore, Canepa an Giorgio Berzero, 15. 12. 1942, in: Ebenda. 38 Vgl.
1. Die Auswahlmechanismen 183
schenden Nepotismus/Klientelismus, das die propagierte entstehende Meritokratie konterkarierte. Ein dritter und letzter Grund kann schließlich in dem Bewerbermangel für einige Collegi gesehen werden. Mangelnde Öffentlichkeitsarbeit der entsprechenden Provinzstellen für die Collegi,46 die Lage der Collegi und die daraus resultierende geringe Anzahl von potenziellen Schülern47 sowie zu einschränkende Richtlinien waren hierfür ausschlaggebend. Daher wurden vor allem während des Krieges die Aufnahmerichtlinien aufgeweicht, um alle Plätze in den Collegi zu besetzen. So sollten anfangs in den Waisencollegi in Lecce und Turin nur Schüler aufgenommen werden, deren Väter im aktuellen Krieg gefallen waren. Dann erfolgte eine Ausweitung auf Waisen von Afrika- und Spaniengefallenen und schließlich auch auf gefallene Verwandte oder Verschollene bis hin zur Aufnahme jeglicher Bewerber in Turin. Letztlich erklärte das Generalkommando im Oktober 1941: „Die für die Voll- oder Halbstipendien gemeldeten Aspiranten der neuen Collegi, die ihre Unterlagen nicht gemäß des Auswahlverfahrens eingesendet haben, übermitteln diese dringlichst direkt an das Kommando des jeweiligen Collegios. An dieses Generalkommando müssen nur die Listen mit den Namen der Bewerber und der Reihenfolge ihrer Verdienste übermittelt werden. Selbiges gilt für Schüler der Waisencollegi.“48
So kam es in Lecce zur Aufnahme von Kollegiaten, ohne dass die von der Ausschreibung geforderten Dokumente vorlagen und der Kommandant sich schließlich genötigt sah, die Eltern zumindest um die Einsendung der essenziellen Dokumente zu bitten.49 Um das Problem der mangelnden Bewerbungen zu beheben, erinnerte das Generalkommando die Provinzstellen wiederholt an ihre Aufgabe, für die Einrichtungen der GIL die Propagandatrommel zu schlagen, wie etwa in folgendem Telegramm: „Du bist beauftragt, die lokale Presse und andere öffentliche Mittel zu nutzen, um die Anmeldung für Akademien, Collegi und Schulen der GIL zu bewerben. Die Schüler unserer Institute müssen die besten und enthusiastischsten Jugendlichen sein.“50
Insgesamt erwecken die vorhandenen Dokumente den Eindruck, dass die offiziellen Kriterien zur Auswahl körperlich wie geistig leistungsfähiger und regimeloyaler Schüler zumeist bei ausreichend vorhandenen Bewerbungen exakt angewandt wurden. Bei Bewerbermangel drückte man ein Auge zu und griff auch auf weniger geeignete Schüler zurück. Darüber hinaus scheinen bei der Entscheidungs 46 Vgl.
undatiertes, unadressiertes, lediglich mit einem Stempel des Collegios versehenes Schriftstück [vermutlich von Raoul Moore], in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1940, b. 161, f. Collegio aeronautico di Forlì – Varie. 47 Vgl. Relazione sull’attività e sviluppo della premarinara, anno 1940–41, S. 47, in: ACS, Ministero della Marina, Gabinetto 1934–50, b. 452. 48 Telegramm des Comando generale an alle comandi federali del Regno, 3. 10. 1941, in: Bollettino GIL, 15. 10. 1941, 6° bis supplemento, S. 15. 49 Vgl. die Schreiben an Elternhaus und Comando federale GIL, Taranto im Winter 1941, in: ASLe, Com. Prov. G.I., b. cartelle allievi lettera R (35), f. Rochira, Orazio. 50 Telegramm des Comando generale an Vice Comandanti Federali GIL Regno, 17. 7. 1941, in: Bollettino GIL, 15. 10. 1941, 6° bis supplemento, S. 10.
184 IV. Der „Rohling“ – die Schüler findung für oder gegen einen Aspiranten auch der Einfluss des Elternhauses und finanzielle Erwägungen nicht unerheblich gewesen zu sein. Es überrascht kaum, dass sich dieses mehrstufige Auswahlverfahren vor allem während des Krieges durch die Vielzahl der benötigten beglaubigten Unterlagen und der Beteiligung zahlreicher Institutionen als impraktikabel erwies, da Bewerbungen bzw. Dokumente nicht rechtzeitig ankamen, die Schüler zu spät über die Termine zur Eignungsprüfung informiert wurden oder schlichtweg die reduzierten Zugtickets nicht erhielten und somit nicht fristgerecht in den Collegi eintrafen. Daher beabsichtigte Parteisekretär Vidussoni ab 1942, den GIL-Provinzkommandos einige Tauglichkeitsprüfungen zu übertragen.51 Perspektivisch sollten die Prüfungen womöglich innerhalb ganz anderer Institutionen realisiert werden. In der 23. Erklärung seiner Schulcharta kündigte Bottai die Einrichtung von „didaktischen Versuchsstätten“ (centri didattici) an. Diese Institute sollten auf nationaler (centri didattici nazionali) und auf Provinzebene (centri didattici provinciali) entstehen und in engem Kontakt mit den Schulämtern der Provinzen (provveditorati degli studi) Untersuchungen auf dem gesamten Schulsektor durchführen.52 Als Bottai am geschichtsträchtigen 28. Oktober 1941 das erste Centro didattico nazionale in Florenz eröffnete, benannte er als eine der Aufgaben dieser im Entstehen begriffenen Institute „die Durchführung der Leistungsüberprüfung von Schülern, die in den Collegi des Liktoriums [Collegi del Littorio] aufgenommen werden wollen“.53 Geht man davon aus, dass mit den Collegi del Littorio tatsächlich die Collegi der GIL gemeint waren und es sich hier nicht um eine andere Bezeichnung für die von Bottai angestrebten Collegi di Stato handelte, so wäre diese Aufgabenübertragung ein eindeutiges Indiz für eine zukünftige stärkere Verschränkung von Erziehungsministerium, Schulämtern und Partei/GIL, da – wie dargestellt – die Leistungsüberprüfung bis dato einem Gremium innerhalb der Collegi vorbehalten war. Zur Realisierung dieser Bestrebungen kam es unter der Kriegssituation freilich nicht mehr.54 Im Folgenden gilt es nun, das Schulgeld, die Stipendienvergabe und die soziale Herkunft der Schüler einer genaueren Betrachtung zu unterziehen, um zu beleuchten, welchem Schülerklientel der erfolgreiche Besuch der Collegi ermöglicht wurde.
51 Vgl. PNF/GIL, Circolare Nr. 87, 21. 7. 1942, in: ASLe, GIL, b. 15. 52 Vgl. Gentili, Giuseppe Bottai e la riforma fascista della scuola, S. 145. 53 Bottai inaugura a Firenze il Centro didattico nazionale, in: CdS, 28./29. 10. 1941,
S. 5. Wenige Tage vor der Eröffnung sei Bottai bei Mussolini gewesen, der ihm „die Richtlinien für die Errichtung und das Funktionieren der didaktischen Zentren“ gegeben habe, so die Presse (Direttive del Duce per i Centri didattici e per le provvidenze scolastiche, in: CdS, 10. 9. 1941, S. 3). In Bottais Tagebuch findet sich jedoch nur der Kommentar, dass Mussolini „müde und traurig, lustlos gegenüber meinen kleinen Schulproblemen“ gewesen sei (Bottai, Diario, 16. 9. 1941, S. 283), sodass auch in dem Fall unklar bleibt, welche Position Mussolini hinsichtlich der Aufgaben dieser Didaktikzentren vertrat. 54 Im November 1942 wurde das Gesetz über die Errichtung der Centri didattici verabschiedet, das im Januar 1943 in Kraft trat und unter Art. 1, f die benannte Aufgabe aufführte. Vgl. Legge, Nr. 1545, 30. 11. 1942, Istituzione di Centri didattici, in: GU, Nr. 6, 9. 1. 1943.
2. Schulstellen und Stipendienvergabe 185
2. Schulstellen und Stipendienvergabe Ebenso unterschiedlich wie die Ausrichtungen der Schulen selbst waren auch die Anzahl der Schulstellen, die Höhe des Schulgeldes und die der ausgelobten Stipendien. Jährlich variierten die Rahmenbedingungen, die die interessierten Schüler und deren Eltern sowohl den Publikationen der Jugendorganisation55 als auch dem Radio und den Zeitungen entnehmen konnten.56 Allein die Rekonstruktion der Anzahl der ausgeschriebenen und schließlich besetzten Stellen gestaltete sich aufgrund fehlender57 und fehlerhafter Angaben in den Publikationen58 äußerst schwierig. Offiziell waren für die Schuljahre 1937/1938 bis 1943/1944 folgende Stellen an den Akademien, Collegi und Schulen der ONB/GIL ausgeschrieben: 59 60 61 62 63 Schuljahr
Anzahl der Stellen
1937/1938
220059
1938/1939
139260/143261/147262
1939/1940
143763
55 Vgl.
Accademie e Collegi dell’Opera Balilla [1937]; PNF/GIL, Accademie e Collegi [1938]; PNF/GIL, Accademie, Collegi, Scuole [1939]; PNF/GIL, Accademie, Collegi, Scuole [1940]; PNF/GIL, Accademie, Collegi, Scuole [1941]; PNF/GIL, Accademie e collegi della G.I.L. [1942]; PNF/GIL, Accademie e collegi della G.I.L. [1943]. 56 Da sowohl der Sohn des Propagandaministers Dino Alfieri als auch der Sohn dessen Kabinettschefs Celso Luciano Venedig-Kollegiaten waren, bestand offensichtlich von der Seite ein persönliches Interesse, die Stellen an den Collegi und Akademien breit zu bewerben. Vgl. Capo Gabinetto Ministero della Cultura Popolare an Capo Stato Maggiore GIL, 16. 9. 1938, in: ACS, Ministero della Cultura Popolare (künftig: MinCulPop), Gabinetto, b. 84. 57 Vgl. beispielsweise die zunächst ausgeschriebenen Schulstellen (Apertura di nuovi collegi, in: DS 42 (1940/41), 28, 20. 9. 1941, S. 427) für die 1941/1942 eröffnenden Collegi und die tatsächlich besetzten Stellen (Attività delle accademie e collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 12. 1941, S. 145). Die besetzten Stellen in Lecce und Turin wurden nicht angegeben. 58 In dem Abschlussbericht für das Schuljahr 1940/1941 wird eine Gesamtzahl von 5536 Schülern in allen GIL-Institutionen angegeben. Addiert man die einzeln aufgeführten Schülerzahlen, handelte es sich jedoch nur um 3476. Vgl. Relazione finale sulle attività svolte dalla G.I.L. nell’anno XIX, in: Bollettino GIL, 28. 10. 1941, supplemento, S. 14 f. In der Ausschreibung für das Schuljahr 1940/1941 kam es offensichtlich zu einem Druckproblem, sodass die Stellenzahlen für einige Collegi in der Broschüre fehlten. In allen anderen Zeitschriften, die die Collegi bewarben, fehlen deshalb ebenfalls die Angaben: Vgl. PNF/GIL, Accademie, Collegi, Scuole [1940]. 59 Duemiladuecento posti a concorso nelle Accademie e Collegi dell’Opera, in: DS 38 (1936/37), 31, 29. 5. 1937, S. 491. 60 Concorsi alle Accademie, ai Collegi e alle Scuole marinare, in: DS 39 (1937/38), 36, 30. 7. 1938, S. 575. 61 Concorsi per l’ammissione ad Accademie, Collegi e Scuole della G.I.L., in: CdS, 14. 7. 1938, S. 2. 62 L’ammissione di allievi nelle Accademie e Scuole della G.I.L., in: CdS, 16. 9. 1938, S. 2; PNF/GIL, Accademie e Collegi [1938]. 63 Concorsi alle Accademie e ai Collegi della G.I.L., in: DS 40 (1938–39), 34, 30. 7. 1939, S. 551 f.; PNF/GIL, Accademie, Collegi, Scuole [1939].
186 IV. Der „Rohling“ – die Schüler 1940/1941
mind. 82064 [fehlende Zahlen aufgrund eines Druckfehlers in der Broschüre]
1941/1942
273765
1942/1943
287166
[1943/1944]
[1596]67
Tabelle 3: Ausgeschriebene Bewerberstellen an den ONB-/GIL-Instituten, 1937–1943 64
65
66
67
Für den Besuch dieser GIL-Einrichtungen mussten die Eltern größtenteils ein Schulgeld in nicht unerheblicher Höhe entrichten. Zudem hatten sie für die Ausstattung, die Pflege und den Erhalt der Ausstattung, Schreibwaren, Versicherung und Prüfungsgebühren aufzukommen. Während das Propädeutikum Accademia Littoria im Schuljahr 1937/1938 formal kostenlos war, hatte die Familie des Zöglings dennoch eine jährliche Gebühr für Ausstattung, Bücher und Steuern in Höhe von 1815 Lire zu begleichen.68 Im ersten Jahr des Bestehens der Marinecollegi betrug allein die monatliche Schulgebühr 400 Lire (Venedig) bzw. 300 Lire (Brindisi).69 Vergünstigungen für Angehörige bestimmter Gruppen (etwa Kriegswaisen oder Großfamilien) gab es zu dem Zeitpunkt zumindest offiziell noch nicht. Somit konnte sich weder ein Arbeiter noch ein studierter Angestellter den Besuch eines solchen Marinecollegios für seine Kinder leisten.70 Aufgrund dieser enormen Kosten rief Starace kurz nach seiner Übernahme des GIL-Generalkommandos zur Stärkung der Collegi durch die Bereitstellung von Stipendien auf. Jede regionale Parteistelle sollte anderthalb Stipendien finanzieren.71 Nach zahlreichen Rückfragen zur Dauer und Höhe der aufzuwendenden Mittel vonseiten der regionalen Parteistellen veröffentlichte die Partei folgende Aufstellung. Sie verdeutlicht einerseits die beträchtliche Höhe der zu entrichtenden Gebühren und unterstreicht andererseits die erheblichen finanziellen Unterschiede, die zwischen den Instituten für Jungen und Mädchen bestanden:72
64 PNF/GIL, 65 PNF/GIL,
Accademie, Collegi, Scuole [1940]. Accademie, Collegi, Scuole [1941]; Apertura di nuovi collegi, in: DS 42 (1940/41), 28, 20. 9. 1941, S. 427. 66 Vgl. 2871 posti offerti ai giovani nei collegi e nelle Accademie della GIL, in: GSM 12 (1942/43), 21, 1.–15. 7. 1942, S. 5 f. 67 PNF/GIL, Accademie e collegi della G.I.L. [1943]. 68 Vgl. Accademie e Collegi dell’Opera Balilla [1937], S. 10. 69 Vgl. ebenda, S. 15. 70 Zum Vergleich: Ein Arbeiter verdiente zu der Zeit im Monat zwischen 300 und 400 Lire, ein studierter Angestellter zwischen 800 und 1000 Lire. 71 Vgl. Circolare del segretario amministrativo del P.N.F., Nr. 606 A., 10. 1. 1938, in: Atti del PNF VII (1937/1938), 3, S. 317. 72 Circolare del segretario amministrativo del P.N.F., Nr. 628 A., 14. 4. 1938, in: Atti del PNF VII (1937/1938), 3, S. 344 f., hier S. 344.
2. Schulstellen und Stipendienvergabe 187 Name der Einrichtung
Schulgeld
Schulbesuchsdauer
Accademia fascista del Foro Mussolini
3000 Lire jährlich
3 Jahre
Accademia fascista di scherma Foro Mussolini 3000 Lire jährlich
2 Jahre
Accademia fascista di musica Foro Mussolini
1200 Lire jährlich
6 Jahre
Accademia femminile di Orvieto
4800 Lire jährlich
3 Jahre
Accademia Littoria del Foro Mussolini
2400 Lire jährlich
3 bis 5 Jahre
Collegi navali di Brindisi e Venezia
6500 Lire jährlich
3 bis 5 Jahre
Collegio magistrale di Udine
4500 Lire jährlich
3 bis 5 Jahre
Collegio-convitto di Orvieto
4500 Lire jährlich
3 bis 5 Jahre
Scuole marinaretti di Sabaudia, Chioggia [zuvor Venedig], Cagliari e Bari
2500 Lire jährlich
3 bis 7 Jahre
Tabelle 4: Schulgeld für Einrichtungen der GIL, 1938
Während die Eltern der Akademisten jährlich 3000 Lire aufzubringen hatten, belief sich die Summe für die Akademistinnen auf stattliche 4800 Lire jährlich. Ebenso beträchtlich war der Unterschied bei den beiden Propädeutika: 2400 Lire für die Jungen und 4500 Lire für die Mädchen galt es jährlich zu begleichen. Die Fraueninstitute zielten demnach bereits durch ihre Schulgebühren eindeutig auf Mädchen aus wohlhabenderen Familien.73 Starace rief mit diesem Rundschreiben vor allem die finanziell florierenden regionalen Parteistellen auf, Stipendien auszuloben und sich dafür auch die Unterstützung diverser lokaler Einrichtungen und Privatpersonen zu sichern.74 In den 73 Die
Forschungen zu den „Orvietine“ haben gezeigt, dass diese zumeist aus der gehobenen Mittelschicht urbaner Zentren kamen. Obwohl das Regime theoretisch ab 1933 finanzielle Unterstützung für begabte Mädchen aus ärmeren Familien zur Verfügung gestellt habe, blieb der Besuch weiterhin insgesamt sehr teuer. Vgl. Ferrara, Corpo e politica, S. 61, bes. Anm. 69; Lucia Motti, Le ‚Orvietine‘ e l’Accademia: un’esperienza di confine tra appartenenza e senso di sé, in: Motti/Caponeri (Hrsg.), Accademiste a Orvieto, S. 75– 148, hier S. 127; Teja, ONB tra educazione fisica e sport, S. 24; Elda Guerra, Memory and Representations of Fascism: Female Autobiographical Narratives, in: R.J.B. Bosworth/ Patrizia Dogliani (Hrsg.), Italian Fascism. History, Memory and Representation, London 1999, S. 195–215, hier S. 209. Bedauerlicherweise fehlt in Ponzios Studie zur Farnesina eine Analyse der sozialen Herkunft der Akademisten, sodass ein Vergleich zwischen diesen beiden Akademien für Leibeserziehung nicht möglich ist. Es fand sich lediglich eine zeitgenössische Einschätzung: „Diese Akademie in Rom können nur Abiturienten besuchen, Arbeitersöhne und Söhne minderbemittelter Italiener sind also von ihr ausgeschlossen.“ Opera Nazionale Balilla, in: Deutsche Zeitung in Frankreich, 1. 3. 1936 (BA Berlin, NS 43, 384, Bl. 79). Die Behauptung, dass nur Abiturienten die Farnesina hätten besuchen können, ist jedoch nicht zutreffend (vgl. Ponzio, Palestra del littorio, S. 37), sodass die weitere Einschätzung auch mit Vorsicht zu betrachten ist. Es gilt darüber hinaus anzumerken, dass bereits für die Auswahl der Aspiranten des 1939 eröffneten Zen trums für politische Vorbereitung aufgrund der hohen Raten „das Problem der Auswahl ausschließlich nach Vermögen“ konstatiert wurde, wenngleich es auch hier Stipendien gab. Lazzero, Partito Nazionale Fascista, S. 261. 74 Vgl. Circolare del segretario amministrativo del P.N.F., Nr. 628 A., 14. 4. 1938, in: Atti del PNF VII (1937/1938), 3, S. 344 f., hier S. 345.
188 IV. Der „Rohling“ – die Schüler Genuss dieser Stipendien sollten faschistische Kriegs- und Revolutionswaisen bzw. Kinder von Kriegsversehrten sowie aus Großfamilien kommen. Damit wurden „Verdiente um die faschistische Sache“ und Unterstützer der pronatalistischen Politik begünstigt, jedoch nicht zwingend Kinder niederer sozialer Herkunft. In den folgenden Jahren konnte man den Anordnungsblättern der Partei und der Presse die Auslobung von Stipendien durch die regionalen Parteistellen und zahlreiche andere Institutionen und Privatpersonen entnehmen, die darin namentlich und mit der Anzahl der zur Verfügung gestellten Stellen aufgeführt wurden.75 Darüber hinaus wurden Stipendien speziell an besondere Gruppen, wie etwa Kriegswaisen76 oder seltener Arbeiterfamilien77 vergeben, sowie sehr häufig in Erinnerung an bedeutende, verstorbene Faschisten wie etwa Costanzo Ciano78 oder Bruno Mussolini.79 Ab dem Schuljahr 1940/1941 stellte die GIL auf Initiative Ettore Mutis zusätz liche Vergünstigungen aufgrund persönlicher und/oder familiärer Verdienste bereit. Das Schulgeld musste nur noch zur Hälfte gezahlt werden, wenn der betreffende Kollegiat besonders gute schulische Leistungen80 vorweisen konnte, ein Familienangehöriger sich um den Faschismus verdient gemacht hatte oder militärisch ausgezeichnet worden war.81 Es bestand die Möglichkeit der Akkumulation der beiden Verdienste und damit zur Befreiung von der reinen Schulgebühr. Sollte eine Familie zwei Kinder an einem Collegio ausbilden lassen, durfte jedoch nur 75 Vgl.
etwa PNF, FD, Nr. 1260, 11. 2. 1939; Nr. 1268, 22. 2. 1939; Nr. 1279, 6. 3. 1939; Nr. 1377, 3. 8. 1939; Nr. 1391, 17. 8. 1939; Nr. 1397, 23. 8. 1939; Nr. 108, 1. 4. 1940; La Federazione Fascista istituisce due borse di studio per l’ammissione al Collegio aeronautico, in: PdR, 15. 10. 1938, S. 4; Istituzione borse di studio, in: Bollettino GIL, 15. 8. 1939, S. 345; Un concorso del consorzio industriale manufatti, in: PdR, 12. 8. 1939, S. 2; Borse di studio, in: PdR, 21. 10. 1939, S. 2; Consorzio Industriale Manufatti, Concorso per borse di studio, 19. 7. 1940, in: Atti del PNF IX (1939/1940), 3, S. 749–751; Borse di studio per i collegi della G.I.L. di Forlì e di Brindisi, in: Bollettino GIL, 15. 9. 1940, S. 430 f.; Borse di studio, in: CdS, 21./22. 7. 1942, S. 2; PNF/GIL, Lettera circolare n. 154, 9. 7. 1943, in: ASLe, GIL, b. 15. 76 Vgl. Borse di studio per orfani di guerra, in: La Stampa, 4. 7. 1940, S. 2. 77 Vgl. Posto gratuito per un giovane operaio nel Collegio aeronautico, in: La Stampa, 24. 10. 1941, S. 3. 78 Vgl. PNF, FD, Nr. 1398, 24. 8. 1939; Quattro borse di studio „Costanzo Ciano“ per i Collegi navali della G.I.L., in: La Stampa, 24. 8. 1939, S. 6; L’omaggio di combattenti e decorati alla memoria di Costanzo Ciano, in: CdS, 25. 7. 1939, S. 2. 79 Vgl. PNF, FD, Nr. 178, 27. 8. 1941; Nr. 185, 11. 9. 1941; Nr. 187, 13. 9. 1941; Nr. 196, 2. 10. 1941; Nr. 204, 15. 10. 1941; Nr. 243, 30. 11. 1941; Notizie del Partito, in: CdS, 17. 9. 1941, S. 4; Borse di studio „Bruno Mussolini“, in: CdS, 17. 11. 1941, S. 5. 80 Aus persönlichem Verdienst: die zehn besten Versetzten, vorausgesetzt sie haben im Schnitt nicht unter 8/10 gelegen. Vgl. Accademie e collegi: beneficio della mezza retta, in: Bollettino GIL, 1. 5. 1940, S. 213. 81 Aus familiärem Verdienst: Waisen von Kriegsgefallenen oder Gefallenen für die nationale Sache; Kinder von Kameraden: Verwundete, Versehrte für die faschistische Revolution oder Squadristen oder Faschisten mit dem Nachweis, am Marsch auf Rom teilgenommen zu haben; Kinder von Armee- oder MVSN-Angehörigen: aktiv oder in Reserve, verletzt oder ausgezeichnet mit dem Ordine Militare di Savoia oder mit einer oder mehreren Gold- oder Silbermedaillen von militärischer Bedeutung; Kinder von Invaliden und Kinder von GIL-Personal. Vgl. ebenda.
2. Schulstellen und Stipendienvergabe 189
eines von diesen Vergünstigungen profitieren.82 In jedem Fall musste die Familie die Kosten für die Ausstattung tragen,83 die sich in Venedig, Brindisi und Forlì, also den einzigen gymnasialen Jungencollegi, allein im ersten Aufenthaltsjahr auf 1800 Lire beliefen84 und somit bereits eine soziale Barriere darstellten. Ebenso sozial selektiv dürften auch die Kosten für eine Bewerbung – etwa durch die Beglaubigung von Urkunden – gewirkt haben, die hilfsbedürftige Familien schon von einer Bewerbung abhielten. Wie viele Kollegiaten nun tatsächlich in den Genuss finanzieller Erleichterungen kamen, lässt sich nur schwer beantworten, da in den vorhandenen Schülerakten keine Informationen über Stipendien oder andere Geldgeber überliefert sind. So fand sich beispielsweise die Information, dass das Innenministerium sowie die Persönliche Kanzlei des Duce Schulgeld und Ausstattung für den venezianischen Marinekollegiaten Minini übernahmen, lediglich in der Akte der Persönlichen Kanzlei des Duce, nicht jedoch in Mininis Schülerakte.85 Insgesamt sei damals geheim gehalten worden, wer Stipendien erhielt, so ein Zeitzeuge. Er berichtete, dass man darüber erst Jahre später bei den Klassentreffen gesprochen habe.86 Die einzigen publizierten Zahlen über die gewährten Vergünstigungen fanden sich in dem GIL-Abschlussbericht für das Schuljahr 1940/1941. Diese Zahlen sind jedoch mit Vorsicht zu bewerten, da die Berechnungsbasis schon fehlerhaft ist. In diesem Bericht wird eine Gesamtzahl von 5536 Schülern in allen GIL-Institutionen angegeben. Addiert man jedoch die einzeln aufgeführten Schülerzahlen, handelte es sich um 3476 Schüler.87 Insgesamt seien den 5536 Jugendlichen folgende Vergünstigungen gewährt worden: 391 Vollstipendien, 770 Halbstipendien, 17 Nachlässe [abbuoni di retta], zwei Schulunterstützungen [sussidi scolastici].88 Unabhängig davon, ob man nun 5536 oder 3476 Schüler als Grundlage annimmt, zeigt sich, dass nur eine geringe Anzahl, bestenfalls ein Drittel, an Kollegiaten in den Genuss dieser Erleichterungen kam. Führt man sich zudem im Hinblick auf die gymnasialen Collegi vor Augen, dass die zu begleichenden „Nebenkosten“ recht hoch blieben und sich unter den Profiteuren dieser wenigen Stipendien auch Söhne finanziell gut gestellter, hochrangiger Militärs befanden, wie der Sohn
82 Vgl.
PNF/GIL, Ammissione al collegio navale GIL di Venezia per l’anno scolastico 1941/42, S. 16. 83 Vgl. PNF/GIL, Accademie e collegi della G.I.L. [1942], S. 15. 84 Vgl. die Kosten für das SJ 1941/1942: PNF/GIL, Accademie, Collegi, Scuole [1941], S. 30. 85 Vgl. den Schriftverkehr zwischen der Witwe, der SPD und dem Innenministerium, 1938, in: ACS, SPD, CO, b. 990, f. 509.031; Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Allievi, Venezia, Mas-N, b. 1344, f. Minini, Giuseppe. 86 Vgl. Interview mit Giorgio Gasparini (Venedig 1939–1942), 4. 4. 2014-K, S. 2. 87 Die vollständige Auflistung: Scuola Bozen = 410 Schüler; Collegio Udine = 152 Schüler; Collegio Venedig = 298 Schüler; Collegio Forlì = 266 Schüler; Accademia Orvieto = 223 Schülerinnen; Collegio Orvieto = 144 Schülerinnen; Accademia GIL Rom = 566 Schüler; Accademia Musica GIL Rom = 184 Schüler; Accademia Scherma GIL Rom = 79 Schüler; Collegio Rom = 340 Schüler; Scuola Sabaudia = 571 Schüler; Collegio Brindisi = 243 Schüler. Vgl. Relazione finale sulle attività svolte dalla G.I.L. nell’anno XIX, in: Bollettino GIL, 28. 10. 1941, supplemento, S. 14. 88 Vgl. ebenda, S. 15.
190 IV. Der „Rohling“ – die Schüler Rino Corso Fougiers,89 wird recht deutlich, dass es bestimmten sozialen Gruppen nahezu unmöglich war, ihre Kinder an diesen Einrichtungen ausbilden zu lassen, da offensichtlich selbst die Stipendienvergabe durch das Renommee der Eltern mit beeinflusst war. Während des eben betrachteten Schuljahres 1940/1941 kam es zudem zu einem Konflikt zwischen Partei und GIL über die Weiterfinanzierung der vergebenen Stipendien. Im September 1940 behauptete die GIL, dass die regionalen Parteistellen für das Schuljahr 1939/1940 insgesamt 444 Stipendien im Wert von rund 1 090 000 Lire zur Verfügung gestellt hatten, die aber wegen finanzieller Schwierigkeiten der regionalen Parteistellen möglicherweise nicht verlängert werden konnten.90 Den begünstigten Schülern drohte der Ausschluss aus der Einrichtung, sollten sie nicht in der Lage sein, die Kosten selbst zu tragen. Nach der Neuregelung der Finanzsituation der GIL stand die Frage im Raum, ob die GIL weiterhin die Gelder der Parteistellen für die Stipendien erhalten sollte oder die Kosten durch den eigenen Haushalt zu tragen hatte.91 Die Partei entschied letztlich, dass die GIL die Stipendien nun mittels ihrer durch die Partei zur Verfügung gestellten Haushaltsmittel, die wiederum aus dem Staatshaushalt kamen, allein tragen sollte und die regionalen Parteistellen nicht mehr mit diesen Zahlungen belasten durfte.92 Darüber hinaus äußerten Parteifunktionäre intern Zweifel an der Richtigkeit der Stipendienangaben durch die GIL. Die Partei ging anstelle der von der GIL behaupteten 444 Stipendien im Wert von 1 090 000 Lire von lediglich rund 135 Stellen in einer Höhe von etwa 400 000 Lire aus.93 Laut einer detaillierten Aufstellung wurden für das Schuljahr 1938/1939 79 Stipendien und für das folgende Schuljahr tatsächlich nur 131 und ein Drittel gewährt.94 Trotz der engen Verzahnung von PNF und GIL spielte man nicht mit offenen Karten, wie die weit überzogenen Zahlen, die die GIL dem PNF übermittelte, deutlich belegen. Vermutlich erhoffte sich die GIL mit diesen frisierten Zahlen noch größere Zuwendungen vonseiten der Partei – jedoch vergebens. Um die Vergabe der Stipendien von Privatpersonen oder anderen diversen Einrichtungen kümmerten sich zunächst weiterhin die zuständigen GIL-Provinzkommandos. Zusätzlich dazu beauftragte das GIL-Generalkommando am 16. August 1941 jedes Provinzkommando mit der Erstellung einer Liste für je drei Kandidaten für Vollstipendien und drei Kandidaten für Halbstipendien auf Kosten des Generalkommandos für die im Schuljahr 1941/1942 neu öffnenden 89 Vgl.
GIL, Umberto Moretti, an Ministero dell’Aeronautica, 8. 11. 1939, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1939, b. 40, f. Collegio aeronautico Forlì – Concorso per l’assegnazione di borse di studio. 90 Giuseppe Bodini, GIL an Giuseppe Montefusco, Capo dei Servizi Amministrativi del P.N.F., 24. 9. 1940, in: ACS, PNF, DN, SV, S II, b. 251. 91 Nota per il reggente il direttorio del Partito, 4. 10. 1940, in: Ebenda. 92 Vgl. Capo dei Servizi amministrativi Giovanni Montefusco an Comando generale della G.I.L., 9. 10. 1940, und Memoria Giovanni Montefusco, 3. 9. 1941, in: Ebenda; Il Vice Segretario PNF, Alfonso Gaetani, an Segretario della Federazione dei Fasci di Combattimento di Forlì, 31. 1. 1941, in: ACS, PNF, DN, SV, S I, b. 701, f. Preventivi anno XIX. 93 Memoria Giovanni Montefusco, 26. 11. 1940, in: ACS, PNF, DN, SV, S II, b. 251. 94 Vgl. Borse di studio Istituti Gil, anni XVII e XVIII, in: ACS, PNF, DN, SV, S II, b. 252, f. borse di studio istituiti dalla G.I.L., anno XVII-XVIII.
2. Schulstellen und Stipendienvergabe 191
Collegi.95 Aufgrund der hohen finanziellen Belastungen für das Generalkommando waren die Provinzkommandos angehalten, mit großer Strenge und Exaktheit die Geeignetsten gemäß ihrer politischen, moralischen, physischen und schulischen Fähigkeiten auszuwählen: „Es geht darum, unsere besten Mitglieder aus armen Verhältnissen auszuwählen, die ihre Hingabe an die Jugendorganisationen durch Aktivitäten, Disziplin und Lerneifer unter Beweis gestellt haben. Die Verleihung der kostenlosen oder halbkostenlosen Plätze ist eine Belohnung, die sie sich verdient haben müssen.“96
Für die beiden kostenlosen Waisencollegi in Lecce und Turin, die in dem Jahr ihre Tätigkeit aufnahmen, durfte ein jedes Provinzkommando zehn Kandidaten vorschlagen.97 Über einen Monat später forderte das Generalkommando von den Provinzkommandos die entsprechenden Listen: „Unter Bezugnahmen auf das Rundschreiben 228 vom 16. 8. 1941 werden die Kommandos gebeten, die Bewerbungen der Aspiranten für Teilerlass und kostenlosen Schulbesuch der neuen Collegi an das Generalkommando zu übermitteln, mit einer Liste, auf der die Kandidaten gemäß ihrer Verdienste aufgelistet sind; eine weitere Liste soll für max. 10 Kandidaten der Waisencollegi ebenso gemäß ihrer Verdienste erstellt werden.“98
Anfang Oktober verlangte das Generalkommando von den Provinzkommandanten schließlich einen Bericht darüber, „wie du die dir zur Verfügung gestellten Stipendien für die Collegi der GIL genutzt hast“.99 Das GIL-Generalkommando war offensichtlich unzufrieden mit der Verteilung und Zuarbeit der Regionalstellen sowie der uneinheitlichen und regional divergierenden Stipendienvergabe. Aus diesem Grund rief sie im Oktober 1941 eine Kommission ins Leben, deren Aufgabe in der Erstellung von einheitlichen Kriterien und in der Zentralisierung der Stipendienvergabe bestand.100 Dieser Kommission sollten künftig alle zu vergebenden Stipendien zur Prüfung vorgelegt werden. Den Provinzkommandos war es fortan verboten, Stipendien zu verlängern oder eigenmächtig zu vergeben. Analog zur Schülerauswahl waren die Provinzkommandos nun nur noch für die Sammlung der Stipendienbewerbungen verantwortlich, die sie dann nach Erstellung einer Rangliste dem Generalkommando übermittelten, das wiederum über die tatsächliche Stipendienvergabe entschied.101 Nach deren erfolgter Zentralisierung wurden die Vollstipendien der GIL nun offiziell nach folgenden Punktwerten vergeben:102 95 Vgl. Nuovi collegi della G.I.L., in: GdL, 1. 9. 1941, S. 719. 96 Ebenda. 97 Vgl. ebenda. 98 Telegramm des Comando generale an alle comandi federali
del Regno, 24. 9. 1941, in: Bollettino GIL, 15. 10. 1941, 6° bis supplemento, S. 15. 99 Telegramm des Comando generale an alle segretari federali Regno, 8. 10. 1941, in: Ebenda. 100 Vgl. PNF/GIL, Lettera Circolare Nr. 133, 10. 10. 1941, in: ASLe, GIL, b. 15. 101 Vgl. Bando di concorso per l’assegnazione di borse di studio in favore di aspiranti allievi delle accademie e collegi della G.I.L., in: Bollettino GIL, 15. 8. 1942, 2° supplemento, S. 14 f., hier S. 15. 102 Disposizioni per il conferimento di Borse di Studio, in: Bollettino GIL, 15. 8. 1942, 2° supplemento, S. 13 f.
192 IV. Der „Rohling“ – die Schüler Kriterium
Punktwert
Durchschnittliche schulische Leistungen von 8 [entspricht der Note 2]
20 Punkte
Kinder Gefallener für Krieg oder Revolution
17 Punkte
Kinder von Verdienten um die nationale Sache
14 Punkte
Kinder in Großfamilien
12 Punkte
Durchschnittliche schulische Leistungen von 7 [entspricht der Note 3]
10 Punkte
Waisen beider Elternteile oder des Vaters
10 Punkte
Mitarbeit in der GIL
8 Punkte
Kinder von GIL-Funktionären oder Angestellten
8 Punkte
Kinder deren Eltern ehrenamtlich in der GIL arbeiten
6 Punkte
Kinder ärmerer Familien
5 Punkte
Tabelle 5: Kriterien für die Vergabe von Stipendien, 1942
Kinder unterer sozialer Schichten wurden bei diesen Stipendienvergaberichtlinien strukturell benachteiligt, denn geringes Einkommen hatte im Vergleich zu den schulischen Leistungen nur einen kleinen Einfluss auf die mögliche Punktzahl. Gleichzeitig verhinderte Armut häufig die geforderten herausragenden schulischen Leistungen, da diese Schüler früh zum Broterwerb für die Familie herangezogen wurden, nur unregelmäßig die Schule besuchen konnten oder ihnen schlichtweg das Geld für Schulmaterialien fehlte. Zur besseren Unterstützung hochverdienter, aber armer Jugendlicher gründete die GIL schließlich im Dezember 1941 zusätzlich die Fondazione Bruno Mussolini, die ebenfalls Stipendien für die Akademien, Collegi oder Schulen der GIL bereitstellen sollte.103 Im letzten regulären Schuljahr 1942/1943 vor der Absetzung Mussolinis schrieb die GIL für ihre Einrichtungen insgesamt 2871 Stellen aus,104 bot aber lediglich 143 Stipendien an.105 Darüber hinaus stellte die Fondazione Bruno Mussolini zwölf bzw. 25 Stipendien – auch hier gibt es wieder unterschiedliche Angaben – zur Verfügung, wobei die Familien bei diesen Stipendien nur die nicht unerheblichen Kosten für Schulmaterialien und Reisen übernehmen sollten.106 Zusätzlich vergab 103 Vgl. PNF, FD, Nr. 262, 24. 12. 1941. 104 2871 posti offerti ai giovani nei collegi
e nelle Accademie della GIL, in: GSM 12 (1942/43), 21, 1.–15. 7. 1942, S. 5 f. 105 Die Stipendien sollten wie folgt verteilt werden: Fechtakademie: 6; Collegio Brindisi: 5; Collegio Venedig: 5; Collegio Forlì: 5; Collegio Littorio Rom: 46; Collegio Orvieto: 6; Collegio Florenz: 6; Collegio Vittorio Veneto: 6; Collegio Vicenza: 6; Collegio Bergamo: 6; Collegio Bozen: 17; Collegio Sabaudia: 17; Collegio Città di Castello: 6; Collegio Rieti: 6. Vgl. Bando di concorso per l’assegnazione di borse di studio in favore di aspiranti allievi delle accademie e collegi della G.I.L., in: Bollettino GIL, 15. 8. 1942, 2° supplemento, S. 14 f. 106 Die 25 Stipendien sollten wie folgt verteilt werden: Collegio Forlì: 12; Collegio Florenz: 3; Collegi Vicenza und Bergamo: 4; Akademie Orvieto: 2; Akademie Rom: 2; Città di Castello: 2, vgl. Fondazione „Bruno Mussolini“. Bando di concorso per il conferimento di 25 Borse di Studio valevoli per l’ammissione ai Collegi della G.I.L. nell’anno scolastico 1942–43, in: Bollettino GIL, 15. 8. 1942, 2° supplemento, S. 12 f. Die 12 Stipendien
2. Schulstellen und Stipendienvergabe 193
das GIL-Generalkommando nach den Verlusten in Afrika 230 Stellen an die jungen Heimkehrer aus Italienisch-Ostafrika (AOI). Eine Stelle an einem der begehrten gymnasialen Collegi befand sich jedoch nicht darunter.107 Betrachtet man nun für dieses letzte Schuljahr die Kosten für einen Collegiobesuch und die Bereitstellung von Stipendien, zeigt sich ein Bild, das weiterhin nicht dazu angetan war, leistungsstarken, um „den Faschismus verdienten Schülern“ aus einkommensschwachen Familien einen sozialen Aufstieg zu ermöglichen, auch wenn die Presse ein anderes Bild zeichnete. Diese behauptete nämlich: „Es ist sehr interessant zu bemerken, dass die Auswahl und Nachwuchssicherung in den verschiedensten Bevölkerungsschichten durchgeführt wird. Die Militärkarriere ist auch dank der Collegi kein Weg mehr, der einigen wenigen Privilegierten vorbehalten ist, sodass auch der sich würdig erweisende Avantgardist aus einfachen Verhältnissen besondere Erleichterungen oder Stipendien erhalten kann, die jedes Collegio zur Verfügung stellt.“108
Führt man sich vor Augen, dass in Venedig bei 87 Stellen gerade einmal fünf Stipendien gewährt wurden, muss die propagandistische Darstellung hinsichtlich der Aufstiegsmöglichkeiten „verdienter Faschisten aus einfachen Verhältnissen“ stark in Zweifel gezogen werden. Insgesamt blieben das Schulgeld und die Zusatzkosten für die weiterführenden Collegi hoch, die Anzahl der Stipendien aber gering, zumal die Fondazione kein einziges Stipendium für die weiterführenden Collegi in Venedig und Brindisi, sondern nur für das in Forlì zur Verfügung stellte. Die Höhe der Kosten zeigt sich auch besonders deutlich im Vergleich mit den drei Militärschulen, zu denen die gymnasialen Collegi analog errichtet wurden. Mehr als 1000 Lire zusätzlich pro Jahr mussten die Eltern der gymnasialen GILKollegiaten aufwenden und auch für die Ausstattung und die Pflege der Ausstattung hatten sie tiefer in die Tasche zu greifen.109 Zudem konnten den Militärschulstipendiaten die letztgenannten Kosten erlassen werden – nicht so den GILStipendiaten. Niedriger war hingegen die Schulgebühr für das Heerescollegio in Bozen, zugleich gab es mehr Stipendien, womit eine berufliche Lenkung in einen sollten wie folgt verteilt werden: Collegio Forlì: 6; Collegio Florenz: 1; Collegi Vicenza + Bergamo: 2; Akademie Rom: 1; Akademie Orvieto: 1; Collegio Città di Castello: 1, vgl. Bando di concorso per l’assegnazione di borse di studio in favore di aspiranti allievi delle accademie e collegi della G.I.L., in: Bollettino GIL, 15. 8. 1942, 2° supplemento, S. 14 f. 107 Die Stellen waren wie folgt verteilt: 20 Accademia di scherma, 30 Collegio Littorio, 50 Collegio Caracciolo, 20 Collegio Caracciolo mit Sitz in Formia, 50 Città di Castello, 20 Rieti, 20 Tagliacozzo, 20 Teramo. Vgl. PNF, FD, Nr. 111, 4. 9. 1942. 108 Vittore Querel, Il Collegio Navale della G.I.L. Nascono gli ufficiali della Marina imperiale, in: Il lavoro fascista, 7. 12. 1938, S. 3. Eine ähnliche Darstellung findet sich in G.R., I Collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 2. 1941, s. p., sowie in: Vitalità dei nostri collegi, in: Collegio „M.O. Aldo Fiorini“ per orfani di guerra, Lecce, supplemento al n. 18 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 21. 7. 1942, S. 1, derzufolge die Collegi Kinder aller sozialer Schichten aufnehmen, aber im Besonderen die Kinder derer, die sich Verdienste um das Vaterland und die faschistische Sache erworben haben. In einem Artikel aus dem Jahre 1942 heißt es, dass Vermögen und soziale Klasse in den Collegi vergessen seien, vgl. Mario Giovannucci, Funzione politica e culturale dei Collegi della G.I.L., in: GdL, 1. 3. 1942, S. 313–315, hier S. 314. 109 Vgl. Mario Marsilii, Alunni, esami, tasse, Rom 1942, S. 534 f.
194 IV. Der „Rohling“ – die Schüler Bereich vorgenommen wurde, in dem der Personalmangel angesichts des Krieges besonders eklatant zu Buche schlug:110 Name der Einrichtung
Schulgebühren
Anzahl der ausgeschriebenen Plätze
Anzahl der Stipendien der GIL/der Fondazione
Marinecollegio Brindisi
Jahresgebühr 4620 Lire, Ausstattung (einmalig) 1980 Lire, Erhaltung der Ausstattung (jährlich) 1100 Lire, Versicherung (jährlich) 141 Lire, Geld für Bücher und Schreibwaren, Steuern für Examen Jahresgebühr 4620 Lire, Ausstattung (einmalig) 1980 Lire, Erhaltung der Ausstattung (jährlich) 1100 Lire, Versicherung (jährlich) 141 Lire, Geld für Bücher und Schreibwaren, Steuern für Examen Jahresgebühr 4620 Lire, Ausstattung (einmalig) 1980 Lire, Erhaltung der Ausstattung (jährlich) 1100 Lire, Versicherung (jährlich) 139 Lire, Geld für Bücher und Schreibwaren, Steuern für Examen Jahresbetrag 2640 Lire, Erstausstattung 264 Lire
150
5/–
87
5/–
80
5/[6/12]
70
17/–
Kostenlos
100
–/–
Marincollegio Venedig
Luftwaffen collegio Forlì
Militärcollegio Bozen Waisencollegio Lecce
Tabelle 6: Schulgebühren und Stipendien, SJ 1942/1943
Der Besuch eines weiterführenden Collegios hing also weiterhin vor allem vom Status und Geldbeutel der Eltern und weniger vom „verdienstvollen“ Verhalten des Zöglings ab. Wege wie in Deutschland, wo der Schulbesuch an den AdolfHitler-Schulen kostenlos oder an den NPEA und der Reichsschule Feldafing das Schulgeld in Abhängigkeit vom Verdienst der Eltern berechnet wurde,111 um die 110 Die
folgenden Angaben hinsichtlich der Schulstellen und der Kosten sind entnommen: PNF/GIL, Accademie e collegi della G.I.L. [1942], S. 5–7, 29, 31, 43, 47. Die Anzahl der GIL-Stipendien, sowie die unterschiedlichen Stipendienzahlen der Fondazione sind entnommen: Fondazione „Bruno Mussolini”. Bando di concorso per il conferimento di 25 Borse di Studio valevoli per l’ammissione ai Collegi della G.I.L. nell’anno scolastico 1942–43, in: Bollettino GIL, 15. 8. 1942, 2° supplemento, S. 12 f.; Bando di concorso per l’assegnazione di borse di studio in favore di aspiranti allievi delle accademie e collegi della G.I.L., 15. 8. 1942, S. 14 f. 111 Vgl. Goerlitz, Aufnahmebedingungen für die Nationalsozialistische Oberschule Starnbergersee, s. d., in: BA Berlin, NS 20, 137 a, Bl. 22 f.; „Wer viel verdient, zahlt viel, wer wenig Einkommen hat, zahlt auch wenig!“ Goerlitz, Leiter Feldafing, an Gaupersonalamt des Gaues München-Oberbayern, 28. 9. 1939, in: BA Berlin, NS 20, 137 a, Bl. 28–
3. Die soziale Herkunft der Schüler 195
„rassisch wertvollen“ und politisch zuverlässig Tüchtigen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft gemeinsam zu formen, die soziale Mobilität zu fördern und damit die postulierte Egalisierung der Aufstiegschancen zumindest ansatzweise zu realisieren,112 beschritt Italien zu keinem Zeitpunkt. Dabei hatte die italienische Botschaft in Berlin bereits recht früh und auch regelmäßig113 über den kostenlosen Aufenthalt an den Adolf-Hitler-Schulen informiert.114 Das zeitgenössische Urteil aus dem HJ-Organ „Wille und Macht“ erweist sich im Hinblick auf die italienischen Collegi ganz und im Hinblick auf die deutschen Ausleseschulen in Teilen als bloße Propaganda: „Auch darin stimmen Faschismus und Nationalsozialismus überein, daß sie die Erziehung der heranwachsenden Generation als eines der Kernprobleme der Staatsführung betrachten und daß sie beim Aufbau der ‚Pyramide‘ des hierarchischen Führerstaates allen Angehörigen des Volkes Aufstiegsmöglichkeiten bieten. Vorrechte der Geburt und des väter lichen Geldbeutels zählen nicht mehr.“115
3. Die soziale Herkunft der Schüler Die Rekonstruktion der sozialen Herkunft der Kollegiaten gestaltete sich äußerst schwierig, da die Jugendorganisation einerseits nie Daten veröffentlichte116 30, hier Bl. 29; Eilers, Nationalsozialistische Schulpolitik, S. 45; Scholtz, Nationalsozialistische Ausleseschulen, S. 82, 85, 132. 112 Dieser Anspruch zeigt sich etwa in der Liedzeile des täglich intonierten Liedes der Adolf-Hitler-Schüler: „Und niemand fragt, woher wir kamen / Bei uns gilt nur der Kerl allein.“ Zit. nach Gisela Miller-Kipp, „Deutsche Jungs, die dem Führer helfen, das Reich zu tragen“. Elite-Bildung und Elite-Bewusstsein in der Adolf-Hitler-Schule nebst Erinnerungsspuren zur „Ordensburg“ Vogelsang, in: Paul Ciupke/Franz-Josef Jelich (Hrsg.), Weltanschauliche Erziehung in Ordensburgen des Nationalsozialismus. Zur Geschichte und Zukunft der Ordensburg Vogelsang, Essen 2006, S. 53–64, hier S. 56. Dass auch dieser Anspruch nur bedingt eingelöst wurde, hat die Forschung schon hinreichend belegt. Letztlich waren Söhne von Angestellten und Beamten an den AHS überre präsentiert, Arbeiter- und Bauernsöhne jedoch unterrepräsentiert. Vgl. Feller/Feller, Adolf-Hitler-Schulen, S. 103 f.; Helen Roche kommt für die NPEA zu vergleichbaren Ergebnissen und konstatiert, dass „der weit überwiegende Teil der Eliteschüler somit einen bürgerlichen oder zumindest kleinbürgerlichen Hintergrund“ hatte. Vgl. Roche, Schulische Erziehung und Entbürgerlichung, S. 161. 113 Vgl. Bernardo Attolico an Ministero Affari Esteri, Ministero della Cultura Popolare, La formazione dei gerarchi del partito nazionalsocialista, 24. 11. 1937, in: ASMAE, AP, 1931–1945, Germania, b. 37; Bernardo Attolico an Ministero Affari Esteri, Ministero della Cultura Popolare, La formazione dei gerarchi del partito nazionalsocialista, 3. 12. 1937, in: Ebenda. 114 „Sehr bedeutsam ist das Prinzip, wonach der Aufenthalt kostenlos ist, da so – wie die nationalsozialistischen Zeitschriften bemerken – das sozialistische Prinzip tatsächlich verwirklicht wird.“ Ambasciata d’Italia Berlino an Ministero degli Affari Esteri, Ministero per la Stampa e la Propaganda, Istituzione di Scuole Nazionalsocialiste, 20. 1. 1937, in: Ebenda. 115 Heymann, Centro di preparazione politica, in: Wille und Macht 8 (1940), S. 16. 116 Ganz im Gegensatz zur zeitgenössischen Berichterstattung über die nationalsozialis tischen Ausleseschulen, in der immer wieder Zahlen veröffentlicht wurden, um den sozialrevolutionären Geist der Einrichtungen zu unterstreichen. Vgl. etwa G.S., Bei den
196 IV. Der „Rohling“ – die Schüler und die Schülerakten andererseits entweder nicht überliefert sind oder wenig aussagekräftig waren. In den Bozner Schülerakten fanden sich kaum Anhaltspunkte über die soziale Herkunft der Schüler. Während aus den venezianischen Schülerakten über den Schriftverkehr mit den Familien (etwa über Briefköpfe oder Ähnliches) Rückschlüsse auf die (Berufs-)Tätigkeit der Eltern gezogen werden konnten, fand sich in den Bozner Akten kaum Schriftverkehr und auch keine Einschätzungen zur politisch-moralischen Zuverlässigkeit, sondern für die Fragestellung nur unergiebige Impfnachweise, Zeugnisse und Geburtsnachweise. Die Schülerakten für Forlì sind nicht überliefert und für Brindisi konnten lediglich in einem Antiquariat wenige Akten eingesehen werden, die aber mitnichten repräsentativ, sondern lediglich als Anhaltspunkte zu werten sind. So konnte einzig und allein für Lecce und Venedig auf aussagekräftigere Schülerakten zurückgegriffen werden. Die Ergebnisse zur sozialen Herkunft der Venedig-Kollegiaten basieren auf einem Sample von 173 angehenden Maturanten der Jahre 1940, 1942 und 1943. Als Maß für die soziale Herkunft wird die Berufstätigkeit des Vaters herangezogen. Die kategoriale Verteilung der Berufstätigkeit des Vaters orientiert sich – aufgrund des Mangels an Analysen über die soziale Herkunft von Schülern der drei Militärschulen – an Balestras Studie über die soziale Herkunft der Absolventen der Militärakademie von Modena.117 Auch wenn der Untersuchungszeitraum leicht differiert, bietet der Vergleich die Möglichkeit, Aussagen über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen regulären Militäreinrichtungen und diesen partei-/jugendorganisationsgeführten Militäreinrichtungen zu treffen. Bei dieser Aufstellung muss jedoch auf die Schwierigkeiten bei der eindeutigen Zuordnung verwiesen werden, die sich aus den in den Akten wechselnden Angaben über die Tätigkeiten der Väter ergaben. Dies lässt sich auf ein Phänomen zurückführen, auf das jüngst erst Christof Dipper verwiesen hat: „Dort [in Italien] ist es heute noch möglich, und oft begegnende Praxis, Anwalt, Professor, Schriftsteller und Politiker zugleich zu sein. Kulturelles und Sozialkapital addieren sich zwanglos und verleihen der italienischen Elite eine deutlich andere Physiognomie als der deutschen.“118 Exemplifizieren lässt sich diese Tätigkeitsakkumulation sehr gut an Alessandro Strazza. Der Vater des Marinekollegiaten Guido Strazza, Mitglied des Fascio seit 1. Januar 1921, war promovierter Wirtschaftswissenschaftler, Journalist und Direktor der in Genua erscheinenden Tageszeitung Il Nuovo Cittadino, für die im Übrigen der Rektor des Collegios jahrelang schrieb, Parteisekretär von
Adolf-Hitler-Schülern, in: Frankfurter Generalanzeiger, 15./16. 1. 1938, und J.H., Unsere Adolf-Hitler-Schule, in: Rhein N.S.Z. Front, 15. 1. 1938 (BA Berlin, NS 12, 710, Bd. 2); Ausleselehrgang im Möhneheim des NSLB, in: Mitteilungsblatt des NSLB, Gauwaltung Westfalen-Süd (1942), 4, S. 14. 117 Vgl. Gian Luca Balestra, La formazione degli Ufficiali nell’Accademia militare di Modena (1895–1939), Rom 2000, S. 407. 118 Christof Dipper, Ferne Nachbarn. Deutschland und Italien 1860–1960, in: Ders., Ferne Nachbarn. Vergleichende Studien zu Deutschland und Italien in der Moderne, Köln/ Weimar/Wien 2017, S. 323–356, hier S. 331.
3. Die soziale Herkunft der Schüler 197
Mogadischu und Präsident des faschistischen Kolonialinstitutes in Genua.119 Väter wie dieser erschwerten eine eindeutige Zuordnung zu einer Kategorie. Betrachtet man die drei am häufigsten auftretenden Berufe, so ergibt sich folgendes Bild für die Akademie in Modena: An erster Stelle standen die Offiziere, gefolgt von Angestellten des öffentlichen Dienstes und Händlern. Für das Marinecollegio in Venedig stellten für die Jahre 1940, 1942, 1943 die Offiziere die häufigste Berufsgruppe der Väter, gefolgt von Medizinern. Lediglich die dritthäufigste Berufsgruppe variiert zwischen Besitzenden/Anwälten (1940), Anwälten/Angestellten des öffentlichen Dienstes (1942) und Unternehmern (1943). Es zeigt sich also in beiden Einrichtungen, dass die mit Abstand häufigste Berufsgruppe die der Offiziere war und damit der Versuch unternommen wurde, die berufliche Laufbahn des Vaters fortzusetzen und den Status zu erhalten. Auch die folgenden Berufsgruppen der Mediziner und Anwälte verdeutlichen, dass es sich dabei um wohlhabende, bildungsbürgerliche Berufsgruppen mit hoher Reputation handelte. Während es in der Akademie keine Arbeiterkinder gab, konnten für das Marinecollegio zumindest zwei ermittelt werden – ein dennoch verschwindend geringer Anteil. So antwortete ein Zeitzeuge auf die Frage, ob Schüler aller sozialer Klassen das Marinecollegio besuchten, im Brustton der Überzeugung: „Arbeiterkinder nicht mal im Traum“,120 obwohl diese während seiner Schulzeit im Collegio anwesend waren. Für die späteren Jahre konnten keine Arbeiterkinder ausfindig gemacht werden. Dieser Vergleich zeigt eindeutig, dass die soziale Herkunft sich kaum von der traditionellen sozialen Herkunft von Zöglingen einer Militäreinrichtung unterschied und die Auswahl somit kaum als sozialrevolutionär, sondern vielmehr als sozialkonservativ charakterisiert werden muss.
119 Vgl.
PNF, FD, Nr. 601, 22. 6. 1936; Nr. 798, 18. 4. 1937; La nazione operante, 1937, S. 487; Luigi Goglia, Sulle organizzazioni fasciste indigene nelle colonie africane dell’Italia, in: Giuliana Di Febo/Renato Moro (Hrsg.), Fascismo e franchismo. Relazioni, immagini, rappresentazioni, Soveria Mannelli 2005, S. 173–212, hier S. 211, Anm. 71. 120 Interview mit Carlo Gottardi (Brindisi, Venedig 1937–1940), 3. 4. 2014-K, S. 4.
0,06 0,19 0,06
1 3 1 1 64 78 51 1 1
Verleger Mediziner, Tierärzte, Apotheker Freiberufler Unternehmer Bankiers Landverpächter 0,06 3,95 4,81 3,15 0,06 0,06
16,04 4,19 0,99 1,48 5,37 1,23
0,43
260 68 16 24 87 20
7
Abgeordnete, Gewerkschafter, Bürgermeister
1,23
0,37
1,48 0,49
21,47 4,63
Prozentsatz Modena
Öffentliche Angestellte Privatangestellte Versicherungen – Banken Facharbeiter Lehrer Buchhalter und Vermesser Anwälte Ingenieure Auktionsleiter Journalisten Hypothekenbesitzer
6 20
Magistrate
24 8
Öffentliche Sicherheit Offiziere der MVSN
Präfekt, Unterpräfekt, Präfekturberater
348 75
Schüler der Militärakademie von Modena (1932–1939)
Offiziere Unteroffiziere
Beruf
14,06 3,13 3,13
2 2
3,13 7,81 1,56
2 5 1
9
4,69
1,56
3,13
15,63
Prozentsatz 1940
3
1
2
10
Kollegiaten Marinecollegio 1940
7,27 1,82 4 1
1 1
1,82 1,82
14,55
1,82 1
8
3,64
7,27
3,64
1,82
25,45
Prozentsatz 1942
2
4
2
1
14
Kollegiaten Marinecollegio 1942
5
8
1 3 1 1
3
2
1
1
11
Kollegiaten Marinecollegio 1943
9,26
14,81
1,85 5,56 1,85 1,85
5,56
3,70
1,85
1,85
20,37
Prozentsatz 1943
198 IV. Der „Rohling“ – die Schüler
13
17 2 188 1621
Rentner Invaliden
Fehlende Angaben
Gesamt 100,00
11,60
1,05 0,12
0,06
6,48
0,19
0,80 0,12
0,80
6,97
Prozentsatz Modena
64
16
5
1
2
3
Kollegiaten Marinecollegio 1940
100,00
25,00
7,81
1,56
3,13
4,69
Prozentsatz 1940
55
16
Kollegiaten Marinecollegio 1942
100,00
29,09
Prozentsatz 1942
54
13
2
1
1
Kollegiaten Marinecollegio 1943
Tabelle 7: Berufstätigkeit des Vaters: Vergleich von Schülern der Militärakademie Modena mit Kollegiaten des Marinecollegios Venedig
1
Waldensischer Pastor
105
3
Künstler, Musiker
Eigentümer, Wohlhabende, Grundbesitzer, Absolventen
13 2
Landwirt, Agronom, Gärtner Diplomierter Agrartechniker
Arbeiter
113
Händler
Schüler der Militärakademie von Modena (1932–1939)
Selbstständige
Beruf
100,00
24,07
3,70
1,85
1,85
Prozentsatz 1943
3. Die soziale Herkunft der Schüler 199
200 IV. Der „Rohling“ – die Schüler Ebenso aufschlussreich wie die Prozentzahlen sind die Familienprofile der Kollegiaten. Sie machen deutlich, dass es sich bei den Schülern in Venedig in Teilen um die italienische Oberschicht, die damalige High-Society, handelte: „Die Schüler waren ausgewählt und kamen überwiegend aus höheren sozialen Schichten. Zum Beispiel war in meiner Klasse ein Arbeitersohn mit Stipendium. Aus der Mittelklasse, Kinder von Ärzten, waren zwei, die anderen waren Kinder von hohen Offizieren der Marine oder der Partei, andere der Aristokratie. Ein Schüler erhielt zum Geburtstag Grüße aus dem Hause Savoyen und von Mussolini. Der eine war der Sohn eines Herzogs, der andere eines Marquis, die anderen von Grafen. […] Es war ein Querschnitt der ‚In‘-Gesellschaft.“121 In Venedig lernten die beiden Söhne des Komponisten der Parteihymne Giovinezza Giuseppe Blanc,122 der Sohn von Dino Alfieri,123 Propagandaminister und späterer Botschafter in Berlin, sowie der Sohn dessen Kabinettschefs im Propagandaministerium Celso Luciano.124 Weitere faschistische Politiker, die ihre Söhne in Venedig ausbilden ließen, waren Riccardo Gigante, mit Gabriele D’Annunzio befreundeter Bürgermeister von Fiume und Senator,125 sowie Benesperando Luraschi,126 Parteisekretär in Görz und Generalinspekteur der Jugendorganisation, Silvio Solari, Bürgermeister von Rapallo, Ettore Polastri,127 Bürgermeister und Parteisekretär in Pis toia, Pietro Bonoldi, italienischer Konsul in Crikvenica und Basilide Morelli, Abgeordneter in der Abgeordnetenkammer. Auch die Witwe des bereits 1928 verstorbenen frühen Faschistenführers von Venedig (1919 bis 1922), Pietro Marsich, der sich gegen die Umwandlung der Bewegung in eine Partei gestellt hatte, schickte ihren gemeinsamen Sohn auf dieses Collegio.128 Die Witwe Marsichs habe mit ihren beiden Kindern in „prekären finanziellen Verhältnissen“ gelebt – 121 Schreiben Giorgio Gasparinis (Venedig 1939–1942), 20. 8. 2012, S. 4 f. 122 Vgl. Querel, Collegio Navale della G.I.L., in: Il lavoro fascista, 7. 12. 1938, S. 3. 123 Einige seiner Besuche im Marinecollegio sind auch filmisch festgehalten, ohne
dass dabei jedoch auf die Anwesenheit seines Sohnes im Collegio verwiesen wurde: Venezia. I gagliardetti delle scuole primarie e il collegio navale, in: Giornale Luce B1294, 27. 4. 1938; Venezia. Il collegio navale della Gil, in: Giornale Luce B1528, 14. 6. 1939. Alfieri habe den Schülern auch ein Vervielfältigungsgerät zur Verfügung gestellt, damit diese ihre Schülerzeitung drucken konnten. Vgl. Querel, Collegio Navale della G.I.L., in: Il lavoro fascista, 7. 12. 1938, S. 3. 124 Dieser nutzte sogleich seine Kontakte, um Material für das Marinecollegio in Venedig zu erhalten. Vgl. Celso Luciano an Luogotenente Generale Comandante la Milizia Nazionale Forestale, 19. 9. 1938, in: ACS, MinCulPop, Gabinetto, b. 97. 125 Vgl. Amleto Ballarini, Quell’uomo del fegato secco (Riccardo Gigante senatore fiumano), Rom 2003. 126 Vgl. Mario Missori, Gerarchie e statuti del P.N.F. Gran Consiglio, Direttorio nazionale, Federazioni provinciali: quadri e biografie, Rom 1986, S. 231. 127 Vgl. ebenda, S. 260. 128 Pietro Marsich (1891–1928), Jurist und Journalist, Irredentist, Interventist. Von 1919 bis 1922 leitete er den Fascio veneziano di combattimento und gab ab 1920 zudem die Zeitschrift Italia Nuova heraus. Er trat für die Beibehaltung des Faschismus als antiparlamentarische Bewegung ein und wandte sich gegen deren Umwandlung in eine Partei. 1922 zog er sich aus der Politik zurück. Vgl. Giulia Albanese, Pietro Marsich, Verona 2003; Gentile, Via italiana al totalitarismo, S. 163, und die Kurzbiographie in: Mimmo Franzinelli, Squadristi. Protagonisti e tecniche della violenza fascista, 1919–1922, Mailand 2003, S. 237 f.
3. Die soziale Herkunft der Schüler 201
so die Biographin Giulia Albanese – sodass der Militantin der ersten Stunde des Fascio finanziell unter die Arme gegriffen wurde und sie als Sekretärin zunächst für die ONB und dann die OND arbeitete.129 Wie sie als Sekretärin das hohe Schulgeld begleichen konnte, bleibt rätselhaft, sodass davon ausgegangen werden muss, dass auch sie durch staatliche bzw. Parteistellen finanziert wurde. Wie bereits in der Erinnerung des Zeitzeugen angeklungen, fand sich eine Vielzahl von Adelssöhnen in dem Collegio, deren Väter häufig politische oder militärische Posten innehatten. Dazu zählten etwa der Hauptmann der Artillerie Graf Bartolomeo Guarienti di Brenzone,130 der Richter Baron Vittorio Guillot, der Bürgermeister von San Giovanni d’Asso Graf Rodolfo Piccolomini Bandini,131 der General Graf Nicolao De Nobili, der promovierte Naturwissenschaftler Graf Luigi Grumelli,132 der Oberstleutnant und Adjutant (aiutante in campo) des Herzogs von Pistoia Graf Eduardo Teodorani Fabbri133 sowie der Hauptmann der Kavallerie, Bürgermeister von San Michele al Tagliamento Marquis Giuseppe De Buoi Vizzani.134 Über die Söhne der beiden Letztgenannten fanden sich in den Abschlussjahrbüchern Kurzbeschreibungen, die deren Status und Habitus verdeut lichen. Dort heißt es über Pio Teodorani-Fabbri, den federale und späteren Ehemann einer Enkelin des Fiat-Gründers: „[U]nd als ob das nicht reichen würde, kennt er noch die Baronin Y, den Graf X sowie unendlich viele andere Personen“,135 und mit Ironie wird behauptet, der Marquis De Buoi habe die Freundschaft beendet, denn: „Ich hatte die Frucht ohne Gabel gegessen!!!“136 Nachdem der Fregattenkapitän Graf Enrico De Bellegarde137 1941 auf einem von ihm kommandierten Torpedoboot tödlich verunglückte, besuchte Kronprinz Umberto das Marine collegio, um dessen Sohn Trost zu spenden.138 Auch mütterlicherseits entstammten nicht wenige Kollegiaten Adelsfamilien, wie etwa die Mutter der Accame-Brüder: Fiammetta Paolozzi139 (Adelsfamilie aus Siena), die Alviginis: Vera/Valeria Bracci140 (Adelsfamilie aus Fano), die Moreschis: Enrichetta Gallo141 (Adelsfamilie aus Osimo), die Teodorani Fabbris: Maria Teresa Viglietti142 (Adelsfamilie aus Bagnolo mit Residenz in Turin), die Grumellis: Bona Grumelli Pedrocca Suardo143 (Adelsfamilie aus Bergamo) und die
129 Albanese,
Pietro Marsich, S. 97 f. Die Witwe sei auch während des Faschismus aktive und überzeugte Militantin geblieben. Vgl. ebenda, S. 103. 130 Vgl. Libro della nobiltà italiana, 1937–39, Bd. A-L, S. 730 f. 131 Vgl. ebenda, Bd. M-Z, S. 356. Adelsfamilie aus Siena. 132 Vgl. ebenda, Bd. A-L, S. 727. 133 Vgl. ebenda, Bd. M-Z, S. 710. 134 Vgl. ebenda, Bd. A-L, S. 248 f. 135 Il federale, in: Corso Sagittario [Venedig 1942], s. p. 136 De Buoi, in: Ebenda, s. p. 137 Vgl. Libro della nobiltà italiana, 1937–39, Bd. A-L, S. 149. 138 Vgl. Attività delle accademie e collegi della G.I.L., in: GdL, 1. 12. 1941, S. 102. 139 Vgl. Libro della nobiltà italiana, 1937–39, Bd. M-Z, S. 293. 140 Vgl. ebenda, Bd. A-L, S. 223. 141 Vgl. ebenda, S. 631 f. 142 Vgl. ebenda, Bd. M-Z, S. 810. 143 Vgl. ebenda, S. 685 f.
202 IV. Der „Rohling“ – die Schüler Marsaglias: Vittoria Dusmet de Smours144 (Adelsfamilie aus Neapel). Die These, „dass der Adel dem Faschismus eher mit Distanz und Ablehnung gegenüber stand“,145 kann für das Marinecollegi also in Anbetracht der zahlreichen Adelssprösslinge nicht bestätigt werden. Möglicherweise ließen auch die Hoffnungen auf einen erleichterten Zugang zum Militär, dem traditionellen Metier des Adels, Distanz und Ablehnung schwinden. Dass die Mehrheit der Väter Offiziere waren, wurde bereits angesprochen, sodass nur kurz auf die bedeutendsten Militärs verwiesen werden soll. Dazu zählte zum einen der bereits mehrfach erwähnte Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Rino Corso Fougier, dessen Sohn zuerst das Marinecollegio und danach das Luftwaffencollegio besuchte. Darüber hinaus machte der Sohn des Kommandanten des Luftwaffencollegios von Forlì, Raoul Moore, seinen Abschluss in Venedig und auch der Sohn von Eugenio Morra, Oberst und Militärkabinettschef in Dalmazien,146 erhielt dort seine Matura. Des Weiteren ließen Journalisten wie der Stiefvater Francesco Malgeri, Direktor des Messaggero von 1932 bis 1941,147 oder Michele Favia del Core,148 der für den Corriere della Sera arbeitete und zudem Präsident der Federazione Italiana Nuoto war, ihre Söhne dort ausbilden. Hinzu kamen die Zöglinge aus der Wirtschaft wie etwa Alvise Nardini aus der Grappa-Dynastie Nardini und Eraldo Cavalli, dessen Vater Peroni-Bier in Bari149 leitete. Doch auch Richter beim Spezialtribunal zur Verteidigung des Staates150 und berühmte Musikologen und Komponisten wie Adelmo Damerini151 schickten ihre Söhne nach Venedig, sodass sich die Einschätzung des Zeitzeugen bestätigt, es habe sich bei den Schülern des Marinecollegios weitestgehend um die damalige High Society gehandelt. Auch wenige finanziell schlechter gestellte Jugendliche fanden Aufnahme. Einer dieser Fälle ist besonders interessant, da der Vater eines Marinekollegiaten zunächst Sozialist war und angestellter Schiffer blieb. Remo Fabbris (* 1882), Vater des Venedig-Kollegiaten Nino Fabbris (* 1920), zeitweiliger Führer des PSI in Rovigo152 und seit November 1915 aufgrund seiner „sozialistischen Umtriebe“ 144 Vgl. 145 Vgl.
ebenda, Bd. A-L, S. 515 f. Jens Petersen, Der italienische Adel von 1861 bis 1946, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Europäischer Adel 1750–1950, Göttingen 1990, S. 243–259, hier S. 257. 146 Vgl. Carlo Spartaco Capogreco, I campi del duce. L’internamento civile nell’italia fascista (1940–1943), Turin 2004, S. 137, Anm. 50. 147 Vgl. die Kapitel 5, 6 und 7 in: Costanzo Costantini, La storia del Messaggero. Il più grande quotidiano di Roma dalla sua fondazione ad oggi, Rom 2008. Der leibliche Vater von Marco Fabio Crespi, Dino Crespi, war ebenfalls Graf. 148 Vgl. Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Allievi, Collegio Navale G.I.L., Venezia, F-GA, b. 1341, f. Favia del Core, Massimiliano. 149 Vgl. Rudi Peroni, La bionda della mia vita. Ritratto della famiglia che ha creato la birra in Italia, Mailand 2008, S. 127; Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Allievi, Cartelle Sciolte, Collegio Navale, GIL, Venezia, A-B-C-D, b. 1357, f. Cavalli, Eraldo. 150 Vgl. Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Allievi, Venezia, BER-CAN, b. 1338, f. Cagnoni, Piero. 151 http://www.treccani.it/enciclopedia/adelmo-damerini_(Dizionario-Biografico) [1. 8. 2017]. 152 Vgl. Ernesto Brunetta, Dalla grande guerra alla Repubblica, in: Silvio Lanaro (Hrsg.), Storia d’Italia. Le regioni dall’Unità a oggi. Il Veneto, Turin 1984, S. 911–1035, hier S. 923.
3. Die soziale Herkunft der Schüler 203
unter polizeilicher Beobachtung, wurde 1919 in den Casellario politico centrale aufgenommen153 – in dem im Übrigen auch Mussolini zeitweilig geführt wurde. Dabei handelte es sich um die spätere berühmt-berüchtigte „Antifaschistenkartei“ im Innenministerium. Im Ersten Weltkrieg wurde Fabbris wegen seiner kontinuierlichen Antikriegspropaganda aus seiner Einheit entfernt. Während des Generalstreiks im Juli 1919 führte er eine rote Brigade, was mit einer Haftstrafe geahndet wurde. Seit der Machtübernahme der Faschisten habe er sich jedoch aus der Politik zurückgezogen und ab 1930 finden sich Bemerkungen in seiner Akte, dass er „philofaschistische Gefühle“ entwickelt habe, sodass er schließlich im Mai 1932 aufgrund unauffälligen Verhaltens aus der Kartei entfernt wurde. Fünf Jahre später, mit dem ersten Jahrgang, wurde der Sohn des verurteilten, pazifistischen Schiffers in das distinguierte, faschistische Marinecollegio aufgenommen, der sich in der Folgezeit durch „sicheren Glauben und tiefe Bindung an die Pflicht“154 auszeichnete und aufgrund dessen zum Führer (capo scelto) einer Kompanie ernannt wurde. Die interessante Frage, welche Fürsprecher der einkommensschwache, verurteilte Vater hatte, die wahrscheinlich auch für das hohe Schulgeld aufkamen, um seinen Sohn in diesem Collegio ausbilden lassen zu können, kann leider mithilfe der zur Verfügung stehenden Akten nicht geklärt werden.155 Werfen wir nun noch einen kurzen Blick auf die Sozialstruktur der anderen gymnasialen Collegi in Brindisi und Forlì. Für Brindisi konnten lediglich acht in einem Antiquariat aufgefundene Schülerakten für die Schuljahre 1937 bis 1943 ausgewertet werden. Hier schwankt die Herkunft von einer Familie mit Besitz von 800 000 Lire und bestem Leumund156 bis hin zu einem Schüler, über dessen Eltern es heißt, dass „sie keinen moralischen Sinn haben und zu jeder kriminellen Aktivität fähig sind, keine Mitglieder des P.N.F. sind und der Spionage verdächtigt werden. […] Die wirtschaftlichen Bedingungen sind schlecht, da sie keiner Beschäftigung nachgehen und kein anderes Einkommen haben.“157 Kurz nach dem Eingang dieser Einschätzung wurde der Schüler auch schon wieder der Schule verwiesen. Ob die Unmöglichkeit, das Schulgeld zu zahlen, oder die „moralischpolitische“ Einschätzung der Familie ausschlaggebend war, ist der Akte nicht zu entnehmen. Es zeigt sich jedoch an dem Beispiel nochmals deutlich die vom Generalkommando häufig beklagte oberflächliche Einholung von Informationen über die Aspiranten vonseiten der Provinzkommandos. Abgesehen von dieser Ausnahme waren die Väter der Kollegiaten als Ingenieur, Mediziner und Unter153 Vgl.
ACS, MI, Direzione Generale della Pubblica Sicurezza, Divisione affari generali e riservati, Casellario politico centrale (künftig: DGPS, CPC), b. 1910, f. Fabbris, Remo. 154 Croci di merito, in: Noi del Navale, Dezember 1938, s. p. (ACS, MinCulPop, Gabinetto, b. 97). 155 In der Schülerakte von Nino Fabbris finden sich keine Hinweise über die Zahlung des Schulgeldes: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Allievi, Collegio Navale G.I.L., Venezia, F-GA, b. 1341, f. Fabbris, Nino. 156 Vgl. Legione territoriale dei CC.RR. di Messina, Stazione di Lipari, Esito informazioni, 22. 9. 1942, in: AdV. 157 Legione territoriale dei Carabinieri Reali di Roma, Stazione di S. Lorenzo in Lucina, Esito informazioni, 19. 12. 1942, in: AdV. Der Schüler wurde am 12. 2. 1943 wieder entlassen.
204 IV. Der „Rohling“ – die Schüler nehmer tätig, sodass für Brindisi eine, wenn auch keineswegs repräsentative, Tendenz zugunsten der Söhne der oberen Mittelschichten zu erkennen ist. Für Forlì konnten keinerlei Schülerakten aufgefunden werden. Hier liegen lediglich die Namen der Offizierssöhne vor, die in den Genuss der durch das Luftfahrtministerium ausgelobten Stipendien kamen. Dazu zählte unter anderem der Sohn des bereits erwähnten Rino Corso Fougier, des Stabschefs der italienischen Luftwaffe, der von 1937 bis 1939 das Marinecollegio Venedig besuchte und ab 1939 in Forlì ausgebildet wurde.158 Der ehemalige Kollegiat Abo Cardelli, der während seines gesamten Forlì-Aufenthaltes von 1938 bis 1943 durch ein Stipendium der Luftwaffe unterstützt wurde, beschrieb die Schülerschaft in seinen Erinnerungen aus dem Jahre 2005 folgendermaßen: „Die Jugend der besten Familien, aber auch wegen schulischer Leistungen verdiente Schüler besuchten das Gymnasium.“159 Sein Vater selbst war Hauptmann der Luftwaffe, freiwilliger Spanienkämpfer und Intimus des zeitweiligen Luftfahrtministers Italo Balbo. Auch ein ehemaliger Absolvent der Reichsschule Feldafing, der das Collegio im Winter 1940 mit seiner Klasse besuchte, erinnerte sich an die zumeist gutsituierten Schüler wie etwa den Sohn des italienischen Forstministers.160 Auch wenn für die Collegi in Brindisi und Forlì keine verlässlichen Angaben zur Sozialstruktur der Schüler gemacht werden können, zeigt sich zumindest für Venedig, dass es sich bei der Schülerschaft des gymnasialen Collegios um eine verhältnismäßig sozial homogene Gruppe von Kindern des Adels und Großbürgertums handelte, die wohl auch künftig die Führungspositionen übernommen hätten. In der öffentlichen Erinnerung wird den Collegi eine Nivellierung der sozialen Klassenunterschiede zugeschrieben,161 die jedoch durch die Analyse der sozialen Herkunft nicht belegt werden kann. Die Schülerakten162 des Heerescollegios von Bozen waren im Hinblick auf die Sozialstruktur der Schülerschaft wenig aussagekräftig. Lediglich für 24 Väter konnte die berufliche Tätigkeit rekonstruiert werden. Darunter befand sich kein einziger, der im militärischen Bereich, etwa als (Unter-)Offizier tätig war. Vielmehr übten die Väter eine Tätigkeit als Arbeiter, Angestellter oder Kleinhändler aus und dürften sich für ihre Söhne eine Statusverbesserung durch eine Anstellung innerhalb der Armee erhofft haben. Bei der Analyse der Schülerschaft des kostenlosen Waisencollegios zur Ausbildung von GIL-Adjutanten in Lecce stützt sich die Untersuchung auf ein Sample von 52 Schülerfaszikeln für die im Schuljahr 1941/1942 aufgenommenen Schü158 Vgl.
GIL, Umberto Moretti, an Ministero dell’Aeronautica, 8. 11. 1939, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1939, b. 40, f. Collegio aeronautico Forlì – Concorso per l’assegnazione di borse di studio. 159 Zit. nach Gaetano Rossi, „Ho creduto, ho combattuto, ho perduto, ho pagato… ma non ho mai tradito“, in: Ariminum. Storia arte e cultura della provincia di Rimini XII (2005), 1, S. 10–13, hier S. 10. 160 Vgl. Interview mit Harro Altenburg (Feldafing 1934–1940), 4./5./6. 8. 2021. 161 Vgl. Paolo Bembo, Il Collegio navale della G.I.L., in: Speciale Morosini 1999, S. 33–39, hier S. 39. 162 Vgl. den nicht inventarisierten Bestand in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Allievi, Bolzano.
3. Die soziale Herkunft der Schüler 205
ler.163 Zunächst muss festgehalten werden, dass aufgrund der Aufweichung der Aufnahmekriterien nicht alle Schüler tatsächlich Kriegswaisen waren. Aus den 52 ausgewerteten Schülerakten ergibt sich, dass nur die Hälfte (26 Schüler) Kriegswaisen waren. Bei den anderen Schülern waren die Väter in Kriegsgefangenschaft (6), versehrt (1), als vermisst gemeldet (5) oder nahe Verwandte im Krieg gefallen (14, etwa Onkel oder Brüder). Die frühere Tätigkeit der gefallenen Väter wurde nicht mehr in der Angabe zur Familiensituation genannt, sodass diese schlechterdings nicht rekonstruiert werden konnte. In diesen Fällen befand sich die Familie zumeist in besonders prekären Verhältnissen. Bei 27 Schülern fand sich ein „Armutsnachweis“ (certificato di povertà/appartenenza alle famiglie bisognose) in der Akte.164 In den restlichen Fällen waren die Väter größtenteils Arbeiter oder Hilfsarbeiter, selten Angestellte. Der Besuch mag für Angehörige der ärmeren Schichten erstrebenswert gewesen sein, bot er doch in einer Region wie Apulien, in der 1931 noch 39 Prozent der über Sechsjährigen Analphabeten waren und Kinderarbeit ein noch weit verbreitetes Phänomen, zumindest eine Chance auf Bildung in Verbindung mit dem Erlernen eines Berufs, einer vermeintlich sicheren Anstellung bei der GIL – wenn auch nur als GIL-Adjutant – und damit die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg.165 Diese Schulen können somit als Versuch gesehen werden, die, wie Dipper urteilt, „nur negativen Beziehungen“166 zwischen Arbeiterschaft und Faschismus zu verbessern. Dass dies während des Krieges nur von geringem Erfolg gekrönt war, als diese bedürftigen Familien jede Hand zum Brot erwerb benötigten, nachdem zumeist der Hauptverdiener der Familie ausfiel,167 steht auf einem anderen Blatt. Insgesamt kann festgehalten werden, dass der Spezialisierungsansatz der Collegi, verbunden mit den teils hohen Schulgebühren und den niedrigen Stipendienzahlen zu einer hohen sozialen Homogenität innerhalb der einzelnen Collegi führte. Mit anderen Worten: Die Schichten blieben weitestgehend unter sich. Anders als die Propaganda glauben machen wollte, wurden soziale Unterschiede keineswegs aufgehoben,168 sie bestimmten vielmehr ganz entscheidend, welches Collegio man besuchte. So korrelierte die soziale Herkunft mit dem zu erwerbenden Abschluss, wodurch ungleiche Bildungschancen fortgeschrieben wurden: Pri163 Vgl. den nicht inventarisierten Bestand in: ASLe, Com. Prov. G.I., b. cartelle allievi. 164 Die Familien der Schüler waren so arm, dass beispielsweise während der Weihnachtsfe-
rien 1941/1942 rund vierzig Schüler in dem Collegio bleiben mussten, da deren Eltern sich außer Stande sahen, das reduzierte Zugticket zu zahlen oder sie zu Hause zu verpflegen. Vgl. Comandante Bruno Marelli an Giovanna Calvo, 22. 12. 1941, in: ASLe, Com. Prov. G.I., b. cartelle allievi lettera C (6), f. Calvo, Giorgio. 165 Vgl. zu der Analphabetenrate: Charnitzky, Italienische Grundschule im faschistischen Staat, S. 73; Charnitzky, Schulpolitik des faschistischen Regimes, S. 412, Tab. 2. 166 Christof Dipper, Faschismus und Moderne. Gesellschaftspolitik in Italien und Deutschland, in: Ders., Ferne Nachbarn, S. 167–201, hier S. 196. 167 So wurden Schüler abgemeldet, um für den Lebensunterhalt der Familie zu sorgen: Vgl. Amelia Maffei an Comando Collegio Lecce, 1. 2. 1943, in: ASLe, Com. Prov. G.I., b. cartelle allievi lettera M (24), f. Maffei, Franco; Maria De Claudio an Comandante Bruno Marelli, s. d., in: ASLe, Com. Prov. G.I., b. cartelle allievi lettera P (31), f. Passeri, Iorio. 168 Vgl. Giovannucci, Funzione politica e culturale dei Collegi della G.I.L., in: GdL, 1. 3. 1942, S. 314.
206 IV. Der „Rohling“ – die Schüler vilegierte Kinder kamen auf die besseren Collegi, Kinder aus benachteiligten Schichten erhielten zwar eine berufliche Perspektive, blieben aber hinsichtlich Ausbildung und Aufstiegschancen im Vergleich zu den Schülern gymnasialer und damit kostenintensiverer Collegi benachteiligt, da den preiswerteren respektive kostenlosen Collegi keine weiterführenden Schulen angeschlossen waren. Die Behauptung, dass die Collegi allen Jugendlichen offenstanden, blendet aus, dass für jedes Geschlecht und nahezu jede Schicht/Gruppe ein eigenes Collegio errichtet wurde oder errichtet werden sollte. Zu einer Klassenmischung innerhalb einer einzelnen Einrichtung kam es nie ernsthaft, sodass Arbeiterkinder mit Arbeiterkindern lernten, Großbürgerliche mit Großbürgerlichen, usw. Die Collegi waren demnach standeswahrend und ordnen sich so in die allgemeine Tendenz des faschistischen Erziehungs- und Bildungssystems ein. Entscheidend für die übergeordnete Fragestellung der Arbeit ist dabei die Feststellung, dass die Nivellierung von Standesschranken zugunsten der faschistischen Gemeinschaft – ein wesentlicher, mit der Gesellschaftsutopie des „neuen Menschen“ verknüpfter Punkt – in den Collegi eindeutig strukturell-systemisch bedingt verhindert wurde und damit eine Propagandachimäre blieb. Daran anknüpfend stellt sich die bereits weiter oben aufgeworfene Frage, weshalb die italienischen Ausleseschulen nie in ähnlicher Weise wie die nationalsozialistischen Ausleseschulen das Schulgeld für die künftige Führungsschicht in allen Einrichtungen erließen oder anhand des Verdienstes der Eltern berechneten, um damit zumindest versuchsweise einen „neuen Leistungsadel“ unabhängig von der sozialen Herkunft herauszubilden; warum sie das Schulsystem nicht öffneten, um auch auf diesem Weg die bestehende strukturelle Gewalt zu beseitigen. Ob und wie über dieses zentrale Problem innerhalb der Jugendorganisation diskutiert wurde, kann aufgrund der fehlenden Akten nicht beantwortet werden. Weder für die Präsidentschaft Renato Riccis noch für die folgenden Führer der GIL ist nachvollziehbar, wann sie welche konkreten sozialpolitischen Ziele mit diesen Schulen verfolgten und welchen (finanziellen) Handlungsspielraum sie dabei hatten. Entgegen den Verlautbarungen Riccis zu seiner Vision des „neuen Menschen“ und der „ersehnten“ Homogenisierung zielten seine Maßnahmen stärker auf eine Klassentrennung. Starace und Muti unternahmen zwar Versuche, mehr Vergünstigungen für Kinder aus sozial schwachen Schichten zur Verfügung zu stellen, diese waren jedoch nie so umfänglich, dass sie zu der postulierten Homogenisierung geführt hätten. Die Kosten für die weiterführenden Schulen blieben hoch und wurden je nach niedrigerem Schulabschluss günstiger, sodass es bei den Schulbesuchern kaum zu einer wahrnehmbaren Veränderung in der Sozialstruktur kam. Ob das tatsächlich politisch gewollt war oder ob sich die Vertreter der Jugendorganisation hier in vorauseilendem Gehorsam den Wünschen der verschiedenen Schichten, wie etwa der Oberschicht, anpassten, von der sie annahmen, dass sie ihre Kinder an keine anderen Schulen schicken würden, ist schwer zu ermessen. Eine Analyse des IRI aus dem Jahre 1943 legt diese zweite Vermutung zumindest nahe: „Bei einer statistischen Ausarbeitung des Nationalen Kriegswaisenwerkes z eigte sich, dass die zehnjährigen Waisen, die Interesse an der Ausbildung haben konnten, die der IRI organisieren wollte, bei etwas mehr als 500 lag; davon kamen jedoch 130/140 Schüler aus dem
4. Ausschluss von Schülern 207 Bürgertum, das, abgesehen von Ausnahmen, seine Kinder nicht an Berufsschulen schickt; und betrachtet man die große Bauernschicht und deren Interesse, ihre Kinder der Land arbeit zuzuführen, kamen wir zu dem Schluss, dass der IRI zum Stand im Juni 1942 mit einem Kriegswaisencollegio und der Aufnahme von 70 Schülern pro Jahr die Bedürfnisse des Großteils der an der Industrie interessierten Jugendlichen befriedigen könnte.“169
Aus dieser Analyse geht eindeutig hervor, dass das Schulwahlverhalten der verschiedenen Schichten bereits antizipiert und danach ausgerichtet neue Institutionen errichtet wurden, die diesen Aspirationen entgegenkamen, ohne dass Versuche unternommen wurden, die bestehenden Strukturen aufzubrechen. In Hinblick auf das nationalsozialistische Deutschland konstatierte Dipper unlängst: „Die Konzentration auf die Faktoren Rasse und Leistung waren dazu angetan, die Bastionen des Bürgertums zu schleifen. Bevor es dazu kam, war das Dritte Reich untergegangen.“170 Für Italien ließe sich nun fragen, ob der immer klammen GIL die finanziellen Möglichkeiten oder der politische Wille fehlten, um die „Bastionen des Bürgertums zu schleifen“ und begabten Jugendlichen unterer sozialer Schichten die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg zu geben? Auch wenn diese Frage nicht eindeutig beantwortet werden kann, so lässt sich zumindest konstatieren, dass die Ergebnisse dieser Arbeit den – bislang noch immer kontrovers diskutierten – sozialkonservativeren Kern des Faschismus im Vergleich zum Nationalsozialismus eindeutig bestätigen. Das Urteil über den Forschungsdissens, inwiefern es dem Faschismus gelungen sei, eine eigene Führungsschicht hervorzubringen, fällt hingegen eindeutig aus. Die Analyse der sozialen Herkunft der Kollegiaten an gymnasialen Collegi hat gezeigt, dass die Gruppe, die vorgesehen war, in Führungspositionen aufzurücken, sich überwiegend aus der traditionellen Oberschicht rekrutierte. Somit legen die Ergebnisse den Schluss nahe, dass es sich gewissermaßen um eine Elitenkontinuität handelte.
4. Ausschluss von Schülern Die Ausschlusskriterien von Schülern orientierten sich an bereits bestehenden rechtlichen Grundlagen. Analog zu den Militärschulen durften die Kollegiaten maximal ein Jahr während ihres Schulbesuches wiederholen. Bei einem nochmaligen Sitzenbleiben wurden sie des Collegios verwiesen.171 Darüber hinaus konnten sie, basierend auf einer für alle staatlichen Schulen seit 1925 geltenden Vorschrift, aufgrund von besonders schwerwiegenden Vergehen gegen den Faschismus oder die „Moral“ und bei schwerwiegenden schulischen Vergehen aus dem Institut, aus allen Instituten der GIL bis hin zu allen staatlichen Schulen ausge169 Scuola di avviamento professionale per orfani di guerra, 21. 7. 1943, in: ACS, IRI NERA,
ISP-85, f. 7.2.1.4.
170 Dipper, Faschismus und Moderne, S. 190. 171 Vgl. Marsilii, Alunni, esami, tasse, S. 326.
An den nationalsozialistischen AHS gab es kein Sitzenbleiben. Bei Nichterreichen des Klassenziels wurde der Schüler der Schule verwiesen. Vgl. Feller/Feller, Adolf-Hitler-Schulen, S. 105 f.
208 IV. Der „Rohling“ – die Schüler schlossen werden.172 Ein solcher Ausschluss konnte zudem dazu führen, dass ihnen der Dienst in den Streitkräften verwehrt wurde.173 Ein dritter Ausschlussgrund bestand in der Nichtzahlung des Schulgeldes.174 Nach der Einführung der Rassengesetze konnte zudem der jüdische Glaube zum Ausschluss führen. Letztinstanzlich entschied immer das GIL-Generalkommando in Rom über die Entlassung von Schülern. Ein schwerwiegendes Vergehen gegen die Moral konnte beispielsweise ein Diebstahl sein, der etwa in Forlì zum Ausschluss mehrerer Schüler führte. Bereits im ersten Jahr des Bestehens sei es häufig zu Diebstählen gekommen, so der Kommandant von Forlì,175 sodass im Winter 1941/1942 offensichtlich ein Exempel statuiert wurde und eine nicht bekannte Anzahl an Schülern das Collegio verlassen musste. Vier wurden gar eine Zeitlang im Gefängnis interniert. Dieser Fall füllt einige Faszikel des Persönlichen Sekretariats des Duce, an das sich Eltern176 und Geistliche177 gewandt hatten, um die Rehabilitierung der Jugendlichen zu erwirken. Ein anonymer Aufruf aller Familien forderte konkret „die Freilassung der ‚Schüler von Forlì‘ aus dem Gefängnis“.178 Der Vizegeneralkommandant der GIL, Orfeo Sellani, verteidigte in einem Schreiben an den Persönlichen Sekretär des Duce die Position der GIL und stellte fest, dass die nun ausgeschlossenen Schüler sich „gemeinsam schwerwiegender Taten verantwortlich gemacht haben (verschiedene Diebstähle, davon einige begangen mit falschen Schlüsseln, Änderung der Noten in den Klassenbüchern, etc.). Diese Schüler wurden alle aus dem Collegio ausgeschlossen, gemäß Artikel 20 der Schulordnung von der Schule suspendiert und der Disziplinarkommission der zuständigen Regionalbehörde für die Maßnahmen gemeldet. Die vier, die besondere Schuld auf sich geladen haben, wurden auch der Justizbehörde gemeldet. […] Dieses Kommando hält es nicht für möglich, die getroffene Maßnahme zu widerrufen oder abzuschwächen, die das Ziel verfolgt, die Ordnung und Disziplin der Collegi der G.I.L. zu sichern.“179
Welches Ende die Beschuldigten letztlich nahmen, gegen die ein Strafverfahren eingeleitet und Ermittlungen aufgenommen worden waren, ist den Akten leider nicht zu entnehmen.180 Auch die Regionalpresse berichtete nicht über die Vergehen der vermeintlichen Musterschüler dieser Vorzeigeeinrichtung, ebenso wenig der Kommandant, der doch sonst kontinuierlich Verfehlungen an die Luftwaffe 172 Vgl.
das unpaginierte und undatierte Reglement des Collegios Lecce, in: ASLe, Prefettura, Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455; Accademie e Collegi dell’Opera Balilla [1937], S. 16. 173 Vgl. Annuario del Collegio Navale G.I.L. Venezia. Anno 1937–38, S. 28. 174 Vgl. PNF/GIL, Accademie, Collegi, Scuole [1939], S. 28. 175 Undatiertes, unadressiertes, lediglich mit einem Stempel des Collegios versehenes Schriftstück [vermutlich von Raoul Moore], in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1940, b. 161, f. Collegio aeronautico di Forlì – Varie. 176 Vgl. ACS, SPD, CO, b. 1838, f. 527. 637; ACS, SPD, CO, b. 1854, f. 528. 123/2. 177 Vgl. ACS, SPD, CO, b. 1825, f. 527. 163. 178 Vermerk, s. d., in: ACS, SPD, CO, b. 1854, f. 528. 123/2. 179 PNF/GIL, Il Vice Comandante Generale Orfeo Sellani an Segreteria Particolare del Duce, 24. 1. 1942, in: ACS, SPD, CO, b. 1825, f. 527. 163. 180 Vgl. Ministero di Grazia e Giustizia, Gabinetto an Segreteria Particolare del Duce, 11. 2. 1942, in: ACS, SPD, CO, b. 1838, f. 527.637.
4. Ausschluss von Schülern 209
meldete. In dem Fall fürchtete er wohl um seinen Ruf bei den Luftwaffenoberen und erwähnte den Vorgang mit keiner Silbe. Auch in Bozen soll es zu Vorkommnissen mit gefälschten Schlüsseln gekommen sein, wie sich ein Zeitzeuge erinnerte, die jedoch nicht zum Ausschluss der Schüler führten.181 Hier sollen jedoch zwei Schüler ausgeschlossen worden sein, die in der Unterkunft des Kommandanten Lebensmittel gestohlen hatten.182 Lediglich zwei Venedig-Kollegiaten konnten sich an den Ausschluss von Mitschülern aufgrund „moralischer“ bzw. „politischer“ Verfehlungen erinnern. Ihnen zufolge wurde ein Schüler des Collegios verwiesen, nachdem er das kommunis tische Revolutionslied Bandiera rossa intoniert habe. Einem anderen wurde ein homosexuelles Verhältnis zu einem deutschen Marineangehörigen nachgesagt. Zur öffentlichen Entehrung des Beschuldigten wurden alle Kollegiaten in den Innenhof gerufen, der Schüler seiner Vergehen bezichtigt und dann seiner Uniform entledigt.183 Einen weiteren Ausschluss habe es aufgrund einer aus dem Ruder gelaufenen Demütigung gegeben: „Es gab eine gewisse Schikane [nonnismo], aber niemand durfte wirklich übergriffig werden. Zum Beispiel erinnere ich mich, dass die beiden Blanc-Brüder, obwohl sie die Kinder von Prof. Blanc waren, einem bekannten politisch engagierten Musikautor und unter anderem Autor eines Großteils der faschistischen Hymnen, aus dem Collegio entfernt wurden, weil sie einen wesentlich jüngeren Schüler angegriffen hatten. Ich glaube, dass sie ihn rasiert und ihm eine Tonsur, wie bei den Priestern, verpasst haben. Sie hatten ihn gedemütigt.“184
Keiner dieser drei geschilderten Fälle konnte in den Schülerakten gefunden werden, andere Zeitzeugen konnten sich auch nicht daran erinnern, sodass es schwerfällt, diese Erinnerungen zu verifizieren. Schülerausschlüsse aufgrund unzureichender schulischer Leistungen sind vor allem für Lecce dokumentiert, auch wenn dort offensichtlich zudem monetäre Beweggründe eine Rolle spielten. Die Schülerschaft von Lecce war während des ersten Schuljahres im Hinblick auf Disziplin und schulische Leistungen sehr heterogen. Nach dem ersten Schuljahr wurde einigen Schülern aufgrund ihrer mise rablen Leistungen und ihres unwürdigen Verhaltens der Ausschluss zunächst angedroht und dann auf Geheiß des GIL-Generalkommandos tatsächlich durchgeführt.185 Ausschlaggebend dürfte dabei die Tatsache gewesen sein, dass es sich bei den Schülern nicht um Kriegswaisen handelte, denn die Kosten für Kriegswaisen gingen zu Lasten des Nationalen Kriegswaisenwerkes, wohingegen die Kinder mit anderen Vorzugstiteln durch die GIL finanziert wurden.186 Durch den Ausschluss 181 Vgl. Interview mit Claudio Bolasco (Bozen 1939–1943), 20. 3. 2014, S. 2. 182 Schreiben Giovanni Carbonis (Bozen 1940–1943), 20. 5. 2014. 183 Interview mit Iginio Bonoldi (Venedig 1941–1943), 7. 4. 2014-K, S. 15. 184 Interview mit Giorgio Gasparini (Venedig 1939–1942), 4. 4. 2014-K, S. 2. 185 Vgl. Comandante Bruno Marelli an Michele Senafè, 3. 9. 1942, in: ASLe,
Com. Prov. G.I., b. cartelle allievi lettera S (39), f. Senafe, Leonardo; Comandante Bruno Marelli an Giuseppe De Leonardis, 3. 9. 1942, in: ASLe, Com. Prov. G.I., b. cartelle allievi lettera D (13), f. De Leonardis, Umberto; Comandante Bruno Marelli an Alessandro Biondi, 3. 9. 1942, in: ASLe, Com. Prov. G.I., b. cartelle allievi lettera B (4), f. Biondi, Filippo. 186 Vgl. Prefettura di Lecce an Commissario Nazionale della Gioventù Italiana, 2. 6. 1944, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Personale, pratiche, varie, Collegi – Asili, b. 1162, f. Collegio Fiorini Lecce.
210 IV. Der „Rohling“ – die Schüler konnte also Platz für Kollegiaten geschaffen werden, deren Schulgebühren durch das Nationale Kriegswaisenwerk und nicht durch die notorisch klamme GIL beglichen wurden. Auch in anderen Collegi kam es zum Ausschluss von Schülern aufgrund mangelnder Disziplin und geringer schulischer Leistungen.187 Aufgrund fehlender Zahlen ist jedoch nicht quantifizierbar, in welchem Umfang diese Schüler der Collegi verwiesen wurden. Doch nicht nur leistungsschwachen, undisziplinierten Schülern drohte der Ausschluss. Auch leistungsstarke Schüler mussten bei mangelnder Zahlungsfähigkeit um ihren Verbleib im Collegio fürchten. Besonders gravierend zeigt sich dies in dem Bittbrief eines Forlì-Kollegiaten, der aufgrund seiner Leistungen als Führer (capo scelto) einer Kompanie des Corso Dardo fungierte. In seinem Brief an Mussolini bat der Vollwaise um dessen Unterstützung, da er sich außerstande sah, die Kosten für den Verbleib in dem Collegio aufzubringen, und ihm somit der Ausschluss aus dem Collegio drohte.188 Leider ist die Entscheidung Mussolinis über das Schicksal des Kollegiaten in der Akte nicht überliefert. Dieser Fall verweist jedoch recht eindeutig auf die weiterhin bestehende Fokussierung auf althergebrachte Faktoren bei der Verteilung von Sozialchancen wie die finanziellen Möglich keiten und eine Geringschätzung der erbrachten Leistungen des Zöglings. Er steht somit der postulierten entstehenden Leistungsaristokratie diamentral entgegen. Abschließend sei noch auf den Ausschluss von Schülern aufgrund ihrer Zuge hörigkeit zum jüdischen Glauben verwiesen. Nach Festlegung des Großen Faschistischen Rates im Jahre 1938 galt in Italien als Jude, 1) wenn beide Elternteile Juden waren; 2) wenn der Vater Jude und die Mutter Ausländerin war; 3) wer die jü dische Religion praktizierte.189 Obwohl in den vorhandenen Schülerakten keine Hinweise auf Ausschlüsse aufgrund des jüdischen Glaubens zu finden waren, erinnerte sich ein Zeitzeuge des Marinecollegios von Venedig, dass mit Einführung der Rassengesetze zwei Schüler das Collegio verlassen mussten.190 Während das seit 1937 bestehende Marinecollegio Angehörigen der jüdischen Religion den Schulbesuch noch gestattete, rühmte sich die Marine in einem Brief aus dem August 1938, schon seit zwei Jahren Anweisungen an die Marineakademie in Livorno zu geben, keine Juden mehr aufzunehmen und dieses Ziel auch erreicht zu haben.191 Offensichtlich erfolgte auch die Auslegung der Rassengesetze sehr unterschiedlich. Eine Kollegiatin aus Orvieto mit italienischem Vater und „jüdischer“ Mutter, die den jüdischen Glauben nicht praktizierte, musste im Jahre 1938 das Collegio verlassen.192 Alvise Gigante, der Sohn des mit Gabriele D’Annunzio befreundeten 187 Vgl.
etwa Collegio aeronautico, Raoul Moore, an Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto, 28. 9. 1940, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1940, b. 161, f. Collegio aeronautico di Forlì – Borse di studio 2° vol. 188 Vgl. Mario Salvadori an Mussolini, 29. 3. 1943, in: ACS, SPD, CO, b. 2453, f. 553.624. 189 Vgl. PNF, FD, Nr. 1174, 26. 10. 1938. 190 Vgl. Schreiben Corrado Merizzis (Venedig 1937–1940), 27. 11. 2012. 191 Vgl. Sottosegretario di Stato per la Marina an Sottosegretario di Stato per l’Interno, 23. 8. 1938, in: ACS, MI, Demorazza, b. 11, f. 26. 192 Vgl. Motti, Le ‚Orvietine‘ e l’Accademia, S. 135–138, bes. Anm. 195. Ponzio lässt keinen Zweifel daran, dass es auch in der Farnesina Ausschlüsse jüdischer Schüler gab, kann diese jedoch nicht näher quantifizieren. Vgl. Ponzio, Palestra del littorio, S. 140 f.
5. Die Absolventen 211
Bürgermeisters von Fiume, konnte hingegen trotz seiner „jüdischen“ Mutter das Marinecollegio in Venedig von 1940 bis 1943 besuchen.193 Wie gezeigt, fiel diese Konstellation (italienischer Vater, „jüdische“ Mutter, keine Praktizierung des jüdischen Glaubens) nicht unter die geltende juristische Definition eines „Juden“. Die Fälle zeigen aber deutlich, dass auch andere Faktoren, wie das Renommee der Eltern, ausschlaggebend für einen Ausschluss sein konnten.
5. Die Absolventen Die Aufgabe der Marinecollegi von Venedig und Brindisi bestand darin, die Zöglinge auf die Marineakademie in Livorno vorzubereiten, um die Marine mit einer treu ergebenen faschistischen Führungsschicht auszustatten. Die GIL musste somit größtes Interesse daran haben, die Mehrheit ihrer Absolventen an die Marineakademie zu übergeben. Wie bereits dargelegt, wusste das Marineministerium jedoch einen vereinfachten oder bevorzugten Übergang der Kollegiaten an die Akademie erfolgreich zu verhindern. Im folgenden Kapitel wird nun untersucht, in welchem Umfang die Akademie die Absolventen aufnahm und so den Bestrebungen der GIL entgegenkam. Auch hierbei gilt es zu berücksichtigen, dass das Datenmaterial über die Absolventen lediglich fragmentarisch ist. Die Grundlage bilden die sogenannten MAK-π-100. Dabei handelt es sich um zumeist humoristische Abschlussjahrbücher, die die Schüler 100 Tage vor dem Ende ihres Schul abschlusses verfassten und die einzelnen Mitglieder des Abschlussjahrganges namentlich erwähnten. Für Venedig liegen die MAK-π-100 für drei Kurse vor: 1937–1940194 mit 64, 1939–1942195 mit 55 und 1940–1943196 mit 54 angehenden Maturanten. Welche Personen ihre Matura erhielten, kann jedoch nicht mehr mit Gewissheit festgestellt werden, da den überlieferten Diplomregistern lediglich die Anzahl der ausgestellten Diplome zu entnehmen ist, eine namentliche Nennung der Diplomierten jedoch fehlt. Laut der Register wurden in Venedig 1939 18 Di plome, 1940 49, 1941 56, 1942 57 und 1943 54 Diplome ausgestellt.197 Während die Zahl für das Jahr 1943 übereinstimmt, besteht für das Jahr 1940 eine große Diskrepanz zwischen den 64 angehenden Maturanten und den tatsächlich ausgestellten 49 Diplomen. Irritierend ist zudem die Verteilung für das Jahr 1942, in dem es 57 Diplomierte, aber nur 55 angehende Maturanten gab. Zur Berechnung des Übergangs der Collegi-Absolventen an die Akademie wurden die Daten und Namen der MAK-π-100 herangezogen und mit den Absolventenlisten der Mari-
193 „Ebrea
era anche la moglie del senatore ed ex podestà di Fiume, Riccardo Gigante, che poi aderì alla RSI.“ Gianni Scipione Rossi, La destra e gli ebrei. Una storia italiana, Soveria Mannelli 2003, S. 15. 194 Corso Prima Prora [Venedig 1940]. 195 Corso Sagittario [Venedig 1942]. 196 Corso Delfino, Collegio navale G.I.L. 1940–1943, Venedig 1943. 197 Vgl. Registro carico e scarico dei diplomi, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Registri delle votazioni e diplomi, Collegio navale GIL, Venezia, 1940–41, 1941–42, 1942–43, b. 1356.
212 IV. Der „Rohling“ – die Schüler neakademie von Livorno abgeglichen.198 Bei den folgenden Berechnungen gilt es daher, die geringfügigen Abweichungen aufgrund der oben beschriebenen Ungenauigkeiten mitzubedenken. Von den 64 angehenden Maturanten des Abschlussjahrganges 1940 absolvierten schließlich 21 erfolgreich die Marineakademie, davon 17 im Kurs Squali (Beginn 1940) und vier im Kurs Raffiche (Beginn 1941). Rund ein Drittel (32,8 Prozent) der Kollegiaten erfüllte demnach das Ziel der GIL. Insgesamt gesehen stammten jedoch nur 5,1 Prozent der 333 Absolventen der Marineakademie, die den Kurs Squali besuchten, aus Venedig. Es handelte sich also um eine verschwindend geringe Anzahl von Kollegiaten, die – wie Alfieri es formuliert haben soll – zu „Injektionen des Faschismus in die Königliche Marine“ werden sollten. Entgegen der öffentlich geäußerten Kritik an Empfehlungen kam es auch bei dem Übergang von den Collegi zur Akademie zu Protegierungen. Giuseppe Minini, der Sohn des von Mussolini in seinem Kriegstagebuch erwähnten Bersaglieri, wurde trotz des erreichten Alters nicht zum Militärdienst eingezogen, sondern durch den Persönlichen Sekretär des Duce bei seiner Kandidatur für Livorno unterstützt, sodass er schließlich einen Platz erhielt und erfolgreich den Kurs Raffiche absolvierte.199 Für den Abschlussjahrgang 1942 liegen sowohl für Venedig als auch für Brindisi Zahlen vor. Von den 55 angehenden Maturanten in Venedig schlossen 20 erfolgreich ihre Akademieausbildung ab (36,4 Prozent). Die Kollegiaten aus Brindisi200 reüssierten hingegen in geringerem Maße (16,7 Prozent) an der Akademie; von den 42 angehenden Maturanten absolvierten schließlich sieben die Akademie, womit sich auch hier das bereits angesprochene „Nord-Süd-Gefälle“ der beiden Marinecollegi bestätigt. Von den insgesamt 292 Absolventen des Ausbildungs kurses Argonauti (Beginn 1942) in Livorno stammten lediglich 6,8 Prozent aus Venedig und 2,4 Prozent aus Brindisi. Noch geringer waren die Absolventenzahlen der venezianischen Kollegiaten des Jahrganges 1943. Von den 54 angehenden Maturanten schlossen acht die Marineakademie ab (14,8 Prozent). In dem 1943 beginnenden Kurs Vedette der Akademie mit 160 Absolventen waren 5,0 Prozent ehemalige Zöglinge des Collegios in Venedig. Da die Aufnahmeprüfungen für die Marineakademie in die Zeit der Flucht nach Brindisi im Spätsommer 1943 fielen, kann vermutet werden, dass man zu dem Zeitpunkt noch begrenzter als zuvor auf die Kandidaten aus Venedig zurückgriff. Insgesamt kann konstatiert werden, dass das Urteil des ehemaligen Kommandanten des Marinecollegios von Venedig nicht zutreffend war, der behauptete: „Fast alle Schüler […] besuchten die Marineakademie oder die Kurse für Reserve-
198 Diese
Liste stellte die Marineakademie der Verfasserin freundlicherweise zur Verfügung. 199 Vgl. den Schriftwechsel des Jahres 1940, in: ACS, SPD, CO, b. 990, f. 509.031. Liste der Absolventen der Marineakademie 1940–1946, in: AdV. 200 Vgl. Collegio navale Brindisi, MAK-π-100. Corso „Astro“. „Alere flammam“, Brindisi 1942.
5. Die Absolventen 213
offiziere der Marine.“201 Wie gezeigt werden konnte, absolvierte maximal ein Drittel eines Jahrganges die Marineakademie. Die Collegi-Absolventen stellten innerhalb der Marineakademie einen verschwindend geringen Anteil dar. Gemessen an ihren Erwartungen, konnte die GIL/Partei mit den Ergebnissen nicht zufrieden sein, da die Mehrheit der Akademieabsolventen weiterhin aus Einrichtungen kam, die nicht der Partei/GIL unterstellt waren. Über die Gründe, die zu dieser geringen Aufnahme führten, kann nur spekuliert werden. Einerseits ist zu vermuten, dass die Marine keinen großen Wert auf die Kollegiaten legte, was sich in der bereits angesprochenen Ablehnung des privilegierten Übergangs von den Collegi zur Akademie zeigte, das sich mit der Forderung der Marine nach einem stärkeren Gewicht in der Ausbildung der Kollegiaten verband. Denkbar ist andererseits aber auch, dass einige Schüler kein Interesse mehr an einer Marinelaufbahn hatten und sich nun in geringerem Maße für die Akademie bewarben. Wie dem auch sei, die zentrale Frage bleibt unbeantwortet, weshalb die GIL sich nicht stärker für eine Lenkung der Schüler an die Akademie stark machte, um die Faschisierung der Marine weiter voranzutreiben. Aufgrund der fehlenden Schülerakten der Forlì-Kollegiaten lässt sich auch nicht feststellen, wieviele der Kollegiaten von Forlì von der Luftwaffenakademie von Caserta übernommen wurden.
201 Ugo Cosentini an Ministero Marina, Gabinetto, 5. 11. 1943, in: AUSMM, Marina RSI, b.
D, f. 13.
V. Die „Schmiede“ – das Personal Für die gesamte Gestaltung des Internatsablaufs, von den Unterrichtsstunden über Klassenfahrten bis hin zu anderen sportlich-militärisch-beruflichen Aktivitäten nach Unterrichtsschluss trugen in den Collegi die Kommandanten, Erzieher, Lehrer und Militärausbilder die Verantwortung.1 Alle waren aufgefordert, ihre Erziehungsmission im gleichen Geist zu verwirklichen.2 Im Zentrum dieses Kapitels steht eine gruppenbiographische Analyse der politischen Orientierung und fachlichen Qualifikation dieser Ausbilder sowie deren Funktionen und die Rahmenbedingungen ihrer Tätigkeit. Darüber hinaus wird gezeigt, welchen Einfluss der Krieg auf die Personalstruktur hatte.
1. Die Kommandanten Die Leitung der einzelnen Collegi war zwischen 1937 und 1943 häufigen strukturellen und personellen Veränderungen unterworfen: Zunächst setzte Renato Ricci seine Gefolgsleute als Anstaltsleiter ein. Mit dem Übergang von der ONB zur GIL installierte der Parteisekretär und GIL-Generalkommandant, Achille Starace, ein Drei-Kommandanten-System unter der Führung eines Parteifunktionärs. Staraces Nachfolger, Ettore Muti, formte dies im Februar 1940 zu einem Zwei-Kommandanten-System unter der Führung eines hohen Offiziers der Streitkräfte um. Weshalb es zu diesen Umstrukturierungen kam, welchen Einfluss sie auf die Arbeit in den Collegi ausübten und wie sich das Verhältnis der verschiedenen, um Einfluss konkurrierenden Institutionen aufgrund dieser Modifikationen gestaltete, soll im Folgenden im Zentrum der Analyse stehen. Im Oktober 1937 nahmen die Collegi in Venedig, Brindisi, Orvieto und Udine nach jahrelangen Planungen noch mit ONB-Reglement ihre Tätigkeit auf. Das Reglement des Marinecollegios in Venedig sah vor, dass der Regionalpräsident der ONB in Personalunion auch das Collegio leitete.3 So übernahm der seit 1935 1
Vgl. R., Gli istituti educativi della G.I.L., in: Collegio marinaro „Caracciolo“, Sabaudia, supplemento al n. 12 del Bollettino del Comando generale, 21. 4. 1942, S. 2. 2 Vgl. Rossi, Educazione fascista, S. 48. 3 Vgl. das Reglement zum Marinecollegio in Venedig: Opera Balilla, Collegio navale di Venezia. Statuto e regolamento, S. 14–16. Das unter der ONB konzipierte Marinecollegio in Venedig sollte durch einen Rat verwaltet werden, dem der Provinzpräsident der ONB vorstand und der durch den Kommandanten der Schülerkohorte, einen hochrangigen Marineoffizier, den Schulleiter, einen Vertreter des Comando militare marittimo dell’alto adriatico sowie drei von der ONB-Zentrale ausgewählte und durch die Marine bestätigte Faschisten zusammengesetzt war. Der ONB-Provinzpräsident repräsentierte in Personalunion das Collegio, erhielt die Direktiven Renato Riccis und sollte die Abläufe des Collegios gemäß dieser regeln. Zu seiner Unterstützung stand ihm der Kommandant der Schülerkohorte zur Seite, der über die genaue Umsetzung der Direktiven im Inneren des Collegios wachte und den Präsidenten während seiner Abwesenheit vertrat. Dem hochrangigen Marineoffizier kam es zu, einen seemännischen Ausbildungsplan zu erstellen, dessen Umsetzung zu überwachen und die ihm unterstellten, im Collegio tätigen Marine angehörigen anzuleiten und zu kontrollieren. Die drei von der ONB-Zentrale ausge-
216 V. Die „Schmiede“ – das Personal amtierende Präsident der venezianischen Opera Nazionale Balilla, Angelo Meloni, der zudem als außerordentlicher Kommissar des Schulschiffes Scilla und Seniore der MVSN fungierte, die Leitung des Marinecollegios.4 Der Kommandoposten für das Collegio in Udine ging an Sergio Bernardinis (* 1907 Udine). Bernardinis, Mitglied des PNF (1927) und der MVSN (1929), war Absolvent der Akademie für Leibeserziehung und hatte Karriere im Dunstkreis Riccis gemacht. Zunächst unterrichtete er einige Jahre an der Farnesina, wurde dann Sportdirektor der ONB in Udine und im Jahre 1936 dort bereits Provinzpräsident der ONB, sodass ihm mit Eröffnung des Collegios in Udine auch dieser Kommandoposten zufiel.5 Ausschlaggebend für die ersten Stellenbesetzungen war demzufolge vor allem die persönliche Nähe zu Renato Ricci. Auch wenn bisher Studien zur Personalpolitik der ONB fehlen, ist dennoch durch zahlreiche Wegbegleiter Riccis belegt, dass dieser persönlich politisch zuverlässige Vertraute als Provinzpräsidenten auswählte,6 in deren Aufgabengebiet nun auch die Leitung der Collegi fallen sollte. Mit dem Wechsel von der ONB zur GIL veränderte sich langsam strukturell wie personell die Führungsriege innerhalb der Collegi. Geleitet werden sollten die militärischen Collegi nun durch drei Kommandanten: Der 1. Kommandant war PNF-Funktionär, 2. Kommandant ein hochrangiger Offizier der jeweiligen Streitkraft, den diese vorschlug, und 3. Kommandant ein Absolvent der Akademie für Leibeserziehung. Alle drei Personalien mussten durch das GIL-Generalkommando, also den neuen Führer der Jugendorganisation, Achille Starace, bestätigt werden, dem nicht daran gelegen sein konnte, dass die Getreuen Riccis – seines jahrelangen Gegenspielers – weiterhin die Collegi führten. Andererseits zielte er auf die Stärkung der Partei innerhalb der Jugendorganisation, sodass die Collegi leitung dem Vizeprovinzkommandanten der Partei übertragen werden sollte. Zu einer sofortigen Umwandlung und einem vollständigen Ausschluss von RicciGetreuen kam es jedoch nicht, wie die Weiterführung des Collegios in Udine durch Sergio Bernardinis, die zeitweilige Ausweitung der Leitungstätigkeit von Angelo Meloni7 auf das Marinecollegio von Brindisi auf Anordnung Staraces und wählten Faschisten waren Absolventen der Akademie für Leibeserziehung und verantworteten die sportlich-militärische Ausbildung der Kollegiaten. 4 Vgl. Collegio Navale di Venezia, Circolare Nr. 1, 5. 10. 1937, in: ACS, SPD, CO, b. 990, f. 509.031; Il Segretario del Partito a Venezia, in: CdS, 15. 11. 1937, S. 1; Donazione, 25. 10. 1937, in: Archivio Generale della Giunta Regionale del Veneto, ExGIL, b. 59, f. collegio navale; Tegon, Carte veneziane della Gioventù Italiana del Littorio, S. 84, bes. Anm. 62. 5 Vgl. Scheda Personale, Sergio Bernardinis, 21. 3. 1946, in: ACS, MPI, IEFS, FPIE, b. 4, f. Bernardinis, Sergio. Bernardinis führte das Collegio bis März 1940, um danach eine Tätigkeit in der Ente Nazionale Cellulosa unter dem amtierenden Korporationsminister Renato Ricci aufzunehmen. Er wurde abgelöst durch Giovanni Caiati, zuvor Kommandant im Collegio navale Brindisi. Vgl. PNF, FD, Nr. 1131, 11. 8. 1938; Nr. 99, 10. 3. 1940; Nr. 108, 1. 4. 1940. 6 Vgl. Canali, Architetti romani nella „città del Duce“, S. 183. „[E]ra lui che nominava i Segretari provinciali dell’O.N.B. e li sceglieva tra persone di sua fiducia o che gli erano state garantite“. Siehe den undatierten Bericht Nicola Stagnanis, in: ACS, PCM, 1940– 1943, b. 2664, f. 1.1.15.3500, sf. 1–5. Vgl. Vittorini, Costruire per educare, S. 14. 7 Am 14. 11. 1937 führte Meloni Parteisekretär Starace durch das Collegio in Venedig (Il Segretario del Partito a Venezia, in: CdS, 15. 11. 1937, S. 1) und informierte den Segretario Generale della Provincia Brindisi in einem auf den selben Tag datierten Schreiben
1. Die Kommandanten 217
die Übertragung von Leitungsaufgaben an den Ricci-Anhänger Dino Cagetti zeigen. Während des laufenden Schuljahres 1937/1938 wurden die Kommando posten dann den Vizeprovinzkommandanten anvertraut. Nicht eindeutig rekonstruierbar ist dabei die Besetzungspraxis, also die Frage, ob der amtierende Vizeprovinzkommandant zwangsläufig zum 1. Kommandanten ernannt wurde, oder ob der PNF-Provinzführer eine geeignete Person vorschlug, die dann mit dem Amt des 1. Kommandanten zugleich das Amt des Vizeprovinzkommandanten übernahm. Für das Luftwaffencollegio in Forlì sind beispielsweise Dokumente zur Stellenbesetzung überliefert, aus denen hervorgeht, dass der Parteiprovinzsekretär von Forlì dem GIL-Generalkommando eine aus seiner Sicht geeignete Person für den Kommandoposten vorschlug, das GIL-Generalkommando schließlich In formationen hinsichtlich der Eignung einholte und in diesem Fall den Vorschlag bestätigte.8 Ob die GIL bei anderen Stellenbesetzungen ähnlich vorging, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Nachweisen kann man jedoch, dass die nun im Kurzprofil vorgestellten 1. Kommandanten in offiziellen Dokumenten immer zugleich als Vizeprovinzkommandanten der Partei firmierten. Nach der Absetzung Angelo Melonis übernahmen während des Schuljahres 1937/1938 in Venedig Dino Cagetti und in Brindisi Antonio Monticelli die Leitung. Dino Cagetti (* 1898 Montignoso) war Squadrist, im zivilen Leben Chirurg und stand überraschenderweise Renato Ricci nahe.9 In Brindisi führte Antonio Monticelli (* 1878 Brindisi), Partei-Mitglied seit 1. Juli 1923, Träger der Parteiauszeichnung Sciarpa Littorio und ebenfalls Mediziner, das Collegio.10 Das ein Jahr später öffnende Collegio in Forlì leitete Pellegrino Zagnoli (* 1898 Faenza). Er war bereits im April 1921 dem Fascio beigetreten, konnte auf eine squadristische Vergangenheit in Forlì verweisen, war freiwilliger Kämpfer im Abessinienkrieg und Leutnant (sottotenente) der Luftwaffe.11 Vor der Übernahme des Postens verdienüber seine Bestellung als Kommandant des Collegios in Brindisi, vgl. ASPBr, cat. XI, cl. 6, b. 228, f. 2. Noch im Dezember 1937 zeichnete Meloni als Leiter des „Collegio navale del P.N.F., Venezia“ (ACS, SPD, CO, b. 990, f. 509.031), was darauf schließen lässt, dass er die Marinecollegi zeitweilig in Personalunion führte. 8 Vgl. PNF/GIL, Capo di Stato Maggiore, U. Moretti an Giuseppe Valle, Sottosegretario di Stato per l’Aeronautica, Ministero dell’Aeronautica, 21. 7. 1938, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1938, b. 35, f. Collegio aeronautico di Forlì 1° vol. 9 Vgl. Mario Missori, Governi, alte cariche dello Stato, alti magistrati e prefetti del Regno d’Italia, Rom 1989, S. 623; Giulio Bobbo, Venezia in tempo di guerra 1943–1945, Padua 2005, S. 140, 206. Er war später Abgeordneter in der Abgeordnetenkammer und während der RSI Präfekt der Provinz Venedig. 10 Mitteilung von Francesca Casamassima, Leiterin des Archivio di Stato di Brindisi, 27. 6. 2017, in: AdV. Die Sciarpa Littorio wurde ihm erst am 16. 4. 1939 während seiner Tätigkeit als Kommandant verliehen. 11 Zur Vita Pellegrino Zagnolis siehe: Il Federale riceve i Comandanti e il Preside del Collegio aeronautico Gioventù del Littorio, in: PdR, 3. 9. 1938, S. 5; Il Collegio aeronautico fucina di aquilotti per l’Arma Azzurra si aprirà con il nuovo anno scolastico, in: PdR, 1. 10. 1938, S. 6; Untersuchungsbericht, 8. 2. 1940, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Ispettorato di Sanità, Ufficiali dell’aeronautica, dell’esercito, della marina deceduti, b. 53, f. Zagnoli, Pellegrino; PNF/GIL, Capo di Stato Maggiore, U. Moretti an Giuseppe Valle, Sottosegretario di Stato per l’Aeronautica, Ministero dell’Aeronautica, 21. 7. 1938, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1938, b. 35, f. Collegio aeronautico di Forlì 1° vol.
218 V. Die „Schmiede“ – das Personal te der gelernte Buchhalter sein Geld mit einer Autotransportfirma.12 Angelo Rossi (* 1898 Cittadella), der 1. Kommandant der 1939 öffnenden Heeresschule in Bozen, trat bereits im September 1919 dem Fascio bei, nahm an der Besetzung Fiumes teil, war Squadrist, Teilnehmer des „Marsches auf Rom“, Mitglied der MVSN, Träger der Parteiauszeichnung Sciarpa Littorio und mehrfach militärisch ausgezeichnet. Im zivilen Leben hatte er einen Abschluss in Jura erworben.13 Die frühe Parteizugehörigkeit verbunden mit einer squadristischen Vergangenheit waren augenscheinlich wesentliche Kriterien, die zur Leitung eines Collegios befähigten. Kenntnisse auf dem Erziehungs- und Bildungssektor waren hingegen keineswegs Voraussetzung, wie die fehlende Ausbildung aller Kommandanten auf dem Gebiet der Erziehung zeigt. Innerhalb der faschistischen Weltanschauung war die Entscheidung für „alte Kämpfer“ als Leiter dieser „Schmieden des neuen Menschen“ sicherlich folgerichtig, ging man doch davon aus, dass es sich bei diesem Personenkreis um Prototypen des „neuen faschistischen Menschen“ handelte, die bestens dafür geeignet waren, selbst wiederum „neue Menschen“ zu formen. Soweit die Theorie. Ob diese theoretische Schlussfolgerung auch in der Praxis Bestand hatte, kann allein in Anbetracht der häufigen Wechsel an der Kommandospitze14 und der kurzen Praxisphase nur schwer beantwortet werden. Das Agieren einiger Kommandanten legt jedoch nahe, dass ihnen wichtige Qualifikationen und Kompetenzen fehlten, die zum erfolgreichen Führen eines Col legios befähigten. Dass der Start einiger Collegi, wie etwa in Forlì, wenig zu friedenstellend verlief, kann auch ein Indiz für die Defizite der ersten Leiter sein. Anzumerken gilt auch, dass ein Führungsposten in einem solchen Collegio nicht unbedingt als karrierefördernd wahrgenommen wurde, wie das Schreiben eines Kommandanten zeigt. Dessen Ziel bestand lediglich darin, das noch im Bau befindliche Gebäude in einen ordentlichen Zustand zu versetzen, um sich dann wieder seiner „derzeit auf Eis gelegten Karriere zu widmen“.15 Dass ein solch demotivierter Kommandant ein Collegio aufopfernd führte, kann wohl in Zweifel gezogen werden. Neben der mangelhaften Qualifikation mancher 1. Kommandanten bestanden auch strukturelle Unzulänglichkeiten, namentlich eine unzureichend geregelte Aufgabenverteilung unter den drei Kommandanten, die zu Problemen innerhalb einiger Collegi führten. Laut dem offiziellen Reglement aus den späten 1930er Jahren war die Leitung des Collegios gemäß den Vorgaben des GIL-Generalkom12 Vgl.
Schreiben des Podestà an Zagnoli, 28. 12. 1933, in: ASFo, Comune di Forlì, Atti riservati, b. 7 (1933). 13 Zum Profil Angelo Rossis siehe: Alberto Cifelli, I prefetti del Regno nel ventennio fascista, Rom 1999, S. 241 f.; Missori, Gerarchie e statuti del P.N.F., S. 269. Das Jahr des FascioEintritts wird mit 1919 (Cifelli) und 1920 (Missori) angegeben. PNF, FD, Nr. 1401, 29. 8. 1939. Rossi zeichnete ab März 1940 gar als Comandante federale. Vgl. PNF, FD, Nr. 99, 10. 3. 1940. 14 Vgl. etwa die Besetzung des 1. Kommandopostens im Marinecollegio Brindisi 11/19372/1940: Angelo Meloni, Antonio Monticelli, Giovanni Caiati; Marinecollegio Venedig 10/1937-2/1940: Angelo Meloni, Dino Cagetti, G. Gaggio (zeitweilige Vertretung für Cagetti); Collegio aeronautico Forlì 9/1938-2/1940: Pellegrino Zagnoli, Antonio Perfetti. 15 Collegio aeronautico, Antonio Perfetti, an Cesare Valle, 4. 1. 1940, in: Archivio Cesare Valle, CV-CAR-044, faldone 9.
1. Die Kommandanten 219
mandos Aufgabe des 1. Kommandanten. Dem 2. Kommandanten fiel die Überwachung der Umsetzung der vom 1. Kommandanten erhaltenen Direktiven zu, während der 3. Kommandant den 2. Kommandanten bei dieser Aufgabe unterstützen und ihn im Falle seiner Abwesenheit vertreten sowie die Erzieherschaft und das subalterne Personal anleiten sollte.16 Konkretere Tätigkeitsbeschreibungen der einzelnen Kommandanten fehlten, wie auch die Streitkräfte kritisch anmerkten. Der 1. Kommandant der Luftwaffe, General Felice Porro, besuchte im Juni 1939 das Collegio in Forlì, wobei er – so die Presse – seine „Bewunderung für das Collegio, Nest der zukünftigen Adler Italiens“,17 zum Ausdruck brachte. Seine tatsächliche Bewunderung hielt sich jedoch sehr in Grenzen. Nach seinem Besuch holte er Erkundigungen bei Angehörigen der Luftwaffe, deren Kinder das Collegio besuchten, ein und sah sich schließlich veranlasst, in einem geheimen Schreiben auf verschiedene Missstände aufmerksam zu machen. Dazu gehörte unter anderem das mangelhafte Reglement. Konkret beklagte er: „Fehlen eines Statutes oder eines präzisen Reglements, welches mit Präzision die Aufgabenbereiche, Aufgaben, Verantwortlichkeiten der Kommandanten, deren Verhältnis untereinander, die Präzedenzen und Abhängigkeiten fixiert. Wie du weißt ist der 1. Kommandant ein Würdenträger des P.N.F., der 2. Kommandant ein hoher Offizier des Militärs […], dann gibt es noch, ein Offizierchen [ufficialetto] der G.I.L. mit dem Namen 3. Kommandant, eine Bezeichnung, die ich als unnütz und willkürlich erachte. […] Ich hatte den Eindruck, dass die Beziehungen zwischen den Führungskräften der G.I.L. mit dem 2. Kommandanten schwierig und nicht genau geregelt seien.“18
Das teils schwierige und rivalisierende Verhältnis zwischen Streitkräften, Partei und vor allem Angehörigen der Jugendorganisation ist jedoch nicht nur auf die von Porro angesprochene unklare Aufgabenverteilung, sondern auch auf persönliche Fehden zurückzuführen. So kam es beispielsweise bereits kurz nach der Eröffnung des Luftwaffencollegios zwischen den ersten beiden Kommandanten zu persönlichen Konflikten, in deren Folge der 2. Kommandant, Pilot Attilio Micheluzzi, befürchtete, der 1. Kommandant, PNF-Politiker Pellegrino Zagnoli, könne einen „schmutzigen Trick“ gegen ihn anwenden, „um sich seiner zu entledigen“. Micheluzzi hoffte noch auf Vereitelung der Absichten Zagnolis durch den Archi16 Vgl.
PNF/Comando Generale G.I.L., Ordinamento del Collegio aeronautico di Forlì, S. 1 f., in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1938, b. 35, f. Collegio aeronautico di Forlì 1° vol. Das Reglement des Collegio aeronautico orientierte sich direkt an dem der Collegi navali, vgl. Pro Memoria di Servizio, Collegio aeronautico di Forlì, U. Nannini, 3. 1. 1938, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1938, b. 35, f. Collegio aeronautico di Forlì 1° vol; Annuario del Collegio Navale G.I.L. Venezia. Anno 1937–38, S. 21. 17 Collegio Aeronautico della G.I.L. Una lezione del gen. Porro e del col. Nannini, in: PdR, 24. 6. 1939, S. 10. 18 Comandante 1^Squadra Aerea Milano, Generale Felice Porro, an Capo di Gabinetto, Generale Eraldo Ilari, 7. 7. 1939, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1939, b. 40, f. Collegio aeronautico Forlì – Varie. Es liegt der Verdacht nahe, dass der 2. Kommandant Raoul Moore Porro auf diese Missstände hinwies, da dieser selbst ein Jahr später fast gleichlautende Kritik äußerte, vgl. undatiertes, unadressiertes, lediglich mit einem Stempel des Collegios versehenes Schriftstück [vermutlich von Raoul Moore], in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1940, b. 161, f. Collegio aeronautico di Forlì – V arie.
220 V. Die „Schmiede“ – das Personal tekten des Collegios, Cesare Valle, dem Bruder des Unterstaatssekretärs im Luftwaffenministerium, Giuseppe Valle.19 Kurze Zeit später wurde Micheluzzi jedoch ersetzt, Valle habe nichts mehr ausrichten können.20 Nach seinem Forlì-Besuch hatte Porro in einem Geheimschreiben zur Bei legung der schwelenden Machtrangeleien innerhalb des Collegios gefordert: „Schnellstmögliche Einforderung eines Reglements, das eindeutig und präzise die Ämter, Aufgaben und Spezifika jedes Kommandanten und Mitarbeiters, sowie die Verhältnisse zu Internen und Externen (mit den Zentralorganen von Luftwaffe und Partei) festlegt.“21 Die GIL setzte diese Vorschläge aber nicht um. Der neue Parteisekretär Ettore Muti nahm jedoch im Februar 1940 eine andere, weitreichende Veränderung vor. Er verfügte die Umwandlung des Drei-Kommandantenin ein Zwei-Kommandanten-System.22 Auf Anordnung Mussolinis übertrug Muti die Führung der Marine- und Luftwaffencollegi einem hochrangigen Offizier der Streitkräfte. In Venedig übernahmen Kapitän zur See Carlo Pinna, in Brindisi Kapitän zur See Aristotile Bona und in Forlì Oberstleutnant Raoul Moore die Leitung.23 Diese 1. Kommandanten wurden nun durch einen Absolventen der Farnesina unterstützt. Der Parteiposten in den Collegi wurde somit gestrichen. Nach der Degradierung der Farnesina-Absolventen unter Starace erfolgte deren Aufwertung unter Muti,24 was jedoch offenbar mit den Interessen der Streitkräfte kollidierte. Über den konkreten Auslöser dieser Umwandlung an der Spitze kann nur spekuliert werden. Erstens fügt sie sich in Mutis gegen Starace gerichtete Politik, der nach seiner Amtsübernahme eine Vielzahl von Starace-Treuen absetzte. Darüber hinaus kann diese Umordnung als Konsequenz der einen Monat zuvor getroffenen Entscheidung, die Collegi dem Generalkommando zu unterstellen und den Provinzkommandos nur noch sekundäre Aufgaben zuzuweisen,25 gedeutet werden. Bis dato waren die Leiter der Collegi aus den Reihen der Parteiprovinzkommandos gekommen. Durch den Verzicht, einen Parteifunktionär mit Führungsaufgaben zu betrauen, konnten die Collegi möglichen regionalen Ränkespielen entzogen werden. Diese Erklärungen greifen jedoch zu kurz, da die anderen GIL19 Attilio
Micheluzzi an Cesare Valle, 26. 1. 1939, in: Archivio Cesare Valle, CV-CAR-044, faldone 8. 20 Cesare Valle habe nach eigenen Aussagen General Manni wegen der Personalie kon taktiert, konnte jedoch nichts mehr ausrichten, vgl. Cesare Valle an Attilio Micheluzzi, 1. 3. 1939, in: Ebenda. In den Akten der Luftwaffe finden sich keine Hinweise über die Gründe der Absetzung. Es ist lediglich ein Fernspruch überliefert, demzufolge sich der Pilot Raoul Moore im Collegio aeronautico melden sollte, um das Amt des 2. Kommandanten zu übernehmen, vgl. Fonogramma, 23. 2. 1939, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1939, b. 40, f. Collegio aeron. Forlì – Personale. 21 Comandante 1^Squadra Aerea Milano, Generale Felice Porro, an Capo di Gabinetto, Generale Eraldo Ilari, 7. 7. 1939, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1939, b. 40, f. Collegio aeronautico Forlì – Varie. 22 PNF, FD, Nr. 75, 10. 2. 1940; Nomine, in: Bollettino GIL, 15. 2. 1940, S. 118. 23 Tatsächlich übernahm in Venedig Carlo Pinna die Leitung bereits knapp einen Monat früher, vgl. PNF, FD, Nr. 57, 16. 1. 1940. 24 Vgl. Ponzio, Shaping the New Man, S. 168. 25 Vgl. PNF, FD, Nr. 49, 6. 1. 1940; Il rapporto ai comandanti e vice-comandanti federali della G.I.L., in: Bollettino GIL, 1. 3. 1940, S. 17.
1. Die Kommandanten 221
Einrichtungen weiterhin durch einen regionalen Funktionär der Partei26 geleitet und die Veränderungen an deren Spitze erst im Schuljahr 1941/1942 vorgenommen wurden,27 sodass es sich allem Anschein nach um eine von Marine und Luftwaffe ausgelöste Kontroverse um diese drei Collegi handelte. In Anbetracht des Zeitpunkts der Entscheidung – Deutschland befand sich bereits im Krieg und Italien noch in der Nichtkriegführung (Non belligeranza) – ist davon auszugehen, dass Ettore Muti, freiwilliger Abessinien- und Spanienkämpfer, den Collegi eine stärkere militärische Ausrichtung verleihen und den Streitkräften zudem Ent gegenkommen signalisieren wollte, die ein stärkeres Gewicht in den Collegi einforderten. So ist einerseits denkbar, dass Muti mit der Umwandlung an der Führungsspitze tatsächlich den Versuch unternahm, die Streitkräfte stärker in die Collegi einzubinden. Denkbar ist andererseits aber auch, dass den Streitkräften lediglich der Eindruck vermittelt werden sollte, dass sie nun eine aufgewertete Rolle in den Collegi spielten. Kritik an den mangelhaften Zuständen der Collegi, die auf die einseitige Fixierung auf das frühe faschistische Engagement mancher Kommandanten in Verbindung mit teils mangelnder fachlicher Expertise zurückgeführt werden konnten,28 mag mit dazu beigetragen haben, dass die Leitung schließlich in die Hände von erfahrenen Angehörigen der Streitkräfte und der Akademie für Leibeserziehung gegeben werden sollte. Auch darf die Möglichkeit nicht außer Acht gelassen werden, dass die notorisch unterfinanzierte GIL durch die stärkere Einbindung der Streitkräfte die Hoffnung hegte, auf deren finanzielle Ressourcen zugreifen zu können. Wenn auch ungewiss ist, welche Pläne Muti konkret mit dieser Veränderung verfolgte, so kann mit Gewissheit festgestellt werden, dass nicht nur die Führungsfrage, sondern auch das Problem nach der Abgrenzung der Kompetenzen virulent blieb und sowohl Marine als auch Luftwaffe mit dieser Umstrukturierung der Leitung weiterhin unzufrieden waren. Dieser Unmut resultierte auch aus einer Klausel in einem Reglement aus dem Jahre 1941. In der Anordnung Mutis hieß es zwar, dass der 1. Kommandant ein hoher Offizier der Streitkräfte sein delchi sollte. Während der Amtszeit des Starace nahestehenden Nachfolgers Muti, A Serena, wurde jedoch ein Reglement für das Marinecollegio in Venedig veröffentlicht, dem zu entnehmen war, dass es sich beim 1. Kommandanten sowohl um einen „Würdenträger“ der Partei (sowohl Provinz- als auch Vizeprovinzkomman26 Vgl. 27 Erst
PNF, FD, Nr. 99, 10. 3. 1940. während des Schuljahres 1941/1942 erfolgte auch in den Instituten in Sabaudia (Marine) und Bozen (Armee) eine Umordnung von dem Drei-Kommandanten- zu dem Zwei-Kommandanten-System. 28 Vgl. die Kritik in dem undatierten, unadressierten, lediglich mit einem Stempel des Collegios versehenen Schriftstück [vermutlich von Raoul Moore], in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1940, b. 161, f. Collegio aeronautico di Forlì – Varie. In dem Papier heißt es in Bezug auf das erste Schuljahr: „Absoluter Mangel an Tauglichkeit, Kooperationsgeist, Kameradschaft sowie echtem Pflichtgefühl und Disziplin bei den Kommandanten und Angestellten.“ Vgl. darüber hinaus: Pro-Memoria, Col. Moore, Riservato, 23. 10. 1941, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1942, b. 94, f. Collegio aeronautico di Forlì – Personale; Stempel des Collegios Forlì, Pro-Memoria, 10. 1. 1942, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1942, b. 94, f. Collegio aeronautico di Forlì – Varie.
222 V. Die „Schmiede“ – das Personal dant) als auch einen hohen Offizier der Marine (Kapitän zur See) handeln könne.29 Zweiter Kommandant blieb weiterhin ein Absolvent der Farnesina. Da die Jugendorganisation bei allen Personalien die letzte Entscheidung traf, hielt sie sich damit die Option offen, im Falle von Unstimmigkeiten mit den Streitkräften doch wieder einen Partei-Kommandanten zu ernennen. Ein Marinebericht aus dem Jahre 1941 kritisierte das aktuelle Reglement dann auch als „Kompromisslösung“, da zum einen die Position des 1. Kommandanten „noch immer nicht genau geregelt“ sei und es sich zum anderen bei dem 2. Kommandanten und den Er ziehern um Angehörige der GIL handele. Am Rande des Berichts vermerkte der Marineunterstaatssekretär Arturo Riccardi handschriftlich: „Wir müssen weiter warten, bis wir das Thema vollends besprechen. Wir sind noch nicht in der Lage, einen totalitären Vorschlag zu unterbreiten.“30 Wodurch sich ein solch „totalitärer Vorschlag“ konkret ausgezeichnet hätte, kann nur vermutet werden. Sollte er auf eine Ausschaltung der Jugendorganisation gezielt haben, so lässt sich bezweifeln, dass der Marineminister Mussolini einer solchen Lösung positiv gegenübergestanden hätte. Die in dem Bericht offen zutage tretende Aversion der Marine gegenüber den GIL-Mitarbeitern blieb auch den Schülern nicht verborgen. Zeitzeugen aus Venedig schilderten ein schwieriges Verhältnis zwischen den Farnesina-Absolventen und den Marineangehörigen, das sich offensichtlich unter der neuen Führungskonstellation noch verschärfte. „Insgesamt“, so ein ehemaliger Venedig-Kollegiat, „gab es zwischen dem Personal der Marine und der GIL böses Blut. Die der Marine gehörten zu einer besseren Welt.“31 Ein anderer Zeitzeuge beschrieb das Verhältnis als das „eines Snobs aus alteingesessener Familie und eines Emporkömm lings“.32 Zwischen einem „Snob“ und einem „Emporkömmling“ kam es schließlich im Marinecollegio von Venedig zum Showdown. Bei dem „Emporkömmling“ handelte es sich um Giuseppe Bandini, eine für die Collegi insgesamt interessante, offensichtlich sehr prägende, charismatische und bei den Schülern beliebte und von ihnen bewunderte Persönlichkeit.33 Bandini, ein gebürtiger Römer, Absolvent der Farnesina und enger Vertrauter Renato Riccis, war zunächst Ausbilder im Propädeutikum Accademia Littoria und übernahm 1937 im Collegio in Venedig den Posten des 3. Kommandanten. Nach der Umbildung der Führungsspitze 29 Vgl.
PNF/GIL, Ammissione al collegio navale GIL di Venezia per l’anno scolastico 1941/42, S. 3 f. 30 Relazione sull’attività e sviluppo della premarinara, anno 1940–41, S. 46, in: ACS, Ministero della Marina, Gabinetto 1934–50, b. 452. Im Hinblick auf die Organisation der Collegi navali scheint es bereits eine Vielzahl an Mitteilungen für den Marineunterstaatssekretär gegeben zu haben, auf die in diesem Bericht verwiesen wird. Leider konnten sie in den Akten nicht gefunden werden. 31 Interview mit Giorgio Gasparini (Venedig 1939–1942), 4. 4. 2014-K, S. 4. 32 Schreiben Guido Strazzas (Venedig 1938–1940), 22. 8. 2017. 33 Vgl. Schreiben Falco Accames (Venedig 1939–1943), 17. 4. 2012, S. 1, und Interview mit Falco Accame (Venedig 1939–1943), 24. 3. 2014, S. 1, 6; Interview mit Giorgio Gasparini (Venedig 1939–1942), 4. 4. 2014-K, S. 5; Bandini, in: Corso Prima Prora [Venedig 1940], s. p. In einer Schülerbeschreibung des Jahres 1943 heißt es: „Du bist einer der ,fünfjährigen‘, einer der göttlichsten, einer des alten Bandini-Collegio“, Corso Delfino [Venedig 1943], S. 55.
1. Die Kommandanten 223
im Februar 1940 bekleidete er den Posten des 2. Kommandanten und geriet dann in Konflikt mit seinem Vorgesetzten, Kapitän zur See Ugo Cosentini. Er habe dessen Arbeit offen kritisiert, schließlich ohne Erlaubnis seinen Posten verlassen und sei Renato Ricci in den Krieg nach Albanien gefolgt. Während seiner Abwesenheit habe er brieflichen Kontakt zu seinen Schülern gehalten, in denen er diese weiter gegen den Kommandanten aufgewiegelt habe. Trotz dieser Vorkommnisse entließ die GIL ihn nicht, sondern ließ ihn nach seiner Rückkehr einen Posten in einem anderen Collegio wählen. Er entschied sich für das Collegio in Forlì und wurde 1941 dahin versetzt. Ein Jahr später übernahm er dann die Leitung über die Einrichtungen am Foro Mussolini. Nach dem Sturz Mussolinis folgte er Ricci in die RSI und leitete zeitweilig in Personalunion das neu errichtete Marinecollegio in Padua sowie die als Scuola Allievi Ufficiali GNR di Vicenza wiedergegründete Farnesina.34 Das aus Sicht des Militärs respektlose Verhalten der Farnesina-Absolventen gegenüber den alten Militäreliten, aber auch deren, von den Zeitzeugen häufig er innertes, charismatisches Auftreten, scheinen bei den verantwortlichen Militärs zur ablehnenden Haltung gegenüber den GIL-Angehörigen geführt zu haben. So fürchteten diese, dass die jungen GIL-Ausbilder ihnen den Rang ablaufen könnten und erkannten zudem das Problem doppelter Loyalitäten, sodass sich der Konflikt weiter zuspitzte: Die Marine zielte weiterhin darauf, ihren Einfluss auf die Marinecollegi auszubauen und den der GIL zurückzudrängen, was sich beispielsweise auch in der Forderung zeigte, die Absolventen der Farnesina sollten vor Antritt ihrer Tätigkeit in den Collegi ihren Wehrdienst bei der Marine ableisten.35 Ähnliche Aspirationen gab es bei der Luftwaffe. Auch dort wollte man den Zustand herbeiführen, dass die im Luftwaffencollegio tätigen GIL-Angehörigen bereits in der Luftwaffe gedient hatten.36 Im Oktober 1941 stellte der Kommandant des Collegios in Forlì im Hinblick auf das schwierige Verhältnis von GIL und Luftwaffe fest: „Da es [das Collegio] statt der Luftfahrt der GIL untersteht, ist die Situation des militärischen Personals erbärmlich und schwer aufrechtzuerhalten, weil die GIL, jetzt wo die Sache gut läuft, die Zusammenarbeit mit der Aeronautik beseitigen möchte, sodass Oberst Moore durch einen Funktionär der GIL ersetzt werden würde, wie bereits im neuen Reglement der Akademien und Collegi der GIL festgelegt.“37 34 Zu
Giuseppe Bandini: Annuario del Collegio Navale G.I.L. Venezia. Anno 1937–38, S. 32; PNF, FD, Nr. 75, 10. 2. 1940; Nomine, in: Bollettino GIL, 15. 2. 1940, S. 118; PNF/GIL, Segretario Particolare del V. Comandante Generale, Franco Fedele Bozzi, an Segreteria del Capo del Governo, 4. 9. 1941, in: ACS, SPD, CO, b. 1682, f. 521.571; Accademie e Collegi, in: GdL, 1. 1. 1943, S. 153; Giorgio Pisanò, Gli ultimi in grigioverde. Storia delle Forze Armate della Repubblica Sociale Italiana (1943–1945), Bd. 3, Mailand 1967, S. 1820–1830; L’organigramma dell’Accademia Littoria, in: Storia Verità IV (1999), 19, S. 64. 35 Vgl. Sottosegretario di Stato della Marina, Arturo Riccardi, an Comando Generale G.I.L., 3. 11. 1941, in: ACS, Ministero della Marina, Gabinetto 1934–50, b. 452. 36 Vgl. Comandante 1^Squadra Aerea Milano, Generale Felice Porro, an Capo di Gabinetto, Generale Eraldo Ilari, 7. 7. 1939, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1939, b. 40, f. Collegio aeronautico Forlì – Varie. 37 Pro-Memoria, Col. Moore, Riservato, 23. 10. 1941, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1942, b. 94, f. Collegio aeronautico di Forlì – Personale.
224 V. Die „Schmiede“ – das Personal Angesichts dieser Entwicklung sah er einen unauflösbaren Konflikt heraufziehen: „Definieren, dass das Kommando des Collegios einem Offizier der Königlichen Luftwaffe übertragen werden muss, um zu verhindern, dass sich die GIL dem Glanz bedient, zu dem die Luftwaffe das Collegio gebracht hat, um sich dann in einem opportunen Moment der wertvollen Zusammenarbeit zu entziehen. In dem Fall, dass die GIL einen eigenen Funktionär an die Spitze des Collegios setzen würde (wenn Oberst Moore es verlässt), müssten sofort jegliches Personal und die finanzielle Unterstützung abgezogen werden. Aber das stünde in absolutem Kontrast zu den Anweisungen und Ratschlägen, die der DUCE persönlich dem Kommandanten gegeben hat.“38
In einem späteren Schreiben insistierte er darauf, dass „1°) Der Kommandant auch auf jeden Fall der wahre Kommandant zu sein habe; 2°) seine Vorschläge hinsichtlich der Disziplin der Schüler und Erzieher akzeptiert würden.“39 Diese beiden Probleme, die die Machtfülle des 1. Kommandanten betrafen, scheinen auch in Venedig vorhanden gewesen sein. Ein Zeitzeuge konstatierte: „Das Collegio wurde, sagen wir, nominell durch einen Kapitän zur See geführt, dabei handelte es sich jedoch eher um eine symbolische Besetzung, um die Rollen einzuhalten. Der wahre Kommandant war der 2. Kommandant.“40 In der Wahrnehmung der Schüler und Streitkräfte war der 1. Kommandant demnach kaum mehr als ein Statist, der Farnesina-Absolvent jedoch der eigentliche Kommandant. Mit der Verabschiedung des Gesetzes über die Einheitsmarineschule in Sabaudia ergriff die Marine schließlich die Initiative und reichte einen Vorschlag zur Neuregelung der Stellenbesetzung ein.41 Dabei schlug sie vor, dass einer der beiden Kommandanten ein Marineangehöriger, der andere ein „Würdenträger“ der Partei in der Funktion eines Vizeprovinzkommandanten sein musste (Art. 2). Die Marine zielte dabei auf die Ersetzung des Farnesina-Absolventen durch einen Parteifunktionär und damit auf deren Degradierung, da die farnesini in Zukunft lediglich als Erzieher fungieren sollten (Art. 1). Wie kaum anders zu erwarten, stimmte die GIL dem Vorschlag der Marine nicht zu. Offiziell verwies sie bei der Ablehnung auf eine zeitgleich eingesetzte Kommission zur Erstellung eines allgemeingültigen Reglements für alle Collegi und Schulen der GIL.42 Diese im Jahre 1941 durch das GIL-Generalkommando einberufene Kommission sollte eine Verordnung für alle Schulen und Collegi der GIL erstellen, um endlich die Zuständigkeitsprobleme zu lösen. Mitglied dieser Kommission war beispielsweise der Kommandant des Marinecollegios in Venedig, Kapitän zur See Cosentini. In einem Schreiben an das Generalkommando machte der Marine unterstaatssekretär deutlich:
38 Ebenda. 39 Stempel des
Collegios Forlì, Pro-Memoria, 10. 1. 1942, in: ACS, Ministero dell’Aeronau tica, Gabinetto 1942, b. 94, f. Collegio aeronautico di Forlì – Varie. 40 Interview mit Falco Accame (Venedig 1939–1943), 24. 3. 2014, S. 1. Auch Tirondola bezeichnet den 2. Kommandanten als „il vero organo di vertice“, Tirondola, Pale a prora!, S. 92. 41 Vgl. Regolamento per la scuola marinara „Caracciolo“ della G.I.L. di Sabaudia, in: ACS, PCM, 1940–1943, b. 2665, f. 1.1.15.3500, sf. 1/17. 42 Orfeo Sellani an Ministero della Marina, Gabinetto, 27. 6. 1941, in: Ebenda.
1. Die Kommandanten 225 „Die Tatsache, dass der Kapitän zur See Cosentini, Kommandant des Marinecollegios der GIL in Venedig, Teil der genannten Studienkommission für die Erarbeitung einer Allgemeinen Verordnung aller Collegi und Schulen der GIL ist, impliziert jedoch nicht, dass dieser Ausschuss Beschlusskraft im Interesse des Marineministeriums besitzt.“43
Daraufhin erwiderte der Vizegeneralkommandant Sellani: „Die für das Reglement vom Kommando eingesetzte Kommission hatte und konnte keine Beschlusskraft haben, sondern ausschließlich beratende Funktion und das ausschließlich gegenüber dem Kommando und wenn das Marineministerium darüber informiert wurde, dass der Kapitän zur See Cosentini, Kommandant des Marinecollegios in Venedig, Teil besagter Kommission war, dann ist dies ausschließlich aus Pflichtbewußtsein gegenüber diesem Ministerium geschehen und um zu zeigen, dass das Generalkommando den Interessen der Königlichen Marine Rechnung trägt.“44
Die gereizte Atmosphäre, in der diese Schreiben entstanden, verdeutlicht nochmals das weiterhin bestehende schwierige Verhältnis zwischen Streitkräften und GIL. Beide Seiten waren stark auf ihre Autonomie bedacht und kaum zu Konzessionen an die Gegenseite bereit. Die GIL hielt an ihren farnesini fest, die sie für unabdingbar für das Gelingen der faschistischen Erziehung der Zöglinge betrachtete. Die Streitkräfte hingegen misstrauten diesen „Parvenüs“ und wollten ihnen nicht das Feld der Erziehung überlassen oder sie zumindest zuvor innerhalb der eigenen Einrichtungen „zähmen“. Zu einer Annäherung der beiden Seiten kam es bis zum Untergang des Regimes nicht, das Verhältnis zwischen Jugendorganisa tion und Streitkräften blieb konfliktbeladen. Schwierig gestaltete sich auch die direkte Postenbesetzung innerhalb der Collegi nach dem italienischen Kriegseintritt und dem Voranschreiten des Krieges zu Ungunsten Italiens: Vier Monate nach der Umwandlung von dem Drei- zum Zwei-Kommandanten-System im Februar 1940 trat Italien in den Zweiten Weltkrieg ein. An der Spitze der Collegi kam es daraufhin erneut zu personellen Umstrukturierungen, da die hohen Offiziere für die Kriegsführung benötigt wurden. Die eben erst ernannten Kommandanten in Brindisi (Kapitän zur See Aristotile Bona45) und Venedig (Kapitän zur See Carlo Pinna) verließen ihre Posten. Nachträglich wurde die kurze Amtszeit Pinnas in Venedig in den Erinnerungen eines hochrangingen Marineangehörigen überhöht. In den 1963 publizierten Erinnerungen des Admirals Vittorio Tur steht zu lesen: „Ein Collegio war in Venedig entstanden, perfekt organisiert. Hier herrschte ein Klima der Gesundheit, der Kraft der Jugend, der Hoffnung in die Zukunft des Vaterlandes. Es bereitete die Jugend durch die Marineakademie auf die Kriegsmarine oder die Handelsmarine vor. Seine Majestät der König wollte es durch seinen Besuch ehren. Die Jugendlichen gaben mit ihrer Vorführung ein Beispiel ihrer Perfektion, die sie durch Willen und Disziplin erreichten. Seine Majestät war voller Bewunderung. Jedes Mal, wenn ich in diese wunderbare Schule ging, hatte ich das Gefühl, um zwanzig Jahre zu verjüngen. Sie wurde von dem Kommandanten Pinna geführt und viel verdankte sie ihm und der Lehrerschaft, die für den hervorragenden Geist verantwortlich waren, der hier herrschte.“46 43 Arturo Riccardi an Comando Generale della GIL, 16. 5. 1941, in: Ebenda. 44 Orfeo Sellani an Ministero della Marina, Gabinetto, 27. 6. 1941, in: Ebenda. 45 Bona soll bereits am 25. 5. 1940 durch den Fregattenkapitän Fortunato Pelli
worden sein, vgl. PNF, FD, Nr. 145, 25. 5. 1940. 46 Zit. nach Tirondola, Pale a prora!, S. 93 f.
abgelöst
226 V. Die „Schmiede“ – das Personal Weder der König47 noch Admiral Tur48 besuchten das Collegio jedoch während der Amtszeit Pinnas, sondern unter dessen Vorgänger, dem PNF-Politiker Dino Cagetti. Eine solch positive Zuschreibung für die Leistung eines Faschisten war jedoch in der Nachkriegszeit nicht opportun, erst recht nicht vonseiten eines vermeintlich königstreuen Marineangehörigen, sodass sie in den Memoiren dem Marinekapitän zuerkannt wurde. Die Abberufung Pinnas wurde zunächst kurzfristig im Sommer 1940 mit dem vorherigen 2. Kommandanten (Fregattenkapitän Giuseppe Altoviti)49 und danach langfristig bis zum Sturz Mussolinis mit dem Reserve-Kapitän zur See Ugo Cosentini kompensiert. Den Kommandoposten im Marinecollegio in Brindisi bekleidete offiziell der Fregattenkapitän Fortunato Pelli.50 Tatsächlich wurde er über ein Jahr durch den 2. Kommandanten und Absolventen der Farnesina, Gino Zaccagnini,51 interimsmäßig besetzt. Die unzureichenden Ergebnisse bei der Ausbildung der Kollegiaten in Brindisi begründete die Marine auch mit diesem Umstand, konnte oder wollte aber nicht schneller durch die Entsendung eines Kapitäns Abhilfe schaffen, sondern überließ die Kommandostelle unverständlicherweise dem kritisch beäugten Farnesina-Absolventen.52 Bei der Persönlichen Kanzlei des Duce ging derweil gar eine Beschwerde ein, in der es hieß: „Das Fehlen eines Kommandanten der Marine rufe die Demoralisierung im Marinecollegio in Brindisi hervor. Man lerne kaum (die Bücher seien noch nicht einmal ausgeteilt worden). Es wird ein Besuch durch den Duce erbeten.“53 Erst mit Beginn des Schuljahres 1942/1943 erhielt Brindisi mit dem Fregattenkapitän Pier Filippo Lupinacci wieder einen regulären Leiter, der die Einrichtung dann bis zu deren Schließung führte.54 47 Der
König besuchte das Collegio in den Jahren 1938 und 1939 und nicht während der kurzen Amtszeit Pinnas zwischen Januar und Juni 1940. Vgl. Il RE IMPERATORE visita a Venezia il Collegio navale della G.I.L., in: Bollettino GIL, 15. 6. 1938, S. 1; Il Re Imperatore visita a Venezia il Collegio navale della G.I.L., in: CdS, 26. 4. 1939, S. 1. 48 Admiral Tur übermittelte dem Kommandanten Dino Cagetti nach seinem Besuch im Februar 1939 folgendes Telegramm, das sogar in den Anordnungsblättern der Partei erschien: „Ich danke Ihnen dafür, dass Sie mir die Gelegenheit gegeben haben, die hervorragende Organisation Ihrer großartigen Schule und die hohe moralische, militärische und maritime Erziehung zu bewundern, die Sie den Ihnen anvertrauten Jugendlichen angedeihen lassen.“ PNF, FD, Nr. 1273, 28. 2. 1939. Die LUCE hielt den Besuch filmisch fest. Vgl. Venezia. Il saggio ginnico degli allievi del collegio navale della gioventù italiana del littorio, in: Giornale Luce B1468, 1. 3. 1939. 49 Vgl. Rinnovazione di atto di cessione gratuita, 19. 6. 1940, in: Archivio Generale della Giunta Regionale del Veneto, ExGIL, b. 59, f. collegio navale. In dem notariell beglaubigten Schriftstück wird Altoviti als 1. Kommandant erwähnt. 50 Vgl. PNF, FD, Nr. 145, 25. 5. 1940. 51 Vgl. etwa das Schreiben Zaccagninis an Commissario straordinario per la provincia di Brindisi, 4. 7. 1940, in: ASPBr, cat. XI, cl. 6, sc. 1, b. 275, in welchem er mit „comandante ff “ zeichnet. 52 Relazione sull’attività e sviluppo della premarinara, anno 1940–41, S. 47, in: ACS, Ministero della Marina, Gabinetto 1934–50, b. 452. 53 Notiz, 15. 11. 1941, in: ACS, SPD, CO, b. 1999, f. 533.790. 54 Pier Filippo Lupinacci, Comandante del Collegio navale Brindisi an Prefetto di Lecce, 29. 5. 1944, in: ASLe, Prefettura, Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455.
1. Die Kommandanten 227
Auch vor den anderen Collegi machte der kriegsbedingte Personalmangel nicht Halt. Im Collegio Caracciolo in Sabaudia und dem Heerescollegio in Bozen mussten die 2. Kommandanten zwischenzeitlich das Kommando übernehmen, ehe mit Leutnant zur See Alfonso Carbonara55 und dem Oberst der Artillerie Fernando Di Mattia56 Militärs die Führung übernahmen. Lediglich in Forlì kam es mit dem Piloten Raoul Moore, der das Collegio von 1940 bis zur Schließung 1943 leitete, zu einer Konsolidierung an der Spitze.57 Doch nicht nur an der unmittelbaren Führungsspitze, auch bei den jungen 2. Kommandanten, den farnesini, fehlte es aufgrund von Einberufungen58 und Versetzungen häufig an Personalkontinuität.59 Die zwischen 1941 und 1942 gegründeten Collegi für Kriegswaisen und zukünftige Führungskräfte wurden von zwei Kommandanten geleitet, die das GILGeneralkommando nominierte.60 Wie die Analyse zeigt, besetzte die GIL diese Kommandoposten größtenteils durch Absolventen der Farnesina.61 Es darf an 55 Der
2. Kommandant in Sabaudia, Mario Bonetta (* 1910), vertrat zeitweilig den Posten des 1. Kommandanten, bis Alfonso Carbonara ihn 1942 übernahm. Zu Bonetta siehe: ACS, MPI, IEFS, FPIE, b. 5, f. Bonetta, Mario. Von Carbonara existiert ein Bittschreiben an die Tochter Mussolinis, Edda Ciano, um ein Bild, vgl. ACS, SPD, CO, b. 2623, f. P 39189. 56 Der 2. Kommandant in Bozen, Gaetano Freschi, vertrat zeitweilig den Posten des 1. Kommandanten, bis Fernando Di Mattia ihn 1942 übernahm. 57 Raoul Moore war bis Februar 1940 2. Kommandant und stieg dann zum 1. Kommandan ten des Collegios in Forlì auf. Vgl. PNF/Comando Generale G.I.L. an Ministero dell’Aero nautica, Gabinetto, 2. 2. 1940, in: Archivio Cesare Valle, CV-CAR-044, faldone 8. Moore war zum Zeitpunkt seiner Ernennung Oberstleutnant und wurde im April 1940 zum Oberst befördert. Vgl. La promozione del Comandante del Collegio, in: PdR, 6. 4. 1940, S. 2. Er wurde lediglich für einen Zeitraum von drei Monaten während der Sommer ferien 1940 eingezogen, vgl. Domenico Bandoli an Cesare Valle, 13. 7. 1940, in: Archivio Cesare Valle, CV-CAR-044, faldone 8. Zur Person Moores siehe den hagiographischen Bericht, in dem seine Tätigkeit als Kommandant des Collegios keine Erwähnung findet: Associazione nazionale famiglie caduti e mutilati dell’aeronautica, Sezione di Udine, L’aeronautica nel Friuli, Udine 1959, S. 171 f. 58 Am 15. 4. 1941 bat der Kommandant des Collegios in Forlì um Personal, da er sonst ab 24. 4. 1941 aufgrund von Einberufungen ohne 2. Kommandanten und Erzieher dastünde, vgl. Kommandant Collegio aeronautico Forlì, Raoul Moore, an Ministero dell’Aeronautica, Enrico Giannone, 15. 4. 1941, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1941, b. 127, f. Collegio aeron. di Forlì – Varie. 59 Vgl. etwa Collegio Venedig 2/1940–1943: Giuseppe Bandini, Alberto Homs Cerri, Andrea Tornabuoni; Collegio Brindisi 2/1940–1943: Gino Zaccagnini, Silvio Valente, weitere Besetzung namentlich unbekannt; Collegio Bozen 1939–1943: Stefano Varvaro (tenente colonnello), Gaetano Freschi, weitere Besetzung namentlich unbekannt; Collegio Lecce 1941–1943: Posten zunächst unbesetzt, Mario Pagliari Pompili, Dante Arciprete, Posten unbesetzt; Collegio Forlì 2/1940–1943: Bruno Marelli, Giuseppe Bandini, weitere Besetzung namentlich unbekannt. 60 Vgl. das unpaginierte und undatierte Reglement des Collegios Lecce, in: ASLe, Prefettura, Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455. 61 Vgl. etwa die Absolventen der Akademie: Kommandant Collegio Lecce Bruno Marelli; Kommandant Collegio Udine Domenico Mendolia (vgl. ACS, MPI, IEFS, FPIE, b. 26, f. Mendolia, Domenico); 2. Kommandant Collegio Udine Vinicio De Barba (vgl. ebenda, b. 14, f. De Barba, Vinicio); Kommandant Collegio Vicenza Giuseppe Cetera (vgl. e benda, b. 10, f. Cetera, Giuseppe). Eine Ausnahme stellt der Kommandant Edoardo De R enzi des Kriegswaisencollegios in Turin dar. Er war Seniore der Miliz und Jurist.
228 V. Die „Schmiede“ – das Personal genommen werden, dass die Kooperation zwischen 1. und 2. Kommandanten aufgrund der gemeinsamen Ausbildung in der Farnesina und eines nun detailliert ausgearbeiteten Reglements weniger konfliktbehaftet war. Für das Waisencollegio in Lecce ist das Reglement überliefert,62 worin dem 1. Kommandanten die allumfassende Verfügungs- und Entscheidungsgewalt zugesprochen wurde. Besonders hervorgehoben wird darin dessen Vorbildfunktion gegenüber seinen Mitarbeitern, aber vor allem gegenüber den Schülern, für die er „die Inkarnation väterlicher Erziehungswerte“ zu sein hatte. Dabei sollte sich das pädagogische Handeln beider Kommandanten nicht nur auf die Disziplin beschränken, sondern „in besonderer Weise auf die patriotische, militärische und moralische Erziehung der Schüler“ Einfluss nehmen. Bewusst sein sollte sich der 1. Kommandant „der Bedeutung und Erlesenheit seiner Aufgaben, die ihm auf dem Gebiet der Jugenderziehung übertragen wurden. Er muss in jedem Moment seiner Tätigkeit die volle und enthusiastische Hingabe an die große Mission, die vor allem ein Apostolat des Glaubens ist, fühlen.“
Im Falle seiner Abwesenheit übernahm der 2. Kommandant dessen Aufgaben. Der 2. Kommandant wurde auf Wunsch bzw. nach Zustimmung des 1. Kommandanten bestimmt und war dessen Exekutive. Er „arbeitet mit wachsamem Erziehergeist mit dem 1. Kommandanten zusammen, indem er das Leben des Institutes auf jedem Gebiet führt und sich detailliert um die allumfassende Erziehung der Jugendlichen sorgt“. Besonderes Augenmerk lag dabei auch auf der Kontrolle der Erzieher und der sofortigen Intervention bei Missständen in deren Erziehungsarbeit. Darüber hinaus trug er Sorge für alle „sportlich-militärischen Aktivitäten, um den Schülern einen kriegerischen Geist zu vermitteln“. Insgesamt lässt sich an diesen Aufgabengebieten ablesen, dass dem 1. Kommandanten primär die Verwaltung des Collegios,63 dem 2. Kommandanten hingegen die Verantwortung für die Erziehung der Kollegiaten zukam. Dass die Kommandanten diesen Anforderungen in Anbetracht der durch den Krieg verschärften Personalsituation und -fluktuation vollends gerecht wurden, muss bezweifelt werden. So wechselte im Kriegswaisencollegio in Lecce der Kommandoposten mit Fortschreiten des Krieges mehrmals,64 und der Posten des 2. Kommandanten konnte zeitweilig nicht 62 Vgl.
das unpaginierte und undatierte Reglement des Collegios Lecce, in: ASLe, Prefettura, Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455. Daraus die folgenden Zitate. 63 Zu seinen Aufgaben zählten das 14-tägige Verfassen von Berichten über die Aktivitäten des Collegios, die Einschätzung der Mitarbeiter, das monatliche Verfassen von Berichten über die Wünsche des Collegios, Synopsen zum Verhalten von Schülern und Personal sowie über Belohnungen, Bestrafungen und medizinische Aktivitäten, die vierteljährliche Publikation eines Collegiobulletins sowie das Verfassen des Schuljahresabschlussberichtes. 64 Bruno Marelli war 1. Kommandant von September 1941 bis Anfang 1943, gefolgt von Ugo Coletti (* 1905 San Pio delle Camere) und Antonio Grassi (* 1911 Bronta). Vgl. Registro delle delibere, Delibera nr. 8, 16. 12. 1941, in: ASLe, Com. Prov. G.I., b. 330; ACS, MPI, IEFS, FPIE, b. 11, f. Coletti, Ugo; ebenda, b. 21, f. Grassi, Antonio. Nach dem Sturz Mussolinis übernahm Pasquale Fiore das Kommando, gefolgt von Antonio Cardinale im Jahre 1945. Pasquale Fiore (* 1905) war zuvor Erzieher im Collegio Brindisi und nach eigenen Angaben Absolvent des 1923 geschlossenen R. Istituto Superiore di Magistero per l’Educazione fisica. Vgl. die Stellungnahme Pasquale Fiores in: Del Collegio Fiorini, in: Il Tribuno salentino, 20. 9. 1944, S. 1. Er muss aber zumindest einen Kurs in der Farnesina besucht haben, um diese Tätigkeit aufzunehmen.
1. Die Kommandanten 229
besetzt werden respektive die Besetzung wechselte innerhalb kurzer Zeit aufgrund von Einberufungen oder Versetzungen.65 Versetzungen, aber auch damit verbundene hierarchische Aufstiege des GIL-Personals waren generell sehr häufig, bereits vor dem Kriegseintritt und auch für die Zeit zwischen 1943 und 1945, zu beobachten.66 So war etwa der 1. Kommandant in Lecce, Bruno Marelli, zuvor 2. Kommandant im Luftwaffencollegio Forlì und der zeitweilige 2. Kommandant, Mario Pagliari, zuvor Erzieher im Marinecollegio in Brindisi. Zu einer Konsolidierung konnte es demnach kaum kommen. Ein Bericht aus dem Mai 1943 hielt die prekäre Leitungssituation von Lecce eindrücklich fest. Demnach war der GIL-Vizekommandant von Lecce, Ugo Coletti, aufgrund der Einberufung des eigentlichen Kommandanten zugleich interimsmäßig Kommandant des Collegios. Coletti habe das Collegio jedoch „nur sporadisch“ besucht, der Posten des 2. Kommandanten war vakant, sodass der Adjutant das Collegio führen musste.67 Die Arbeit dieses Adjutanten stufte die GIL jedoch als „unzureichend“ ein, womit deutlich wird, dass aufgrund der großen Perso65 Nachdem
das Collegio Lecce offiziell Ende 1941 seine Pforten öffnete, wurde mit Mario Pagliari Pompili erst im Februar 1942 der Posten des 2. Kommandanten besetzt, gefolgt von Dante Arciprete (* 1915 Matera) im September 1942. Vgl. Registro delle delibere, Delibera nr. 14, 20. 4. 1942, Delibera nr. 17, 15. 7. 1942 und Delibera nr. 4, 30. 10. 1942, in: ASLe, Com. Prov. G.I., b. 330; ACS, MPI, IEFS, FPIE, b. 2, f. Arciprete, Dante. Vgl. darüber hinaus das Schreiben des Kommandanten aus dem Jahre 1944, in dem er sich auf ein geheimes Schreiben des kommissarischen Kommandanten Ugo Coletti vom 15. 5. 1943 bezieht, in dem dieser wortwörtlich geschrieben habe: „Um eine gewisse Kontinuität im Collegio zu gewährleisten, wäre es notwendig, einen zweiten Kommandanten zu ernennen.“ Vgl. Pasquale Fiore, Kommandant des Collegios Lecce an Prefettura Lecce, 29. 4. 1944, in: ASLe, Prefettura, Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455. 1944 bekleideten Beniamino Bruno und 1945 Mario Pagliari Pompili den Posten des 2. Kommandanten, die beide zuvor als Erzieher in Brindisi tätig waren. Bruno (* 1912) soll Fecht lehrer der Königlichen Armee gewesen sein. Vgl. die Stellungnahme Pasquale Fiores in: Del Collegio Fiorini, in: Il Tribuno salentino, 20. 9. 1944, S. 1. Aber auch er muss zu mindest einen Kurs in der Farnesina besucht haben, um diese Tätigkeit ausführen zu können. 66 Etwa Silvio Valente, zunächst Erzieher und Aiutante Maggiore im Collegio navale in Venedig, dann Aufstieg zum 2. Kommandanten im Collegio navale Brindisi (vgl. Pier Filippo Lupinacci, Comandante del Collegio navale Brindisi an Prefetto di Lecce, 29. 5. 1944, in: ASLe, Prefettura, Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455). Dionisio Tardioli war zunächst Erzieher im Collegio aeronautico Forlì, ab 1944 Kommandant im Collegio navale (vgl. ACS, MPI, IEFS, FPIE, b. 41, f. Tardioli, Dionisio). Andrea Tornabuoni fungierte zunächst als Erzieher im Collegio navale Brindisi, danach als 2. Kommandant im Collegio navale Venedig (vgl. ebenda, b. 41, f. Tornabuoni, Andrea). Paolo Carboni arbeitete zunächst als Erzieher im Collegio aeronautico Forlì, von 1943 bis 1944 als 2. Kommandant im Collegio navale (vgl. ebenda, b. 8, f. Carboni, Paolo). Beniamino Bruno war zunächst Erzieher in den Collegi in Brindisi und Lecce, 1944 erfolgte die Ernennung zum 2. Kommandanten in Lecce (vgl. Pasquale Fiore, Comandante del Collegio Lecce an Prefettura Lecce, istrut. Bruno, Beniamino, 4. 4. 1944, in: ASLe, Prefettura, Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455). Aldo Spettini arbeitete zunächst als Erzieher im Collegio Bozen, dann als 2. Kommandant im Collegio Vicenza (vgl. ACS, MPI, IEFS, FPIE, b. 40, f. Spettini, Aldo). Dante Arciprete war zunächst Erzieher im Collegio navale Brindisi und dann 2. Kommandant in Lecce. 67 Brief Ramiro Morucci an Pasquale Saraceno, IRI, 26. 5. 1943, in: ACS, IRI NERA, ISP-85, f. 7.2.1.2.
230 V. Die „Schmiede“ – das Personal nalknappeit unqualifiziertes Personal in Führungspositionen beschäftigt werden musste, um den Betrieb überhaupt aufrechterhalten zu können.68 Eine qualitativ hochwertige Leitung war demnach mit voranschreitendem Krieg in einigen Collegi kaum mehr zu realisieren. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die für den Faschimus typische Ämterpolykratie und unpräzis abgegrenzte Kompetenzbereiche in der Führungsebene der Collegi zu häufigen Reibungen zwischen Streitkräften, Partei und Mitgliedern der GIL führten, aus denen wiederum Stellenumbesetzungen und -neubesetzungen resultierten, die das Entstehen eines routinierten Schulbetriebes behinderten und eine Konsolidierung an der Spitze – verstärkt durch die Aus wirkungen des Krieges – erschwerten.
2. Die Erzieher Die Erzieher sollten neben dem GIL-Kommandanten die prägendsten Bezugspersonen der Kollegiaten darstellen und einen starken Einfluss auf deren Formung ausüben. Die junge, sicherlich regimeloyale Erzieherschaft rekrutierte sich aus den Absolventen der Akademie für Leibeserziehung, der „wahren und wirklichen Schmiede faschistischer Erzieher“.69 Von dem Wirken der Akademisten hing – so ist den zeitgenössischen pädagogischen Anweisungen zu entnehmen – maßgeblich der Erfolg der Erziehungsarbeit ab. Die Aufgabe der Erzieher in den Collegi bestand in nichts Geringerem, als „den cittadino-soldato zu schmieden, den Menschen der faschistischen Zivilisation, den seiner individuellen und kollektiven Verantwortung bewussten Italiener; kurzum er muss in seinem Schüler ein imperiales Bewusstsein wecken, würdig, das zukünftige Schicksal des Vaterlandes mitzubestimmen.“70
Dabei sollten sie ihre Zöglinge nicht mit faschistischer Rhetorik langweilen, sondern sie durch das Vorleben des richtigen Verhaltens animieren, ihnen nachzu eifern. So heißt es über die Erzieher im Collegio von Bozen: „Beständiges Vorbild für Glauben und Enthusiasmus im Alltag sind die Erzieher: Opferbereitschaft und Hingabe als dominierende Elemente für die Formung des Charakters des künftigen faschistischen Bürgers und Soldaten.“71 Emulazione, die Nacheiferung, heute bekannt als „Lernen am Modell“, war also Dreh- und Angelpunkt in der faschistischen Erziehung, die auf effektive Verhaltensregulierung der Kollegiaten durch ihre faschistischen Erzieher zielte.72 Damit die Kollegiaten in ihren Erziehern 68 Vgl.
zu Michele Zito: Antonio Di Milia, Relazione sull’inchiesta al collegio „Fiorini“ per orfani di guerra in Lecce, 20. 5. 1944, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Personale, pratiche, varie, Collegi – Asili, b. 1162, f. Collegio Fiorini Lecce. 69 Caporilli, Educazione giovanile nello stato fascista, S. 124. 70 Bonamici, Accademie e collegi. Direttive per le Accademie e i collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 1. 1943, S. 191. 71 Relazione sintetica delle attività svolte al Collegio nel trimestre aprile – maggio – giugno XX, in: Collegio della G.I.L. di specializzazione militare Bolzano, supplemento al n. 18 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 21. 7. 1942, S. 6 f., hier S. 6. 72 Vgl. Rossi, Educazione fascista, S. 28 f.
2. Die Erzieher 231
Vorbilder erblickten, denen sie (bewusst oder unbewusst) nacheiferten, galt es, folgende Punkte zu realisieren: „Der Schüler muss in seinen Erziehern große Brüder sehen, die sich um sein Schicksal sorgen und ihn wie oder besser als in der Familie erziehen. […] Der Schüler muss in seinem Erzieher ein Vorbild sehen, nach dem er sich formen muss. […] Alles muss der Erzieher über seinen Schüler wissen, da er ihm nur so liebevoll befehlen und ihn führen kann.“73
Der Erzieher sollte „in das Herz des Einzelnen herabsteigen, nachdem die Umgebung, aus der er stammt, untersucht wurde, sowie die möglichen moralischen Laster seiner Familie, seine geistigen Bedürfnisse, seine physischen und intellektuellen Möglichkeiten und sein Temperament. Kein Moment der Niedergeschlagenheit und der Schwäche, kein einfacher Enthusiasmus, keine Genervtheit darf deshalb den Erzieher übermannen, der sich bewusst der Ausbildung der Jungen opfert.“74
Um das nötige psychologische Feingefühl für diese hochsensible Erziehungsarbeit entwickeln zu können, wurden diese „wahren Apostel der faschistischen Erziehung“75 in einer zunächst zweijährigen und dann auf drei Jahre ausgeweiteten Ausbildung samt Probejahr in der Farnesina auf ihre zukünftige Tätigkeit vorbereitet. Auch wenn die inhaltlichen Schwerpunkte der verschiedenen Jahrgänge leicht variierten,76 so erhielten sie doch alle eine Ausbildung auf den Gebieten: „Politik, Militär, Heilkunde, Leibeserziehung und Sport. Zum politischen Fach gehör[t]en: Geschichte der faschistischen Revolution, Geschichte der politischen Lehren und der Lehrmeinung des Faschismus, Politik der Nationalen Faschistischen Partei und deren Unterorganisationen, Pädagogik und Geschichte der Leibeserziehung. Militärisches Fach: militärischer Wissensstoff zum Lehrgang für die Reserveoffiziersaspiranten. Heilkunde: normale menschliche Anatomie in ihrer Anwendung auf die Leibeserziehung, Physiologie des Menschen und der Leibesübung, Wachstumslehre, Biotypologie, Leibeserziehungs- und Sportmedizin, Sozialhygiene, Psychologie, Psychotechnik und Psychopathologie. Beim Studium der Menschlichen Morphologie [wurde] hauptsächlich das Wachstum der Rassen berücksichtigt. Das Fach Leibeserziehung und Sport umfasst[e]: formgebende Leibeserziehung (Theorie, Methodologie, theoretischer Teil und Lehrzeit des Kommandos, Schulreglement, Vergleichung der Systeme, turnerische Wettbewerbe, Turnstätten und deren Ausstattung), Leichtathletik und Kenntnisse über die verschiedenen Sportformen.“77
Die Ausbildung in der Farnesina war nicht rein theoretisch ausgelegt. Wie ein deutscher Beobachter festhielt, mussten die Akademisten jeden Nachmittag Balilla-Jungen befehligen.78 Die Akademisten waren allesamt Mitglieder der Partei 73 Unpaginiertes und undatiertes Reglement des Collegios Lecce, in: ASLe, Prefettura, Serie
I, IX versamento, b. 83, f. 455. Scuola della G.I.L. di Specializzazione Militare nel XX Annuale dei Fasci lancia al vento di tutte le vittorie il suo grido di fede, di entusiasmo, di dedizione assoluta al DUCE, in: Combattere! 28. 10. 1941, S. 4. 75 Ponzio, Accademia della Farnesina, S. 47. 76 Vgl. ebenda, S. 42, 45 f. 77 Renato Marzolo, Italiens Jugendorganisationen, Rom 1939, S. 39 f. Marzolo war zugleich Dozent an der Farnesina, vgl. Abschlusszeugnis von Vinicio De Barba, in: ACS, MPI, IEFS, FPIE, b. 14, f. De Barba, Vinicio. 78 Vgl. Dr. v. L., Die 800 der Farnesina, 26. 2. 1937, in: BA Berlin, NS 43, 384, Bl. 219–221, hier Bl. 221. 74 La
232 V. Die „Schmiede“ – das Personal und erhielten mit Abschluss ihrer Ausbildung an der Farnesina und der Übernahme in die Dienste der ONB/GIL auch einen Dienstgrad in der MVSN.79 Wie ein Rundschreiben aus dem Jahr 1938 nahelegt, hatten die Akademisten nach ihrem Abschluss zunächst die Möglichkeit, sich für ihr Wunschcollegio zu bewerben.80 Ihre Bewerbung reichten sie beim GIL-Provinzkommando ein, das diese mit einem Urteil hinsichtlich der Eignung des Bewerbers im Hinblick auf dessen politische Einstellung und Führungsfähigkeiten an das Generalkommando übersandte. Einstellungsvoraussetzungen waren ein abgeleisteter Wehrdienst sowie die Vereinigung körperlicher, kultureller, praktischer und geistiger Fähig keiten, die den Bewerber als leidenschaftlichen Ausbilder auszeichneten. Die Erzieher hatten die Pflicht, zusammen mit den Schülern in den Collegi zu wohnen, sie erhielten kostenlose Verpflegung und als Anreiz für mindestens zwei Jahre Tätigkeit ein Anrecht auf Bevorzugung bei der Vergabe von besonderen Posten innerhalb der GIL. Auf den jährlich auszufüllenden Formblättern zur Einschätzung ihrer Tätigkeit in der GIL konnten sie auch Versetzungswünsche angeben. Ob diese Wünsche angesichts des Personalmangels immer Berücksichtigung fanden81 oder die Akademisten auch ohne Mitspracherecht an Collegi versetzt82 oder ihnen zugeteilt wurden,83 lässt sich aufgrund der Quellenlage nicht mehr eindeutig rekonstruieren. Für alle Optionen gibt es – teils erst nach 1945 entstandene – Belege, die jedoch nicht ausreichen, um daraus ein klares Muster abzuleiten. In den Collegi war ein jeder Erzieher für einen Zug (plotone) von rund 33 Kollegiaten verantwortlich.84 Er betreute seine Schützlinge von früh bis spät – ab gesehen von Unterricht und Marine-/Luftfahrtaktivitäten – und wachte über 79 Vgl. Angelo 21935, S. 69;
Cammarata, Pedagogia di Mussolini alla scuola dell’Opera Balilla, Palermo Marzolo, Italiens Jugendorganisationen, S. 41; Starace, Gioventù italiana del Littorio, S. 20. 80 Vgl. Istruttori per accademie e collegi G.I.L., in: Bollettino GIL, 15. 8. 1938, S. 6. Das hier abgedruckte Rundschreiben ist auf den 2. 8. 1938 datiert. 81 Vgl. die zahlreichen Note di qualifica von Antonio Zubbini, in: ACS, MPI, IEFS, FPIE, b. 43, f. Zubbini, Antonio. Dessen Wünschen bezüglich einer Versetzung wurde zwischen 1937 und 1941 immer nachgekommen. 82 Vgl. Schreiben zur Versetzung Paolo Carbonis von Viterbo an das Luftwaffencollegio in Forlì. Darin wird er am 21. 10. 1941 informiert, dass er am 25. 10. 1941 seinen Dienst als Erzieher in Forlì anzutreten hat: Comando federale Viterbo an Paolo Carboni, 21. 10. 1941, in: Ebenda, b. 8, f. Carboni, Paolo. 83 Walter Morselli spricht in seiner Einlassung von „fui assegnato“, vgl. Einlassung, Walter Morselli, 28. 5. 1945, in: Ebenda, b. 28, f. Morselli, Walter. 84 Im Marinecollegio Venedig waren im Schuljahr 1937/1938 beispielsweise vier Erzieher für insgesamt 134 Kollegiaten verantwortlich. Jeder Erzieher befehligte dabei eine Gruppe von 29 bis 36 Schülern (Ø 33,5), vgl. Annuario del Collegio Navale G.I.L. Venezia. Anno 1937–38, S. 32, 62–65. Im Schuljahr 1941/1942 kamen im Collegio aeronautico Forlì acht Erzieher auf 290 Schüler (Ø 36,25), vgl. Alla presenza del Duce si è inaugurato a Forlì il Collegio aeronautico della G.I.L. intitolato al nome eroico di „Bruno Mussolini“, in: GdL, 15. 10. 1941, S. 818 f. Mit Beginn des Schuljahres 1941/1942 sollen in allen GILEinrichtungen insgesamt 166 Erzieher für ca. 5000 Kollegiaten verantwortlich gewesen sein (Ø 30,1), vgl. Cronache della G.I.L., in: Problemi della Gioventù 2 (1941/1942), 1–2, S. 19 f., hier S. 20.
2. Die Erzieher 233
deren moralische Erziehung und sportliche Ausbildung sowie deren Disziplin.85 Zeitzeugen gaben an, dass ihre Erzieher im Besonderen auf das Verhalten gegenüber den Vorgesetzten und Kommilitonen achteten und Respekt, Loyalität, Pünktlichkeit, Disziplin und Sauberkeit einforderten.86 Zentral sei bei der Erziehungsarbeit das Anspornen zu individueller Bestleistung bei zeitgleicher Förderung des Gemeinschaftssinns gewesen: „Ein weiterer Aspekt, um den sie sich kümmerten und den sie immer wieder hervorhoben, war der Korpsgeist und gleichzeitig die Besten zu sein, auf allen Gebieten.“87 In welchem Maße es diese „neuen Erzieher der faschistischen Zeit“ verstanden, ihre Zöglinge – wie postuliert – zu „neuen Menschen“ zu schmieden, ist schwer zu bemessen. Feststellen lässt sich, dass es auch ungeeignete Pädagogen gab, denen es sicherlich nicht gelang, „in das Herz des Einzelnen herabzusteigen“. Davon zeugen beispielsweise einige Beschreibungen in den Abschlussjahrbüchern und den Erinnerungen der Zeitzeugen. So finden sich in den Abschlussjahrbüchern von Brindisi Kritiken an dem Erzieher Dante Arciprete, dem späteren 2. Kommandanten in Lecce. 1938 heißt es über ihn: „Arciprete ist sehr mürrisch – wir hören ihn immer zornig sagen: Wie heißen Sie? – Ausgehverbot!“88 Im darauffolgenden Jahr bezeichneten ihn die Schüler gar als Farfarello, einen Teufel aus Dantes Göttlicher Komödie.89 Dass es einem solchen Erzieher gelang, zum Vorbild der Schüler zu avancieren, ist unwahrscheinlich. Auch einige wenige Zeitzeugen verweisen darauf, dass es Erzieher gab, die „rechthaberisch und arrogant [waren]. Das ist auch verständlich. Auch sie waren jung und hatten gerade ihren Abschluss gemacht und nachdem sie jahrelang gehorchen mussten, mussten sie plötzlich kommandieren und fühlten sich wichtig.“90 Darüber hinaus belegen einige Veröffentlichungen in dem GIL-Bulletin, dass die Jugendorganisation nicht vollauf zufrieden mit ihrem Personal war und deshalb eine sorgfältigere Auswahl der Erzieher anmahnte,91 oder die Erzieher wiederholt an ihren Enthusiasmus92 und das vorbildliche Vorleben des erwünschten Verhaltens erinnerte.93 85 Vgl.
Interview mit Iginio Bonoldi (Venedig 1941–1943), 7. 4. 2014-K, S. 3; Schreiben Feliciano Ciardis (Venedig 1939–1942), 27. 6. 2012, S. 1; Schreiben Giorgio Gasparini (Venedig 1939–1942), 20. 8. 2012, S. 4; Interview Giorgio Gasparini (Venedig 1939–1942), 4. 4. 2014-K, S. 4; Erinnerungen Ulrico Guerrieris (Venedig 1940–1943), 15. 11. 2012; Schreiben Corrado Merizzis (Venedig 1937–1940), 27. 11. 2012; Schreiben Gherardo Scattolins (Bozen 1941–1943), September 2012, S. 1. 86 Schreiben Corrado Caldeses (Bozen 1941–1943), 20. 11. 2012, S. 2. 87 Anselmo Rossi, Un ragazzo del’43, Rom 2002, S. 16. 88 Collegio navale Brindisi, MAK-π-100, Brindisi 1938, s. p. Siehe zu Dante Arciprete: ACS, MPI, IEFS, FPIE, b. 2, f. Arciprete, Dante. 89 Collegio navale Brindisi, MAK-π-100, Brindisi 1939, S. 25. 90 Schreiben Giuseppe Augustins (Bozen 1940–1943), 6. 7. 2012, S. 2. Augustin selbst hatte jedoch einen Erzieher „mit sanftmütigem Charakter, der uns menschlich behandelte und den ich in guter Erinnerung behalten habe“. 91 Il Rapporto del Segretario del Partito ai Comandanti delle Accademie e dei Collegi, in: Bollettino GIL, 1. 12. 1940, S. 49. 92 Vgl. Pignatari, I quadri dirigenti, in: GdL, 15. 5. 1941, S. 386. 93 Vgl. Disposizioni di carattere permanente, in: Bollettino GIL, 15. 8. 1939, S. 344; Bona mici, Accademie e collegi. Direttive per le Accademie e i collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 1. 1943, S. 191; Rossi, Compiti attuali dei dirigenti della G.I.L., in: GdL, 15. 1. 1943, S. 221.
234 V. Die „Schmiede“ – das Personal Insgesamt zeigt sich jedoch, dass die jungen Akademisten mehrheitlich positive Resonanz fanden und es ihnen gelang, die Kollegiaten für sich einzunehmen und zu begeistern. Selbst der sonst so GIL-kritische Forlì-Kommandant Raoul Moore lobte in einem zeitgenössischen Dokument überschwänglich die GIL-Erzieher: „Ausgezeichnet die Offiziere der G.I.L., die derzeit ihren Dienst leisten: Alles Nachwuchskräfte, die Fähigkeit, Eifer und Aufopferungsbereitschaft bei der Ausführung ihrer Tätigkeit zeigen.“94 Ein Erzieher des Marinecollegios in Venedig erfuhr in einem Abschlussjahrbuch geradezu eine Huldigung: „Von deinem jungen Adonisgesicht strömt Ehrlichkeit, Loyalität, echte und offene Aufrichtigkeit. erden; Er schafft es mit dieser besonderen Verhaltensweise von allen gemocht zu w und wir mögen ihn sehr. […] Der Kurs zählt dich zu seinen Freunden.“95 Auch die Zeitzeugen unterstrichen häufig deren Tüchtigkeit und Erlesenheit.96 Ein Zeitzeuge bezeichnete die Erzieher gar als eine Art Familie: „Sie ließen uns eine moralische und materielle Unterstützung spüren, umgeben von derselben liebevollen und väterlichen Atmosphäre einer Familie.“97 Im Allgemeinen verwiesen sie darauf, dass es ein kameradschaftliches, beinahe freundschaftliches Verhältnis zwischen Erziehern und Kollegiaten gegeben habe. Nichtsdestotrotz hätten die Erzieher von ihren Schützlingen mit Unnachgiebigkeit das Maximum ihrer Leistungen eingefordert.98 Und auch dabei half offensichtlich das psychologische Fingerspitzengefühl der Erzieher: „Wir brauchten nicht lange, um zu erkennen, wie sehr uns das Schicksal begünstigte und unser Stolz, der durch die Erzieher angemessen stimuliert wurde, half uns, jedes Hindernis zu überwinden.“99 Besonders interessant im Hinblick auf die Leistungen der Erzieher sind die Einschätzungen eines Bozen-Kollegiaten, die dieser zu zwei verschiedenen Zeitpunkten abgab. Im Jahre 2002 veröffentlichte Anselmo Rossi, Sohn eines Maurers und Bozen-Kollegiat, die Erinnerungen an seinen dreijährigen Aufenthalt im Collegio. Zwölf Jahre später konnte er in einem Zeitzeugeninterview zu seinen Erinnerungen befragt werden. In diesen zwölf Jahren hatten sich die Erzieher in seiner Er innerung von Höllenhunden in Schutzengel gewandelt – gleichbleibend war hingegen der enorme Einfluss, den er diesen Erziehern auf das Seelenleben der Kollegiaten zuschrieb. Im Jahre 2002 urteilte er: „Dies waren die wirklichen Schöpfer unseres Gedeihens, sie modellierten uns nach ihrem Erscheinungsbild. Sie wurden nach ihrem Talent ausgewählt; Athleten ersten Ranges und 94 Undatiertes,
unadressiertes, lediglich mit einem Stempel des Collegios versehenes Schriftstück [vermutlich von Raoul Moore], in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1940, b. 161, f. Collegio aeronautico di Forlì – Varie. 95 Aldinio, in: Corso Delfino [Venedig 1943], S. 87. Siehe zu Vincenzo Aldinio: ACS, MPI, IEFS, FPIE, b. 1, f. Aldinio, Vincenzo. 96 Vgl. Interview mit Giorgio Gasparini (Venedig 1939–1942), 4. 4. 2014-O, S. 10; Interview mit Donato Fantetti (Bozen 1942–1943), 26. 3. 2014-K, S. 3; Schreiben Virgilio Bernar dinos (Lecce 1941–1946), 1. 7. 2014. 97 Schreiben Giovanni Sordis (Bozen), 11. 9. 2012. 98 Erinnerungen Ulrico Guerrieris (Venedig 1940–1943), 15. 11. 2012; Schreiben Giuseppe Lises (Venedig, Padua 1940–1943), 11. 9. 2012; Interview mit Giuseppe Cinquepalmi (Bozen 1940–1942), 23. 4. 2014-O, S. 8; Schreiben Michele Sansonis (Bozen 1939–1943), 14. 8. 2013; Schreiben Virgilio Bernardinos (Lecce 1941–1946), 24. 5. 2014. 99 Luigi Catteruccia, I Balilla della Villetta, in: Storia Verità IV (1999), 19, S. 60 f., hier S. 60.
2. Die Erzieher 235
Abb. 10: Die Erzieher in Bozen, 1940/1941 (AdV) bewährte Faschisten. Sie waren wahre Höllenhunde [Zerberusse] und wir wurden für die kleinsten Vergehen bestraft. […] Wie ich bereits sagte, es waren aus der Akademie auserwählte Offiziere, sie hatten auch Psychologie studiert, sodass sie genau wussten, wie sie uns zu formen hatten. Die Isolierung in der wir lebten, das formbare Alter vereinfachte zweifellos ihre Aufgabe, denn wir hatten kaum Kontakt zur Außenwelt und so verbrüderten wir uns, der Wunsch nach Neugierde, Kennenlernen, Kritik war quasi komplett eingeschlafen. Wir waren von der faschistischen Rhetorik durchdrungen und bis zur ersten großen militärischen Niederlage (die Verluste in Nordafrika) glaubten wir blind an den Endsieg. […] Die Zustände von geringem Enthusiasmus dauerten nur kurz an; unsere Erzieher wussten sie zu vertreiben. Ihre Gewissheit vermittelten sie uns mit den unterschiedlichsten Argumentationen, etwa der erleuchteten Führung durch den Duce, der militärischen Stärke der Achse und vor allem der deutschen Geheimwaffe, die kurz vor dem Einsatz stand, oder einem kleinen Ereignis, wie der Fahrschule oder Sport am Nachmittag. Sie beseitigten fast alle unsere Sorgen.“100
Während des Interviews – zwölf Jahre später – bezeichnete er die Erzieher dann nicht mehr als „Höllenhunde“, sondern als „Schutzengel“ und betonte nochmals deren Fähigkeiten: „[U]nsere Schutzengel, die uns geistig betreuten, kamen von der Akademie, waren Akademisten einer höheren Schule – fünf Jahre Akademie mit Kursen in Psychologie. Und das waren diejenigen, die sich um uns kümmerten, denn uns kamen langsam mit dem Fortgang des Krieges Zweifel, gerade wenn man aus den Ferien kam, wenn man Kontakt mit anderen Leuten hatte. […] Wie ich bereits sagte, wir folgten unseren Schutzengeln, sie waren Verherrlicher dieser Ideen, wenn es Zweifel gab, verjagten sie diese.“101
100 Rossi,
Ragazzo del’43, S. 15–17, 41. Ähnlich äußerte sich ein weiterer Zeitzeuge aus Bozen: „Die Erzieher kümmerten sich um unsere Psyche und wussten genau, wie sie uns formen mussten. Sie versuchten uns darin zu unterrichten, Faschisten zu sein, sie vermittelten uns während der sportlichen und militärischen Übungen den Kampfgeist.“ Schreiben Silvano Trainas (Bozen 1942–1943), 20. 8. 2012, S. 1. 101 Interview mit Anselmo Rossi (Bozen 1940–1943), 17. 3. 2014, S. 2, 7.
236 V. Die „Schmiede“ – das Personal Unabhängig von der unterschiedlichen Bewertung der Erzieher – die sich möglicherweise durch eine veränderte Erinnerungskultur, auf die Aram Mattioli in seiner Studie zur Aufwertung des Faschismus unter Berlusconi hingewiesen hat,102 die deutsche Interviewerin oder psychosoziale Faktoren erklären lassen – verdeutlichen die Erinnerungen Rossis, die im Sinne des Faschismus erfolgreiche Erziehungsarbeit der Akademisten, die durch den Faktor Internatsunterbringung verstärkt wurde. Dabei scheint der Grundsatz, geforderte Werte vorzuleben, einen erfolgreichen Beitrag geleistet zu haben. Die entsprechenden Richtlinien finden sich auch in einem Erziehungspapier: „Die Formung und Erziehung wird indirekt vorgenommen, womit der Erkenntnis Rechnung getragen wird, dass das, was die Schüler interessiert, nicht die vermittelte Kenntnis, sondern die in den Schülern durch den Erzieher hervorgerufene Aktion ist.“103 So zeigen auch die Zeitzeugen erinnerungen, dass die ideologische Indoktrination häufig nicht direkt, sondern vielmehr subtil erfolgte: „Die Offiziere, die uns begleiteten, nicht während des Unterrichts, sondern danach, kamen alle aus der Farnesina, aber auch sie sprachen niemals davon. Es war quasi natürlich oder ungezwungen. Wir wussten, das wir alle Faschisten waren und dass Italien faschistisch war.“104 Ähnlich äußerten sich die Bozen-Kollegiaten: „Was ich sagen muss ist, dass sie nie versucht haben, uns den Faschismus einzutrichtern.“105 Dazu habe auch keine Notwendigkeit bestanden, denn „zu der Zeit fühlten sich fast alle als Faschisten, besonders wir, die wir die GIL besuchten und militärisch ausgebildet wurden.“106 Derselbe Schüler gab im Interview auch an: „[W]ir kamen aus faschistischen – damals waren das alle – Familien“. Diese Aussage korrigiert er interessanterweise nachträglich, indem er erklärt: „[W]ir waren normale Familien, ehrbar und würdig.“107 Diese Äußerungen untermauern die Ergebnisse der wenigen Studien zum Alltag während des Faschismus, die den Sozialisationserfolg des Faschismus betonen. Diesen Studien zufolge war es für Heranwachsende normal, Faschist zu sein. Sie wuchsen in diesem politischen Klima auf und glaubten an die Mythen und Utopien der Faschisten, die angesichts einer kaum mehr wahrnehmbaren Opposition als einzige Stimme von den Jugendlichen der 1930er (und 1940er) Jahre gehört wurde.108 Auch eine Vielzahl der Kollegiaten scheint mit Eifer dabei gewesen zu sein, sodass eine direkte Indoktrination, etwa durch das häufige Lesen faschistischer Grundsatztexte, eher kontraproduktiv gewirkt hätte. Innerhalb der Internatsabgeschiedenheit und dem militärischen Rahmen konnten die Kollegiaten wesentlich wirkungsvoller zum Einüben und Internalisieren der erwünschten, 102 Vgl. Mattioli, „Viva 103 Relazione sintetica
Mussolini!“, passim. delle attività svolte al Collegio nel trimestre gennaio – febbraio – marzo XX, in: Collegio della G.I.L. di specializzazione militare, Bolzano, supplemento al n. 12 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 21. 4. 1942, S. 11. 104 Interview mit Iginio Bonoldi (Venedig 1941–1943), 7. 4. 2014-O, S. 18. 105 Interview mit Donato Fantetti (Bozen 1942–1943), 26. 3. 2014-K, S. 2. 106 Ebenda, S. 5. 107 Vgl. ebenda. 108 Vgl. La Rovere, Formazione della gioventù in regime fascista, S. 119; vgl. ebenso La Rovere, Totalitarian Pedagogy and the Italian Youth, S. 29; Petersen, Jugend und Jugendprotest im faschistischen Italien, S. 203 f.
2. Die Erzieher 237
häufig dem Militär entlehnten Verhaltensweisen, wie etwa Ordnung und Disziplin, angehalten und so gleichzeitig deren Begeisterung für den Faschismus aufrechterhalten oder gar gesteigert werden, da dieser ihnen doch ungeahnte Möglichkeiten offerierte. Mit der Expansion der Collegi in den 1940er Jahren und der gleichzeitigen Einberufung der jungen Erzieherschaft verschärfte sich der Personalmangel. Augenfällig bei der Analyse der Erzieherakten ist eine bereits vor Kriegseintritt häufig auftretende kurze Verweildauer der Erzieher an einem Collegio von nur einem bis zwei Jahren sowie ein Personalkarussell mit Versetzungen an andere Collegi.109 Durch das Hin- und Herschicken zwischen den einzelnen Anstalten reagierte die GIL kurzfristig auf personelle Engpässe.110 Während des Krieges kam es dann gar zu der Situation, dass die gesamte Erzieherschaft eines Collegios eingezogen wurde und die Schüler sich nach einem Jahr an eine komplett neue Erzieherriege gewöhnen mussten.111 Um endgültig das drängende Problem des Fachkräftemangels an Erziehern zu beheben, forcierte der Parteisekretär Serena eine Ausbil109 Vgl.
etwa: Paolo Carboni, Collegio Forlì 1941–1942 (ACS, MPI, IEFS, FPIE, b. 8, f. Carboni, Paolo); Walter Morselli, Collegio Venedig 1938–1939, Collegio Forlì 1939–1941 (ebenda, b. 28, f. Morselli, Walter); Renato Pironti, Collegio Forlì 1941–1942 (ebenda, b. 33, f. Pironti, Renato); Dionisio Tardioli, Collegio Forlì 1941–1942 (ebenda, b. 41, f. Tardioli, Dionisio); Antonio Zatta, Collegio Forlì 1941–1942 (ebenda, b. 43, f. Zatta, Antonio); Giovanni Brutti, Collegio Bozen 1939–1940 (ebenda, b. 6, f. Brutti, Giovanni); Loreto Nardone, Collegio Bozen 1940–1941 (ebenda, b. 28, f. Nardone, Loreto); Aldo Spettini, Collegio Bozen 1939–1941 (ebenda, b. 40, f. Spettini, Aldo); Antonio Zubbini, Collegi Turin und Bozen zw. Okt. 1942 und Juli 1943 (ebenda, b. 43, f. Zubbini, Antonio); Andrea Tornabuoni, Collegio Brindisi 1939–1942 (ebenda, b. 41, f. Tornabuoni, Andrea); Adolfo Ardito, Collegio Brindisi 1938–1939 (ebenda, b. 2, f. Ardito, Adolfo); Antonio Bomman, Collegio Brindisi 1938 oder 1939 bis 1941 (ebenda, b. 5, f. Bomman, Antonio); Ezio Cappelli, Collegio Brindisi 1939–1941 (Pier Filippo Lupinacci, Comandante del Collegio navale Brindisi an Prefetto di Lecce, 29. 5. 1944, in: ASLe, Prefettura, Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455); Ferdinando Grotti, Collegio Brindisi 1937–1938 (ACS, MPI, IEFS, FPIE, b. 21, f. Grotti, Ferdinando); Lino Pirri, Collegio Brindisi 1937–1939, 1941–1943. Pirri stellt eine Ausnahme dar, da er zugleich als Lehrer im Collegio tätig war (ebenda, b. 33, f. Pirri, Lino); Ferruccio Bracchi, Collegio Littorio Rom 1941–1942 (ebenda, b. 6, f. Bracchi, Ferruccio); Vincenzo Aldinio, Collegio Venedig 3/1942-8/1944 (ebenda, b. 1, f. Aldinio, Vincenzo); Domenico Bernardini, Collegio Turin 6/1942-1/1943, Collegio Venedig 2/1943–25. 7. 1943 (ebenda, b. 4, f. Bernardini, Domenico); Berardino David, Collegio Venedig 1939–1940 (ebenda, b. 14, f. David, Berardino). Der Vollständigkeit halber muss darauf hingewiesen werden, dass es sich hierbei um Selbstauskünfte der nach 1945 überprüften Absolventen der Farnesina handelt. Es besteht demzufolge die Möglichkeit, dass Daten nicht korrekt angegeben wurden. Mithilfe teilweise vorhandener Parallelüberlieferung zu den jeweiligen Personen konnte jedoch stichprobenartig die Richtigkeit der Daten überprüft werden. Auffällig ist zudem die richtige Angabe des Ortes, jedoch die häufig fehlende Angabe, dass es sich dabei um ein Collegio der GIL handelte. 110 Bereits vor dem Kriegseintritt Italiens fehlten im Collegio in Forlì noch fünf Erzieher, obwohl man bereits versucht hatte, diesen Mangel durch Versetzungen aus anderen Collegi zu beheben. Vgl. Vice Comandante Generale GIL, Bodini, an Ministro dell’Aero nautica, Gabinetto, 8. 4. 1940, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1940, b. 161, f. Collegio aeronautico di Forlì – Personale. 111 So wurde bspw. die komplette Erzieherschaft des Waisencollegios in Lecce einberufen, vgl. Ritorno al Collegio, in: Collegio „M.O. Aldo Fiorini“ per orfani di guerra, Lecce, supplemento al n. 24 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 21. 10. 1942, S. 3.
238 V. Die „Schmiede“ – das Personal dungsoffensive durch die Einführung von Einjahreskursen in neueröffnenden Collegi für Erzieher.112 Da die auf drei Jahre ausgeweitete Ausbildung in der Farnesina nicht genug Erziehernachwuchs produzierte, sollte mithilfe dieser Einjahreskurse Abhilfe geschaffen werden. Vollmundig sprach die Presse von einer „wahren Revolution in der pädagogischen Ausbildung, weil die künftigen Erzieher sich ein Jahr lang dem selben disziplinierten und arbeitsamen Leben aussetzen, wie ihre künftigen Zöglinge und auch weil sie dazu angehalten werden, ihre eigenen Verhaltensweisen und ihre Allgemeinbildung aus faschistischer Perspektive zu überdenken“.113
Im Laufe des Jahres 1941 folgten die Ausschreibungen des Generalkommandos für 500 künftige Collegi-Erzieher114 und 250 Erzieherinnen.115 Die Kurse für Erzieher waren geöffnet für 17 bis 25 Jahre alte Männer mit Diplom für den Lehr beruf (abilitazione magistrale), die PNF-, GUF- oder GIL-Mitglied waren und eine Mindestgröße von 1,65 m besaßen. Darüber hinaus sollten sie gesund, robust und „arischer Rasse“ sein, die italienische Staatsangehörigkeit besitzen und ein lupenreines Führungszeugnis vorweisen können. Vermittelt wurden den Kursteilnehmern Kenntnisse in Doktrin und Geschichte des Faschismus, die Parteiordnung und die dazugehörigen Institutionen, Theorie und Geschichte der Pädagogik, Entwicklungspsychologie, Biotypologie und Orthogenese, Rassenprobleme, sportliche und militärische Übungen, Schulgesetzgebung sowie die Bedeutung des Italienischen in Philosophie, Literatur, Wissenschaft und Kunst. Kurzum, ein im Vergleich zur Farnesina-Ausbildung abgespecktes, auf das Wesentliche reduziertes Programm. Nach der einjährigen Ausbildung sollten die Erzieherkollegiaten ein einjähriges Praktikum in den Collegi antreten und nach dessen Bestehen in die GIL aufgenommen werden, wo ihnen Karrierechancen bis hin zur Leitung eines Collegios in Aussicht gestellt wurden. Gemessen an den gesteckten Zielen fielen die Resultate weniger überzeugend aus: Weder nahmen alle angekündigten Erziehercollegi ihre Tätigkeit auf, noch wurden die anvisierten Zahlen für künftige Erzieher erreicht: 185 statt 500 Männer und 187 statt 250 Frauen.116 Noch geringer 112 Vgl.
Rapporto del Segretario del Partito ai Comandanti delle Accademie e dei Collegi, in: Bollettino GIL, 1. 12. 1940, S. 50. Vgl. die weitestgehend wortgleiche Darstellung in den weiteren Medien, in denen sich jedoch der Hinweis findet, dass die Entscheidung über die Errichtung der Führungskräftecollegi im Einvernehmen mit dem Erziehungsministerium getroffen worden sei: Rapporto dei comandanti, in: DS 42 (1940/41), 7, 10. 12. 1940, S. 105 f.; Rapporto dei comandanti, in: GSM 10 (1940–41), 4, 11.–31. 12. 1940, S. 13; Il rapporto del Segretario del P.N.F. ai Comandanti delle scuole della G.I.L., in: GSM 10 (1940–41), 2, 11.–30. 11. 1940, S. 11; Direttive del Segretario del P.N.F., in: DS 42 (1940/41), 18, 10. 4. 1941, S. 283. 113 Rossi, Nuovi collegi della G.I.L., in: GdL, 1. 10. 1941, S. 765. 114 Vgl. die Ausschreibung vom 30. 3. 1941 in: PNF/GIL, Accademie, Collegi, Scuole [1941], S. 22 f.; Concorso per cinquecento allievi istitutori di ruolo della G.I.L., in: GSM 10 (1940–41), 12, 1.–20. 4. 1941, S. 7; Bando di concorso per istitutori di ruolo della G.I.L., in: GdL, 1. 4. 1941, S. 299; Corso per istitutori di ruolo aperti ai maestri, in: DS 42 (1940/41), 18, 10. 4. 1941, S. 283. 115 Bando di concorso per Istitutrici di ruolo della GIL, in: DS 42 (1940/41), 25, 20. 7. 1941, S. 394. 116 Attività delle accademie e collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 12. 1941, S. 145. Die Zahlen beziehen sich auf Udine (185), Rom Monte Sacro (114) und Castello dei Cesari (73). Rieti wird nicht aufgeführt, ebensowenig wie in den folgenden Aktivitätsbeschreibun-
2. Die Erzieher 239
war die Zahl der Absolventen. Von den 185 teilnehmenden Männern traten schließlich nur 94 ihr anschließendes Praktikumsjahr an.117 Bei den Frauen lag die Quote höher (168 von 187).118 Über die Qualität dieser „revolutionären“ einjährigen Ausbildung und der Auszubildenden können keine Angaben gemacht werden. Sicher ist jedoch, dass mit den Einjahrespraktikanten der Versuch unternommen wurde, dem Erziehermangel kurzfristig durch deren Einsatz zu begegnen. Im da rauffolgenden Schuljahr 1942/1943 wurden dann nur noch an zwei Standorten (Rom und Udine) für 200 männliche und 200 weibliche Collegi-Erzieher Stellen ausgeschrieben.119 Die Bewerbersituation verbesserte sich nicht, sodass die GIL ein Jahr später nur noch einen Kurs für 100 Collegi-Erzieherinnen ausschrieb, der aufgrund der politischen Entwicklung keine Realisierung mehr fand.120 Unter den Kriegsbedingungen gelang es der GIL nicht, den grassierenden Erziehermangel zu beheben. Ganz im Gegenteil: Er verschlimmerte sich – wie in Deutschland121 – trotz der prioritären Stellung, die die Collegi einnahmen, infolge der Einberufungen122 und dem Sterben an den Fronten123 und konnte auch durch den Einsatz dieser jungen und unerfahrenen Praktikanten nicht aufgehalten werden. Um dem kontinuierlich zwischen 1943 und 1945 fortbestehenden Mangel zu begegnen, griff die ONB im Norden schließlich neben den Akademisgen der Zeitschrift Gioventù del Littorio. Erst im folgenden Schuljahr nahm in Rieti ein Collegio mit dem Namen Collegio per dirigenti della G.I.L. seine Arbeit auf, vgl. etwa die Sonderausgabe: Collegio della G.I.L. per dirigenti Rieti, supplemento al n. 10 del Bollettino del Comando Generale della G.I.L., 21 aprile 1943. 117 Decreto 12 marzo 1943-XXI, N. 195, in: Bollettino GIL, 15. 4. 1943, 2° supplemento, S. 58–61. Die Erzieher traten ihren Dienst in folgenden Collegi an: Venedig, Brindisi, Forlì, Città di Castello, Padua, Spoleto, Turin, Udine, Sabaudia, Rieti, Vicenza, Lecce, Bozen sowie in einem erstmals genannten Collegio GIL 18 gennaio in Pisino (Pola). 118 In einem Bericht der GI wird auf insgesamt 262 Einjahresdiplomanden des Jahres 1942 verwiesen, vgl. Attività amministrativa relativa al personale dipendente dalla ex Gioventù Italiana del Littorio, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Personale – Relazioni sull’attività svolta an. 44/46-51, b. 1173, f. Ufficio del Personale, I° copia, relazione sull’attività svolta dal 12 dic. ’44 al 31 dic. ’46. 119 Vgl. PNF/GIL, Accademie e collegi della G.I.L. [1942], S. 4 f., 27. 120 Vgl. PNF/GIL, Accademie e collegi della G.I.L. [1943], S. 4, 23. 121 Mit Kriegseintritt waren zwei Drittel der Schulführer und Erzieher der AHS eingezogen worden oder hatten sich freiwillig gemeldet, sodass der Schulbetrieb in Gefahr war. Vgl. Feller/Feller, Adolf-Hitler-Schulen, S. 47; Petter, Bericht über die Adolf HitlerSchulen, vorgetragen am 12. 1. 1943 auf der Gebietsführertagung in Braunschweig vom Kommandeur der Adolf Hitler-Schulen, in: BA Berlin, NS 22, 1240, Bl. 99–105, hier Bl. 101 RS f. 122 Von den 1529 zur Verfügung stehenden Absolventen waren 1050 an der Front und die GIL bemühte sich, gut die Hälfte der zur Verfügung stehenden Akademisten an die Collegi zu schicken, um deren Betrieb aufrechtzuerhalten. Vgl. PNF/GIL, Circolare n. 115, 16. 10. 1942. 123 Vgl. etwa den Nachruf auf den Erzieher Adolfo Bruschi, in: Collegio della G.I.L. di specializzazione militare Bolzano, supplemento al n. 12 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 21. 4. 1942, S. 2. Im November 1941 würdigte Rektor Pende bereits 22 gefallene Akademisten des aktuellen Krieges, vgl. Il nuovo anno accademico della G.I.L. inaugurato alla presenza del segretario del partito, in: GdL, 1. 12. 1941, S. 103. Vgl. die Liste der militärisch ausgezeichneten und gefallenen Absolventen der Farnesina, in: Storia Verità IV (1999), 19, S. 62.
240 V. Die „Schmiede“ – das Personal ten auch im Rahmen einer Arbeitspflicht auf Studenten als Erzieher in den Collegi zurück.124 Im Süden bestand hingegen eine Personalkontinuität an Akademisten bis in die Tage der Italienischen Republik. In seiner Studie über die Farnesina konstatierte Ponzio, dass „es nicht möglich sei nachzuvollziehen, inwiefern es dem Faschismus gelungen sei, das Bewußtsein der Jugendlichen des Foro Mussolini zu beeinflussen, und darüber hinaus, ob die Akademisten in der Lage gewesen sind, die ihnen untergebenen Jugendlichen zu faschisieren“.125
Die Erinnerungen der Zeitzeugen zeigen deutlich, dass die Akademisten ein entscheidender Faktor bei der Faschisierung der Kollegiaten waren. Auch wenn es sicherlich weniger geeignete Absolventen gab, so lässt sich dennoch für den Großteil festhalten, dass die Ausbildung an der Farnesina sie zu geeigneten Multiplikatoren der faschistischen Ideologie werden ließ.
3. Die Lehrerschaft Nicht nur ein neuer Erzieher-, auch ein neuer faschistischer Lehrertyp war gefordert, der „in sich die Gaben des Erziehers, Organisators und Offiziers vereinigt […und] sich nicht mit dem lässigen Herunterspulen seiner Schulobliegenheiten und mit der mehr oder minder buchstabengetreuen Abwickelung des Lehrplans begnügt, sondern seine Leistung erst dadurch vollständig macht, dass er sich mit dem Jungen auch jenseits des Schulzimmers befasst und die Formung seines Herzens, seiner Muskeln und seines Hirns betreut, seine Neigungen auch in den Erholungsstunden zügelt, seinen Charakter und das Aufblühen seines Staatsbürgerbewusstseins überwacht“.126
Was im Allgemeinen für die italienische Lehrerschaft gelten sollte, erlangte selbstverständlich im Besonderen für die Lehrer in diesen Schmieden des „neuen Menschen“ eine überhöhte Bedeutung. Die Propaganda behauptete, dass die für die Collegi genauestens ausgewählten Lehrer in der heroischen Atmosphäre vor dem „Marsch auf Rom“ gelebt und dabei auch an Versammlungen und Strafexpeditionen teilgenommen hätten oder Familien angehörten, die sich um die Revolution verdient gemacht hatten. Die Lehrer hätten zuweilen ihren Beitrag an Aufopferung und Blut geleistet und sich darüber hinaus durch langjährige selbstlose Arbeit in Partei und Jugendorganisation hervorgetan. So sei Milizionären und Lehrern mit squadristischer Vergangenheit ein Vorzugsrecht bei der Versetzung an die Collegi eingeräumt worden, da der von diesen „alten Kämpfern“ erteilte Unterricht das wirksamste Mittel sei, um das Bewusstsein und den Charakter der „neuen Italiener“, der Italiener Mussolinis zu formen.127 Ob die letztlich rekru124 So
laut einer 1945 entstandenen Erklärung, vgl. Salvatore Castaldo, Dichiarazione, 27. 12. 1945, in: ACS, MPI, IEFS, FPIE, b. 28, f. Monti, Angelo. 125 Ponzio, Palestra del littorio, S. 14. 126 Marzolo, Italiens Jugendorganisationen, S. 48. 127 Vgl. Giovannucci, Funzione politica e culturale dei Collegi della G.I.L., in: GdL, 1. 3. 1942, S. 314.
3. Die Lehrerschaft 241
tierten Lehrer die in der Propaganda postulierten Eigenschaften auch tatsächlich in sich vereinten, soll im Folgenden untersucht werden. In den Collegi-Schulen arbeiteten – mit Ausnahme von Lehrern für Militärkunde, Leibeserziehung und Religion – staatliche Lehrkräfte, die der Jugendorganisation durch das Nationale Erziehungsministerium zur Verfügung gestellt und auch durch dieses bezahlt wurden.128 Zusätzlich zu ihrem regulären Lohn er hielten sie – wie im Übrigen alle höheren Angestellten der Collegi – Zuschläge von der GIL, die je nach Tätigkeit, Familienstand und Kinderanzahl zwischen 150 und 750 Lire betragen konnten.129 Da die italienischen Lehrer häufig, wie bereits an der Kritik Renato Riccis gesehen, wenn auch nicht als antifaschistisch so doch als afaschistisch galten,130 gab die Jugendorganisation vor, besondere Vorsicht bei der Auswahl der Lehrer für die Collegi walten zu lassen. Bewerbungsvoraussetzungen für Lehrer waren laut offizieller Ausschreibung eine Mitgliedschaft im PNF, der Status als Reservist der Streitkräfte oder bevorzugt der Miliz sowie die fachlichen Voraussetzungen.131 Erst ab dem Schuljahr 1941/1942 mussten in der Bewerbung zudem Familienstand und Anzahl der Kinder sowie faschistische, militärische oder zivile Verdienste vermerkt werden.132 128 Vgl.
Attività della G.I.L., in: DS 40 (1938–39), 15, 5. 2. 1939, S. 234; Unpaginiertes und undatiertes Reglement des Collegios Lecce, in: ASLe, Prefettura, Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455. 129 Zunächst wurden im Rahmen der pronatalistischen Politik finanzielle Anreize zur Familiengründung bzw. zur Vergrößerung der Kinderschar geschaffen. Vgl. Schreiben des Capo di S.M. GIL, U. Moretti, an Comando des Marinecollegios, Prof. Pellizzaro – benefici demografici, 11. 2. 1939, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Per sonale, Collegio Navale, GIL, Venezia, M-Z, b. 1164. Gemäß des Rundschreibens Nr. 350349 des GIL-Generalkommandos vom 11. 6. 1941 erhielten die Beschäftigten eines Collegios eine zusätzliche monatliche Zuwendung, die sich auf 150 Lire (für Grundschullehrer) bis 750 Lire (für den 1. Kommandanten) belief. 130 Vgl. Alessandra Parodi, „Generazioni di laboratorio“? Tentativi di costruzione dell’uomo nuovo come ‚uomo sano‘ nel regime fascista, in: Klinkhammer/Bernhard (Hrsg.), L’uomo nuovo del fascismo, S. 47–66, hier S. 56 f., bes. auch Anm. 55. 131 Vgl. im Allgemeinen zu den Bewerbungsvoraussetzungen und den offiziellen Lehrerauswahlrichtlinien: Avviso per il conferimento delle presidenze, direzioni e cattedre vacanti presso i collegi e le scuole della G.I.L. per l’anno scolastico 1939–40, in: Bollettino GIL, 15. 4. 1939, 2° supplemento, S. 1 f.; Conferimento delle presidenze, direzioni e cattedre vacanti presso i collegi e le scuole della G.I.L., in: GSM 8 (1938/39), 16, 11.– 20. 5. 1939, S. 14; Avviso per il conferimento delle presidenze e cattedre vacanti presso i collegi e le scuole della G.I.L. per l’anno scolastico 1941–42, in: GdL, 1. 5. 1941, 3° supplemento, S. 1 f.; Concorsi a cattedre per collegi e scuole della GIL, in: GSM 10 (1940– 41), 16, 21.–31. 5. 1941, S. 4; Avviso per il conferimento delle presidenze, direzioni e cattedre vacanti presso i collegi della G.I.L. per l’anno scolastico 1941–42, in: GdL, 15. 8. 1941, 2° supplemento, S. 1 f.; Avviso per il conferimento delle presidenze, direzioni e cattedre vacanti presso i collegi della G.I.L. per l’anno scolastico 1942–43, in: Bollettino GIL, 15. 5. 1942, 3° supplemento, S. 1–3; Avviso per il conferimento delle presidenze, direzioni e cattedre vacanti presso i collegi della G.I.L. per l’anno scolastico 1943–44, in: Bollettino GIL, 15. 6. 1943, 2° supplemento, S. 1–7. 132 Vgl. Avviso per il conferimento delle presidenze e cattedre vacanti presso i collegi e le scuole della G.I.L. per l’anno scolastico 1941–42, in: GdL, 1. 5. 1941, 3° supplemento, S. 2.
242 V. Die „Schmiede“ – das Personal Die interessierten, ordentlichen Lehrkräfte des Nationalen Erziehungsministeriums richteten ihre Bewerbungen unter Angabe ihres Wunschcollegios und ihrer Tätigkeit in der Jugendorganisation an die GIL-Provinzkommandos, die die Bewerbung mit einer Einschätzung des Bewerbers an das Generalkommando weiterreichten. Dieses zog zusätzliche Informationen vonseiten des Erziehungsministeriums und der Faschistischen Schulvereinigung (Associazione Fascista della Scuola, AFS) ein. Dafür erging vonseiten des nationalen Vertrauensmannes (fiduciario nazionale) der AFS folgende Aufforderung an die AFS-Provinzver trauensmänner (fiduciari provinciali): „Von jedem Aspiranten soll ein synthetischer aber umfassender geheimer Bericht zugestellt werden, um bei der Auswahl alle nötigen Informationen zu haben.“133 Darüber hinaus war die AFS angehalten, unter ihren Mitgliedern die Werbetrommel für die Collegi-Stellen zu rühren und die Mitglieder zur Bewerbung zu ermuntern.134 Die GIL teilte dem Erziehungsministerium nach Durchleuchtung der Bewerber schließlich ihre Wunschkandidaten mit. Anschließend musste das Ministerium sein Einverständnis bei der Entsendung seiner Lehrer an die Collegi geben. Nach der Dauer von zwei Jahren an einem Collegio hatten die Lehrer die Möglichkeit, sich auf drei vakante Stellen im regulären Schuldienst zu bewerben, und erhielten die Sicherheit, einen dieser drei Wunschplätze auch antreten zu können. Darüber hinaus wurden ihnen besondere Positionen in der GIL in Aussicht gestellt. Im Schuljahr 1940/1941 unternahm die GIL den Versuch, allein dem Erziehungsministerium die Auswahl und Entsendung der Lehrer zu übertragen.135 Den Provinzkommandos kam dabei lediglich die Aufgabe zu, interessierte, politisch und fachlich zuverlässige Lehrer, die sich bereits lobenswert in der GIL engagierten, an das Generalkommando zu melden. Diese Praxis scheint keine Erfolge gezeitigt zu haben, sodass in den darauffolgenden Jahren auf das bereits geschilderte Auswahlverfahren zurückgegriffen wurde. Aufschluss über die soziodemographische Zusammensetzung der Lehrerschaft boten die Lehrerfaszikel des Marinecollegios in Venedig.136 Das Lehrerkollegium des ersten Schuljahres bestand aus zehn ordentlichen und fünf außerordentlichen Lehrern, im Alter von 25 bis 55 Jahren, bei einem Altersdurchschnitt von 38 Jahren.137 Ein ehemaliger Schüler kommentierte das Alter der Lehrer lapidar: „[A]lso alle Altersstufen wie draußen“.138 Während des Krieges stieg das Durchschnitts alter jedoch aufgrund der Einberufungen.139 133 Circolare
del Fiduciario Nazionale Associazione Fascista della Scuola, Sezione Media, Nr. 88/S.M., 24. 5. 1938, in: Atti del PNF VII (1937/1938), 3, S. 443 f., hier S. 444. 134 Vgl. Circolare del Fiduciario Nazionale Associazione Fascista della Scuola, Sezione Media, Nr. 102/S.M., 24. 5. 1939, in: Atti del PNF VIII (1938/1939), 3, S. 676. 135 Vgl. Cattedre vacanti presso i collegi della G.I.L., in: Bollettino GIL, 1. 8. 1940, S. 353. 136 Vgl. die ingesamt 48 Lehrerfaszikel in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Personale, Collegio Navale, GIL, Venezia, A-L, b. 1163, und ebenda, M-Z, b. 1164. 137 In dem Annuario für das Schuljahr 1937/1938 (Annuario del Collegio Navale G.I.L. Venezia. Anno 1937–38, S. 33) sind insgesamt 18 Mitglieder des Kollegiums aufgeführt (inklusive Rektor, Nachhilfelehrer und Schulkoordinator). Von zehn Personen liegen die Personalakten vor, auf deren Grundlage die Berechnung durchgeführt wurde. 138 Interview mit Falco Accame (Venedig 1939–1943), 24. 3. 2014, S. 8. 139 Vgl. Interview mit Iginio Bonoldi (Venedig 1941–1943), 7. 4. 2014-K, S. 13.
3. Die Lehrerschaft 243
Die Analyse der vorhandenen Personalfragebögen ergab, dass keiner der je an dem Collegio tätigen Lehrer an der Besetzung Fiumes oder dem „Marsch auf Rom“ teilgenommen hatte. Unter ihnen befand sich weder ein squadrista noch ein antemarcia, also ein Parteimitglied, das bereits vor dem „Marsch auf Rom“ den Fasci oder dem PNF beigetreten war. Der früheste Parteieintritt eines Lehrers am Collegio in Venedig fand 1923 statt, alle anderen traten frühestens 1925 in die Partei ein, wobei es eine Häufung um die Jahre 1925/1926 und 1932/1933 gibt. Der Befund, dass alle Lehrer des 1937 gegründeten Collegios Parteimitglieder waren, überrascht nicht, da sich seit 1933 nur Parteimitglieder für eine andere Schulstelle bewerben konnten.140 Der Großteil der Lehrer war zudem Milizmitglied. Doch auch hier muss darauf hingewiesen werden, dass nur ein Lehrer, der Rektor, bereits in den späten 1920er Jahren (1928) der MVSN beigetreten war. Alle anderen fanden zumeist erst in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre den Weg in die Miliz. Es kann also eindeutig festgehalten werden, dass es sich zumindest bei den Lehrern in Venedig nicht um die postulierten „alten Kämpfer“ handelte. Insgesamt kann man den Lehrern des Collegios aber eine Affinität zum Militärischen attestieren. So ist überliefert, dass sich ein Italienischlehrer aufgrund der Abweisung seiner Bitte um Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg wegen eines Sehfehlers freiwillig einer Augenoperation unterzog.141 Auffällig oft finden sich Träger militärischer Auszeichnungen unter den Collegi-Lehrern. Nahezu jeder Lehrer war Träger eines Kriegsverdienstkreuzes oder einer Militärmedaille. Da die Kriegsausgezeichneten offiziell bereits seit 1923 als besonders qualifiziert für den Lehrerberuf galten, ließe sich hier möglicherweise auch ein allgemeiner Trend bei den Stellenbesetzungen nachzeichnen, der so ebenfalls an staatlichen Schulen zu beobachten wäre, doch liegen dazu bisher keine Untersuchungen vor.142 Pars pro toto für die venezianische Lehrerschaft stehen der Rektor Giorgio Berzero143 (* 1896 Caresana) und der Vizerektor Luigi Belgeri (* 1892 Domaso). Beide waren Partei- und Milizangehörige, bekleideten in der Miliz den Rang eines Hauptmannes (centurione) und wurden während des Ersten Weltkrieges mit dem Kriegsverdienstkreuz ausgezeichnet.144 Rektor und Vizerektor bekleideten ihre Posten durchgängig von 1937 bis 1943, sodass im Vergleich zu anderen Stellen im Collegio eine hohe personelle Kontinuität konstatiert werden kann, auch die fachliche Versiertheit beider ist nicht zu übersehen: Der Rektor, Absolvent der Philosophie und Literaturwissenschaften, schrieb zuvor nebenbei viele Jahre für die 140 Vgl. 141 Vgl.
Charnitzky, Schulpolitik des faschistischen Regimes, S. 247. Ugo Furlani, Gli allievi e gli ufficiali dei collegi navali della GIL di Brindisi e Venezia caduti in guerra e in servizio per la patria. Albo d’Onore, Görz 2003, S. 99. 142 Vgl. Charnitzky, Schulpolitik des faschistischen Regimes, S. 102. 143 Siehe zur Person Berzeros: Personalbogen Giorgio Berzero, 8. 11. 1939, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Personale, Collegio Navale, GIL, Venezia, A-L, b. 1163; Annuario del Collegio Navale G.I.L. Venezia. Anno 1937–38, S. 37–39. 144 Vgl. die Personalfragebogen zu Giorgio Berzero (Rektor 1937–1943) und Luigi Belgeri (Vizerektor 1937–1943), in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Personale, Collegio Navale, GIL, Venezia, A-L, b. 1163.
244 V. Die „Schmiede“ – das Personal katholische Tageszeitung Il Nuovo Cittadino in Genua und publizierte gar im Osservatore Romano. Sein Vizerektor, ein promovierter Romanist, forschte nebenbei gemeinsam mit dem Franziskaner Agostino Gemelli, Rektor der katholischen Università Sacro Cuore in Mailand, auf dem Gebiet der Instrumentalphonetik.145 Gemelli wurde von Aaron Gillette als „one of the fiercest Catholic anti-Semites“ charakterisiert, der „applauded both the Third Reich’s and fascist Italy’s new anti-Semitic policies“.146 Interessant zu beobachten ist bei Rektor und Vizerektor die offensichtliche Nähe zu katholischen Institutionen, bei dem Vizerektor gar zu antisemitischen Kreisen der katholischen Kirche, die bei der restlichen venezianischen Lehrerschaft jedoch nicht festgestellt werden konnte. Von den Zeitzeugen wurde vor allem der Rektor als „väterlich, aber streng und politisch orthodox“147 erinnert. Der in den Schülerakten überlieferte Schriftverkehr zwischen ihm und seinen ehemaligen Schülern bestätigte dieses väterliche Verhältnis. Auch in den anderen Collegi waren die Rektoren – insofern Berichte über sie vorliegen – allesamt keine „alten Kämpfer“, aber fachlich versiert. Und auch sie waren weitaus seltener von Absetzungen als etwa die Kommandanten betroffen. In Bozen leitete durchgängig der ausgebildete Ingenieur Mario Deriù die Schule. Für Brindisi ließen sich zwei Rektoren nachweisen, die als sehr engagiert, ermutigend und verständnisvoll beschrieben wurden:148 Der erste Rektor, der sizilianische Latinist und Gräcist Enrico Longi, PNF-Mitglied seit August 1925 und späterer Chef der AFS in Palermo,149 schien bei seinen Schülern große Beliebtheit zu genießen, wie die Lobrede im Abschlussjahrbuch nahelegt: „Der Schulleiter, oh Leser, ist in Griechisch ein großer Gelehrter, Enrico Longi heißt er, genießt bei allen Anerkennung. Er ist uns bei Ratschlägen ein Vater und er behandelt uns wahrhaft wie seine Kinder. Wir lieben ihn von ganzem Herzen und erwidern seine Liebe.“150 Auf Longi folgte Roberto Romano, der – das soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben – nach dem Untergang des Regimes mit seinem Kollegen, dem venezianischen Rektor Berzero, weiter Karriere in der GI machte, wodurch abermals die personelle Kontinuität von GIL zu GI unter Beweis gestellt wird. Romano fungierte als Provinzchef der GI und Berzero gar als Chef des Be145 Französischlehrer
und Vizerektor Luigi Belgeri an Rektor Giorgio Berzero, 14. 3. 1943, in: Ebenda. 146 Gillette, Racial Theories in Fascist Italy, S. 75. 147 Interview mit Giorgio Gasparini (Venedig 1939–1942), 4. 4. 2014-K, S. 4. 148 Vgl. Il nostro preside, in: MAK-π-100 [Brindisi 1939], S. 74. 149 Vgl. Circolare del Fiduciario Nazionale Associazione Fascista della Scuola, Sezione Media, Nr. 119/S.M., 6. 9. 1939, in: Atti del PNF VIII (1938/1939), 3, S. 696. 150 MAK-π-100 [Brindisi 1938], s. p. Enrico Longi war ein großer Kenner der griechischen und lateinischen Literatur, v. a. Tacitus, Herodot, Vergil und Gorgias, wie die Vielzahl seiner Publikationen zu diesem Themenkomplex unter Beweis stellt. Zuvor unterrichtete er am Liceo-Ginnasio in Termini Imerese. Vgl. Indirizzi dei Collaboratori, in: Annali della R. Scuola Normale Superiore di Pisa. Lettere, Storia e Filosofia Serie II, 4 (1935), 2, S. 1. Später war er Rektor an Gymnasien in Palermo und Florenz sowie seit 1954 Generalinspekteur des Bildungsministeriums und erhielt die Goldmedaille für seine Verdienste um Schule und Kultur. Vgl. unter: https://logos474.wordpress.com/ storia-del-liceo-classico/ [20. 5. 2017]. Auf seine Tätigkeit als Rektor in Brindisi wird auf dieser Seite nicht verwiesen.
3. Die Lehrerschaft 245
reiches Akademie und Collegio der GI in Rom.151 Zur Eignung Romanos schrieb dann auch der Präfekt gänzlich unkritisch: „[F]ähige Person, von Bevölkerung geschätzt, überhaupt nicht durch das vergangene Regime kompromittiert.“152 Etwas komplizierter gestaltete sich die Personalsituation erneut in Forlì. Dort leitete Giovanni Forte153 (* 1884 Formia) die Schule von 1938 bis 1940. Wie die anderen Rektoren wurde auch er im Ersten Weltkrieg militärisch ausgezeichnet. 1925 trat er dem PNF bei. Während der sonst so kritische Luftwaffenoffizier Felice Porro die Lehrerschaft in Forlì lobte: „Im Hinblick auf das Lehrerkollegium habe ich einen guten Eindruck gewonnen: ernsthaftes Personal, das sich lobenswert aufopfernd um die Schüler kümmert“,154 zeigte sich der Kommandant Raoul Moore hingegen weder von seinem Rektor noch von der Lehrerschaft überzeugt und rühmte sich selbst in einem Schreiben: „Der Wechsel des Schulleiters und einiger Lehrer, deren Ersetzung ich nach bitteren Kämpfen erreicht habe, vervollständigt den Eindruck, dass die Jugendlichen, die von nun an das Collegio gen Caserta verlassen, brillieren werden.“155 Ob der Kommandant, der in seinen Denkschriften stets mehr Machtfülle beanspruchte, tatsächlich derart weitreichende Personalhoheit besaß, um einen vom Erziehungsministerium entsandten Rektor austauschen zu lassen, muss zumindest mit einem Fragezeichen versehen werden. Forte verließ das Collegio wahrscheinlich für einen Posten im Schulamt,156 seine Rektorenstelle konnte nicht fest besetzt werden, wie die Ausschreibung der Stelle in den darauffolgenden zwei Schuljahren, d. h. 1940/1941 und 1941/1942, verdeutlicht.157 Schließlich übernahm ein gewisser Carlo Parri die Leitung, der dann während der RSI die Schule im Marinecollegio der ONB führte. 151 Telegramm
von Prefetto Magliari an Commissario Nazionale Gioventù Italiana, 5. 8. 1944, in: ASBr, PREF, Serie I, ante ’63, cat. 4, f. 6; Antonio Di Milia, Relazione sull’inchiesta al collegio „Fiorini“ per orfani di guerra in Lecce, 20. 5. 1944, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Personale, pratiche, varie, Collegi – Asili, b. 1162, f. Collegio Fiorini Lecce. 152 Telegramm von Prefetto Magliari an Commissario Nazionale Gioventù Italiana, 5. 8. 1944, in: ASBr, PREF, Serie I, ante ’63, cat. 4, f. 6. 153 Zur Person Fortes: R. Questura di Forlì an Prefetto di Forlì, 6. 8. 1940, in: ASFo, Gabinetto Prefettura, b. 353, f. 23. Er leitete zuvor das Liceo Carducci-Ricasoli in Grosseto, vgl. Giovanni Forte, Annuario scolastico r. Liceo-Ginnasio Carducci ricasoli di Grosseto, 1932–33, 1933–34, 1934–35, Grosseto 1935. 154 Vgl. Comandante 1^Squadra Aerea Milano, Generale Felice Porro, an Capo di Gabinetto, Generale Eraldo Ilari, 7. 7. 1939, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1939, b. 40, f. Collegio aeronautico Forlì – Varie. 155 Collegio aeronautico, Raoul Moore, an Ministero dell’Aeronautica, General Urbani, 23. 10. 1941, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1941, b. 127, f. Collegio aeron. di Forlì – Varie. Im Januar 1942 beklagte er nochmals „Rektor und Lehrer geringster beruflicher Qualität“ für die Anfangszeit. Stempel des Collegios Forlì, Pro-Memoria, 10. 1. 1942, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1942, b. 94, f. Collegio aeronautico di Forlì – Varie. 156 Vgl. Ministero dell’Educazione Nazionale, Direzione Generale delle Accademie, delle Biblioteche, degli Affari Generali e del Personale an Prefetto di Forlì, 22. 7. 1940, in: ASFo, Gabinetto Prefettura, b. 353, f. 23. 157 Vgl. Cattedre vacanti presso i collegi della G.I.L., in: Bollettino GIL, 1. 8. 1940, S. 353; Avviso per il conferimento delle presidenze e cattedre vacanti presso i collegi e le scuole della G.I.L. per l’anno scolastico 1941–42, in: GdL, 1. 5. 1941, 3° supplemento, S. 1 f.
246 V. Die „Schmiede“ – das Personal In den Zeitzeugenerinnerungen werden die Leistungen und das strenge Ver halten der Lehrer zumeist positiv eingeschätzt, was sicherlich mit der insgesamt positven Erinnerung an die Collegi und ihrer häufigen Kritik am heutigen „verweichlichten“ Bildungssystem korreliert. So wurde den Lehrern in Venedig in der Rückschau ein „sehr hohes“, „optimales Niveau“ attestiert oder sie wurden als „Crème de la Crème“ bezeichnet,158 die Meister ihres Faches gewesen seien und den Schülern mehr abverlangt hätten als an anderen Schulen. Selbst der sonst so kritische Zeitzeuge Falco Accame berichtete: „Der Unterricht war ausgezeichnet. Ich kam von einer Schule in Florenz. Das war eine ausgezeichnete Schule. Ich dachte ziemlich gut zu sein, aber [Pause] Ich hatte acht in Griechisch, aber bei dem ersten Test bekam ich nur vier. Ein Schock!“159 Auch in Bozen habe ein hervorragendes Lehrer-Schüler-Verhältnis mit „geduldigen und gut ausgebildeten Lehrern“160 bestanden. Die Lehrer seien insgesamt „streng und fordernd“161 gewesen. Ein Bozener Zeitzeuge gab an: „Die staatliche Schule war freier. Die Lehrer waren weniger streng, auch im Unterricht. Sie haben sich weniger engagiert. Hier waren die Lehrer hingegen vorbereitet. Manchmal stellten wir Fragen. Die wussten uns zu antworten. Diese Schule war vorbildhaft. Und es tut mir leid, dass es so endete. Ich hörte die Größeren, die sagten: ‚Aus kultureller Sicht ist die Schule den anderen überlegen. Wenn wir die Schule verlassen, sind wir den anderen kulturell überlegen.‘“162
Dass in den Schulen der Collegi besserer Unterricht als an staatlichen Schulen geboten wurde, gehört gewissermaßen zum Common Sense unter den Zeitzeugen.163 Dieser (retrospektiven) Wahrnehmung der Exklusivität stand zumindest aufseiten der GIL ein Unbehagen gegenüber manchen Lehrern entgegen. Für die gesamte Zeit der Existenz der Collegi finden sich Mahnungen und Appelle an die Lehrer- und Erzieherschaft, ihrer Erziehungsaufgabe und Vorbildrolle besser gerecht zu werden, sowie die Aufforderungen zur genaueren Selektion der Lehrer und zur Umbildung der Kollegien. Dies lässt den Schluss zu, dass das Generalkommando zumindest nicht vollauf zufrieden mit seinem Lehrpersonal war.164 158 Interview
mit Falco Accame (Venedig 1939–1943), 24. 3. 2014, S. 1, 7; Interview mit Iginio Bonoldi (Venedig 1941–1943), 7. 4. 2014-K, S. 2; Schreiben Vincenzo Borrutos (Venedig bzw. Saronno 1944), 17. 9. 2012; Mitteilung der Tochter Giandanese Berninis (Venedig 1937–1938), 6. 2. 2017; Interview Carlo Gottardi (Brindisi, Venedig 1937– 1940), 3. 4. 2014-O, S. 2, 9; Erinnerungen Ulrico Guerrieris (Venedig 1940–1943), 15. 11. 2012; Schreiben Fabio Masciadris (Venedig 1941–1943), 16. 9. 2012; Schreiben Corrado Merizzis (Venedig 1937–1940), 27. 11. 2012. 159 Interview mit Falco Accame (Venedig 1939–1943), 24. 3. 2014, S. 1. 160 Schreiben Claudio Bolascos (Bozen 1939–1943), 21. 8. 2012. Vgl. ebenso Interview Donato Fantetti (Bozen 1942–1943), 26. 3. 2014-K, S. 2 f., 7; Interview mit Anselmo Rossi (Bozen 1940–1943), 17. 3. 2014, S. 3 f., 6; Schreiben Michele Sansonis (Bozen 1939–1943), 14. 8. 2013. 161 Schreiben Corrado Caldeses (Bozen 1941–1943), 20. 11. 2012, S. 2. 162 Interview mit Donato Fantetti (Bozen 1942–1943), 26. 3. 2014-K, S. 7. 163 Interview mit Claudio Bolasco (Bozen 1939–1943), 20. 3. 2014, S. 8; Interview mit Anselmo Rossi (Bozen 1940–1943), 17. 3. 2014, S. 6; Rossi, Ragazzo del’43, S. 26, 55. 164 Vgl. etwa Rapporto del Segretario del Partito ai Comandanti delle Accademie e dei Collegi, in: Bollettino GIL, 1. 12. 1940, S. 49 f.; La Gioventù Italiana del Littorio nell’anno XVII, in: Bollettino GIL, 28. 10. 1939, supplemento, S. 2 f.; Direttive per i collegi e le
3. Die Lehrerschaft 247
Und auch die Kurzbeschreibungen und Karikaturen der Lehrer in den Abschlussjahrbüchern lassen hin und wieder Zweifel an dieser allzu positiven Darstellung der Zeitzeugen aufkommen. Im MAK-π-100 des venezianischen Marinecollegios aus dem Jahre 1940 etwa folgen der Überschrift „Alles, was Lehrer Sartori weiß“, lediglich zwei Fragezeichen und das Wörtchen „eh!“ Offensichtlich war seine Auszeichnung zum Cavaliere della Corona d’Italia wichtiger als seine Leistungen als Lehrer.165 Möglicherweise führte auch ein Mangel an Lehrern dazu, dass hin und wieder weniger geeignete Pädagogen an den Schulen unterrichteten. Zumindest hatte die in einigen Regionen vorhandene Lehrerknappheit zur Folge, dass, anders als vorgesehen, auch Lehrer ohne Eigenbewerbung an den Collegi unterrichten sollten. So ist der Fall eines Lehrers der Naturwissenschaften aus Görz überliefert, der im Jahre 1939 einen staatlichen Schulstellenwettbewerb gewann und dann an das Marinecollegio Venedig abkommandiert werden sollte. Aus „familiären Gründen“ trat er die Stelle jedoch nicht an und verwirkte mit der Absage auch sein Recht, eine Stelle an einem staatlichen Gymnasium zu besetzen.166 Während in Venedig offenbar die Möglichkeit bestand, bei Lehrermangel Kollegen aus dem städtischen Gymnasium heranzuziehen,167 musste die Schulleitung in Brindisi aufgrund der Tatsache, dass das Erziehungsministerium dem Collegio nicht genug Lehrkräfte zur Besetzung der Stellen zur Verfügung stellte, auf weniger geeignetes Personal zurückgreifen. In Brindisi fehlte es laut einem Bericht des Marineministeriums schlichtweg an weiteren Institutionen, die qualifiziertes Personal an das Lehrerkollegium entsenden konnten.168 Dieser Umstand schlug sich dann auch auf die Unterrichtsqualität nieder, wie die Marine kritisch bemerkte. Um den Mangel auszugleichen, beschäftigte die GIL etwa einen diplomierten Sportlehrer, der zudem einen Abschluss in Philosophie erworben hatte, als Lehrer für Philosophie und Geschichte. Nach Aussage des betreffenden Lehrers verschärfte sich dieser Missstand noch in den folgenden Jahren.169 Verstärkt wurde das Personalproblem im Süden durch den Mangel an akzeptablem Wohnraum. Im Gegensatz zu den Erziehern mussten die Lehrer nicht in den a ccademie, in: DS 41 (1939–40), 28, 18. 9. 1940, S. 443; Franco Concini di Concin, Formazione del carattere, in: GdL, 15. 6. 1941, S. 480. 165 Vgl. die Karikatur zu Luigi Sartori, in: Corso Prima Prora [Venedig 1940], s. p. Vgl. seinen Personalbogen in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Personale, Collegio Navale, GIL, Venezia, M-Z, b. 1164. 166 Kommandant Dino Cagetti an Generalkommando GIL, prof. Tobia, Mario, 16. 11. 1939, in: Ebenda. 167 Übereinstimmend erinnerten sich Zeitzeugen, dass es sich bei einigen Lehrern in Venedig zugleich um Lehrer eines venezianischen Gymnasiums handelte. Vgl. Interview mit Falco Accame (Venedig 1939–1943), 24. 3. 2014, S. 1; Schreiben Corrado Merizzis (Venedig 1937–1940), 27. 11. 2012. 168 Relazione sull’attività e sviluppo della premarinara, anno 1940–41, S. 47, in: ACS, Ministero della Marina, Gabinetto 1934–50, b. 452. 169 Vgl. Einlassung Lino Pirris, 15. 9. 1945, in: ACS, MPI, IEFS, FPIE, b. 33, f. Pirri, Lino. Lino Pirri, ausgezeichnet mit der Sciarpa Littorio, war nach eigenen Aussagen von 1937 bis 1939 und 1941 bis 1943 mit Unterbrechung durch den Militärdienst als Geschichtsund Philosophielehrer am Marinecollegio in Brindisi tätig.
248 V. Die „Schmiede“ – das Personal Collegi wohnen, hatten jedoch die Pflicht, sich einen Wohnsitz in der jeweiligen Stadt zu nehmen.170 Dies war in Brindisi offensichtlich schwieriger als gedacht. Um den Standort Brindisi für die Lehrer attraktiver zu gestalten, versuchte die GIL monatelang vergeblich Unterkünfte für die im Collegio tätigen Lehrer zu erhalten. Sie scheiterte letztlich an den bürokratischen Widerständen der „Anstalt für Volkswohnungen der Staatsangestellten“ (Istituto Nazionale per le case degli impiegati statali – INCIS).171 Betrachtet man die Anzahl der ausgeschriebenen Lehrerstellen, so lässt sich für Brindisi ein chronischer Lehrermangel erkennen. Während es in den anderen Collegi mit angeschlossenem Gymnasium (Venedig und Forlì) unterschiedliche Stellenausschreibungen gab, herrschte in Brindisi ein durchgängiger Mangel an Lehrern für Sprachen (Italienisch, Latein, Griechisch, Deutsch), Geisteswissenschaften (Philosophie und Geschichte) sowie Naturwissenschaften (Mathematik und Physik) vor, sodass es häufig zu Stundenausfällen kam.172 173 174 175 176 177 1939/1940173 1940/1941174 1941/1942175 1942/1943176 1943/1944177 Brindisi
mind. 6
12
mind. 5
mind. 7
mind. 8
Venedig
mind. 6
2
mind. 4
0
mind. 2
Forlì
mind. 4
7
mind. 6
0
mind. 4
Bozen
mind. 5
12
mind. 15
mind. 12
mind. 10
Lecce
–
–
–
mind. 3
mind. 6
Tabelle 8: Ausgeschriebene Lehrerstellen, 1939–1943
Noch gravierender als im äußersten Süden war der Lehrermangel offensichtlich im äußersten Norden. Betrachtet man die nicht besetzten Stellen in Bozen, stellt sich die Frage, wie dort überhaupt ein geregelter Unterricht mit Berufsausbildung 170 Vgl.
das unpaginierte und undatierte Reglement des Collegios Lecce, in: ASLe, Prefettura, Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455. 171 Vgl. den Schriftverkehr zwischen GIL-Generalkommando, Associazione Fascista di Pubblico Impiego und Istituto Nazionale per le case degli impiegati statali, von Oktober 1939 bis April 1940, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Foro Italico Varie, Capannoni, chiosco bar. 172 Vgl. MAK-π-100 [Brindisi 1942], S. 48, 54 f. 173 Avviso per il conferimento delle presidenze, direzioni e cattedre vacanti presso i collegi e le scuole della G.I.L. per l’anno scolastico 1939–40, in: Bollettino GIL, 15. 4. 1939, 2° supplemento, S. 1 f. 174 Cattedre vacanti presso i collegi della G.I.L., in: Bollettino GIL, 1. 8. 1940, S. 353. 175 Avviso per il conferimento delle presidenze e cattedre vacanti presso i collegi e le scuole della G.I.L. per l’anno scolastico 1941–42, in: GdL, 1. 5. 1941, 3° supplemento, S. 1 f. 176 Collocamento di presidi, direttori, insegnanti e istruttori a disposizione del Comando Generale della G.I.L., in: Bollettino Ufficiale del Ministero di Educazione Nazionale 26 (1942), S. 1979–1982. 177 Avviso per il conferimento delle presidenze, direzioni e cattedre vacanti presso i collegi della G.I.L. per l’anno scolastico 1943–44, in: Bollettino GIL, 15. 6. 1943, 2° supplemento, S. 1–7.
3. Die Lehrerschaft 249
möglich war, denn es bestand ein kontinuierlicher Fachkräftemangel vor allem auf dem Gebiet der praktischen Ausbildung, deren eigentlicher Zweck die Schulgründung gewesen war. Bei den Befragungen erinnerten sich jedoch lediglich zwei Zeitzeugen des Schuljahres 1942/1943 an den Lehrermangel, dem damit begegnet wurde, dass ältere Schüler den Unterricht abhielten178 oder Angehörige der Königlichen Armee als Mathematiklehrer eingesetzt wurden.179 Es überrascht kaum, dass sich der Lehrermangel während des Krieges an den Collegi immer weiter verschärfte180 und besonders der Start für die 1941 und 1942 neu öffnenden Collegi auch vor diesem Hintergrund ausgesprochen schwierig war. Kurz vor den Collegi-Öffnungen forderte der GIL-Vizegeneralkommandant Sellani im September 1941: „Ich erwarte mit größter Dringlichkeit die Bewerbungen von Direktoren und Lehrern, die in den neuen Collegi unterrichten wollen.“181 Letztlich erhielt auch das 1941 eröffnete Waisencollegio in Lecce nicht alle für einen geregelten Schulbetrieb notwendigen Lehrkräfte durch das Erziehungsministerium, sodass auf Hilfslehrer zurückgegriffen werden musste oder aber die Erzieher der GIL gleichzeitig den Grundschulbereich abdeckten.182 Im Januar 1943, zu einem Zeitpunkt, als sich bereits 120 Schüler in dem Collegio befanden, war die Personalsituation extrem angespannt, wie ein Bericht des IRI deutlich macht: „Derzeit arbeitet die Schule mit einem Interimsdirektor, der Bauleiter des Schulgebäudes ist, einem Technikkundelehrer (eingeschriebener Student der Ingenieurswissenschaft) und einem Holzausbilder, der auch technisches Zeichnen unterrichtet. Für die nichttechnischen Fächer wurde ein externer Mathematik- und Naturwissenschaftslehrer zur Verfügung gestellt: Um den Rest kümmert sich das Personal des Collegios.“183
Um die unhaltbaren Zustände zu ändern, forderte der IRI schließlich: „Zuweisung eines richtigen Direktors sowie auserlesenes und numerisch ausreichendes Personal für den theoretischen und praktischen Unterricht.“ Verschärft wurde die Personalsituation, ähnlich wie in Brindisi, durch das Wohnraumproblem und den während des Krieges fast zum Erliegen gekommenen Nahverkehr. Da das Collegio fünf Kilometer von der eigentlichen Stadt Lecce entfernt war, forderte der IRI wenige Monate vor der Absetzung Mussolinis vergeblich, dass Direktor und Lehrer samt ihrer Familien in der Nähe des Collegios Wohnraum erhielten, um die Distanz zu überwinden und ein Minimum an Kontinuität beim Unterrichten zu 178 Schreiben Pietro Buiarellis (Bozen 1942–1943), 23. 2. 2012. 179 Vgl. Interview mit Donato Fantetti (Bozen 1942–1943), 26. 3. 2014-K, S. 7. 180 Dem Collegio Forlì fehlten aufgrund der Einberufungen derart viele Lehrer,
dass die Vorbereitung des Schulabschlusses gefährdet war. Vgl. Ministero dell’Aeronautica, General Fougier, an Ministero della Guerra, Gabinetto, 16. 5. 1943, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1943, b. 116, f. Collegio aeronautico di Forlì – Varie; Interview mit Giorgio Gasparini (Venedig 1939–1942), 4. 4. 2014-O, S. 6. 181 Telegramm des Comando generale an alle comandi federali GIL, 18. 9. 1941, in: Bollettino GIL, 15. 10. 1941, 6° bis supplemento, S. 14. 182 Vgl. Relazione, 2. 12. 1948, in: ASLe, Com. Prov. G.I., b. 11; Registro delle delibere, Delibera nr. 15, 30. 4. 1942, sowie Registro delle delibere, Delibera nr. 7, 10. 12. 1942, in: Ebenda, b. 330. 183 Undatierter, interner Bericht des IRI über einen Besuch des Collegios in Lecce am 15./16. 1. 1943, in: ACS, IRI NERA, ISP-85, f. 7.2.1.4.
250 V. Die „Schmiede“ – das Personal gewährleisten.184 Trotz dieser Personalproblematik schildern auch die Zeitzeugen aus Lecce ihre Lehrer in der Rückerinnerung als fordernd, aber liebenswert mit einem guten Lehrer-Schüler-Verhältnis.185 Zur Behebung des fortschreitenden Lehrermangels in den Collegi ersuchte das Erziehungsministerium vor dem Ruhestand stehende Lehrer, weiterhin zu unterrichten.186 Darüber hinaus versuchte die GIL ab dem Schuljahr 1943/1944, mit zusätzlichen Prämien Fachausbilder und Lehrer für einige, besonders stark vom Mangel betroffene Collegi (Bozen, Udine, Sabaudia, Lecce, Rieti, Città di Castello) anzuwerben,187 die sie dann aufgrund der politischen Veränderungen nicht mehr vergeben konnte. Während der RSI war der Lehrermangel schließlich derart ausgeprägt, dass selbst die Parteizugehörigkeit keine zwingende Voraussetzung mehr zur Einstellung in ein Collegio war.188 An regulären Unterricht war aufgrund des Mangels an Personal und Material nicht mehr zu denken. Zusammenfassend lässt sich zur Lehrerschaft in den Collegi konstatieren, dass diese profaschistisch eingestellt war oder zumindest von den Schülern dementsprechend wahrgenommen wurde. Die Zeitzeugen erinnerten sich an keinen der Lehrer mit faschismuskritischen Äußerungen. Vielmehr habe die Lehrerschaft vermittelt, dass alle Italiener Faschisten seien und man selbst auch Faschist sein müsse.189 Einer der Schüler vermutete: „Ich denke, dass die Lehrer unter den begabtesten, aber im Hinblick auf den Faschismus auch orthodoxesten ausgewählt wurden. Eine Stelle im Collegio muss sehr begehrt gewesen sein.“190 Im Interview fügte er hinzu: „Auch für die Lehrer war das Unterrichten im Collegio der Clou ihrer Karriere“,191 womit er jedoch offensichtlich seine eigene Euphorie ebenso auf die Lehrer projizierte. In Bezug auf die Bozner Lehrerschaft bemerkte ein Schüler: „Die Lehrer waren sicherlich durch die Partei indoktriniert und es war klar, dass sie sich zu Verfechtern des Faschismus erklärten.“192 Auch wenn es sich bei den Lehrern nachweislich also nicht um „alte Kämpfer“ handelte, so scheinen 184 Vgl.
Conclusioni raggiunte nelle conversazioni col Preside Prof. Rossi della GIL nei g iorni 19 e 20 febbraio 1943, presso l’IRI ed alla sede della GIL in Roma, in: ACS, IRI NERA, ISP-85, f. 7.2.1.4. 185 Schreiben Virgilio Bernardinos (Lecce 1941–1946), 24. 5. 2014; Schreiben Romolo Venittellis (Lecce 1941–1944), 25. 5. 2014. 186 Vgl. etwa Ministero dell’Educazione Nazionale, Direzione Generale dell’Ordine Superiore Classica, an das Kommando des Marinecollegios, Prof. Zanolli, Veglio, 6. 9. 1943, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Personale, Collegio Navale, GIL, Venezia, M-Z, b. 1164. Der Lehrer für Naturwissenschaften wurde gemäß dem ministeriellen Rundschreiben vom 30. 6. 1943, Nr. 5551/49 aufgefordert, eine Bewerbung zu schreiben, um ein weiteres Jahr unterrichten zu können. 187 Vgl. Avviso per il conferimento delle presidenze, direzioni e cattedre vacanti presso i collegi della G.I.L. per l’anno scolastico 1943–44, in: Bollettino GIL, 15. 6. 1943, 2° supplemento, S. 4. 188 Vgl. die Stellenausschreibung des Rektors Carlo Parri, 31. 10. 1944, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Registri vari, Collegio Navale GIL, Venezia, b. 1354. 189 Interview mit Iginio Bonoldi (Venedig 1941–1943), 7. 4. 2014-O, S. 8; Interview mit Iginio Bonoldi (Venedig 1941–1943), 7. 4. 2014-K, S. 7. 190 Schreiben Giorgio Gasparinis (Venedig 1939–1942), 20. 8. 2012, S. 2. 191 Interview Giorgio Gasparinis (Venedig 1939–1942), 4. 4. 2014-O, S. 6. 192 Schreiben Giovanni Sordis (Bozen), 11. 9. 2012.
4. Die Militär-/Berufsausbilder 251
diese dennoch zumindest bei den Schülern den Eindruck hinterlassen zu haben, überzeugte Faschisten zu sein. Dieses Bild mag auch dadurch verstärkt worden sein, da die Collegi-Lehrer, im Gegensatz zu Lehrern regulärer staatlicher Schulen, die Parteiuniform tragen mussten.193 Darüber hinaus waren sie – wie alle Lehrer staatlicher Schulen – angehalten, Tätigkeiten in der GIL zu übernehmen und wurden bei ihren jährlichen Einschätzungen nur dann mit der Bestnote bewertet, wenn sie ein solches Engagement vorweisen konnten.194 Während Lehrer regulärer staatlicher Schulen Möglichkeiten besaßen, sich diesen a ußerschulischen Aktivitäten zu entziehen, war dies den Collegi-Lehrern hingegen kaum möglich.195 So wurden sie zusätzlich zwischen 1941 und 1943 herangezogen, um vor den Kollegiaten neben dem regulären Unterricht in der großen Aula eines jeden Collegios Vorträge zur faschistischen Kultur zu halten.196 Die Berufe Lehrer und Erzieher wurden so immer schwerer abgrenzbar, wie überhaupt die Grenzen zwischen Schule und Jugendorganisation vor allem in den Collegi immer fluider wurden und bei den Schülern unweigerlich zum Eindruck der Omnipräsenz des Faschismus führen mussten.
4. Die Militär-/Berufsausbilder Zur praktischen Ausbildung der Kollegiaten stellten die Streitkräfte ebenso wie die Industrie Fachpersonal zur Verfügung. Zusätzlich entsandten diese Institutionen auch das Verwaltungspersonal an die Collegi. Symptomatisch für die GIL waren auch hierbei die kurzfristigen Bedarfsmeldungen, sodass sich die angefragte Seite nicht immer in der Lage sah, in der verbleibenden Zeit genügend geeignetes Personal ausfindig zu machen. Beispielsweise forderte die GIL-Leitung im Vorfeld der Eröffnung des Luftwaffencollegios von Forlì Anfang Oktober 1938 beim Luftfahrtministerium nicht weniger als 33 Personen für das Mitte Oktober öffnende Collegio an.197 Zwar konnten innerhalb kurzer Zeit immerhin 28 entsandt wer193 Vgl.
das unpaginierte und undatierte Reglement des Collegios Lecce, in: ASLe, Prefettura, Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455; Schreiben Feliciano Ciardis (Venedig 1939– 1942), 27. 6. 2012, S. 2; Interview mit Iginio Bonoldi (Venedig 1941–1943), 7. 4. 2014-K, S. 7; Schreiben Corrado Merizzis (Venedig 1937–1940), 27. 11. 2012; Interview Claudio Bolasco (Bozen 1939–1943), 20. 3. 2014, S. 4; Interview mit Giuseppe Cinquepalmi (Bozen 1940–1942), 23. 4. 2014-O, S. 7 f. 194 Vgl. Direttore Generale GIL Servizio Accademie e Collegi, Giovanni Vinci, an alle Collegi und Schulen der GIL, note informative, 14. 5. 1940, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Personale, Collegio Navale, GIL, Venezia, A-L, b. 1163. Vgl. PNF, FD, Nr. 434, 27. 7. 1935; Nr. 1267, 18. 2. 1939. 195 Vgl. die Einschätzungen zu GIL-Tätigkeiten der Collegilehrer etwa für Edoardo Cumbat, Augusto De Benedetti, Aristide Laguzzi, Paolo Maglie, Gaetano Messinese, Guido Perocco, alle vom 25. 4. 1941, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Personale, Collegio Navale, GIL, Venezia, A-L, b. 1163 und M-Z, b. 1164. 196 Die Themen dieser Vorträge finden sich in der Rubrik „Attività delle accademie e collegi della G.I.L.“ in der Zeitschrift der Jugendorganisation Gioventù del Littorio. 197 Vgl. Capo di Stato Maggiore GIL, U. Moretti, an Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto, richiesta personale, 1. 10. 1938, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1938, b. 35.
252 V. Die „Schmiede“ – das Personal den, die Luftwaffe sah sich jedoch außerstande, die vier dringend erforderlichen Unteroffiziere für die praktische Flugausbildung so schnell abzutreten.198 Das übrige, kurzfristig rekrutierte Personal schien auch nicht die Erwartungen zu erfüllen. Im folgenden Jahr erhielt die für die Personalauswahl verantwortliche Stelle die Anordnung, bei den 25 weiterhin benötigten Mitarbeitern und bei der Ersetzung des bereits vorhandenen Personals besonders großen Wert darauf zu legen, dass das Personal „ausgewählt werde aus Elementen von besonderer Kapazität und ausgezeichneter Athletik, um das Vorhandensein von geeigneten Elementen in diesem Institut sicherzustellen“.199 Der Militärkommandant des Collegios konnte schließlich persönlich auf die Auswahl der Militärausbilder Einfluss nehmen.200 Nach offiziellen Angaben arbeiteten in Forlì im Schuljahr 1941/1942 drei Offiziere und fünf Unteroffiziere der Luftfahrt zur Ausbildung der 290 Kollegiaten.201 In Venedig überließ die Marine Offiziere und Unteroffiziere sowie Matrosen für die Marineausbildung.202 Dort liegen Zahlen für das Schuljahr 1937/1938 vor, in dem fünf Ausbilder für Torpedoboote (zwei Korvettenkapitäne und drei Kapitänleutnants) 134 Kollegiaten praktisch unterrichteten.203 Nach den Erinnerungen eines Zeitzeugen wurden die militärischen Ausbilder in Bozen vonseiten der Königlichen Armee zur Ver fügung gestellt. Dabei handelte es sich um einen Major, vier Hauptmänner und zehn Unteroffiziere, die ihre Zöglinge in der Nutzung von Militärfahrzeugen, schweren Waffen, wie Mörser und Maschinengewehr sowie im Umgang mit Funksprechgeräten und Militärkarten unterrichteten.204 In Lecce übernahm auf Anordnung des IRI ein Techniker von Alfa Romeo die industrielle Ausbildung,205 da die anderen Berufsausbilder, abgesehen vom Schulleiter und dem Tischler, „nur spärlich und wenig geeignet“206 waren. 198 Vgl.
Ministero dell’Aeronautica, Capo del Gabinetto, Generale Ilari, an GIL, 6. 10. 1938, in: Ebenda. 199 Ministero dell’Aeronautica, Capo di Gabinetto, Generale Ilari, an Direzione Generale del personale militare, 30. 9. 1939, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1939, b. 40, f. Collegio aeron. Forlì – Personale. 200 Der zu dem Zeitpunkt noch als 2. Kommandant tätige Raoul Moore setzte sich etwa persönlich für den Wechsel der Ausbilder ein und schlug statt dem amtierenden Leutnant Tixi den Leutnant Vecchi vor, der dann auch seine Tätigkeit aufnahm. Vgl. un datierte Notiz, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1939, b. 40, f. Collegio aeron. Forlì – Personale. Vgl. auch den weiteren Vorgang zur erfolgten Personalveränderung. Ende 1940 bemühte sich der zum 1. Kommandanten aufgestiegene Moore um Ausbilder von der Luftwaffe für den Aufbau einer Flugzeugmodellwerkstatt, die ihm auch gewährt wurden. Vgl. die Schreiben von Kommandant Collegio aeronautico, Raoul Moore, an Ministero dell’Aeronautica, 12. 10. 1940, 20. 11. 1940, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1940, b. 161, f. Collegio aeronautico di Forlì – Personale. 201 Vgl. Alla presenza del Duce si è inaugurato a Forlì il Collegio aeronautico della G.I.L. intitolato al nome eroico di „Bruno Mussolini“, in: GdL, 15. 10. 1941, S. 819. 202 Vgl. Schreiben Feliciano Ciardis (Venedig 1939–1942), 27. 6. 2012, S. 1; Erinnerungen Antonio Grossos (Brindisi, Venedig, Padua 1942–1944) im Eigenverlag s. d., S. 15; Interview mit Giorgio Gasparini (Venedig 1939–1942), 4. 4. 2014-K, S. 4. 203 Vgl. Annuario del Collegio Navale G.I.L. Venezia. Anno 1937–38, S. 31. 204 Vgl. Rossi, Ragazzo del’43, S. 15. 205 Vgl. Gioventù Italiana an Alfa Romeo, 24. 9. 1946, in: ACS, IRI NERA, ISP-85, f. 7.2.1.2. 206 Giulio Terzaghi an Pasquale Saraceno, 11. 4. 1943, in: Ebenda.
5. Das Verwaltungs- und Dienstleistungspersonal 253
Die schlechte Überlieferungslage erlaubt es nicht, Aussagen zur Ausbildung oder zur politischen Haltung der an die Collegi abkommandierten Ausbilder zu treffen, sodass nur die wenigen Erinnerungen der Zeitzeugen bleiben, denen zufolge ausschließlich Militärausbilder aus Bozen und Venedig kritische Äußerungen im Hinblick auf den Kriegsausgang gemacht hatten. Diese hätten gegenüber ihren Zöglingen Zweifel gehegt, dass die italienischen Streitkräfte Großbritannien und den Vereinigten Staaten die Stirn bieten könnten.207 Aktenkundig geworden sind derlei „defätistische“ Äußerungen der Militärangehörigen jedoch nicht.
5. Das Verwaltungs- und Dienstleistungspersonal Auch wenn die Kontakte der Kollegiaten mit dem subalternen Personal recht bescheiden waren und man diesem Personenkreis wohl kaum eine formende Funk tion zuschreiben kann, soll er der Vollständigkeit halber kurz thematisiert werden. Wie bereits in der Entstehungsgeschichte der Collegi angeschnitten, war die Errichtung eines Collegios für die Regionalpolitiker von großem Interesse, da d amit einerseits die Hoffnung auf die Ankurbelung der Bauwirtschaft bestand. Andererseits bot sie auch die Möglichkeit, eine Vielzahl an teils unqualifizierten Arbeitskräften in Lohn und Brot zu bringen. Einer Aufstellung aus dem August 1943 zum Personal des Collegios in Lecce lässt sich entnehmen, dass zu dem Zeitpunkt 44 Personen für den laufenden Betrieb eingestellt waren. Dazu zählten Sekretäre, Logistiker, Buchhalter, Gärtner, Reinigungskräfte, Garderobiere, Wäscherinnen, Krankenschwestern, Küchenhilfen, Köche, Kellner, Nachtwächter, Portiere, Hausmeister, Schreiner, Elektriker, Schuster, Gärtner, Boten und Fahrer.208 Die Collegi waren demzufolge ein nicht zu ignorierender Wirtschaftsfaktor und die Stellen innerhalb der Collegi heiß begehrt, wie die Flut an Stellenanfragen beweist. Der Kommandant des Collegios von Forlì forderte den Bürgermeister der Stadt im Herbst 1939 sogar schriftlich auf, künftige Personenvorschläge zur Stellenbe setzung aufgrund der Vielzahl an Bewerbungen zu unterlassen.209 Wie so häufig beschwerte sich dessen Nachfolger, Raoul Moore, auch über diesen Personenkreis: „Das in der ersten Zeit eingestellte Personal ist wenig für eine Aufgabe auf einem solch delikaten und wichtigen Gebiet geeignet. Die Masse der Familien und der Frauen wird durch die schlimmsten Elemente Forlìs repräsentiert, zumindest unter dem Gesichtspunkt der Arbeitsleistung. Einige Familien, die die Ehre haben, Squadristen zu sein, oder Heimkehrer aus Spanien oder Afrika, meinen sich auf ihren Lorbeeren ausruhen zu können und sind von gewaltsamem und unbändigem Charakter.“210 207 Vgl. Interview mit Iginio Bonoldi (Venedig 1941–1943), 7. 4. 2014-O, S. 4; Interview mit
Iginio Bonoldi (Venedig 1941–1943), 7. 4. 2014-K, S. 3; Schreiben Pietro Buiarellis (Bozen 1942–1943), 23. 2. 2012. 208 Vgl. Collegio Aldo Fiorini, Lecce, Verbale, 4. 1. 1944, in: ASLe, Prefettura, Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455. 209 Vgl. Collegio aeronautico, Antonio Perfetti, an Podestà del Comune Forlì, 20. 9. 1939, in: ASFo, Comune di Forlì, Atti riservati, b. 14, f. 498. 210 Undatiertes, unadressiertes, lediglich mit einem Stempel des Collegios versehenes Schriftstück [vermutlich von Raoul Moore], in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1940, b. 161, f. Collegio aeronautico di Forlì – Varie.
254 V. Die „Schmiede“ – das Personal Ein Teil der Belegschaft wurde (schließlich) durch die Streitkräfte gestellt,211 andere wiederum – wie im Fall der allein durch die GIL geführten Collegi – un mittelbar aus der Region ausgewählt. Die Wahrnehmung der Angestellten durch die Zeitzeugen war sehr unterschiedlich. Einige konnten sich kaum mehr daran erinnern, dass es sie überhaupt gab, andere hatten an die jungen Frauen besonders positive Erinnerungen, nahmen diese sie doch hin und wieder mütterlich in den Arm oder sie verloren erstmals ihr Herz an sie.212
211 Aus
einer Aufstellung aus dem Februar 1941 geht hervor, dass die Luftfahrt 27 Mitarbeiter stellte. Dazu gehörten neben dem gehobenen Personal, wie Kommandant oder Ausbilder, auch Schreibkräfte, Hausmeister, Heizer, Monteure, Kraftfahrer oder Trompeter. Vgl. Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto, an Stato Maggiore Regio Esercito, 3. 2. 1941, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1941, b. 127, f. Collegio aeron. di Forlì – Varie. 212 Vgl. Interview mit Giuseppe Cinquepalmi (Bozen 1940–1942), 23. 4. 2014-O, S. 1; Interview mit Silvano Traina (Bozen 1942–1943), 18. 3. 2014, S. 9.
VI. „Hammer und Amboss“ – die Menschenformung in der Praxis Nachdem in den vorherigen Kapiteln die Strukturen der Collegi analysiert wur den, gilt es nun die Formen der Ausbildung in den Blick zu nehmen. Dafür unter sucht das Kapitel Anspruch und Wirklichkeit bei der Menschenformung respekti ve Menschenzüchtung sowie die zentralen Unterschiede zwischen diesen Schulen der Partei und regulären staatlichen Schulen während des Faschismus. Erst Ende 1942 veröffentlichte die Jugendorganisation Grundlagen und Richt linien zur Erziehung und Zielsetzung der Collegi,1 sodass davon auszugehen ist, dass die einzelnen Kommandanten bis dahin relativ große Ermessensspielräume bei der Erreichung des avisierten Ziels hatten. Auch diese Richtlinien gewährten wiederum große Bewegungsfreiheit, wenn etwa die Rede davon war, dass in Be zug auf Erziehung keine Methode vorgeschrieben werden könne, die für alle Er zieher und für alle Schüler gilt. Der Pädagoge wurde aufgefordert, selbst eine all gemeine Regel zu erstellen, die ihn bei seinen täglichen Handlungen leite.2 Bereits diese Feststellung legt den Schluss nahe, dass einheitliche pädagogische und erzie herische Konzepte ähnlich wie an den deutschen Adolf-Hitler-Schulen3 nicht ent wickelt wurden. Konstant war einzig und allein die Forderung an das Personal, faschistische Moral, nämlich Aufopferung für das Kollektiv, Selbstdisziplin, Na tionalstolz und Pflichtbewusstsein tadellos vorzuleben und nicht nur zu predigen, um den Schülern ein Beispiel zu geben, dem sie folgen konnten. „Gymnastik, Sportwettkämpfe, Wetteifern beim Lernen, Militärübungen und Berufsausbildung“ sollten die Kollegiaten zudem zu Mut und Tapferkeit, Pflicht, Unterordnung und Disziplin erziehen.4 Inwieweit dieser Anspruch eingelöst wurde, soll nun im Fol genden untersucht werden.
1. Der Unterricht Der Fachunterricht „Es ist vor allem die Schule, mit einem kämpferischen Kollegium, geführt von e inem uner bittlichen und unermüdlichen Rektor, die den Schülern ein hartes Leben bereitet, da diese aufgrund des häufigen Abfragens wöchentlich kontrolliert und geprüft werden. Da gibt es nichts zu lachen, denn die schulischen Unzulänglichkeiten werden als disziplinarische Ver gehen gewertet und folglich bestraft.“5 1
Vgl. Bonamici, Accademie e collegi. Direttive per le Accademie e i collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 1. 1943, S. 191 f. 2 Vgl. ebenda, S. 191. 3 Feller/Feller, Adolf-Hitler-Schulen, S. 116, 118. 4 Bonamici, Accademie e collegi. Direttive per le Accademie e i collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 1. 1943, S. 192. 5 Aspetti della vita del Collegio, in: Collegio aeronautico Bruno Mussolini, Forlì, supple mento al n. 12 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 22. 4. 1942, S. 5.
256 VI. „Hammer und Amboss“ – die Menschenformung in der Praxis Mit diesen Worten charakterisierte der Kommandant des Luftwaffencollegios die Rolle der Schule innerhalb des Collegios. Dieses kurze Zitat zeigt deutlich – und weitere Quellen bestätigen dieses Bild –, dass der Unterricht in den Collegi kon servativ und konventionell blieb. Die Kollegiaten waren größtenteils einem hohen Leistungsdruck ausgesetzt und mussten – wie noch heute in Italien üblich – das langatmige mündliche Abfragen (interrogazioni) über sich ergehen lassen. Bril lierten sie dabei nicht, drohten ihnen Strafen, wie etwa das Ausgehverbot am Sonntag. Die Zeitzeugen charakterisierten den Unterricht in den Collegi-Schulen durch weg als „normal“ und konnten keine Unterschiede im Vergleich zu staatlichen Schulen benennen. Da wie dort mussten die Schüler Texte lesen, Aufgaben lösen, der Lehrer hingegen referierte oder fragte ab.6 Vergleicht man das Reglement mit den Klassenbüchern, scheinen die Lehrer der Vorgabe, „die Schüler so häufig wie möglich abzufragen“,7 gefolgt zu sein, findet sich doch der Eintrag interrogazioni am häufigsten, gefolgt von „Aufsatz im Heft“.8 Auch für die während der RSI im Marinecollegio tätigen Lehrer galt hinsichtlich des didaktischen Vorgehens nur: „Intensiviert das Abfragen“.9 In der Schule dominierte somit kognitives Wissen. In den Collegi-Schulen unterrichteten die regulären staatlichen Lehrkräfte ge mäß der 193610 in Kraft getretenen Lehrpläne für Regelschulen. Die vergleichen de Analyse von Regelschullehrplänen und Collegi-Stundenplänen hat die Ver bindlichkeit des regulären Lehrplanes gezeigt: Unterrichtsfächer und Stundenan zahl stimmten überein.11 Es kam in den hier im Speziellen untersuchten Collegi 6 Interview mit Iginio Bonoldi (Venedig 1941–1943), 7. 4. 2014-K, S. 13. 7 Vgl. das unpaginierte und undatierte Reglement des Collegios Lecce, in:
ASLe, Prefettu ra, Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455. 8 Vgl. die Giornali del professore, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Giornali del Professore, Scuola Militare GIL, Bolzano, b. 1373. 9 Rektor Carlo Parri an Sigg. Professori, 31. 1. 1944, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Registri vari, Collegio Navale GIL, Venezia, b. 1354, f. Comunicazioni del preside agli insegnanti del Collegio. 10 Regio Decreto, Nr. 762, 7. 5. 1936, Approvazione degli orari e programmi per le scuole medie d’istruzione classica, scientifica, magistrale e tecnica, in: GU, Nr. 108, 9. 5. 1936, supplemento ordinario. 11 Fächer des Collegios in Venedig: Zeichnen, Französisch, Italienisch, Latein, Griechisch, Mathematik, Physik, Naturwissenschaften, Chemie, Geographie, Philosophie, Geschich te, Deutsch, Literaturwissenschaften, Kunstgeschichte, Religion (Annuario del Collegio Navale G.I.L. Venezia. Anno 1937–38, S. 33); Fächer der Grundschule in Lecce: Religion, Gesang, Zeichnen und Schönschrift, betontes Lesen, Orthographie, schriftliche Sprach übungen, Arithmetik, Geographie, Geschichte, Naturwissenschaften, Rechts- und Wirt schaftskenntnisse, Handarbeit, Leibeserziehung, Hygiene und Sauberkeit (vgl. Note sulla personalità complessiva, SJ 1942/1943, in: ASLe, Com. Prov. G.I., b. cartelle allievi lettera B [3], f. Balletti, Giovanni); Fächer der Berufsschule in Lecce: Religion, Militärkunde, Allgemeinbildung (Italienisch, Geschichte, Geographie), Mathematik, Physik/Chemie, Technologie, technisches Zeichnen, Praktische Ausführungen, Leibeserziehung, hinzu kamen faschistische Kultur und Turn- und Militärübungen (vgl. Note sulla personalità complessiva, SJ 1941/1942, in: ASLe, Com. Prov. G.I., b. cartelle allievi lettera B [3], f. Baccile, Nicola); Fächer der Berufsschule in Sabaudia: Religion, Militärkultur, Italienisch, Geschichte/Geographie/Faschistische Kultur, Französisch, Mathematik, Natur wissen schaften, Hygiene, Kalligraphie, Zeichnen, technisches Zeichnen, Elemente der Nautik
1. Der Unterricht 257
demzufolge zu keiner Einführung neuer Fächer oder abweichenden Stunden gewichtung im Vergleich zu staatlichen Schulen.12 Darauf legte man in der Be werbung der Collegi auch großen Wert. Offensichtlich wollte man den Eltern die Ängste nehmen, dass ihre Kinder an den Collegi-Schulen nicht entsprechend der geltenden Regularien unterrichtet würden. Selbst bei der Gewichtung der vermit telten Unterrichtsinhalte glitt die GIL wieder in traditionelle Fahrwasser. Trotz der propagandistischen Überbewertung des Sports dominierten die klassischen Materien. So berichtete der römische Botschaftsgesandte des Deutschen Reiches während des Krieges an das Auswärtige Amt nach Berlin: „Da Jahresschluß itali enischer Schulen […] vorverlegt worden ist, sind sämtliche sportliche Fächer zugunsten der Vorbereitung in den wissenschaftlichen Materien vollständig sus pendiert worden.“13 Aufgrund der teils recht individuellen Lesart und Auslegung der Lehrplanin halte und der nur stichworthaften Überlieferung von Unterrichtsinhalten in den Klassenbüchern ist es nicht möglich, Aussagen über den Grad an Indoktrination durch die einzelnen Lehrkräfte – auch im Vergleich zu regulären staatlichen Schu len – zu treffen. Für das Heerescollegio in Bozen sind die Klassenbücher für die Fächer Religion, Geschichte/Geographie, Mathematik, Naturwissenschaften, (technisches) Zeichnen, Hygiene, Physik, Technik, Mechanik, Angewandte Wis senschaften, Italienisch, Gesang, Kalligraphie und Justierung überliefert, aus de nen im Folgenden kursorisch zitiert werden soll, um ein Panorama der vermit telten Lehrinhalte zu zeichnen.14 Gesungen wurden im Musikunterricht die einschlägigen faschistischen Lieder, wie etwa Vincere, Giovinezza, Impero, Inno dei sommergibili, All’armi!, Saluto al Duce, Mediterraneo und die identitätsstiften de schuleigene Hymne.15 Aber auch nationalsozialistische Lieder, wie etwa das offizielle Lied der HJ mit dem Refrain „Unsre Fahne flattert uns voran“, das noch einige Zeitzeugen während der Interviews intonierten, sowie das Horst-Wesselund der Meteorologie, Meeresbiologie und Ichthyologie, Schifffahrtsrecht, Maschinen kunde, praktische Ausführungen, Gesang, Leibeserziehung (vgl. PNF/GIL, Scuola mari nara „Caracciolo“, pagella scolastica, SJ 1938/1939, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Allievi, Bolzano, BER-BUE, b. 1361, f. Bertola, Carlo); Fächer der Berufsschule in Bozen: Militärkultur, Italienisch, Geschichte/Geographie, Fremdsprache, Mathematik, Naturwissenschaften, praktische Ausführungen, Zeichnen, technisches Zeichnen, Kalli graphie, Religion, Gesang, Leibeserziehung (vgl. PNF, Scuola della GIL di Specializzazio ne militare Bolzano, Voti di profitto scolastico, SJ 1941/1942, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Allievi, Bolzano, DE-FAN, b. 1364, f. De Marco, Renato). 12 Für die hier nicht en détail untersuchten neuen Erziehercollegi mag es jedoch eigens er stellte Stundenpläne gegeben haben – wie die Propaganda betonte. Vgl. Rossi, Nuovi collegi della G.I.L., in: GdL, 1. 10. 1941, S. 765. Solche Lehrpläne konnten jedoch nicht auf gefunden werden, sodass darüber keine konkreten Aussagen getroffen werden können. 13 Dies betraf u. a. die Sportakademie für Frauen in Orvieto, die in dem Schreiben thema tisiert wird. Bismarck an AA, 26. 3. 1941, in: PA AA, Botschaft Rom Quirinal, 1394 A, Bd. 5. 14 Vgl. Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Giornali del Professore, Scuola Militare GIL, Bolzano, b. 1373. 15 PNF, Scuola della GIL di Specializzazione militare Bolzano, Giornale del Professore, Materia d’insegnamento Canto, cl. Ia, sez. C, s. d.; cl. II, sez. D, SJ 1941/42; cl. III, sez. D, SJ 1941/42, in: Ebenda.
258 VI. „Hammer und Amboss“ – die Menschenformung in der Praxis Lied wurden im Unterricht als Beitrag zur „Achsenfreundschaft“ eingeübt. In Ge schichte/Geographie wurden die Geschichte der faschistischen Bewegung, d. h. Squadrismus und „Marsch auf Rom“, bis hin zur „Ordnung des faschistischen Staates, die Berufskorporationen“, „das faschistische Imperium – das Prestige Ita liens in der Welt“ sowie die verschiedenen faschistischen Organisationen (GIL, OND) und Organe (Faschistischer Großrat) behandelt.16 Wie bereits erwähnt, war das Aufsatzschreiben die zweithäufigste Unterrichtsmethode in den Collegi. Während des Krieges mussten sich die Schüler im Italienischunterricht zu folgen den Themenbereichen schriftlich äußern: • Militär und Außenpolitik „Wie stellt ihr euch einen Tag an Bord eines Kriegsschiffes vor?“ „1) Erinnert euch an den Besuch der Hitlerjugend im Collegio./2) Eine der heroischen Figuren des aktuellen Krieges. Macht einige Bemerkungen.“ „Das hartnäckige Wollen eines Volkes zeigt sich in den von ausländischen Beobachtern bewunderten Werken.“ „Eine Episode des Heldentums unserer Flieger, von der du gehört oder über die du gelesen hast.“ „Sagt auf der Grundlage eurer Geographiekenntnisse etwas über Japan, im Besonderen zur Bedeutung, das es im aktuellen Krieg mit Italien hat.“ • Faschismus und Patriotismus „Welches Kapitel hat euer Interesse am meisten beim Studium des Buches ‚Faschisti sche Kultur‘ geweckt?“ „Einige Gedanken nach der Lektüre des Kapitels ‚Die faschistische Ära‘.“ „Wie sollte deiner Meinung nach der Gedanke des Duce im gegenwärtigen Moment interpretiert werden, nach dem ‚die Zukunft uns gehört‘?“ „Vor dem Monument eines großen Italieners.“ „Im Moment der Fahnenhissung: Welche Gefühle verspürt eure Seele?“17
Diese kurze Auflistung unterstreicht die Bedeutung faschistischer, militaristischer und nationalpatriotischer Themen, mit denen sich die Schüler im Fachunterricht auseinandersetzen mussten. Hierbei ging es jedoch stärker um die „erhabenen Gefühle“, um Emotionen, die bestimmte Ereignisse evozierten (Stichwort: „Wel che Gefühle verspürt eure Seele?“), statt um stures Faktenwissen. Im gymnasialen Collegio in Venedig wurden laut Zeitzeugenerinnerungen im Philosophieunter richt lehrplankonform die „Faschistische Doktrin“ Mussolinis thematisiert und Verbindungslinien zwischen der Antike und dem Faschismus bei Aufsatzthemen wie „Julius Cäsar – Benito Mussolini: Vergleiche“ gezogen.18 Kooperative Lernformen, wie etwa Gruppenarbeit, fächerübergreifender Pro jektunterricht oder Diskursformen – die zumindest an nationalsozialistischen
16 PNF,
Scuola della GIL di Specializzazione militare Bolzano, Giornale del Professore, ateria d’insegnamento Storia e geografia, cl. III, sez. A, SJ 1941/42; cl. I T, sez. A, SJ M 1941/42; cl. III, sez. B, 1940/41, in: Ebenda. 17 PNF, Scuola della GIL di Specializzazione militare Bolzano, Giornale del Professore, Ma teria d’insegnamento Italiano, cl. III, sez. C, SJ 1941/42; cl. IIa, sez. C, SJ 1941/42; cl. Ia, sez. C, SJ 1941/42, in: Ebenda. 18 Vgl. Interview mit Giorgio Gasparini (Venedig 1939–1942), 4. 4. 2014-K, S. 11.
1. Der Unterricht 259
Ausleseschulen in Ansätzen erprobt wurden19 – fanden dabei ebensowenig Ein gang in den Unterricht. Obwohl eine Marinedelegation bereits Mitte der 1930er Jahre anerkennend in einem Bericht, der auch Mussolini vorlag, über einen Be such an der Reichsschule Feldafing schrieb: „Wir haben verschiedene Unterrichts stunden erlebt, in denen man der starren Unterrichtsmethode entkommt“,20 ver zichtete man an den faschistischen Ausleseschulen auf entsprechende Versuche. Vielmehr stand der Frontalunterricht auf der Tagesordnung. Jeglicher Gedanken austausch unter Mitschülern war während des Unterrichts verboten und die Schüler hatten um Sprecherlaubnis zu bitten.21 Diese Praxis kann auch als Spiegel des Denkens in militärischen Zusammenhängen gesehen werden. Während die Deutschen mit der Auftragstaktik gute Erfolge hatten und an die Eigeninitiative und -kompetenz der Untergebenen glaubten, war es bei den Italienern ein stures Befolgen von Befehlen, also ein Gehorchen und Wiedergeben des Gesagten. Ebenfalls unverändert blieb das didaktische Material. Die Collegi erstellten kei ne eigenen Lehrwerke. Die Eltern erhielten zum Schuljahresende die Listen mit Buchtiteln, die die Kollegiaten zum nächsten Schuljahr benötigten und die sie in regulären Buchhandlungen erwerben mussten.22 Nur der in Lecce involvierte IRI strengte Überlegungen an, neue Lehrbücher in Anlehnung an deutsche Lehrwer ke zur Berufsausbildung zu erstellen.23 Doch diese Idee fand keine Realisierung mehr. Bewertet wurden die schulischen Leistungen der Schüler gemäß den geltenden Richtlinien des Erziehungsministeriums, d. h. entsprechend der italienischen Notenskala von 10 (entspricht der Note 1) bis 0 (entspricht der Note 6).24 Diskus sionen über die Abschaffung von Noten zugunsten von schriftlichen Leistungs einschätzungen fanden nicht statt. Die Eigenschaften der Schüler wurden in der Regel durch Einworturteile oder Kurzbeschreibungen eingeschätzt. Da heißt es beispielsweise über die „geistigen und moralischen Fähigkeiten“ eines Bozen- Kollegiaten: „gutes Element, guter Kamerad, aufrichtig, diszipliniert, hat ein gutes Pflichtgefühl“ (Abb. 11). In den Collegi variierten die zu bewertenden Fähigkeiten, und auch innerhalb einer Einrichtung wurden diese häufig modifiziert.25 Offen 19 Vgl. Feller/Feller, Adolf-Hitler-Schulen, S. 190. 20 Capitano di Vascello G. Bertoldi an Ispettorato
Generale per la preparazione premilitare e postmilitare della Nazione, Missione in Germania, Visita alle organizzazioni giovanili hitleriane, 14. 8. 1935, in: AUSMM, Archivio di base, b. 2696. 21 Vgl. das unpaginierte und undatierte Reglement des Collegios Lecce, in: ASLe, Prefettu ra, Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455. 22 Vgl. PNF, Collegio navale GIL Venezia, Circolare n. 13: informazioni, 18. 5. 1940, in: AdV. 23 Vgl. die Materialhinweise, in: ACS, IRI NERA, ISP-85, f. 7.2.2. 24 Vgl. das unpaginierte und undatierte Reglement des Collegios Lecce, in: ASLe, Prefettu ra, Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455. 25 Im Marinecollegio in Venedig wurden im SJ 1938/1939 Intelligenz, Charakter, militä rische Haltung, ziviles Verhalten, Benehmen, Selbstkontrolle, Lernbereitschaft, Übungs bereitschaft, seemännische Fähigkeiten und berufliche Einstellung eingeschätzt. Vgl. Collegio navale Venezia, Stato degli studi, dello sviluppo fisico e delle qualità dell’allievo, 1938/39, in: ACS, SPD, CO, b. 990, f. 509.031. Im Waisencollegio in Lecce beurteilten die Erzieher im SJ 1941/1942 die intellektuellen, moralischen und physischen Qualitäten sowie Lernbereitschaft, Pflichbewußtsein, Disziplin, Führungsfähigkeiten und Selbst
260 VI. „Hammer und Amboss“ – die Menschenformung in der Praxis
Abb. 11: Quartalsinformation an die Eltern, Bozen, SJ 1940/1941 (AdV)
1. Der Unterricht 261
Abb. 12: Klassenraum während des Unterrichts am Heerescollegio Bozen, undatiert (AdV)
sichtlich erstellte das GIL-Generalkommando keine einheitlichen Vorgaben be züglich der Erhebung und Klassifizierung der zu überprüfenden Eigenschaften, sodass sie von den Collegi in Eigenregie entwickelt und über die Jahre verfeinert wurden. Auch die Klassenzimmer unterschieden sich kaum von denen staatlicher Schu len. Wie bereits seit Mitte der 1920er Jahre in italienischen Klassenzimmern üb lich,26 befanden sich in jedem Klassenzimmer ein Bild des Königs, des Duce und ein Kruzifix (Abb. 12). Alle Schulräume waren gleichermaßen mit Bänken in fron taler Sitzordnung ausgestattet, die reformpädagogisch angehauchte U-Form war den befragten Kollegiaten unbekannt. Moderne Technik und Ausstattung gab es hingegen in den meisten Collegi, auch wenn sie anfangs häufig auf sich warten ließ. kontrolle ihrer Zöglinge. Vgl. Note sulla personalità complessiva, SJ 1941/1942, in: ASLe, Com. Prov. G.I., b. cartelle allievi lettera B (3), f. Baccile, Nicola. Die Erzieher im Marine collegio in Brindisi schätzten im SJ 1942/1943 körperlichen und moralischen Mut, Verant wortungsbewusstsein, Eigenliebe, Pflichtgefühl, Selbstkontrolle, Wille, Reflexivität, Sensi bilität, gesunden Menschenverstand, Gedächtnis, Phantasie, Auffassungsgabe, Ausdrucks kraft, Großzügigkeit, Geselligkeit, Wertschätzung der Gefährten, Taktgefühl, Korrektheit in Verhalten und Sprache, Ordnungsliebe, Sauberkeit, Pflege der Uniform, militärische Haltung und Aktivität der Kollegiaten ein. Vgl. PNF/GIL, Collegio navale della G.I.L., Brindisi, Foglio informativo trimestrale, SJ 1942/43, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Allievi, Collegio Navale G.I.L., Venezia, F-GA, b. 1341, f. Gatti, Lorenzo. 26 Vgl. Alberto Gagliardo, Arredi e decorazioni scolastiche, in: Gianluca Gabrielli/Davide Montino (Hrsg.), La scuola fascista. Istituzioni, parole d’ordine e luoghi dell’immaginario, Verona 2009, S. 27–32, hier S. 28.
262 VI. „Hammer und Amboss“ – die Menschenformung in der Praxis Schließlich orientierten sich gar die Schulstrafen an den 1925 erlassenen staat lichen Vorschriften und reichten von einer persönlichen Ermahnung bis hin zum Schulausschluss von allen Schulen des Landes.27 Verhängt wurden die leichten Strafen bei disziplinarischen Vergehen oder schulischen Unzulänglichkeiten, die schweren Strafen hingegen vorwiegend bei Verstößen gegen die „Moral“. Die GIL unternahm – im Gegensatz zu deutschen Ausleseschulen28 – anschei nend zu keinem Zeitpunkt den Versuch, ein Spezialcurriculum für die Schulen zu erstellen oder neuartige, eigens entwickelte Fächer, didaktisches Material, Lehroder Lernmethoden oder modifizierte Bewertungsmodalitäten zu erproben. Ob gleich in der zeitgenössischen pädagogischen Literatur zahlreiche neue Methoden einer „totalitären Erziehung“ diskutiert wurden29 und sich die GIL in ihren Pub likationen ob der modernen Methodik und Pädagogik in den Collegi rühmte,30 lassen sich keine Umsetzungsversuche nachweisen. Von einer revolutionären Pä dagogik und Methodik waren die Schulen der GIL also weit entfernt.
Die Berufsausbildung Während der reguläre Fachunterricht sich kaum von dem an staatlichen Schulen unterschied, bestand der besondere Reiz in einigen Collegi offensichtlich in der praktischen Ausbildung, die die jugendliche Lust auf Abenteuer und nach Aner kennung in besonderem Maße befriedigte. Für die praktische Berufsausbildung in den Collegi erstellten die Militärangehörigen eigene Lehrpläne bzw. orientierten 27 Im
Regelment heißt es dazu: „a) persönliche Ermahnung oder vor der Klasse; b) Entfer nung aus der Schulstunde; c) bis zu fünf Tage Suspendierung; d) bis zu zehn Tage Sus pendierung; [e-g) Ausschluss von den jeweiligen Prüfungszeiten und in der Konsequenz von der Versetzung]; h) Ausschluss aus dem Institut; i) Ausschluss aus allen GIL-Institu ten; l) Ausschluss aus allen Schulen des Reiches“, wobei „die Strafen der Buchstaben a) und b) bei mangelhaftem schulischem Pflichtbewußtsein oder mangelhafter Disziplin ausgesprochen werden; die der Buchstaben c) und d) bei Vergehen, die den geregelten Schulablauf stören; die der Buchstaben e) und f) bei Beleidigung des Personals, der Religion oder der Institution oder bei besonders schweren Disziplinarvergehen; die der Buchstaben g) bis l) bei Vergehen gegen die Moral und Verstößen gegen die Schule und das Kollegium.“ Siehe das unpaginierte und undatierte Reglement des Collegios Lecce, in: ASLe, Prefettura, Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455. 28 In seinem Bericht aus dem Januar 1943 behauptete Petter, dass nunmehr seit sechs Jahren an dem neuen Lehrplan gearbeitet worden sei und dieser nun „in seinen Grund lagen“ im kommenden Frühjahr fertiggestellt werde, vgl. Petter, Bericht über die Adolf Hitler-Schulen, vorgetragen am 12. 1. 1943 auf der Gebietsführertagung in Braunschweig vom Kommandeur der Adolf Hitler-Schulen, in: BA Berlin, NS 22, 1240, Bl. 99–105, hier Bl. 104. 29 Man denke hier nur an die „biopedagogia“ von Michele Maria Tumminelli. Die „bio pedagogia“ entstand in Anlehnung an Nicola Pendes „biotipologia“ und forderte die ganzheitliche Erziehung „von Körper und Geist, Verstand und Willen“. Michele Maria Tumminelli, L’educazione del carattere e la bonifica umana nella biopedagogia, Mailand 1934, S. 5. Als besonders progressiv wurde dabei der Einsatz des Filmprojektors geprie sen, mit Hilfe dessen die Aufmerksamkeit der Schüler fokussiert werden sollte. 30 Vgl. Vitalità dei nostri collegi, in: Collegio „M.O. Aldo Fiorini“ per orfani di guerra, Lecce, supplemento al n. 18 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 21. 7. 1942, S. 1.
1. Der Unterricht 263
sich an den bereits existierenden Lehrplänen ihrer Militärschulen.31 Auf Wunsch des IRI sollten auch die regulären Lehrpläne der Industrievorbereitungsschule in Lecce in Abstimmung mit der GIL und dem Erziehungsministerium stärker im Hinblick auf die praktische Berufsausbildung modifiziert werden.32 Ramiro Morucci, Verfasser zahlreicher Industrielehrbücher und Alfa Romeo-Angestellter, war ein sehr guter Kenner und Befürworter des deutschen Berufsschulwesens. In Schreiben verwies er immer wieder auf dessen Vorteile und unternahm Versuche, diesen Aufbau in dem Collegio in Lecce zu implementieren.33 Umgesetzt wurden dessen Pläne jedoch aufgrund der politischen Veränderungen nicht mehr. Auch wenn die materielle Ausstattung der Collegi nicht in dem Maße voran schritt, wie es sich die GIL-Verantwortlichen wünschten, so erhielten diese Ein richtungen im Laufe der Zeit doch ein umfangreicheres und qualitativ hochwer tigeres Interieur als vergleichbare Bildungseinrichtungen in Italien. Das Luft waffencollegio verfügte für die praktische Ausbildung unter anderem über eine Wetterwarte, eine Werkstatt zum Flugzeugmodellbau, mehrere Schulflugzeuge (Saiman 202, Breda Ba-25, Caproni Ca-100) und Fiat-Motoren.34 Während des Schuljahres fand im Collegio praktischer Unterricht am Flughafen von Forlì und in den Sommerferien in Pavullo statt, wobei sich den Schülern die Möglichkeit bot, einen Segelflugschein zu erwerben.35 Darüber hinaus wurde den Schülern Unterricht in den Themenbereichen Geschichte der Luftfahrt, Militärvorschriften und Militärstatistik, Funksignale, Flugpläne, Flugvorschriften, Luftrecht, Flugfoto grafie, technische Flughafenanlagen, Bewaffnung, Aerodynamik, Meteorologie, Aerologie und Funktechnik erteilt.36 Im Februar 1940 gab der Parteisekretär Ettore Muti zudem den Anstoß für einen Vortragszyklus rund um das Thema Luftfahrt. Daraufhin referierten zahlreiche Experten über Ausbildungsstätten und Aufnahmebedingungen der Luftwaffe, Waffenarten und die Logistik.37 Darunter 31 Vgl.
etwa für Bozen: D.M., Spunti di vita interna, in: Collegio della G.I.L. di specializza zione militare, Bolzano, supplemento al n. 5 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., s. d. [Frühjahr 1943], S. 3; PNF/GIL, Ammissione al collegio navale GIL di Vene zia per l’anno scolastico 1941/42, S. 5; PNF/GIL, Accademie e collegi della G.I.L. [1942], S. 29, 31. 32 Convenzione, Art. 3.3, s. d., in: ACS, IRI NERA, ISP-85, f. 7.2.1.2. 33 Vgl. Ramiro Morucci, Osservazioni relative all’Istituzione di un istituto industriale di tipo aziendale, s. d. [vermutlich. Dez. 1941] und Bericht, 5. 1. 1942, in: ACS, IRI NERA, ISP-85, f. 7.2.5.1. 34 Vgl. den Schriftwechsel Ministero dell’Aeronautica und GIL, Februar 1939, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1939, b. 40, f. Collegio aeron. Forlì – Materiale; Collegio aeronautico, Raoul Moore, an Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto, 4. 5. 1942, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1942, b. 94, f. Collegio aeronautico di Forlì – Varie; FIAT an Collegio aeronautico, Raoul Moore, 20. 12. 1940, in: Archivio Ce sare Valle, CV-CAR-044, faldone 8; Accademie e collegi, in: GdL, 15. 1. 1943, S. 222–225. 35 Ministero dell’Aeronautica, Ispettore delle Scuole, an Reale Unione Nazionale Aeronauti ca, 3. 9. 1941, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1942, b. 94, f. Collegio aero nautico di Forlì – Varie. 36 Vgl. Alesiani, Finalità e ordinamento del Collegio aeronautico di Forlì intitolato a Bruno Mussolini, in: Il Popolo d’Italia, 5. 10. 1941 (BA Berlin, R 4902, 8445, Bl. 33 RS). 37 Vgl. den Schriftwechsel in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1940, b. 161, f. Collegio aeronautico di Forlì – Conferenze.
264 VI. „Hammer und Amboss“ – die Menschenformung in der Praxis
Abb. 13: Schüler vor ihren Lastwagen im Heerescollegio Bozen, undatiert (AdV)
fanden sich so illustre Personen wie der Redakteur der Zeitschrift L’aviazione und Autor des Buches Mussolini aviatore, Guido Mattioli.38 Die Kollegiaten in Venedig und Brindisi erhielten in Vorbereitung auf ihre zukünftige Tätigkeit als Marineoffiziere theoretisch-praktischen Unterricht in Signalkunde, Schiffskultur, Grundlagen der Elektrotechnik, des Maschinenbaus und der Artillerie sowie im Segeln, Rudern, Schwimmen, Tauchen, Leinenwurf und Knotenbinden.39 In Venedig stand den Schülern ein Geschwader von sechs Torpedobooten zur Verfügung.40 Jährlich konnten sie an einer mehrwöchigen Ausbildungsschifffahrt teilnehmen, während der sie die theoretisch erlernten Fä higkeiten praktisch erprobten. In Bozen wurde den Schülern hingegen entsprechend ihres zukünftigen Einsat zes als Spezialisten der Armee eine theoretisch-praktische Ausbildung an Moto ren, Drehmaschinen, Fräsen und Pressen geboten. Darüber hinaus lernten sie, 38 Vgl.
Conferenza agli allievi del Collegio aeronautico della G.I.L., in: GdL, 15. 3. 1941, S. 251. 39 Vgl. Attività interne, in: MAK-π-100 [Brindisi 1939], S. 29–32, hier S. 31; Voga, in: Eben da, S. 35; PNF, Collegio navale della GIL, Venezia, Stato dello sviluppo fisico, degli studi e delle qualità dell’allievo, 1942/43, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Allievi, Collegio Navale GIL, Venezia, S, b. 1347, f. Sangermano, Carlo; Opera Balilla, Collegio navale di Venezia. Statuto e regolamento, S. 3. 40 Vgl. Annuario del Collegio Navale G.I.L. Venezia. Anno 1937–38, S. 31.
1. Der Unterricht 265
Lastwagen (Fiat 18 BL) und Motorräder (Moto Guzzi Alce) zu steuern, die dem Collegio durch das Kriegsministerium überlassen wurden (Abb. 13).41 Besonders diese Fahrausbildung scheint einen außerordentlichen Reiz auf die Heranwach senden ausgeübt zu haben, wie zwei Zitate eindrücklich unter Beweis stellen: „Einmal die Woche verließen wir das Collegio, um eine Fahrschule zu besuchen, einige mit Motorrädern und die meisten von uns mit Lastwagen (für uns war es der schönste Tag der Woche).“42 Und Anselmo Rossi urteilt: „Wir fühlten uns wie Halbgötter, denn zu dieser Zeit und in unserem Alter war das Fahren eines Last wagens so, als ob heute ein Jugendlicher einen Jet fliegen würde.“43 Während der praktische Unterricht in den Collegi der 1930er Jahre offenbar ein hohes Niveau erreichen konnte und einigen Schülern das Gefühl vermittelte, zu den Auserwählten zu gehören, war die Berufsausbildung im Collegio von Lecce desaströs. Während des ersten Schuljahres 1941/1942 konnte den Schülern aufgrund fehlender Ausstattung keinerlei praktische Ausbildung geboten werden, sodass die Schüler in den Sommerferien einen einmonatigen Ausbildungskurs in Sabaudia absolvieren mussten.44 Mit Fortschreiten des Krieges stellte sich schließ lich auch keine Verbesserung der materiellen Ausstattung ein, sodass die prakti sche Ausbildung in Lecce rudimentär blieb. Diese berufliche Spezialisierung der Collegi stellt einen entscheidenden Unter schied der faschistischen Ausleseschulen im Vergleich zu den nationalsozialisti schen dar. Während den deutschen Ausleseschülern zunächst ihr künftiges Tätig keitsfeld offengehalten wurde,45 erhielten die italienischen Schüler bereits ent sprechend ihrer beruflichen Zukunft theoretischen und praktischen Unterricht. Aus dieser starken beruflichen Fokussierung resultiert auch ein augenfälliger Unterschied im Hinblick auf die zu erwerbenden Abschlüsse. Während an den nationalsozialistischen Ausleseschulen (AHS, Feldafing, NPEA teilweise) mit dem Schulabschluss eine Hochschulzugangsberechtigung erworben wurde,46 konnte eine solche in Italien an nur vier GIL-Instituten (drei männlich, eines weiblich) erlangt werden. An allen anderen Collegi beendete man seine Schulzeit mit einem 41 Vgl.
Schreiben Giuseppe Augustins (Bozen 1940–1943), 6. 7. 2012, S. 1; Relazione sinte tica delle attività svolte al Collegio nel trimestre gennaio – febbraio – marzo XX, in: Collegio della G.I.L. di specializzazione militare, Bolzano, supplemento al n. 12 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 21. 4. 1942, S. 12. 42 Schreiben Giovanni Carbonis (Bozen 1940–1943), 20. 5. 2014. 43 Rossi, Ragazzo del’43, S. 27 f. 44 Vgl. Il primo anno di lavoro del collegio, in: Collegio „M.O. Aldo Fiorini“ per orfani di guerra, Lecce, supplemento al n. 18 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 21. 7. 1942, S. 3. 45 Vgl. Scholtz, Nationalsozialistische Ausleseschulen, S. 8: „Ihre Besonderheit wird man deshalb nicht in der Ausbildung spezieller beruflicher Qualifikationen suchen dürfen.“ Anfang der 1940er Jahre richteten jedoch einige NPEA Sonderzüge zur Flieger- und Ma rineausbildung ein. Ebenda, S. 328–332. 46 Vgl. Feller/Feller, Adolf-Hitler-Schulen, S. 53; Scholtz, Nationalsozialistische Auslese schulen, S. 8, 11, 175. In einem Beitrag Heißmeyers heißt es: „Der Jungmann verläßt nach achtjähriger Ausbildung die Anstalt mit einem Abschlußzeugnis, das dem Zeugnis der Reife entspricht.“ Neuprägung des deutschen Menschen. Heißmeyer über das Wesen der Nationalpolitischen Erziehungsanstalten, in: Berliner Börsenzeitung, 10. 3. 1939 (BA Berlin, NS 12, 710, Bd. 1).
266 VI. „Hammer und Amboss“ – die Menschenformung in der Praxis Berufsschulabschluss, der keine höheren Bildungszugänge ermöglichte. Auch den deutschen Besuchern blieb dieser zentrale Unterschied nicht verborgen. So schrieb etwa ein Schüler der AHS Thüringen nach einem Besuch beim „Achsen partner“: „Eine weitere Aufgabe war, die italienischen Schulen und Internate kennenzulernen, die ‚Collegios der GIL‘, wie sie sich nannten. Wir waren sehr überrascht, denn sie waren alle in neuen Gebäuden untergebracht und aufs beste ausgerüstet. Ob wir uns die Schulen in Vicenza, Rom oder Venedig ansahen, überall bot sich uns das gleiche, saubere Bild. Jedoch sind sämtliche Collegias [sic!] Spezialschulen, wie man überhaupt großen Wert auf Fach ausbildung legt. Eine Einrichtung wie unsere Adolf-Hitler-Schulen, wo man bemüht ist, dem Schüler möglichst viel Allgemeinwissen anzueignen, gibt es in Italien nicht.“47
Abgesehen von dem problematischen Begriff des Allgemeinwissens ist dieses Urteil jedoch nicht in Gänze zutreffend, da die Schüler in den Collegi nach den regulären Lehrplänen der jeweiligen Schularten unterrichtet wurden, sodass sie zeitgenössische Allgemeinbildung verbunden mit beruflicher Spezialisierung er hielten.
2. Der Internatsalltag „Von aufgeschriebenen Leitsätzen und Regeln kann man sich vielfältig distanzie ren, vom Dabeisein viel weniger,“48 bemerkten vor einigen Jahren Sönke Neitzel und Harald Welzer und betonten damit den Primat der Praxis. Die Tatsache, dass die Praxis wesentlich effizienter bei der Ausprägung bestimmter Charaktereigen schaften als die theoretische Auseinandersetzung mit politischen Inhalten ist, war dem GIL-Kommando scheinbar nur allzu bewusst, sodass die Ausbilder in den Collegi angehalten waren, faschistische Werte gemeinsam mit den Kollegiaten zu leben, anstatt monoton darüber zu referieren. Die Herausnahme aus dem bekann ten Lebensumfeld und das Zusammenleben in einer militärisch geprägten kleinen Gemeinschaft, in der Disziplin, Über- und Unterordnung, Korpsgeist, Kamerad schaft, Uniformierung und Sport tagtäglich gelebt, faschistische und nationale Feiertage gemeinsam begangen wurden, waren dabei zentral für die Modifizie rung der Persönlichkeitskonstruktion. Hinter den Mauern der Collegi konnten die erwünschten Verhaltensweisen bestmöglich vermittelt und internalisiert wer den. Darüber hinaus muss das Alter der Kollegiaten bedacht werden und das da mit einhergehende Bedürfnis nach Gemeinschaft, welches durch die Internats unterbringung in den Collegi befriedigt werden konnte. Die Kollegiaten erlebten dort durch eine vermeintlich „solidarische Jugend“ eine „Volksgemeinschaft im Kleinen“ und fühlten sich recht schnell „brüderlich verbunden“.49 Die Abgeschie 47 Gerhard
Preiß, Unsere Italienfahrt, in: Arbeitsbericht und Elternbrief, Folge 5, Heraus gegeben von der Adolf-Hitler-Schule Thüringen, Arbeitsjahr 1941/42, S. 19–21, hier S. 20 f. (BA Berlin, NS 1, 3048, Bl. 100 f.). 48 Sönke Neitzel/Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a. M. 52011, S. 386. 49 Tre anni di simbiosi, in: Corso Prima Prora [Venedig 1940], s. p.
2. Der Internatsalltag 267
denheit hinter den Mauern erschien den Zeitzeugen zugleich als eine Art Schutz: „Die Mauer schien uns vor den großen Ereignissen zu schützen, die draußen stattfanden, wir waren wie in einer großen Plazenta, wir wurden gut genährt, wuchsen gesund und stark heran.“50 Zugleich konnte durch die Abgeschlossen heit im Internat und die damit einhergehende Herauslösung aus den traditionel len Lebenszusammenhängen die größtmögliche Distanz zu externen Einflüssen, wie Elternhaus oder peer groups, geschaffen und mögliche negative Einflüsse bei spielsweise durch andere Altersgenossen verhindert werden. In zeitgenössischen Artikeln sprach man der Familie gar die Fähigkeit ab, die vollständige Erziehung eines jungen Menschen zu übernehmen.51 Die integrale Erziehung konnten nach der propagandistischen Darstellung ausschließlich die Collegi leisten: „Der Schü ler erwirbt innerhalb des Collegios jene Disziplin und jenes kollektive Bewusst sein, die für die Bildung einer wahren Persönlichkeit unentbehrlich sind.“52 Nur dort konnte die größtmögliche Kontrolle über die Sozialisation der Heranwach senden ausgeübt werden. Zudem erhoffte sich die GIL-Führung durch die Unter bringung von Schülern aus allen Regionen des Landes53 innerhalb einer Einrich tung die Realisierung der alten Forderung des Risorgimento: die Überwindung der regionalen Bezogenheit (campanilismo) zugunsten eines nationalen Gemein schaftsgefühls. Im folgenden Kapitel wird nun der Alltag der Kollegiaten beschrie ben, der maßgeblich dazu beitragen sollte, die jungen Menschen in „neue Italie ner“ zu transformieren.
Jahresablauf Der Jahresplan war durch zahlreiche Feiern, Reisen und Besuche charakterisiert. Vor allem diese außerschulischen Aktivitäten waren es, die die Collegi von den Regelschulen unterschieden. Sie sollten den Schülern eine „faschistische Geistes haltung“ und das „Bewusstsein für die faschistische Kultur“ vermitteln. Nach dem ersten Jahr im Marinecollegio in Venedig fasste die Schülerzeitung die wesentlichen Ereignisse des Schuljahres54 stichpunktartig zusammen: „Inspektion durch S.E. den GIL-Generalkommandanten [Starace] nach fünfzehn Tagen Bestehen – Skilager – Besuch S.E. Alfieri – Zeltlager in Rom und Parade auf der Via dei Trionfi vor dem Duce und dem Führer – Vorführung beim Turn- und Militärfest der GIL – Inspektion und Lob durch S.E. den König – Übergabe der Kriegsflaggen für U-Boote zum 20. Jahrestages des Sieges – und zuletzt die erste Ausbildungsschifffahrt.“55 50 Rossi, Ragazzo del’43, S. 38. 51 Vgl. Vittorio Zincone, Rinascita
della vita di collegio, in: Il lavoro fascista 30. 7. 1938. Vgl. darüber hinaus die positive Besprechung des Artikels in: Fervore di vita nei Collegi della G.I.L., in: DS 39 (1937/38), 37, 15. 8. 1938, S. 593. 52 Feliciani, Collegi della G.I.L., S. 436. 53 Hinsichtlich der regionalen Herkunft kann zumindest für die Schülerschaft des ersten Jahrganges des Collegio navale in Venedig festgehalten werden, dass diese aus allen Regi onen Italiens kam. 54 Die Einteilung des Schuljahres erfolgte gemäß dem Schulkalender des Erziehungsminis teriums und begann demnach Mitte Oktober und endete Mitte Juni. Vgl. Calendario della G.I.L. anno XIX, in: Bollettino GIL, 1. 11. 1940, S. 3–5. 55 Noi del Navale, N° 1, Venedig 1938, s. p. (ACS, MinCulPop, Gabinetto, b. 97).
268 VI. „Hammer und Amboss“ – die Menschenformung in der Praxis Wie man dieser kurzen Aufstellung entnehmen kann, markierten die Besuche durch hohe Amtsträger in den Collegi, Reisen zu Vorführungen, etwa beim Staatsbesuch Hitlers 1938,56 sowie verschiedene Lager und Ausbildungsfahrten die Höhepunkte des Jahres. Ähnlich wie die Akademisten wurden auch die Kolle giaten für allerlei repräsentative Zwecke eingespannt. Dazu zählten Aufmärsche in den Städten der jeweiligen Collegi, wie etwa auf dem Markusplatz in Venedig oder aber auch bei Großveranstaltungen in Rom etwa zum Geburtstag der Ma rine am 10. Juni,57 der Luftwaffe am 28. März,58 auf der Via del Impero zum Tag des „Marsches auf Rom“, zum Jahrestag der Fasci di Combattimento oder dem Tag des Impero, verbunden mit der Übernahme der Ehrenwache vor dem Palazzo Venezia.59 Sowohl die zeitgenössischen Berichte in den Abschlussjahrbüchern als auch die Erinnerungen an die Aufmärsche sind bei allen interviewten Kollegiaten positiv, auch wenn bei den Marinekollegiaten in Teilen der Stolz auf die Marine und nicht der Stolz auf den Faschismus akzentuiert wird, wie folgende Zitate belegen: „Erinnert ihr euch? Mit welch Enthusiasmus machten wir die Aufmärsche im Paradeschritt auf dem Markusplatz!“60 „Wer, unter den Älteren, wird je die denkwürdigen Tage von Rom während des Führer besuches vergessen? Langwierig und mühsam war die Vorbereitung, aber letztlich waren wir wirklich perfekt und unser Paradeschritt triumphierte über die anderen.“61 „Die eindringlichste Erinnerung ist die der Feierlichkeiten zu Ehren des Treffens von Hit ler und Mussolini, an der wir erst in Rom und dann in Neapel teilnahmen. Die Übungen, die wir zu Ehren dieses außergewöhnlichen Ereignisses aufführten, kosteten uns viele Mü hen, aber wir waren stolz, als Ehrengarde am römischen Bahnhof von Ostiense ausgewählt worden zu sein. Die zu Ehren des Gastes im Golf von Neapel aufgeführten Manöver unse rer Flotte, die großartigen Schiffe und das wunderbare Manöver von dreißig U-Booten, die gleichzeitig in perfekter Harmonie auftauchten, ließen in uns Schülern tiefe Emotionen entstehen. Wir waren enthusiastisch, weil wir dachten, dass auch wir bald ein Teil der Ma rine wären. Diese Erinnerungen haben mich während meiner gesamten Zeit als Kämpfer für die Militärmarine begleitet und bewegen noch heute meine Seele. Vergessen sind die schlaflosen Nächte während der Reise Brindisi-Rom und zurück und die in den Schlaf räumen der Fechtakademie der Farnesina, die unendlichen ‚Präsentiert das Gewehr!‘, die schrecklichen Kraftanstrengungen beim römischen Paradeschritt auf der Via dell’Impero. Alles mit Engagement und Begeisterung, nicht nur formal sondern für unsere Marine aus geführt. Wenn es möglich wäre, würde ich es nochmal tun.“62
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mila giovani Camicie nere in armi manovrano alla presenza del Führer e del Duce, in: CdS, 5. 5. 1938, S. 2. 57 Vgl. PNF, FD, Nr. 1340, 3. 6. 1939. 58 Vgl. Il Duce consacra oggi sull’Altare della Patria il valore dei piloti caduti in Africa e in Spagna, in: CdS, 28. 3. 1939, S. 3; Il XVI annuale dell’aeronautica, in: Giornale Luce B1488, 5. 4. 1939; Collegio Aeronautico. La celebrazione dell’annuale dell’arma aerea, in: PdR, 6. 4. 1940, S. 2; La guardia a Palazzo Venezia degli allievi del Collegio aeronautico di Forlì, in: La Stampa, 29. 3. 1940, S. 1. 59 Vgl. La guardia a Palazzo Venezia degli allievi del Collegio aeronautico di Forlì, in: La Stampa, 29. 3. 1940, S. 1. 60 Tre anni di simbiosi, in: Corso Prima Prora [Venedig 1940], s. p. 61 Attività interne, in: MAK-π-100 [Brindisi 1939], S. 29–32, hier S. 30. 62 Ivo Potenza, Se fosse possibile, lo rifarei…, in: Dell’Agnola (Hrsg.), Alzato l’albero, S. 272.
2. Der Internatsalltag 269 „An wie vielen Aufmärschen nahmen wir teil in Rom, Mailand, Innsbruck mit weißen Gamaschen und weißen Patronentaschen und einem Publikum, das uns immer applaudierte.“63
Besonders einprägend waren die GIL-Gymnastikfeste zum 24. Mai, dem Tag des Kriegseintritts Italiens in den Ersten Weltkrieg, bei denen jedes Collegio eine sportlich-militärische Vorführung im Stadio dei Marmi des Foro Mussolini in Rom aufführte.64 Monatelang probten die Schüler für diese Aufführung, die sie schließlich vor Benito Mussolini persönlich vorführten.65 Ein Bozen-Kollegiat er innerte sich: „Die Erinnerung, die mich am meisten beeindruckt hat, war, als ich zusammen mit ande ren Kameraden ausgewählt wurde, nach Rom zu fahren. In Formation und römischem Paradeschritt, mit den Trommlern und dem Startmann liefen wir durch Bozen. Es war 23 Uhr und die Leute auf dem Weg öffneten die Fenster und applaudierten uns. Dann die lange Zugfahrt in die Hauptstadt. In Rom angekommen, wohnten wir in der Farnesina, jeden Tag gingen wir mit den anderen Schulen zum Stadio dei Marmi, um für die Gymnas tikaufführung zu proben, die wir vor dem Duce aufführen mussten. Unsere Schule trat in der Mitte des Stadions auf. Dieser Tag war sehr emotional, ich war so stolz!“66
Ähnlich stolz zeigte sich ein anderer Bozen-Kollegiat: „Wir waren im siebten Himmel. […] Es war eine Reise voller Freude und Heiterkeit. Für die meisten war es das erste Mal, dass sie nach Rom fuhren, die Mythische. Sie waren auf geregt, weil sie zwei Träume realisierten: die Stadt mit den Überresten des antiken Imperi ums zu sehen und vor dem Duce aufzutreten. Zu der Zeit waren das außerordentliche, ich würde sagen einmalige Ereignisse, die die Alten den Enkeln am Feuer erzählen würden. […] Jeden Nachmittag besuchten mich meine Eltern und meine Freunde, denn wir wohn ten nicht weit entfernt. Meine Freunde waren ein bißchen neidisch, sie sahen in mir eine Art Superman und das machte mich stolz und glücklich. […] Es war Sonntag, 15 Uhr und die Bühne war voll mit Autoritäten, auch der Duce war da. Pünktlich liefen alle Gruppen in das Stadion ein, welches so innerhalb kürzester Zeit gefüllt war. […] Jede Gruppe hatte ihre eigene Übung; wir waren die Speerspitze und alle Augen waren nur auf uns gerichtet. Alles verlief tadellos, eine perfekte Übung und unsere Freude und die unserer Erzieher wurde durch das zahlreiche Lob der anwesenden Autoritäten vervollständigt.“67
Auch in den Erinnerungen der Venedig-Kollegiaten waren die Aufmärsche in Rom vor dem Duce und die Gefühle, die sie bei den Kollegiaten evozierten, ein zentrales Thema: „Es war ein Leben, sodass wir uns sehr wichtig fühlten […] Und ich erinnere mich, dass unsererseits Begeisterung herrschte, wir waren alle jung, und sie kamen, um zu sehen, wie wir Marinekollegiaten uns verhielten. Und sie waren begeistert.“68 Und auch die Kollegiaten von Brindisi stellten in ihrem Ab schlussjahrbuch die rhetorische Frage: „Wer wird je den Applaus der römischen Menschenmasse vergessen können, der die Schüler des Marinecollegios bei dem 63 Schreiben Michele Sansonis (Bozen 1939–1943), 14. 8. 2013. 64 Interview mit Iginio Bonoldi (Venedig 1941–1943), 7. 4. 2014-K, S. 11. 65 Interview mit Claudio Bolasco (Bozen 1939–1943), 20. 3. 2014, S. 7;
del’43, S. 28. 66 Schreiben Gherardo Scattolins (Bozen 1941–1943), 23. 9. 2012. 67 Rossi, Ragazzo del’43, S. 28–30. 68 Interview mit I.Z. (Venedig 1939–1942), 11. 4. 2014, S. 1.
Rossi, Ragazzo
270 VI. „Hammer und Amboss“ – die Menschenformung in der Praxis Aufmarsch vor dem DUCE begrüßte.“69 Die Erinnerungen der Kollegiaten be legen eindeutig die emotionale, gemeinschaftsstiftende und mobilisierende Wir kung der Aufmärsche, wenngleich diese schwer zu operationalisieren ist.70 Gemeinsam hatten sie wochenlang unter der Leitung ihrer Erzieher ihre gymnas tischen Choreographien einstudiert, bei der jeder nur ein Rädchen war, aber alle Rädchen harmonisch ineinander greifen mussten,71 um am Ende vor dem Duce und tausenden von applaudierenden und kreischenden Menschen reüssieren zu können. Die Schüler waren emotional überwältigt. Sie waren unendlich stolz und euphorisch ob ihrer im Kollektiv erbrachten Leistungen, internalisierten nahezu nebenbei die zentralen Werte wie Disziplin und Gemeinschaft (Wir-Gefühl) und enthusiasmierten wiederum die Zuschauer, die sich ebenso als Teil dieser perfekt geordneten Gemeinschaft empfanden oder empfinden sollten. Während ihrer Choreographien vermittelten die Kollegiaten beinahe beiläufig die zentralen ideo logisch aufgeladenen Symbole der Zeit, wie etwa das Liktorenbündel, das „M“ oder während des Staatsbesuch Hitlers das Hakenkreuz.72 Die faschistischen Parteifunktionäre, allen voran Starace, ein „pedantischer Verfechter“ dieser das Kollektiv aufwertenden Choreographien, waren sich der wechselseitigen politisch-propagandistischen Funktion solcher Vorführungen be wusst und setzten sie gerne ein.73 Nichtsdestotrotz waren sich die GIL-Oberen wohl einerseits der Abnutzungserscheinungen bewusst und befürchteten anderer seits einen Abfall der schulischen Leistungen, sodass sie die ausufernde Häufig keit der Veranstaltungen in Rundschreiben wiederholt kritisierten und anordne ten, die Schüler der GIL-Institute nur noch für Wettbewerbe oder Veranstaltungen heranzuziehen, die im GIL-Kalender aufgeführt waren.74 Da diese Rundschreiben offensichtlich nur geringe Erfolge zeitigten, sah sich Ettore Muti im April 1940 gar zu einem Verbot veranlasst. Die Kollegiaten durften nur noch für diejenigen Wettkämpfe oder Veranstaltungen angefordert werden, die etwas mit dem Lehr plan und Tagesablauf der Institutionen gemein hatten. Den Provinzkommandos, 69 Addio, in: MAK-π-100 [Brindisi 1939], S. 83 f., hier S. 83. 70 Vgl. zur emotionalisierenden und „berauschenden“ Wirkung
solcher Großkundgebun gen: Christoph Kühberger, Emotionaler Rausch: Zu den Mechanismen der Gefühls mobilisierung auf faschistischen und nationalsozialistischen Festen, in: Árpád von Klimó/Malte Rolf (Hrsg.), Rausch und Diktatur. Inszenierung, Mobilisierung und Kon trolle in totalitären Systemen, Frankfurt a. M. 2006, S. 177–192. 71 Vgl. Starace, Gioventù italiana del Littorio, S. 51. 72 Vgl. Venezia – Istantanee al Collegio della Gil, in: Giornale Luce, C0145, 19. 5. 1941; Forlì – Il Saggio di chiusura degli allievi nel Collegio aeronautico della G.I.L., in: Gior nale Luce, C0145, 19. 5. 1941. So heißt es beispielsweise in einer zeitgenössischen Dar stellung über ein regionales Gymnastikfest der Forlì-Kollegiaten: „Zuerst wird in Sport kleidung eine Stützübung vorgeführt, darauf folgt, in Galauniform und Bewaffnung, eine großartige Demonstration des Grades der Ausbildung mit einem perfekten Manö ver, bei dem drei Figuren gezeigt werden: Die aufgehende Sonne, das Hakenkreuz und das Liktorenbündel. Die Vorführung führte zu enthusiastischen Reaktionen der Be völkerung und einem Lobbrief des Parteiprovinzkommandanten.“ Aspetti della vita di collegio, in: Collegio aeronautico Bruno Mussolini, Forlì, supplemento al n. 18 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 21. 7. 1942, S. 11. 73 Impiglia, Dopolavoristi e balilla, S. 207. 74 Vgl. PNF/GIL, circ. n. 429-1/10, 3. 11. 1939, in: ASLe, GIL, b. 5.
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den GUF und dem CONI war es fortan verboten, auch nur einzelne Schüler für derlei Veranstaltungen einzuspannen.75 An den zentralen Feierlichkeiten nahmen die Kollegiaten jedoch weiterhin teil. Die Internatsschüler reisten nicht nur zu den verschiedenen faschistischen Ver anstaltungen in Italien, sondern erhielten darüber hinaus auch Besuch durch hohe Amtsträger, die sich einen Einblick in den Alltag der zukünftigen Führungs schicht verschaffen wollten. So besuchte beispielsweise der König zweimal das Marinecollegio in Venedig.76 Mussolini besichtigte mindestens drei Mal das Luft waffencollegio „seiner“ Stadt Forlì.77 Diese Besuche führten zum Ausnahmezu stand in den Collegi. Die Tochter eines Zeitzeugen paraphrasierte aus den Briefen ihres Vaters: „In einem anderen Brief spricht er von der großen Unruhe und den Vorbereitungen auf den Besuch von General Starace, denn die Uniform musste perfekt sein und sie mussten in perfekter Ordnung marschieren. Genauso wie zum Besuch des Königs.“78 Neben diesen Besuchen und Vorführungen spielten die zahlreichen Gemein schaftsfahrten eine bedeutende Rolle. Dazu zählte etwa die obligatorische „Pilger reise“ der Kollegiaten nach Predappio und San Cassiano, zum Geburtsort Musso linis und der Krypta der Familie Mussolini.79 Darüber hinaus konnten verdiente Kollegiaten aus Venedig und Brindisi seit 1938 eine Ausbildungsschifffahrt auf der San Giorgio absolvieren.80 Mehrere Wochen waren die Kollegiaten unterwegs, um nicht nur ihre Marinekenntnisse zu verbessern, sondern vor allem um das mare nostro zu erkunden, die römischen Hinterlassenschaften zu studieren und gleichsam die glorreiche römische Vergangenheit nachzuempfinden. Dabei be suchten sie während der ersten Kreuzfahrt unter anderem Bengasi, Tobruk, Alexandria, Beirut, Rhodos, Thessaloniki, Leros, Korfu, Triest, Sibenik und 75 Vgl. 76 Vgl.
PNF, FD, Nr. 122, 26. 4. 1940. Il RE IMPERATORE visita a Venezia il Collegio navale della G.I.L., in: Bollettino GIL, 15. 6. 1938, S. 1; Il Sovrano visita la XXI Biennale di Venezia, in: CdS, 10. 6. 1938, S. 1; Venezia. Vittorio Emanuele visita il collegio navale della Gil, in: Giornale Luce B1329, 30. 6. 1938; Il Sovrano inaugura a Venezia la Mostra del Veronese, in: CdS, 26. 4. 1939; Venezia. La visita del Re al collegio navale della Gil, in: Giornale Luce B1507, 3. 5. 1939. 77 Vgl. Il DUCE visita a Forlì il collegio aeronautico della Gioventù italiana del Littorio, in: Bollettino GIL, 1. 1. 1939, S. 65; Il Duce inaugura il villaggio rurale „Alessandro Musso lini“, in: CdS, 29. 12. 1938, S. 1; Al collegio aeronautico della Gil, in: PdR, 31. 12. 1938, S. 2 f.; Le visite del Duce ad alcune zone della provincia di Forlì, in: CdS, 27. 4. 1939, S. 1. 78 Mitteilung der Tochter Giandanese Berninis (Venedig 1937–1938), 6. 2. 2017. 79 Vgl. etwa Attività dei collegi e accademie della G.I.L., in: GdL, 1. 6. 1941, S. 430; Attività delle accademie e collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 11. 1941, S. 57; Omaggio alle tombe dei genitori del Duce degli allievi del nuovo collegio di Forlì, in: CdS, 25. 10. 1938, S. 5; Gli allievi del Collegio Aeronautico rendono omaggio alle Tombe dei Genitori del Duce, in: PdR, 29. 10. 1938, S. 5. 80 Besonderen Einblick in diese Ausbildungsschifffahrt gibt das Fotoalbum des Erziehers und Farnesina-Absolventen Silvio Valente, welches im Istituto piemontese per la storia della Resistenza e della società contemporanea „Giorgio Agosti“ archiviert wird (Archivio Istoreto, fondo Valente Silvio, Album fotografico Campagna navale XVII) und auch online eingesehen werden kann: http://www.metarchivi.it/dett_fascicoli.asp?id=3266& tipo=fascicoli [18. 7. 2017].
272 VI. „Hammer und Amboss“ – die Menschenformung in der Praxis T ripolis.81 In dem Abschlussjahrbuch heißt es dazu: „Afrika empfing uns festlich; unter dem blauen Himmel sahen wir sich ätherartig die Säulen von Kyrene er heben, eine großartige Hinterlassenschaft römischer Legionäre.“82 Die Kreuzfahrt des Jahres 1939 führte die von der Presse als „Musketiere Mussolinis“ bezeich neten Kollegiaten wenig überraschend nach Spanien und Albanien.83 Die gewon nenen Eindrücke schlugen sich im Abschlussjahrbuch nieder: „Den Boden betre tend, gehen unsere Gedanken an die italienischen Legionäre, die für die spanische Befreiung gekämpft haben und gestorben sind.“84 Zudem konstatierten die Kol legiaten, dass sich Albanien glücklich schätzen könne, ob seiner „verbesserten Zivilisation durch den Willen Roms“.85 Damit unterstrichen sie den Anspruch des Faschismus, das Licht der Zivilisation in die vermeintlich noch unzivilisierten Re gionen der Welt zu tragen. Auch während des Krieges hielt man an diesen Mittel meerfahrten fest, auch wenn sie nun wegen der Gefahren weniger ausgedehnt ausfielen.86 Zusätzlich richtete die GIL nach dem erstmaligen Sommermarine lager 1941 in Sabaudia im Sommer 1942 ein einmonatiges Kadettenlager in Vene dig für die Schüler der Marinecollegi ein.87 Den Forlì-Kollegiaten winkte hingegen seit 1939 zum Abschluss jeden Schul jahres ein Sommerlager auf dem Flugplatz von Pavullo. Die Schüler erhielten da bei ihre feierliche Lufttaufe und hatten die Möglichkeit, einen Segelflugschein zu erlangen.88 Die Waisen aus Turin und Lecce, die ihre Väter oder näheren Ver wandten während des Spanischen Bürgerkrieges verloren hatten, fuhren 1942 auf Einladung der spanischen Jugendorganisation für einen Monat nach Spanien. Dabei besuchten sie neben Barcelona, Madrid und Toledo vor allem die zentralen Kriegsschauplätze und den italienischen Friedhof in Santander.89 Die Bozner 81 Vgl.
Viaggio d’istruzione degli allievi dei Collegi navali G.I.L., in: Bollettino GIL, 15. 7. 1938, S. 2; Il viaggio d’istruzione marinara dei Collegi navali della G.I.L., in: CdS, 7. 7. 1938, S. 2; Le festose accoglienze di Rodi ai reparti reduci delle manovre, in: CdS, 13. 8. 1938, S. 2; Viaggio d’istruzione degli allievi dei Collegi navali G.I.L., in: Nazione Militare 13 (1938) August/September, S. 724. 82 La prima campagna, in: Corso Prima Prora [Venedig 1940], s. p. 83 Vgl. La Divisione navi-scuola ancorata nel porto di Durazzo, in: CdS, 4. 8. 1939, S. 1; I Moschettieri del Duce hanno lasciato Valona, in: CdS, 5. 8. 1939, S. 2; Omaggio alle terre mussoliniane degli allievi dell’Accademia di Livorno, in: CdS, 12. 8. 1939, S. 4; La nave scuola „San Giorgio“ nel porto di Taranto, in: La Stampa, 28. 7. 1939, S. 1; La San Giorgio a Genova, in: La Stampa, 4. 7. 1939, S. 2. 84 La seconda campagna, in: Corso Prima Prora [Venedig 1940], s. p. 85 Ebenda. 86 Vgl. Crociera, in: Corso Delfino [Venedig 1943], S. 42–44. 87 Vgl. Relazione sull’attività e sviluppo della premarinara, anno 1940–41, S. 45 f., in: ACS, Ministero della Marina, Gabinetto 1934–50, b. 452; Attività delle accademie e collegi della G.I.L., in: GdL, 1. 9. 1942, S. 696. 88 Vgl. Bericht des Ispettore delle scuole, F. Zapelloni, Corso volo a vela per gli allievi del Collegio Aeronautico di Forlì, 29. 7. 1939, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1939, b. 40, f. Collegio aeronautico Forlì – Attività aeronautiche. Vgl. darüber hinaus den Schriftwechsel in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1940, b. 161, f. Collegio aeronautico di Forlì – Campo estivo di Pavullo. 89 Vgl. Dal diario storico del collegio, in: Collegio „M.O. Aldo Fiorini“ per orfani di guerra, Lecce, supplemento al n. 18 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 21. 7. 1942, S. 8; Dal diario storico del collegio, in: Collegio „M.O. Aldo Fiorini“ per orfani di guerra,
2. Der Internatsalltag 273
Kollegiaten übten sich hingegen in Sport und Kameradschaftsgeist am Pragser Wildsee.90 Und auch im Winter kam die gemeinschaftliche, sportlich-militärische Betätigung nicht zu kurz. Dafür sorgte das jährlich stattfindende Skilager in den Dolomiten (Gadertal), bei dem die Schüler Übungen im Schnee mit Ski und Gewehr durchführen mussten.91 Während sich die Kollegiaten aus Brindisi im kalabrischen Silagebirge beim Skilauf maßen,92 trafen sich die Kollegiaten aus Venedig, Udine und Forlì zum Skilager in der Colonia alpina della GIL in Tarvisio bei Udine oder in Asiago zum winterlichen Kräftemessen.93 Zentral im Jahresablauf waren zudem die Feierlichkeiten zur Würdigung katho lischer Heiliger sowie faschistischer Kämpfer und der Königsfamilie. In den Kapel len der Collegi feierten Schüler wie Personal Messen etwa zu Ehren der Schutzpat roninnen der Flieger oder der Marine. Es wurden Gedenkfeiern zu Ehren von Ar naldo Mussolini abgehalten, während derer die Schüler dessen Schriften verlasen.94 Nach dem Tod Bruno Mussolinis wurde ein ähnlicher Kult um ihn gepflegt. Darü ber hinaus mussten die Schüler mit Voranschreiten des Krieges immer häufiger als Ehrenformation an den Beerdigungen von Gefallenen teilnehmen.95 Aber auch der Geburtstag und der Namenstag des Königs wurde in den Collegi feierlich began gen.96 Dies alles waren Beispiele für die „Nutzung faschistischer Feiertage und Epi soden aus dem Leben der Nation, um die Aufmerksamkeit und Reflexion der Schü ler darauf zu richten und damit den faschistischen Geist zu erheben“, da man mit „Weitschweifigkeit, Monotonie, trockener Pedanterie und emphatischen Gemein plätzen“ die Herzen der Schüler nicht erobere, wie die GIL-Führung dozierte.97 Diese zahlreichen außerschulischen Aktivitäten, allen voran die Großveranstal tungen in Rom, berührten die Schüler zutiefst emotional und vermittelten ihnen das Gefühl, zu den Auserwählten des Landes zu gehören. Auch mit der Distanz von etwa acht Jahrzehnten hat gerade diese „Performanz der Auserwähltheit“ nachdrücklich Eindruck hinterlassen, sodass noch heute viele der befragten Zeit zeugen dem faschistischen Regime mit großer Dankbarkeit gegenüberstehen. Lecce, supplemento al n. 24 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 21. 10. 1942, S. 9; Figli di caduti di spagna in raccoglimento sulle tombe dei padri, in: Ebenda, S. 6. Der für das folgende Jahr anvisierte Besuch konnte höchstwahrscheinlich aufgrund der Absetzung Mussolinis nicht mehr realisiert werden. Vgl. Comandante A. Grassi an Lucia Dioguardi, 13. 7. 1943, in: ASLe, Com. Prov. G.I., b. cartelle allievi lettera D (15), f. Dio guardi, Giuseppe. 90 Vgl. Note di vita atesina, in: Atesia Augusta III (1941), 8, S. 36. 91 Vgl. etwa die ausführliche Beschreibung in: Rossi, Ragazzo del’43, S. 45–52; Notiziario di vita alto atesina, in: Atesia Augusta III (1941), 2, S. 51; Campo invernale e specializzazio ne militare, in: Atesia Augusta III (1941), 3, S. 40. 92 Vgl. Campo invernale, in: MAK-π-100 [Brindisi 1939], S. 59 f. 93 Vgl. PNF, Collegio navale GIL Venezia, Circolare n. 3: campo sciatorio, 9. 12. 1939, in: AdV; Notiziario, in: CdS, 12. 2. 1939, S. 4; Opera Balilla, Collegio navale di Venezia. Sta tuto e regolamento, S. 3. 94 Vgl. PNF, FD, Nr. 928 bis, 12. 12. 1937; Nr. 33, 20. 12. 1939; Nr. 21, 13. 12. 1940. 95 Vgl. etwa Attività dei collegi e accademie della G.I.L., in: GdL, 15. 4. 1941, S. 315; Gli allievi del Corso „Dardo“ del Collegio Aeronautico rendono omaggio ai caduti, in: PdR, 27. 3. 1943, S. 2. 96 Vgl. Attività delle accademie e collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 12. 1941, S. 145. 97 Disposizioni di carattere permanente, in: Bollettino GIL, 15. 8. 1939, S. 344.
274 VI. „Hammer und Amboss“ – die Menschenformung in der Praxis
Tagesablauf „Hier im Collegio ist die Trompete die treue Gefährtin des Schülers während des gesamten Tages.“98 Der Tagesablauf in allen Collegi glich dem einer Kaserne und wurde durch den Klang der Trompete strukturiert.99 So nahm die Erinnerung an diesen speziellen Klang eine zentrale Bedeutung ein, der die Kollegiaten auch noch Jahrzehnte später an ihr militärisch organisiertes Leben in den Collegi erin nerte. Von Montag bis Samstag fand in den Collegi vormittags der Unterricht statt, der Sonntag wurde für die „Messe, gemeinsame Übungen, Zeremonien, Ausflüge [und] Vorträge“ genutzt.100 Auch wenn der Tagesablauf je nach Collegio oder in Abhängigkeit von der Jahreszeit leicht variieren konnte, war der Ablauf doch weitestegehend wie folgt strukturiert: Montag bis Samstag101 militärisches We cken um 6.00 Uhr, danach hatte jeder Kollegiat eine halbe Stunde für die persön liche Hygiene sowie die Ordnung des Bettes. Wie in militärischen Einrichtungen üblich, war auch in den Collegi das einheitliche, akkurate Herrichten des Bettes eine beliebte Disziplinierungsmaßnahme: „Das erste, was mir mein Erzieher bei brachte, war das Bett zu machen, er hielt sich besonders lange an der Decke auf. […] aus Gründen der Ästehtik, der Präzision und der Ordnung mussten die Lini en exakt auf der einen wie auf der anderen Seite liegen.“102 Für einige Schüler, besonders diejenigen, die zuvor in religiösen Internaten gelebt hatten, war jedoch vor allem die persönliche Hygiene eine große Herausforderung. Das gemeinsame nackte Duschen beschrieben sie als anfänglichen Kulturschock. Sie waren es bis dahin gewohnt, in geschlossenen Boxen mit Unterwäsche zu duschen und führ ten die Tatsache der freien Körperpflege als Beleg für den progressiven Charakter des faschistischen Regimes an.103 Auf die Morgenhygiene folgten der gemeinsame Frühsport im Innenhof zu al len Jahreszeiten sowie die Flaggenhissung.104 Ein zeitgenössischer Erinnerungs bericht beschrieb die Erfahrung der Abhärtung: „Wir lernten, dass 6.30 Uhr nicht dem Schlaf gewidmet ist, sondern der Gymnastik mit nacktem Oberkörper, auch 98 99
La tromba, in: MAK-π-100 [Brindisi 1942], S. 42. Vgl. D.M., Spunti di vita interna, in: Collegio della G.I.L. di specializzazione militare, Bolzano, supplemento al n. 5 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., s. d. [Frühjahr 1943], S. 3. 100 Vgl. das unpaginierte und undatierte Reglement des Collegios Lecce, in: ASLe, Prefet tura, Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455. 101 Vgl. Opera Balilla, Collegio navale di Venezia. Statuto e regolamento, S. 13; Annuario del Collegio Navale G.I.L. Venezia. Anno 1937–38, S. 66; Schreiben Feliciano Ciardis (Venedig 1939–1942), 27. 6. 2012; Schreiben Antonio Borgognonis (Bozen 1939–1943), 28. 7. 2012; Schreiben Francesco Riccis (Bozen 1942–1943), 12. 8. 2012; Rossi, Ragazzo del’43, S. 14. 102 Ebenda, S. 13. 103 Schreiben Giorgio Gasparinis (Venedig 1939–1942), 20. 8. 2012, S. 2; Interview mit Igi nio Bonoldi (Venedig 1941–1943), 7. 4. 2014-K, S. 9; Schreiben Virgilio Bernardinos (Lecce 1941–1946), 24. 5. 2014. 104 Schreiben Giancarlo Pasinatis (Venedig 1941–1943), 31. 10. 2012; Schreiben Giorgio Gasparinis (Venedig 1939–1942), 20. 8. 2012, S. 2; Schreiben Pietro Buiarellis (Bozen 1942–1943), 23. 2. 2012.
2. Der Internatsalltag 275
bei eisiger Kälte.“105 Zur Förderung des Zusammengehörigkeitsgefühls hatte jedes Collegi ein eigenes Lied, welches nach der Fahnenhissung gesungen wurde.106 Danach ging es gemeinsam in Reih und Glied zum Frühstück. Erst nach der Wei sung, sich setzen zu dürfen, nahmen alle gemeinsam Platz. Beim Frühstück wurde den Schülern der Tagesbefehl vorgetragen. Dabei wurden das Motto des Tages verlesen sowie Belobigungen und Bestrafungen ausgesprochen. Der Eintrag eines Bozen-Kollegiaten in sein Tagebuch veranschaulicht diesen Ritus: „Beim heutigen Tagesbefehl wurden zwölf Bestrafte der 1. Kompanie gemeldet. Mein Banknach bar erhielt viermal Ausgehverbot, weil er sich während der Formation der Kom panie unkorrekt verhalten hat.“107 Nach dem Frühstück ging es gemeinsam auf die Stube zur Inspektion des Bettes. 8.30 Uhr begann der Unterricht. Während des Unterrichts waren die Schüler, ebenso wie die übrige Zeit, streng dazu angehalten, Italienisch zu sprechen und den Dialekt zu vermeiden.108 Diese Forderung erinnert sehr an die Ziele Riccis, der mit dem Sprechen der italienischen Hochsprache und dem Verdrängen der Dialekte einen wichtigen Punkt bei der Schaffung „der“ Italiener verband. Auf den Unterricht folgte das Mittagessen. Die Mensa wurde gemeinsam in militäri scher Einheit betreten. Während des Krieges mussten die Schüler vor dem Mit tagessen stehend der Lesung des Kriegsbulletins lauschen, dann folgte das Signal seduti und die hungrigen Schüler durften sich setzen.109 Das Essen wurde den Schülern der Marinecollegi durch Kellner mit weißen Handschuhen – eine Etiket te, die alle Zeitzeugen hervorheben – serviert. In anderen Collegi brachten die Kellner die Servierschüsseln an den Tisch und der capo-tavolo trug die Verant wortung für die Verteilung des Essens sowie für die Ruhe und Ordnung am Tisch.110 An das Mittagessen schlossen sich je nach Ausrichtung des Collegios zwei Stunden sportliche, militärische oder berufliche Übungen an. Die jüngeren Schüler in Bozen gingen hingegen nach dem Mittagessen zu einem kurzen Mit tagsschlaf auf die Stube. Nach der Vesper lernten alle Schüler gemeinsam in der
105 Tre anni di simbiosi, in: Corso Prima Prora [Venedig 1940], s. p. 106 Vgl. Inni, in: Noi del Navale, Dezember 1938, S. 4 (ACS, MinCulPop,
Gabinetto, b. 97); PNF/GIL, Accademie e Collegi della G.I.L., Canti della Patria e della Rivoluzione, a cura del Collegio Magistrale della G.I.L. Udine, Udine 1939 (die darin enthaltenen Liedtexte: Giovinezza, La canzone dell’ardito, Impero, La preghiera del Legionario prima della Battaglia, Inno del Balilla, La marcia delle legioni, Giovani fascisti, All’armi!, Camicia nera, Inno dei fascisti, Etiopia, Inno degli studenti universitari fascisti, Inno a Roma, La leggenda del Piave, Saluto al Duce, All’Armi! Roma chiamò!, Guerra, guerra, Inno di Garibaldi, Strofette fasciste, Duce – A noi! Inno del Collegio magistrale della G.I.L. – Udine, Partono le squadriglie, Canzone della nave, Inno di mameli); Schreiben Gherardo Scattolins (Bozen 1941–1943), September 2012, S. 1. 107 Diario Silvano Traina (Bozen 1942–1943), 17. 3. 1943, S. 13. 108 Vgl. das unpaginierte und undatierte Reglement des Collegios Lecce, in: ASLe, Prefet tura, Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455. 109 Interview mit Iginio Bonoldi (Venedig 1941–1943), 7. 4. 2014-O, S. 17; Interview mit Falco Accame (Venedig 1939–1943), 24. 3. 2014, S. 9; Schreiben Pietro Buiarellis (Bozen 1942–1943), 23. 2. 2012. 110 Vgl. das unpaginierte und undatierte Reglement des Collegios Lecce, in: ASLe, Prefet tura, Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455.
276 VI. „Hammer und Amboss“ – die Menschenformung in der Praxis Aula Magna. 20.00 Uhr nahmen alle Kollegiaten gemeinsam ihr Abendessen ein. Darauf folgte die Flaggeneinholung. Dann ging es auf die Stube. Für jede Stube gab es im Übrigen einen capo-camerata, der für Ordnung und Disziplin auf der Stube verantwortlich war und wöchentlich dem 2. Kommandan ten Bericht über den Zustand erstattete.111 Die kurze allabendliche Erholungspha se auf der Stube sollten die Kollegiaten laut Reglement dafür nutzen, Bücher oder Zeitungen zu lesen, Briefe zu schreiben oder sich mit Spielen wie Dame oder Schach zu unterhalten.112 21.30 Uhr wurde das Licht ausgeschaltet. Aufgrund der zahlreichen Aktivitäten und der minutiösen Taktung während des Tages seien die Schüler abends todmüde in ihre Betten gefallen, ohne die Kraft zu haben, die Ge schehnisse innerhalb der Collegi kritisch zu reflektieren: „Wir waren so vom Geist des Nacheiferns eingenommen, den sie uns gut eingetrichtert hatten, nicht nur zwischen den Kompanien und den Zügen, sondern auch untereinander, wer ist besser in der Schule, bei den Gymnastikübungen, beim Hindernislauf, im Ausein ander- und Zusammenbauen der Waffen. Wir machten alles mit so viel Enthusiasmus und Einsatz, dass wir abends, wenige Minuten nachdem wir im Feldbett lagen, tief schliefen.“113
Samstags wurden die Namen derer ausgehängt, die mit einer Ausgangssperre be legt waren, sowie die erzielten Noten der Woche, nach denen ebenfalls entschie den wurde, wer am Sonntag das Collegio verlassen durfte. Auf den Sonntag fieberten alle Kollegiaten hin. An dem Tag konnten sie länger schlafen. Dann ging es zur Messe, gefolgt von Frühstück, Bettkontrolle, Gesang und Militärkunde, Lernen, Mittagessen, Aufstellung aller für den Freigang, Kontrolle der Uniform und endlich der lang ersehnte Ausgang von 13.45 Uhr bis 18.00 Uhr.114 Doch bei dem Ausgang gab es eine Zwei-Klassen-Gesellschaft, die humoristisch in einem venezianischen Abschlussjahrbuch thematisiert wird: „Inzwischen ist es schon 12 Uhr, und jene, die ins Besuchszimmer gerufen wurden, dürfen nach den üblichen Maßnahmen das Collegio verlassen. Jene, zum Großteil Schnorrer und Schmarotzer, Barone, Grafen und Marquise, ziehen die Straße entlang […] Der Ausgang Punkt um 12 Uhr ist darüber hinaus ein Privileg des Federale [d. h. Graf Pio TeodoraniFabbri].“
Die Kollegiaten ohne Beziehungen mussten demzufolge noch länger auf ihren „Freigang“ warten. Im Hinblick auf die Rückkehr lautete die Kritik ähnlich: „Es sind alle da, außer den Adligen, den Schmarotzern und denjenigen mit Beziehun gen; diese genießen das Abendessen auswärts.“115 An dieser kurzen Episode zeigt sich recht deutlich, dass es weiterhin Privilegien für bestimmte Gruppen gab, die jedoch nicht von deren Leistung, sondern einzig und allein von deren Geburt oder Beziehungen abhingen und somit bereits im Kleinen die offiziellen Ansprü che konterkarierten. Außerdem unterliefen diese Ausnahmen auch das strenge Reglement der Collegi, das vorsah, dass Kollegiaten nicht auswärts essen durften, 111 Vgl. ebenda. 112 Vgl. ebenda. 113 Rossi, Ragazzo del’43, S. 17. 114 Vgl. Stundenplan Adriberto Mayer (Venedig 1938–1941), 115 Franchigia, in: Corso Sagittario [Venedig 1942], s. p.
s. d., in: AdV.
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Abb. 14: Tagesablaufplan Marinecollegio Venedig, undatiert (AdV)
278 VI. „Hammer und Amboss“ – die Menschenformung in der Praxis da dies zu Magenverstimmungen führen konnte.116 Beim Ausgang war auch strengstens darauf zu achten, ein unehrenhaftes Verhalten oder ein schlampiges äußeres Erscheinungsbild zu vermeiden. Die Kollegiaten mussten laut Reglement eine tadellose Uniform tragen, durften diese nicht aufknöpfen, ihre Mütze nicht abnehmen und mussten andere Uniformierte entsprechend ihres Ranges grüßen. Der militärische Habitus sollte diesen Jugendlichen in Fleisch und Blut übergehen und somit der vermeintlich typische italienische Müßiggang ausgetrieben wer den. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass das Istituto LUCE für die beiden Vorzeigecollegi in Venedig und Forlì Werbefilme produzierte, die Episoden des täglichen Lebens in heiterer und idealisierter Form zeigen.117 Den tagtäglichen militärischen Drill innerhalb dieser Einrichtungen bilden diese Propagandafilm chen jedoch in keiner Form ab.
Weltanschaulische, sportliche und militärische Erziehung Laut Reglement der Collegi zielten die sogenannten praktischen Unterweisungen darauf ab, „den Schülern jene kraftstrotzende Gesundheit, jenes martialische Verhalten, jenen kriege rischen Charakter, jenes militärische und politische Bewusstsein, jene Disziplin, jenes Ehrund Pflichtgefühl zu vermitteln, die die Ziele der faschistischen Revolution und der For mung des neuen Italieners sind. Die praktischen Unterweisungen umfassen Turnen und Sport, Fechten, formale Ausbildung an den Waffen allein und in der Einheit, Ausflüge und Märsche, Wettkämpfe innerhalb des Collegios, Ausbildung im Benehmen, Lesen und Kommentierung politischer Zeitungen, Chorgesang und Kommandoschule.“118
Weltanschulische Schulung, sportlicher Wettkampf, militärische Ausbildung so wie Benimmschule sollten in den „Schmieden des neuen Menschen“ demzufolge Hand in Hand gehen, um die jungen Menschen ganzheitlich zu erziehen. Die weltanschaulische Schulung durfte nicht zu theoretisch, zu monoton, durch zu viele Vorträge erfolgen. Neben dem Vorleben und Erleben zentraler Werte119 sollten wesentliche Ideen durch Theaterstücke, das gemeinsame Sehen von Pro pagandafilmen oder das Singen und Musizieren von eingängigen faschistischen Liedern vermittelt werden. Dafür erarbeiteten und übten die Schüler auch unter der Leitung ihrer Erzieher eigene Theaterstücke ein und führten sie im Collegio 116 Vgl.
das unpaginierte und undatierte Reglement des Collegios Lecce, in: ASLe, Prefet tura, Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455. 117 Vgl. Il Collegio navale della GIL a Venezia, in: Giornale Luce C0044, 7. 6. 1940; Ansia di volo, 1942, D034804. 118 Unpaginiertes und undatiertes Reglement des Collegios Lecce, in: ASLe, Prefettura, Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455. 119 Zentral für die politische Erziehung waren laut Bonamici Gespräche, Erläuterungen zu den aktuellen politisch-militärischen Ereignissen, die Lektüre von Büchern, Artikeln und anderen Propagandaerzeugnissen, aber vor allem das lebende Beispiel sowie die überzeugenden und anregenden Worte der Erzieher und Kommandanten. Vgl. Bona mici, Accademie e collegi. Direttive per le Accademie e i collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 1. 1943, S. 192.
2. Der Internatsalltag 279
Abb. 15: Forlì-Kollegiaten beim Lesen ausgewählter Presseerzeugnisse, undatiert (Archivio Cesare Valle, CV-FOT-061)
oder den städtischen Theatern auf.120 Darüber hinaus waren die Kollegiaten an gehalten, an den Ludi Juveniles, einem Wettbewerb für junge Faschisten, der auf den Gebieten Kunst, Kultur und Leibesertüchtigung ausgetragen wurde, teil zunehmen.121 Anfang 1942 änderte sich die Haltung der GIL und die politische Bildung wurde durch „Vorträge zur faschistischen Kultur“ intensiviert.122 Einige Zeitzeugen aus Bozen123 und Venedig,124 die in den 1940er Jahren die Collegi besuchten, erinnerten sich an diese Unterweisung in „faschistischer Mystik“ bzw. „faschistischer Kultur“: „Wir hatten eine Stunde das, was sich faschistische Mystik nannte. Sie lehrten uns – so wie jemand in der Kirche den Katechismus lernt – lernten wir theoretisch Faschisten zu werden.“125 In einem Vierteljahresbericht 120 Vgl.
Attività dei collegi e accademie della G.I.L., in: GdL, 1. 6. 1941, S. 430; Attività delle accademie e collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 1. 1942, S. 227; Attività delle accademie e collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 4. 1942, S. 434; Aspetti della vita del Collegio, in: Colle gio aeronautico Bruno Mussolini, Forlì, supplemento al n. 12 del Bollettino del Coman do generale della G.I.L., 22. 4. 1942, S. 5. 121 Vgl. etwa Attività dei collegi e accademie della G.I.L., in: GdL, 1. 4. 1941, S. 280; Attività dei collegi e accademie della G.I.L., in: GdL, 15. 5. 1941, S. 392; La partecipazione ai Ludi Juveniles delle Accademie e Collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 3. 1942, S. 355. 122 Vgl. Attività delle accademie e collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 2. 1942, S. 293. 123 Vgl. Interview mit Giuseppe Cinquepalmi (Bozen 1940–1942), 23. 4. 2014-O, S. 9. 124 Vgl. Interview mit Iginio Bonoldi (Venedig 1941–1943), 7. 4. 2014-O, S. 3. 125 Interview mit Silvano Traina (Bozen 1942–1943), 18. 3. 2014, S. 9.
280 VI. „Hammer und Amboss“ – die Menschenformung in der Praxis des Bozner Collegios werden unter dem Schlagwort „faschistische Kultur“ folgen de Veranstaltungen aufgeführt: „Lesung und Kommentierung der Kriegsbulletins, geistige Teilnahme am Krieg, allgemei ne Orientierung auf die Kriegssituation sowie Innen- und Außenpolitik. Vorträge zu fol genden Themen: ‚Die faschistische Kultur‘, ‚Italien von 1870 bis 1914‘, ‚Krieg und Frieden‘, ‚Auf dem Weg zur Befreiung‘, ‚Die Eroberung, die Schlacht, der Sieg‘, ‚Der Wiederaufbau‘, ‚Die faschistische Revolution‘, ‚Der Einheitsstaat‘, ‚Italien und das Ausland‘, ‚Die Kolonien‘, ‚Mare nostrum‘, mit besonderer Berücksichtigung des Enthusiasmus und der Gefühle, die diese Kenntnisse in der Seele des Schülers hervorrufen.“126
Auch in dieser Zusammenfassung wird der Fokus der Emotionalisierung der Schüler deutlich, die durch die Art der Präsentation der Vorträge gefühlsmäßig angesprochen und nicht mit historischen Daten und Fakten abgespeist werden sollten. Darüber hinaus gab der Parteisekretär Anweisungen, welche Schriften oder Zeitungsartikel in den Collegi verlesen oder gemeinsam gelesen werden und wel che Bücher in den Bibliotheken präsent sein sollten.127 Jedes Collegio besaß eine, häufig nach einem Kriegshelden benannte, Schul- und eine Lehrerbibliothek mit umfangreicher Ausstattung.128 Dazu zählten beispielsweise die Publikationen der Reihen Panorami di vita fascista und Quaderni della Scuola di mistica fascista sowie die Zeitschrift Difesa della Razza. Darüber hinaus fanden sich in den Bibliotheken die Schriften Benito und Arnaldo Mussolinis, Roberto Farinaccis, Italo Balbos, Giuseppe Bottais, Nicola Pendes oder Guido Landras, aber auch technische Nachschlagewerke sowie griechische und lateinische Fachbücher oder die Schriften bedeutender römisch-italienischer Schriftsteller wie Dante und Cicero.129 Angesichts der Präsenz von Schriften Guido Landras’ und der Zeitschrift Difesa della Razza stellt sich auch die Frage, welche Bedeutung die Rassengesetze im 126 Relazione
sintetica delle attività svolte al Collegio nel trimestre gennaio – febbraio – marzo XX, in: Collegio della G.I.L. di specializzazione militare, Bolzano, supplemento al n. 12 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 21. 4. 1942, S. 11. 127 Vgl. etwa PNF, FD, Nr. 1209, 8. 12. 1938. 128 Laut offizieller Berichterstattung umfasste die Bibliothek in Forlì 6000 Titel. Vgl. Alla presenza del Duce si è inaugurato a Forlì il Collegio aeronautico della G.I.L. intitolato al nome eroico di „Bruno Mussolini“, in: GdL, 15. 10. 1941, S. 819. Die Bibliothek in Brin disi wurde nach Pietro Pagni benannt, der kurz zuvor auf dem Schiff Benedetto Brin sein Leben gelassen hatte. Vgl. Attività delle accademie e collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 12. 1941, S. 145. 129 Vgl. Disposizioni di carattere permanente, in: Bollettino GIL, 15. 8. 1939, S. 344; Katalog Der Buchbestand der Schule für militärische Ausbildung der Bozner GIL, in: Andrea Di Michele/Fiorella Menini (Hrsg.), Libri sotto il littorio. Due fondi librari del periodo lenco fascista a Bolzano, Rovereto 2009, S. 169–273; Commissario provinciale della GI, E alfabetico dei libri di studio appartenenti ad allievi dell’ex collegio navale G.I.L. di Vene zia, pubblicazioni apologetiche e di propaganda del cessato regime, libri vari, rassegne e riviste del sopracitato collegio GIL, s. d., in: Archivio Generale della Giunta Regionale del Veneto, ExGIL, b. 93, f. biblioteca. Vgl. darüber hinaus die Listen in: Rektor Carlo Parri an Comando del Collegio Navale O.B. Saronno, Ricognizione materiale biblio grafico e scientifico che ha seguito il Collegio, 26. 1. 1945, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Registri vari, Collegio Navale GIL, Venezia, b. 1354.
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Rahmen der weltanschaulischen Unterweisung in den Collegi spielten, die die meisten Zeitzeugen jedoch nicht beantworten wollten oder konnten. Lediglich ein Zeitzeuge gab an, dass man die Rassengesetzgebung in Anbetracht der Verschie denartigkeit der Italiener belächelt habe: „Als wir über die Rassengesetze spra chen, machten wir Scherze. Wir waren aus ganz Italien. Sizilianer, die Beduinen ähnelten, bis hin zu den nordischen Südtirolern, da von einer italienischen Rasse sprechen zu wollen, war also unmöglich.“130 Der Bozner Historiker Andrea Di Michele, der die Reste der Bibliothek des Bozner Collegios analysierte, kommt zu dem Ergebnis, dass die „359 Bücher und Zeitschriften, die erhalten geblieben sind, [.] ein deutlicher Ausdruck faschisti scher Ideologie und Propaganda“ sind, die einen „nationalfaschistischen, kriege rischen, das antike Rom verherrlichenden, katholischen und imperialen Charak ter“ tragen.131 Aufgrund der Tatsache, dass nicht mehr rekonstruierbar ist, welche der Titel Teil der Schüler- und der Lehrerbibliothek waren, ob manche Titel nicht für Schüler bestimmt waren und wie hoch die Ausleihfrequenz war, ist es schwie rig zu rekonstruieren, inwieweit die vorhandenen Bücher überhaupt konsultiert wurden und ob jene mit rassistischen Inhalten in der Gedankenwelt der Schüler Aufnahme fanden. Neben den politisch-kulturellen Veranstaltungen innerhalb der Collegi erhiel ten die Kollegiaten auch immer wieder die Möglichkeit, Veranstaltungen außer halb der Collegi zu erleben. So besuchten die Kollegiaten des Marinecollegios in Venedig regelmäßig Stücke im Teatro Goldoni, Malibran, der Oper La Fenice sowie Ausstellungen altehrwürdiger und zeitgenössischer Künstler.132 Es darf vermutet werden, dass die Schüler durch diese vielfältigen kulturellen Veranstal tungen mit den Errungenschaften ihrer Kulturnation in Kontakt kommen und Stolz auf die Leistungen ihrer Vorväter entwickeln sollten. Dennoch hatten die Schüler auch die Möglichkeit, über den faschistisch-italie nischen Tellerrand hinauszublicken. So führten die venezianischen Kollegiaten in Eigenregie das Theaterstück „Topaze“ des französischen Dramaturgen Marcel Pagnol auf133 und gründeten sogar eine Jazzband. Selbst die Zeitungen berichte ten darüber, dass eines der Mitglieder dieser Musikgruppe der Sohn des Partei hymnenkomponisten Giuseppe Blanc war.134 Zur Zerstreuung während des Krie ges wurden den Schülern auch ausländische Komödien, wie etwa der britische Film „The Ghost Goes West/Il fantasma galante“ gezeigt.135 Hand in Hand mit der weltanschaulischen Schulung gingen die militärische Ausbildung und Leibeserziehung, die im Übrigen auch in Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus als Mittel zur Schaffung eines neuen, gesunden Men 130 Interview mit Giorgio Gasparini (Venedig 1939–1942), 4. 4. 2014-O, S. 7. 131 Andrea Di Michele, Faschismus, Kultur, Bibliotheken: Der Fall Bozen, in:
Ders./Menini (Hrsg.), Libri sotto il littorio, S. 21–32, hier S. 28 f. 132 Vgl. PNF, Collegio navale, Conto, November 1937, in: ACS, SPD, CO, b. 990, f. 509.031; Attività delle accademie e collegi della G.I.L., in: GdL, 1. 5. 1942, S. 467 f. 133 Interview mit Falco Accame (Venedig 1939–1943), 24. 3. 2014, S. 5 f.; Schreiben Falco Accames (Venedig 1939–1943), 17. 4. 2012, S. 1. 134 Vgl. Querel, Collegio Navale della G.I.L., in: Il lavoro fascista, 7. 12. 1938, S. 3. 135 Diario Silvano Traina (Bozen 1942–1943), 22. 1. 1943, S. 8.
282 VI. „Hammer und Amboss“ – die Menschenformung in der Praxis schentypus betrachtet wurden.136 In allen drei Weltanschauungsdiktaturen glaub te man an die Optimierung des defizitären Menschen durch dessen Einordnung ins Kollektiv, Gehorsam und sportlich-militärischen Drill.137 Vor allem die vormilitärische Ausbildung der Jugend, so bereits zeitgenössische Beobachter, war in Italien im Vergleich zu Deutschland stärker ausgeprägt.138 Das galt im Besonderen für die Collegi. Wie bereits thematisiert, glich das Leben in den Collegi dem einer Kaserne, bei dem die Tagesstruktur militärisch durchorga nisiert war. Weitere Merkmale der allgegenwärtigen Militarisierung waren die Uniform, der Umgangston, die Bewaffnung sowie die Hierarchie. Das Leben im Collegio begann mit der Einteilung in militärische Einheiten und der Veränderung des äußeren Erscheinungsbildes. Die jungen Kollegiaten wurden in Züge, Kompanien und Bataillone (plotone, compagnia und battaglione) eingeteilt und jede Einheit erhielt einen prätentiösen Namen samt Motto, mit dem sich die Neuankömmlinge identifizieren sollten.139 Für Venedig lauteten diese etwa für den Kurs „Legionär“ „Für den DUCE, gegen alle Hindernisse, auf allen Wegen der Welt“, den Kurs „Bogenschütze“ „Ich schlage mitleidlos zu“ oder den Kurs „Pfeil“ „Angreifen, um zu gewinnen“. Den Kollegiaten wurden die Haare kurz geschnitten und sie erhielten ihre Uni form: „Wir mussten sofort unsere Zivilkleidung ablegen und erhielten die gesamte militärische Ausstattung. Marineuniform bis hin zur Unterwäsche.“140 Der Stolz auf diese von den Zeitzeugen als schön und tadellos beschriebenen Uniformen ist 136 Vgl.
Nikolaus Katzer, Körperkult und Bewegungszwang. Zur gesellschaftlichen Dyna mik des frühen sowjetischen Sportsystems, in: Krüger (Hrsg.), Der deutsche Sport auf dem Weg in die Moderne, S. 257–283, hier S. 258. 137 Vgl. ebenda, S. 266–270. 138 Vgl. etwa: Capitano di Vascello G. Bertoldi an Ispettorato Generale per la preparazione premilitare e postmilitare della Nazione, Missione in Germania, Visita alle organizza zioni giovanili hitleriane, 14. 8. 1935, in: AUSMM, Archivio di base, b. 2696. „Das Auf treten der GIL in Padua mit Karabiner, MG und Munitionskästen und der von einem Teil der Bataillone durchgeführte Passo Romano waren geeignet, den deutschen Kame raden einen entscheidenden Unterschied zwischen italienischer und deutscher Jugend organisation vor Augen zu führen.“ Ludwig Alwens, Credere, obbedire, combattere. Das Bekenntnis der faschistischen Jugend, in: Völkischer Beobachter, 17. 10. 1940 (BA Berlin, NS 43, 384, Bl. 206). 139 Weitere Kursnamen in Venedig: Prima Prora, Delfino, Nettuno, Squalo, Pleiade. Vgl. PNF, Collegio navale GIL Venezia, Circolare n. 7: disposizioni a carattere permanente, 29. 1. 1940, in: AdV; Bembo, Collegio navale della G.I.L. ed il periodo delle scuole, S. 82. Kursnamen und Mottos in Lecce: Ardimento = „Mit dem Willen, der jede Schlacht ge winnt“, Bruno = „Die Jungen nehmen sich ein Beispiel an Bruno“, Combattere = „Wir lieben das bequeme Leben nicht“, Decisione = „Entweder man geht oder man zer bricht“, Entusiasmo = „Jugend ist Enthusiasmus“. Vgl. Consegna delle fiamme, in: Collegio „M.O. Aldo Fiorini“ per orfani di guerra, Lecce, supplemento al n. 24 del Bol lettino del Comando generale della G.I.L., 21. 10. 1942, S. 7. Kursnamen in Bozen: Piave, Vittorio Veneto. Vgl. Il Ministro dell’Educazione nazionale conclude tra le vibranti manifestazioni al Duce degli alunni le ispezioni alla scuola fascista atesina, in: La Provincia di Bolzano, 11. 5. 1940, S. 3; Kursnamen in Forlì: Albatros, Baleno, Ciclo ne, Dardo, Euro, Fiamma, Impero, Gloria. Vgl. Alla presenza del Duce si è inaugurato a Forlì il Collegio aeronautico della G.I.L. intitolato al nome eroico di „Bruno Mussolini“,in: GdL, 15. 10. 1941, S. 819. 140 Schreiben Giorgio Gasparinis (Venedig 1939–1942), 20. 8. 2012, S. 1.
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ein übergreifender Erinnerungsbestandteil aller Kollegiaten.141 Doch nicht nur die ehemaligen Kollegiaten, auch die Hinterbliebenen wiesen stets auf die edlen Stoffe hin.142 Die Venedig-Kollegiaten hoben zusätzlich hervor, dass ihre Unifor men maßgeschneidert waren.143 Sie besaßen eine Arbeitsuniform, eine Ausgeh uniform und eine Paradeuniform, die zudem mit Abzeichen versehen war.144 Durch ihre neue Uniform fühlten sie sich bereits als kleine Soldaten, steigerten ihr Selbstwertgefühl und identifizierten sich zugleich stärker mit „ihrem“ Colle gio, da jede Einrichtung eine eigene Uniform besaß.145 Gleichzeitig verschwand das Individuum hinter der Uniform. Selbst im „Heimaturlaub“ sollten die Schüler ihre Uniform tragen und sich dieser würdig erweisen. Nur während der Sommer ferien waren sie davon entbunden.146 Der gesamte militärische Habitus wurde von der Mehrheit der Zeitzeugen in den Erinnerungsinterviews positiv dargestellt. Auf die Frage, ob alle während des Aufenthaltes in dem Collegio uniformiert waren, antwortete beispielsweise ein Zeitzeuge: „Ja, wir waren stolz. Wir hatten auch die Ehre, Wache vor dem Colle gio zu halten, wofür wir sogar auf unseren Ausgang am Sonntag verzichteten. Es war eine Ehre für uns, rausgeputzt, mit dem Gewehr vor dem Wachhaus zu stehen. Das war für uns eine Ehre.“147 Die Kollegiaten mussten zu zweit für zwei Stunden auch nachts Wachposten vor den Gebäuden übernehmen oder zu dritt während des sonntäglichen Freigangs Rundgänge zur Überwachung der Mitkolle giaten durchführen.148 Dabei lobten die zeitgenössischen Zeitungen – wie kaum anders zu erwarten – überschwänglich die Disziplin der Kollegiaten: „Sobald sie den Offizier sehen, nehmen sie die Habachtstellung ein. Wenn er mit ihnen spricht, nehmen sie eine tadellose Position ein. Disziplin, Disziplin in höchstem Maße.“149 Zu Beginn des Schuljahres erhielt jeder Schüler ein Gewehr mit Bajonett (’91 tipo Balilla), für das er das gesamte Schuljahr verantwortlich war. In regelmäßigen 141 Vgl.
etwa Schreiben Corrado Caldeses (Bozen 1941–1943), 20. 11. 2012, S. 1; Interview mit Donato Fantetti (Bozen 1942–1943), 26. 3. 2014-K, S. 4. 142 Während des Krieges unternahmen die Collegi große Anstrengungen, das Material für die Kleidung der Kollegiaten zu beschaffen. Vgl. Collegio aeronautico Raoul Moore an Ministero dell’aeronautica, Gabinetto, 15. 10. 1942, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1942, b. 94, f. Collegio aeronautico di Forlì – Varie. 143 Collegio Navale di Venezia, Circolare Nr. 1, 5. 10. 1937, in: ACS, SPD, CO, b. 990, f. 509.031; Mitteilung der Tochter Giandanese Berninis (Venezia 1937–1938), 6. 2. 2017. 144 Vgl. etwa Massimo Pantucci, Il Collegio Aeronautico di Forlì, in: PdR, 10. 12. 1938, S. 3; Opera Balilla, Collegio navale di Venezia. Statuto e regolamento, S. 4. 145 Vgl. Ugo Pericoli, Le divise del Duce, Mailand 1983, S. 26–28. 146 Vgl. das unpaginierte und undatierte Reglement des Collegios Lecce, in: ASLe, Prefet tura, Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455. 147 Interview mit Silvano Traina (Bozen 1942–1943), 18. 3. 2014, S. 2. 148 Vgl. das unpaginierte und undatierte Reglement des Collegios Lecce, in: ASLe, Prefet tura, Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455; Erinnerungen Ulrico Guerrieris (Venedig 1940–1943), 15. 11. 2012; Ceccarani, Vita e aspetti del Collegio marinaro „Caracciolo“, in: Collegio marinaro „Caracciolo“, supplemento al n. 12 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 21. 4. 1942, S. 4–7; Brucculeri, Gli allievi del Collegio Caracciolo, in: Ebenda, S. 13 f. 149 Querel, Collegio Navale della G.I.L., in: Il lavoro fascista, 7. 12. 1938, S. 3.
284 VI. „Hammer und Amboss“ – die Menschenformung in der Praxis Abständen besuchten die Kollegiaten den Schießstand, wo Schießübungen sowohl mit dem Gewehr als auch mit dem Maschinengewehr durchgeführt wurden.150 Über die weiteren zahlreichen militärischen Übungen in Bozen heißt es in einem zeitgenössischen Tätigkeitsbericht: „Einzel- und Kollektivübungen mit den Waffen (fianc-arm/presentat-arm), Formierung von Zug und Kompanie, römischer Paradeschritt, Disziplinarvorschriften, allgemeine Pflichten des Soldaten, Erläuterungen zu Infanteriewaffen unter besonderer Berücksichti gung von tragbaren, automatischen und Begleitwaffen, Hinweise zum Maschinengewehr ‚Breda 37‘, Topographie (Zeichen, Äquivalenzskala, Verwendung des Kompasses, Messung von Entfernungen, topographische Kartenlesung).“151
Der römische Paradeschritt wurde 1938 erstmals für die Collegi und Akademien obligatorisch eingeführt.152 Fortan stand das Defilieren bei jedem Besuch einer bedeutenden Persönlichkeit im Mittelpunkt und das gemeinschaftliche nachmit tagliche Marschieren etwa durch Bozen gehörte zum festen Bestandteil des Tages ablaufs.153 Zum Einüben militärischer Taktiken erhielten die Schüler regelmäßig Militärkarten. Damit mussten sie in Kleingruppen zu einem bestimmten Punkt zurückfinden oder wie in den deutschen NPEA154 kriegsähnliche Mannöver durchführen: „Es waren echte simulierte Militäraktionen, die aus Aufklärungsak tionen, Überraschungsangriffen und Rückfällen bestanden.“155 Besonders strapa ziös waren die zehn bis 15 Kilometer weiten Märsche mit voller militärischer Aus stattung, die gleichermaßen die Muskeln, das Durchhaltevermögen und den Ge horsam stärken sollten. Selbst diesen Gewaltmärschen wurde in der Rückschau eine positive Seite abgewonnen: „Wir mussten einige Märsche in den Bergen machen. Wir kamen unten an, zerstört, ohne zu trinken, ohne zu essen. Wir waren todmüde. Aber am Morgen, als du aufgewacht bist, schien es der schönste Tag zu sein. Weil du getan hast, was sie dir gesagt haben.“156
Die Kollegiaten wurden bis an den Rand der Erschöpfung getrieben und absoluter Gehorsam gefordert, der als kulturelles Leitbild wahrgenommen und sogar an die nächste Generation weitergegeben wurde: 150 Vgl.
Opera Balilla, Collegio navale di Venezia. Statuto e regolamento, S. 3; Interview mit Giuseppe Cinquepalmi (Bozen 1940–1942), 23. 4. 2014-K, S. 6. Vgl. das unpaginier te und undatierte Reglement des Collegios Lecce, in: ASLe, Prefettura, Serie I, IX versa mento, b. 83, f. 455. Vgl. D.M., Spunti di vita interna, in: Collegio della G.I.L. di specia lizzazione militare, Bolzano, supplemento al n. 5 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., s. d. [Frühjahr 1943], S. 3. 151 Relazione sintetica delle attività svolte al Collegio nel trimestre gennaio – febbraio – marzo XX, in: Collegio della G.I.L. di specializzazione militare, Bolzano, supplemento al n. 12 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 21. 4. 1942, S. 11 f. 152 Vgl. PNF, FD, Nr. 973, 4. 2. 1938. 153 Schreiben Gherardo Scattolins (Bozen 1941–1943), September 2012, S. 1. 154 Vgl. Helen Roche, Sport, Leibeserziehung und vormilitärische Ausbildung in den Na tionalpolitischen Erziehungsanstalten. Eine „radikale“ Revolution der körperlichen Bildung im Rahmen der NS-„Gesamterziehung“, in: Frank Becker/Ralf Schäfer (Hrsg.), Sport und Nationalsozialismus, Göttingen 2016, S. 173–196, hier S. 186–188. 155 Rossi, Ragazzo del’43, S. 27. 156 Interview mit Claudio Bolasco (Bozen 1939–1943), 20. 3. 2014, S. 5.
2. Der Internatsalltag 285 „Hier ist noch etwas, das sie uns beigebracht haben, und das ich an die Kinder weitergege ben habe: alles aufessen. Alles, was auf den Tisch kommt, esse ich, ob es mir schmeckt oder nicht. Das haben sie uns gelehrt, uns eingetrichtert. Sie sagten uns auch: ‚Weil ihr Soldaten sein werdet, werdet ihr nicht immer die Möglichkeit haben zu essen, wann ihr wollt. Ihr werdet alles essen müssen, was ihr essen könnt.‘ Das habe ich verinnerlicht. Und es ist eine gute Ausbildung. Eine Kultur, die ich erworben habe und die ich versucht habe, an meine Kinder weiterzugeben.“157
Die Internalisierung des bedingungslosen Gehorsams gegenüber militärischen Autoritäten ist bei einer Vielzahl von Zeitzeugen zu erkennen. Auch der militäri sche Umgangston leistete dabei seinen Beitrag. Gegenüber den Oberen durfte nur mit Signor Sì oder Signor No geantwortet werden.158 Untereinander sprachen sich die Kollegiaten als Kamerad an. Das sogenannte Selbstführungsprinzip der Jugend wurde in Italien anders praktiziert als in Deutschland.159 Während etwa an den Adolf-Hitler-Schulen mit dem „Pimpf vom Dienst“ ein wöchentlicher Wechsel im Befehlen und Gehorchen stattfand,160 wechselte in den Collegi nur jährlich die Besetzung der verschiede nen Führungspositionen (z. B. capo-camerata = Stubenführer; capoclasse = Klas senführer; allievo scelto161 = Zugführer; capo scelto = Kompanieführer). Nur im 157 Interview 158 Vgl. etwa
mit Donato Fantetti (Bozen 1942–1943), 26. 3. 2014-K, S. 6. Schreiben Virgilio Bernardinos (Lecce 1941–1946), 24. 5. 2014; Giorgio Lai, Incontro con gli organizzati provenienti dai Collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 8. 1942, S. 645. 159 Zum Prinzip der Selbstführung der italienischen Jugend besteht eine Vielzahl unter schiedlicher zeitgenössischer Einschätzungen. Da heißt es einerseits in einer Propagan dabroschüre aus dem Jahre 1942: „Den Besten wird auch sofort die Führung anver traut, denn es ist einer der Hauptgrundsätze der Organisation, vor allem den Jugendli chen die Führung anderer Jugendlicher anzuvertrauen.“ Presseamt der Faschistischen Partei (Hrsg.), Zwanzig Jahre faschistischen Regimes, Rom 1942, S. 230. Andererseits gab ein Offizier des Collegio Littorio in einer zeitgenössischen Propagandabroschüre zu Protokoll: „Bei uns wird Jugend nicht von Jugend geführt. Wenigstens nicht in weite rem Rahmen. Bei den Avanguardisten und der [sic!] Balilla kann der Capomanipolo noch ein Junge sein. Ihm untersteht eine Centuria mit ihren 80 bis 100 Jungen. Aber schon der Chef einer Cohorte muß Offizier sein. Bei den Giovani Fascisti gilt dies be reits von den kleinsten Einheiten an.“ (Weidenmann, Junges Italien, S. 50 f.). Und einige Jahre zuvor erklärte ein deutschsprachiger Autor: „Das Prinzip der nationalsozialisti schen Jugendführung ‚Jugend von Jugend geführt‘ hat sich in Italien nach dem Willen des Duce nicht eingeführt. Auch dafür sind Gründe maßgebend, die im Charakter des Italieners zu suchen sind.“ E. Lübbers, Il Balilla, in: National-Zeitung, 25. 11. 1937 (BA Berlin, R 4902, 8445, Bl. 66). Camillo Pellizzi, Präsident des faschistischen Kulturinsti tutes, berichtete Mussolini nach seinem zweitägigen Besuch der Adolf-Hitler-Schulen auf der Ordensburg Sonthofen im Oktober 1941 beeindruckt über das Prinzip der „Selbstführung“, das in der Form in Italien nicht praktiziert würde. Relazione sulla visita in Germania del Presidente dell’Istituto Nazionale di Cultura Fascista con alcuni collaboratori (10–20 ottobre XIX), in: Fondazione Ugo Spirito, fondo Camillo Pellizzi, b. 5, f. 17. 160 „So lernt er befehlen. In der nächsten Woche löst ihn ein anderer Pimpf ab: so lernt er wieder gehorchen. Jeder soll führen, jeder gehorchen.“ Dr. Wurzbacher, Wie werden die Adolf-Hitler-Schüler erzogen?, in: unleserlich, 9. 5. 1941 (BA Berlin, NS 12, 710, Bd. 1). 161 Vgl. Io parlo a te allievo scelto… ma tu mi stai a sentire, in: Corso Prima Prora [Vene dig 1940], s. p.
286 VI. „Hammer und Amboss“ – die Menschenformung in der Praxis Falle schlechter Führung konnte dem Amtsinhaber seine Position früher entzo gen werden. Aufgrund der geringen Wechselintervalle fehlte vielen Jugendlichen die Praxis im Befehlen. Darüber hinaus hatten die jugendlichen Führer keine di rekte disziplinarische Autorität, sondern waren vielmehr Zuträger für die Erzie her. Als die Marine im Sommer 1941 80 Schüler der Marinecollegi heranzog, um die Züge der Sommermarinelager zu leiten, zeigte sie sich unzufrieden über die Führungsqualitäten der Kollegiaten. Zwar lobte die Marine deren Enthusiasmus, konstatierte jedoch deren fehlende Führungskompetenzen, um einen wirksamen Beitrag zur Organisation leisten zu können. Die Marine beschloss dennoch, zu künftig an der Einbindung der Marinekollegiaten festzuhalten, um deren Kompe tenzen zu verbessern.162 Auch ein Kollegiat aus Bozen klagte mehrmals in seinem Tagebuch über die Führungsqualitäten seines Zugführers: „Der Zugführer der uns seit einiger Zeit führt, beginnt uns auf den Keks zu gehen. Er ist ein absoluter Taugenichts. Er befiehlt uns im Flüsterton und folglich verstehen wir nichts.“163 Ob dieser schließlich seiner Position enthoben wurde, kann dem Tagebuch je doch nicht entnommen werden. Deutlich wird an dieser Struktur der Primat des Gehorsams gegenüber der Führung ganz im Sinne des Ideals vom gehorchenden und kämpfenden „neuen Menschen“. Dass dieser Mangel an Führung nicht der Ausbildung einer neuen Führungsschicht zuträglich war, dürfte sicher auch den GIL-Oberen nicht verborgen geblieben sein, die jedoch keine erkennbaren Maß nahmen einleiteten, um die Führungskompetenzen der Kollegiaten zu verbessern. In den Collegi stand die militärisch ausgerichtete Leibeserziehung im Mittel punkt, die jedoch nicht erst eigens für die Collegi ersonnen wurde, sondern – wie die Sporthistorikerin Angela Teja konstatiert – bereits auf eine längere Tradition in Italien zurückblicken konnte.164 Das folgende Zitat aus einer Propagandabro schüre des Regimes für deutschsprachige Leser lässt den Konnex zwischen sport licher und militärischer Ausbildung und der erwarteten Resultate sehr deutlich vor Augen treten: „Durch die Gil hat der Faschismus nicht den Uebersportmen schen schaffen wollen, sondern hat die sportliche Taetigkeit den militaerischen Beduerfnissen anpassen wollen, um zu einer Hebung des Koerpers und zu einer Verfeinerung des Wettkampfgeistes zu gelangen, die unbedingt für eine Staerkung der Rasse und für die Bildung eines ausgezeichneten Soldaten notwendig sind.“165 Ebenso deutlich hatte sich Ricci bereits 1934 in einem Bericht an Mussolini ge äußert, als er der Leibeserziehung unumwunden die Aufgabe zuschrieb, „harte und belastbare Soldaten zu formen“.166 Aus dem Athleten sollte – vor allem durch 162 Vgl.
Relazione sull’attività e sviluppo della premarinara, anno 1940–41, S. 43 f., in: ACS, Ministero della Marina, Gabinetto 1934–50, b. 452. 163 Diario Silvano Traina (Bozen 1942–1943), 23. 3. 1943, S. 10. 164 Vgl. Angela Teja, Educazione e addestramento militare, in: Noto/Rossi (Hrsg.), Coro ginnica, S. 58–71, hier S. 71. 165 Presseamt der Faschistischen Partei (Hrsg.), Zwanzig Jahre faschistischen Regimes, S. 231. 166 Bericht Riccis an Mussolini, 20. 9. 1934, in: ACS, SPD, CO, b. 330, f. 111.994. Vgl. ähn liche Verlautbarungen: „Sportliche Übungen sollen der militärischen Vorbereitung dienen, damit man wirklich sagen kann, dass die Sporthalle heute in Italien das Vor zimmer der Kaserne ist.“ ONB, Relazione anno IX, in: ACS, PCM, 1928–1930, b. 1097, f. 1.1.15. 2104, sf. 46.
2. Der Internatsalltag 287
wehrsportliche Mannschaftssportarten – der Soldat werden. Sport respektive Lei beserziehung wurde nicht mehr zum Selbstzweck praktiziert, sondern durch das Regime instrumentalisiert und war ausgerichtet auf die Militarisierung, die Züch tung und vor allem die Erziehung zu Mut, Ordnung und Disziplin. Eine analoge Entwicklung fand in Deutschand statt, denn auch in den Adolf-Hitler-Schulen betonte man allen voran die erzieherische Bedeutung des Sports.167 Zur Stärkung des Gemeinschaftssinns spielten die Kollegiaten häufig Mann schaftssportarten wie Fußball, Basketball, Volleyball oder Handball.168 In Vorbe reitung auf die gemeinschaftlich vorgetragenenen Choreographien, die den Einzel nen während der öffentlichen Gymnastikveranstaltungen zu Höchstleistungen für die gesamte Gruppe animieren sollten, stand besonders das Geräteturnen im Mit telpunkt. Dabei wurden die Muskeln für das kräftezehrende Stützen vorbereitet.169 Im Rahmen der Leibeserziehung übten sich die Kollegiaten im Hindernislauf, im Sprint oder im Speer- und Gewichtswurf (Abb. 16).170 Darüber hinaus wurden die Schüler auch im Schwimmen, Ringen und Rudern trainiert (Abb. 17).171 Trotz des antibürgerlichen Kurses der Partei wurden in einigen Collegi, ähnlich wie an den Adolf-Hitler-Schulen,172 auch die traditionell in der Oberschicht betriebenen Sportarten wie Fechten, Reitsport oder Tennis praktiziert.173 Außerhalb der Internatsmauern hatten sie zudem die Möglichkeit, sich mit ortsansässigen Gleichaltrigen auf sportlichem Gebiet zu messen. In den Erinne rungen der Kollegiaten spielt das Gefühl der sportlichen Dominanz eine bedeu tende Rolle, die wiederum dazu führte, sich als Teil einer Elite zu verstehen: „Die Beziehung zu venezianischen Jugendlichen war interessant. Sie war sicherlich nicht idyllisch. Sie neideten uns den Geist der Elite, die Bewunderung der Mäd chen, die Überlegenheit bei Sportspielen usw.“174 167 „Die
Leibeserziehung an den Adolf-Hitler-Schulen ist wesentlicher und grundlegender Bestandteil der gesamten Erziehung. Sie steht am Anfang jeder erzieherischen Einwir kung auf die Jungen, weil Jugendliche durch Spiel und Sport am leichtesten beeinflußt und ihre natürlichen Kräfte und Anlagen am besten erkannt und entwickelt werden können.“ Die Leibeserziehung an den Adolf-Hitler-Schulen, s. d., in: BA Berlin, NS 22, 1237, Bl. 6. 168 Vgl. Palla a volo, in: MAK-π-100 [Brindisi 1939], S. 36; Palla a canestro, in: Ebenda, S. 38. 169 Vgl. Sports vari, in: MAK-π-100 [Brindisi 1939], S. 39. 170 Vgl. Relazione sintetica delle attività svolte al Collegio nel trimestre gennaio – febbraio – marzo XX, in: Collegio della G.I.L. di specializzazione militare, Bolzano, supplemento al n. 12 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 21. 4. 1942, S. 12. 171 Vgl. Il collegio pre-aeronautico ha raddoppiato le sue attrezzature, in: CdS, 21. 8. 1940, S. 4. 172 Vgl. Gisela Miller-Kipp, „Klasse Schule – immer genug zu essen, wenig Mathematik“. Elitebildung im „Dritten Reich“ oder über die Herstellung von Elite-Bewusstsein, in: Jutta Ecarius/Lothar Wigger (Hrsg.), Elitebildung – Bildungselite. Erziehungswissen schaftliche Diskussionen und Befunde über Bildung und soziale Ungleichheit, Opladen 2006, S. 44–66, hier S. 58: „Das Sportangebot war damals insgesamt und wäre selbst heute noch in Teilen gesellschaftlich elitär: Segeln, Fechten, Reiten, Motorsport, Segel fliegen, Golf, Tennis, Ski.“ 173 Vgl. Scherma, in: MAK-π-100 [Brindisi 1939], S. 37; Il collegio pre-aeronautico ha rad doppiato le sue attrezzature, in: CdS, 21. 8. 1940, S. 4; PNF/GIL, Ammissione al collegio navale GIL di Venezia per l’anno scolastico 1941/42, S. 6. 174 Schreiben Giorgio Gasparinis (Venedig 1939–1942), 20. 8. 2012, S. 3.
288 VI. „Hammer und Amboss“ – die Menschenformung in der Praxis
Abb. 16: Hindernislauf im Heerescollegio Bozen, 1942 (AdV)
Abb. 17: Ringen im Heerescollegio Bozen, undatiert (AdV)
Welchen Einfluss hatte nun diese weltanschaulische, sportliche und militäri sche Schulung auf das Verhalten, auf die Mentalität der Kollegiaten? Wie „erfolg reich“ war sie? In der Forschungsliteratur wird die Meldung von Kriegsfreiwilli gen als ein Indikator für die erfolgreiche Erziehungsarbeit während des Faschis mus gesehen. So leiten einige Autoren aus den gestiegenen Freiwilligenzahlen während der faschistischen Kriege und der hohen Beteiligung von Jugendlichen an der RSI eine gelungene Erziehungsarbeit ab.175 Überträgt man diese Annahme 175 Vgl. Loreto Di Nucci, Il fascismo e il problema storico della costruzione dell’uomo nuo
vo, in: Klinkhammer/Bernhard (Hrsg.), L’uomo nuovo del fascismo, S. 29–46, hier S. 45; La Rovere, Totalitarian Pedagogy and the Italian Youth, S. 29 f.; La Rovere, Formazione della gioventù in regime fascista, S. 120 f.; Dogliani, Fascismo degli italiani, S. 195; La Rovere, Miti e politica per la gioventù fascista, S. 219.
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auf die Collegi, so lässt sich – ohne die Fälle genauer quantifizieren zu können – feststellen, dass offensichtlich zahlreiche Kollegiaten mit dem Gedanken spielten, sich freiwillig für den Krieg zu melden. So sah sich etwa die Schülerzeitung des Collegios in Bozen veranlasst, einen Artikel zu veröffentlichen, der die Schüler davon abhalten sollte, das Collegio zu verlassen, um in den Krieg zu ziehen. Die Schüler wurden darin dazu aufgerufen, „Disziplin zu halten und den Anordnun gen der Vorgesetzten Folge zu leisten“, denn „heute ist die ganze Nation dank des Faschismus bereit, gegen den Feind loszuziehen, aber einen Krieg gewinnt man nur, wenn jeder an seinem Platz bleibt und gut seine Aufgaben ausführt“.176 Da rüber hinaus liegen geheime Berichte der Questura in Forlì vor, in denen über kriegsbegeisterte Kollegiaten des Luftwaffencollegios informiert wurde, die das Collegio Anfang 1941 verließen, um als Freiwillige die Streitkräfte Italiens zu stär ken.177 Als weiteres Indiz können die Freiwilligenmeldungen der Marinekollegia ten aus Venedig gesehen werden, die zum Kriegseintritt Italiens 1940 ihre Bereit schaft kundtaten, als Freiwillige in einem Bataillon der GIL kämpfen zu wollen.178 Diese Meldungen sind jedoch mit Vorsicht zu betrachten. Luca La Rovere hat jüngst als Beleg für seine These der erfolgreichen faschistischen Erziehungsarbeit darauf verwiesen, dass die freiwillige Beteiligung am Zweiten Weltkrieg höher war als im Ersten Weltkrieg und als Beispiel für die geglückte Mobilisierung der Ju gend den „Marsch der Jugend“ (marcia della giovinezza) angeführt. Bei diesem Marsch folgten tausende Jugendliche einem Aufruf der GIL zur freiwilligen Be teiligung am Krieg. Die Freiwilligenbataillone marschierten hunderte Kilometer, um schließlich am Zielort Padua von Mussolini inspiziert und in einer Rede auf die bevorstehenden Kämpfe eingeschworen zu werden.179 Letztlich hatte das Mi litär jedoch nur geringes Interesse an den 15 000 Freiwilligenmeldungen und zog lediglich 3000 ein, die jedoch zum Teil den Mythos von Bir el Gobi schufen, den Mythos von den standhaft kämpfenden jungen Männern in Nordafrika.180 Prob lematisch ist an dieser „Freiwilligenmeldung“, dass die Jugendlichen einem Appell der GIL folgten. Wer mochte sich innerhalb der Collegi einem solchen Aufruf entziehen? Die jungen Marinekollegiaten in Venedig gaben an, freiwillig in den Krieg ziehen zu wollen. Es spricht auch einiges dafür, dass die Kollegiaten das Trinom Glauben-Gehorchen-Kämpfen internalisiert hatten und bereit waren, für 176 Ardire
[Schülerzeitung der Scuola della GIL di specializzazione militare Bolzano], s. d. [Winter 1940], s. p., in: AdV. 177 Vgl. R. Questura di Forlì an R. Prefettura di Forlì, Relazione mensile sullo spirito pub blico, 1. 3. 1941, in: ASFo, Gabinetto Prefettura, b. 364, f. 30. 178 Vgl. Collegio navale della GIL Venezia an Adriberto Mayer, 9. 7. 1940, in: AdV; Inter view mit Giorgio Gasparini (Venedig 1939–1942), 4. 4. 2014-K, S. 7. 179 Um den Schulterschluss mit dem deutschen Verbündeten zu demonstrieren, nahm an dieser feierlichen Abschlusszeremonie zudem eine 250 Mann starke HJ-Abordnung teil. Vgl. Ettore Muti an Capo della Hitlerjugend, 22. 8. 1940, in: PA AA, Botschaft Rom Qui rinal, 1394 A, Bd. 5. Vgl. dazu den euphorischen Artikel von Fidenzio Pertile im Popolo d’Italia über die gloriose Parade in Padua in Anwesenheit Mussolinis: Il duce alla sagra guerriera che ha concluso „La marcia della giovinezza“, 11. 10. 1940, in: OO, Bd. XXX, S. 291–294; Dr. v. L., Padua erwartet eine Rede des Duce. Die deutsche HJ-Abordnung mit stürmischen Jubel willkommen geheißen, in: Der Freiheitskampf, 10. 10. 1940. 180 Vgl. La Rovere, Totalitarian Pedagogy and the Italian Youth, S. 30.
290 VI. „Hammer und Amboss“ – die Menschenformung in der Praxis Mussolini ihr Leben zu geben. So heißt es beispielsweise in einem Abschlussjahr buch: „Die Seiten dieses Buches reichen nicht aus, um uns an die schönsten Momente eines Le bensabschnittes zu erinnern, in dem wir unseren Geist gestählt, unsere Gedanken geformt, unseren Körper für die künftigen Anstrengungen auf dem Meer gekräftigt und unseren Glauben in das Schicksal des Vaterlandes lebendig gehalten haben. Dieser Glaube hat uns bei unserem Weg geholfen: blinder Glaube an unseren Duce, unbedingter Glaube an den Sieg unserer Armee. Mit Stolz können wir sagen, […] dass wir bald bald bereit sind, wenn das Vaterland es verlangt, unsere blühende Jugend zu geben.“181
Die enthusiastischen, charismatischen Erzieher leisteten in Verbindung mit mili tärischem Drill, Disziplinierung und Abschottung – drei Kriterien, die, wie die Sozialisationsforschung nachgewiesen hat,182 nachweislich von besonderer Be deutung für die Kampfbereitschaft sind – eine im Sinne des Faschismus erfolgrei che Erziehungsarbeit. Es ist anzunehmen, dass sich in dem Klima die Kampfbe reitschaft der Kollegiaten erhöhte, die dann zu begeisterten Kriegsfreiwilligen bis hin zur Selbstaufopferung wurden. Nicht gänzlich auszuschließen ist aber auch, dass Gruppenzwang, vorauseilender Gehorsam oder pure jugendliche Abenteuer lust zu diesen Freiwilligenmeldungen führten.
Verpflegung, Hygiene und medizinische Betreuung Wie schon ihre Erzieher in der Akademie für Leibeserziehung183 wurden auch die Kollegiaten medizinisch überwacht, um sie nicht nur psychisch, sondern auch physisch zu „neuen Menschen“ zu formen. So legte man in den Collegi neben dem Sport auch großen Wert auf eine gesunde Ernährung und überprüfte in regelmäßigen Abständen die körperliche Entwicklung der Zöglinge. Von dem Trinom Ernährung-Sport-Kontrolle zeugt beispielsweise ein Bericht über die Schülerschaft in Bozen aus dem Jahre 1942, in dem es heißt: „Es gab eine bemer kenswerte Entwicklung des Allgemeinzustandes dank der gesunden Ernährung und des zweckmäßigen Einsatzes turnerisch-sportlicher Aktivitäten.“184 Auf der Grundlage einer speziellen, von Ärzten erstellten Ernährungstabelle er hielten die Kollegiaten eine gesunde, ausgewogene Verpflegung, die folgende Be standteile aufführte: Frühstück (caffè-latte und 250 g Brot), Mittagessen (Suppe, Hauptspeise, Frucht, 250 g Brot), Vesper (belegtes Brot) und Abendessen (Suppe, Hauptspeise und Frucht).185 Die Zeitzeugen beschrieben die Speisen als gut, 181 Ordine del giorno, in: MAK-π-100 [Brindisi 1942], S. 3. 182 Vgl. Maja Apelt, Sozialisation in „totalen“ Institutionen, in:
Klaus Hurrelmann/Matthias Grundmann/Sabine Walper (Hrsg.), Handbuch Sozialisationsforschung, 7., vollst. über arb. Aufl., Weinheim/Basel 2008, S. 372–383. 183 Vgl. Marzolo, Italiens Jugendorganisationen, S. 38 f.; vgl. darüber hinaus Ponzio, Shap ing the New Man, S. 166. 184 Relazione sintetica delle attività svolte al Collegio nel trimestre aprile – maggio – giu gno XX, in: Collegio della G.I.L. di specializzazione militare Bolzano, supplemento al n. 18 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 21. 7. 1942, S. 7. 185 Vgl. Accademie e Collegi dell’Opera Balilla [1937], S. 16; Pasquale Fiore, Comandate del Collegio Lecce an Prefettura Lecce, aumento retta, 21. 2. 1944, in: ASLe, Prefettura,
2. Der Internatsalltag 291
jedoch schwankten in den Erinnerungen die Einschätzungen darüber, ob die Por tionen während des Krieges angesichts der starken sportlichen Beanspruchung ausreichend waren.186 Hier mag es sicher zu regionalen Unterschieden in der Ver sorgung gekommen sein. So hielt ein Bozen-Kollegiat noch im Februar 1943 ohne Ironie in seinem Tagebuch fest: „Ich habe schon seit einigen Tagen Bauchschmer zen. Das kommt von dem vielen Essen, das sie uns geben.“187 Doch nicht nur Ernährung und Leibeserziehung, sondern auch das Ambiente sollte zur Verbesserung der Konstitution führen. Unter führenden italienischen Bevölkerungsexperten war die lamarckistische Vorstellung verbreitet, dass eine Optimierung der Umgebung auch dem physischen wie habituellen Befinden der Menschen zugute komme. Die Gebäude, in denen die Kollegiaten untergebracht waren, sollten durch offene, lichtdurchflutete, saubere Räume ihre „gesundheits fördernde“ Wirkung erzielen.188 Um die Körper optimieren und bestmöglich formen zu können, erhob und sammelte eine Ärztekommission ab dem Moment der körperlichen Überprüfung für die Aufnahme in das Collegio in regelmäßigen Abständen die anthropometri schen Daten der Kollegiaten.189 Dafür waren alle Collegi mit Untersuchungsräu men für HNO, Zähne, Augen, Radiologie, Psychotechnik und vor allem Anthro pometrie ausgestattet (Abb. 18).190 In Brindisi und Forlì wurden zudem eigen ständige Krankenstuben errichtet, nicht nur um die Kollegiaten zu kurieren, wie in einem Artikel dezidiert betont wurde, sondern vor allem, „um ihrer körperli chen Entwicklung zu folgen und sie zu kontrollieren“.191 Vierteljährlich unterzog der Arzt des Collegios die Kollegiaten einer akkuraten biotypologischen Untersu chung, bei der ihr Gesundheitszustand und die Entwicklung ihrer Physis begut achtet sowie Vorschläge für intervenierende Maßnahmen unterbreitet wurden.192 Das dafür zuständige medizinische Personal eines jeden Collegios setzte sich aus einem hauptamtlichen medizinischen Leiter, nicht durchweg im Collegio tätigen Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455; Bericht über die Kreuzfahrt, 18. 7. 1938, in: ACS, SPD, CO, b. 837, f. 500.018 (GIL). 186 Interview mit Iginio Bonoldi (Venedig 1941–1943), 7. 4. 2014-O, S. 12; Erinnerungen Antonio Grossos (Brindisi, Venedig, Padua 1942–1944) im Eigenverlag, s. d., S. 15; In terview mit Giuseppe Cinquepalmi (Bozen 1940–1942), 23. 4. 2014-O, S. 2; Interview mit Donato Fantetti (Bozen 1942–1943), 26. 3. 2014-K, S. 1. 187 Diario Silvano Traina (Bozen 1942–1943), 14. 2. 1943, S. 10. 188 Vgl. Otto nuovi collegi della G.I.L., 8. 8. 1942 (BA Berlin, R 4902, 8445, Bl. 17); Teja, ONB tra educazione fisica e sport, S. 15. 189 Vgl. PNF/GIL, Ammissione al collegio navale GIL di Venezia per l’anno scolastico 1941/42, S. 28. 190 Vgl. das unpaginierte und undatierte Reglement des Collegios Lecce, in: ASLe, Prefet tura, Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455; Relazione al comandante generale sull’attività del servizio assistenziale e sanitario – anno XVI, in: Bollettino GIL, 15. 9. 1939, 3° sup plemento, S. 10; La Scuola della G.I.L. di Specializzazione Militare nel XX Annuale dei Fasci lancia al vento di tutte le vittorie il suo grido di fede, di entusiasmo, di dedizione assoluta al DUCE, in: Combattere! 28. 10. 1941, S. 4. 191 Vgl. I giovanissimi dell’aviazione, in: Ali di guerra, 10. 10. 1941, S. 5; Mancarella/Ventri celli, Accademia Marinara dell’ONB (poi Collegio Navale „Niccolò Tommaseo“), S. 142. 192 Vgl. das unpaginierte und undatierte Reglement des Collegios Lecce, in: ASLe, Prefet tura, Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455.
292 VI. „Hammer und Amboss“ – die Menschenformung in der Praxis
Abb. 18: Die medizinische Ausstattung in der Krankenstube des Luftwaffencollegios in Forlì (Angelo Agosti, Mens sana in corpore sano, in: Collegio aeronautico Bruno Mussolini Forlì, supplemento al n. 18 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 21. 7. 1942, S. 6–8, hier S. 7 f.)
Spezialärzten und den Mitarbeitern der Krankenstube zusammen.193 Der medizi nische Leiter, der durch die Streitkräfte gestellt werden konnte,194 zeichnete zu dem verantwortlich für die Hygiene der sanitären Anlagen und die Lebensmittel zubereitung sowie für die täglichen medizinischen Kontrollen der Kollegiaten.195 Den Krankenpflegern fiel hingegen das Ausfüllen der biotypologischen Gesund heitskarteikarten der Schüler zu.196 Begründer der Biotypologie und Erfinder dieser biotypologischen Karteikarte war Nicola Pende, den Brunello Mantelli als „wichtigste[n] Vertreter des wissen 193 Vgl. 194 Das
ebenda. Luftfahrtministerium stellte auf Wunsch der GIL einen Arzt für das Collegio in Forlì. Dabei handelte es sich zunächst um den tenente medico di complemento Girola mo Santoanastasio, Mitglied des PNF, Freiwilliger in Afrika und Spanien (vgl. Capo di Stato Maggiore GIL, Oberst Bodini an Ministero dell’Aeronautica, General Urbani, 27. 3. 1940, und Ministero dell’Aeronautica, General Urbani, an Comando Generale GIL, 6. 4. 1940, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1940, b. 161, f. Collegio aeronautico di Forlì – Personale), gefolgt von Capitano medico dott. Agosti (Collegio aeronautico Raoul Moore, an Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto, 1. 5. 1943, in: ACS, Ministero dell’Aeronautica, Gabinetto 1943, b. 116, f. Collegio aeronautico di Forlì – Varie). 195 Vgl. das unpaginierte und undatierte Reglement des Collegios Lecce, in: ASLe, Prefet tura, Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455. 196 Vgl. ebenda.
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schaftlichen Rassismus in seiner italienischen Ausprägung“197 charakterisierte. Der sowohl dem Duce als auch Erziehungsminister Bottai nahestehende und in ternational anerkannte Endokrinologe Pende leitete seit 1926 in Genua das Insti tut für Biotypologie und Orthogenese.198 Seit 1940 stand er zudem der Farnesina als Rektor vor.199 Pende vertrat die lamarckistische Ansicht, dass jedes Individu um das Produkt von genetischen und sozialen Faktoren sei und deshalb durch spezielle Diäten, Sport, Erziehung und Umwelteinflüsse perfektioniert werden könne.200 Seine Methode des Social Engineering bezeichnete er als „totalitär“, da sie auf den ganzen Menschen abziele.201 Zur Erfassung des ganzen Menschen ent wickelte er die biotypologische Karteikarte mit dem Ziel, aus den Ergebnissen „eine Biopolitik zur Rassenverbesserung abzuleiten“.202 Bisher ist in der For schung umstritten, was in der Praxis aus seinen Ideen wurde: Unklar ist, ob, wann und in welchem Umfang über Schüler staatlicher Schulen oder ONB-Mitglieder Karteikarten (cartella biotipologica e ortogenetica) angelegt wurden, anhand derer man ihre Entwicklung hätte nachvollziehen und, wenn nötig, korrigierend ein greifen können.203 Glaubt man den internen Dokumenten der ONB, so fanden seit 1930 im Vor feld der ONB-Sommerlager, den Campi DUX, medizinische Untersuchungen an den 14- bis 18-jährigen Avanguardisti statt. Dabei legten die Ärzte für jeden Ju gendlichen eine cartella biotipologica an, in der Angaben zu Alter, Statur, Gewicht, 197 Brunello
Mantelli, Rassismus als wissenschaftliche Welterklärung. Über die tiefen k ulturellen Wurzeln von Rassismus und Antisemitismus in Italien und anderswo, in: Christof Dipper (Hrsg.), Deutschland und Italien 1860–1960, München 2005, S. 207– 226, hier S. 225. 198 Vgl. Kay Kufeke, Rassenhygiene und Rassenpolitik in Italien. Der Anthropologe Guido Landra als Leiter des „Amtes zum Studium des Rassenproblems“, in: Jahrbuch für An tisemitismusforschung 10 (2001), S. 265–286, hier S. 271. 199 Vgl. Ponzio, Accademia della Farnesina, S. 61 f. 200 Vgl. Maria Sophia Quine, Racial „Sterility“ and „Hyperfecundity“ in Fascist Italy. Bio logical Politics of Sex and Reproduction, in: Fascism. Journal of Comparative Fascist Studies 1 (2012), S. 92–144, hier S. 113 f.; Gillette, Racial Theories in Fascist Italy, S. 47. 201 Vgl. zum Begriff des Social Engineering: Thomas Etzemüller, Auf den Spuren einer gesellschaftspolitisch problematischen Formation: social engineering 1920–1960, in: ZeitRäume 2008, S. 39–47; Claudia Mantovani, Rigenerare la società. L’eugenetica in Italia dalle origini ottocentesche agli anni trenta, Soveria Mannelli 2004, S. 322; Quine, Racial Sterility, S. 115. 202 Mantelli, Rassismus als wissenschaftliche Welterklärung, S. 225. Giorgio Israel und Pietro Nastasi (Scienza e razza nell’Italia fascista, Bologna 1998, S. 141) erklären: „Wir sagen sofort, dass das Karteikartenprogramm Pendes nicht die Realisierung erfuhr, die er sich erhoffte.“ 203 Vgl. Quine (Racial Sterility, S. 130) behauptet, Pende habe aufgrund seiner Freund schaft zu Bottai seinen Traum der Einführung seiner Biotypologiekarte in allen staat lichen Schulen Italiens realisieren können. Roberto Maiocchi (Scienza italiana e razzi smo fascista, Florenz 1999, S. 46) verwies hingegen darauf, dass Anfang der 1930er Jahre die Karten durch die ONB eingeführt worden seien. Sollte es eine doppelte Karteikar tenführung in Schule und Jugendorganisation gegeben haben? Laut Claudia Mantovani (Rigenerare la società, S. 322) sei 1934 die Biotypologiekarte in der ONB und 1936 ob ligatorisch das libretto sanitario für alle Schüler staatlicher Schulen eingeführt worden. Vgl. auch Francesco Cassata, Building the New Man. Eugenics, Racial Science and Ge netics in Twentieth-Century Italy, Budapest 2011, S. 197.
294 VI. „Hammer und Amboss“ – die Menschenformung in der Praxis Zähnen, Sinnesorganen, Nervensystem und Ethnie erfasst wurden. Mit diesen Untersuchungen registrierte die ONB hunderttausende Jugendliche und analy sierte zentral deren Daten.204 Und auch in den Collegi, so kann diese Studie nachweisen, fanden regelmäßig biotypologische Untersuchungen an den Kollegiaten statt. In welchem Umfang die Ärzte in den Collegi die Daten erhoben, kann nicht mehr en detail rekonstru iert werden, da die Karteikarten laut Reglement in den Krankenakten der Schü ler und damit in den ärztlichen Untersuchungsräumen verwahrt wurden. In den ausgewerteten Schülerakten konnten sie demzufolge nicht aufgefunden werden. Laut zeitgenössischen Darstellungen seien „Entwicklungsstand, Alter, medizini sche Behandlungen, Geburtsort, körperliche Eigenschaften, Charakter, Neigun gen und familiäre Bedingungen“ auf der biotypologischen Karteikarte erfasst worden.205 Dabei handelte es sich aller Wahrscheinlichkeit nach jedoch um die Erstanamnese. Weitere Hinweise gaben die vierteljährlich verfassten Informa tionsblätter an die Eltern. Auf denen fanden sich die Daten zu Größe, Gewicht und Brustumfang des Kollegiaten.206 Es blieb jedoch den Collegi überlassen, noch weitere Daten an die Eltern zu übermitteln. In Brindisi waren zusätzlich Lungenvolumen, Seh- und Hörwerte sowie die Kraftaufbringung vermerkt (Abb. 19),207 wohingegen das Collegio in Venedig zusätzlich fehlende und kari öse Zähne aufführte.208 Mit Hilfe der Untersuchungen galt es nicht nur, die körperliche Entwicklung der Kollegiaten zu überprüfen und zu optimieren − „die streng genau erhobenen und kontrollierten Daten“ sollten zudem „den Medizinern für Rassenstudien dienen“, wie ein Bericht der GIL aus dem Jahre 1939 festhielt.209 Es ging vor allem darum, aus diesem Pool an Daten Rückschlüsse für künftige Ernährungs- und Ausbildungspläne zu gewinnen, um damit die physische Formung künftiger Kollegiaten oder sogar der italienischen Bevölkerung immer weiter zu optimie ren. Die Einrichtungen der Jugendorganisation waren offensichtlich ein ideales Experimentierfeld für die Verbesserung der „italienischen Rasse“, die auch das Interesse ausländischer Delegationen weckten. So fand die intensive medizinische Betreuung durch die GIL auch die Aufmerksamkeit der Hitlerjugend, die im März
204 ONB,
Relazione anno IX, in: ACS, PCM, 1928–1930, b. 1097, f. 1.1.15.2104, sf. 46; iccis Jahresbericht zum Jahr VIII an Mussolini, 10. 11. 1930, in: ACS, PCM, 1928– R 1930, b. 1097, f. 1.1.15.2104; Bericht Riccis an Mussolini, s. d. [vermutlich September 1934], in: ACS, SPD, CO, b. 330, f. 111.994. 205 Brucculeri, Gli allievi del Collegio Caracciolo, in: Collegio marinaro „Caracciolo“, Sabaudia, supplemento al n. 12 del Bollettino del Comando generale, 21. 4. 1942, S. 13 f. 206 Collegio aeronautico Forlì, Sviluppo fisico, profitto e qualità dell’allievo, 1940/41, htt ps://fratellispazzoli.it/2017/11/22/arturo-al-collegio-aeronautico/ [29. 11. 2017]; Cartel la sanitaria, in: ASLe, Com. Prov. G.I., b. cartelle allievi lettera B (4), f. Bellini, Nicola. 207 Collegio navale Brindisi, Rapporto informativo dell’allievo, 1939/1940, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Allievi, Venezia, F-GA, b. 1341, f. Fiumara, Antonio. 208 Collegio navale Venezia, Stato degli studi, dello sviluppo fisico e delle qualità dell’allievo, 1938/1939, in: ACS, SPD, CO, b. 990, f. 509.031. 209 Relazione al comandante generale sull’attività del servizio assistenziale e sanitario – anno XVI, in: Bollettino GIL, 15. 9. 1939, 3° supplemento, S. 10.
2. Der Internatsalltag 295
Abb. 19: Quartalsinformation an die Eltern mit Aufführung der körper lichen Entwicklung, Brindisi, SJ 1939/1940 (Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Allievi, Venezia, F-GA, b. 1341, f. Fiumara, Antonio)
1942 eine Ärzte-Delegation zur Besichtigung von Gesundheitseinrichtungen, u. a. in den Collegi, nach Italien schickte.210 Angesichts der Aspirationen in den italienischen Ausleseschulen hinsichtlich einer physischen Optimierung der Kollegiaten muss die Feststellung Christof Dippers, derzufolge es in Italien und Deutschland „um Prävention und Kontrolle [ging], aber Auslese bzw. Züchtung und gar Ausmerze [.] sich nur in Deutsch land“211 ereigneten, zumindest mit einem Fragezeichen versehen werden. Die Zu lassungsauswahl, die regelmäßig stattfindenden biotypologischen Begutachtun gen, der gezielte Einsatz von Nahrung und Sport sowie das gesundheitsfördernde Ambiente sind ein eindeutiges Indiz dafür, dass es auch in Italien Versuche einer „rassischen Aufartung“ gab.
210 Vgl.
Visita in Italia di sanitari della Hitlerjugend, in: GdL, 15. 3. 1942, S. 354 f.; Attività delle accademie e collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 4. 1942, S. 434; Missione sanitaria te desca alla Mutua Fiat e alla „3 gennaio“, in: La Stampa, 5. 3. 1942, S. 2. 211 Dipper, Ferne Nachbarn, S. 350.
296 VI. „Hammer und Amboss“ – die Menschenformung in der Praxis
Sozialverhalten In den Zeitzeugenerinnerungen aller Kollegiaten spielen der Zusammenhalt und die Kameradschaft eine bedeutende Rolle, schließlich wurde diese Gemeinschaft häufig als Familienersatz wahrgenommen. Vielfach sprachen die Interviewpart ner gar von Freundschaften fürs Leben, betonten jedoch ebenso, dass man sich allzu oft in Konkurrenzsituationen befand, sodass ein Freund auch schnell zum Gegner werden konnte: „Freundschaften gab es in den Klassen. Unter den Zügen gab es Konkurrenz, sagen wir eine Art Wettkampf zwischen Zug und Zug sowie Kompanie und Kompanie. Immer in Konkurrenz, immer unter den Ersten. Auch in unserer Kompanie, zwischen den drei Zü gen gab es immer diese, sagen wir, diese Versuche, sich zu profilieren. Diesen Wettstreit hat es immer gegeben. Insgesamt Nacheiferung.“212
Das Verhalten der Schüler war auf der einen Seite durch ein starkes Zusammen gehörigkeitsgefühl innerhalb der Gruppe geprägt, wie die Kollegiaten immer wie der in den Interviews betonten. Als Beispiel dafür führten sie häufig Anekdoten, wie die folgende, an: „Wir haben uns sehr unterstützt. Zum Beispiel, einmal nach einem Test in Griechisch, der sehr sehr wichtig für das Endergebnis war, haben wir die ganze Aufgabe am Nachmittag nochmal gemacht und nachts schafften wir es, indem wir in das Lehrerzimmer einbrachen, diese zu ersetzen. Alle bestanden!“213
Andererseits war vor allem in den Marinecollegi der sogenannte nonnismo ver breitet, der wohl am besten mit dem deutschen Wort „Pennalismus“ übersetzt werden kann. Dieser nonnismo war ein zentraler Punkt in den Erinnerungen der Zeitzeugen und ebenso häufiges Thema in den zeitgenössischen Schülerzeitungen oder Abschlussjahrbüchern.214 Es handelt sich dabei um ein besonders beim Mi litär beliebtes Initiationsritual mit jahrhundertealter Tradition, bei dem sich Neu ankömmlinge der Gruppe würdig erweisen mussten und vorgeblich auch das Ge meinschaftsgefühl gestärkt werden sollte. Die älteren Schüler (anziani) ließen die Neuankömmlinge (pivoli), die spivolatura durchlaufen, d. h., sie mussten Ernied rigungen und derbe Scherze der Älteren erdulden und Gehorsam zeigen. In den zeitgenössischen Beschreibungen werden vielfach Fälle von Beleidigungen oder das Entwenden von persönlichen Gegenständen durch die Älteren geschildert.215 In Brindisi brachte den pivoli das Fest der Heiligen Barbara, Schutzpatronin der Königlichen Marine, am 4. Dezember Erleichterung. An dem Tag stiegen die pivoli zu „Schülern“ auf und waren von nun an meist von den erniedrigenden Tätig keiten befreit. Insgesamt suchte die Leitung jedoch derlei Auswüchsen entgegen zuwirken. Wie bereits weiter oben thematisiert, wurden beispielsweise die Söhne des Giovinezza-Komponisten Blanc aus dem Collegio ausgeschlossen, nachdem sie einem pivolo eine Tonsur verpasst hatten. Auch versuchte man, Neuankömm 212 Interview mit Anselmo Rossi (Bozen 1940–1943), 17. 3. 2014, S. 4. 213 Interview mit Giorgio Gasparini (Venedig 1939–1942), 4. 4. 2014-K, S. 3. 214 Ricordi di un pivellone, in: Noi del Navale, N° 1, Venedig 1938, s. p. (ACS,
MinCulPop, Gabinetto, b. 97). 215 Vgl. S. Barbara (Dal diario di un pivolaccio), in: MAK-π-100 [Brindisi 1942], S. 56.
2. Der Internatsalltag 297
linge zu schützen, indem den Greenhorns ein sogenannter centenario zur Seite gestellt wurde. Dabei handelte es sich um einen älteren Schüler mit derselben Ma trikelendziffer des jüngeren. Dieser ältere Schüler sollte den jüngeren unter seine Fittiche nehmen und vor Auswüchsen des nonnismo beschützen. Ein Zeitzeuge aus Venedig erinnerte sich sehr positiv an seinen centenario: „Er war ein Gentle man, er verteidigte mich wenn nötig und wir blieben Freunde fürs Leben.“216 Insgesamt kann festgehalten werden, dass es – hervorgerufen durch die ständi gen Leistungsproben innerhalb der Collegi – häufig zu Machtkämpfen und Sti cheleien unter den Heranwachsenden kam. Nichtsdestotrotz machten auch die Kollegiaten innerhalb der Collegi die Erfahrung echter Freundschaft und Loyali tät, wie abschließend folgendes Zitat aus dem Tagebuch eines Bozen-Kollegiaten verdeutlicht: „Heute geht es mir schlecht. Mit einer Ausnahme sind meine Kameraden mir gegenüber flegelhaft gewesen. Aber es gibt Fulvio, der nicht scherzt, und wenn es gilt, mich zu vertei digen, dann verteidigt er mich. Dem Klassensprecher, der mich schlecht behandelte, hat er bereits eine Lektion erteilt.“217
Disziplinierungsmaßnahmen „Die Disziplin war eisern, preußisch und spartanisch zugleich, jede kleine indivi duelle oder kollektive Verfehlung wurde hart bestraft.“218 „Die Disziplin war sehr hart. Wenn sie uns zum Beispiel um drei Uhr nachts reden hörten, kamen sie und ließen uns im Winter alle auf dem Versammlungsplatz antreten.“219 Mit diesen Worten beschreiben ehemalige Kollegiaten aus Bozen und Venedig die Disziplin innerhalb ihrer Collegi. Die eiserne Disziplin war ein häufig wiederkehrendes Thema in den Zeitzeugenbefragungen und selbst in den Rückmeldungen der Hinterbliebenen.220 Auch in den Erzählungen der Väter scheint die äußerste Strenge innerhalb der Mauern omnipräsent gewesen zu sein. Die Schüler waren ständiger Beobachtung durch ihre Erzieher, Lehrer und Ausbilder ausgesetzt. Lediglich der Sonntagnachmittag stand ihnen zu freien Ver fügung. Hatten sie sich jedoch während der Woche fehlverhalten – dazu zählte etwa das Rauchen, Unpünktlichkeit, ein unordentliches Bett oder eine bean standete Uniform – oder waren durch schlechte Leistungen aufgefallen, konnten ihnen selbst diese wenigen freien Stunden gestrichen werden.221 Damit war die Ausgangssperre (consegna) eine der gefürchtetsten Disziplinarmaßnahmen, wie sich einem Abschlussjahrbericht entnehmen lässt, der die Klage enthält: Im Colle 216 Interview mit Giorgio Gasparini (Venedig 1939–1942), 4. 4. 2014-K, S. 2. 217 Diario Silvano Traina (Bozen 1942–1943), 6. 2. 1943, S. 9. 218 Rossi, Ragazzo del’43, S. 15. 219 Interview mit Falco Accame (Venedig 1939–1943), 24. 3. 2014, S. 1. 220 Vgl. Fiorella Cappello, Il ragno, la mosca. In collegio al Nord durante la
guerra. Dalle pagine autobiografiche di Federico Cappello in archiviodegliiblei.it, Testi e ricerche, online luglio 2014, S. 9. 221 „Die Pünktlichkeit war natürlich obligatorisch, um leichte Strafen wie das Pistenrennen oder das Ausgehverbot am freien Sonntag zu vermeiden.“ Schreiben Michele Sansonis (Bozen 1939–1943), 14. 8. 2013.
298 VI. „Hammer und Amboss“ – die Menschenformung in der Praxis gio, „wo man arbeitet, schwitzt, gehorcht, lernt und Verfehlungen nicht durch liebevolle Ermahnungen der Mutter, sondern mit Entschiedenheit und ohne Diskussion durch die Ausgangssperre sanktioniert werden“.222 Noch gefürchteter als die Ausgangssperre war jedoch der sogenannte tavolaccio. Dabei handelte es sich um eine Art kleines Gefängnis, ein Arrestzimmer mit Holztisch. In dieses Gefängnis konnten die Schüler tagelang eingesperrt werden und mussten auf dem harten Holztisch schlafen.223 Einen solchen tavolaccio gab es zumindest in Bozen, Brindisi und Venedig.224 So notierte ein Kollegiat aus Bozen fast erleichtert in sein Tagebuch: „Heute hat der 2. Kommandant unsere Uniform vor dem Ausgang kontrolliert. Mich und einen anderen hat er mit unförmiger Mütze gesehen. Ich habe ihm den Grund erklärt, aber er hat mir nicht geglaubt. Er sagte, ich müsste nun für sechs Tage in das Gefängnis. Aber da ich sehr gut sei, erließ er mir die Strafe und ich erhielt nur einmal Ausgehverbot.“225
Nicht weniger Schrecken rief die Streichung des „Heimaturlaubs“, also der Auf enthalt bei den Eltern während der Weihnachts- oder Osterferien, hervor, der ebenso aufgrund disziplinarischer Vergehen oder unzureichender schulischer Leistungen verboten werden konnte.226 Über die Ahndung von geeigneten Disziplinarmaßnahmen entschied laut Reg lement der Disziplinarrat, der aus 1. und 2. Kommandanten, Rektor, Vizerektor, Adjutant und Erziehern bestand.227 Zur Abschreckung und Disziplinierung konnte der Rat neben Ausgehverbot, Arrest und Streichung des Urlaubs auch den Entzug von Abzeichen und Gewehren oder die Isolation während des Lernens, des Essens und der Freizeit als Strafe verhängen.228 Neben diesen Individualstrafen gab es, wie bereits in obigen Zitaten angedeu tet, auch Strafen, die häufig als Kollektivstrafen, beispielsweise bei überschrittener Lautstärke, verhängt wurden. Dazu gehörten das gemeinsame (nächtliche) Run den- bzw. Pistenrennen, das Hoch- und Runterklettern am Mast oder das (stun denlange) Ausstrecken der Arme mit dem Gewehr.229 Selbst diese schikanösen 222 Il primo giorno, in: MAK-π-100 [Brindisi 1942], S. 25. 223 Cella di rigore, in: Corso Sagittario [Venedig 1942], s. p.;
Cella, in: Corso Delfino [Ve nedig 1943], S. 25. 224 Schreiben Giovanni Carbonis (Bozen 1940–1943), 20. 5. 2014; Interview mit Donato Fantetti (Bozen 1942–1943), 26. 3. 2014-K, S. 1; Interview mit Silvano Traina (Bozen 1942–1943), 18. 3. 2014, S. 8. 225 Diario Silvano Traina (Bozen 1942–1943), 24. 1. 1943, S. 8. 226 Vgl. PNF, Collegio navale GIL Venezia, Circolare n. 7: disposizioni a carattere perma nente, 29. 1. 1940, in: AdV. 227 Vgl. das unpaginierte und undatierte Reglement des Collegios Lecce, in: ASLe, Prefet tura, Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455. 228 Die offizielle Abfolge bei Disziplinarvergehen war folgende: „a) mündliche Verwar nung; b) Entzug des Freigangs; c) schriftliche Verwarnung; d) öffentliche Verwarnung; e) Verlust der Abzeichen; f) Entlassung; g) Ausschluss aus allen Instituten der GIL.“ Siehe ebenda; Note sulla personalità complessiva, SJ 1942/1943, in: ASLe, Com. Prov. G.I., b. cartelle allievi lettera B (4), f. Bellini, Nicola; Opera Balilla, Collegio navale di Venezia. Statuto e regolamento, S. 6. 229 „Die Strafen bestanden im Auf- und Abklettern des Mastes, Runden im Innenhof rennen und bei schlimmeren Vergehen drohte Gefängnis für zwei oder mehr Tage.“ Schreiben Marcello Pesces (Brindisi 1941–1942), 11. 1. 2013. Vgl. darüber hinaus Schreiben Vincenzo Borrutos (Venedig bzw. Saronno 1944), 17. 9. 2012.
2. Der Internatsalltag 299
Maßnahmen deutete ein Zeitzeuge retrospektiv als hilfreiche Lektion für das Le ben um: „Bei diesen anstrengenden und kräftezehrenden Bestrafungen verstand ich eine Sache und die behielt ich mir fürs Leben: Wenn du denkst es nicht mehr zu schaffen, hast du noch so viel Energie unter der Bedingung dass du die Zähne zusammen beißt und die Schmerzen erträgst.“230
Wie unberechenbar in dem Zusammenhang auch die Erzieher agieren konnten, zeigt eine Episode aus dem Tagebuch eines Bozen-Kollegiaten: „Heute mussten wir vier Strafrunden rennen. Die letzte liefen wir schlecht, weil wir schon müde waren, und der Erzieher warf sich wie ein Bolide in die Reihen und teilte Tritte und Schläge in alle Richtungen aus. Ich und andere Jungs konnten sich rechtzeitig in Sicherheit bringen, aber einer schaffte es nicht rechtzeitig und den erwischte es am Kinn, sodass ihm zwei Zähne ausfielen. Er ist zur Krankenstube gegangen und nachdem der Arzt ihm ge holfen hat, hat dieser dem Kommandanten Bericht erstattet. Es geht in der Kompanie das Gerücht um, dass der Erzieher weggejagt wird.“231
Die Erinnerungen an die „Schleifmethoden“ stehen in gravierendem Gegensatz zur offiziellen Darstellung der GIL. Diese gerierte sich in ihren Anweisungen sehr „human“, lehnte Zwang und Autoritätsexzesse ab und betonte sehr stark das Ab rücken von antiquierten Erziehungsmethoden: „Autoritäres Militärverhalten [caporalismo] hat noch nie – besonders auf dem heiklen Ge biet der Jugenderziehung – gute Ergebnisse hervorgebracht und desto weniger kann es für das Erziehungssystem der Collegi übernommen werden, die sich von den ganzen ähnli chen Instituten gerade wegen ihrer Neuheit und Humanität der faschistischen Ausrichtung und Erziehungsmethoden unterscheiden muss.“232
Es ist zu vermuten, dass die Militärs erfolgreich ihre „Schleiftradition“ durchset zen konnten, denn ein zeitgenössischer Bericht hielt fest: „Die Disziplinarstrafen sind diejenigen, die für die Königliche Armee gelten, nur in Anbetracht des Alters der Jugendlichen etwas abgeschwächt.“233 Will man den offiziellen vierteljährlich publizierten Berichten der Bozen-Lei tung Glauben schenken, so waren die Disziplinarmaßnahmen von großem Erfolg gekrönt: „Die Disziplin kann als gut angesehen werden. Fast alle Schüler halten sich freiwillig dank des Ausbildungssystems, der Prävention durch Überzeugung und dem stetigen und ständi gen Eifer der Erzieher an die Regeln des Collegios. Die Zahl der Bestraften sinkt weiter (8–9%), während die Zahl der Belobigten steigt (5 ½%). Die pädagogischen Methoden des Collegios finden überall ihre Anwendung, um junge Menschen von einem festen und loy alen Charakter zu formen und zu schmieden, von reinem Glauben und unermüdlichem
230 Rossi, Ragazzo del’43, S. 16. 231 Diario Silvano Traina (Bozen 1942–1943), 20. 1. 1943, S. 7. 232 Vgl. Bonamici, Accademie e collegi. Direttive per le Accademie
e i collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 1. 1943, S. 192. 233 D.M., Spunti di vita interna, in: Collegio della G.I.L. di specializzazione militare, Bolza no, supplemento al n. 5 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., s. d. [Frühjahr 1943], S. 3.
300 VI. „Hammer und Amboss“ – die Menschenformung in der Praxis Willen, von schneller Intuition und konstruktiver Dynamik als Vorbereitung von ausge zeichneten Faschisten, Unterführern und spezialisierten Unteroffizieren.“234
Der folgende Bericht hielt dann fest: „Der Prozentsatz der Bestraften sinkt weiter auf ca. 7%, während der der Belobigten auf 6% steigt.“235 Um die Schüler zu disziplinieren und ihnen das Gefühl einer latenten Kontrolle zu geben, beobachteten sich die Schüler auch untereinander selbst während des Freigangs. Für Venedig, Brindisi und Bozen ist die ronda (Abb. 20) überliefert,236 ein aus drei Schülern des ältesten Kurses bestehender Wachdienst, dessen Aufga be darin bestand, die Kollegiaten auf Freigang zu beobachten und Vergehen wie Rauchen, das Ablegen der Handschuhe oder Bordellbesuche zu unterbinden. Nichtsdestotrotz gelang es den Kollegiaten, solch „ehrlose Orte“237 aufzusuchen, wie auch die deutschen Ausleseschüler mit Abscheu bemerkten.238 Und auch während der Oster-, Weihnachts- und Sommerferien blieben die Kollegiaten in ihren Heimatorten unter latenter Beobachtung. Nach ihrer An kunft und vor ihrer Rückfahrt mussten sie sich bei der zuständigen GIL-Stelle ihres Heimatortes melden, um das visto arrivare und visto partire unterschreiben zu lassen. Während ihres Heimataufenthaltes konnten die Schüler für Aufgaben der GIL eingesetzt oder aber bei Disziplinarvergehen frühzeitig durch die GIL wieder in ihr Collegio zurückgeschickt werden.239 All diese Maßnahmen zielten auf die Internalisierung des erwünschten diszipli nierten und ehrhaften Verhaltens und verdeutlichen zugleich die weitreichende Verfügungsgewalt der GIL über die Jugendlichen.
Das Verhältnis zum Elternhaus Der faschistische Staat vertrat den Anspruch, oberste Erziehungsinstanz zu sein. Allein die Institutionen des faschistischen Staates – Schulen und GIL – waren nach dieser Lesart imstande, die Heranwachsenden zu wertvollen Elementen für das Kollektiv zu erziehen, wohingegen ein „familiärer Egoismus“ den Jugendli
234 Relazione
sintetica delle attività svolte al Collegio nel trimestre gennaio – febbraio – marzo XX, in: Collegio della G.I.L. di specializzazione militare, Bolzano, supplemento al n. 12 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 21. 4. 1942, S. 12. 235 Relazione sintetica delle attività svolte al Collegio nel trimestre aprile – maggio – giu gno XX, in: Collegio della G.I.L. di specializzazione militare Bolzano, supplemento al n. 18 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 21. 7. 1942, S. 7. 236 Vgl. Ronda, in: Corso Delfino [Venedig 1943], S. 17; Cineparodia, in: MAK-π-100 [Brindisi 1939], S. 28; Bolzano 1939–1943, tomo 1°, 3:07, in: AdV. 237 Vgl. Interview mit Iginio Bonoldi (Venedig 1941–1943), 7. 4. 2014-K, S. 10. 238 „Es hat mich abgestossen [sic!] zu sehen, daß 15–18 jährige Jungens auf den ,Collegio’s‘, die die Hochburgen des Faschismus sind, die Mädchen nur mehr als Gebrauchsgegen stände ansehen und auch ungehindert der Prostitution fröhnen.“ Walter Kilg, Die faschistische Jugenderziehung, s. p., in: Italienfahrt der 8. Klasse Reichsschule der N.S.D.A.P. Feldafing, 7. November bis 6. Dezember 1940, in: AdV. 239 Vgl. Licenze allievi accademie e collegi, in: Bollettino GIL, 15. 11. 1938, S. 28. Vgl. da rüber hinaus das unpaginierte und undatierte Reglement des Collegios Lecce, in: ASLe, Prefettura, Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455.
2. Der Internatsalltag 301
Abb. 20: „La ronda“, Bozen, undatiert (AdV)
chen einen falschen Weg weisen konnte.240 Zur Legitimierung dieses Erziehungs modells berief sich die GIL auf Kronzeugen wie Aristoteles, Quintilian und Michel de Montaigne als vermeintliche Befürworter einer rein staatlichen Erzie hung.241 Aufgrund dieses Anspruchs kam dem Elternhaus – trotz der offiziellen Glorifizierung der Familie – nur eine untergeordnete Rolle bei der Erziehung zu. Um die Jugendlichen dem „familiären Egoismus“ zu entziehen, priesen zeitgenös sische Autoren die Collegi der GIL als Erziehungsinstanz par excellence, in denen Erzieher und gleichaltrige Kameraden gleichsam als „neue Familie“ die Jugend lichen auf ihrem Weg der Vervollkommnung begleiteten.242 Um den Einfluss des Elternhauses zu begrenzen, versuchte die GIL eine räum liche Distanz zwischen Eltern und Kindern zu schaffen. Unter dem Vorwand, ein möglichst weit entferntes Collegio wäre dem Lernen zuträglicher, wurde den Eltern angeraten, ihre Kinder nicht in einem Collegio ihrer Stadt anzumelden.243 Besuchten Eltern ihre Kinder persönlich im Collegio, waren diese Treffen ge nauestens geregelt.244 In jedem Collegio gab es ein sogenanntes parlatorio, ein Be suchszimmer, in dem die Treffen ausschließlich stattfinden durften. Dabei war es den Eltern verboten, ihren Kindern Essen oder Wertgegenstände mitzubringen, um keinen Neid unter den Kollegiaten aufkommen zu lassen. Ein Zusammentref fen in diesem Besuchszimmer war, abgesehen von einem Treffen außerhalb des Collegios an einem Sonntagnachmittag, die einzige Möglichkeit für einen Aus 240 Vgl. 241 Vgl.
Rossi, Educazione fascista, S. 25, Zitat: S. 48. Luigi Tumia, Scuola, stato e famiglia nel campo educativo dei giovani, in: Collegio della G.I.L. di specializzazione militare Bolzano, supplemento al n. 5 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., s. d. [Frühjahr 1943], S. 4–6, hier S. 4 f. 242 Vgl. Rossi, Educazione fascista, S. 49, 100–102. 243 Vgl. Scuole e collegi istituiti dalla G.I.L., in: CdS, 17./18. 7. 1941, S. 4. 244 Um in Notfällen schnell kommunizieren zu können, mussten die ortsfremden Eltern einen sogenannten raccomandatario bestellen. Dabei handelte es sich um eine ortsan sässige Person des Vertrauens der Eltern, die zugleich Ansprechpartner für die Leitung des Collegios war und bei der die jüngeren Schüler auch ihren Freigang verbringen konnten. Vgl. PNF, Collegio navale GIL Venezia, Circolare n. 7: disposizioni a carattere permanente, 29. 1. 1940, in: AdV.
302 VI. „Hammer und Amboss“ – die Menschenformung in der Praxis tausch zwischen Eltern und Kindern, da es den Schülern unter der Woche zu meist verboten war, das Collegio zu verlassen. Diese Treffen mit den Eltern in den Collegi scheinen ausgesprochen selten gewesen zu sein. Die wenigsten interview ten Kollegiaten konnten sich daran erinnern: Entweder war eine solche Fahrt für die Eltern zu teuer oder die Eltern waren zu stark am Arbeitsplatz eingebunden. Neben diesen begrenzten persönlichen Kontakten hatten die Eltern nur die Mög lichkeit, ihre Kinder im Rahmen repräsentativer Veranstaltungen zu treffen: So luden die Collegi-Leitungen die Eltern ein, um an den Schuljahresabschlussver anstaltungen teilzunehmen, während der die Kollegiaten ihre gymnastischen Übungen vorführten.245 Laut Reglement war es die Aufgabe des 1. Kommandanten, den Briefkontakt mit den Eltern zu führen und ihnen monatlich eine Kurzeinschätzung, viertel jährlich ein Informationsblatt mit den erbrachten schulischen Leistungen, diszip linarischen Vergehen, Belobigungen und der körperlichen Entwicklung sowie jährlich eine Gesamteinschätzung zukommen zu lassen.246 Besonders gefürchtet waren vielen Kollegiaten die regelmäßigen Quartalsinformationen, denen dann zumeist schriftliche Rügen ihrer Eltern folgten. In den Interviews erinnerten sich die Zeitzeugen häufig an die Ermahnungen. Während einerseits eine räumliche Distanz zwischen Eltern und Kind angestrebt wurde, waren die Eltern andererseits dazu aufgefordert, die GIL in ihrem Erzie hungsauftrag zu unterstützen und zu kollaborieren. Ihre Aufgabe bestand maßgeb lich darin, die Erziehungsarbeit der GIL aus der Ferne über Briefkontakt zu flankie ren. Den Akten des Kriegswaisencollegios in Lecce kann entnommen werden, dass der 1. Kommandant die Eltern respektive die Witwen häufig aufforderte, regelmä ßigen brieflichen Kontakt zu ihren Kindern zu halten, um das Heimweh vergessen zu machen, sie zu Höchstleistungen anzuspornen oder ihnen die mit der Aufnah me in ein solches Kriegswaisencollegio verbundene Ehre vor Augen zu führen.247 Die Eltern wurden ermahnt, dem Erzieher jegliche Gemütsveränderung, die sie in den Briefen ihres Kindes feststellten, mitzuteilen. Die Direktive lautete: „Informie ren Sie in jedem Fall unbedingt die Vorgesetzten, ohne dass ihre Kinder davon erfahren. […] Verstecken Sie es nicht vor dem Erzieher!“248 Im Sinne einer „erfolg reichen“ Erziehungsarbeit sollten die Erzieher alles über ihre Zöglinge erfahren, auch auf Kosten des Vertrauensverhältnisses zwischen Eltern und Kind. Der vorhandene Briefwechsel zwischen Collegi-Leitung in Lecce und Elternhäu sern legt im Übrigen die Vermutung nahe, dass die Briefe der Schüler an ihre Eltern keiner Zensur unterlagen. In ihren Briefen an die Eltern schilderten die Kollegiaten aus Lecce offensichtlich häufig den desolaten Bauzustand, sodass der Kommandant schließlich in seinen Briefen an die Elternhäuser dagegen arbeiten musste. 245 Vgl. 246 Vgl.
Attività delle accademie e collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 7. 1942, s. p. das unpaginierte und undatierte Reglement des Collegios Lecce, in: ASLe, Prefet tura, Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455. 247 Vgl. exemplarisch die Schreiben an die Mutter Umberto Roccas, in: ASLe, Com. Prov. G.I., b. cartelle allievi lettera R (35), f. Rocca, Umberto. 248 Tumia, Scuola, stato e famiglia, in: Collegio della G.I.L. di specializzazione militare Bolzano, supplemento al n. 5 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., s. d. [Frühjahr 1943], S. 6.
2. Der Internatsalltag 303
Insgesamt lässt sich sagen, dass eine Systemkonkurrenz zwischen Elternhaus und Jugendorganisation von den Kollegiaten nicht wahrgenommen wurde. Dies dürfte dem Umstand geschuldet sein, dass die Eltern bei der Bewerbung das Initi ativrecht hatten. Dezidiert antifaschistisch eingestellte Eltern meldeten ihre Kin der sicher nicht in den Collegi an. So kann davon ausgegangen werden, dass es, erstens, zu keiner großen Wertekollission zwischen den im Elternhaus vermittel ten Werten und denen des Collegios kam, aus denen schließlich Loyalitätskon flikte hätten entstehen können und, zweitens, zumindest die Elternhäuser der Kollegiaten keine „Bollwerke“ – wie häufig in der Literatur behauptet – gegen den Faschismus waren.
Das Verhältnis zur Kirche Das Verhältnis des Faschismus zur Kirche war ausgesprochen zwiespältig. Einer seits erhob der Faschismus den Katholizismus durch die 1929 abgeschlossenen Lateranverträge zur Staatsreligion. Andererseits kritisierte Mussolini die Kirche immer wieder und bezichtigte sie, zum Niedergang Italiens beigetragen zu haben. So erklärte er gegenüber Bottai im Frühjahr 1940: „Die Kirche ist immer, ich wie derhole, immer das Verderben Italiens gewesen. […] Die Kirche hat dieses Volk verweichlicht, geschwächt, ihm den Geschmack an der Herrschaft genommen und es entwaffnet.“249 Es stellt sich die Frage, wie sich das Verhältnis zur Kirche in diesen „Schmieden des neuen Menschen“ gestaltete. Ganz grundsätzlich sicherten bereits die ersten Statuten den katholischen Kol legiaten die religiöse Betreuung in den Collegi zu.250 Angehörige anderer Religio nen erhielten die Möglichkeit, bei der Bewerbung anzugeben, welcher Religion sie angehörten und wie sie sich die Ausübung ihrer Religion innerhalb des Collegios vorstellten. Schließlich entschied der Kommandant, ob eine Praktizierung des Glaubens realisiert werden konnte. In den Collegi fand regulärer Religionsunterricht statt. Die regionalen religiö sen Institutionen hatten dabei das Vorschlagsrecht des Religionslehrers. So schlug in Venedig etwa die Pfarrei S. Elena dem Rektor der Schule den Geistlichen für den Unterricht vor, in Lecce die Nachbargemeinde Monteroni und in Bozen die Dominikaner.251 Auch während des „Bürgerkriegs“ änderte sich an diesem Vor schlagsrecht nichts.252 Die ausgewählten Kleriker waren nicht nur für die Ab haltung des Religionsunterrichts, sondern auch für die Abnahme der Beichte und 249 Bottai, Diario, 15. 4. 1940, S. 187. 250 Vgl. Opera Balilla, Collegio navale di Venezia. Statuto e regolamento, S. 4. 251 Vgl. Parrocchia S. Elena Venezia an den Rektor des Marinecollegios, 21. 8. 1942,
in: Ar chivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Personale, Collegio Navale, GIL, Venezia, A-L, b. 1163; Antonio Di Milia, Relazione sull’inchiesta al collegio „Fiorini“ per orfani di guerra in Lecce, 20. 5. 1944, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Personale, pratiche, varie, Collegi – Asili, b. 1162, f. Collegio Fiorini Lecce. 252 Der Kaplan Angelo Macchi wurde dem Marinecollegio Venedig mit Sitz in Saronno durch die Chiesa Prepositurale, S.S. Apostoli Pietro e Paolo, Aggregata alla S.S. Basilica Vaticana, Saronno zur Verfügung gestellt. Vgl. Sac. Angelo Macchi, Erklärung, 27. 5. 1945, in: ACS, MPI, IEFS, FPIE, b. 41, f. Tardioli, Dionisio.
304 VI. „Hammer und Amboss“ – die Menschenformung in der Praxis die sonntägliche Messe verantwortlich.253 Die Messe feierten die Schüler entwe der in den Collegi oder in den nahegelegenen Gotteshäusern. So marschierten die Bozen-Kollegiaten gemeinsam für die sonntägliche Messe in die Dominikanerkir che oder an hohen Feiertagen in den Dom,254 die Schüler des Collegios in Vene dig feierten in der Kirche von Sant’Elena,255 wohingegen die Kollegiaten von For lì die Messe in ihrer eigenen „hübschen Kapelle“ begingen (Abb. 21).256 Beim sonntäglichen Gottesdienst wurden die Kollegiaten auch in die Liturgie einge bunden (Abb. 22). Für gewöhnlich standen zwei bewaffnete, für den Wachdienst abgeordnete Schüler an den Seiten des Altars, zwei weitere Schüler waren als Messdiener tätig.257 Das Verhältnis zu den Geistlichen wurde von den Kollegiaten unterschiedlich bewertet. Während ein Bozen-Kollegiat den Religionslehrer und Dominikanerbruder Giovanni di Mecola als sehr bemüht und von allen geschätzt bezeichnete,258 hielt ein Venedig-Kollegiat fest: „Es ist nicht so, dass dem Reli gionslehrer viel Gastfreundschaft entgegengebracht worden wäre.“259 Ein jedes Collegio war mit einer kleinen Kapelle ausgestattet.260 Damit wollte man offenkundig der Kirche entgegenkommen, die daran ein großes Interesse hatte, wie eine kurze Episode aus der Anfangszeit der Collegi verdeutlicht: In dem Gebäude des Luftwaffencollegios in Forlì sollte zunächst die Frauenakademie von Orvieto untergebracht werden. Als der zentrale Vermittler zwischen Papst und Mussolini während der Lateranverträge, Pietro Tacchi Venturi, 1935 in Erfahrung brachte, dass in dem Gebäude keine Kapelle geplant war, wandte er sich mit der Bitte an Mussolini, in dem Gebäude eine Kapelle errichten zu lassen. Mussolini ließ dessen Schreiben mit dem Hinweis, dass er diesem Wunsch zustimmte, an Ricci weiterleiten, der schließlich in einem Schreiben versicherte, dass eine Kapel le errichtet würde.261 Fortan wurden die Neubauten mit Kapellen geplant. Das offizielle, nach außen gezeichnete Bild war das der selbstverständlichen, reibungslosen Zusammenarbeit von religiösen Würdenträgern und faschistischen Parteifunktionären. Ob an kirchlichen oder faschistischen Feiertagen, bei Gebäu deeinweihungen, Fahnenweihen oder der Würdigung gefallener Faschisten, im mer standen Geistliche und Politiker einträchtig nebeneinander. So etwa bei der 253 Kommandant
Ugo Cosentini an das GIL-Generalkommando, 14. 1. 1941, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Personale, Collegio Navale, GIL, Venezia, A-L, b. 1163. 254 Vgl. Schreiben Giuseppe Cinquepalmis (Bozen 1940–1942), 1. 5. 2012, S. 2; Schreiben Corrado Caldeses (Bozen 1941–1943), 20. 11. 2012, S. 1. 255 Mistico, in: Corso Delfino [Venedig 1943], S. 75; Interview mit Iginio Bonoldi (Venedig 1941–1943), 7. 4. 2014-K, S. 11. 256 Vgl. I giovanissimi dell’aviazione, in: Ali di guerra, 10. 10. 1941, S. 4. 257 Vgl. das unpaginierte und undatierte Reglement des Collegios Lecce, in: ASLe, Prefet tura, Serie I, IX versamento, b. 83, f. 455. 258 Vgl. Interview mit Donato Fantetti (Bozen 1942–1943), 26. 3. 2014-K, S. 8. 259 Interview mit Giorgio Gasparini (Venedig 1939–1942), 4. 4. 2014-O, S. 6. 260 Vgl. Interview mit Giuseppe Cinquepalmi (Bozen 1940–1942), 23. 4. 2014-O, S. 1; Comandante Angelo Meloni an Preside della Provincia, 27. 1. 1938, in: ASPBr, cat. XI, cl. 8, sc. 1, b. 250, f. 10. 261 Vgl. den Schriftwechsel im Oktober 1935, in: ACS, PCM, 1934–1936, b. 1760, f. 1.1.15.5176.
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Abb. 21: Die Kapelle im Luftwaffencollegio Forlì, undatiert (Archivio Cesare Valle, CV-FOT-061)
Abb. 22: Die Messe an Bord der San Giorgio, Sommer 1939 (Archivio Istoreto, fondo Valente Silvio, Album fotografico Campagna navale XVII)
Einweihung des Collegios in Venedig, bei dem der Patriarch von Venedig das Collegio segnete262 und – wie der Corriere della Sera hervorhob – sich mit einer patriotischen Rede an die Teilnehmer der Zeremonie wandte.263 Ebenso verhielt es sich bei der Einweihungszeremonie in Brindisi, bei der der Erzbischof von
262 Vgl.
Venezia. L’inaugurazione del Collegio Navale della Gioventù Italiana del Littorio, in: Giornale Luce B1218, 15. 12. 1937. 263 Vgl. Il Collegio navale M. Foscarini inaugurato a Venezia, in: CdS, 6. 12. 1937, S. 5. Auf die „Unterstützung, die dem Regime durch zahllose katholische Würdenträger zuteil wurde“, ist schon andernorts mehrfach hingewiesen worden. Lutz Klinkhammer, Mus solinis Italien zwischen Staat, Kirche und Religion, in: Klaus Hildebrand (Hrsg.), Zwi schen Politik und Religion. Studien zur Entstehung, Existenz und Wirkung des Totali tarismus, München 2003, S. 73–90, hier S. 87.
306 VI. „Hammer und Amboss“ – die Menschenformung in der Praxis
Abb. 23: Enthüllung und Segnung des Schriftzuges der Schule, Forlì, 6. Oktober 1941 (Archivio Cesare Valle, CV-FOT-061)
Brindisi die Kapelle und das Gebäude segnete.264 An hohen christlichen Feierta gen, wie etwa beim Osterfest, besuchte der Patriarch von Venedig, Kardinal A. Piazza, das Collegio, richtete an Schüler und Führungskräfte das Ostergebet und aß gemeinsam mit ihnen im Collegio.265 Auch die Tage zentraler katholischer Heiliger, wie etwa der Schutzheiligen der Flieger (Madonna von Loreto) und der Schutzpatronin der Königlichen Marine (Heilige Barbara), wurden in den Collegi feierlich begangen.266 Die hohen geistlichen Führer feierten aber nicht nur die Messen für „ihre“ Heiligen, sondern auch für „faschistische Heilige“, wie etwa die Messe im Collegio von Forlì am Todestag von Bruno Mussolini.267 Diese perma nenten gemeinsamen Veranstaltungen evozierten bei den Kollegiaten nahezu den Eindruck einer Symbiose zwischen Faschismus und Katholizismus. 264 Vgl.
L’inaugurazione del Collegio navale, in: L’informatore, 11. 12. 1937; I collegi navali per la Gioventù del Littorio inaugurati a Venezia e Brindisi, in: La Stampa, 6. 12. 1937, S. 6; L’inaugurazione del Grande Collegio Navale della Gioventù Italiana del Littorio, in: Giornale Luce B1217, 15. 12. 1937. 265 Vgl. Attività dei collegi e accademie della G.I.L., in: GdL, 15. 5. 1941, S. 392. Ähnlich verhielt es sich in Forlì. 266 Vgl. Attività delle accademie e collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 1. 1942, S. 227. 267 Vgl. Attività delle accademie e collegi della G.I.L., in: GdL, 15. 5. 1942, S. 498; Riti a Predappio e a Forlì presenziati da Fougier e Ravasio, in: CdS, 23. 4. 1942, S. 1; Il Sotto segretario all’Aeronautica commemora Bruno Mussolini. Presente il Vice Segretario del Partito Carlo Ravasio, in: PdR, 25. 4. 1942, S. 1; Anniversario di Bruno, in: Collegio ae ronautico Bruno Mussolini, Forlì, supplemento al n. 12 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 22. 4. 1942, S. 8–12.
2. Der Internatsalltag 307
Trotz dieser offen zur Schau getragenen Harmonie bestanden, wie kaum anders zu erwarten, nicht unerhebliche Spannungen und Konflikte. Eine Zeit intensiver Spannungen zwischen GIL und Kirche begann im April/Mai 1940, nachdem be kannt wurde, dass ein Religionslehrer am Collegio Littorio in Rom seinen Schü lern einen vulgären Witz über Mussolini erzählt habe.268 Der Geistliche wurde sofort entlassen und in die Verbannung geschickt. Der amtierende Parteisekretär Muti nutzte den Vorfall, um die an den Collegi tätigen Geistlichen zu entlassen, ohne neue Geistliche zu nominieren.269 Damit verstieß die GIL jedoch nach An sicht der Kirche u. a. gegen das Recht der Jugendlichen auf religiösen Beistand, das in den Lateranverträgen festgeschrieben war. Sie betonte wiederholt, dass die Collegi der GIL damit die einzigen Erziehungsinstitutionen des Landes seien, die ihren Zöglingen den religiösen Beistand vorenthielten.270 Mutis Nachfolger Sere na hielt diesen Vorwürfen jedoch entgegen, dass die Kollegiaten jeden Sonntag religiösen Beistand während des Gottesdienstes in der nächstgelegenen Kirche erhielten und erteilte der Bitte des Heiligen Stuhls nach Wiederaufnahme von Geistlichen in die Collegi eine klare Absage.271 Im Frühjahr 1942 unternahm der Heilige Stuhl einen erneuten Versuch, Geistliche wieder in den Collegi zuzulassen und erhielt hierfür die Zustimmung Mussolinis, sodass der Parteisekretär im Sommer 1942 nolens volens die Ernennung von Geistlichen für die Collegi gestat tete.272 Insgesamt muss diese zwei Jahre währende spannungsreiche Zeit noch einer genaueren Untersuchung unterzogen werden. Einerseits gilt es, die genauen Um stände zu klären, die dazu führten, dass Mussolini, der sich wiederholt despek tierlich über die Kirche äußerte, auch in diesem Fall letztlich den Aspirationen der Kirche nachkam. Andererseits ist die genaue Handhabung der Absetzung der Geistlichen innerhalb der Collegi noch ungeklärt. So liegen die Register des Religionslehrers und Kaplans der GIL in Bozen, Don Gerolamo Perugini, vor, der offensichtlich nicht abberufen wurde und seine Tätigkeit auch während des Schul jahres 1940/1941 ausführte.273 Außerdem wurde ein Bild, dass den Geistlichen während des Besuchs des Erziehungsministers Giuseppe Bottai im Mai 1940 bei der Fahnenweihe zeigt, noch im September 1940 in der Regionalzeitung abgelichtet (Abb. 24), in einer Zeit, als der Konflikt zwischen Kirche und GIL bereits an Fahrt aufgenommen hatte.274 Offensichtlich hatte das Regime kein Interesse daran, diesen Streit in die 268 Vgl.
Mario Casella, Stato e chiesa in Italia (1938–1944). Aspetti e problemi nella docu mentazione dell’Archivio Storico Diplomatico del Ministero degli Affari Esteri, Conge do 2006, S. 171 f. 269 Vgl. ebenda, S. 171. 270 Vgl. ebenda, S. 178. 271 Vgl. ebenda, S. 182 f. 272 Vgl. ebenda, S. 184–187. 273 Vgl. die Giornali del professore, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Giorna li del Professore, Scuola Militare GIL, Bolzano, b. 1373. 274 Vgl. Il Ministro dell’Educazione nazionale conclude tra le vibranti manifestazioni al Duce degli alunni le ispezioni alla scuola fascista atesina, in: La Provincia di Bolzano, 11. 5. 1940, S. 3; Scuola della GIL di specializzazione militare di Bolzano, in: Atesia Au gusta II (1940), 9, S. 48.
308 VI. „Hammer und Amboss“ – die Menschenformung in der Praxis
Abb. 24: Die Fahnenweihe im Heerescollegio Bozen in Anwesenheit Giuseppe Bottais, Mai 1940 (Atesia Augusta II [1940] 9, S. 48)
Öffentlichkeit zu tragen, denn diese zwei Jahre dauernde Kontroverse fand auch keinerlei Niederschlag in den zeitgenössischen Veröffentlichungen. Hier wurde weiterhin der Eindruck eines harmonischen Modus Vivendi zwischen kirchlichen Würdenträgern und den Collegi der GIL erweckt, indem etwa das offizielle Organ der GIL regelmäßig über Besuche regionaler kirchlicher Würdenträger in den Einrichtungen berichtete.275 275 Vgl.
Attività dei collegi e accademie della G.I.L., in: GdL, 15. 5. 1941, S. 392.
2. Der Internatsalltag 309
In seiner Studie über die Akademisten konstatierte Alessio Ponzio, dass der atholizismus bei deren Ausbildung keine Rolle gespielt habe. An Stelle einer K Kapelle habe sich in dem Gebäudekomplex ein Schrein für Benito Mussolinis Bruder Arnaldo befunden, der von den Akademisten verehrt wurde.276 Für die Collegi ließe sich hingegen feststellen, dass der Katholizismus keine unbedeuten de Rolle spielte. Die Schüler erhielten den obligatorischen Religionsunterricht, besuchten allwöchentlich den Gottesdienst und hatten vielfältige Berührungs punkte mit regionalen religiösen Würdenträgern während des Schuljahres. Die Collegi waren mit Kapellen ausgestattet, die wiederum häufig neben christlichen Symbolen auch mit faschistischer Symbolik geschmückt waren, sodass man hier durchaus von einem symbiotischen Verhältnis sprechen kann. Besonders deutlich tritt die Nähe des Faschismus zum Katholizismus in den Collegi zutage, wenn man sich einmal vergleichsweise das Verhältnis der deut schen Ausleseschulen zur Kirche vor Augen führt. In allen drei deutschen Ausle seschultypen gab es keinen konfessionellen Unterricht,277 den Schülern wurde ein Kirchenaustritt nahegelegt278 und die Schulen zielten darauf ab, wie Kurt Petter, Inspekteur der AHS 1943 zum besten gab, „unsere Jugend frei vom Gift des christlichen Dogmas zu erziehen“.279 Im Gegensatz dazu schien es hochrangigen Faschisten, wie etwa Camillo Pellizzi, Präsident des Nationalen Faschistischen Kulturinstitutes (INCF) undenkbar, ein Internat ohne jeglichen religiösen Bei stand zu errichten. Als er im Oktober 1941 für zwei Tage die Adolf-Hitler-Schüler in Sonthofen besuchte, zeigte er sich zwar begeistert ob des großen Maßes an Hingabe der Schüler an ihren Führer, war aber zugleich mehr als verwundert über die Abwesenheit von religiöser Unterweisung und Symbolen sowie das Feh len eines Ortes zur Kontemplation.280 Möglicherweise füchtete namentlich auch Mussolini eine mangelnde Akzeptanz der Collegi in der Bevölkerung, sodass er den katholischen Geistlichen den Einfluss auf diese Schmieden des „neuen Men schen“ nicht versagte.
276 Vgl. Ponzio, Shaping the New Man, S. 66. 277 „Nicht übersehen darf werden, daß alle drei
Schulen ohne konfessionellen Unterricht sind. Es hat deshalb keinen Sinn, Jungen von konfessionell stark gebundenen Eltern auszulesen. Es entwickeln sich Konflikte, die ausschließlich auf dem Rücken des Jungen ausgetragen werden. Das muß ihm erspart bleiben.“ Personalamt Gau München Ober bayern an Kreisleiter des Gaues München-Oberbayern, 4. 5. 1942, in: BA Berlin, NS 20, 137a, Bl. 35–41, hier Bl. 39. 278 Vgl. Scholtz, Nationalsozialistische Ausleseschulen, S. 161; Feller/Feller, Adolf-HitlerSchulen, S. 188. 279 Petter, Bericht über die Adolf Hitler-Schulen, vorgetragen am 12. 1. 1943 auf der Gebietsführertagung in Braunschweig vom Kommandeur der Adolf Hitler-Schulen, in: BA Berlin, NS 22, 1240, Bl. 99–105, hier Bl. 104 RS. 280 Vgl. Camillo Pellizzi, Fiaccole nell’Algäu[sic!], in: CdS, 3. 1. 1942, S. 3.
VII. Das Weiterleben der Collegi Im August 1943, zwischen seiner Absetzung durch den König und seiner Befreiung respektive Entführung1 im Rahmen des „Unternehmen Eiche“ auf dem Gran Sasso, schrieb Benito Mussolini tagebuchartig seine Gedanken nieder. Dabei sorgte er sich auch um die Zukunft der im Zeichen des Liktorenbündels erzogenen Jugend: „Es ist schwierig abzuschätzen, wie traumatisch die Nacht vom 25. zum 26. Juli für die in der GIL organisierte Jugend gewesen sein mag. Besonders traumatisch wird es für diejenigen in der Akademie für Männer, der Farnesina, und in der für Frauen von Orvieto gewesen sein, ebenso wie in den vormilitärischen Instituten für das Heer, die Marine und die Luftfahrt von Brindisi, Venedig, Forlì und Bozen. Dabei handelte es sich um perfekt disziplinierte Gliederungen, die sehr erfolgreich waren. Diese Jugend, die in nahezu ganz Europa bewundert wurde, diese Jugend, die unvergessliche Sport- und Gymnastikveranstaltungen aufführte […], hätte es verdient, mit mehr Respekt behandelt zu werden. Wohin wird sich diese Jugend morgen wenden, die diesen unvorhersehbaren Schicksalsschlag erleiden musste? Wird sie sich den linksextremistischen Ideen zuwenden oder enttäuscht und entmutigt nichts und niemandem mehr Glauben schenken?“2
Ausgehend von der durch Mussolini aufgeworfenen Frage untersucht dieses Kapitel den weiteren Lebensweg der Kollegiaten nach dem 25. Juli 1943. Den Anfang macht dabei eine Untersuchung zu ihrer Beteiligung an dem von September 1943 bis April 1945 andauernden „Bürgerkrieg“. Zudem sollen die Karrierewege der ehemaligen Kollegiaten in der Italienischen Republik nachgezeichnet werden. Für die deutschen Ausleseschulen wird häufig angeführt, dass „Teile der Absolventen eine politische oder wirtschaftliche Spitzenkarriere in der Bundesrepublik“ gemacht hätten, was unter anderem mit der Vermittlung von Tugenden wie „Fleiß, Disziplin und Pflichtbewußtsein“ begründet wird.3 So soll auch für die Collegi untersucht werden, in welche Positionen die Absolventen schließlich in der Italienischen Republik gelangten und inwieweit dies auch auf die Sozialisation in den Collegi zurückgeführt werden kann oder von den Kollegiaten darauf zurückgeführt wird. Damit widmet sich dieses Kapitel auch der zentralen Frage nach der Mentalitätsprägung der in den Collegi vermittelten Werte und nach der Wirksamkeit faschistischer Erziehung insgesamt. Letztlich wird zudem die Nutzung der ehemaligen Internatsgebäude sowie die „Säuberung“ (epurazione) der an den Collegi als Kommandanten und Erzieher tätigen Absolventen der Akademie für Leibeserziehung nach 1945 thematisiert.
1
Vgl. Wolfgang Schieder, Der italienische Faschismus, in: ZfG 65 (2017), S. 116–132, hier S. 132. 2 Pensieri pontini e sardi, August 1943, in: OO, Bd. XXXIV, S. 295 f. 3 Vgl. Anke Klare, Nationalsozialistische Ausleseschulen – „Stätten konzentrierter und auserlesener Menschenformung“, in: Horn/Link (Hrsg.), Erziehungsverhältnisse im Nationalsozialismus, S. 137–160, hier S. 159; Schneider/Stillke/Leineweber, Das Erbe der Napola, S. 12, 37; Christian Schneider, Karrierewege ehemaliger NS-Eliteschüler in der Bundesrepublik, in: vogelsang ip gemeinnützige GmbH (Hrsg.), „Fackelträger der Nation“. Elitebildung in den NS-Ordensburgen, Köln u. a. 2010, S. 228–231.
312 VII. Das Weiterleben der Collegi
1. Die Beteiligung ehemaliger Schüler am „Bürgerkrieg“ Mit der Absetzung Mussolinis durch den König am 25. Juli 1943 brach für viele Kollegiaten eine Welt zusammen: „Der Sturz des Faschismus. Alles was ich hatte, fiel in sich zusammen. Es war wie ein Schloss, das in sich zusammenstürzt.“4 Sie waren während des Faschismus geboren und kannten nichts anderes als ihren Duce und den Faschismus. Die Kollegiaten fragten sich wie viele andere Italiener, wie sich die Welt weiterdrehen sollte, ohne diese Grundkonstante ihres Lebens. Die sich überschlagenden Ereignisse, angefangen bei der Befreiung/Entführung Mussolinis durch die Deutschen, die Ausrufung der Faschistischen Sozialrepublik (RSI) und die sich langsam formierende Resistenzabewegung führten dazu, dass sich die (ehemaligen) Schüler nolens volens positionieren mussten: Kämpfte man aufseiten der RSI oder der Alliierten? Ging man in die Berge, um sich den Deutschen zu entziehen und die Partisanen zu unterstützen? Oder suchte man sich ein sicheres Versteck, um diese gefährliche Situation möglichst unbeschadet zu überstehen? Pars pro toto für die schwierige Entscheidungsfindung der Kollegiaten in dieser bewegten Zeit steht der Bericht des venezianischen Marinekollegiaten Giorgio Gasparini, der das Collegio ab 1939 besuchte, 1942 erfolgreich abschloss und dann sein Medizinstudium begann: „Den 25. Juli 1943 erlebte ich auf dramatische Weise. Für mich brach eine Welt zusammen. Mit der Verhaftung Mussolinis brach für mich eine Welt zusammen. Es schien mir, als ob nichts anderes existieren könnte, aber dann ging alles weiter. Beim Waffenstillstand erinnere ich mich, dass wir mit ein paar Freunden zusammen waren und wir sagten: ‚Aber das ist verrückt.‘ Nach ein paar Tagen waren wir von Deutschland besetzt. Es war dramatisch. Wir wussten nicht mehr, welchen Weg, auch als sie einberiefen, wusste man nicht mehr, was man tun sollte – absolut desorientiert. Ich bin auch der Italienischen Sozialrepublik zu geneigt. Als sie die Italienische Sozialrepublik in Verona ausgerufen hatten, gab es einen Angriff und sie töteten den Federale von Ferrara [Igino Ghisellini]. Die Partisanen, es existierten noch keine Partisanen, aber kurz gesagt, jemand hat ihn getötet. Eine Gruppe, junge Leute verließen Verona, gingen nach Ferrara und dort haben sie einen Mord begangen. Sie töteten 18 Menschen, die nichts damit zu tun hatten. Wir waren erschüttert. Man konnte es nicht begreifen. Es waren unsere jungen Leute, die von der RSI begeistert waren, die da hingingen. Wir waren eine Gruppe von fünf, sechs Jungs und wir waren so geschockt. Am Ende blieben wir, sagen wir, neutral.“5
An diesem kurzen Zeitzeugenbericht wird bereits deutlich, wie schwer die Entscheidungsfindung fiel und wodurch sie bewirkt werden konnte. Retrospektiv kann demzufolge schwer der konkrete Einfluss der Collegi auf die Entscheidungen der Kollegiaten nach dem 25. Juli 1943 bemessen werden, da diese – wie bereits die Studie Pavones zum „Bürgerkrieg“ zeigte – offensichtlich sehr stark durch
4
Interview mit Anselmo Rossi (Bozen 1940–1943), 17. 3. 2014, S. 3. Vgl. ähnlich lautende Aussagen ehemaliger Adolf-Hitler-Schüler, in: Hülsheger, Adolf-Hitler-Schulen, S. 252. 5 Interview mit Giorgio Gasparini (Venedig 1939–1942), 4. 4. 2014-O, S. 7 f. Die Forschung spricht von elf Unschuldigen, die durch die Faschisten ermordet wurden. Der Mörder Ghisellinis ist bis heute unbekannt. Vgl. Amedeo Osti Guerrazzi, Storia della Repubblica sociale italiana, Rom 2012, S. 118.
1. Die Beteiligung ehemaliger Schüler am „Bürgerkrieg“ 313
die unmittelbaren Umstände geprägt waren.6 Obgleich Gasparini aufgrund seiner faschistischen Erziehung der RSI zugeneigt war, entschied er sich wegen der aus seiner Sicht unverhältnismäßigen Vergeltungsaktion doch gegen eine Beteiligung an direkten Kampfhandlungen aufseiten der RSI. Einen Einsatz an der Seite der Alliierten schloss er aufgrund der englischen Kriegsgefangenschaft seines Bruders kategorisch aus. So wählte er die vermeintlich „neutrale“ Tätigkeit in der Organisation Todt, wo er nach eigenem Bekunden an der Aushebung von Schützengräben beteiligt war.7 Auch bei anderen Schülern kann nicht monokausal von den Collegi auf eine daraus resultierende Unterstützung der RSI geschlossen werden, auch wenn dieser Zusammenhang durch einige Zeitzeugen und Hinterbliebene postuliert wird, wie später noch zu zeigen sein wird. Betrachten wir nun die Wege, die das Gros der Kollegiaten einschlug. Ausgangspunkt für die Analyse zum Verhalten der Kollegiaten während des „Bürgerkrieges“ war ein „Ehrenbuch“, das der ehemalige Venedig-Kollegiat Ugo Furlani 2003 veröffentlichte.8 Darin finden sich kurze biographische Skizzen zu allen während des Zweiten Weltkrieges gefallenen ehemaligen Kollegiaten der Collegi von Brindisi und Venedig. Diesem Erinnerungsheftchen lässt sich entnehmen, dass im Zeitraum von Oktober 1943 (Entstehung des Nationalrepublikanischen Heeres) bis Mai 1945 (Aufgabe der letzten RSI-Einheiten) insgesamt 16 Kollegiaten starben. Davon ließen acht ihr Leben aufseiten der Alliierten, sechs aufseiten der RSI und zwei als Partisanen.9 Diese Verteilung könnte auf die Abwendung der Kollegiaten vom Faschismus hindeuten oder ließe sich – sicherlich vereinfachend – auch mit dem Aufenthaltsort der Jugendlichen und der entsprechenden Einflussnahme durch die dortigen Stellen erklären. Wie bereits dargelegt, bereiteten die Marinecollegi auf die Marineakadamie vor, die sich im Sommer 1943 auf dem Lido von Venedig befand. Nach der Ausrufung des Waffenstillstandes am 8. September 1943 durch Badoglio wurden die Angehörigen der Marineakademie auf die Saturnia verbracht, um einer Gefangennahme durch die Deutschen zu entgehen. Am 12. September ankerten sie schließlich in Brindisi im Einflussbereich der Alliierten.10 Unter den nach Brindisi verbrachten Personen waren auch die 400 Bewerber für die neuen Kurse der Marineakademie, die jedoch letztlich nicht alle aufgenommen wurden: Die abgelehnten Bewerber, 6 Vgl. dazu Claudio Pavone, Una guerra civile. Saggio storico sulla moralità nella Resisten-
za, Turin 1995, S. 3–62. Interview mit Giorgio Gasparini (Venedig 1939–1942), 4. 4. 2014-K, S. 10. Zur Organisation Todt in Italien siehe: Fabian Lemmes, Zwangsarbeit im besetzten Europa. Die Organisation Todt in Frankreich und Italien, 1940–1945, in: Andreas von Heusler u. a. (Hrsg.), Rüstung, Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit im „Dritten Reich“, München 2010, S. 219–252. 8 Furlani, Gli allievi e gli ufficiali dei collegi navali della GIL; Allievi dei Collegi navali della G.I.L. caduti durante il secondo conflitto mondiale, in: Dell’Agnola (Hrsg.), Alzato l’albero, S. 274. In diese Aufstellungen haben sich viele Flüchtigkeitsfehler eingeschlichen, sodass die Daten mit Vorsicht betrachtet werden müssen. 9 Vgl. Furlani, Gli allievi e gli ufficiali dei collegi navali della GIL. Alliierte: Albanesi, Bornaghi, Laviosa, Luraschi, Marchiori, Meroni, Morelli, Sibilia; RSI: De Cherchi, Giacchetti, Invernizzi, Palmieri, Sartori, Vitta Ferrari; Resistenza: Minuto, Piovanelli. 10 Vgl. Ufficio storico, Accademia navale, S. 200 f. 7 Vgl.
314 VII. Das Weiterleben der Collegi die aus dem südlichen, von den Alliierten besetzten Teil Italiens stammten, schickte die Leitung der Akademie nach Hause. Jene, die aus dem nördlichen Teil kamen, wurden weiterhin in der Akademie beherbergt. Circa 50 dieser aus dem Norden stammenden abgewiesenen Bewerber meldeten sich schließlich freiwillig, um aufseiten der Alliierten gegen die deutschen Besatzer zu kämpfen.11 Kurz nach dem Verlassen der Akademie starben allein vier der acht genannten Kollegiaten in den Reihen der Allierten während der schweren Gefechte um Monte Lungo im Dezember 1943. Dabei handelte es sich um Gian Battista Bornaghi, Lodovico Luraschi, Roberto Morelli und Dario Sibilia. Als Motivation, aufseiten der Alliierten zu kämpfen, soll der junge Gefallene Dario Sibilia in sein Tagebuch notiert haben: „Mein Leben muss ausschließlich im Dienst meines Vaterlandes verbracht werden. Nur dafür habe ich das Gewisse für das Ungewisse verlassen. Ich möchte kämpfen, auch ich möchte meinen bescheidenen Beitrag für mein Vaterland leisten, das jetzt auf erbärmliche Bedingungen reduziert ist. Ich möchte mein Leben im Alter von 18 Jahren mit einem Opfer beginnen und es dann immer und ständig dem Wiederaufbau Italiens widmen. […] Die Alliierten haben versprochen, dass die Waffenstillstandsklauseln geändert werden können, je nachdem wie groß oder klein der Beitrag Italiens sein wird.“12
Das Vaterland, nicht jedoch das faschistische Vaterland, wollte Sibilia nun also verteidigen und diesem zu neuer Größe verhelfen. Über den ebenfalls gefallenen Lodovico Luraschi, Sohn des Parteisekretärs von Görz und Generalinspekteur der GIL, Benesperando Luraschi, behauptete ein ehemaliger Mitkollegiat in den 1960er Jahren: „Z [d. i. Alvise Gigante] spricht über seinen Freund, Ninì [d. i. Lodovico] Luraschi, Sohn eines hohen Funktionärs der GIL, der sich am 8. September im Marinecollegio in Venedig befand und auf der ,Saturnia‘ Richtung Brindisi eingeschifft wurde. Hier, von der selben Unruhe gequält, wie Z in dem anderen Sektor, meldete er sich mit anderen Kadetten freiwillig und starb in Montelungo, unbewusst für die monarchisch-badoglianische und alliierte Seite.“13
Mit diesen Feststellungen erweckte Alvise Gigante den Eindruck, dass Luraschi nicht bewusst gewesen sei, auf wessen Seite er kämpfte. Es scheint, als habe sich Gigante, der sich zum Zeitpunkt der Waffenstillstandsverkündung im Norden befand und schließlich als Freiwilliger auf Seiten der Decima Flottiglia Mas kämpfte, den eingeschlagenen Weg seiner ehemaligen Weggefährten nicht anders erklären können. Besagter Alvise Gigante, Sohn des mit Gabriele D’Annunzio befreundeten Senators und Bürgermeisters von Fiume, kämpfte wie die Mehrheit der Kollegiaten aufseiten der RSI bzw. der Decima Flottiglia Mas, die gewissermaßen einen Sonderstatus in der RSI einnahm.14 Bei der Decima Flottiglia Mas handelte es sich um 11 Vgl. ebenda, S. 204. 12 Zit. nach Furlani, Gli allievi e gli ufficiali dei collegi navali della GIL, S. 128 f. 13 Ruggero Zangrandi, 1943: 25 luglio – 8 settembre, Mailand 1964, S. 718 f. 14 Vgl. Paolo Buchignani, Fascisti Rossi. Da Salò al PCI, la storia sconosciuta di una
migrazione politica 1943–1953, Mailand 1998, S. 133; Ballarini, Quell’uomo del fegato secco, S. 141. Weitere Kollegiaten: Fabio Masciadri (Schreiben Fabio Masciadris [Venedig 1941–1943], 16. 9. 2012); Giuseppe Lise (Schreiben Giuseppe Lises [Venedig, Padua 1940–1943], 11. 9. 2012); Interview mit Giuseppe Cinquepalmi (Bozen 1940–1942), 23. 4. 2014-O, S. 1.
1. Die Beteiligung ehemaliger Schüler am „Bürgerkrieg“ 315
einen Militärverband unter der Leitung des „charismatischen“ Junio Valerio Borghese. Dessen Verband agierte relativ autonom, stand jedoch unter dem Kommando der deutschen Kriegsmarine und erlangte aufgrund seiner Repressalien gegenüber der Zivilbevölkerung traurige Berühmtheit.15 Unter den Kämpfern befand sich beispielsweise auch der Sohn des früheren Faschistenführers in Venedig, Pietro Marsich.16 Als Motivation für die Beteiligung an der RSI wurde retrospektiv die Erziehung in den Collegi sowie das „faschistische Klima“, in dem alle von Geburt an heranwuchsen, angeführt. Stellvertretend dafür stehen zwei Kollegiaten aus Bozen und Venedig, die der Erziehung innerhalb der Collegi in Bezug auf ihre Entscheidung, sich der RSI anzuschließen, eine besonders große Bedeutung beimaßen. Ulrico Guerrieri (* 1925), Schüler im Marinecollegio Venedig von 1940 bis 1943, Angehöriger der Miliz der faschistischen Sozialrepublik (GNR) und der RSI-Marineinfanteriedivision San Marco schrieb: „In den drei Jahren im Navale waren Ehre, Vaterland sowie Pflichtbewusstsein, Freundschaft, Gerechtigkeit unser täglich Brot, unser täglich Beistand. Auch das Klima des Regimes tat sein übriges, sodass ich im Moment der Entscheidung keinerlei Zweifel hatte.“17 Nicht unerheblich dürfte dabei auch der Einfluss des Elternhauses gewesen sein. Sein Vater war überzeugter Faschist und Teilnehmer des „Marsches auf Rom“,18 und auch der Vater von Giuseppe Longinotti (1927–2007), der zudem freiwillig als Arditi im Ersten Weltkrieg gekämpft und an der Besetzung Fiumes unter Gabriele D’Annunzio teilgenommen hatte, gehörte zu denen, die durch ihren „Marsch auf Rom“ Mussolini den Weg zur Macht ebneten. Der Enkel des bereits verstorbenen Kollegiaten, dessen Großvater von 1940 bis 1943 Schüler im Heerescollegio Bozen und danach Kämpfer im Battaglione Bersaglieri Mussolini war, schrieb: „Die GILSchule Bozen hat sehr die Entscheidung meines Großvaters und anderer Mitschüler beeinflusst, sich nach dem dramatischen 8. September 1943 freiwillig im Battaglione Bersaglieri Mussolini und anderen RSI-Formationen zu melden.“19
15 Vgl. Luigi Ganapini, Junio Valerio Borghese e la Decima MAS, in: Mario Isnenghi/Giulia
Albanese (Hrsg.), Gli italiani in guerra. Conflitti, identità, memorie dal Risorgimento ai nostri giorni. Volume IV – Tomo 2: Il Ventennio fascista. La Seconda guerra mondiale, Turin 2008, S. 434–441; ders., I corpi armati della RSI, in: Ebenda, S. 376–385, hier S. 379. Besagter Alvise Gigante behauptete später, dass das Ziel der Matrosen von Borghese der Kampf gegen die Engländer und nicht gegen die Partisanen gewesen sei und sie sich mehrfach geweigert hätten, an Razzien teilzunehmen. Vgl. Buchignani, Fascisti Rossi, S. 133. 16 Mitteilung des Sohnes Sergio Marsichs (Venedig 1939–1942), 10. 9. 2012. 17 Ulrico Guerrieri, 25. 3. 2011, http://www.guerrieriulrico.it/sogni_nel_cassetto.php [13. 6. 2017]. Mit ihm kämpfte der Kollegiat Benito Diamanti in der San Marco. Vgl. Lettere, in: ACTA XXIX (2015), 1, S. 14. 18 Ulrico Guerrieri, http://www.guerrieriulrico.it/mie_origini.php [13. 6. 2017]. 19 Mitteilung des Enkels von Giuseppe Longinotti (Bozen 1940–1943), 1. 5. 2012; weitere Kollegiaten aus Bozen: Sergio Baldassini, Soldat in der Infanteriedivision Italia (vgl. BA-MA, RS 3-29/1, Bl. 28; Antonio Carioti, Gli orfani di Salò. Il Sessantotto nero dei giovani neofascisti nel dopoguerra, 1945–1951, Mailand 2008, S. 79, 111, 134); Araldo Camporesi, Soldat im Battaglione Bersaglieri Mussolini (vgl. http://www.laltraverita.it/r. php?n=Camporesi%20Araldo [18. 6. 2018]).
316 VII. Das Weiterleben der Collegi Die Prägung durch das Elternhaus in Verbindung mit der omnipräsenten Propaganda und der Sozialisation in den Collegi hat einige Kollegiaten durchaus zu überzeugten Kämpfern für die faschistsche Sozialrepublik werden lassen, konnte aber genauso gut wie bei Luraschi zu einem Einsatz aufseiten der Alliierten führen. Nicht wenige Kollegiaten begründeten ihre Beteiligung an der RSI retrospektiv zudem auch mit der Ablehnung des aus ihrer Perspektive unehrenhaften Waffenstillstandes mit den Alliierten.20 Sie empfanden das Verhalten des neuen Regierungschefs Pietro Badoglio als zweifachen Verrat: Einerseits habe er die Verbündeten verraten und andererseits die italienische Bevölkerung, die er erst fünf Tage nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandes per Radioansage darüber in Kenntnis setzte. Die Jugendlichen, die sich der RSI anschlossen, haben einen Beitrag leisten wollen, die Ehre des Vaterlandes wiederherzustellen, so ein gängiges Erinnerungsnarrativ über die ragazzi di Salò.21 Zu ihnen gehörte unter anderem Abo Cardelli, Sohn eines Luftwaffenoffiziers und fünf Jahre lang Kollegiat in Forlì. Er entschied sich für die Ausbildung in Deutschland und kämpfte schließlich in der Divisione Monte Rosa. In einem Interview aus dem Jahre 2005 erklärte er rückblickend und dem gängigen Erzählmuster folgend: „Es war während jenes letzten Sommers, den wir auf dem Apennin von Modena verbrachten, als uns unvorbereitet die Nachricht von Mussolinis Arrest und dann, am 8. September, die Übergabe Italiens an den Feind erreichte. Natürlich war das Unbehagen bei uns allen enorm. Das, was uns als unanständiger Gesinnungswandel erschien, war weder Teil unserer ethischen Grundsätze, noch der Werte, unter denen unsere Generation aufgewachsen war. Besser eine Niederlage, als das, was wir als Schande für das Vaterland und als Beleidigung für die vielen Gefallenen in Kämpfen gegen diejenigen hielten, die wir plötzlich von einem Tag auf den anderen als Freunde und Verbündete hätten betrachten sollen. Und das nur auf der Grundlage einer krächzenden Radioansage durch den Äther verbreitet, hinter dem sich jemand versteckte, der weder den Mut noch das Schamgefühl besaß, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen. […] Ich vergesse nicht meinen Enthusiasmus bei der Anmeldung zur Einberufung und bei der Erfüllung meiner Pflicht, uns von dieser Armee zu befreien, die viele Italiener als Invasoren betrachteten; auch ist meine unendliche Vaterlandsliebe nicht abgeschwächt, jedoch für das Vaterland von damals, in dem ich mich wiedererkannte. Und ich habe nicht die Bitterkeit der Niederlage vergessen, die ich noch heute verspüre. Aber ich habe mir nichts vorzuwerfen. Ich habe nie meine Ideen auf Kosten der Konse20 Vgl.
etwa der venezianische Marinekollegiat Sergio Molinari, der zunächst die Marineakademie in Livorno besuchte und dann aufgrund der Nichtakzeptierung des Waffenstillstandes, bes. der Art und Weise der Durchführung, eine Ausbildung in der nationalrepublikanischen Offiziersschule in Fontanellato [Errichtung November 1943 Ravenna – Schließung 30. 9. 1944 Fontanellato] absolvierte. Vgl. Pisanò, Gli ultimi in grigioverde. Bd. 3, S. 1749; Andrea Pirani Cevolani, Le scuole allievi ufficiali della GNR durante la Repubblica Sociale Italiana. L’esperienza di Fontanellato, Civitavecchia 2008, S. 80. Die Venedig-Kollegiaten und Grafen Bonaventura und Pietro Grumelli erhielten ihre Ausbildung in der Scuola Allievi Ufficiali della GNR in Modena. Emilio Cavaterra, Quattromila studenti alla guerra. Storia delle Scuole Allievi Ufficiali della G.N.R. nella Repubblica Sociale Italiana, Rom 1999, S. 122. 21 Vgl. Luigi Ganapini, Alle origini di un mito: i „ragazzi di Salò“, in: Isnenghi/Albanese (Hrsg.), Gli italiani in guerra. Volume IV – Tomo 2, S. 478–484, bes. S. 478 f.; Antonio Gibelli, Il popolo bambino. Infanzia e nazione dalla Grande Guerra a Salò, Turin 2005, S. 373; Filippo Focardi, Gedenktage und politische Öffentlichkeit in Italien, 1945–1995, in: Christoph Cornelißen/Lutz Klinkhammer/Wolfgang Schwentker (Hrsg.), Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945, Frankfurt a. M. 2003, S. 210– 221, hier S. 213.
1. Die Beteiligung ehemaliger Schüler am „Bürgerkrieg“ 317 quenzen verleugnet, sodass ich zu Recht mit erhobenem Kopf mein Leben wie folgt zusammenfassen kann: ‚Ich habe geglaubt, ich habe gekämpft, ich habe verloren, ich habe bezahlt, aber ich habe nie verraten.‘“22
Besonders den Kollegiaten, deren Familienmitglieder in alliierter Kriegsgefangenschaft waren, erschien es als Verrat, dass Italien nun die Seite wechselte, sodass ihnen eine Kampfbeteiligung aufseiten der Alliierten undenkbar schien.23 Darüber hinaus gab es auch Zeitzeugen, die aufseiten der RSI kämpfen wollten, aber aufgrund ihres Alters nicht durften und von ihren Eltern zurückgehalten werden mussten:24 „Ich wollte gehen, wollte abreisen. Ich war unschuldig, ein Kind. Ich dachte, dass wir den Krieg gewinnen müssen. Siegen, wir werden siegen, kämpfend mit den Deutschen. Das war damals die Propaganda.“25 Andere versteckten sich, um der Einberufung zu entgehen,26 studierten oder lernten an der nach Brindisi verlegten Marineakademie.27 Wieder andere arbeiteten, wie der bereits erwähnte Gasparini, für die Organisation Todt.28 Wie eingangs an den Sterbezahlen gesehen, schlossen sich auch einige wenige Kollegiaten den Partisanen an. Neben den bereits erwähnten zwei toten Partisanenkämpfern aus dem „Ehrenbüchlein“ konnten vier weitere Partisanenkämpfer, von denen zwei das Collegio in Venedig29 und zwei das in Forlì30 besucht hatten, ausfindig gemacht werden. Die Mehrheit kämpfte jedoch, dies sei abschließend nochmals betont, auf Seiten der faschistischen Sozialrepublik, beispielsweise in der Decima Flottiglia Mas, den Infanteriedivisionen San Marco, Italia oder Monte Rosa, dem Battaglione Bersaglieri Mussolini oder der Fallschirmspringerdivision Folgore.31 Einer von ihnen, Ferdinando Camuncoli aus der Division Folgore, ver22 Zit. nach Rossi, Ho creduto, S. 11, 13. 23 Vgl. Interview mit Giorgio Gasparini (Venedig 1939–1942), 4. 4. 2014-K, S. 10. 24 Interview mit Silvano Traina (Bozen 1942–1943), 18. 3. 2014, S. 1; Interview mit
Donato Fantetti (Bozen 1942–1943), 26. 3. 2014-K, S. 9. 25 Interview mit Donato Fantetti (Bozen 1942–1943), 26. 3. 2014-O, S. 9. 26 Rossi, Ragazzo del’43, S. 86. 27 Vgl. Interview mit I.Z. (Venedig 1939–1942), 11. 4. 2014, S. 5; Interview mit Falco Accame (Venedig 1939–1943), 24. 3. 2014, S. 1. 28 Vgl. Interview mit Luciano Soffritti (Bozen 1942–1943), 17. 4. 2014, S. 2. 29 Giorgio Giuliani kämpfte in der 62. brigata Camicie rosse Garibaldi (vgl. http://www. storiaememoriadibologna.it/giuliani-giorgio-499794-persona [1. 8. 2017]) und Manlio Cavarretta war Vizekommandant in der Partisanendivision Mingo (Giorgio Gimelli, La Resistenza in Liguria. Cronache militari e documenti. Bd. 1, Rom 2005, S. 759). 30 Der mehrfach ausgezeichnete Forlìkollegiat Leonfranco Ferri, der u. a. aufgrund seiner Leistungen für einen Besuch bei der HJ ausgewählt worden war, ließ sein Leben als Partisan (vgl. http://www.memoria.provincia.arezzo.it/protagonisti/scheda_partigiano. asp?idpartigiano=503 [28. 04. 2019]). Arturo Spazzoli wurde im August 1944 erschossen (https://fratellispazzoli.it/2017/11/22/arturo-al-collegio-aeronautico/ [28. 4. 2019]). 31 Vgl. Il Collegio aeronautico di Forlì, in: Storia Verità IV (1999), 19, S. 65. In der Zeitschrift des RSI-Institutes wird auch behauptet, ehemalige Schüler des Collegio aeronautico in Forlì hätten aufseiten der Deutschen in der 278. Infanteriedivision zur Verteidigung Forlìs mitgekämpft. Darunter auch der 17-jährige Colombo Mastropietro, der aufgrund seiner Kontakte zur Hitlerjugend zunächst nach Deutschland zur Ausbildung am Maschinengewehr 42 eingeladen worden sei und dann als Büchsenmacher in der 278. Infanteriedivision gedient habe. Vgl. 278a I.D., con i volontari „Forlì“: La battaglia dal Ronco al Montone, in: ACTA V (1991), 2, S. 2 f., hier S. 2; Colombo Mastropietro, in: ACTA XXVIII (2014), 2, S. 15.
318 VII. Das Weiterleben der Collegi ließ 17-jährig das Marinecollegio in Venedig und bezahlte diese Entscheidung am 3. Juni 1944 mit seinem Leben. In seinem Abschiedsbrief an den Vater begründete er seine Motivation, freiwillig für die RSI zu kämpfen damit, dass „das Vaterland unversehrt bleiben muss“. Sollte der Vater kein Verständnis für seine Entscheidung haben, „wäre [er] ein schlechter Vater und schlechter Italiener. Was du aber nie gewesen bist“.32 Auf beiden Seiten gaben die Kollegiaten vor, im Namen des Vaterlandes zu kämpfen. Die Liebe zum Vaterland, die nach Aussagen des ehe maligen ONB-Präsidenten Renato Ricci das höchste Erziehungsziel darstellte,33 scheint den Jugendlichen erfolgreich internalisiert worden zu sein, wie die zeitgenössischen Egodokumente von Sibilia, dem Gefallenen aufseiten der Alliierten, und Camuncoli, dem Gefallenen aufseiten der RSI, nahelegen. Und gleichzeitig zeigt sich damit auch, mit welch unterschiedlichen Inhalten der Vaterlandsbegriff aufgeladen werden konnte. Später half der Vaterlandsbegriff auch bei der Integration der „Schmuddel kinder“ der RSI in die Italienische Republik. So schrieb die Vereinigung der Ehemaligen des Luftwaffencollegios 2002 in einem Brief an den damaligen Staatspräsidenten Carlo Azeglio Ciampi: „Einer der ‚Unsrigen‘, dem es nach dem Besuch des Collegios gerade gelungen war, in die Luftfahrtakademie aufgenommen zu werden, opferte seine junge Existenz, indem er für die Resistenza in Forlì kämpfte und gar eine Goldmedaille [tatsächlich eine Silbermedaille] erhielt (Arturo Spazzoli); andere kämpften nach dem unglückseligen 8. September sowohl im Süden aufseiten der Königlichen Luftwaffe, als auch im Norden aufseiten der Republikanischen Luftwaffe: aber alle – das versichern wir Ihnen – mit der einzigen Absicht und Überzeugung, unserem Vaterland zu dienen und es zu ehren.“34
Die ehemaligen Kollegiaten wählten diese Interpretation sicher nicht zufällig, hatte Ciampi doch bereits ein Jahr zuvor in einer medial viel beachteten Rede35 zur Ehrung eines gefallenen Partisanen auf die identische Intention von RSI- und Partisanenkämpfern verwiesen. Beide hätten in dem Glauben, dem Vaterland zu
32 Zit.
nach Romano Ricciotti, Elegia per un giovane eroe sconfitto, in: Ariminum. Storia arte e cultura della provincia di Rimini XII (2005), 1, S. 14, sowie das folgende Zitat. 33 Ricci, Opera balilla, fucina degli italiani nuovi, in: Politica sociale 5 (1933), S. 687. 34 Associazione Ex Allievi Collegio Aeronautico Forlì an Presidente Carlo Azeglio Ciampi, 21. 6. 2002, in: AUSAM, monografie, b. 35, f. 9 bis. In eine ähnliche Richtung ging bereits 1987 der Festredner zum 50. Jahrestag der Gründung der Marinceollegi: „Und als das Land ins Chaos stürzte, zerrissen durch den Krieg […] in zwei Stummel, war jeder, ob im Norden oder im Süden, mit seinem Ideal im Einklang. Die Zeit und die Geschichte haben darüber entschieden, welcher Weg richtig und welcher falsch war. Wir sagen: diese Entscheidungen, ob sie nun richtig oder falsch waren, waren sicherlich ehrlich und moralisch.“ Vgl. Associazione Ex Allievi Collegi navali di Venezia e Brindisi, Raduno del Cinquantenario 1937–1987, Discorso Commemorativo Nicola Maria de’Angelis, Venedig, 10./11. Oktober 1987, http://www.guerrieriulrico.it/sogni_nel_cassetto.php [14. 12. 2017]. 35 Die komplette Rede ist abgedruckt in: Discorso del presidente della Repubblica Carlo Azeglio Ciampi a Lizzano in Belvedere, 14. 10. 2001, in: Filippo Focardi, La guerra della memoria. La Resistenza nel dibattito politico italiano dal 1945 a oggi, Bari 2005, S. 333– 335. Vgl. zu den Reaktionen auf die Rede: Ebenda, S. 98–100; Paolo Peluffo, Carlo Azeglio Ciampi. L’uomo e il presidente, Mailand 2007, S. 337 f.
2. Die Erzieher und Kommandanten nach 1945 319
dienen, gehandelt,36 so die verkürzte Wiedergabe der Position des Staatspräsidenten. Seine Rede interpretierten zahlreiche Kommentatoren als wesentliches Zugeständnis an die Kämpfer von Salò − ein Zugeständnis, das noch einige Jahre zuvor undenkbar in Italien gewesen war.
2. Die Erzieher und Kommandanten nach 1945 Nach dem Untergang des Regimes überprüfte eine Säuberungskommission die ehemaligen Akademisten. Im Fokus der Prüfung stand jedoch hauptsächlich deren Verhalten zwischen 1943 und 1945, also deren potenzielle Beteiligung an der RSI und kaum die Zeit bis 1943. Bei den Überprüfungen gaben die farnesini häufig nicht ihre Tätigkeit in den Collegi an und behaupteten zumeist, lediglich unpolitische Sportlehrer gewesen zu sein oder stellten sich als Verführte des Regimes dar. Unter den letztlich Entlasteten war beispielsweise der „mürrische“ Dante Arciprete, der seine Beschäftigung als Erzieher und 2. Kommandant verschwieg und trotz Mitgliedschaft im Partito Fascista Repubblicano (PFR), der Nachfolgepartei des PNF während der faschistischen Sozialrepublik, freigesprochen wurde.37 Ein Erzieher des Collegios in Forlì, dessen Tätigkeit während des Faschismus mit Bestnoten beurteilt wurde,38 erklärte nach 1945, er habe den „Ruf eines saumäßigen Faschisten“ gehabt und gemeinsam mit anderen Akademisten, die „genauso zutiefst antifaschistisch wie ich“ waren, „Sabotage“ betrieben.39 Ein weiterer Erzieher, der sowohl in Forlì als auch in Venedig tätig war, rühmte sich in seiner ersten Einlassung noch seiner Ausarbeitung einer eigenen cartella biotipologica40 und erkannte dann wohl, dass sie nicht mehr dem neuen Zeitgeist entsprach. Er verschwieg sie in den folgenden Einlassungen und gab stattdessen nur noch an: „Ich hätte in der Schule ausschließlich Propaganda betreiben sollen, stattdessen habe ich versucht, vorrangig Sport zu betreiben.“41 Auch der Erzieher im Forlì-Collegio und spätere Kommandant des Marinecollegios während der RSI, Dionisio Tardioli, behauptete, lediglich die Hingabe an das Vaterland vermittelt zu haben, wie sie ihm wiederum sein Vater vermittelt habe,42 und wurde letztlich nur mit zwei Monaten Suspendierung vom Dienst bestraft.43 Antonio Grassi, der Erzieher im Forlì-Collegio und kurzzeitige Kommandant von Lecce, der in seiner Einlassung den Eindruck erweckte, lediglich als Lehrer in Lecce fungiert zu 36 Vgl.
Carolyn J. Dean, Aversion and Erasure. The Fate of the Victim after the Holocaust, Ithaca/London 2016, S. 25, bes. Anm. 75; Luigi Cajani, Italien und der Zweite Weltkrieg in den Schulgeschichtsbüchern, in: Cornelißen/Klinkhammer/Schwentker (Hrsg.), Erinnerungskulturen, S. 269–284, hier S. 281. 37 Sentenza, 8. 6. 1946, in: ACS, MPI, IEFS, FPIE, b. 2, f. Arciprete, Dante. 38 Vgl. Note di qualifica, anno 1941–1942, Antonio Zatta, in: Ebenda, b. 43, f. Zatta, Antonio. 39 Einlassung Antonio Zattas, 17. 5. 1946, S. 1 f., in: Ebenda. 40 Vgl. Einlassung Walter Morsellis, 28. 5. 1945, S. 1, in: Ebenda, b. 28, f. Morselli, Walter. 41 Einlassung Walter Morsellis, 28. 5. 1945, S. 5, in: Ebenda. 42 Vgl. Einlassung Dionisio Tardiolis, 5. 7. 1945, in: Ebenda, b. 41, f. Tardioli, Dionisio. 43 Delibera, 15. 10. 1945, in: Ebenda.
320 VII. Das Weiterleben der Collegi haben,44 stellte sich als Verführter mit Passion für den Sport dar: Er sei während des Faschismus groß geworden, überall habe man über den Faschismus gesprochen, doch die, die es besser wussten, hätten den Kindern nicht die Augen geöffnet. Er sei immer zur Stelle gewesen, wenn das Vaterland seine Hilfe gebraucht habe und habe sein Leben dem Sport gewidmet.45 Wie so häufig waren auch die Einschätzungen über seine Tätigkeit und politische Haltung widersprüchlich. Die Carabinieri urteilten: „Er war ein verbissener und überzeugter Faschist. Wenn man so will, war er ein Profiteur des Faschismus, weil er vom Comando federale Brindisi viele Reifen entwendet hat. […] Jeden Abend hatte er Gesellschaft und machte gemeinsam mit den anderen Würdenträgern, auch Frauen, Remmidemmi.“46
Die Polizeidirektion Brindisi hielt hingegen fest: „Während seiner kurzen Tätigkeit in Brindisi verhielt er sich normal und zeigte keine Parteilichkeit oder faschistisches Fehlverhalten.“47 Und auch er gab an, die Seiten gewechselt zu haben: Nach dem Waffenstillstand 1943 wollte er den Amerikanern geholfen haben, die Deutschen von der Insel zu jagen.48 Von den insgesamt 717 bis Ende des Jahres 1946 überprüften Akademisten wurden 537 entlastet, 46 bestraft, 96 aus dem Dienst entlassen und 38 Fälle zu den Akten gelegt.49 Der Großteil dieser „wahren Apostel faschistischer Erziehung“ arbeitete letztlich weiter als Sportlehrer im Dienste des Bildungsministeriums der Italienischen Republik. Und auch in dem über 1945 hinaus geführten Collegio der GI in Lecce bestand eine Kontinuität an farnesini, die nun offiziell nicht mehr für Faschismus, sondern für Patriotismus einstanden.50
44 „Bonamici
persönlich bat ich um Ersetzung und Versetzung als Lehrer nach Lecce oder eine Stadt in der Emilia. […] Tatsächlich wurde ich Anfang Juni in das Kriegswaisen collegio ‚Aldo Fiorini‘ nach Lecce versetzt und erreichte nach einem kurzen Urlaub am 1. Juli die neue Stelle.“ Einlassung Antonio Grassis, 6. 2. 1946, S. 4, in: Ebenda, b. 21, f. Grassi, Antonio. 45 Einlassung Antonio Grassis, 6. 2. 1946, S. 4 f., in: Ebenda. 46 Sottuff. dei CC.RR. Addetto [Unterschrift unleserlich] an Delegazione Provinciale per l’epurazione, Brindisi, 6. 2. 1946, in: Ebenda. 47 Questore der Regia Questura di Brindisi, an das Commissariato Nazionale della Gioventù Italiana, Epurazione, Roma, 19. 2. 1946, in: Ebenda. 48 Vgl. Einlassung Antonio Grassis, 6. 2. 1946, S. 5, in: Ebenda. 49 Vgl. Attività amministrativa relativa al personale dipendente dalla ex Gioventù Italiana del Littorio, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Personale – Relazioni sull’attività svolta an. 44/46-51, b. 1173, f. Ufficio del Personale, I° copia, relazione sull’attività svolta dal 12 dic.’44 al 31 dic.’46. Für die Lehrer an NS-Ausleseschulen liegen bislang keine Zahlen vor. Tim Mueller hat kürzlich in einem Aufsatz das Gerichtsverfahren eines ehemaligen NPEA-Lehrers analysiert, der letztlich freigesprochen wurde, vgl. Tim Mueller, A Legal Odyssey. Denazification Law, Nazi Elite Schools, and the Construction of Postwar Memory, in: History of Education 46 (2017) 4, S. 498–513, hier S. 506–508. 50 Fünf noch während des Faschismus eingestellte Erzieher betreuten ihre Zöglinge auch noch im Jahre 1947. Vgl. Situazione del personale in servizio presso Collegio Fiorini di Lecce, 1947, in: Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Personale, pratiche, varie, Collegi – Asili, b. 1162, f. Collegio orfani di guerra Brescia.
3. Die Schulen nach 1945 321
3. Die Schulen nach 1945 Im Februar 1948 erstellte die Gioventù Italiana eine Liste über die Nachnutzung der ehemaligen GIL-Institute:51 Ort
ehemalige Nutzung
derzeitige Nutzung
Bergamo, Via delle Mura
Accademia Corale
in Benutzung durch Comitato Orfani di Guerra
Brindisi
Collegio navale
in Benutzung als Collegio profughi giuliani
Città di Castello
Collegio
in Benutzung durch den Bischof
Forlì, Piazzale della ittoria V
Collegio aeronautico
derzeitig Mittelschulen, vor gesehene Übergabe an Collegio Salesiano
Lecce
Collegio A. Fiorini
Nutzung als Collegio Orfani di Guerra
Orvieto
Accademia femminile e collegio magistrale
besetzt durch 8° Centro Raccolta Reclute
Ponte di Brenta [Padua]
Collegio Villa Giovanelli
bewohnt durch Ausgebombte
Rom
Accademia di educazione fisica
in Benutzung durch den amerikanischen Botschafter
Rom
Accademia di musica
Nutzung als Musikkonvent
Rom
Accademia di scherma
Nutzung durch die Polizei
Rom, Montesacro
Collegio istitutrici
Nutzung durch Opera Don uanella G
Spoleto
Collegio Orfani di Guerra
in Benutzung durch Grund schulen
Tagliacozzo
Collegio
verfügbar
Teramo, Via G. Taraschi
Collegio Orfani di Guerra
laufende Übergabe an Verwaltung der Ospedali Riuniti
Udine
Collegio magistrale
vorgesehen als Sitz für natur wissenschaftliches Gymnasium
Venedig, St. Elena
Collegio navale
in Benutzung durch Marine ministerium
Vittorio Veneto
Collegio Orfani di Guerra
Benutzung durch Kommune
Tabelle 9: Nutzung der ehemaligen GIL-Institute, 1948
Diese Aufstellung zeigt deutlich, dass die GI die Mehrheit der ehemaligen Collegi nicht weiterführte. Ausnahmen waren jedoch die Collegi in Lecce und Brindisi sowie die Musikakademie in Rom, die als einzige der zahlreichen römischen 51 Commissariato
Nazionale della Gioventù Italiana, Proprietà immobiliari della G.I., distribuite per regioni e province, elenco analitico, Rom, 20. 2. 1948, in: ASBr, PREF, Serie I, cat. 14, b. 4, f. 3.
322 VII. Das Weiterleben der Collegi Akademien und Collegi52 auf dem Foro Italico (ehemaliges Foro Mussolini) weiterbetrieben wurde. Das Kriegswaisencollegio in Lecce führte die GI offiziell von 1943 bis 1947, de facto übernahm jedoch zeitweilig die Präfektur von Lecce die Aufsicht. Ab 1947 leitete federführend das Nationale Kriegswaisenwerk (Opera Nazionale per gli Orfani di Guerra) dieses Collegio, das auch für die Kriegswaisencollegi in Bergamo und Brescia verantwortlich war.53 In Bergamo sollten 130 weibliche Kriegswaisen, in Brescia 110 und in Lecce 120 männliche Kriegswaisen Obhut finden. Anfang der 1960er Jahre änderte die GI aufgrund des Alters der Kriegswaisen die Zielsetzung des Collegios. Das in „Internationales Collegio Aldo Fiorini“ umbenannte Institut bildete nun italienische und afrikanische Stipendiaten auf dem Gebiet der Ingenieur- und Agrarwissenschaften aus.54 Bereits wenige Jahre später schloss die GI das Collegio aus unbekannten Gründen. Die Presse forderte wiederholt die Reaktivierung des Collegios zur Ausbildung von Industriearbeitern, jedoch ohne Erfolg.55 Dabei tat sich interessanterweise besonders die kommunistische Tageszeitung L’Unità hervor, die die Genese dieses Collegios ignorierte und schlichtweg behauptete, das Collegio sei 1941 auf Initiative des Staates entstanden.56 Seit den 1970er Jahren nutzt die Universität Lecce-Salento den Gebäudekomplex für die naturwissenschaftliche Ausbildung der Studenten.57 Rund zehn Jahre länger als Lecce exisitierte das Collegio in Brindisi. Nachdem die Marineakademie 1946 das Collegio in Brindisi verlassen hatte, wurde dieses Gebäude unter dem Namen Collegio Niccolò Tommaseo per profughi giuliani für Flüchtingskinder aus der Region Julisch-Venetien genutzt und durch die GI (mit vorrangig finanzieller Unterstützung des Ministeriums für Nachkriegsfürsorge) geführt.58 Julisch-Venetien war nach dem Zweiten Weltkrieg durch den Pariser Friedensvertrag Jugoslawien zugeschlagen worden, sodass große Teile der dort lebenden Bevölkerung aus dem Norden Italiens nun in den äußersten Süden verbracht wurden. Einige dieser Kinder fanden Zuflucht in dem ehemaligen Marinecollegio. Im Jahre 1951 gründete die Gioventù Italiana das Collegio erneut als Marinecollegio, in dem weiterhin Flüchtlinge, aber auch Waisen untergebracht 52 Siehe
die Werbebroschüren für Rom: Archivio provinciale Bolzano, Commissariato Gioventù Italiana, f. 494, 495. 53 Vgl. Copia della convenzione stipulata con la presidenza centrale dell’Opera Nazionale Orfani di Guerra per la cessione dei collegi della Gioventù Italiana, Rom, 29. 8. 1947, in: ASLe, Com. Prov. G.I., b. 16. 54 Vgl. PCM, Gioventù Italiana, Collegio Internazionale „A. Fiorini“, Ammissione anno addestrativo 1963–64, 8. 8. 1964, in: Archivio Generale della Giunta Regionale del Veneto, ExGil, b. 134, f. Propaganda attività altri commissariati – Collegio navale Brindisi; Werbefilm der Luce in Kollaboration mit der Gioventù Italiana: Una politica per la gioventù, Istituto Nazionale Luce, 1964, D050001, 13:51 findet sich die Tafelaufschrift „Gioventù Italiana, Collegio Internazionale Aldo Fiorini, Lecce“. Im Folgenden wird das Aufgabengebiet des Collegios vorgestellt. 55 Pro-Memoria, 23. 11. 1967, in: ASLe, Com. Prov. G.I., b. 348. 56 Eugenio Manca, Inutilizzato da 2 anni il collegio „Fiorini“, in: l’Unità, 10. 10. 1966, S. 4. 57 Vgl. Verbale di riconsegna del locale °89 del Collegio A. Fiorini da parte dell’ufficio prov/le G.I. di Lecce all’Università degli Studi di Lecce, 15. 10. 1970, in: ASLe, Com. Prov. G.I., b. 56. 58 Vgl. Maria Ventricelli, Attività e gestione negli anni dal 1946 al 1977, in: Archivio di Stato Brindisi (Hrsg.), Collegio Navale Niccolò Tommaseo 1934–1977, S. 26–44, bes. S. 27.
3. Die Schulen nach 1945 323
und ausgebildet wurden.59 Vergleicht man die Werbung der Collegi aus der Zeit des Faschismus mit den Werbebroschüren der 1950er Jahre, so zeigen sich deutlich identisch klingende Verlautbarungen, aus denen lediglich die Wörter Faschist/faschistisch getilgt wurden.60 Aufgrund der schlechten Überlieferungslage konnten keine Hinweise auf personelle Kontinuitäten gefunden werden. Vorhanden sind lediglich die administrativen Akten, die die ausbleibende Unterstützung durch die Marine, die jahrzehntelange schlechte Finanzlage des Collegios und den damit einhergehenden Niedergang des Gebäudes verdeutlichen.61 Als im Januar 1976 das Gesetz zur Auflösung der Gioventù Italiana in Kraft trat, war das Ende des Collegios besiegelt.62 Die jeweiligen Regionen und autonomen Provinzen übernahmen nun die Hinterlassenschaften der GI. Zum Schuljahresende 1977 wurde die Tätigkeit des Collegios eingestellt. Brindisi erhielt das Gebäude kostenlos von der Region Apulien und stellte es sozial schwachen Familien zur Verfügung. Zwischen 1977 und 1994 stieg die Zahl der dort lebenden Familien von zehn auf 150 an. Aufgrund unhaltbarer Zustände wurde das Gebäude schließlich geräumt und abgeriegelt und ist bis heute dem Verfall preisgegeben, obwohl immer wieder Versuche unternommen wurden, es zu reaktivieren.63 Eine gänzlich andere Entwicklung nahm das Zwillingscollegio in Venedig. Nachdem die Decima Mas das Gebäude im Mai 1945 verließ, besetzten es zunächst bis September 1945 alliierte Truppen.64 Daran schlossen sich Diskussionen über die weitere Nutzung des Gebäudekomplexes an: Im Gespräch waren das Schulschiff Scilla, ein Meeresstudienzentrum des Nationalen Forschungsrates (CNR) sowie ein Nautisches Institut.65 Diese Pläne wurden schließlich zugunsten der Nutzung des Gebäudes als Schule für Unteroffiziere der Militärmarine verworfen.66 Im Jahre 1960 verlagerte man die Ausbildung dann in andere Regionen. Bereits vor dieser anstehenden Verlagerung der Unteroffiziersausbildung war die Frage nach der Weiternutzung virulent.67 Zu dem Zeitpunkt existierte in Italien 59 Commissario
provinciale G.I., Rettore del Collegio an Presidente Deputazione Provinciale, 21. 12. 1951, in: ASPBr, cat. XI, cl. 6, sc. 3, b. 452, f. 2. 60 Vgl. Commissariato per la Gioventù Italiana, Collegio navale Brindisi, s. d., in: ASBr, PREF, Serie I, ante ’63, cat. 4, f. 7; Archivio provinciale Bolzano, Commissariato Gioventù Italiana, f. 495. 61 Vgl. Ventricelli, Attività e gestione negli anni dal 1946 al 1977, bes. S. 31–41. 62 Vgl. Legge, Nr. 764, 18. 11. 1975, Soppressione dell’ente „Gioventù italiana“, in: GU, Nr. 13, 16. 1. 1976. 63 Vgl. Franco Antonio Viola, Ampliamento e riuso della Accademia Marinara di Brindisi, tesi di laurea, Politecnico di Bari, aa. 1999/2000, S. 13. 64 Ufficio del Genio Militare an Commissariato Provinciale della GI, 8. 3. 1948, in: Archivio Generale della Giunta Regionale del Veneto, ExGIL, b. 61. 65 Vgl. Presidente del Consiglio Nazionale delle Ricerche an Ministero della Marina, 7. 5. 1946, in: ACS, Ministero della Marina, Gabinetto 1934–1950, b. 993, f. Corsi P.I.G.P. a Venezia. 66 Vgl. Convenzione per la concessione in uso temporaneo dei beni mobili e materiali di proprietà ex GIL in amministrazione e custodia del Commissariato Nazionale della Gioventù Italiana, 1. 11. 1951, in: Archivio Generale della Giunta Regionale del Veneto, ExGIL, b. 103, f. Collegio navale – Convenzione uso mobili. 67 Zur Geschichte der Unteroffiziersausbildung in Venedig von 1946 bis 1960 siehe: Tirondola, Pale a prora!, cap. V.
324 VII. Das Weiterleben der Collegi
Abb. 25: Einweihung des Mosaiks „Das Reich Mussolinis“ im ehemaligen Marinecollegio Venedig nach der Restaurierung am 18. Juni 2020 (https://giornalenordest.it/completato-ilrestauro-dei-mosaici-della-scuola-navale-militare-morosini/ [9. 10. 2020])
nur die Militärschule Nunziatella in Neapel, sodass sich die Marine entschied, eine eigene Ausbildungsstätte zu errichten. Aufgrund der negativen Erfahrungen mit dem Marinecollegio in Brindisi wählte das Marineministerium nicht den im Süden des Landes gelegenen Standort, sondern entschied sich stattdessen für Venedig.68 Im Jahre 1961 nahm das Gebäude als Collegio Francesco Morosini seine Tätigkeit zur Ausbildung des Marinenachwuchses auf und exisitert bis heute auf Sant’Elena.69 Und noch heute finden sich an dem Gebäude die vier Mosaike aus der Zeit des Faschismus, die die wesentlichen faschistischen Ideen und Glaubenssätze visualisieren.70 Jüngst, im Juni 2020, wurden sie nach der Restaurierung feierlich eingeweiht (Abb. 25). Ebenso unkommentiert wie diese Mosaike der faschistischen Zeit in Venedig sind auch heute noch die Mosaike des ehemaligen Luftwaffencollegios in Forlì zu sehen. Auch die einzig über das dortige Collegio existierende Literatur widmet sich gänzlich unkritisch den erhalten gebliebenen „imposanten“ Mosaiken zur Geschichte des Fliegens, in denen vor allem die Erfolge italienischer Piloten ge-
68 Es
gab Beschwerden über die Bevorzugung Venedigs, die jedoch ohne Folgen blieben. Vgl. ebenda, S. 150. 69 Zur Geschichte des Marineinstitutes Francesco Morosini von 1961 bis zur Gegenwart siehe: Ebenda, cap. VI, VII; vgl. Paolo Bembo, „Francesco Morosini“. Dal Collegio a Scuola. Storia contemporanea di un’istituzione, in: Dell’Agnola (Hrsg.), Alzato l’albero, S. 112–116. 70 Ein zeitgenössischer Journalist beschrieb sie wie folgt: „Die vier äußeren Wände der Klassenräume sind mit Mosaiken von acht Metern Länge und 2,30 Meter Höhe dekoriert. Eine repräsentiert das Reich Trajans, eine andere das Reich Mussolinis, die dritte verherrlicht den Sport, die vierte ist eine Waffenallegorie zum Schutz des Imperiums.“ Passarella, Istituto nuovo per l’Italia, in: Le tre Venezie, Dezember 1937, S. 399.
3. Die Schulen nach 1945 325
priesen werden.71 Nach der Befreiung Forlìs durch die Alliierten im November 1944 und der Besetzung des Gebäudes durch die Alliierten72 kam es zu keiner Tilgung der den Faschismus glorifizierenden Bilder und Zitate. In Anbetracht der Tatsache, dass diese Schule seit 1945 als staatliche Schule genutzt wird,73 scheint es umso unverständlicher, dass diese Mosaike weder entfernt noch mit Erklärungen versehen wurden. Sie werden den Jugendlichen seit Jahrzehnten unkommentiert präsentiert. Dieser Befund verdeutlicht die bis heute ausgebliebene Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit dieser Gebäude. Abschließend sei noch angemerkt, dass sich eine Gruppe ehemaliger Kollegiaten aus Forlì nicht damit abfinden wollte, dass dieses Gebäude weiterhin lediglich als staatliche Schule genutzt wurde. Bis 2002 sind Versuche der Gruppe dokumentiert, das ehemalige Collegio als Ausbildungsstätte für den Führungskräftenachwuchs für die Luftfahrt zu reaktivieren. Bereits im Jahre 1968 hatte sich aus diesem Grund die Associazione Ex Allievi Collegio Aeronautico Forlì gegründet.74 Mit Verweis auf die Existenz der Nunziatella für die Armee und dem Morosini für die Marine unternahm die Associazione gemeinsam mit Politikern des Partito Repubblicano Italiano (PRI) und Vertretern der Stadt Forlì Versuche, wieder eine Ausbildungsschule für die Luftfahrt in dem ehemaligen Collegio in Forlì zu instal lieren.75 Im Sommer 1989 regte das Verteidigungsministerium eine Zusammenkunft zwischen Vertretern der Stadt Forlì und des Luftfahrtministeriums an, um diese Pläne zu diskutieren.76 Das Luftfahrtministerium lehnte jedoch eine solche Zusammenkunft unter Verweis auf ausreichend qualifizierte Bewerber für die Luftfahrtakademie ab. Darüber hinaus gab das Ministerium an, bereits im Jahre 1970 eine solche Nützlichkeitsprüfung durchgeführt zu haben, die jedoch nicht zur Errichtung geführt habe.77 Zehn Jahre später startete die Stadt Forlì eine erneute Anfrage auf Initiative der Associazione, die ebenfals negativ beschieden wurde.78 Die letzte aktenkundige Initiative der Ehemaligen, das Collegio zu reak71 Vgl.
Bagattoni, La celebrazione del volo nel collegio aeronautico di Forlì; dies., L’antica arte del mosaico per la moderna arte aviatoria. Il capolavoro di Angelo Canevari nel collegio aeronautico di Forlì; Sangiorgi, Con gli occhi rivolti al cielo. I mosaici del Collegio Aeronautico di Forlì. 72 Questura di Forlì an Prefetto di Forlì, 27. 11. 1945, in: ASFo, Gabinetto Prefettura, b. 405, f. 3. 73 Vgl. Comune di Forlì an Prefetto di Forlì, 4. 7. 1945, in: Ebenda, b. 411, f. 44. 74 Associazione Ex Allievi Collegio Aeronautico Forlì an Presidente Carlo Azeglio Ciampi, 21. 6. 2002, und Comune di Forlì an Capo di Stato Maggiore Aeronautica Militare, 27. 4. 1998, in: AUSAM, monografie, b. 35, f. 9 bis. 75 Gruppo Consiliare Repubblicano, il capogruppo, Stelio De Carolis an Ministro della Difesa, Giovanni Spadolini, 20. 2. 1986, in: Ebenda. Derselbe Briefinhalt zwei Jahre später: Camera dei Deputati, Gruppo Parlamentare Repubblicano, il vice-presidente, Stelio De Carolis an Sottosegretario di Stato al Ministero della Difesa, Gaetano Gorgoni, 11. 5. 1988, in: Ebenda. 76 Vgl. Ministero della Difesa an Stato Maggiore dell’Aeronautica, 13. 6. 1989, in: Ebenda. 77 Vgl. Stato Maggiore dell’Aeronautica an Ministero della Difesa, 26. 7. 1989, und Stato Maggiore dell’Aeronautica, 1a reparto, an Stato Maggiore dell’Aeronautica, 5a reparto, 13. 6. 1988, in: Ebenda. 78 Comune di Forlì an Capo di Stato Maggiore Aeronautica Militare, 27. 4. 1998, in: Ebenda. Stato Maggiore dell’Aeronautica an Ministero della Difesa, 19. 3. 1999, in: Ebenda.
326 VII. Das Weiterleben der Collegi tivieren, erging im Jahre 2002 direkt an den damaligen Staatspräsidenten Carlo Azeglio Ciampi.79 Auch dieser lehnte deren Ansinnen ab.80 Vier Jahre später wurde eine Ausbildungsschule für den Nachwuchs, die Scuola militare aeronautica Giulio Douhet errichtet, jedoch nicht dem Wunsch der Ehemaligen entsprechend in Forlì, sondern in Florenz.
4. Die lebensgeschichtliche Bedeutung: Karriereverläufe und Prägungen der ehemaligen Schüler Nahezu alle Studien, die sich mit den Wirkungen und Einflüssen politischer Indoktrination beschäftigen, verweisen zunächst auf die Schwierigkeiten, diese bei der zeitlichen Distanz zu messen oder näher zu bestimmen.81 Grundsätzlich wird dabei auch die Frage nach den Quellen aufgeworfen, anhand derer sich ein solcher Einfluss überhaupt festmachen lasse. Zeitzeugenerinnerungen werden dabei als potenzielle Quelle häufig kritisch beäugt. Aufgrund der unterschiedlichen Verarbeitung der individuellen Erfahrungen sowie der sich wandelnden Erinnerungsdiskurse unterliegen Erinnerungen Veränderungen, sodass es schwierig ist, mit der Distanz von Jahrzehnten heute noch eine eindeutige Wirkung heraus kristallisieren zu können. Aufgrund dieser Problematik legt dieses Kapitel dar, welchen Einfluss die ehemaligen Schüler den Collegi zum Zeitpunkt der Be fragungen auf ihr Leben beimaßen. Zudem sollen exemplarisch Lebenswege von Schülern in der Italienischen Republik nachgezeichnet und deren politische Orientierung eruiert werden. Im Gegensatz zu den deutschen Ausleseschülern hatten die italienischen Absolventen nach 1945 keine Benachteiligungen aufgrund ihrer Abschlüsse zu befürchten.82 Die Maturanten der gymnasialen Collegi konnten nach dem Ende der faschistischen Herrschaft problemlos ein Studium aufnehmen und in der Folgezeit nach eigenem Bekunden beruflich größtenteils reüssieren. So konstatierte ein Venedig-Kollegiat: „In der Militärlaufbahn und dem zivilen Leben hatten wir fast alle beachtliche Erfolge trotz der Kriegs- und Nachkriegsumwälzungen.“83 Ähnlich äußerten sich die Ehemaligen des Collegios in Forlì in einem Brief an den damaligen Staatspräsidenten Ciampi im Jahre 2002: „[A]us unserem Collegio, dem wir nachtrauern, sind Personen in die höchsten Ämter der Streitkräfte ge79 Associazione
Ex Allievi Collegio Aeronautico Forlì an Presidente Carlo Azeglio Ciampi, 21. 6. 2002, in: Ebenda. 80 Vgl. Nota per il Sig. Sottocapo di SMA [Stato Maggiore Aeronautica], 9. 7. 2002, in: Ebenda. 81 Vgl. dazu exemplarisch Miller-Kipp, „Deutsche Jungs, die dem Führer helfen, das Reich zu tragen“, S. 59; Charnitzky, Italienische Grundschule im faschistischen Staat, S. 75; Gianluca Gabrielli/Davide Montino, Prefazione, in: Dies. (Hrsg.), La scuola fascista, S. 7–11, hier S. 9; La Rovere, Totalitarian Pedagogy and the Italian Youth, S. 21, 29; Sibylle Hübner-Funk, Hitlers Garanten der Zukunft. Biographische Brüche. Historische Lektionen, 2., erw. Aufl., Potsdam 2005, S. 388. 82 Vgl. Hülsheger, Adolf-Hitler-Schulen, S. 254. 83 Schreiben Giorgio Gasparinis (Venedig 1939–1942), 20. 8. 2012, S. 5.
4. Die lebensgeschichtliche Bedeutung: Karriereverläufe der ehemaligen Schüler 327
langt und nur wenige waren gezwungen, im zivilen Leben Zuflucht zu finden, wo sie sich im Übrigen abgehoben haben.“84 Wie in den Zitaten angedeutet, lässt sich zeigen, dass nicht wenige ehemalige Kollegiaten wichtige Positionen in Politik, Militär, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Sport in der Italienischen Republik einnahmen. Unter den Politikern befanden sich etwa der PSI-Abgeordnete, Präsident der Verteidigungskommission und Admiral Falco Accame (* 1925)85 sowie der Präsident der neofaschistischen Partei Movimento Sociale Italiano, Alfredo Pazzaglia (1927–1997).86 Viele der Absolventen von Venedig und Brindisi machten in der Marine Karriere,87 wie beispielsweise die Admiräle Ferdinando Thaller und Giovanni Clara sowie die Fregattenkapitäne Giorgio Battaglini, Clemente Luigi Bertozzi und Renato Battista La Racine.88 Der Absolvent des Collegios in Venedig Admiral Fulvio Martini (1923–2003) stieg gar zum Chef des italienischen Nachrichtendienstes SISMI auf.89 In seinen 1999 veröffentlichten Memoiren bekannte er zu seiner politischen Orientierung: „Ich möchte sagen, dass mir politisch gesehen immer ein sozialistisches Etikett anhing, während ich fast immer republikanisch gewählt habe. […] Ich wählte immer wie irgendein Bürger, betrieb keine Wahlwerbung, meine politische Sympathie hat nie eine meiner Entscheidungen beeinflusst.“90
Zu den Wirtschaftsgrößen zählt Graf Pio Teodorani-Fabbri,91 der nach seiner Hochzeit mit der Enkelin des Fiat-Gründers Maria Sole Agnelli im Jahre 1964 zum Top-Manager avancierte. Bernardo Nobile, Absolvent von 1940, stieg nach seinem Ingenieurstudium in die Führungsetage im Mineralölunternehmen Total auf.92 84 Associazione
Ex Allievi Collegio Aeronautico Forlì an Presidente Carlo Azeglio Ciampi, 21. 6. 2002, in: AUSAM, monografie, b. 35, f. 9 bis. Siehe darüber hinaus Abo Cardelli, Schüler aus Forlì: „Mit mir waren noch andere Riminianer in dem Collegio, an die ich mich noch gut erinnere und darunter sind auch einige, die, nachdem sie die Seite gewechselt haben, berühmt geworden sind und gut daran getan haben, ihre Vergangenheit zu vergessen.“ Zit. nach Rossi, Ho creduto, S. 10. 85 Schüler in Venedig von 1939 bis 1943, Admiral. Präsident der Verteidigungskommission 1976 bis 1978. 86 Schüler in Venedig von 1940 bis 1943. Präsident des MSI 1990 bis 1994. 87 In der Memorialistik wird stets behauptet, dass mehr als sechzig der Absolventen in der Marine Karriere gemacht hätten. Dabei handelt es sich um eine Zahl, die nicht belegt wird und auch in der Höhe nicht rekonstruierbar war. Vgl. Bembo, Collegio navale della G.I.L. ed il periodo delle scuole, S. 84. 88 Vgl. http://iltirreno.gelocal.it/livorno/cronaca/2011/12/05/news/muore-durante-il-pranzoallo-yacht-club-1.2893625 [2. 8. 2017]. 89 Schüler in Venedig von 1939 bis 1941, Admiral. Chef des Geheimdienstes 1984 bis 1991. 90 Fulvio Martini, Nome in codice: Ulisse. Trent’anni di storia italiana nelle memorie di un protagonista dei servizi segreti, Mailand 1999, S. 211 f. 91 Schüler in Venedig von 1939 bis 1942, Absolvent der Marineakademie von Livorno. „Maria Soles zweiter Ehemann wurde Graf Pio Teodorani Fabbri. Seine Familie stammt aus der Emilia-Romagna, der Region, aus der auch Benito Mussolini kam. Indirekt ist der Graf sogar mit dem Faschistenführer verwandt, denn sein Cousin ist wiederum mit der Nichte von Arnaldo Mussolini verheiratet.“ Vito Avantario, Die Agnellis. Die heimlichen Herrscher Italiens, Frankfurt a. M./New York 2002, S. 112. 92 Vgl. Schreiben des Neffen von Bernardo Nobile (Venedig 1937–1940), 27. 1. 2017.
328 VII. Das Weiterleben der Collegi Nicht wenige erlangten auch in Kunst, Literatur93 und Sport Berühmtheit. Zu erwähnen ist der Maler Guido Strazza,94 dessen Vater während des Faschismus unter anderem Parteisekretär in Mogadischu war. Er hatte sich bereits während seiner Zeit im Collegio als Kompanieführer hervorgetan und sich auch mit Zeichnungen erfolgreich an den Ludi Juveniles beteiligt. Nach seinem Abschluss im Collegio im Jahre 1940 knüpfte er zu niemand Geringerem als dem Futuristen Filippo Tommaso Marinetti Kontakte. Bereits zwei Jahre später erhielt er die Möglichkeit, seine Werke im Stile der futuristischen Aeropittura (Luftmalerei) bei der Biennale in Venedig zu präsentieren. Nach langjährigen Auslandsaufenthalten in Südamerika kehrte er nach Italien zurück, lehrte in verschiedenen Einrichtungen und leitete unter anderem die Accademia di Belle Arti in Rom. Im Jahre 2017 widmete ihm die Galleria Nazionale d’Arte Moderna in Rom eigens eine große Ausstellung. Ein Forlì-Kollegiat, Lino Manocchia, dessen Vater bereits für den Popolo d’Italia Mussolinis schrieb, arbeitete mehr als 35 Jahre als Korrespondent für die RAI in New York.95 Weitere nennenswerte Persönlichkeiten waren der Produzent, Schauspieler und Zombiefilmregisseur Lucio Fulci (1927–1996),96 dem eine Nähe zum PCI nachgesagt wird und der Fußballspieler Celestino Celio (1925–2008), der in seinen Memoiren 2002 bekannte: „Ich bin unter dem Faschismus aufgewachsen, der mich den Stolz, Italiener zu sein, gelehrt hat. Wenn ich auf die ausländischen Spitzensportler dieser Jahre traf, sah ich sie als normale Personen […]. Ich reichte ihnen die Hand, hatte während des Spiels aber keine Angst.“97 Darüber hinaus fanden sich unter den Kollegiaten zahlreiche Ingenieure,98 wie etwa Sergio Marsich, der Sohn des Faschistenführers in Venedig, der eine Professur für Marineingenieurwesen innehatte.99 Die erste Professur für Prähistorische Ethnographie Afrikas an der La Sapienza in Rom erhielt hingegen der Venedig-Kollegiat Fabrizio Mori, der sich seit 1955 mit der prähistorischen Zivilisation in der Sahara 93 Etwa
Giancarlo Duranti (Essayist, https://it.wikipedia.org/wiki/Gian_Carlo_Duranti [17. 8. 2017]). 94 Schüler in Venedig von 1938 bis 1940. Vgl. die folgenden Informationen zu Guido Strazza: Bruna Fontana, Biografia, in: Giuseppe Appella (Hrsg.), Guido Strazza. Ricercare, Udine 2017, S. 147 f.; Giuseppe Appella, Guido Strazza: la vita, le opere, la fortuna critica, in: Marco Goldin (Hrsg.), Strazza. Opere 1941–1999, Conegliano 1999, S. 211–269, insbes. S. 211. 95 Vgl. http://giuliesi.blogspot.de/2007/07/lino-manocchia-giornalista.html; http://www. madonnadellosplendore.eu/files/Lino-Manocchia.pdf [1. 12. 2017]. 96 Schüler in Venedig von 1940 bis 1943, vgl. Paolo Albiero/Giacomo Cacciatore, Dalla sinistra di via Veneto alla destra di Steno (1927–1958), in: Dies. (Hrsg.), Il terrorista dei generi. Tutto il cinema di Lucio Fulci, Rom 2004, S. 19–24, hier S. 19. 97 Celestino Celio, in: Pino Lazzaro (Hrsg.), Nella fossa dei leoni. Lo stadio Appiani di Padova nei ricordi di tanti ex calciatori biancoscudati, Portogruaro 2002, S. 69–73, hier S. 70. 98 Vgl. Carlo Damerini (Carlo Damerini, Diario minimo, Florenz 2001); Giorgio Giuliani; Antonio Meneghini; Bernardo Nobile; Giovanni Sambalino; Valerio Stoppato (Reda zione toscana dell’Unità (Hrsg.), La Toscana delle logge, Rom 1993, S. 110); Manlio Cavarretta; Pierluciano Franco; Guglielmo Garbrecht; Oriano Marchi; Gianfranco Ottani; Alberto Pizzocaro; Luigi Fornasari Beltrame Pome; Guido Palazzi; Riccardo Polastri. 99 http://www.genovapost.com/Genova/Cronaca/La-Facolta-di-Ingegneria-ricorda-Sergio38703.aspx [25. 1. 2018].
4. Die lebensgeschichtliche Bedeutung: Karriereverläufe der ehemaligen Schüler 329
beschäftigte.100 Außerdem befinden sich unter den ehemaligen Venedig-Kollegiaten zahlreiche erfolgreiche Architekten,101 Mediziner102 und Anwälte.103 Betrachtet man hingegen den Werdegang der Absolventen der nicht-gymnasialen Collegi in Lecce und Bozen, so bekleidete unter ihnen – abgesehen von einer Führungskraft bei Alitalia – keiner eine gehobene Position. Es zeigt sich daran, dass es über den Faschismus hinweg eine Kontinuität gab, sodass die Kollegiaten der gymnasialen Collegi vor, während und nach dem Faschismus dem sozialen Niveau ihrer Familien verblieben, wohingegen den Kollegiaten der nicht-gymnasialen Collegi kaum ein sozialer Aufstieg infolge eines Collegio-Besuches gelang. Augenscheinlich fungierten gerade die gymnasialen Collegi darüber hinaus als Netzwerkschmieden, denn die Kollegiaten hielten über die Jahre hinweg enge Kontakte. Sowohl die Ehemaligen aus Brindisi und Venedig104 als auch die von Forlì105 gründeten in den 1960er Jahren Vereinigungen und sahen sich regelmäßig, etwa bei der jährlichen Vereidigung der neuen Marinekollegiaten in Venedig. Es ist anzunehmen, dass diese Treffen auch im Sinne der Netzwerkbildung und -festigung sowie des beruflichen Aufstieges genutzt wurden. Auch unter den Bozner Kollegiaten gab es regelmäßige Zusammenkünfte: „Wir hatten einen guten Korpsgeist und im Frühling jeden Jahres trafen wir uns in einer anderen Stadt.“106 Diese zwischen 1978 und 2011107 regelmäßig stattfindenden 100 Vgl.
Savino di Lernia, Fabrizio Mori (1925–2010). Few biographical notes, in: Libya antiqua VI (2011–2012), S. 181 f. 101 Etwa Iginio Bonoldi (Iginio Bonoldi, Dimore italiane nella tradizione, Padua 2013); Alfredo Gravagnuolo; Carlo Mangani (http://siusa.archivi.beniculturali.it/cgi-bin/pagina. pl?TipoPag=prodpersona&Chiave=52839&RicProgetto=architetti [1. 8. 2017]); Ivo Tagliaventi (Professor für Architektur in Bologna). 102 Etwa Giovanni De Bastiani (Professor für Traumatologie an der Universität Verona); Augusto Mangani (Kardiologe, http://messaggeroveneto.gelocal.it/udine/cronaca/ 2012/12/19/news/e-morto-a-91-anni-il-cardiologo-augusto-mangani-1.6226765 [1. 8. 2017]); Pier Luigi Fazzi (Kinderarzt, u. a. für die WHO tätig, http://prabook.com/web/ person-view.html?profileId=757619 [1. 8. 2017]); Giorgio Gasparini (Chirurg); Luciano Mancini; Aldo Rescigno (Pharmakokinetiker, https://prabook.com/web/aldo.rescigno/ 85409?profileId=85409# [1. 8. 2017]); Piero Mariotti. 103 Etwa Giovanni Cecchieri (http://iltirreno.gelocal.it/massa/cronaca/2017/05/13/news/ lutto-per-l-addio-all-avvocato-cecchieri-1. 15331265 [1. 8. 2017]); Gian Antonio Gaspari; Bruno Coppola. 104 Die Ehemaligen gründeten die „Associazione Allievi dei Collegi navali di Brindisi e di Venezia“ und im Januar 1962 fand das erste Treffen der Ehemaligen der Marinecollegi in Venedig und Brindisi in Venedig statt. Vgl. Furlani, Gli allievi e gli ufficiali dei collegi navali della GIL, S. 7. Vgl. Schreiben Iginio Bonoldis (Venedig 1941–1943), 19. 4. 2012; Bild mit Unterschrift „Venezia, 14 gennaio 1962 – 1° Raduno degli ex Alunni dei Collegi Navali di Venezia e Brindisi“ von Iginio Bonoldi (Venedig 1941–1943), in: AdV. 105 Im Jahre 1968 gründeten die ehemaligen Forlì-Kollegiaten die „Associazione Ex Allievi Collegio Aeronautico Forlì“. Vgl. Capo di Stato Maggiore Aeronautica Militare, 27. 4. 1998, in: AUSAM, monografie, b. 35, f. 9 bis; Il Collegio aeronautico di Forlì, in: Storia Verità IV (1999), 19, S. 65. 106 Interview mit Giuseppe Cinquepalmi (Bozen 1940–1942), 23. 4. 2014-K, S. 13. 107 1978 Viareggio, 1991 Orvieto, 1992 Bolzano, 1993 Pesaro, 1994 San Felice, 1995 Roma, 1996 Anghiari, 1997 Bolzano, 1998 Pesaro, 1999 Bolzano, 2000 Roma, 2001 Ostuni, 2002 Viareggio, 2003 Pesaro, (2004 Monastir), 2005 Pesaro, 2006 Arezzo, 2007 Viareggio, 2008 Rovereto, 2009 Pisa, 2010 Pesaro, 2011 Porto S. Stefano.
330 VII. Das Weiterleben der Collegi
Abb. 26: Ehemaliger Bozen-Kollegiat während eines Wiedersehens, 1994 (I nostri raduni, San Felice, 1994, Tomo 1°, Filmstill, 17:00)
Wiedersehen der ragazzi del 43, wie sich die Gruppe selbst nannte, wurden filmisch dokumentiert und belegen auch das Aufleben der „guten alten Zeit“ während dieser Treffen: Einige ehemalige Kollegiaten trugen die alten Uniformen, intonierten faschistische Lieder, zeigten den römischen Gruß oder – im Rahmen ihrer Möglichkeiten – den Stechschritt (Abb. 26). Die Filmemacher widmeten die drei DVDs im Übrigen einem Ehemaligen, der durch die – wie sie betonten – „rote Kanaille“108 sein Leben ließ, womit zumindest der Geist der Filmemacher deutlich wird. Während einer dieser Zusammenkünfte hob ein Redner voller Dankbarkeit hervor: „In unserer Mitte gibt es keinen Verlierer, keiner ist an Hunger gestorben, jeder von uns ist seinen Weg gegangen mit dem Mut, der Kraft und der Erziehung, die wir im Collegio erhalten haben.“109 Auch wenn die Analyse ergab, dass keiner der Kollegiaten sozial aufsteigen konnte, verdeutlicht dieses Zitat die Dankbarkeit für die im Collegio erhaltene Erziehung, die es den Kolle giaten aus ihrer Perspektive ermöglichte, ein erfolgreiches Leben zu führen. Aus dieser Dankbarkeit resultiert auch die grundlegend positive Einschätzung des Faschismus durch die Kollegiaten, auf die weiter unten noch eingegangen wird. Bereits in der kurzen Darstellung der Lebenswege einiger Kollegiaten konnte gezeigt werden, dass die Ehemaligen nahezu das gesamte politische Spektrum abbildeten: Vom PCI-nahen Zombiefilmregisseur über den PSI-Abgeordneten Accame und dem (offiziell) repubikanisch gesinnten Nachrichtendienstchef bis hin zum Präsidenten des neofaschistischen Movimento Sociale Italiano.110 So durchlebten einige der Kollegiaten interessante politische Metamorphosen von der Rechten zu der Linken, wie etwa der Venedig-Kollegiat Alvise Gigante. Der 108 Vgl. Bolzano 1939–1943, tomo 1°, 11:40. 109 I nostri raduni, Pesaro, 1998, tomo 1°, 7:37–7:50. 110 Der MSI wurde „in der unmittelbaren Nachkriegszeit
als Sammelbecken für überzeugte Faschisten gegründet“ und blieb jahrzehntelang „Gralshüter der isolierten Erinnerungskultur der Kämpfer für die Republik von Salò“. Brunello Mantelli, Revisionismus durch „Aussöhnung“. Politischer Wandel und die Krise der historischen Erinnerung in Italien, in: Cornelißen/Klinkhammer/Schwentker (Hrsg.), Erinnerungskulturen, S. 222–232, hier S. 225.
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Sohn des mit Gabriele D’Annunzio befreundeten Bürgermeisters von Fiume kämpfte während der RSI als Freiwilliger in der Decima Flottiglia Mas, wurde dann interniert und schrieb ab 1947 für den Pensiero Nazionale, eine „philokommunistisch-faschistische Zeitung“.111 Anfänglich behauptete der „rote Faschist“, dass Faschismus und Antifaschismus einen gemeinsamen Feind, den Kapitalismus, bekämpft hätten,112 um wenig später zu der Erkenntnis zu gelangen, vom Faschismus verraten und betrogen worden zu sein und sich fälschlicherweise für die RSI entschieden zu haben.113 Aus dieser Erkenntnis zog er schließlich 1949 den Entschluss, dem PCI beizutreten.114 In den 1960er Jahren bekleidete auch er dann eine „gute Position in der staatlichen Industrie“, die es ihm jedoch nicht erlaubt habe, seine linke Gesinnung offiziell zu machen, so der kommunistische Historiker Ruggero Zangrandi, Begründer der These vom langen Weg der Jugend vom Faschismus hin zum Antifaschismus, in seinem 1964 erschienenen Buch über das Jahr 1943, für das er unter anderem Gigante zu seiner Beteiligung an der RSI interviewt hatte.115 Über den weiteren Lebensweg Gigantes, seinen politischen wie beruflichen Werdegang konnten leider keine weiteren Informationen erhoben werden. Die Mehrheit der Kollegiaten gab jedoch an, sich nicht mehr politisch aktiv eingesetzt zu haben und Wechselwähler zu sein. So etwa ein Bozen-Kollegiat: „Also habe ich mich immer etwas von der Politik distanziert gehalten. Ich bin immer zur Wahl gegangen und habe nie für dieselbe Partei gestimmt. Ich war immer in der Mitte. Aber ich musste abstimmen. Nicht zur Wahl zu gehen ist nutzlos.“116 Sie erkannten die Wahl als demokratisches Mittel an, wurden nach eigenen Angaben jedoch größtenteils nicht zu Stammwählern. Bei den erhobenen Interviews zeigt sich aber fast durchweg – eine Ausnahme bildete der ehemalige PSI-Abgeordnete Falco Accame – eine positive Einstellung gegenüber dem Faschismus, die idealisierende und gar apologetische Züge trägt. Dabei hoben die Befragten insbesondere die sozialen Wohltaten des Faschismus und des „Sozialisten“ Mussolini hervor und betonten die Erfolge des faschistischen Regimes. Der Venedig-Kollegiat Giorgio Gasparini stellte heraus, dass das Italien Mussolinis „also nicht mehr das Italien des Geplappers, sondern der Arbeit und wichtiger Dinge, sozialer Dinge [sein wollte]. Und in der Tat innerhalb weniger Jahre hat er die ganzen sozialen Fürsorgeeinrichtungen errichtet. Die Renten. Vorher gab es nichts oder wenig. Arbeits zeiten, er legte die Arbeitszeit fest. Denn schließlich war Mussolini Kommunist und Sozialist.“117
Anschließend zählte er die seines Erachtens glorreichen Taten Mussolinis bzw. des Faschismus auf. Dazu zählte er die Aussöhnung mit der Kirche, erfolgreiche 111 Buchignani, Fascisti Rossi, S. 118. 112 Ebenda, S. 122 113 Ebenda, S. 161. 114 Vgl. ebenda, S. 10, 27, 103, 121. 115 Vgl. Zangrandi, 1943: 25 luglio –
8 settembre, S. 716, Anm. 18. Hinter Z verbirgt sich Gigante. Vgl. dazu Buchignani, Fascisti Rossi, S. 283, Anm. 10. 116 Interview mit Donato Fantetti (Bozen 1942–1943), 26. 3. 2014-K, S. 10. 117 Interview mit Giorgio Gasparini (Venedig 1939–1942), 4. 4. 2014-O, S. 9.
332 VII. Das Weiterleben der Collegi Transatlantikflüge, zweifacher Fußballweltmeister, Eroberung Abessiniens, großartige Leistungen bei den Olympischen Spielen in Berlin, Eroberung Albaniens und das Münchner Abkommen. Er schloss mit den Worten: „Das imperiale Rom wurde wiedergeboren.“118 Vergleichbar äußerte sich ein Bozen-Kollegiat: „Das INPS [Istituto Nazionale della Previdenza Sociale – Nationalinstitut für Soziale Fürsorge, bereits 1898 gegründet] hat der Faschismus geschaffen. Das INAM [Istituto Nazionale per l’Assicurazione contro le Malattie – Nationales Institut für die Versicherung gegen Krankheiten] hat der Faschismus geschaffen. Die ONMI [Opera Nazionale Maternità e Infanzia – Mutter-und-Kind-Hilfswerk] hat der Faschismus geschaffen. Die Landschulen, inbesondere in den südlichen Regionen, hat er geschaffen. Siebzig Prozent der Jungen waren Analphabeten – in meinem Dorf gab es nur wenige, die zur Schule gingen. Die Masse der Kinder im Alter von acht oder neun Jahren ging zur Arbeit auf das Feld. Und er hat die Landschulen gegründet. Viele Landschulen.“119
Die Darstellung Mussolinis als Wohltäter korrespondiert mit seiner Exkulpation von den negativen Taten des Faschismus. So sei Mussolini durch die ihm nahestehenden Personen verraten, manipuliert oder beeinflusst worden.120 Der „gute“ Mussolini habe sich jedoch immer nach bestem Wissen und Gewissen für die Größe Italiens eingesetzt. Die Forschung hat bereits vor einigen Jahren konstatiert, dass aufgrund der unvollständigen Aufarbeitung und Thematisierung der faschistischen Verbrechen in der Nachkriegszeit in Italien ein „tendenziell milderes Bild vom Faschismus aufbewahrt [wird], als es der Wirklichkeit entspricht,“121 sodass sich bei vielen Italienern eine „nachsichtige Erinnerung“122 durchgesetzt habe. Dies zeigt sich auch ganz deutlich an den Äußerungen der Kollegiaten, die gemeinhin die sozialen Wohltaten des Faschismus in den Mittelpunkt rücken und die Verbrechen des faschistischen Regimes ausblenden oder eben Mussolini von den Verfehlungen freisprechen. Ebenso zeigen sich bei den Kollegiaten die vielen positiven Zuschreibungen, z. B. wenn Mussolini als „Rebell gegen soziale Ungerechtigkeit“ überhöht wird, die „sich in einem solchen Maße in die Tiefenschichten der Erinnerung der Italiener eingegraben [haben], dass sie noch heute kaum ausrottbar sind“.123 In Anbetracht der Tatsache, dass die Kollegiaten in besonderem Maße von den Wohltaten des Regimes profitierten, scheint bei vielen die Begeisterung für den Faschismus ungebrochen. Sowohl die Kollegiaten der gymnasialen als auch der nicht-gymnasialen Collegi glorifizieren diese Internate. Das Regime verstand es in besonderem Maße, ihnen den Eindruck zu vermitteln, „Teil einer gewissen Elite zu sein“.124 Diese Empfindung führt noch heute maßgeblich dazu, dass sie dem 118 Interview mit Giorgio Gasparini (Venedig 1939–1942), 4. 4. 2014-K, S. 11 f. 119 Interview mit Donato Fantetti (Bozen 1942–1943), 26. 3. 2014-K, S. 10. 120 Vgl. ebenda; Interview mit Claudio Bolasco (Bozen 1939–1943), 20. 3. 2014, S. 8. 121 Hans Woller, Der Rohstoff des kollektiven Gedächtnisses. Die Abrechnung mit
dem Faschismus in Italien und ihre erfahrungsgeschichtliche Dimension, in: Cornelißen/ Klinkhammer/Schwentker (Hrsg.), Erinnerungskulturen, S. 67–76, hier S. 75. 122 Mattioli, „Viva Mussolini!“, S. 58. 123 Alessandro Campi, Mussolini und die italienische Nachkriegsgesellschaft. Italien zwischen Erinnern und Vergessen, in: Cornelißen/Klinkhammer/Schwentker (Hrsg.), Erinnerungskulturen, S. 108–122, hier S. 109 f. 124 Interview mit Giorgio Gasparini (Venedig 1939–1942), 4. 4. 2014-K, S. 1.
4. Die lebensgeschichtliche Bedeutung: Karriereverläufe der ehemaligen Schüler 333
Faschismus dankbar für das damals Gebotene sind und Kritik an dem Regime nicht zulassen. Das Gefühl, zu den Auserwählten zu gehören, wurde vor allem geschickt befördert, durch die Selektion,125 die Ausstattung mit Uniformen, die Unterbringung in neu errichteten und modern ausgestatteten Gebäuden sowie die Verwendung der Kollegiaten als Repräsentanten des neuen Italiens. So hob etwa der Bozen-Kollegiat Cinquepalmi hervor: „Sehr, sehr, ich war sehr stolz. Wir waren alle stolz. Auch wegen der Uniform, die wir trugen. Und sie brachten uns immer als Repräsentanten.“126 Gisela Miller-Kipp, Fachfrau auf dem Gebiet der deutschen Ausleseschulen, hat in Bezug auf die Wirkung der Gebäude die Bezeichnung „Verführung durch Stein“127 geprägt, womit sie den überwältigenden Raumeindruck beschrieb, der den Ausleseschülern bereits suggerierte, Teil einer Elite zu sein. Vergleichbares lässt sich auch für die italienischen Ausleseschulen konstatieren. Beispielhaft für die Überwältigung der Schüler durch die Architektur ist das Bekenntnis des Schülers aus Forlì, der sich in einem Interview aus dem Jahre 2005 folgendermaßen an das Collegio erinnert: „Ich erinnere mich an den außergewöhnlichen Raum der Sternbilder, die sich auf der gewölbten Spiegeldecke reflektierten. Der Saal wurde gekrönt durch die Büste Brunos, Sohn des Duce, dessen Erinnerung dieses Institut gewidmet war. Die Treppen, die in die höheren Etagen führten, waren aus weißem Marmor und auf den Stufenhöhen wurde aus geschliffenen Kristallen die Geschichte der Luftfahrt dargestellt. Von innen erleuchtet, schufen diese Kristalle ein unglaublich suggestives Szenario für diejenigen, die diese Stufen hinaufstiegen, die zudem durch einen kalten, aus Duraluminium der Flugzeugpropeller gefertigten Handlauf begleitet wurden. Das Auditorium war mit einer modernen Stereoanlage ausgestattet, das durch die verschiedenen, auch ausländischen Delegationen, die das Collegio besuchten, bewundert wurde. Insgesamt fühlte man sich wirklich privilegiert und stolz, ein Teil davon zu sein.“128
Die Begeisterung für die faschistische Zeit im Allgemeinen und die faschistischen Einrichtungen im Besonderen führt gar zu gänzlich falschen Behauptungen oder Erinnerungen, wie der folgenden: „Es gab keine Stipendien. Man zahlte dort nicht. Es war alles kostenlos. Während des Faschismus zahlte man nicht für die Schule. Nur in Privatschulen zahlte man. Dieses Collegio war absolut kostenlos. Man zahlte nichts. Sie gaben, aber sie nahmen nichts. Die Bücher, die Uniform, alles war kostenlos. 1943, während des Krieges – mit allen Beschränkungen, die es gab – hatten wir eine Uniform aus Kastorin, einen riesigen Umhang mit zwei goldfarbenen Broschen. Sie behandelten uns gut.“129
125 „Nach
der Aufnahme war man glücklich, denn viele wurden für untauglich erklärt.“ Interview mit Iginio Bonoldi (Venedig 1941–1943), 7. 4. 2014-O, S. 1; „Ich war sehr glücklich. Auch weil nicht alle angenommen wurden.“ Interview mit Carlo Gottardi (Brindisi, Venedig 1937–1940), 3. 4. 2014-O, S. 1. 126 Interview mit Giuseppe Cinquepalmi (Bozen 1940–1942), 23. 4. 2014-O, S. 2. 127 Miller-Kipp, „Deutsche Jungs, die dem Führer helfen, das Reich zu tragen“, S. 63. 128 Zit. nach Rossi, Ho creduto, S. 10 f. Obgleich die Schüler aus Venedig aus wohlhabenden Elternhäusern stammten, waren sie ebenso beeindruckt von der Ausstattung, wie Heizung, elektrischem Licht oder Warmwasser. Vgl. Mitteilung der Tochter Giandanese Berninis (Venezia 1937–1938), 6. 2. 2017. 129 Interview mit Silvano Traina (Bozen 1942–1943), 18. 3. 2014, S. 5.
334 VII. Das Weiterleben der Collegi
Abb. 27: Der Raum der Stern bilder mit der Büste Brunos im Luftwaffencollegio in Forlì, undatiert (Archivio Cesare Valle, CV-FOT-061)
Aufgrund ihrer Erfahrungen betont die Mehrheit der Kollegiaten: „Der Faschismus hat viel für die Jugend getan und das muss anerkannt werden.“130 Selbstverständlich müssen diese rückwirkenden Verklärungen der Vergangenheit immer vor dem Hintergrund der Zeitumstände gesehen werden, während derer die Er innerung abgerufen wird. Die Krisenerscheinungen der Gegenwart, wie etwa die hohe Jugendarbeitslosigkeit sowie eine wahrgenommene höhere Gefährdungs lage, verstärken eine Idealisierung des Faschismus: „Es gab Ordnung, ich wiederhole, ich fuhr von Bonefro nach Bozen, musste dreimal umsteigen und niemand störte mich jemals. Jetzt begleiten sie ihre Kinder zur Schule. Alles hat sich geändert. Damals gab es Ordnung. Nachts konnte ein Kind im Dorf unterwegs sein. Niemand hat dich belästigt. Da waren die Carabinieri. Es gab immer eine Patrouille. Es gab mehr Ruhe.“131
Ein anderer Zeitzeuge antwortete auf die Frage, woran er ungern zurückdenke: „Leider wie es heute in Italien zugeht. Ich habe keine Möglichkeit, diese Situation zu verändern. Ich erleide sie nur.“ Er fuhr fort und bekräftige nochmals: „Ich bin, ich wiederhole mich, der faschistischen Zeit sehr verbunden. Es ging mir gut. Ich war glücklich. Ich weiß, dass sie mir so viele Dinge beigebracht haben. Es ist wie 130 Interview 131 Interview
mit Iginio Bonoldi (Venedig 1941–1943), 7. 4. 2014-K, S. 9. mit Donato Fantetti (Bozen 1942–1943), 26. 3. 2014-K, S. 10.
4. Die lebensgeschichtliche Bedeutung: Karriereverläufe der ehemaligen Schüler 335
bei einem Christ. Warum glaubt er an Gott? Es ist ein Dogma, er glaubt es, das reicht.“132 Abschließend betonte er: „Ich bin mit dem römischen Gruß geboren und ich werde mit dem römischen Gruß sterben.“133 Doch nicht nur die durch die Kollegiaten wahrgenommenen Krisenerscheinungen der Gegenwart, sondern auch die Eigenart, dass ältere Menschen dazu tendieren, ihre Kindheit und Jugend zu glorifizieren,134 kann zusätzlich die Verherrlichung der faschistischen Zeit erklären. So betonte ein Venedig-Kollegiat sentimental: „Wenn man 90 Jahre alt ist, denkt man häufig an die Vergangenheit. Und das ist meine Vergangenheit. Wir waren 16, 17, 18 Jahre alt und das war die schönste Zeit unseres Lebens.“135 Eine kritische Auseinandersetzung mit der Zielsetzung der Collegi findet bei den Interviewten nicht statt, vielmehr wünschten sich zahlreiche Befragte die Wiedererrichtung solcher Schulen in Italien, da diese ihnen Werte vermittelt hätten, die sie im heutigen Italien vermissen: „Ich sage, dass ein Collegio, wie ich es besucht habe, von allen italienischen Jugendlichen besucht werden sollte. Du beginnst zu lernen und du beginnst, dich am Tisch zu be nehmen. Wenn du mit den Händen aßest, schmissen sie dich aus der Mensa. Sie sagten uns: ‚Du wirst das Vorbild deiner Soldaten sein! Die Soldaten verhalten sich so, aber du musst ein Vorbild sein.‘ Und das war richtig so.“136
Die Vermittlung militärischer Ordnung und Disziplin war ein zentraler Aspekt in den Interviews. Immer wieder kamen die Kollegiaten auf die Vermittlung grundlegender, sie noch heute prägender Werte zurück, die man zusammenfassend als Werte des Militärs charakterisieren kann, wie etwa Disziplin, Ehre, Pflichtbewußtsein, Ordnung und Kameradschaft.137 Wie bereits an zahlreichen Aussagen deutlich geworden ist, unterstrichen die Ehemaligen insbesondere ihren Stolz auf das Italien Mussolinis und stellten den Nationalstolz oder die Vaterlandsliebe an die Spitze der Wertehierarchie. Rund 15 Jahre zuvor, im Jahre 1998, behauptete 132 Interview mit Silvano Traina (Bozen 1942–1943), 18. 3. 2014, S. 4. 133 Ebenda, S. 8. 134 Vgl. Andrea Fasching, Die Glorifizierung der Kindheit in der Erinnerung
älterer Menschen, in: Hans G. Zapotoczky (Hrsg.), Psychiatrie der Lebensabschnitte. Ein Kompendium, Wien 2002, S. 105–112. 135 Interview mit Iginio Bonoldi (Venedig 1941–1943), 7. 4. 2014-K, S. 2. 136 Interview mit Claudio Bolasco (Bozen 1939–1943), 20. 3. 2014, S. 9. 137 Bonoldi: Disziplin und Nationalstolz; Gasparini: Ehre, Treue, Ehrlichkeit, Vaterlandsliebe, Pflichtbewußtsein; Gottardi: Vaterlandsliebe, Pflichtgefühl; Bolasco: Disziplin, Kameradschaft, Korpsgeist, Vaterland; Cinquepalmi: Disziplin, Gegenseitiger Respekt, Korrektheit, Vaterlandsliebe; Fantetti: Ernst, Solidarität i.S. Respekt für den Gegenüber, Ordnung; Rossi: Korpsgeist, Präzision; Traina: Ehrlichkeit, Kameradschaft, Respekt; Grosso: Loyalität, Ehrlichkeit, Respekt für den Gegenüber, siehe: Interview mit Iginio Bonoldi (Venedig 1941–1943), 7. 4. 2014-K, S. 4; Schreiben Giorgio Gasparinis (Venedig 1939–1942), 20. 8. 2012, S. 4; Interview mit Giorgio Gasparini (Venedig 1939–1942), 4. 4. 2014-O, S. 1; Interview mit Carlo Gottardi (Brindisi, Venedig 1937–1940), 3. 4. 2014-O, S. 1 f., 6; Interview mit Claudio Bolasco (Bozen 1939–1943), 20. 3. 2014, S. 3 f.; Interview mit Giuseppe Cinquepalmi (Bozen 1940–1942), 23. 4. 2014-K, S. 3; Interview mit Donato Fantetti (Bozen 1942–1943), 26. 3. 2014-K, S. 4; Interview mit Anselmo Rossi (Bozen 1940–1943), 17. 3. 2014, S. 2 f.; Interview mit Silvano Traina (Bozen 1942–1943), 18. 3. 2014, S. 4; Erinnerungen Antonio Grossos (Brindisi, Venedig, Padua 1942–1944) im Eigenverlag, s. d., S. 16.
336 VII. Das Weiterleben der Collegi ein Redner während eines Treffens der Bozner Kollegiaten voller Stolz, dass trotz der im September 1943 beginnenden „Diaspora“ der Kollegiaten, während der jeder seinen eigenen Weg gegangen sei, sich doch alle die grundlegenden Werte aus der Zeit des Collegios bewahrt hätten, zu denen er bereits damals Ordnungsliebe, Respekt, die Präzision und die Pünktlichkeit zählte.138 Retrospektiv wurde die Vermittlung dieser Werte als Grund für die erfolgreiche Lebensgestaltung angesehen: „In der Schule verbesserten sich meine Leistungen deutlich. Mein Mangel an Disziplin nahm ab. Ich lernte zu gehorchen und Anweisungen zu befolgen. Mein Charakter wurde geschmiedet und all das, was ich in dem Jahr meines Aufenthaltes in dem Collegio der G.I.L. lernte, war eine gute Lehre, die es mir ermöglichte, auf meinem Arbeitsgebiet herauszuragen.“139
Wie anfänglich erörtert, kann nicht mehr überprüft werden, im welchem Umfang die den Schülern vermittelten Werte ihre spätere Mentalität prägten. Es ist jedoch davon auszugehen, dass diese eine persistente Wirkung hatten, da sich – wie etwa die Jugendsoziologie herausgearbeitet hat – die in der Phase der Pubeszenz und Adoleszenz vermittelten Werte „im späteren Lebenslauf nur noch geringfügig ändern“;140 und dies gilt umso mehr in Verbindung mit emotionaler Überwältigung und gleichgesinntem Elternhaus.141 So behauptete eine Vielzahl der Kollegiaten, sie habe – auch im Vergleich mit anderen, ihnen nahestehenden Personen – einen anderen Habitus entwickelt, der einerseits die Gemeinschaft in den Blick nehme und den traditionellen Individualismus der Italiener überwinde und andererseits stärker auf Ordnung und Disziplin abziele.142 Ein Bozen-Kollegiat schilderte den Persönlichkeitswandel, der sich während seines Besuch des Collegios vollzog: „Wichtige Werte, wie der der Zuverlässigkeit, deinem Nächsten zu helfen, also Solidarität. Das haben sie uns gelehrt, eingetrichtert. Denn im Allgemeinen war das in anderen Schulen nicht so. Jeder dachte nur an sich selbst. Hier jedoch nicht. Dann ist mir Ordnung eingetrichtert worden. Respekt gegenüber den anderen. Das ist mir geblieben. Ich bin anders als meine Brüder. Hier bin ich geformt worden und ich danke denen, die das gemacht haben. […] Auch Mama war sehr zufrieden. Als ich zurückkam, war ich schon ein anderer.
138 Vgl. I nostri raduni, Pesaro, 1998, tomo 1°, 5:41–6:06. 139 Schreiben Silvano Trainas (Bozen 1942–1943), 20. 8. 2012, S. 2. 140 Gert Pickel, Die subjektive Verankerung der Demokratie in den
neuen Bundesländern und in Mittel- und Osteuropa und ihre Prägung durch totalitäre Systeme. Inhaltliche, methodologische und methodische Aspekte, in: Hansen/Zehnpfennig (Hrsg.), Prägung von Mentalität und politischem Denken, S. 155–184, hier S. 170. 141 Vgl. auch Susanne Rippl, Politische Sozialisation, in: Hurrelmann/Grundmann/Walper (Hrsg.), Handbuch Sozialisationsforschung, S. 443–457, hier S. 445; Petra Gruner, Das Überlebens-Spiel. Sozialisation und Mentalität der Flakhelfer-Generation in der DDR, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 6 (2000) S. 329–349, hier S. 331; Wolfgang Zander, Kinder und Jugendliche als Opfer. Die traumatisierenden Einflüsse der NS-Zeit und des Zweiten Weltkrieges, in: Ute und Wolfgang Benz (Hrsg.), Sozialisation und Traumatisierung. Kinder in der Zeit des Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1992, S. 128–140, hier S. 134. 142 Interview mit Carlo Gottardi (Brindisi, Venedig 1937–1940), 3. 4. 2014-K, S. 10.
4. Die lebensgeschichtliche Bedeutung: Karriereverläufe der ehemaligen Schüler 337 Ich war sehr lebhaft bevor ich dahin ging. Mama hat zu ihrer Schwester gesagt: ‚Die Schule hat ihn verändert. Er ist ein anderer.‘“143
Nicht nur Disziplin und Gehorsam haben viele Kollegiaten vorgeblich verinnerlicht, sondern ebenso eine positive Einstellung gegenüber Kampf und Krieg. So vertraten einige Kollegiaten in den Gesprächen die Ansicht, nur Kriege er möglichten Frieden und nur Kriege hätten die Menschheit vorangebracht. Diese Behauptung suchten sie durch „wesentliche Erfindungen“ wie das Radar oder Penizillin zu belegen. So lässt sich zusammenfassend festhalten, dass sich in den durchgeführten Interviews gemeinsame Einstellungen und Wertevorstellungen finden, die als Indikatoren für eine Internalisierung und Persistenz der militärisch-faschistischen Erziehung verstanden werden können. Die Vermittlung des Trinoms GlaubenGehorchen-Kämpfen, also der Glaube an den Faschismus, der Gehorsam und die Verherrlichung des Krieges scheint bei vielen Kollegiaten durchaus bleibende Spuren hinterlassen zu haben. Den Befragten sind die gemeinsamen Reisen und Unternehmungen, die opulent ausgestatteten Gebäude und die maßgeschneiderten Uniformen Beleg dafür, wie sehr sich der Faschismus insbesondere um die Jugend sorgte und diese Leistungen erstrahlen heute umso heller, als die aktuellen Regierungen ihren Enkeln und Urenkeln in ihrer Perzeptionswirklichkeit nichts als Jugendarbeitslosigkeit verheißen. Dass die Verklärungen durch ihre Erfahrungen in den Collegi determiniert sind, dass die in der relativen Abgeschlossenheit der Collegi gelebten Werte wie Kameradschaft, Disziplin und Ordnung in Verbindung mit der weltanschaulichen Einflussnahme der häufig in der Rückschau als charismatisch wahrgenommenen, vom Faschismus überzeugten Erzieher offensichtlich bei den Adoleszenten, wenn sicherlich auch nicht bei allen, verfingen und mentalitätsprägend wirkten, scheint plausibel, auch wenn dies nicht empirisch einwandfrei belegt werden kann. Das langlebige Narrativ Zangrandis, wonach faschistische Erziehung zwangsläufig zu einer antifaschistischen Überzeugung geführt habe, wird durch die Ergebnisse dieser Untersuchung deutlich in Zweifel gezogen. Die faschistische Erziehung scheint doch zumindest bei den Kollegiaten wirksamer und nachhaltiger gewesen zu sein, als viele Historiker wahrhaben wollten.
143 Interview
mit Donato Fantetti (Bozen 1942–1943), 26. 3. 2014-K, S. 5.
Zusammenfassung und Ausblick Einen „neuen Italiener“ schaffen – dieses totalitäre Experiment suchten führende Faschisten, allen voran Benito Mussolini, Achille Starace und Renato Ricci, ins Werk zu setzen. Dieser „neue Mensch“ sollte sich in seinem Denken, Wollen und Handeln, aber vor allem auch in seinem physischen Erscheinungsbild radikal von seinem Gegenentwurf, dem „alten Menschen“, unterscheiden. Der war in den Augen der Faschisten bürgerlich-liberal, pazifistisch, behäbig, egoistisch und vor allem national unzuverlässig, kurz: eine überlebte Spezies. Doch nicht nur die stereotypisiert geschmähten Eigenschaften des Bürgerlichen, auch die des Dolcefar-niente-Italieners hielt Mussolini seinen Landsleuten vor und trachtete danach, ihnen diese Unart auszutreiben. Besonders verhasst waren dem Duce die angeb liche Oberflächlichkeit, permanentes Schwadronieren, wildes Gestikulieren, gemütliches Singen sowie Mandolinenspiel. Der „neue Mensch“ einer faschistischen Zukunft zeichnete sich in der Vorstellung ihrer Protagonisten durch diametral entgegengesetzte Eigenschaften aus. Er war der vitale, risikobereite, disziplinierte, zunehmend rassenbewusste Kämpfer und gläubige Faschist, der an Arbeitsplatz wie Front gleichermaßen für den Wiederaufstieg des Vaterlandes zu alter imperialer Größe focht. Um ein neues Imperium zu formen, musste die italienische Gesellschaft im Inneren geeint, also von politischen Gegnern und Klassengegensätzen befreit, auf eiserne Disziplin, Fleiß und den unbedingten Glauben an die faschistische Idee eingeschworen werden, sich außerdem möglichst zahlreich fortpflanzen und körperlich vital sein. Gelänge das nicht, bliebe man eben Kolonie, suggerierte Mussolini. Das erwünschte Verhalten des neuen Staatsbürger-Soldaten (cittadino-soldato) fand sich in der ubiquitären Losung zusammengefasst: glauben, gehorchen, kämpfen (credere, obbedire, combattere). Sie wurde vor allem der Jugend von Kindesbeinen an ein geimpft. Für ihre Idee von der faschistischen Kampfgemeinschaft adaptierten die Faschisten traditionelle Werte des Militärs, wie etwa Pflicht, Gehorsam, Disziplin und Kameradschaft, glorifizierten sie und erklärten sie zu ihren gültigen Leitwerten. Wesentlich war zudem, dass der für den Italiener angeblich typische Individualismus ein für alle Mal aus der DNA des „neuen Menschen“ getilgt werden sollte. An erster Stelle hatte fortan das faschistische Kollektiv zu stehen, in das sich das Individuum einfügte, in dem es aufging, sich verwirklichte und für das es sich auch opferte. Schließlich sollte der traditionelle campanilismo, die regionale Be zogenheit, überwunden werden: Der „neue Mensch“ hatte sich als Italiener und eben nicht mehr als Romagnole zu verstehen. So verband sich die Idee der Schaffung des „neuen Menschen“ mit dem Ziel, das Risorgimento zu vollenden. Am Ende dieser Vision stand die Schaffung des Italieners, eines künftigen gläubigen und selbstlosen Kämpfers für das mythisch überhöhte Vaterland. Eine Avantgarde der „neuen Menschen“ war nach faschistischer Lesart bereits im Schützengraben des Ersten Weltkrieges geboren worden. Ihre Mission bestand nun in der Umformung ihrer Landsleute. Realisieren ließ sich das – so die erklärte Hoffnung der Faschisten und allen voran Achille Staraces – besonders durch
340 Zusammenfassung und Ausblick Nacheiferung (emulazione). Das Verhalten der Prototypen des „neuen Menschen“, insbesondere Mussolinis, sollte zunächst nachgeahmt und so internalisiert werden. Nacheiferung allein sei aber nicht ausreichend, der einzelne Italiener musste auch intrinsisch motiviert sein und diese Transformation in einem Willensakt (volontà) umsetzen. So erließ Starace während seiner achtjährigen Tätigkeit als Parteisekretär mehr als 1500 Anordnungsblätter, in denen er immer wieder den korrekten faschistischen Stil umriss. Dabei zielte er auf die Homogenität von Sprache, Verhalten und äußerem Erscheinungsbild seiner Landsleute. Der ONB-Präsident Renato Ricci erstrebte bei der Schaffung des „neuen Menschen“ ebenso wie Starace eine Vereinheitlichung, war in seinen Forderungen jedoch noch radikaler. Er verknüpfte die Ankunft des „neuen faschistischen Menschen“ mit regionaler, körperlicher und sozialer Angleichung. Sportliche Betätigung und das Verbot von Dialekten sollten die Italiener in Physiognomie und Sprache vereinheitlichen. Darüber hinaus intendierte der Entwurf seiner Gesellschaftsutopie eine harmonische Aussöhnung der verschiedenen sozialen Schichten. Die Jugend lager seiner ONB wurden in der Propaganda dafür zum idealtypischen Schmelz tiegel stilisiert. In diesen sogenannten Campi DUX sollten die aus allen Teilen des Landes stammenden Jugendlichen durch die sozialegalitäre Gemeinschaftserfahrung sowie Sport- und Militärübungen von Klassendünkel befreit werden, sie sollten national gesinnte, physisch homogene „neue Menschen“ werden. Insgesamt schuf der Faschismus eine Vielzahl sozialdisziplinierender Institutionen, die allesamt das Ziel verfolgten, Italiener jeden Alters und jeden Geschlechts einzurahmen (inquadrare), zu kontrollieren und (um)zuerziehen. Freilich, das Hauptaugenmerk der Faschisten galt der Jugend, da diese noch nicht durch das alte System „korrumpiert“ sei, bei ihr die größten Sozialisationserfolge zu erwarten waren und man sich von ihr die Herausbildung einer neuen faschistischen Elite erhoffte. Alle Hoffnungen lagen damit auf den Erziehungsinstitutionen, zu allererst den Jugendorganisationen. Mit der zunehmenden Expansion der ONB benötigte man geeignete Ausbilder. Dafür gründete die ONB 1928 die Akademie für Leibeserziehung. Aus dieser Institution sollten die künftigen ideologisch geschulten Erzieher und Sportlehrer hervorgehen. Wegen der mangelhaften Vorkenntnisse der Aspiranten dieser Akademie entschloss sich ONB-Präsident Renato Ricci zur Er richtung eines Propädeutikums. Obgleich diese Einrichtung bereits 1929 mehr schlecht als recht seine Tätigkeit aufnahm, wurde sie erst 1936, zum zehnten Jahrestag der ONB, offiziell eröffnet. Dieses Propädeutikum markiert den Beginn der Geschichte der Collegi. In der Folgezeit entwickelte sich die Idee weiter, eine breite Führungskräfteausbildung für Staat, Militär und Partei zu verwirklichen. Insgesamt plante die Jugendorganisation die Errichtung von rund 40 Collegi, realisiert wurden bis 1942 fünf Akademien und 22 Collegi. Zwei der Akademien und sieben der Collegi waren für Mädchen vorgesehen. Ziel dieser spezialisierten Internatsschulen war die Herausbildung ideologisch gefestigter Fach- und Führungskräfte für die Marine, die Luftwaffe, das Heer, die Partei und ihrer Jugend organisation, die Verwaltung sowie die Schulen. Dabei handelte es sich auch um Bereiche, in denen sich die Faschisierung als schwierig erwiesen hatte, bzw. in denen der Fachkräftemangel sehr hoch war.
Zusammenfassung und Ausblick 341
Es lassen sich zwei Phasen der Collegi-Gründungen unterscheiden. In der e rsten Phase bis 1939 errichtete zunächst die ONB bzw. ab 1937 die GIL Propädeutika der Akademien für Leibeserziehung für Männer und Frauen sowie für die Marine- und die Luftfahrtakademie. Zusätzlich zu diesen Militärpropädeutika eröffneten zwei Schulen, die erst nachträglich die Bezeichnung Collegi erhielten und Spezialisten für die Marine und das Heer stellen sollten. Während des Krieges änderte sich die Zielrichtung der Neugründungen. In den Jahren 1941 und 1942 wurden keine dezidiert militärisch ausgerichteten Collegi mehr gegründet, sondern Collegi mit ziviler Berufsausbildung etwa für Kriegswaisen sowie Collegi für Erzieher und Führungskräfte in der Verwaltung. Selbstredend blieben sie militärisch organisiert. Auch wenn letztlich nicht mehr alle während des Krieges angekündigten Ausbildungsstätten wegen Personal-, Bewerber- oder Baumaterialmangels ihre Tätigkeit aufnehmen konnten, unterstreichen die 15 Neueröffnungen in dieser angespannten Zeit die außerordentlichen Anstrengungen, die die Jugendorganisation unternahm, um die Vision des „neuen Menschen“ tatsächlich zu verwirklichen. Die regionale Verteilung der Collegi mit einem Schwerpunkt auf Nord- und Mittelitalien und lediglich zwei Collegi im Süden verdeutlicht die stiefmütterliche Behandlung des Mezzogiorno auch während des Faschismus. Das in Neapel errichtete Collegio nahm aus bisher ungeklärten Umständen nie seine Tätigkeit auf, das in Palermo geplante Collegio fand keine Realisierung. Insgesamt ist die Geschichte der Collegi stark durch häufige Umstrukturierungen, inhaltliche Ausrichtungsänderungen und Bauplanungsveränderungen charakterisiert. Lediglich in der kurzen Phase relativen Friedens 1938/1939 setzte mit Starace eine langsame Konsolidierung und Stärkung der Collegi ein. Er versuchte sie durch die Vereinheitlichung der Collegi im Hinblick auf Zielsetzung, Auswahlprozedere der Schüler, Stipendienvergabe und deren rechtliche Gleichstellung mit staatlichen Schulen zu erreichen. In Staraces Amtszeit fällt zudem der Beginn der propagandistischen Darstellung der Collegi als Schmieden oder Laboratorien des „neuen Menschen“. Auch die in kurzen Abständen wechselnden Nachfolger Staraces, die Partei sekretäre und GIL-Generalkommandanten Ettore Muti, Adelchi Serena und Aldo Vidussoni suchten durch Vereinheitlichungen und Strukturveränderungen zu einer Optimierung der Abläufe zu kommen. Inhaltliche Differenzen und die zunehmende Beeinträchtigung durch den Krieg erschwerten dies jedoch zusehends. Letztlich verhinderten aber nicht nur innerinstitutionelle Differenzen und die Kriegslage, sondern auch Interessenkonflikte mit anderen Institutionen eine Konsolidierung der Collegi. Das Erziehungsministerium unter Giuseppe Bottai war nicht gewillt, weitreichende Kompetenzen an die Jugendorganisation abzutreten. Bottai behielt sich den Großteil der Lehrerausbildung und die Auswahl der Lehrer für die Schulen der Collegi vor und gestattete die Errichtung weiterer Collegi nur auf den Ge bieten, die dem Geist seiner auf Arbeit fokussierten Schulcharta entsprachen. Er stimmte der Expansion der Collegi zunächst nur in begrenztem Maße zu, da er offensichtlich das Ziel verfolgte, eigene Ausleseschulen unter der Führung des Erziehungsministeriums (Collegi di Stato) und damit in Konkurrenz zu den Auslese-
342 Zusammenfassung und Ausblick schulen der Jugendorganisation zu gründen. So zeigt sich in beiden Regimen auf dem Gebiet der Ausleseschulen ein polykratischer Machtkampf: Ähnlich wie in Deutschland, wo die durch das Reichserziehungsministerium geführten Nationalpolitischen Erziehungsanstalten und die durch DAF und HJ geführten Adolf-Hitler-Schulen miteinander konkurrierten, suchte auch Bottai seine Staatsinternate neben den Collegi der GIL zu errichten, auch wenn sich seine Pläne – soweit wir bisher wissen – nie über Absichtserklärungen in der Schulcharta hinaus konkre tisierten. Damit zeigt sich zudem, dass die bisher als Spezifikum des „Dritten Reiches“ diskutierte Polykratie eine Entsprechung im italienischen Faschismus besaß.1 Die Ergebnisse dieser Arbeit auf dem Gebiet der Erziehungs- und Bildungspolitik bieten ein weiteres Puzzleteil für künftige Untersuchungen, da bisher „in der Historiografie über den italienischen Faschismus keine sytematische Diskussion über Polykratie als strukturprägendes Element faschistischer Herrschaft“2 geführt worden ist. Auch mit dem Militär rivalisierte die GIL um die Einflussnahme auf die Collegi. Während deren gesamter Existenz beklagten Marine und Luftwaffe ihren zu geringen Einfluss und suchten die Anstalten inhaltlich wie vor allem personell zu stärken. Steter Zankapfel in den militärischen Collegi war die Leitungsfrage. Die Führung der militärisch ausgerichteten Collegi wechselte von einem Ricci treuen Anstaltsleiter hin zu einem Drei-Kommandanten-System unter der Führung eines Parteifunktionärs – allesamt „alte Kämpfer“ ohne pädagogische Vorbildung – während der Amtszeit Staraces und unter dessen Nachfolger Muti schließlich zu einem Zwei-Kommandanten-System unter der Führung eines Offiziers. Auch nach diesem letzten Wechsel kritisierten die Streitkräfte ihren beschränkten Einfluss, da der 2. Kommandant, ein Absolvent der Akademie für Leibeserziehung, der eigentliche Kommandant sei und dem 1. Kommandanten lediglich repräsentative Aufgaben zukämen. Insgesamt erwies sich das Verhältnis zwischen den Angehörigen der Streitkräfte und denen der Jugendorganisation/Partei als durchweg konfliktbeladen. Zeitzeugenerinnerungen und zeitgenössische Dokumente belegen die Rivalitäten: Von der Luftwaffe wurden die Absolventen der Akademie als „Offizierchen“ verspottet. Die Marineoffiziere gerierten sich gegenüber den „Emporkömmlingen der Partei“ in den Collegi als „aristokratische Snobs“. Die Marine versuchte den Einfluss der Akademieabsolventen in den Collegi zurückzudrängen, die neben dem 2. Kommandanten auch die Erzieher stellten, oder hätte gern deren Ausschaltung gesehen. Innerhalb dieses Mikrokosmos zeigt sich deutlich, dass sowohl die Marine als auch die häufig als faschistophil bezeichnete Luftwaffe insgesamt stark auf ihre Autonomie bedacht waren, sodass nicht von einem loyalen, sondern vielmehr von einem distanzierten oder gar rivalisierenden Verhältnis zur Jugendorganisation gesprochen werden muss. Dies erschwerte die Zusammenarbeit innerhalb der Anstalten. Das Verhältnis zum Kriegsministerium ist aufgrund der schmalen Quellenbasis schwerer zu bestimmen. Doch zeigten sich 1
Vgl. Rüdiger Hachtmann, Polykratie – Ein Schlüssel zur Analyse der NS-Herrschaftsstruktur?, http://docupedia.de/zg/Hachtmann_polykratie_v1_de_2018 [20. 10. 2019]. 2 Tobias Hof, Widerwillige Retter? Die Judenpolitik des italienischen Außenministeriums unter Galeazzo Ciano 1936 bis 1943, in: VfZ 68 (2020), S. 181–216, hier S. 216.
Zusammenfassung und Ausblick 343
auch hier vor allem während der Kriegswaiseninitiative dessen Bestrebungen, die GIL aus den eigenen Militärschulen herauszuhalten; das erhärtet die These vom Autonomiebestreben der Streitkräfte während des Faschismus. Zweckrationalitäten führten wohl letztlich dazu, dass sich die Luftwaffe im Vergleich zur Marine stärker für die Collegi engagierte: Die Marine hatte nach eigenem Bekunden ausreichend geeignete Bewerber für ihre Marineakademie. Sie war nicht auf die Absolventen der Marinecollegi angewiesen und kam dem vielfach vorgetragenen Wunsch der GIL nach automatischer oder zumindest privilegierter Übernahme der Kollegiaten an die Marineakademie nicht nach. Die an der Marineakademie von Livorno aufgenommenen, in Brindisi und Venedig ausgebildeten Kollegiaten, die laut Propagandaminister Dino Alfieri als „Injektionen des Faschismus in die Königliche Marine“ gedacht waren, blieben letztlich marginalisiert im einstelligen Prozentbereich. Das Ziel, die italienischen Seestreitkräfte mithilfe der Absolventen zu faschisieren, muss als gescheitert betrachtet werden. Weshalb namentlich Mussolini auch in seiner Funktion als Marineminister den Aspirationen der GIL nicht nachkam, konnte mithilfe der vorliegenden Akten nicht geklärt werden. Die Frage, ob er sich nicht gegen die Marine durchsetzen konnte oder wollte, ob es sich letztlich um ein Problem der Machtfülle des Diktators3 oder der Priorisierung handelte, kann schlechterdings nicht entschieden werden. Im Vergleich zur Marineakademie hatte die junge Luftfahrtakademie hingegen einen größeren Bedarf an fachlich vorgebildeten Aspiranten. Aus dem Grund unterstützte die Luftwaffe das Collegio in Forlì durch Stipendien und einen privilegierten Übergang an die Luftfahrtakademie. Die Frage, ob die Übernahmezahlen hier höher lagen, kann die Studie jedoch aufgrund fehlender Quellen nicht klären. Starace führte 1938 vereinheitlichte Verfahren zur Schülerauswahl und zur Stipendienvergabe an den Collegi ein, die in den folgenden Jahren eine stetige Modifikation und Optimierung erfuhren. Die Kollegiaten wurden auf der Grundlage eines mehrstufigen Ausleseverfahrens ausgewählt, das auf robuste, sportliche und kognitiv leistungsfähige Schüler aus regimeloyalen Familien abzielte. Das Auswahlverfahren begann mit der Einreichung der Bewerbung durch die Eltern. Voraussetzung für die Bewerbung waren gute Noten, die italienische Staatsangehörigkeit, die Mitgliedschaft in der Jugendorganisation sowie ein ärztliches Attest, das eine ausgezeichnete Physis bestätigte und familiäre Erbkrankheiten ausschloss. Ab dem Schuljahr 1939/1940 musste zudem die Zugehörigkeit zur „arisch-italienischen Rasse“ bestätigt werden. Die attestierte politische Zuverlässigkeit der Familie des Aspiranten sowie zusätzliche Präferenztitel, wie etwa Waisen von Gefallenen für die faschistische Sache, waren ebenso relevant für die Aufnahme. Geeignete Bewerber wurden dann in das Collegio geladen, wo man ihre sportliche Leistungsfähigkeit und ihren Gesundheitszustand nochmals umfassend überprüfte. Schriftliche Tests führte das GIL-Generalkommando jedoch erst ab 1942 für einige Collegi obligatorisch ein.
3
Vgl. zu dieser Diskussion: R.J.B. Bosworth, Dictators Strong or Weak?
344 Zusammenfassung und Ausblick Auswahl und Rekrutierungswege unterschieden sich damit sehr von denen an deutschen Ausleseschulen: Längere Ausleselehrgänge oder ein Vorschlagsrecht vonseiten der Jugendorganisation bzw. der Schule gab es in Italien ebenso wenig wie die berühmt-berüchtigten Mutproben. Ähnlich wie in Deutschland konnten die Ergebnisse der Auslese allerdings stark schwanken. Gründe dafür lassen sich unter anderem in den häufig beklagten oberflächlichen Berichten der Parteistellen über die Aspiranten, im Bewerbermangel sowie in den Empfehlungsschreiben für mittelmäßige Schüler finden. Solche Empfehlungsschreiben konterkarierten die propagierte Leistungsaristokratie der „neuen Menschen“ freilich ganz besonders. Auch wenn die Jugendorganisation offiziell damit warb, fähigen Jugendlichen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft den Zugang zu den Collegi zu ermög lichen und damit den Abbau von Standesschranken zur Schaffung einer faschis tischen Gemeinschaft propagierte, löste sie dieses Versprechen nur bedingt ein: Einen kostenlosen Schulbesuch gewährten nur zwei Waisencollegi. An allen anderen Einrichtungen mussten (gestaffelt nach dem zu erreichenden Schulabschluss) teils sehr hohe Schulgebühren entrichtet werden. Das Stipendiensystem wurde erst unter Starace ins Leben gerufen und unter dessen Nachfolgern ausgebaut. Auch wenn es in den folgenden Jahren zur Ausweitung eines Vergünstigungsnetzes kam, blieb die Stipendienvergabe beschränkt: Noch im Schuljahr 1942/1943 stellte die GIL bei 87 Schulstellen in Venedig gerade einmal fünf Stipendien zur Verfügung. Zudem blieb auch für Stipendiaten die Verpflichtung, zur Aufnahme an den gymnasialen Collegi eine hohe Aufnahmegebühr zu entrichten. Die Finanzierung fungierte demnach als soziale Schranke. Wege wie in Deutschland, wo der Schulbesuch an den AHS kostenlos oder, wie an den NPEA und der Reichsschule Feldafing, das Schulgeld in Abhängigkeit vom Verdienst der Eltern berechnet wurde, beschritt Italien nie. Betrachtet man die soziale Herkunft der Kollegiaten, so zeigt sich eindeutig, dass Italiens soziale Schichtung in den Collegi schlicht reproduziert wurde. Innerhalb der einzelnen Collegi blieben die sozialen Schichten weiterhin unter sich: In dem vornehmen venezianischen Marinecollegio mit angeschlossenem Gymna sium, das auf die Marineakademie in Livorno vorbereiten sollte, fanden sich die Kinder der italienischen Oberschicht. Dort tummelten sich die Söhne von Adligen, Ministern, Parteifunktionären, Journalisten, Richtern, Offizieren, Medizinern oder Bankdirektoren. Im krassen Gegensatz zu Venedig stand die soziale Herkunft der Schülerschaft des kostenlosen Waisencollegios zur Ausbildung von GIL-Adjutanten in Lecce. Dort kam über die Hälfte der Schüler aus bedürftigen Familien, ihre Väter waren größtenteils Arbeiter oder Hilfsarbeiter, in seltensten Fällen Angestellte gewesen. Die soziale Schichtung wurde durch den Spezialisierungsansatz in den Collegi zementiert und gerade nicht aufgelöst, wie von der Propaganda behauptet. Kinder aus privilegierten Schichten besuchten die Collegi, an denen höhere Bildungsabschlüsse erworben werden konnten, Kinder aus benachteiligten Schichten erhielten zwar im Vergleich zu den für sie sonst bestehenden Bildungsmöglichkeiten eine bessere Ausbildung, blieben aber hinsichtlich Abschluss und Aufstiegschancen benachteiligt. Die besonders von Ricci propagierte Gesellschaftsutopie, wo-
Zusammenfassung und Ausblick 345
nach im faschistischen Italien eine Gemeinschaft ohne Klassengegensätze geschaffen werden sollte, wurde in den Collegi eindeutig nicht realisiert, eine tatsächliche Annäherung zwischen den sozialen Schichten hat es nicht gegeben. Insbesondere unter der Präsidentschaft Riccis war das wohl auch gar nicht beabsichtigt: Für keines der beiden Marinecollegi gab es unter ihm Stipendien und die in Venedig höheren Schulgebühren wurden gar in einem wenig faschistischen Sprachduktus mit dessen „Herrschaftlichkeit“ begründet. Im Gegensatz zu den deutschen Ausleseschulen, die ansatzweise versuchten, die „rassisch Wertvollen“ und politisch Zuverlässigen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft gemeinsam zu formen und so die soziale Mobilität zu fördern, fand in Italien keine soziale Durchmischung innerhalb der einzelnen Collegi statt; die propagierte Egalisierung von Aufstiegschancen wurde in der Praxis noch unzu reichender umgesetzt als in Deutschland. Die Vermutung liegt nahe, dass man in Italien den Erwartungen der jeweiligen Schichten entgegenkommen wollte und daher bereits in der Planung jeden sozialrevolutionären Anspruch aufgab. Die Untersuchungsergebnisse der sozialen Herkunft der Kollegiaten stützen somit eindeutig die These über den – im Vergleich zum Nationalsozialismus – sozialkonservativeren Kern des Faschismus. Außerdem muss die Antwort auf die Frage, ob es dem Faschismus gelungen sei, eine neue faschistische Führungsschicht hervorzubringen, neu akzentuiert werden. Die Zusammensetzung der Schülerschaft in den gymnasialen Collegi zeugt – sozioökonomisch betrachtet – zwar von einer Elitenkontinuität, da die Kinder aus der traditionellen Oberschicht in diese Schulen drängten. Dort waren die faschistischen Erzieher jedoch sehr erfolgreich damit, die traditionelle Elite für ihre Ideologie zu gewinnen bzw. diese zu verankern. Mit der Aufnahme in die Collegi und der jahrelangen Erziehung dort zeigten sich die Kinder der traditionellen Elite einerseits bereit, sich in den Institutionen des faschistischen Regimes einzurichten, und darüber hinaus gewillt, künftig die entscheidenden Machtpositionen im faschistischen Staat zu besetzen. Insofern lässt sich ein mentaler Transforma tionsprozess ausmachen: Die junge Generation der italienischen Oberschicht internalisierte in den gymnasialen „Schmieden des neuen Menschen“ die ideologischen Maximen des Faschismus zusehends. Diese Gruppe begann sich also als eine neue faschistische Elite zu begreifen. Die Elitenkontinuität zog sich weiter in die Italienische Republik. Letztlich reüssierten wohl vor allem die Kollegiaten der gymnasialen Collegi. Zu den ehemaligen Venedig-Kollegiaten, die in der Italienischen Republik in höchste Ämter aufstiegen, zählten beispielsweise Admiral Fulvio Martini, von 1984 bis 1991 Chef des italienischen Geheimdienstes SISMI, Graf Pio Teodorani-Fabbri, Top-Manager und Mitglied der Fiat-Familie, Admiral Falco Accame, sozialistischer Abgeordneter in der Abgeordnetenkammer und Präsident der Verteidigungskommission, oder Alfredo Pazzaglia, Präsident des neofaschistischen Movimento Sociale Italiano. Verantwortlich für ihren Erfolg waren insbesondere die bereits bestehenden Netzwerke der Absolventen. Welche Ausbildung erhielten nun die Kollegiaten und welche Formungsmethoden wandten die Faschisten in den Collegi im Gegensatz zu Regelschulen der faschistischen Zeit an? Acht Punkte lassen sich als verbindende Elemente der
346 Zusammenfassung und Ausblick ollegi und gleichzeitig abgrenzende Merkmale zu den Regelschulen identifizieC ren. Dazu zählte, erstens, die isolierte Internatsunterbringung von Schülern aus allen Regionen des Landes und die damit einhergehende Herauslösung aus den traditionellen Lebenszusammenhängen zur Beförderung eines nationalen Gemeinschaftsgefühls und der besseren Einwirkung auf die Sozialisation der Heranwachsenden. Zweitens zielte die Erziehung auf Ganzheitlichkeit (educazione integrale) durch Vermittlung von Allgemeinwissen, sportlicher, militärischer und beruflicher Ausbildung sowie teils indirekter politischer Indoktrination (im damaligen Sprachgebrauch „faschistische Persönlichkeitsbildung“). Ein drittes wesentliches Merkmal war der militärische Charakter des Schulalltags. Dazu zählten die Uniformierung der Schüler, die Einteilung in militärische Einheiten, der „Schliff “ durch Drill und Disziplinierungsmaßnahmen (Einzel- oder Kollektivstrafen, wie Ausgehverbote oder nächtliches Pistenrennen) sowie die vormilitärische Ausbildung (Schießübungen mit Gewehr und Maschinengewehr, Wachposten vor dem Collegio, Geländetraining, etc.). Ein vierter wesentlicher Punkt war die Überbetonung der Leibeserziehung zur Verbesserung des Gesundheits zustands und der Förderung des Kameradschaftsgeistes durch Teamspiele und Formationsgymnastik. Fünftens führte die minutiös getaktete Tagesaufteilung in Unterricht am Morgen und Sport bzw. fachliche Ausbildung (Technik- und Militärkunde) am Nachmittag dazu, dass den Schülern wenig Zeit für sich verblieb. Dabei unterschied sich der Unterricht selbst kaum von dem an Regelschulen. Die Lehrer waren reguläre staatliche Lehrkräfte, die zwar allesamt militärisch ausgezeichnet waren, sich jedoch – anders als die Propaganda glauben machen wollte – keine Verdienste um den frühen Faschismus erworben hatten (kein antemarcia, kein squadrista). Die Analyse hat gezeigt, dass die Stundenzahl an den Collegi mit der Stundentafel für Regelschulen identisch war. Es wurde weder der Versuch unternommen, ein Spezialcurriculum zu erstellen, noch wurden spezielle Fächer oder Lehr- und Lernmethoden erprobt oder eigene Unterrichtsmaterialien erstellt. Methoden, die auf kognitives Wissen abzielten, dominierten wie seit jeher den Unterricht. Für die sportliche und militärische Ausbildung erarbeiteten die GIL-, Marine- oder Luftfahrtoffiziere jedoch eigene Lehrpläne. Um die Schüler nicht nur psychisch, sondern auch physisch zu „neuen Menschen“ zu formen, wurde in den Collegi, sechstens, neben dem Sport auch großer Wert auf richtige Ernährung und die regelmäßige Überprüfung der körperlichen Entwicklung gelegt. Dazu erstellten Ärzte eine spezielle Ernährungstabelle, und zur Grundausstattung der Gebäude gehörten ärztliche Untersuchungsräume, da runter solche für Anthropometrie. Die Auswahl der Schüler nach bestimmten körperlichen Merkmalen, die vierteljährlich stattfindende biotypologische Begutachtung des Gesamtzustandes sowie der gezielte Einsatz von Nahrung und Sport und das gesundheitsförderliche Ambiente der Gebäude verdeutlichen dabei, dass es in Italien durchaus „Züchtungsversuche“ in Richtung einer gezielten „Aufartung“ gab. Neben den bereits genannten Distinktionen waren es wohl vor allem, siebtens, die außerschulischen, gemeinschaftsstiftenden Praxen, welche die Collegi von den Regelschulen unterschieden und den Schülern eine „faschistische Geistes haltung“ einbläuen sollten: Fahrten zum Geburtsort Mussolinis und zur Krypta
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seiner Familie, die gemeinsamen Vorführungen bei Sportveranstaltungen im Foro Mussolini, die Teilnahme bei Aufmärschen an faschistischen Feiertagen oder bei Staatsbesuchen (etwa Hitlers Italienbesuch 1938) sowie die Würdigung faschistischer Kämpfer, katholischer Heiliger und der Königsfamilie in den Collegi-Kapellen sind Beispiele für die „Nutzung faschistischer Feiertage und Episoden aus dem Leben der Nation, um die Aufmerksamkeit und Reflexion der Schüler darauf zu richten und damit den faschistischen Geist zu erheben“, denn mit „Weitschweifigkeit, Monotonie, trockener Pedanterie und emphatischen Gemeinplätzen“ erobere man die Herzen der Schüler nicht.4 Ein letzter wesentlicher Punkt sind die Erzieher. Sie waren in der Rückschau zumeist positiv geschilderte junge, mitunter geradezu charismatische Absolventen der faschistischen Akademie für Leibeserziehung, die es anscheinend mehrheitlich verstanden, die Kollegiaten für sich und den Faschismus zu begeistern. Von ihrem vorbildhaften Wirken, so ist den Erinnerungen, aber auch den zeitgenös sischen pädagogischen Anweisungen zu entnehmen, hing der Erfolg der Erziehungsarbeit wesentlich ab. Deshalb sei hier noch das eindrückliche Zitat eines Bozen-Kollegiaten erwähnt: „Dies waren die wirklichen Schöpfer unseren Gedeihens, sie modellierten uns nach ihrem Erscheinungsbild. Sie wurden nach ihrem Talent ausgewählt; Athleten ersten Ranges und bewährte Faschisten. Sie waren wahre Höllenhunde und wir wurden für die kleinsten Vergehen bestraft. […] Wie ich bereits sagte, es waren aus der Akademie auserwählte Offiziere, sie hatten auch Psychologie studiert, sodass sie genau wussten, wie sie uns zu formen hatten. Die Isolierung, in der wir lebten, das formbare Alter vereinfachte zweifellos ihre Aufgabe, denn wir hatten kaum Kontakt zur Außenwelt und so verbrüderten wir uns, der Wunsch nach Neugierde, Kennenlernen, Kritik war quasi komplett eingeschlafen. Wir waren von der faschistischen Rhetorik durchdrungen und bis zur ersten großen militärischen Niederlage (die Verluste in Nordafrika) glaubten wir blind an den Endsieg.“5
In einem Interview mit der Verfasserin zwölf Jahre später nannte er die Erzieher nicht mehr „Höllenhunde“, sondern seine „Schutzengel“. Unabhängig von der Bezeichnung zeigte sich deutlich an diesem wie an vielen anderen Zitaten der enorme Einfluss, den die Kollegiaten ihren Erziehern auf ihr Seelenleben beimaßen. Besondere Wirkung konnten diese Erzieher zudem entfalten, da die Schüler aufgrund der Internatsunterbringung aus ihren traditionellen (regionalen, familialen und religiösen) Lebenszusammenhängen herausgelöst waren und kaum mit faschismuskritischen Meinungen in Kontakt kamen. In dieser Abgeschiedenheit stand das Kollektiv im Mittelpunkt: alle trugen die gleiche Uniform, sie aßen, lernten, sangen und marschierten gemeinsam, sie feierten religiöse wie faschistische Feiertage, erlebten Sommer- wie Winterlager, kämpften bei paramilitärischen Übungen oder bei Gemeinschaftssportarten, traten nicht zuletzt gemeinsam vor Mussolini und tausenden Zuschauern auf und wurden ebenso gemeinschaftlich für Vergehen bestraft. Das Individuum trat in diesen „Menschenfabriken“ zurück, die Kollegiaten sollten primär internalisieren, dass man nur in der Gemeinschaft ein Ziel erreicht. Die These lautet demnach, dass der Erziehungsansatz 4 5
Disposizioni di carattere permanente, in: Bollettino GIL, 15. 8. 1939, S. 344. Rossi, Ragazzo del’43, S. 15–17.
348 Zusammenfassung und Ausblick in den Collegi weniger durch gezielte Ideologisierung an Nachhaltigkeit gewann, sondern vielmehr durch gruppenpsychologische Phänomene. Der Erlebnishunger und Abenteuerdrang der Jugendlichen wurden befriedigt sowie die Hoffnung genährt, künftig als Führungskraft tätig zu werden. Den Heranwachsenden wurde das Gefühl vermittelt, wichtig zu sein und am Aufbau einer bedeutenden Sache mitwirken zu können. Die häufigen Zusammentreffen mit hochrangigen Repräsentanten Italiens erweckten bei ihnen bereits den Eindruck, zur künftigen Elite zu gehören, und auch die Auslese beförderte das Gefühl des Elitebewusstseins. Trotz der kurzen Existenz der Collegi konnten diese Methoden der Erziehung oder besser: der Formung in der besonders prägenden Phase der Adoleszenz doch so wirkmächtig werden, dass sie bei vielen Kollegiaten verfingen und über den Untergang des Faschismus hinaus bleibende Spuren hinterließen. Die Durchdringungsprozesse faschistischer Ideologie waren wirksamer, als bisher häufig angenommen. Das von den Faschisten ins Werk gesetzte totalitäre Experiment der Menschenformung kann nicht – wie häufig – als eindeutig gescheitert angesehen werden. Während mit der ausgebliebenen sozialen Durchmischung ein Kernanspruch bei der Schaffung des „neuen Menschen“ unrealisiert blieb, gibt es nämlich zahlreiche Indizien dafür, dass die Internalisierung faschistischer, teils dem Militär entlehnter Wertvorstellungen von den Collegi erreicht werden konnte. Darauf deuten die Freiwilligenmeldungen der Kollegiaten in Venedig und Forlì zu Beginn des Zweiten Weltkrieges hin, ebenso die Aufforderungen in Bozen, sich wegen der erwünschten Kriegsteilnahme nicht unerlaubt aus den Collegi zu entfernen. Auch die Tatsache, dass die Mehrheit der Kollegiaten während des „Bürgerkrieges“ aufseiten der RSI kämpfte (etwa in Einheiten der Decima Flottiglia Mas oder der Infanteriedivisionen San Marco, Italia oder Monte Rosa), legen diese faschistischen Erziehungserfolge nahe. In den Zeitzeugenbefragungen fanden sich auffallend viele gemeinsame Einstellungen und Denkmuster, die als Indikatoren für eine Internalisierung der faschistischen Wertvorstellungen verstanden werden können. So etwa die Behauptung, nur Kriege hätten die Menschheit vorangebracht oder aber die Glorifizierung militärischer Strukturen und Werte. Selbstverständlich bieten alle diese angeführten Indizien Interpretationsspielraum und natürlich kann man diese Einstellungen nicht monokausal auf die Zeit in den Collegi zurückführen. Auch die Prägung im Elternhaus, das bei den Kollegiaten angesichts des Initiativrechts bei der Anmeldung sicher kein Bollwerk gegen den Faschismus war, das faschistische Klima im Allgemeinen, in dem die Schüler heranwuchsen, ebenso wie rein praktische Motive, gerade bei der Positionierung im „Bürgerkrieg“, müssen mit einbezogen werden. Deutlich zeigte sich zudem, dass die Interviewpartner den Faschismus mehrheitlich auch heute noch idealisieren und apologetisieren. Dabei spielen sicherlich auch die durch die ehemaligen Kollegiaten wahrgenommenen Krisenerscheinungen im heutigen Italien eine Rolle. Die Kollegiaten, als Begünstigte des Regimes, rechnen dem Faschismus seine „Verdienste“ um die Jugend positiv an und äußern zugleich ihren Unmut über die heutige hohe Jugendarbeitslosigkeit, die allgemeine Gefahrenlage und den angeblichen Werteverfall. Ihnen habe der Faschismus großartige Reisen, hochmodern ausgestattete Gebäude und phantastische Uniformen geboten. Ihnen seien zentrale Werte wie Disziplin, Ehre, Pflichtbewusstsein, Ordnung, Kamerad-
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schaft und allen voran die Liebe und der Stolz auf das Vaterland vermittelt worden. Diese Wertevermittlung und die Erziehung in den Collegi habe letztlich dazu geführt, dass sie ihr Leben erfolgreich gemeistert hätten, so die Selbsteinschätzung der meisten Kollegiaten. Die von ihnen wahrgenommenen Defizite der Demokratie – so könnte man überspitzt sagen – verstärken ihre positiven Erinnerungen an den Faschismus, unter dem, wie ein Venedig-Kollegiat voller Stolz bemerkte, das imperiale Rom wiedergeboren wurde. Eine antifaschistische oder nicht-faschistische Geisteshaltung, so viel ist deutlich geworden, kann den ehemaligen Kollegiaten, von einigen wenigen abgesehen, nicht bescheinigt werden. In Anbetracht dieser Tatsache kann das langlebige Narrativ, wonach faschistische Erziehung zwangsläufig zu einer antifaschistischen Überzeugung geführt habe, für die Institution der Collegi widerlegt werden. Es deutet vielmehr vieles auf eine im Sinne des Faschismus erfolgreiche politische Indoktrinierung der Kollegiaten hin. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Faschismus mit der angestrebten Erneuerung des gesamten italienischen Volkes ganz deutlich totalitäre Züge trägt. Es ging ihm nicht nur darum, staatliche Strukturen zu verändern; verändert werden sollte tatsächlich der ganze Mensch, sodass man durchaus von einem anthropologischen Totalitarismus sprechen kann. Deutlich geworden ist, dass die Faschisten die Menschformung nicht nur proklamierten, sondern insbesondere in den Collegi auch tatsächlich erprobten. Auch wenn die Realisierung sich teilweise, gerade im Hinblick auf die Einbindung des Militärs, als problematisch erwies, handelte es sich bei den Collegi doch um ein sich in seinen Strukturen stetig verfeinerndes Labor, in dem die faschistische Partei ihre Zukunftsmenschen heranzog. Dabei ging es nicht nur um eine ganzheitliche Erziehung im Sinne der faschistischen Ideologie, in der Patriotismus, Militarismus und Kameraderie bedeutende Fixsterne waren. Es ging ebenso um Racial Engineering. Die Collegi können auch als Laboratorium zur Verbesserung der „italienischen Rasse“ gelten, als Versuchsstätte par excellence für „Mussolinis Rassenstaat“ (Victoria De Grazia). Sozialingenieure, wie der Endokrinologe und zeitweilige Direktor der Farnesina Nicola Pende, hatten in diesem begrenzten Rahmen ein optimales Experimentierfeld, um ihre Rassenvisionen zu erproben. Erst kürzlich bemerkte Patrick Bernhard, dass rassistische (ebenso wie antidemokratische und nationalistische) Ideen eine wesentliche Gemeinsamkeit in Mussolinis Vorstellung vom „neuen Menschen“ und in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaftsidee darstellten.6 Auch wenn die rassistischen Visionen und praktischen Ausprägungen in Deutschland und Italien divergierten, besteht kein Zweifel mehr daran, dass auch der italienische Faschismus rassistisch war und das totalitäre Ziel der Schaffung eines „neuen Menschen“, „as a select and superior race of human being“,7 auch in den Collegi zu realisieren suchte. Diese eben angesprochene Gemeinsamkeit in den Gemeinschaftskonzepten in Deutschland und Italien verweist auch auf die Notwendigkeit weiterführender systematischer Untersuchungen auf diesem Gebiet. Gerade in Anbetracht jüngster Forschungs ergebnisse, die im italienischen Faschismus „kein gleichwertiges, kein für die 6 7
Vgl. Bernhard, Blueprints of Totalitarianism, S. 137. Quine, Racial Sterility, S. 142.
350 Zusammenfassung und Ausblick Herrschaftspraxis ähnlich zentrales und funktionales Pendant zur deutschen ‚Volksgemeinschaft‘“8 erkennen können, scheint ein solches Vorhaben zweifellos lohnenswert. Auch wenn Deutschland und Italien das Ziel der Schaffung eines „neuen Menschen“ verband, beschritten sie unterschiedliche Wege bei der Ausbildung ihrer zukünftigen Führungsschicht. Zwar bestanden Gemeinsamkeiten, wie etwa in der Internatsunterbringung, der sportlichen wie vormilitärischen Überbetonung sowie der ideologischen Indoktrination, doch überwogen die Unterschiede – bei der Leitungsstruktur, den Auslesekriterien und den Rekrutierungswegen, dem Schulgeld oder der Unterrichtsgestaltung. Ein weiterer zentraler Unterschied bestand in dem Spezialisierungsansatz und den damit verbundenen Schulabschlüssen. Lediglich an drei Collegi für Jungen und an einem für Mädchen konnte die Matura abgelegt werden, wohingegen die Mehrheit der deutschen Ausleseschulen eine Hochschulzugangsberechtigung verlieh. Während man der künftigen deutschen Führungsschicht auch den höchsten Schulabschluss zuerkannte, wollte und musste man in Italien zusätzlich die Fachausbildung stärken. Daran zeigt sich neuerlich deutlich, dass die Collegi eben nicht nur der Rekrutierung der zukünftigen Eliten in Militär und Gesellschaft dienten, sondern auch der Bekämpfung eines Fachkräftedefizits, das seine Ursachen in einem nur rudimentär ausgebildeten Berufsschulsystem hatte. Darüber hinaus differierte die Einbindung der Mädchen in den Schulen. Während es keine AHS und nur eine verschwindend geringe Anzahl NPEA für Mädchen gab, ließ Italien sieben Mädchencollegi errichten, in denen unter anderem künftige Kommandantinnen ausgebildet wurden. Der Faschismus machte den jungen Frauen – so ließe sich folgern – mehr Partizipationsangebote, als gemeinhin unter Verweis auf Kirche und traditionelles Frauenbild angenommen wird. Auch wenn der „neuen faschistischen Frau“ offiziell weiterhin die Rolle der Hüterin des Heimes zukam, band man sie zunehmend in die Parteiarbeit und den Arbeitsmarkt ein. Paradebeispiel dafür waren die Absolventinnen der Akademie für Leibesertüchtigung in Orvieto, die nach ihrer Ausbildung als Turnlehrerinnen an staatlichen Schulen oder als Fach- und Führungskräfte innerhalb der Partei oder der Jugendorganisation arbeiteten. Bisher wurden die Angebote der Jugendorganisation lediglich als „Partizipationsversprechen“ interpretiert, womit die „Sehnsucht nach Emanzipation“ instrumentalisiert, aber nicht eingelöst wurde.9 Die Mädchen hätten sich zwar temporär von Haus und Herd emanzipieren können, wurden dann aber „als erwachsene Frauen genau dorthin zurückgestoßen“.10 Genau genommen mussten sich die erwachsenen Frauen jedoch zwischen Familie 8 Detlef
Schmiechen-Ackermann, Politik mit der Gemeinschaft? Überlegungen zur na tionalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ aus der Perspektive vergleichender Diktaturforschung, in: Ders. u. a. (Hrsg.), Der Ort der „Volksgemeinschaft“ in der deutschen Gesellschaftsgeschichte, Paderborn 2018, S. 93–117, hier S. 116. 9 So die Darstellung Petra Terhoevens unter Berufung auf Gigliola Gori und Patrizia Dogliani. Siehe das Vortragsmanuskript von Petra Terhoeven, Die „neue Frau“ zwischen Antifeminismus und Emanzipationsverheißung, München, 29. 6. 2012, S. 5. [Tagung IfZ Die faschistische Herausforderung] 10 Dogliani, Fascismo degli italiani, S. 120.
Zusammenfassung und Ausblick 351
und Karriere entscheiden. Eine Kommandantin hatte ledig zu sein, um ihre Anstellung nicht zu verlieren. Elisa Lombardi, Leiterin der Sportakademie in Orvieto von 1937 bis 1943, folgte diesem Leitbild, entschied sich für die Karriere und gegen die Gründung einer Familie.11 Mit einer künftigen Untersuchung der sieben Mädchencollegi könnte die Frage nach tatsächlicher oder vorgetäuschter Emanzipation, nach modernen oder eben antimodernistischen Tendenzen sowohl im Faschismus als auch im Nationalsozialismus12 auf ein neues empirisches Fundament gehoben werden. Auch die Religion hatte in italienischen Ausleseschulen eine unterschiedliche Bedeutung. Während die deutschen Ausleseschüler „frei vom Gift des christlichen Dogmas“ erzogen werden sollten, wurde die katholische Kirche trotz spannungsreicher Zeit nie gänzlich aus den Collegi verbannt und selbst bei schwelendem Konflikt wurde nach außen weiterhin das Bild eines harmonischen Modus Vivendi aufrechterhalten. Ob tatsächlich ein „symbiotisches Verhältnis“ (Fulvio De Giorgi) mit der katholischen Kirche herrschte oder man um die Reputation der Schulen fürchtete, sollte es zu einem offenen Bruch mit der Kirche kommen, muss offenbleiben. Die Vielzahl der Unterschiede zeigt schon, dass die Ausleseschulen in Deutschland und Italien unabhängig voneinander entstanden waren. Nennenswerte Transferprozesse scheint es prima facie auf dem Gebiet der Ausleseschulen kaum gegeben zu haben. Die Gründe dafür müssen in weiterer Forschung geklärt werden. Dabei geht es neben der Qualität persönlicher Kontakte hoher Amtsträger, die noch genauer ausgelotet werden muss, auch um Initiativen auf den unteren Hierarchieebenen, die bisher noch nicht systematisch erforscht sind, außerdem um die Frage, welches Gewicht beispielsweise die beiderseitige Beanspruchung der kulturellen Hegemonie (Romanità vs. Germanentum) im Rahmen der „Ausleseschul-Achse“ spielte. Es gibt noch ein weiteres Desiderat der Forschung, wie im Lichte der Unter suchung deutlich geworden sein dürfte. Zahlreiche faschistische Institutionen, die das Regime im Rahmen des totalitären Experiments zur Formung des „neuen Menschen“ errichtet hatte, wurden bis Mitte der 1970er Jahre fortgeführt oder existieren gar noch heute. Dazu zählten unter anderem die Jugendorganisation GIL, die als GI erst 1975/1976 aufgelöst wurde, das Mutterhilfswerk ONMI, das unter gleichem Namen seine Tätigkeit 1975 einstellte, oder die Freizeitorganisa tion OND, die sich als ENAL (Ente Nazionale Assistenza Lavoratori) bis 1978 um die Freizeitgestaltung ihrer Mitglieder kümmerte, sowie die Faschistische Sozialversicherungsanstalt INFPS (Istituto Nazionale Fascista della Previdenza Sociale), die bis heute als INPS existiert. Wie diese Institutionen mit ihrem faschistischen Erbe umgingen, welche ideellen, aber auch personellen Kontinuitäten oder Umbrüche es in diesen Institutionen zwischen Faschismus und Demokratie gab, bleiben spannende Fragen der Transformationsforschung. 11 Vgl.
Patrizia Ferrara, La „donna nuova“ del fascismo e lo sport, in: Canella/Giuntini (Hrsg.), Sport e fascismo, S. 209–233, hier S. 224 f. 12 Vgl. Fernando Esposito, Faschismus und Moderne, in: Schlemmer/Woller (Hrsg.), Der Faschismus in Europa, S. 45–57.
Anhang Danksagung Diese Arbeit hat eine lange Geschichte. Ihren Ausgangspunkt nahm sie während eines Kaffeetrinkens mit Prof. Dr. Klaus-Dietmar Henke und Dr. Hans Woller zum Historikertag 2008 in Dresden. Damals entstand die Idee, eine Studie über den „neuen Menschen“ im italienischen Faschismus zu schreiben. Die langen Jahre des Forschens und des Schreibens unterstützte mich Herr Henke mit nicht versiegendem Interesse an meiner Arbeit. Für seine klugen Ratschläge, seine Ermutigungen, aber auch sein Drängen, nun endlich fertig zu werden und nicht weiter in italienischen Antiquariaten und Archiven uninven tarisierte Schätze heben zu wollen, danke ich meinem Doktorvater von Herzen. Ein ebenso großer Dank geht an PD Dr. Thomas Schlemmer, der während meines Praktikums am Deutschen Historischen Institut in Rom mein Interesse für den italienischen Faschismus weckte. Der seit Jahren bestehende fachliche Austausch hat diese Arbeit entscheidend bereichert. Nicht nur dafür, sondern auch für die persönliche Unterstützung und die Übernahme des Zweitgutachtens danke ich ihm herzlich. Auch Dr. Sonja Koch gebührt ein großer Dank. Aus der Perspektive der Expertin für deutsche Ausleseschulen verfolgte sie mit großem Interesse meine Forschungen zu den Collegi, unterstützte mich bei Forschungsanträgen, gab mir zahlreiche Tipps und Anregungen und las letztlich auch das Manuskript. Während des Arbeitsprozesses hatte ich auch immer wieder die Möglichkeit, meine Forschungsergebnisse zu präsentieren. Herrn Prof. Dr. Frank-Michael Kuhlemann und Prof. Dr. Mike Schmeitzner danke ich für die Gelegenheit, meine Thesen in ihren Kolloquien vorstellen und diskutieren zu dürfen. Auch durch den intensiven Austausch mit Dr. Angela Teja, Dr. Patrick Bernhard, PD Dr. Lutz Klinkhammer, Dr. Luca La Rovere und Dr. Amedeo Osti Guerrazzi erhielt ich wesentliche Anregungen und Impulse für meine Arbeit. Grazie mille a tutti. Eine solche Arbeit, die auf der Basis von Archivmaterial aus mehr als zwanzig Archiven entstanden ist, hat auch den Archivaren viel zu verdanken und das insbesondere in Italien, wo die Archivbedingungen ungleich schwieriger sind als etwa in Deutschland. Für das große persönliche Engagement möchte ich besonders Daniela Loyola (ACS), Liliana Bruno (ASLe), Emiliano Bianchi (AUSAM) und Marino Tegon (Archivio Generale della Giunta Regionale del Veneto) danken. Dr. Andrea Di Michele (Bozen) und Patrizia Ferrara (Rom) gebührt darüber hinaus ein besonderer Dank für ihren Hinweis auf den Aktenbestand der GI in Monterotondo, der entscheidend für die Realisierung dieses Projekts war. Ohne materielle Unterstützung wäre eine solche Forschungsarbeit vor allem wegen der zahlreichen Italienaufenthalte nicht zu stemmen gewesen. Mein Dank dafür geht an Dr. Clemens Vollnhals, der als Interimsdirektor des Hannah-ArendtInstituts eine Anschubfinanzierung leistete. Die Arbeitsgemeinschaft für die Neueste Geschichte Italiens ermöglichte mit einem Reisekostenstipendium erste Forschungen in Monterotondo. Für die sich anschließende langjährige finanzielle
354 Anhang Unterstützung danke ich der Graduiertenakademie der TU Dresden. Dem Deutschen Historischen Institut in Rom und dem Kunsthistorischen Institut in Florenz sei an dieser Stelle ebenso für die mannigfaltige Unterstützung während meiner zahlreichen Forschungsaufenthalte gedankt. Schließlich gebührt ein großer Dank den Zeitzeugen und ihren Nachfahren für ihre Bereitschaft, wesentliche Abschnitte ihres Lebens mit mir zu teilen. Ohne ihre Erinnerungen und die zahlreichen aufbewahrten Erinnerungsstücke hätte die Arbeit nicht in der Form realisiert werden können. Meine Freunde Dr. Thomas Wolf, Dr. Claudia Müller und Hagen Markwardt haben das Manuskript kritisch gelesen und mir geholfen, meine Gedanken zu schärfen. Ihr wart mir in den ganzen Jahren eine bedeutende Stütze. Dem Wissenschaftlichen Beirat des Instituts für Zeitgeschichte danke ich für das Votum, meine im Oktober 2020 an der TU Dresden verteidigte Dissertation in die „Studien zur Zeitgeschichte“ aufzunehmen. Ein ebenso großer Dank geht an Dr. Petra Weber und Angelika Reizle für die ausgezeichnete Betreuung meines Manuskriptes. Der letzte Dank gilt meiner Familie, die meine Italienforschungen die ganzen Jahre mit großem Interesse begleitete und mir durch die liebevolle Betreuung meiner Tochter den Rücken freihielt. Vor allem meinem Mann kann ich für seine Zuversicht und seine stetigen Ermutigungen gar nicht genug danken.
Abkürzungen 355
Abkürzungen Abs. Absatz Archivio Centrale dello Stato ACS AdV Archiv der Verfasserin Associazione Fascista della Scuola AFS AHS Adolf-Hitler-Schule(n) Africa Orientale Italiana AOI Affari Politici AP Aus Politik und Zeitgeschichte APuZ Art. Artikel Archivio di Stato AS Archivio di Stato, Brindisi ASBr Archivio Storico della Camera dei Deputati ASCD Archivio di Stato, Forlì ASFo Archivio di Stato, Lecce ASLe Archivio Storico del Ministero degli Affari Esteri ASMAE Archivio Storico Provinciale ASP Archivio Storico Provinciale, Brindisi ASPBr Archivio di Stato, Venedig ASVe Archivio dell’Ufficio Storico dell’Aeronautica Militare AUSAM Archivio dell’Ufficio Storico della Marina Militare AUSMM Archivio dell’Ufficio Storico dello Stato Maggiore dell’Esercito AUSSME b. busta BA Bundesarchiv Bundesarchiv Militärarchiv BA-MA Bund Deutscher Mädel BDM Bl. Blatt CC.RR. Carabinieri Reali Corriere della Sera CdS Consiglio Nazionale delle Ricerche CNR Carteggio Ordinario CO Com. Prov. G.I. Commissariato Provinciale per la Gioventù Italiana Comitato Olimpico Nazionale Italiano CONI Casellario Politico Centrale CPC Carteggio Riservato CR Corpo Reale Equipaggi Marittimi CREM DAAD Deutscher Akademischer Austauschdienst Deutsche Arbeitsfront DAF Deutsche Demokratische Republik DDR Direzione Generale Demografia e Razza Demorazza Direzione Generale Amministrazione Civile DG Am Civ
356 Anhang DGPS Direzione Generale della Pubblica Sicurezza Deutsche Hochschule für Leibesübungen DHfL DN Direttorio Nazionale DPLIC Disegni, proposte di legge e incarti delle Commissioni DS I diritti della scuola EJV Europäischer Jugendverband ENAL Ente Nazionale Assistenza Lavoratori Ente Nazionale di Educazione Fisica ENEF f. fascicolo Foglio di Disposizioni FD Forze Armate FF.AA. Fasci Giovanili di Combattimento FGC Fabbrica Italiana Automobili Torino S. p. A. Fiat FPIE Fascicoli del personale insegnante epurato GdL Gioventù del Littorio Gioventù Italiana GI Gioventù Italiana del Littorio GIL Gioventù Italiana del Littorio all’Estero GILE Guardia Nazionale Repubblicana GNR Il giornale della scuola media GSM Gazzetta Ufficiale GU Gruppi Universitari Fascisti GUF HJ Hitlerjugend HNO Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde IEFS Ispettorato educazione fisica e sportiva Istituto Nazionale per l’Assicurazione contro le Malattie INAM Istituto Nazionale di Cultura Fascista INCF Istituto Nazionale per le case degli impiegati statali INCIS Istituto Nazionale Fascista della Previdenza Sociale INFPS Istituto Nazionale della Previdenza Sociale INPS Istituto per la Ricostruzione Industriale IRI JCH Journal of Contemporary History k. A. keine Angabe LUCE L’Unione Cinematografica Educativa MI Ministero dell’Interno MinCulPop Ministero della Cultura Popolare Ministero della Pubblica Istruzione MPI
Abkürzungen 357
MSI Movimento Sociale Italiano MVSN Milizia Volontaria per la Sicurezza Nazionale NATO North Atlantic Treaty Organization NPEA Nationalpolitische Erziehungsanstalt(en) NPL Neue Politische Literatur NS Nationalsozialismus NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSLB Nationsozialistischer Lehrerbund OB Opera Balilla o. J. ohne Jahr ONB Opera Nazionale Balilla OND Opera Nazionale Dopolavoro ONMI Opera Nazionale Maternità e Infanzia ONOG Opera Nazionale degli Orfani di Guerra o. O. ohne Ort OO Opera Omnia di Benito Mussolini PA AA Politisches Archiv des Auswärtigen Amts PCI Partito Comunista Italiano PCM Presidenza del Consiglio dei Ministri PdR Il Popolo di Romagna PFR Partito Fascista Repubblicano PNF Partito Nazionale Fascista PRI Partito Repubblicano Italiano PSI Partito Socialista Italiano QFIAB Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken RAI Radiotelevisione Italiana REM Reichserziehungsministerium RM Reichsmark RS Rückseite RSI Repubblica Sociale Italiana SA Sturmabteilung sc. scatola s. d. sine dato sf. sottofascicolo SISMI Servizio per le Informazioni e la Sicurezza Militare SJ Schuljahr s. p. sine pagina SPD Segreteria Particolare del Duce SS Schutzstaffel
358 Anhang SV WHO ZfG
Servizi Vari World Health Organization Zeitschrift für Geschichtswissenschaft
Abbildungen 359
Abbildungen Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12: Abb. 13: Abb. 14: Abb. 15: Abb. 16: Abb. 17: Abb. 18:
Abb. 19:
Abb. 20: Abb. 21: Abb. 22:
Kollegiaten aus Venedig und Forlì in der Reichsschule Feldafing, Juli 1941 (Titelblatt des Jahresberichtes der Schule Feldafing 1940/41) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Regionale Verteilung der Collegi, SJ 1942/1943 . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Das Propädeutikum in Forlì (PdR, 22. 1. 1935, S. 1) . . . . . . . . . . . . . 127 Die Frauenakademie für Leibeserziehung in Forlì (PdR, 2. 6. 1936, S. 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Die Errichtung des Luftwaffencollegios in Forlì (PdR, 22. 1. 1938, S. 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Die Schüler defilieren vor Mussolini im Paradeschritt, 6. 10. 1941 (Archivio Cesare Valle, CV-FOT-061) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Mussolini überreicht dem jüngsten Schüler des Kurses „Gloria“ die Standarte, 6. 10. 1941 (Archivio Cesare Valle, CV-FOT-061) . . 136 Pläne des nicht realisierten Luftwaffencollegios in Littoria (Comune di Littoria, fondo Oriolo Frezzotti) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Der Eingang des Heerescollegios mit Wachposten, undatiert (AdV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Die Erzieher in Bozen, 1940/1941 (AdV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Quartalsinformation an die Eltern, Bozen, SJ 1940/1941 (AdV) . . 260 Klassenraum während des Unterrichts am Heerescollegio Bozen, undatiert (AdV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Schüler vor ihren Lastwagen im Heerescollegio Bozen, undatiert (AdV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Tagesablaufplan Marinecollegio Venedig, undatiert (AdV) . . . . . . . 277 Forlì-Kollegiaten beim Lesen ausgewählter Presseerzeugnisse, undatiert (Archivio Cesare Valle, CV-FOT-061) . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Hindernislauf im Heerescollegio Bozen, 1942 (AdV) . . . . . . . . . . . 288 Ringen im Heerescollegio Bozen, undatiert (AdV) . . . . . . . . . . . . . 288 Die medizinische Ausstattung in der Krankenstube des Luftwaffencollegios in Forlì (Angelo Agosti, Mens sana in corpore sano, in: Collegio aeronautico Bruno Mussolini Forlì, supplemento al n. 18 del Bollettino del Comando generale della G.I.L., 21. 7. 1942, S. 6–8, hier S. 7 f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 Quartalsinformation an die Eltern mit Aufführung der körperlichen Entwicklung, Brindisi, SJ 1939/1940 (Archivio Monterotondo, Gioventù Italiana, Allievi, Venezia, F-GA, b. 1341, f. Fiumara, Antonio) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 „La ronda“, Bozen, undatiert (AdV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Die Kapelle im Luftwaffencollegio Forlì, undatiert (Archivio Cesare Valle, CV-FOT-061) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Die Messe an Bord der San Giorgio, Sommer 1939 (Archivio Istoreto, fondo Valente Silvio, Album fotografico Campagna navale XVII) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
360 Anhang Abb. 23: Enthüllung und Segnung des Schriftzuges der Schule, Forlì, 6. Oktober 1941 (Archivio Cesare Valle, CV-FOT-061) . . . . . . . . . . 306 Abb. 24: Die Fahnenweihe im Heerescollegio Bozen in Anwesenheit Giuseppe Bottais, Mai 1940 (Atesia Augusta II [1940] 9, S. 48) . . . 308 Abb. 25: Einweihung des Mosaiks „Das Reich Mussolinis“ im ehemaligen Marinecollegio Venedig nach der Restaurierung am 18. Juni 2020 (https://giornalenordest.it/completato-il-restauro-dei-mosaicidella-scuola-navale-militare-morosini/ [9. 10. 2020]) . . . . . . . . . . . . 324 Abb. 26: Ehemaliger Bozen-Kollegiat während eines Wiedersehens, 1994 (I nostri raduni, San Felice, 1994, Tomo 1°, Filmstill, 17:00) . . . . . 330 Abb. 27: Der Raum der Sternbilder mit der Büste Brunos im Luftwaffencollegio in Forlì, undatiert (Archivio Cesare Valle, CV-FOT-061) . . 334
Tabellen 361
Tabellen Tabelle 1: Die Verteilung der Akademien und Collegi in Norditalien, 1944 . 169 Tabelle 2: Zielsetzung des Kriegswaisencollegios in Lecce im Vergleich 1941/1944 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Tabelle 3: Ausgeschriebene Bewerberstellen an den ONB-/GIL-Instituten, 1937–1943 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Tabelle 4: Schulgeld für Einrichtungen der GIL, 1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Tabelle 5: Kriterien für die Vergabe von Stipendien, 1942 . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Tabelle 6: Schulgebühren und Stipendien, SJ 1942/1943 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Tabelle 7: Berufstätigkeit des Vaters: Vergleich von Schülern der Militärakademie Modena mit Kollegiaten des Marinecollegios Venedig . . 198 Tabelle 8: Ausgeschriebene Lehrerstellen, 1939–1943 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Tabelle 9: Nutzung der ehemaligen GIL-Institute, 1948 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321
362 Anhang
Quellen und Literatur 1. Zeitzeugen und deren Veröffentlichungen sowie Interviews und Korrespondenz (Archiv Jana Wolf) Bozen Augustin, Giuseppe Bolasco, Claudio Borgognoni, Antonio Buiarelli, Pietro Caldese, Corrado Carboni, Giovanni Cinquepalmi, Giuseppe De Nuccio, Raniero Fantetti, Donato Giusti, Giancarlo Longhi, Bruno Longinotti, Giuseppe Recla, Enrico Ricci, Francesco Rossi, Anselmo Sansoni, Michele Scattolin, Gherardo Soffritti, Luciano Sordi, Giovanni Traina, Silvano
Schreiben Giuseppe Augustins (Bozen 1940–1943), 6. 7. 2012. Schreiben Claudio Bolascos (Bozen 1939–1943), 21. 8. 2012. Interview mit Claudio Bolasco (Bozen 1939–1943), 20. 3. 2014. Schreiben Antonio Borgognonis (Bozen 1939–1943), 28. 7. 2012. Schreiben Pietro Buiarellis (Bozen 1942–1943), 23. 2. 2012. Schreiben Pietro Buiarellis (Bozen 1942–1943), 4. 3. 2012. Schreiben Corrado Caldeses (Bozen 1941–1943), 20. 11. 2012. Schreiben Giovanni Carbonis (Bozen 1940–1943), 20. 5. 2014. Schreiben Giuseppe Cinquepalmis (Bozen 1940–1942), 1. 5. 2012. Interview mit Giuseppe Cinquepalmi (Bozen 1940–1942), 23. 4. 2014-O. Interview mit Giuseppe Cinquepalmi (Bozen 1940–1942), 23. 4. 2014-K. Schreiben Raniero De Nuccios (Bozen 1939–1940), 8. 11. 2012. Interview mit Donato Fantetti (Bozen 1942–1943), 26. 3. 2014-K. Interview mit Donato Fantetti (Bozen 1942–1943), 26. 3. 2014-O. Mitteilung der Tochter Giancarlo Giustis (Bozen), 24. 9. 2012. Mitteilung der Tochter Bruno Longhis (Bozen), 13. 9. 2012. Mitteilung des Enkels Giuseppe Longinottis (Bozen 1940– 1943), 1. 5. 2012. Mitteilung des Sohnes Giuseppe Longinottis (Bozen 1940– 1943), 26. 4. 2012. Mitteilung der Tochter Enrico Reclas (Bozen), 22. 8. 2012. Schreiben Francesco Riccis (Bozen 1942–1943), 12. 8. 2012. Interview mit Anselmo Rossi (Bozen 1940–1943), 17. 3. 2014. Anselmo Rossi, Un ragazzo del’43, Rom 2002. Schreiben Michele Sansonis (Bozen 1939–1943), 14. 8. 2013. Schreiben Gherardo Scattolins (Bozen 1941–1943), September 2012. Schreiben Gherardo Scattolins (Bozen 1941–1943), 23. 9. 2012. Interview mit Luciano Soffritti (Bozen 1942–1943), 17. 4. 2014. Schreiben Giovanni Sordis (Bozen), 11. 9. 2012. Schreiben Silvano Trainas (Bozen 1942–1943), 20. 8. 2012. Interview Silvano Trainas (Bozen 1942–1943), 18. 3. 2014. Diario Silvano Traina (Bozen 1942–1943).
Brindisi Milan, Carlo Pesce, Marcello Potenza, Ivo
Carlo Milan, La prima cosa che „sapeva di mare“, in: Andrea Dell’Agnola (Hrsg.), Alzato l’albero, spiegate le vele. Scuola navale militare F. Morosini, Piazzola sul Brenta 2001, S. 270. Schreiben Marcello Pesces (Brindisi 1941–1942), 11. 1. 2013. Ivo Potenza, Se fosse possibile, lo rifarei…, in: Andrea Dell’Agno la (Hrsg.), Alzato l’albero, spiegate le vele. Scuola navale mili tare F. Morosini, Piazzola sul Brenta 2001, S. 272.
Quellen und Literatur 363
Feldafing (Reichsschule der NSDAP) Altenburg, Harro
Telefonat mit Harro Altenburg (Feldafing 1934–1940), 8. 4. 2021. Interview mit Harro Altenburg (Feldafing 1934–1940), 4./5./ 6. 8. 2021. Italienfahrt der 8. Klasse Reichsschule der N.S.D.A.P. Feldafing, 7. November bis 6. Dezember 1940.
Forlì Cardelli, Abo Celio, Celestino
Gaetano Rossi, „Ho creduto, ho combattuto, ho perduto, ho pagato… ma non ho mai tradito“, in: Ariminum. Storia arte e cultura della provincia di Rimini XII (2005), 1, S. 10–13. Celestino Celio, in: Pino Lazzaro (Hrsg.), Nella fossa dei leoni. Lo stadio Appiani di Padova nei ricordi di tanti ex calciatori biancoscudati, Portogruaro 2002, S. 69–73.
Lecce Bernardino, Virgilio Venittelli, Romolo
Schreiben Virgilio Bernardinos (Lecce 1941–1946), 24. 5. 2014. Schreiben Virgilio Bernardinos (Lecce 1941–1946), 1. 7. 2014. Schreiben Romolo Venittellis (Lecce 1941–1944), 25. 5. 2014.
Turin Cappello, Federico
Fiorella Cappello, Il ragno, la mosca. In collegio al Nord durante la guerra. Dalle pagine autobiografiche di Federico Cappello, in: archiviodegliiblei.it, Testi e ricerche, online luglio 2014.
Venedig Accame, Falco Bernini, Giandanese Bonoldi, Iginio Borruto, Vincenzo Camuncoli, Ferdinando Cavallero, Tullio Ciardi, Feliciano Damerini, Carlo
Schreiben Falco Accames (Venedig 1939–1943), 17. 4. 2012. Interview mit Falco Accame (Venedig 1939–1943), 24. 3. 2014. Mitteilung der Tochter Giandanese Berninis (Venezia 1937– 1938), 6. 2. 2017. Schreiben Iginio Bonoldis (Venedig 1941–1943), 19. 4. 2012. Schreiben Iginio Bonoldis (Venedig 1941–1943), 28. 4. 2012. Interview mit Iginio Bonoldi (Venedig 1941–1943), 7. 4. 2014-O. Interview mit Iginio Bonoldi (Venedig 1941–1943), 7. 4. 2014-K. Bild mit Unterschrift „Venezia, 14 gennaio 1962 – 1° Raduno degli ex Alunni dei Collegi Navali di Venezia e Brindisi von Iginio Bonoldi (Venedig 1941–1943). Iginio Bonoldi, Natale. 23 racconti brevi tra sogno e realtà, Mestre 2012. Iginio Bonoldi, Dimore italiane nella tradizione, Padua 2013. Schreiben Vincenzo Borrutos (Venedig bzw. Saronno 1944), 12. 9. 2012. Schreiben Vincenzo Borrutos (Venedig bzw. Saronno 1944), 17. 9. 2012. Romano Ricciotti, Elegia per un giovane eroe sconfitto, in: Ariminum. Storia arte e cultura della provincia di Rimini XII (2005), 1, S. 14. Schreiben Tullio Cavalleros (Venedig bzw. Saronno 1944– 1945), 11. 12. 2013. Schreiben Tullio Cavalleros (Venedig bzw. Saronno 1944– 1945), 20. 12. 2013. Schreiben Feliciano Ciardis (Venedig 1939–1942), 27. 6. 2012. Carlo Damerini, Diario minimo, Florenz 2001.
364 Anhang Furlani, Ugo Gasparini, Giorgio Gottardi, Carlo Grosso, Antonio Guerrieri, Ulrico Lise, Giuseppe Magnani, Aldo Marsich, Sergio Martini, Fulvio Masciadri, Fabio Massa, Bruno Mayer, Adriberto Merizzi, Corrado Nobile, Bernardo Pasinati, Giancarlo Strazza, Guido Villani, Ottavio Z., I.
Ugo Furlani, Gli allievi e gli ufficiali dei collegi navali della GIL di Brindisi e Venezia caduti in guerra e in servizio per la patria. Albo d’Onore, Görz 2003. Schreiben Giorgio Gasparinis (Venedig 1939–1942), 20. 8. 2012. Interview mit Giorgio Gasparini (Venedig 1939–1942), 4. 4. 2014-O. Interview mit Giorgio Gasparini (Venedig 1939–1942), 4. 4. 2014-K. Interview mit Carlo Gottardi (Brindisi, Venedig 1937–1940), 3. 4. 2014-O. Interview mit Carlo Gottardi (Brindisi, Venedig 1937–1940), 3. 4. 2014-K. Erinnerungen Antonio Grossos (Brindisi, Venedig, Padua 1942–1944) im Eigenverlag, s. d. Erinnerungen Ulrico Guerrieris (Venedig 1940–1943), 15. 11. 2012, http://www.guerrieriulrico.it/sogni_nel_cassetto.php# gilvenezia [29. 5. 2017]. Schreiben Giuseppe Lises (Venedig, Padua 1940–1943), 11. 9. 2012 Mitteilung der Tochter Aldo Magnanis (Venedig bzw. Saronno 1944–1945), 26. 11. 2013. Mitteilung des Sohnes Sergio Marsichs (Venedig 1939–1942), 10. 9. 2012. Fulvio Martini, Nome in codice: Ulisse. Trent’anni di storia italiana nelle memorie di un protagonista dei servizi segreti, Mailand 1999. Schreiben Fabio Masciadris (Venedig 1941–1943), 16. 9. 2012. Schreiben Fabio Masciadris (Venedig 1941–1943), undatiert [September 2012]. Schreiben Bruno Massas (Venedig 1940–1943), 6. 8. 2012. Briefe Adriberto Mayers (Venedig 1938–1941), 1938/9. Stundenplan Adriberto Mayers (Venedig 1938–1941), undatiert. Schreiben Corrado Merizzis (Venedig 1937–1940), 27. 11. 2012. Schreiben des Neffen von Bernardo Nobile (Venedig 1937– 1940), 27. 1. 2017. Schreiben Giancarlo Pasinatis (Venedig 1941–1943), 31. 10. 2012. Schreiben Guido Strazzas (Venedig 1938–1940), 22. 8. 2017. Schreiben Ottavio Villanis (Venedig bzw. Saronno 1944–1945), 24. 11. 2013. Interview mit I.Z. (Venedig 1939–1942), 11. 4. 2014.
2. Unveröffentlichte Quellen Archivio Centrale dello Stato, Rom (ACS) Archivio Dino Alfieri Archivio Renato Ricci Istituto per la Ricostruzione Industriale (IRI) Numerazione Nera (NERA) Ministero dell’Aeronautica Gabinetto Ispettorato di Sanità, Ufficiali dell’aeronautica, dell’esercito, della marina deceduti Ministero della Cultura Popolare (MinCulPop) Gabinetto Ministero dell’Interno (MI)
Quellen und Literatur 365 Direzione Generale Amministrazione Civile (DG Am Civ) Direzione Generale Demografia e Razza (Demorazza) Direzione Generale della Pubblica Sicurezza, Divisione affari generali e riservati (DGPS) Casellario politico centrale (CPC) Ministero della Marina Gabinetto Ministero della Pubblica Istruzione (MPI) Ispettorato educazione fisica e sportiva, Fascicoli del personale insegnante epurato 1945–1947 (IEFS, FPIE) Partito Nazionale Fascista (PNF) Direttorio Nazionale, Servizi Vari, Serie I (DN, SV, S I) Direttorio Nazionale, Servizi Vari, Serie II (DN, SV, S II) Presidenza del Consiglio dei Ministri (PCM) Atti (Atti PCM) Gabinetto Segreteria Particolare del Duce (SPD) Carteggio Riservato (CR) Repubblica SociaIe Italiana, Carteggio Riservato (RSI, CR) Carteggio Ordinario (CO) Repubblica SociaIe Italiana, Carteggio Ordinario (RSI, CO) Archivio Cesare Valle, Rom CV-CAR CV-FOT CV-PRO Archivio del Comune di Venezia, Venedig Municipio di Venezia Archivio Generale della Giunta Regionale del Veneto, Venedig Ente Gioventù Italiana (ExGIL) Archivio Istituto piemontese per la storia della Resistenza e della società contemporanea ‚Giorgio Agosti‘, Turin (Istoreto) fondo Valente, Silvio Archivio provinciale di Bolzano, Bozen Commissariato Gioventù Italiana Archivio di Stato, Brindisi (ASBr) Genio Civile Prefettura Archivio di Stato, Forlì (ASFo) Comune di Forlì Atti riservati Deliberazioni Protocolli atti riservati Gabinetto Prefettura Genio Civile Archivio di Stato, Lecce (ASLe) Commissariato Provinciale per la Gioventù Italiana (Com. Prov. G.I.) Cartelle allievi
366 Anhang Gioventù Italiana del Littorio (GIL) Prefettura Archivio di Stato, Venedig (ASVe) Gabinetto della Prefettura Archivio storico della Città di Bolzano, Bozen 5.12.4 Archivio storico della Camera dei Deputati, Rom (ASCD) Disegni, proposte di legge e incarti delle Commissioni (DPLIC) Archivio Storico del Ministero degli Affari Esteri, Rom (ASMAE) Affari Politici (AP) Archivio Scuole Gabinetto del Ministro e della Segreteria Generale Ministero della Cultura Popolare (MinCulPop) Rappresentanza Italiana a Berlino Repubblica Sociale Italiana (RSI) Archivio Storico Provinciale, Brindisi (ASPBr) cat. XI Archivio dell’Ufficio Storico dell’Aeronautica Militare, Rom (AUSAM) fondo monografie Archivio dell’Ufficio Storico della Marina Militare, Rom (AUSMM) fondo Archivio di base Marina RSI Archivio dell’Ufficio Storico dello Stato Maggiore dell’Esercito, Rom (AUSSME) H-1 Carteggio del Ministero della Guerra – Gabinetto H-9 Carteggio del Capo del Governo H-10 Verbali di riunione I-4 Carteggio dello Stato Maggiore Generale e Comando Supremo M-7 Registro delle circolari Bundesarchiv, Berlin (BA Berlin) NS 1 Reichsschatzmeister NSDAP NS 6 Partei-Kanzlei NS 9 Auslandsorganisation NSDAP NS 8 Kanzlei Rosenberg NS 10 Persönliche Adjutantur des Führers und Reichskanzlers NS 12 Hauptamt für Erzieher NS 20 Kleine Erwerbungen NSDAP NS 22 Reichsorganisationsleiter NSDAP NS 26 Hauptarchiv NSDAP NS 28 Hitlerjugend NS 43 Außenpolitisches Amt der NSDAP R2 Reichsfinanzministerium R 43-I Alte Reichskanzlei R 43-II Neue Reichskanzlei R 55 Reichministerium für Volksaufklärung und Propaganda R 58 Reichssicherheitshauptamt R 72 Stahlhelm Bund der Frontsoldaten e. V.
Quellen und Literatur 367
R 86 R 901 R 1501 R 4901 R 4902 R 8044 R 9362
Reichsgesundheitsamt Auswärtiges Amt Reichsministerium des Innern Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Deutsches Auslandswissenschaftliches Institut Deutsch-Italienische Studienstiftung Deutscher Akademischer Austauschdienst
Bundesarchiv Militärarchiv, Freiburg i. Br. (BA-MA) RH 2 Oberkommando des Heeres/Generalstab des Heeres RH 19-X Oberbefehlshaber Süd RH 24-73 LXXIII. Armeekorps, Operationszone Alpenvorland/Generalkommando Witthöft RH 31-VI Bevollmächtigter General der deutschen Wehrmacht in Italien RS 3-29 29. Waffen-Grenadier-Division der SS RW 4 Wehrmachtführungsstab Fondazione Mondadori, Mailand fondo Giuseppe Bottai Fondazione Ugo Spirito, Rom fondo Giuseppe Bottai fondo Camillo Pellizzi fondo Riccardo del Giudice Ministero dell’Economia e delle Finanze, Ragioneria Generale dello Stato, Ispettorato Generale di Finanza, Ufficio XV: Archivi storici degli enti soppressi, Rom (Archivio Monterotondo) Gioventù Italiana Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin (PA AA) Botschaft Rom Quirinal Botschaft Rom Quirinal, Geheimakten Handakten Martin Luther
3. Gedruckte Quellen Abt, Fritz: Das Auslandshaus der Hitlerjugend, in: Die Kunst im Dritten Reich 2 (1938) 11, S. 350–357. Accademie e Collegi dell’Opera Balilla, Turin 1937. Annuario del Collegio Navale G.I.L. Venezia. Anno 1937–38, Venedig 1938. Ardemagni, Mirko: Supremazia di Mussolini. Prefazione di Renato Ricci, Mailand 1936. Axmann, Artur: „Das kann doch nicht das Ende sein.“ Hitlers letzter Reichsjugendführer erinnert sich, Koblenz 1995. Barilli, Ernesto: L’Italiano nuovo. Cultura fascista per gli Istituti tecnici inferiori e le scuole tecniche, Bologna 1934. Bauer, Joseph: Die Erziehung zum deutschen Menschen, in: Pädagogisch-psychologisches Institut (Hrsg.), Die Erziehung im nationalsozialistischen Staat, Leipzig 1933, S. 4–15. Bedeschi, Edoardo: La giovinezza del Duce. Ricordi e luoghi mussoliniani, Turin 1939. Belardinelli, Gino: I collegi e le scuole della Gioventù Italiana del Littorio, in: Ministero dell’Educazione Nazionale (Hrsg.): Dalla Riforma Gentile alla Carta della Scuola, Florenz 1941, S. 680 f. Beltramelli, Antonio: L’Uomo Nuovo (Benito Mussolini), Seconda Edizione, Mailand 1923.
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Quellen und Literatur 371
4. Periodika ACTA L’Ala d’Italia Ali di guerra Architettura L’Architettura italiana Das Archiv Atesia Augusta Atti del PNF Atti Parlamentari/Camera dei Deputati Berlin – Rom – Tokio Bollettino del Comando Generale della GIL (Bollettino GIL) Bollettino di legislazione scolastica comparata Bollettino dell’Opera Balilla Bollettino ufficiale del Ministero dell’Educazione Nazionale Combattere! Corriere della Sera (CdS) Critica Fascista Der deutsche Erzieher Deutsche Jugendburg Deutsche Turn-Zeitung Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung I diritti della scuola (DS) Europäische Revue Der Freiheitskampf Gazzetta Ufficiale (GU) Gerarchia Giornale di Brindisi Il giornale della scuola media (GSM)
Gioventù in armi Gioventù del Littorio (GdL) Hilf-mit-Schülerzeitung NSLB Die HJ. Das Kampfblatt der Hitler-Jugend Illustrierter Beobachter L’informatore Insegnare Internationale Zeitschrift für Erziehung Internationale Zeitschrift für Erziehungswissenschaft Keesings Archiv der Gegenwart Il lavoro fascista Libro della nobiltà italiana Marine-Rundschau Nazione militare Passo Romano. Vincere PNF, Foglio di disposizioni (PNF, FD) Politica sociale Il Popolo di Romagna (PdR) Il Popolo di Trieste Problemi della Gioventù La Provincia di Bolzano La rivista illustrata del Popolo d’Italia Rivista mensile della città di Venezia Scuola e cultura. Annali dell’istruzione media Lo sport fascista La Stampa Le tre Venezie Il Tribuno salentino Völkischer Beobachter Wille und Macht
5. Audiovisuelle Quellen Ansia di volo, Luce, D034804, 1942. Bolzano, Vita di Collegio/I nostri raduni 1978–2011, 3 DVD’s, o. O. o. J., in: AdV. Il Collegio navale della GIL a Venezia, Giornale Luce C0044, 7. 6. 1940. Forlì. Il Saggio di chiusura degli allievi nel Collegio aeronautico della G.I.L., Giornale Luce C0145, 19. 5. 1941. L’inaugurazione del Grande Collegio Navale della Gioventù Italiana del Littorio, Giornale Luce B1217, 15. 12. 1937. Una politica per la gioventù, Luce, D050001, 1964. Venezia. Il collegio navale della Gil, Giornale Luce B1528, 14. 6. 1939. Venezia. I gagliardetti delle scuole primarie e il collegio navale, Giornale Luce B1294, 27. 4. 1938. Venezia. L’inaugurazione del Collegio Navale della Gioventù Italiana del Littorio, Giornale Luce B1218, 15. 12. 1937. Venezia – Istantanee al Collegio della Gil, Giornale Luce C0145, 19. 5. 1941. Venezia. Il saggio ginnico degli allievi del collegio navale della gioventù italiana del littorio, Giornale Luce B1468, 1. 3. 1939.
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4. Personenregister 397
4. Personenregister Der Name Benito Mussolini wurde wegen seines häufigen Auftretens nicht erfasst. Accame, Falco 201, 246, 327, 330 f., 345 Agnelli, Maria Sole 327 Alfieri, Dino 112, 200, 212, 267, 343 Altoviti, Giuseppe 226 Andreotti, Giulio 13 Arciprete, Dante 233, 319 Aristoteles 301 Axmann, Arthur 88 Baden-Powell, Robert 61 Badoglio, Pietro 11, 17, 152, 163, 172, 313, 316 Balbo, Italo 204, 280 Bandini, Giuseppe 222 f. Battaglini, Giorgio 327 Baumann, Emilio 64 Belgeri, Luigi 243 f. Belluzzo, Giuseppe 63 Bernardinis, Sergio 216 Bertozzi, Clemente Luigi 327 Berzero, Giorgio 196, 243–245 Blanc, Giuseppe 200, 209, 281, 296 Bodini, Giuseppe 78, 119 Bona, Aristotile 220, 225 Bonamici, (Ales)Sandro 78, 100 Bonoldi, Pietro 200 Borghese, Junio Valerio 315 Bornaghi, Gian Battista 314 Bottai, Giuseppe 16, 39, 43, 63, 72, 74, 76 f., 81–86, 88, 91 f., 95, 97, 108, 111, 122, 138, 147 f., 184, 280, 293, 303, 307 f., 341 f. Bracci, Vera/Valeria 201 Cagetti, Dino 217 f., 226 Cagnoni, Giovanni Battista 202 Camuncoli, Ferdinando 317 f. Candeloro, Giorgio 164 Capoferri, Pietro 78, 143–145 Carbonara, Alfonso 227 Carboni, Paolo 167 Cardelli, Abo 204, 316 Carnera, Primo 54 Celio, Celestino 328 Chatrian, Luigi 164 Ciampi, Carlo Azeglio 318 f., 326 Ciano, Costanzo 188 Ciano, Galeazzo 16, 35, 39, 77 Cicero 280 Clara, Giovanni 327
Coletti, Ugo 228 f. Corradini, Enrico 23 Cosentini, Ugo 166 f., 171, 223–226 Damerini, Adelmo 202 D’Annunzio, Gabriele 50, 200, 210, 314 f., 331 Dante Alighieri 233, 280 D’Azeglio, Massimo 23, 26 De Bellegarde, Enrico 201 De Benedetti, Giovanni 163 De Buoi Vizzani, Giuseppe 201 Del Giudice, Riccardo 84 De Montaigne, Michel 301 De Nobili, Nicolao 201 De Pinedo, Francesco 30 De Ponte, Giuseppe 106 Deriù, Mario 244 De Sanctis, Giuseppe 22 De Vecchi, Cesare Maria 63, 72–74, 77 Diem, Carl 66 Di Mattia, Fernando 227 Di Mecola, Giovanni 304 Dollfuß, Engelbert 89, 99 Dusmet de Smours, Vittoria 202 Ercole, Francesco 63 Evola, Julius 2 Fabbris, Nino 202 f. Fabbris, Remo 202 f. Farinacci, Roberto 182, 280 Favia del Core, Michele 202 Fedele, Pietro 63, 70 Ferrauto, Eugenio 64 f., 79 Ferretti, Lando 54 Fichte, Johann Gottlieb 99 Fiorini, Aldo 159 Forte, Giovanni 245 Fougier, Rino Corso 180, 190, 202, 204 Frey, Herman-Walther 98 Frezzotti, Oriolo 137 Fulci, Lucio 328 Fusco, Enzo 54 Gallo, Enrichetta 201 Gasparini, Giorgio 312 f., 317, 331 Gemelli, Agostino 244 Gentile, Giovanni 59 f., 82 Ghisellini, Igino 312
398 Anhang Gigante, Alvise 210 f., 314, 330 f. Gigante, Riccardo 200, 210 f. Giuliano, Balbino 63 Giuriati, Giovanni 63, 73 Grassi, Antonio 319 Grumelli Pedrocca Suardo, Bona 201 Grumelli, Luigi 201 Guarienti di Brenzone, Bartolomeo 201 Guerrieri, Ulrico 315 Guillot, Vittorio 201 Hassell, Ulrich von 90 Hitler, Adolf 91, 97, 267, 268, 270, 347 Humboldt, Alexander von 99 Klemperer, Victor 46 Landra, Guido 280 La Racine, Renato Battista 327 Lauterbacher, Hartmann 91 Lenin, Wladimir 84 Levi Morenos, David 109 Ley, Robert 84, 97 Longi, Enrico 244 Longinotti, Giuseppe 315 Luciano, Celso 200 Lupinacci, Pier Filippo 226 Luraschi, Benesperando 119, 135, 200, 314 Luraschi, Lodovico 314, 316 Malgeri, Francesco 202 Manocchia, Lino 328 Mansutti, Francesco 109 Marelli, Bruno 229 Marinetti, Filippo Tommaso 23, 328 Marsich, Pietro 200, 315 Marsich, Sergio 315, 328 Martini, Fulvio 327, 345 Matteotti, Giacomo 37 Mattioli, Guido 264 Mazzini, Giuseppe 22 f. Meloni, Angelo 111, 119, 216 f. Micheluzzi, Attilio 219 f. Minini, Giovanni 182, 212 Minini, Giuseppe 189, 212 Minnucci, Gaetano 108 Miozzo, Gino 109 Monticelli, Antonio 217 Moore, Raoul 133, 135, 179–181, 202, 208, 220, 223 f., 227, 234, 245, 253 Morelli, Basilide 200 Morelli, Roberto 314 Moretti, Luigi 79, 151, 159 Moretti, Umberto 119 Mori, Fabrizio 328
Morra, Eugenio 202 Morucci, Ramiro 162, 263 Mosso, Angelo 64 Mussolini, Arnaldo 6, 46, 273, 280, 309 Mussolini, Bruno 126, 135, 188, 273, 306, 333 f. Muti, Ettore 78, 81, 103, 142–145, 170, 188, 206, 215, 220 f., 263, 270, 307, 341 f. Nannini, Umberto 129 Napoleon I. (Napoleon Bonaparte) 28 Nardini, Alvise 202 Nasi, Roberto 119 Nietzsche, Friedrich 25 Nobile, Bernardo 327 Omodeo, Adolfo 11 Oriani, Alfredo 25 Pagliari, Mario 229 Pagnol, Marcel 281 Paolozzi, Fiammetta 201 Pareto, Vilfredo 25, 35 Parri, Carlo 245 Pazzaglia, Alfredo 327, 345 Pelli, Fortunato 226 Pellizzi, Camillo 97, 309 Pende, Nicola 10, 67, 177, 280, 292 f., 349 Pennisi, Cino 159 Perasso, Giovan Battista 54, 61 Perfetti, Antonio 132 Perugini, Gerolamo 307 Petter, Kurt 309 Piazza, Adeodato 305 f. Piccolomini Bandini, Rodolfo 201 Pinna, Carlo 220, 225 f. Pius XI. 33, 304 Polastri, Ettore 200 Porro, Felice 128, 133, 219 f., 245 Quintilian 301 Rathenau, Walther 84 Riccardi, Arturo 222, 225 Ricci, Renato 6, 16 f., 19, 24, 50–57, 61– 64, 66–70, 73–79, 83, 89 f., 94, 98, 102, 104–113, 116, 118 f., 122, 139, 151, 161, 164, 167 f., 170, 206, 215–217, 222 f., 241, 275, 286, 304, 318, 339 f., 342, 344 f. Romano, Roberto 244 f. Rosenberg, Alfred 96 f. Rossi, Angelo 218 Rossi, Anselmo 234–236, 265 Rossi, Gaetano 119, 153 Rust, Bernhard 84, 88 f., 91 f., 95
4. Personenregister 399 Sartori, Luigi 247 Savoia-Genova, Ferdinando di 110 Schirach, Baldur von 88–90, 94 Scorza, Carlo 73, 78, 164 Sellani, Orfeo 78, 208, 225, 249 Serena, Adelchi 78, 103, 142–146, 148– 151, 221, 237, 307, 341 Sibilia, Dario 314 Snidvongs, Teaw 182 Solari, Silvio 200 Sorel, Georges 25 Spazzoli, Arturo 318 Stagnani, Nicola 63 Starace, Achille 6, 16, 24, 40–49, 54, 56 f., 63, 70, 73, 77–79, 81, 90, 103, 113f., 118– 120, 122–124, 127, 129 f., 139, 142–144, 148, 170, 181, 186 f., 206, 215 f., 220 f., 267, 270 f., 339–344 Stein, Ursel 96 Strazza, Alessandro 196 f. Strazza, Guido 196, 328 Streicher, Julius 99
Tacchi Venturi, Pietro 304 Tallarico, Cesare 164 Tardioli, Dionisio 171, 319 Teodorani Fabbri, Eduardo 201 Teodorani Fabbri, Pio 201, 276, 327, 345 Thaller, Ferdinando 327 Tur, Vittorio 182, 225 f. Turati, Augusto 63 Uhland, Ludwig 99 Umberto II. di Savoia 201 Valle, Cesare 19, 105, 127 f., 132, 151, 220 Valle, Giuseppe 19, 127–132, 220 Versari, Riccardo 67 Vidussoni, Aldo 78, 142, 149 f., 184, 341 Viglietti, Maria Teresa 201 Vinci, Giovanni 119 Vittorio Emanuele III. 145, 162 f., 172, 225 f., 261, 267, 271, 273, 311 f. Zaccagnini, Gino 226 Zagnoli, Pellegrino 217, 219