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German Pages [185] Year 2016
A
Ute Guzzoni
Im Raum der Gelassenheit:
die Innigkeit der Gegensätze
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495860489
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B
Ute Guzzoni Im Raum der Gelassenheit: die Innigkeit der Gegensätze
VERLAG KARL ALBER
A
https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
Die Skizzen dieses Buches verstehen sich als Einübungen in ein Aufmerken auf das Spiel von Gegensätzlichkeit und Entsprechung in der Welt unserer – genauer: meiner – Erfahrungen. Die Gegensätze und das, was diese als ihre Mitte, ihr Kriterium, ihr Gemeinsames und Unterscheidendes verbindet und trennt, markieren die Richtung, in die der Blick auf das Begegnende geht. Meine Überlegungen thematisieren durchaus Disparates, unterschiedliche Bereiche, vereinzelte Beobachtungen an heimatlichen wie an fremden Orten, theoretische Reflexionen. Sie reihen sich in mehr oder weniger zufälliger Weise aneinander. Sie bleiben stets offen, sind mehr als Anregungen denn als Beschreibungen oder Erörterungen im eigentlichen Sinne zu verstehen. Bewusst beschränke ich mich auf die Erfahrung von Gegensätzlichkeit und verzichte weitgehend auf eine Erläuterung der Weise, wie sie in der westlichen Philosophietradition gefasst wurde. Ich blicke auch auf die Erfahrungen anderer, wie sie sich z. B. im Denken des späten Heidegger über Ding und Mensch und Welt oder in den Überlegungen chinesischer Weiser finden; ebenso greife ich auf Gedichte und einige wenige Bilder zurück.
Die Autorin: Ute Guzzoni, geb. 1934, lehrte als Professorin an der Universität Freiburg i. Br. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt im Verlag Karl Alber: Hegels Denken als Vollendung der Metaphysik (2005), Unter anderem: die Dinge (2008), Gegensätze, Gegenspiele (2009), Der andere Heidegger (2009), erstaunlich und fremd (2012), Nichts (2014).
https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
Ute Guzzoni
Im Raum der Gelassenheit: die Innigkeit der Gegensätze
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
© VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2014 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Umschlagfoto: Bertram Walter, Freiburg Fotos: S. 38: Yair Haklai; S. 78: Kunstmuseum Basel; S. 114: Herder Bildarchiv; S. 146: Sailko ISBN (Buch) 978-3-495-48663-4 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86048-9
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Inhalt
Welt und Mensch – zugleich eine Einführung . . . Ruhe und Bewegung im Flug der Pelikane am Salton Sea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegensätzlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mitte zwischen Freud und Leid (Mörike) . . . . . . Zwischen-Zeit zwischen Winter und Frühling . . . Raum der Gelassenheit . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen sonst und jetzt (Storm) . . . . . . . . . . Steine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einige Gedanken zu Anfang und Ende . . . . . . . . Leben und Tod: Kleobis und Biton . . . . . . . . . Bild contra Begriff I . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterwegs im amerikanischen Südwesten (Winter 2011/12) . . . . . . . . . . . . . . . . . Die »Mitte« zwischen oder von Gegensätzlichen – das »Dritte« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Licht und Dunkel I . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dauer und Augenblick I (Benn) . . . . . . . . . . . Himmel und Erde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wüste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Miteinander und Ineinander I . . . . . . . . . . . . Unfall (Klee) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . nah und fern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Warum die Frage nach der Gegensätzlichkeit? . . .
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11 13 17 18 21 25 27 31 38 40
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48 54 56 62 71 75 78 80 84
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Inhalt
Bild contra Begriff II (Nietzsche) . . . . . . . . Faltung, Entfaltung . . . . . . . . . . . . . . . . gewellt/gewunden/krumm – gerade . . . . . . Die Waage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Death Valley . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Licht und Dunkel II . . . . . . . . . . . . . . . Gestillte Gegensätzlichkeit: Maria mit dem schlafenden Kind (Mantegna) . . . . . . Gegensätze im menschlichen Leben . . . . . . Vulkane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bild contra Begriff III (Heidegger) . . . . . . . Miteinander und Ineinander II . . . . . . . . . Kireji . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Komplementarität . . . . . . . . . . . . . . . . gering, arm, einfach, einfältig . . . . . . . . . . Die Qual des Minotaurus . . . . . . . . . . . Unterwegs in Skandinavien (Sommer 2013) . Dauer und Augenblick II . . . . . . . . . . . . Wasser und Stein . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachliche Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . schwarz/weiß – der Schnee . . . . . . . . . . Bewegungsraum zwischen Gegensätzlichen . Miteinander und Ineinander III (Kirsch) . . . . Leben und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Mond in der Fremde . . . . . . . . . . . .
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114 116 123 125 130 132 138 140 146 148 150 154 159 162 165 169 171 174
Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182
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Mensch und Welt – zugleich eine Einführung Mein ursprüngliches Thema für dieses Buch war der Gegensatz bzw. die Gegensätzlichkeit, – in Nähe und Ferne, Anwesenheit und Abwesenheit, Tag und Nacht, Freude und Leid, Himmel und Erde … Bei dem genaueren Blick auf die Fülle der begegnenden Beispiele ist mir zunehmend deutlich geworden, daß es so etwas wie »den Gegensatz« – mit einer eigenen allgemeinen Struktur – nicht gibt. Das Hauptgewicht hat sich immer mehr auf das verlegt, was zwischen, über oder mit den Gegensätzlichen ist, ihre Mitte, das beide Auseinander- und Zusammenhaltende, der Bereich, innerhalb dessen der Gegensatz spielt: der Raum ihres Gegensatzes und ihrer Entsprechung. Aber auch dieses »Mittlere« hat sich mir allmählich ins Unbestimmte entzogen. Die Unbestimmtheit ist jedoch kein Einwand, sie erweist sich als ein Grundcharakter des Raums meines Denkens und Nachdenkens. Ich habe versucht, die Vagheit als Dimension dieses Textes zuzulassen. U. a. habe ich ihr dadurch Ausdruck gegeben, daß ich sehr unterschiedliche Skizzen, Bilder und Überlegungen zusammengetragen und in freier Folge nebeneinandergestellt habe. Insofern sich mein Denken als ein philosophisches versteht, geht es dabei immer um das Verhältnis von Mensch und Welt, – das ich nicht als Konfrontation, sondern als Zusammengehörigkeit von Gegensätzlichen begreife. Doch die Welt ist, so meine ich, weder ein System noch ein geordneter Kosmos; sie ist kein Ganzes in dem Sinne, daß sie und die sie ausmachenden Momente unter einheitlichen Kategorien, also auch nicht der der Gegensätzlichkeit, konzipiert werden könnten. Jeder Versuch, die Welt und unseren Aufenthalt in ihr zu verstehen, bleibt fragmentarisch, unsystematisch, essayistisch. »Mensch und Welt« – das kann in der Tat als Formulie7 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
Mensch und Welt – zugleich eine Einführung
rung der philosophischen Frage überhaupt gefaßt werden. Wie verstehen wir uns als Menschen, wie verstehen wir die Welt, wie unser In-der-Welt-sein? Das »und« zwischen Mensch und Welt nennt den Raum, in dem sich die Beziehung zwischen uns und der Welt entfaltet. Entscheidend ist die tiefe Doppeldeutigkeit dieses »und«. Zwar ist es schon als solches in paradoxer Weise zweideutig: Obgleich die Kopula, auch wörtlich, als das Verbindende erscheint, setzt sie doch zugleich eine Trennung der beiden durch das »und« Angesprochenen voraus. Indem sie zweierlei zusammenführt, fordert sie zugleich dazu heraus, beides auch geschieden voneinander zu halten. In Bezug auf das Mensch und Welt verbindende »und« kommt diese Zwiefalt aber verstärkt zum Tragen. Als Ich und Bewußtsein haben wir das uns gegenüber Andere, die Welt, außerhalb von uns, wir können uns eigens darauf richten, wir setzen uns im wörtlichen Sinne aus-einander mit ihm. 1 Doch vermögen wir dies nur, weil wir immer schon zusammenund dazugehören, weil das uns trennende »und« uns verbindet, als Brücke und dem zuvor schon als Ausdruck der Eingehörigkeit in ein Selbes. Dieses Selbe, das Mensch und Welt Unterlaufende und Übergreifende, ist jedoch – davon hat die metaphysische Philosophie seit den Griechen, vor allem aber in ihren neuzeitlichen Entfaltungen, weitgehend abstrahiert – die Welt selbst. 2 Die Welt in diesem Sinne ist der stets flüchtige und Ein Grundcharakter des traditionellen westlichen Denkens, jedenfalls in seiner neuzeitlichen und modernen Ausprägung, war, daß sich die Auseinandersetzung zwischen Mensch und Welt als Entgegensetzung im strengen Sinne, als Konfrontation, genauer: als Subjekt-Objekt-Beziehung vollzog. Die andere Komponente der Auseinandersetzung, das »einander«, wurde systematisch vergessen bzw. ausgeblendet. 2 Oder auch die Natur. In der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno wird die Möglichkeit der Versöhnung zwischen Mensch und Welt in der Einsicht gesehen, daß die Natur sich im Menschen selbst (wieder)erkennt, 1
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Mensch und Welt – zugleich eine Einführung
stets wechselnde Gesamtzusammenhang von allem, was ist, in den auch wir Menschen, eben indem wir da sind, hineingehören. Während das westliche Denken einseitig die konfrontative Beziehung, genauer den Herrschafts- und Identifizierungsbezug zwischen den beiden Getrennten bedacht hat, und zwar insbesondere von der Subjektseite her, betonen andere Denkansätze, etwa das ostasiatische Denken, vor allem das in sich bewegte Eine, Verbindende, das Dao oder den einen Sinn. Für uns, Kinder der abendländischen Tradition, könnte es in unserer heutigen geschichtlichen Situation darauf ankommen, das Zugleich beider Momente oder Tendenzen festzuhalten, uns selbst in der Unterschiedenheit NichtGeschiedener, oder umgekehrt, mit Adorno gesagt, der »Kommunikation des Unterschiedenen« 3 zu halten. Das bedeutet zunächst einmal die Notwendigkeit, uns aus dem seit der Neuzeit herrschenden »Vorrang des Subjekts« und dem zuvor noch – oder gleichbedeutend damit – überhaupt aus der Konfrontation von Mensch und Welt herauszulösen und uns auf die Erfahrung unserer Eingehörigkeit in die Welt, in die Zusammengehörigkeit mit ihren Dingen, Geschehnissen und Gegebenheiten einzulassen. U. a. impliziert es ein Verständnis unserer selbst, das uns nicht länger auf das Ergreifen, Handeln und Bewirken reduziert, das vielmehr auch die aufmerkende, hörende und aufnehmende Seite unseres Seins ernstnimmt. Die Skizzen dieses Buches verstehen sich als Einübungen in solches Aufmerken. Inhaltlich geht es dabei, wie gesagt, um das Spiel von Gegensätzlichkeit und Entsprechung in der Welt unserer – genauer: meiner – Erfahrungen. Die daß der Mensch als ein Teil der Natur deren eigenes Erkenntnis- oder Bewußtseinsvermögen ist. 3 Zu Subjekt und Objekt, in: Stichworte, 743.
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Mensch und Welt – zugleich eine Einführung
Gegensätze und das, was sie als ihre Mitte, ihr Kriterium, ihr Gemeinsames verbindet und trennt, markieren die Richtung, in die der Blick auf das Begegnende geht. Zuweilen bleiben die genannten Begriffe weitgehend unthematisch und im Hintergrund, zuweilen werden sie als solche in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt. Meine Überlegungen betreffen durchaus Disparates, unterschiedliche Bereiche, sie stützen sich auf vereinzelte Beobachtungen an heimatlichen wie an fremden Orten ebenso wie auf theoretische Reflexionen. Sie reihen sich in mehr oder weniger zufälliger Weise aneinander. Vor allem sind sie stets offenbleibend; es wäre jeweils noch vieles weitere zu sagen, was den Lesern, ihrer Phantasie und Erfahrung, überlassen bleibt. In den meisten Fällen handelt es sich somit mehr um Anregungen als um Beschreibungen oder um Erörterungen im eigentlichen Sinne. Die Disparatheit der einzelnen Stücke bringt es mit sich, daß ähnliche oder gar gleiche Gedanken an unterschiedlichen Stellen ins Spiel kommen, Wiederholungen also manchmal nicht zu vermeiden sind. Es ist wie bei dem Gang durch eine Landschaft: Von unterschiedlichen Wegstellen aus zeigen sich die selben Gegenstände jeweils aufs Neue, in einer anderen Perspektive, in anderer Entfernung; Unterschiedliches drängt sich manchmal bestimmend ins Blickfeld und steht zuweilen auch ganz am Rande. Entsprechend könnte die Lektüre an beliebigen Stellen einsetzen. Und sie sollte sich auf ein Erfahren des – je unvollständigen – Ganzen einlassen, dürfte sich nicht vom ersten Hinsehen täuschen lassen. Auf thematische Erörterungen aus der abendländischen Geschichte des Denkens über Gegensätzlichkeit nehme ich so gut wie gar nicht Bezug, obgleich hier natürlich manche Anregung zu finden wäre – bei Aristoteles etwa, bei Cusanus oder bei Hegel. Ich beschränke mich jedoch bewußt auf die Erfahrung von Gegensätzlichkeit und verzichte weitgehend auf die begriffliche Theorie. Allerdings blicke ich auch auf 10 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
Ruhe und Bewegung im Flug der Pelikane am Salton Sea
die Erfahrungen Anderer, wie sie sich z. B. im Denken des späten Heidegger über Ding und Mensch und Welt oder in den Überlegungen chinesischer Weiser finden; ebenso greife ich auf Gedichte und einige wenige Bilder zurück; und ich erinnere mich an früher selbst Geschriebenes. Ich hoffe, daß das Ganze in seinem Charakter aus sich selbst einsichtig wird und als stimmig erscheint; man sollte von ihm nichts erwarten, was es gar nicht einzulösen vorgibt.
Ruhe und Bewegung im Flug der Pelikane am Salton Sea Das Fliegen der Pelikane, – gleißend weiß über dem blaugrauen See, der sich, je nach der Windstärke und -richtung, in braunen Wellen bricht oder in ruhiger Glätte daliegt. Es wechselt jeweils von langsamem, großem Flügelschlag zu ansichhaltender Ruhe. Zwar gibt es auch bei anderen Vögeln, bei den Möwen z. B., einen solchen Wechsel. Aber die Abfolge von Bewegung und Ruhe ist bei den Pelikanen u. a. darum so auffällig und erscheint so gleichmäßig und ineinandergreifend, weil sie gewöhnlich in einer Reihe hintereinander über dem Wasser dahinfliegen, meist in einer Wellenbewegung, höher und niedriger. Die Möwen fliegen in keiner Formation, insofern je für sich, auch wo sie in eine große Schar gehören, sich verjagen, um eine Beute kämpfen oder eine Zeitlang miteinander fliegen oder schwimmen. Sie scheinen im und mit dem Wind zu spielen, sie werfen sich gleichsam in ihn hinein, lassen sich quer und geradeaus von ihm treiben, halten ihm fast in der Luft stehend Stand und kreuzen gegen ihn an. Zuweilen lassen sie sich geradezu von ihm tragen. Das vorherrschende Bild, solange sie fliegen, ist das von Bewe11 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
Ruhe und Bewegung im Flug der Pelikane am Salton Sea
gung und Unruhe. Dann wiederum stehen sie in Scharen oder auch in langer Reihe, oft alle in die selbe Richtung schauend, still am Strand. Die Pelikane dagegen wechseln im Flug oftmals miteinander vom Flügelschlag zum Ansichhalten, so als wäre ihre Schar ein Eines, jedenfalls durch ein selbes Bewegungsmoment bestimmt. Die schwimmenden Pelikane – hier, an diesem riesigen Wüstensee, sind sie weiß, am mexikanischen Golf gibt es die braunen mit ihren unglaublichen Sturzflügen – erinnern immer wieder an Schwäne, die still dahingleiten. Eine langsame Bewegung, in die die Ruhe selbst eingegangen zu sein scheint, – eine ruhige Bewegtheit oder still in sich bewegte Ruhe. Ich habe lange ein Paar beobachtet, wie sie beide nebeneinanderher schwammen, aufeinander wartend, wenn der eine einen Fisch erspäht hatte, oder zuweilen beide gleichzeitig ihre Hälse ins Wasser senkend. Die Ruhe und Stille wird, auch das ähnlich wie bei Schwänen, jäh gebrochen, wenn sie sich aus dem Wasser aufschwingen, bzw. genauer: sich aufzuschwingen beginnen, indem sie mit lautem und starkem Flügelschlag zunächst eine ganze Strecke über das Wasser laufen. Wegen ihrer Schwere wechseln sie nur mit gewisser Mühe aus dem einen in das andere Element hinüber. Schwimmen und fliegen, gleiten und Flügel schlagen, einzeln und in Scharen, – auch der Gegensatz von Häßlichkeit und Schönheit vereint sich in den Pelikanen. Ihr übergroßer Kehlsack und der lange Schnabel lassen, wenn man sie aus der Nähe betrachtet, den Kopf klein und unproportioniert erscheinen. Und doch strahlen ihr Dahingleiten und ihr gemeinsamer Flug in langer Reihe diese ruhige Schönheit aus. An einem Morgen sah ich Hunderte in einem Schwarm sehr hoch in der Luft, gleißend im Schein der frühen Sonne. Das Besondere und Erstaunlichste und Schönste an ihnen bleibt aber der lineare Flug einer hinter dem anderen, einige 12 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
Gegensätzlichkeit
wenige oder in großer Zahl, auf und nieder wechselnd, im Nacheinander und fast Ineinander von Flügelschlag und Verharren im Gleitflug.
Gegensätzlichkeit Als der Prediger Salomo Beispiele dafür geben will, daß »jedes Vornehmen unter dem Himmel« seine Zeit hat, da spricht er von Gegensätzlichem: bauen und niederreißen, herzen und fernesein von Herzen, geboren werden und sterben. 1 Das chinesische Denken sieht die Struktur von allem ausgespannt zwischen und bestimmt durch Yin und Yang, »Prinzipien«, die zugleich einander einbeziehen, wie sie einander entgegengesetzt sind. Die vorsokratische Philosophie denkt vielfältig in Gegensätzen: Recht und Unrecht, Wissen und Meinung, Liebe und Streit, sterbliches und unsterbliches Denken, Sein und Nichtsein. Überall auf der Welt gehen Mythen und Geschichten von Gegensätzlichem aus, von Himmel und Erde, Oberwelt und Unterwelt, Heiligem und Profanem, guten und bösen Mächten usw. Es ist erstaunlich, wie vielfältig unsere Welt und Wirklichkeit durch Gegensätzliche bestimmt ist, – erstaunlich, weil wir gewöhnlich gar nicht so sehr darauf achten. Ihr Verhältnis zueinander kann einen Widerspruch bedeuten, sie können sich gegenseitig radikal ausschließen, aber trotz und in der Widersprüchlichkeit ergänzen sie sich dann auch, sie fordern sich gegenseitig und sie sind wechselseitig ineinander inbegriffen. Sie können komplementär sein und keinen Widerspruch im eigentlichen Sinne beinhalten, und doch ver1
In der Übersetzung von Martin Luther. Siehe ausführlicher unten, S. 116.
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Gegensätzlichkeit
stehen wir sie als Gegensätze, wie z. B. Himmel und Erde oder Meer und Land oder Pflanze und Tier. Es gibt Gegensätze, die einander unvermittelt gegenüberstehen, wie etwa fruchtbar und unfruchtbar, Leben und Tod, und solche, zwischen denen es einen allmählichen Übergang gibt, wie zwischen weiß und schwarz oder warm und kalt, aber auch Tag und Nacht, – Grenzmarken eines Kontinuums. Es kann auf den Blickwinkel ankommen, ob man einen Übergang erkennt oder nicht, wie z. B. zwischen weiblich und männlich. Die Jeweiligen sind dann zwar einerseits durchaus das Andere nicht, sie schließen sich gegenseitig aus; aber zugleich gibt es ein Feld zwischen ihnen, in dem das Eine doch auch das Andere an sich hat, – bei Tag und Nacht etwa jener merkwürdige Bereich der Dämmerung, der Abend- oder Morgendämmerung. Statt von »Gegensätzen« oder »Gegensätzlichen« läßt sich auch von »Spannungspaaren« oder »Dualitäten« oder von »Polen« sprechen, auch von spezifischen »Zwiefältigkeiten«. Es sind Begriffs- oder Realitätspaare, die durch ein »oder« oder »und« verbunden sind und von denen das Eine wesenhaft nicht das Andere ist. Das sie Verbindende, die Kopula, ist das beide zueinander Tragende, das sie doch auch auseinanderhält, sie einander gegenüberstellt. Und, gleichsam quer zu Verbindung und Trennung, ist es die Anzeige des Zwischen selbst als einer Dimension, innerhalb deren sich die Bezugsglieder aufeinander beziehen, sich einander entgegensetzen bzw. einander entgegengesetzt werden und zugleich sich gegenseitig fordern und entsprechen. Die (negative) Gegensätzlichkeitsrelation kann im jeweiligen Fall genau das zum Ausdruck bringen, was die beiden Einzelnen je an ihnen selbst sind, wie etwa bei dem Gegensatz von Licht und Dunkelheit: das Licht ist die Abwesenheit von Dunkel, und das Dunkel ist das Fehlen von Licht. Der Bezug auf das jeweils Gegensätzliche kann 14 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
Gegensätzlichkeit
sich aber auch erst aus einer besonderen Situation ergeben, oder aus der Bewandtnis, die es mit den Begegnenden für den hat, dem sie begegnen, etwa aus der Stimmung oder der Färbung eines jeweiligen Weltzusammenhangs, in dem Eines sich abhebt gegenüber dem Anderen. Dieses Andere mag gegenüber dem Einen ein Fremdes oder Vertrautes, ein Bekanntes oder Unbekanntes, Nahes oder Fernes, Gewünschtes oder Gefürchtetes sein, das aber auf unterschiedliche Weise jeweils ein Gegensätzliches ist. Es müssen keine wesensmäßigen Bezüge sein, die zwischen ihnen bestehen, es kann sich auch um Gegensätze der jeweiligen Zuständlichkeit, z. B. des Werdens oder Vergehens, des Zunehmens oder Abnehmens, der räumlichen oder zeitlichen Orientierung oder Platzierung handeln. Viele Gegensätze bilden miteinander ein Ganzes, wie Himmel und Erde, oder auf andere Weise Mann und Frau, die gemeinsam die Möglichkeit dessen realisieren, was Menschsein ist. 2 Zuweilen ist, je nachdem wie man die Gegensätzlichen betrachtet, das Eine der beiden gegenüber dem Anderen ein Übergreifendes oder es Unterlaufendes. 3 Bei Hegel umfaßt das Eine der beiden Gegensätzlichen, die Identität, die Identität und die Nichtidentität. So schließt hier auch das Leben den Tod in sich. In der Selbstbewegung des Absoluten, als die er sein System versteht, eignet dem Geist als dem absolut Positiven die »ungeheure Macht des Negativen«, durch die er sich sich selbst entgegensetzt und sich mit sich selbst zusammenschließt. »Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. […] Diese Macht ist er nicht als das PosiZumindest nach einer noch vorherrschenden abendländischen Überzeugung. 3 Spricht man von »vierzehn Tagen«, so sind in unserem Kulturkreis die Nächte mitgemeint. 2
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Gegensätzlichkeit
tive, welches von dem Negativen wegsieht […]; sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt.« 4 Hegels heroisch-großartige Sicht ist der Schlußstein des metaphysischen Gedankengebäudes, wonach in der Differenz von Sein und Nichts das Sein jedes Nichts und jede Negativität immer schon unter sich subsumiert hat; auch noch das Nichtseiende »ist« in gewisser Weise. 5 Demgegenüber möchte ich betonen, daß es in bestimmten grundsätzlichen Verhältnissen – und in einer gewissen spekulativen Sichtweise – gerade die jeweils »negative« Seite der Gegensätzlichen ist, die zugleich den Raum selbst darstellt, der beide umfängt. Stille und Ruhe, Leere und Dunkel und Abwesenheit scheinen mir in diesem Sinne Qualifizierungen des nichthaften Raums zu sein, die den ganzen Bezug offenhalten, in dem und durch den jeweils beide sich voneinander absetzen und aufeinander beziehen. Darüber hinaus, daß sich etwa Fernes und Nahes gegenseitig sowohl negieren wie fordern und bestätigen, zeigt sich mit der leeren Ferne der beide umgreifende und unterlaufende Zwischenraum als so etwas wie eine immanente Tiefendimension, die nichts anderes ist als die Ferne selber. Und so ist es auch und vielleicht mehr noch bei unsichtbar/sichtbar, verborgen/unverborgen, dunkel/hell, still/lautend, abwesend/anwesend. Phänomenologie des Geistes, Vorrede, 29 f. Darin ist, dem Übergreifen des Seins über das Nichts zuvor, schon ein unhinterfragter Vorrang des Einen vor dem Anderen impliziert; allerdings gibt es auch die umgekehrte Einschätzung. So geht etwa bei Hesiod (Theogonie, 123) das Nichthafte dem Seienden vorher. »Aus dem Chaos (Leeren) entstehen Finsternis und Nacht. Diese beiden paaren sich, und durch die Kraft schöpferischer Liebe (Eros) gehn aus den negativen Potenzen positive Mächte hervor: Tag und Himmelshelle (Aither). Tag ist also eine Tochter der Nacht, und der helle blaue Himmel ist ein Sohn der Finsternis: das Nichtsein geht auch hier dem Sein voran.« (Fränkel, Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums, 112)
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Mitte zwischen Freud und Leid (Mörike) Mörike schrieb einmal ein kleines Gedicht, das so lautet: Wollest mit Freuden Und wollest mit Leiden Mich nicht überschütten! Doch in der Mitten Liegt holdes Bescheiden. Freude und Leid, Glück und Unglück sind zum einen gegensätzliche Widerfahrnisse des Lebens, zum anderen extreme Färbungen der subjektiven Lebensstimmung. Goethes »Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt« bringt ihren extremen Charakter zum Ausdruck. Für die alten Griechen liegt die wahre Haltung im Leben im rechten Maß zwischen beiden, in der Mitte. Diese zu gewahren und zu vertreten, bedeutet Gerechtigkeit. Aristoteles schreibt: »Die Gerechtigkeit aber ist eine Form des mittleren Verhaltens, aber nicht im selben Sinn wie die anderen ethischen Vorzüge, sondern weil sie einen Mittelwert festsetzt, während die Ungerechtigkeit auf die Extreme gerichtet ist.« 1 Auch Mörike besingt das Halten der Mitte, den Verzicht auf äußerstes Glück und die Bewahrung vor äußerstem Unglücklichsein – umwillen des holden Mittelmaßes. Ungefähr zehn Jahre nach den zitierten Versen hat er ein weiteres kleines Gedicht geschrieben, das den Ausgleich zwischen dem Guten, Schönen und dem Leidvollen, Schlechten ähnlich, aber doch auch ein wenig anders versteht. Er hat beide Verse dann zu einem Gedicht mit dem Titel Gebet zusammenge-
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Nikomachische Ethik V 9, 1133b32.
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Zwischen-Zeit zwischen Winter und Frühling
faßt, wobei er interessanterweise das spätere zur ersten Strophe macht: Herr! schicke was du willt, Ein Liebes oder Leides; Ich bin vergnügt, daß Beides Aus Deinen Händen quillt. Die Mitte, wenn wir hier von einer solchen sprechen wollen, läge jetzt nicht so sehr zwischen den beiden gegensätzlichen Schickungen, sondern in der übergreifenden Gewißheit, daß sie beide von Gott geschickt sind. Weil sie beide von Gott kommen, ist es gut, beide zugleich im Blick zu haben, beide miteinander und so nicht eines von ihnen im Übermaß zu erfahren. Nicht nur das große Leid, sondern auch das große Glück verführt dazu, das Gleichmaß und die Gelassenheit zu verlieren. Wird die Gegensätzlichkeit wie hier als eine von Extremen erfahren, so tut sich zugleich damit ein neuer Gegensatz auf, nämlich der zwischen den Gegensätzlichen auf der einen Seite und ihrer Mitte auf der anderen, zwischen den Ausschlägen der Waage und ihrem Gleichgewicht, zwischen den Grenzen und dem, was zwischen ihnen ist.
Zwischen-Zeit zwischen Winter und Frühling Zwischen Winter und Frühling – zwischen den Spatzen und Meisen am Meisenring und den Gesängen der Amseln auf Zäunen und Dachfirsten. Zwischen dunklen, kurzen Tagen und deutlich früherem Hellwerden am Morgen sowie längerem Hellbleiben am Abend. Zwischen Schnee, Nebel, Regen 18 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
Zwischen-Zeit zwischen Winter und Frühling
an einigen und noch diesiger und doch schon irgendwie frühlingshafter Sonne an anderen Tagen. Zwischen den letzten weißen Schmutzrändern an Straßen und auf Dächern und den ersten Schneeglöckchen und Krokussen. Künftiges Wachsen und Blühen wird spürbar, während doch die Wiesen noch fahl sind, das Gras vom Schnee niedergedrückt. Viele Bäume sind noch kahl, während die Weiden und die Pappeln diesen wunderbaren rotgoldenenen Schimmer bekommen. Im Laub unter den Bäumen ahnt man schon die doch noch nicht sichtbaren Anemonen. Auch wenn die Schwalben schon zurückkehren, weiß man zugleich schaudernd, daß der Frost noch zurückkommen, die Blüten noch erfrieren können. Nietzsche hat eines seiner Werke so beschrieben: »Es scheint in der Sprache des Thauwinds geschrieben: es ist Uebermuth, Unruhe, Widerspruch, Aprilwetter darin, so dass man beständig ebenso an die Nähe des Winters als an den Sieg über den Winter gemahnt wird, der kommt, kommen muss, vielleicht schon gekommen ist …«. 1 Sehr deutlich wird hier die Zwiefältigkeit des Übergangs vom Winter zum Frühling, eines Übergangs, der gerade nicht linear von einer bestimmt zu charakterisierenden Zeit zur anderen hinüberführt, sondern der sowohl voranstürmt wie zaudert und zögert, der nach vorne gerichtet ist, in Richtung auf Wärme und Licht, wie er noch zurück zur Kälte und zu grauen Tagen schaut. Es ist die doppel-deutige, doppel-wendige Zeit des »schon nicht mehr« oder »gerade noch« und des »schon« oder »fast schon«. Eine merkwürdige Zeit der Unbestimmtheit, in der vieles möglich scheint und nichts sicher ist. Eine Zeit der Schwebe, des Zwischen.
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Die fröhliche Wissenschaft, Vorrede zur zweiten Ausgabe, 345.
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Zwischen-Zeit zwischen Winter und Frühling
Es läuft der Frühlingswind Durch kahle Alleen, Seltsame Dinge sind In seinem Wehn. 2 Diese seltsamen Dinge – kommender und vergangener Zeiten, fremder Orte und unbekannter Mächte – bestimmen die Unbestimmtheit der Zwischen-Zeit. »Die Götter halten die Waage / eine zögernde Stunde an«, – das schrieb Benn in Bezug auf die Zwischen-Zeit von Sommer und Herbst. Wie dort die Betonung auf dem Noch, insbesondere dem Noch einmal lag, so liegt sie hier, zwischen Winterstarre und Frühlingserwachen, im noch schwankenden Gleichgewicht zwischen Vergehendem und Kommendem, auf dem, was sich scheu erst ankündigt, auf Versprechen und Hoffen, auf Warten, Ahnen und Drängen. Dieses Drängen spricht auch aus den allzu bekannten Versen aus dem Faust: Vom Eise befreit sind Strom und Bäche Durch des Frühlings holden, belebenden Blick, Im Tale grünet Hoffnungsglück; Der alte Winter, in seiner Schwäche, Zog sich in rauhe Berge zurück. Von dort her sendet er, fliehend, nur Ohnmächtige Schauer körnigen Eises In Streifen über die grünende Flur. Aber die Sonne duldet kein Weißes, Überall regt sich Bildung und Streben, Alles will sie mit Farben beleben;
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Hofmannsthal, Vorfrühling.
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Raum der Gelassenheit
Das Vergangene bleibt ohnmächtig zurück, auch wenn es noch da ist und sich gegen das Vergehen sträubt. Das Belebende, Grünende, das Sich-regende und Strebende stellt sich ihm entgegen. Der Bruch zwischen der alten und der neuen Zeit ist Aufbruch zu einem Neuen und zugleich selbst schon dessen Ein- und Anbruch. Das Fahle wird bunt, das Schwache stark, das Erstarrte befreit sich. Der zeitliche Gegensatz zwischen Vergehendem und Ankommendem unterscheidet sich von den meisten anderen Gegensätzen dadurch, daß er gerichtet, unumkehrbar ist, daß somit die eine Seite von vorneherein die siegreiche gegenüber der anderen ist. Gleichwohl bedeutet die Unumkehrbarkeit der durch den Sonnenlauf bestimmten Jahres- und Tageszeiten nicht, daß die besiegte Zeitphase nicht zurückkehren würde. Sieg und Niederlage wechseln sich ab. Die lineare Zeit der Natur ist gleichwohl zirkulär, ihre zirkuläre Zeit ist zugleich linear.
Raum der Gelassenheit Einen Gegensatz nicht als bloßen Gegensatz zu sehen und zu denken, nicht als Entweder/oder, heißt, ihn in einem offenen Raum sein zu lassen, in einem Feld des Sowohl/als auch. Diese Offenheit – die Daoisten könnten sagen: diese Leere – gibt den Gegensätzlichen erst die Freiheit, sich so aufeinander zu beziehen, daß sie sich gegenseitig sowohl negieren – das Eine ist wesenhaft nicht das Andere – wie anerkennen. So müssen sie nicht unnachgiebig auf sich selbst insistieren und können doch ganz sie selbst sein. Das Eine trägt jeweils den Verweis auf das Andere an sich, es ist nicht ohne die Spanne zum Anderen; Negation und Affirmation gehören zusammen. Daß die einander Ne21 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
Raum der Gelassenheit
gierenden doch auf eine tiefgreifende Weise zueinandergehören und sich gegenseitig bestätigen, heißt, daß es eine sie unterlaufende Selbigkeit und Einfachheit gibt, die sie trägt. Ihr Bezug zueinander spielt im Raum einer Nichthaftigkeit, aus der heraus oder innerhalb deren sie sich aufeinander beziehen. 1 Ob wir diesen nichthaften Raum Leere nennen oder Offenheit, Ruhe oder auch einfach Raum, in bestimmten Zusammenhängen sogar Welt, ist gleichgültig. Was die Chinesen das Dao (oder Tao) nannten und nennen, wird diesem nichthaften Raum wohl sehr nahe gewesen sein. Watts schreibt: »Es [das Tao] hat eher die Bedeutung von hsüan – das Tiefe, Dunkle und Geheimnisvolle vor jeder Unterscheidung zwischen Ordnung und Unordnung; das heißt vor jeder Klassifizierung und Benennung einzelner Züge der Welt.« (Der Lauf des Wassers, 78) Wir müssen allerdings vorsichtig mit dem Verständnis dieses »vor« sein. Es ist zugleich ein »in« und ein »durch hindurch«. Das Geheimnisvolle des weiten Offenen umfaßt und durchdringt jedwedes Begegnende. Watts führt an anderer Stelle Tanching an: »Laß nicht zu, daß dein Geist sich auf die Leere fixiert, denn sonst fällst du in eine neutrale Art von Leere. Leere umfaßt Sonne, Mond und Sterne, die große Erde, Berge und Flüsse, alle Bäume und Gräser, gute Menschen und schlechte Menschen, gute Dinge und schlechte Dinge, Himmel und Hölle. Sie alle sind inmitten der Leere.« (Tan-ching, 24, zitiert bei Watts, 50) Diese Leere selbst ist – um es mit einem Begriff von Jullien zu sagen – »disponibel« für die unterschiedlichen einander entgegengesetzten Bestimmungen oder »Färbungen«, für Fernes und Nahes, Dauerndes und Augenblickliches,
Wird der Raum nicht als ein Raum des Leistens und Bemächtigens, sondern als Raum der Gelassenheit, des aufmerksamen Lassens und bewußten Wohnens und Wanderns gelebt, so entfalten die zwiefältigen Bestimmungen ihre prägende Kraft in der Weise, wie uns in und aus ihm die Dinge begegnen.
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Raum der Gelassenheit
Dunkles und Helles, Stilles und Tönendes, Unsichtbares und Sichtbares. Ich denke, es kommt darauf an, den offenen Raum 2 so leicht und schwebend zu nehmen, wie es unserem oftmals schwerfälligen und auf Greifbares fixierten Geist nur irgend möglich ist. Vielleicht so, wie die Atmosphäre, die sich in diesem Haiku von Issa ausdrückt: Es ist ganz still – Wolkengebirge auf dem Grund des Sees. Nach meinem Verständnis läßt sich auch der Raum, innerhalb dessen sich Brechts Gedicht Die Liebenden zuträgt, durch solche Leichtigkeit und Offenheit kennzeichnen. 3 Der Das große Einfache, das ich hier als den nichthaften Raum fasse, in dem die Zwiefalt von Gegensätzen spielt, ist auch ein Zeit-Raum, mit Heidegger gesagt: ein Zeit-Spiel-Raum. Die Ferne kann auch eine zeitliche sein, das Abwesende ein Vergangenes oder Zukünftiges, das Dunkle und Unsichtbare kann seine Eigenheit der zeitlichen Abständigkeit verdanken. 3 Die Liebenden Seht jene Kraniche in großem Bogen! Die Wolken, welche ihnen beigegeben Zogen mit ihnen schon als sie entflogen Aus einem Leben in ein anderes Leben. In gleicher Höhe und mit gleicher Eile Scheinen sie alle beide nur daneben. Daß so der Kranich mit der Wolke teile Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen Daß also keines länger hier verweile Und keines anderes sehe als das Wiegen Des andern in dem Wind, den beide spüren Die jetzt im Fluge beieinander liegen: So mag der Wind sie in das Nichts entführen. Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben So lange kann sie beide nichts berühren So lange kann man sie von jedem Ort vertreiben Wo Regen drohen oder Schüsse schallen. 2
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Raum der Gelassenheit
Kranich teilt mit der Wolke »den schönen Himmel, den sie kurz befliegen«. Sie scheinen sich nur nebeneinander zu befinden, doch sie liegen »im Fluge beieinander«. Doch ist dieses Beieinandersein kein Einander-festhalten, es hat weder Dauer noch feste Richtung noch Zweck, es genügt sich in dem schwebenden Bezug, den der nichthafte Raum ergibt. Ich nenne diesen Raum einen Raum der Gelassenheit. Mit »Gelassenheit« ist da keine subjektive Haltung oder Befindlichkeit gemeint, und doch auch noch anderes als das von Heidegger mit diesem Wort Benannte. 4 Bei ihm steht es vornehmlich als Kennzeichnung des Denkens selbst. Auch er geht jedoch im Grunde weiter: Das »Wesen des Denkens« ist, so sagt er, »in die Gelassenheit eingelassen« (Gelassenheit, 36); nur als so Eingelassenes vermag es selbst gelassen zu sein. Die Gelassenheit, so wie ich sie hier verstehe, waltet im Raum der Nichthaftigkeit und Offenheit als dessen Grundcharakter, vor und in allem sich in ihm Entfaltenden. Insofern ist sie nicht primär etwas vom Menschen Ausgehendes, vielmehr etwas »Sachhaltiges«, Welthaftes, die Weise, wie dieses und jenes, das Andere und das Eine je für sich und miteinander zu sein vermögen. Zugleich aber geschieht dieses Einander-gelassen-sein nur, indem Menschen es gelassen So unter Sonn und Monds verschiedenen Scheiben Fliegen sie hin, einander ganz verfallen. Wohin ihr? – Nirgend hin. Von wem davon? – Von allen. Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen? Seit kurzem. – Und wann werden sie sich trennen? – Bald. So scheint die Liebe Liebenden ein Halt. 4 Gelassenheit ist bei Heidegger bekanntlich nicht – wie im gewöhnlichen Verständnis – der Ausdruck für eine sich dem Streß des Alltags entgegensetzende stoische Haltung des Gleichmuts und der inneren Ruhe. Dieses Wort nennt ihm vielmehr ein durchaus aktives Verhalten, genauer die Tätigkeit des Denkens, die, in den vielfältigen Weisen des Lassens, das Begegnende sein und ankommen, von ihm selbst her geschehen zu lassen vermag.
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Zwischen sonst und jetzt (Storm)
sein lassen. Wie ja ohnehin die Welt nicht ohne den Menschen Welt ist. 5 So hat auch die Gelassenheit wesentlich diese Doppeldeutigkeit: sie ist, indem sie Gelassenheit des Raumes ist, Gelassenheit des Menschen und umgekehrt. Die Gelassenheit des Menschen gelingt, wenn sein Sein, Denken und Verhalten sich in die und auf die Gelassenheit des offenen Raumes einläßt. Das hier implizierte menschliche Lassen ist keineswegs etwas Passives, sondern ein aktives Zulassen und bewußtes Sich-einlassen auf die Sache und das, was sie zu sagen hat. Es ist ein Lassen, das ein Machen, ein Machen, das ein Lassen ist, ein Machen-Lassen, ein laissez-faire im wörtlichen Sinne. 6 Die Gelassenheit liegt, wie Heidegger sagt, »außerhalb der Unterscheidung von Aktivität und Passivität« und ist doch in höchstem Sinne als ein Tun zu verstehen. (Gelassenheit, 35) Sie ist das Zusammenspiel eines mehrfältigen und umfassenden Lassens, das weder ein bestimmendes Veranlassen noch ein uninteressiertes Geschehenlassen ist, vielmehr ein aufmerkendes und mitgehendes, gleichwohl selbsthaftes Sich-Überlassen, – an sich selbst, an das Andere und den Anderen, an die Welt.
Zwischen sonst und jetzt (Storm) Das macht, es hat die Nachtigall Die ganze Nacht gesungen. Da sind von ihrem süßen Schall, da sind in Hall und Widerhall die Rosen aufgesprungen. 5 6
Aber eben auch die Menschen nicht ohne die Welt Menschen sind. Vgl. Jullien, Philosophie des Lebens, 40.
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Zwischen sonst und jetzt (Storm)
Sie war doch sonst ein wildes Kind. Jetzt geht sie tief in Sinnen, trägt in der Hand den Sonnenhut und duldet still der Sonne Glut und weiß nicht, was beginnen. Das macht, es hat die Nachtigall Die ganze Nacht gesungen. Da sind von ihrem süßen Schall, da sind in Hall und Widerhall die Rosen aufgesprungen. Ein Gegensatz? Ja. Da ist auf der einen Seite das ausgelassene Kind, – fast schon kein Kind mehr, aber noch in ungebändigter, voller Lebensfreude, dem Tag und seinen Spielen und Freuden hingegeben, sorglos und vergnügt. Und auf der anderen Seite dieses selbe Menschenkind, doch plötzlich verändert, nachdenklich, still und in sich gekehrt: tief in Sinnen. Sie weiß nichts mit der Welt und mit sich anzufangen, denn alles scheint plötzlich anders und unvertraut. Um ein Kleines, fast um nichts/Nichts hat sich die Welt verkehrt. Fast nichts und doch ums Ganze. Das macht –. Die Betonung liegt auf dem »Das«. Es ist wie ein großer Eingangsakkord, ein jubelndes Anheben, fast ein Aufjauchzen: das macht, es hat die Nachtigall … Die ganze Strophe ist bis auf die letzte ausklingende Zeile auf den Vokal ›a‹ abgestimmt. 1 Süßer Schall, Hall und Widerhall. Das ZusammenA-a, e-a-i-a-i-a, i-a-e-a-e-u-e, a-i-o-i-e-ü-e-a-, a-i-i-a-u-i-e-a, i-o-e-au-e-u-e. Bemerkenswert dann in der zweiten Strophe die vielen, in der ersten Strophe schon angeklungenen, ›i‹.
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Steine
fallen von anhaltendem, immer wieder neu anhebendem und abebbendem Gesang und momenthaftem Aufspringen der Rosen wiederholt und unterstreicht die absichtslose Veranlassung, das aktive Sein-lassen, das zwischen dem Lied der Nachtigall und der seltsamen Veränderung, die sich mit dem sonst wilden, jetzt aber tief nachdenklichen Kind begeben hat. Da ist kaum etwas geschehen. Kaum etwas hat sich vollzogen, das den Gegensatz hätte hervorbringen können: ein Vogel hat gesungen, die Rosen haben zu blühen angefangen, vielleicht ist ein Schmetterling vorbeigegaukelt …
Steine Graurosa Steine am Meer, riesige Blöcke und kleinere, rund geschliffen durch Wasser und Sand über die Jahrzehntausende. Finistère: finis terrae, »Ende der Erde« 1 , jedenfalls der bretonischen. Die Formen muten seltsam urweltlich an, aus einer menschenfernen Welt. Ähnliche Granitblöcke sah ich u. a. im Nordwesten Sardiniens. Bretagne und Sardinien, – Gegenden mit einer in menschliche Urzeiten zurückreichenden Geschichte. Insofern sind sie eigentlich auch nicht »menschenfern«. Diese Steine weisen zurück in Zeiten, da Menschen einige von ihnen – aber welche und welche nicht? – als heilig verehrt und in ihnen fremde, das alltäglich Gewohnte übertreffende und doch auch begleitende Kräfte geschaut haben. Schon bei den Römern erhielt dieser Landstrich der Bretagne im Nordosten Frankreichs diesen Namen. Die Bretonen selbst nennen ihn »Penn ar Bed« (Anfang, Spitze oder auch Haupt der Welt)!
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Steine
In Sardinien trifft man in uralten Brunnenanlagen an vielen Stellen auf Verehrungsstätten der Erdgöttin, der Großen Mutter, teilweise mit engem Bezug auf den Sonnenlauf und seine Hoch- und Tiefpunkte. 2 Auf Nuraghen und Menhire trifft man auf Sardinien wie an anderen Stellen rund ums Mittelmeer. 3 Immer wieder begegnen dort solche heiligen, teilweise Gräbern zugehörigen größeren oder kleineren, einzelnen oder in Reihen aufgestellten Steine. Die größte Ansammlung von »Groß-Steinen« – Megalithen – findet sich mit den Alignements de Carnac in der Bretagne (4500 v. Chr.). Und natürlich wird man hier auch an die bekannte Megalithstruktur in Stonehenge in England (mindestens seit 3000 v. Chr.) denken. In Südschweden, bei Käseberga, habe ich auf einer Anhöhe über dem Meer die Ehrfurcht und Staunen hervorrufenden 57 Monolithe von Ales Stenar gesehen, die entweder als riesige in Form eines Schiffes erbaute Grabanlage, vielleicht für einen Wikingerfürsten, oder als die auf noch früheren Bauten fußende uralte Anlage eines Sonnenkalenders interpretiert werden. An die in Sardinien und in der Bretagne gesehenen Blöcke muß ich denken, als ich auf die Steine rund um die Ostsee treffe. In den vielen Parkanlagen Lettlands sieht man immer wieder abgeschliffene Felsbrocken, die heute als Gedenksteine für Persönlichkeiten und Ereignisse aus der jüngeren Geschichte dienen, deren Verehrung aber vermutlich in dunkle Vorzeiten zurückreicht. Und so empfinde ich zuweilen auch die rosa und grauen Granitblöcke, die am Strand Sieht man einen schwarzen Stier in der Ferne den Waldweg kreuzen, so kann man in ihm auch ihren männlichen Partner imaginieren. 3 In der Provinz Sassari liegt der Monte d’Accoddi, wo sich ein riesiger Steinaltar findet, der auf großen Stufen zu ersteigen ist; bis heute weiß man nicht, welche Bedeutung er in der frühen mediterranen Menschengeschichte hatte, auch wenn vermutet wird, der Kult, dem er zugehörte, stamme weit aus dem Orient. 2
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Steine
und im Wasser liegen, manchmal einsam und hoch aufragend, manchmal klein und unbedeutend, als irgendwie heilig, ehrfurchterweckend, jedenfalls dort, wo sie allein da liegen, in vielen Seen, am Strand, auf einer Wiese, im lichten Birken- oder Kiefernwald. Steine, – merkwürdigerweise sagt man, sie seien grau. Je nach Strand – ich spreche hier von den Steinen, die sich an den Rändern von »allen sieben Meeren« finden 4 – sind sie weiß oder schwarz, rot, grün, funkelnd und glitzernd, gesprenkelt, zudem voll geheimnisvoller Runen, mit Löchern und Brüchen, Spitzen und Rundungen. So wie die Meere je ihre eigene Persönlichkeit haben, so sprechen ihre Steine je eine ganz eigene, individuelle Sprache. Am Strand entlangzugehen, bedeutete für mich über Jahrzehnte hin die Versuchung, mich hundertmal zu bücken, diese oder jene Form herauszusehen, durch diese oder jene Färbung gelockt zu sein. An der ligurischen Küste sind die Steine in jeder Bucht, an jedem Strand von anderer Art. Eine bestimmte Art grauschwarzer Steine mit hellroten, grünen, gelben Flächen, Zeichnungen und Strichen, die ich wegen ihrer spezifischen Farbigkeit die mexikanischen nenne, scheint es nur, vereinzelt, an der Südseite von Deiva Marina zu geben. Und nirgendwo sonst sieht man die schwarzen und dunkelgrünen marmornen Steine mit in der Sonne glitzernden Glimmerseiten so häufig wie in Bonassola. Am südlichen Ende dieser Bucht bei der Einmündung eines Baches fand man früher (jetzt ist es dort zugebaut) rund und oval geschliffene Scheiben aus weißem Marmor. Die nordischen Länder des europäischen Kontinents sind in besonderer Weise durch die von der Eiszeit liegen geNatürlich gibt es die unterschiedlichst gefärbten und geformten Steine nicht nur im Meer, sondern auf der ganzen Erde, insbesondere in den Bergen. Am Meer sind sie durch den ewigen Wellengang zu »handlichen« Größen abgeschliffen, darum oftmals in ihrer »Individualität« faßbarer.
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Steine
lassenen Steine geprägt. Am baltischen Meer gibt es größere und kleinere rosa und rotbraune, graugesprenkelte und tiefschwarze und leuchtend weiße. Manchmal ist eine Bucht wie übersät von ihnen, als wären sie mutwillig ins Wasser geworfen; an anderen Stränden sind sie zu unglaublich feinem Sand zermahlen. Steine begegnen auch als Grab-Steine. Ein Grab am Fjord, ein Kreuz am goldenen Tore, ein Stein im Wald und zwei an einem See –: ein ganzes Lied, ein Ruf im Chore: »Die Himmel wechseln ihre Sterne – geh!« 5 Daß man die Gräber mit naturbelassenen Steinen kennzeichnet oder auszeichnet, geht auf alte Zeiten zurück und geschieht noch heute. Auf den Gräbern meiner Eltern und Großeltern – in den ehrwürdigen, parkähnlichen »Ruhestätten« Melaten in Köln und Ohlsdorf in Hamburg – liegen jeweils unbehauene Findlinge. In Schweden, wo in manchen Gegenden die aufgerichteten Gräbersteine der Wikinger und früherer Geschlechter fast allgegenwärtig sind, werden oder wurden sie zuweilen auf den heutigen Friedhöfen wiederverwandt. Zumeist aber sind die Grab-Steine bearbeitet, mehr oder weniger künstlerisch oder sentimental, mit mehr oder weniger Phantasie oder Traditionsbewußtsein. Der Friedhof von Staglieno in Genua ist berühmt wegen seiner wunderbar ergreifenden, teils kitschigen, ausdrucksstarken, teils pompösen und monumentalen Grabskulpturen, oft aus ursprünglich glänzend weißem, heute verstaubtem Carrara-Marmor. Verwitterte Steine auf vergessenen – oder zuweilen um Kirchen herum stehen- bzw. liegengelassenen – Gräbern von ehemaligen Friedhöfen sprechen ihre eigene Sprache. Es ist 5
Gottfried Benn, Epilog 1949, 3.
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Einige Gedanken zu Anfang und Ende
seltsam anrührend, wenn man unter hohen dunklen Bäumen unvermutet auf halbverwitterte, im Gras verborgene Grabsteine stößt. Oder wenn, wie in Lee’s Ferry in Arizona, am Fuße der Vermilion Cliffs, der Grabstein auf einem kleinen, kaum zehn Gräber beherbergenden Friedhof die erschütternde Geschichte einer Siedlerfamilie verrät, von der vier Kinder im Alter von sechs bis sechzehn Jahren in knapp sieben Wochen offenbar einer Krankheit zum Opfer fielen. Auf jüdischen Friedhöfen gibt es bekanntlich die schöne Tradition, daß der Trauernde wie auch der lediglich Vorbeikommende einen kleinen Stein aufs Grab legt. Die Gedenkstätten an die deutsche Judenermordung in Jerusalem und in Berlin und an anderen Orten sind oftmals Variationen des Themas »Stein und Tod«. Den Toten im alten Griechenland, die von Charon über den die Erde umfließenden Strom gebracht werden mußten, wurde ein Stein zum Zeichen des Todesvergessens unter die Zunge gelegt.
Einige Gedanken zu Anfang und Ende Anfang und Ende – die gegensätzlichen Enden einer Bewegung, eines Prozesses, einer Entwicklung. Zuweilen sind sie ganz nah beieinander, kaum angefangen scheint der Weg schon beendet; zuweilen scheint eine unendliche Spanne zwischen ihnen zu liegen, am Anfang mag einem der Gedanke an ein Ende fast absurd vorkommen. Auch wenn im glückseligen Anfang, z. B. einer Beziehung, ein Ende noch unvorstellbar ist, trägt er doch den Keim eines wie immer gearteten – und sei es auch natürlichen, durch den Tod gesetzten – Endes in sich. Im Ende mag nur noch Zerstörung, Ver-enden, Scheitern als Fakt erscheinen, und doch geht da etwas zuende, was 31 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
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einmal ganz anders angefangen hat und in dem jener Anfang, wie verborgen auch immer, als vergangener aufgehoben bleibt. Es gibt keinen Anfang, ohne daß ihm, frei mit Hermann Hesse, ein Abschied innewohnte, und es gibt kein Ende, in dem nicht ein zuvor Angefangenes zu seinem Ende kommt. 1 Alles kommt und geht. Was in diesem Augenblick da ist, kann im kommenden vergangen sein. Zu seiner Wirklichkeit wie zu seiner Wahrnehmung gehört, daß es zeitliche Grenzen hat; sein Anfang und sein Ende, so unbestimmt sie im einzelnen sein mögen, sind seinem jeweiligen Dasein inhärent. Sein Anfang, seine Geburt, sein Hergestelltwerden bestimmen sich von dem her, was mit ihnen anfängt, was aus ihnen wird. Zwar mag etwas zufällig entstehen, einfach so beginnen, aber indem de facto dann etwas Bestimmtes begonnen hat, hat der Beginn seinen Sinn oder seine Bedeutung von eben dem her, was da entsteht. So mag auch das Ende von etwas unvermittelt und unversehens, vielleicht gewaltsam geschehen, es kann scheinbar einfach aufhören; und doch lag die Möglichkeit, zum Ende zu kommen – hier und heute und auf diese Weise – auch in ihm selbst, selbst wenn sich das erst im nachhinein zeigt. Anfang und Ende sind zusammen- und auseinandergehalten durch die Entwicklung, die sich zwischen ihnen vollzieht. Sie sind nur, weil es die Bewegung gibt; was anhebt und was endet, ist die Bewegung selbst. In dieser Perspektive ist die »Mitte« das Eigentliche und Vorgängliche, Anfang und Ende sind lediglich die beiden »Enden« oder Grenzen. Auf der anderen Seite haben sie aber eben doch ihren ganz Vgl. zum Ineinanderverschränktsein von Anfang und Ende: Wer sich als Quelle ergießt, den erkennt die Erkennung; und sie fuhrt ihn entzückt durch das heiter Geschaffne, das mit Anfang oft schließt und mit Ende beginnt. (Rilke, Die Sonette an Orpheus)
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eigenen Gehalt und ihre reale – und spekulative – Bedeutung für die sich zwischen ihnen erstreckende Bewegung. Und ihr Geheimnis. Das Geheimnis des Anfangs zeigt sich in der Spannung von Schon und Noch nicht. Versucht man den Anfang als Anfang zu denken, so verliert man sich leicht im Rätsel dieser Spannung. Wenn etwas anfängt, so fängt es eben erst an, ist also noch nicht, sonst würde es nicht erst anfangen. Doch solange es einfach nicht ist, fängt es auch nicht an. Was anfängt, ist eben dieses, was da anfängt, also auch schon irgendwie da ist. Im Anheben geschieht der in sich nicht fixierbare Moment des Zugleich von Noch nicht und Schon. Scheinbar gelöst wird die Spannung, indem sich oftmals dem näheren Zusehen zeigt, daß in der Tat dem Anfangen schon etwas, nur etwas im Grunde anderes voraufgeht, das nämlich, woraus oder wodurch das, was anfängt, anfängt: der oder das Anfangende. Ex nihilo nihil fit, aus Nichts wird Nichts, fängt also auch nichts an. Das führt zum Rückgang auf den Bewerksteller oder Schöpfer, die genitori oder sonstige Verursacher. Hegel hat, de facto den traditionellen Gedanken der causa sui fortführend, in seinem absoluten System einen absoluten Anfang, also einen Anfang ohne Anfangenden, zu denken versucht. Das Anfangen dieses Anfangs kann für ihn nur in der Weise geschehen, daß dasjenige, was da anfangen soll oder will, mit sich selbst anfängt, den Anfang aus sich heraus und sich voraus setzt, also durch einen selbsttätigen Vorgriff auf die Bewegung eines Werdens zu sich. Die Gesamtbewegung wird somit als ein Zugleich von Vorwärtsgehen und Rückwärtsgehen, genauer als Gründen und Begründen gesehen. 2 Sehen wir ab einerseits von dem dem »eigentlichen Anfangen« vorausgehenden Bestehen eines Anfangen-machens 2
Vgl. ausführlich v. Verf., Werden zu sich.
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und andererseits von Hegels genialer spekulativer Lösung des Problems, das ja auch »nur« den notwendig absoluten Anfang des Absoluten betrifft, so bleibt das Rätsel des Anfangs. Es ist ein wenig wie mit dem Einschlafen: wenn man es als solches, in seinem realen Geschehen ins Auge zu fassen sucht, entzieht es sich bzw. geschieht nicht. Vom Anfang selbst her gesehen, gibt es kein Vorher, kein Noch nicht. Unseren eigenen Anfang, unsere Geburt, können wir nicht fassen. Was waren wir, bevor wir auf die Welt kamen, bevor wir gezeugt und empfangen wurden, bevor wir »das Licht der Welt erblickt« haben? Das Faktum der Geburt, 3 Hannah Arendt spricht von der Gebürtlichkeit oder Natalität – Gegenbegriffe zu Sterblichkeit und Mortalität –, ist unausdenkbar, schicksalhaft wie kaum ein anderes. 4 Zwar nicht den Tod, aber doch das Sterben können wir in vielen Fällen zumindest teilweise selbst »erleben«, die Geburt nie. 5 Und darin liegt ein Zweifaches, eng Zusammengehöriges: zum einen ist und bleibt der Vorgang des In-die-Erscheinung-kommens als solcher ein Geheimnis; wir tragen dies Geheimnis zeitlebens in uns: wir sind da und wissen nicht, wie. Zum anderen besagt das zugleich, daß wir aus dem Nichts kommen, wie wir ins Nichts Es ist bedenkenswert, daß nicht nur dem Alltagsbewußtsein, sondern auch der Philosophie das Faktum des zukünftigen Sterbenmüssens so viel bedeutsamer erscheint als das des gewesenen Geborenseins. Sloterdijks Diagnose einer »Geburtsblindheit« der abendländischen Philosophie ist zweifellos zuzustimmen. 4 Ich finde es fragwürdig, die »erste Geburt« als Ausgangspunkt für die »zweite Geburt«, die in der Übernahme der Verantwortung im Handeln geschieht, anzusehen, wie Hannah Arendt es tut. Der Unterschied zwischen Vorhandensein und Nichtvorhandensein von Wille und Planung und aktivem Anfang scheint mir einer ums Ganze zu sein. Die These, daß in der Geburtlichkeit des Menschen seine Möglichkeit und Tendenz zum Handeln vorgezeichnet ist, scheint mir nicht überzeugend. 5 Die These, in der Atemtherapie des »Rebirthing« werde die eigene Geburt wiedererlebt, lasse ich dahingestellt. 3
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gehen, wir sind und wir bleiben grundlos. Es liegt seit langem nahe, das menschliche Suchen nach den Gründen und nach einem bleibenden Einen letztlich auf die Erfahrung der Sterblichkeit zurückzuführen. Aber vielleicht war und ist es ebensosehr die meist unbewußte Erfahrung des Geborenseins, die die Menschen nach etwas fragen und auf etwas hoffen läßt, das immer schon war, »von Ewigkeit zu Ewigkeit«. Mit der »Geburt« oder dem »Schicksal der Geburt« bezeichnen wir oft die Tatsache, daß wir, jeder für sich, bereits so auf die Welt gekommen sind, wie wir nun einmal sind bzw. wozu wir uns im Laufe unseres Lebens entwickeln. 6 In vielen alten Volksweisheiten sind es Göttinnen oder göttliche Mächte – z. B. die Moiren, die Parzen, die Nornen –, die jedem Menschen sein Schicksal bestimmen. 7 Auch hier also der Versuch, ein Etwas, ein anonymes oder als göttlich identifiziertes Geschick verantwortlich zu machen, dem Anfang die Kraft eines Bestimmens, eines Grundes zu verleihen. Wie du anfingst, wirst du bleiben, So viel auch wirket die Not, Und die Zucht, das meiste nämlich Vermag die Geburt, Und der Lichtstrahl, der Dem Neugebornen begegnet. 8
Die oftmals sehr ideologisch ausgetragene Diskussion, welchen Anteil an der Entwicklung der Person die Anlagen, also die »Geburt«, welchen die Erziehung und die Umstände haben, kann hier beiseite bleiben. Der gegenwärtige Stand der Forschung betont die Bedeutung der »Gene«, der »Geburt«. Im übrigen können aber auch die »Umstände« im Sinne des jeweiligen Schicksals der »Geburt« zugerechnet werden. 7 Dem Dornröschen bringen die Feen zur Geburt die guten Gaben, die sein Leben bestimmen sollen. Nur die eine verheißt das Unglück, von dem das Märchen dann erzählt. 8 Hölderlin, Der Rhein. 6
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Unser Leben ist voller Anfänge. Das ist so sehr eine Selbstverständlichkeit, daß wir sie kaum beachten. Täglich und stündlich setzen wir Bewegungen in Gang, oftmals auch da, wo wir nur der Gewohnheit zu folgen scheinen. Alles Tun und Handeln kann als ein Anfangen, als ein In-Bewegungbringen verstanden werden. Ab und an gibt es dann die ausdrücklicheren, entscheidenderen Anfänge: wir beginnen eine Beziehung, ein Studium, eine Reise, eine neue Lebensphase, wir setzen einen lange gehegten Plan in Wirklichkeit um. Wenn wir etwas mit etwas anfangen, lassen wir uns bei unserem Tun von ihm begleiten oder helfen, nehmen wir etwas mit in unser Tun auf, was sich uns als passend und unserem Tun angemessen in den Weg stellt. »Damit kann ich nichts anfangen«, heißt umgekehrt, es ist mir fremd, hat nichts mit dem zu tun, was ich vorhabe und anfangen will. Das Geheimnis des Endes ist zwar einerseits von ganz anderer Art als das des Anfangs. Doch andererseits versuchen die Menschen auch hier zu allen Zeiten, dem Geheimnishaften, Nichtwißbaren eine Bestimmung zu unterlegen. »Ende« heißt auf griechisch telos. Wer in abendländischer Philosophie zu Hause ist, den mutet es seltsam an, wenn er auf den Schildern von Straßenbauarbeiten in Griechenland arche und telos liest, was eben nur Anfang und Ende heißt. Das Telos ist, philosophisch gehört, nicht einfach das geschehende Ende einer Bewegung, eines Prozesses, sondern es ist das, worauf die Bewegung hinaus will, was diese darum von Anfang an bestimmt, gewissermaßen zu sich hinzieht. Die Ziele und Zwecke, die ein Handelnder sich setzt, sind vorwegnehmende Bezüge auf ein Ende, das in dieser oder jener Weise bestimmt werden soll, dadurch aber selbst bestimmend ist für das Handeln. Weder auf das Phänomen der Teleologie noch auch auf das des sicheren Endes in der Vergänglichkeit der Dinge einerseits und der Sterblichkeit des Menschen andererseits will 36 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
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ich näher eingehen. Beide bedürften ausführlicher Abhandlungen. Was ich aber kurz berühren möchte, ist die Frage, ob es ein dem spekulativen Paradox des Anfangens paralleles Phänomen beim Enden gibt. Merkwürdigerweise kenne ich keinen Satz, der etwa warnen würde: in nihilum nihil it. Der Übergang in Nichts, das Vergehen, scheint zunächst unproblematischer zu sein als das Kommen aus Nichts. Ein Ton verklingt, hört auf da zu sein. Oftmals haben wir den Eindruck, den Moment nicht genau fassen zu können, zu dem die Sonne hinter dem Horizont versinkt, eine Melodie nicht mehr hörbar ist, ein Gefühl erlischt. Das Verhältnis von Noch und Nicht mehr erscheint so als gewissermaßen weniger dramatisch als das von Noch nicht und Schon. Aber andererseits gehen Menschen doch in vielfacher Weise von einer wie auch immer gearteten Un-vergänglichkeit des Bestehenden aus. Pflanzen und Tiere kehren in ihrem Verenden in den natürlichen Kreislauf von Entstehen und Vergehen zurück – earth to earth, ashes to ashes. Es geht keine Energie verloren, sagt ein Erhaltungsgesetz. Und so übersteigt es auch das Vorstellungsvermögen vieler Menschen, daß mit ihrem Tode alles zu Ende sein sollte. Ob man an ein Weiterleben in den Kindern oder in den Werken glaubt, an ein »ewiges Leben nach dem Tod« im religiösen Sinne, an eine Seelenwanderung oder an was auch sonst, immer ist da das Begehren im Spiel, daß der Tod kein absolutes Ende bedeuten möge. 9 Das Geheimnis des Endes scheint schwer auszuhalten zu sein.
Unter www.ewigesleben.de findet sich im Internet die zusichernde Aufforderung: »Leben Sie ewig in der virtuellen Realität des Internet!«
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Leben und Tod: Kleobis und Biton Diese beiden Kouroi 1 sind zwar nicht gleich, aber sie gehören zueinander, sind als Brüder gekennzeichnet. Statt des »archaischen Lächelns«, das wir von vielen verwandten Statuen kennen, zeigen ihre Züge volle, athletische Kraft, sie stehen wie in freudiger Erwartung eines neuen Wettkampfes, einer körperlichen Herausforderung. Und doch ist das Glück, das sie erwartet, der Tod. Kleobis und Biton waren die beiden starken und in Kampfspielen preisgekrönten Söhne einer Hera-Priesterin in der Argolis. Einmal, als die Ochsen noch auf dem Feld waren, spannten sie sich selbst vor den Wagen der Mutter, um sie rechtzeitig zum Opferfest in den Tempel zu ziehen, wo sie sich, müde von der Anstrengung, niederlegten und einschliefen. Voller Stolz und Dankbarkeit bat die Priesterin die Göttin, ihren Söhnen das Schönste zu gewähren, was es für Menschen gebe. Kleobis und Biton glitten im Schlaf in den Tod hinüber. 2
Jünglingsstatuen der griechischen Archaik, gewöhnlich Votivgaben oder auf Gräbern aufgestellt. 2 Herodot, der wiedergibt, wie Solon dem Kroisos diese Geschichte erzählt, sagt: »die Gottheit gab damit zu verstehen, daß es dem Menschen besser sei zu sterben als zu leben.« 1
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Bild contra Begriff I Für ein Denken, das sich im Gegensatz zu den allgemeinen Begründungstheorien der abendländischen Metaphysik sieht, wird vor aller näheren Bestimmung seiner Inhalte die Frage nach ihm selbst als Denken zu einer Kernfrage. Eine besondere Bedeutung gewinnt dabei das Verhältnis von Begriff und Bild, weil der Begriff, die ratio, Medium, Methode und Gegenstand des traditionellen Denkens darstellte, während das »ir-rationale« Bild den Künsten und, in der Konfrontation mit der Philosophie, insbesondere der Dichtung zugeschrieben wurde. Selbst Heidegger sagt noch, fast resignativ: »Das Sagen des Denkens ist im Unterschied zum Wort der Dichtung bildlos. Und wo ein Bild zu sein scheint, ist es weder das Gedichtete einer Dichtung noch das Anschauliche eines ›Sinnes‹, sondern nur der Notanker der gewagten, aber nicht geglückten Bildlosigkeit.« (Winke, 33) 1 Die abendländische Philosophie hat seit ihren Anfängen nach dem Einen und Bleibenden in allem Veränderlichen und Vergänglichen, nach den Gründen und den bestimmenden Strukturmomenten von allem gefragt. Angesichts der Sterblichkeit des Menschen und der Endlichkeit alles ihn Umgebenden suchte sie nach einer Wahrheit, die an ihr selbst wahr und vernünftig und für alle Denkenden verbindlich – unendlich und unsterblich – sein sollte. Das Medium dieses Denkens war der logos, der Begriff, der das Allgemeine und Wesenhafte seiner Gegenstände und damit die Wahrheit erkennt. Dem allgemeinen Wesen zuliebe sieht der Begriff ab – ab-strahiert – von den Zufälligkeiten und spezifischen Aber er sagt andererseits auch, daß »das denkende Sagen nicht bildlos, sondern in seiner Weise bildhaft« sei. (Heraklit, 302) Und de facto kann sein späteres Denken teilweise als »bildhaft« bezeichnet werden.
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Bild contra Begriff I
Eigenheiten, die dem zu Erkennenden dann und wann, hier oder dort zukommen mögen. Er will vielmehr das dem Vielfältigen Gemeinsame und es allgemein Kennzeichnende herausstellen. Der Begriff des Lebendigen z. B. grenzt dieses ab gegenüber dem Leblosen und zeigt die wesentlichen Bestimmungen des Lebens auf; er interessiert sich nicht für ein spezifisches Raubtier, das an den Gitterstäben seines Käfigs hinund herstreicht. Demgegenüber malt das Wort der Dichtung jeweils ein Besonderes. Rilkes Gedicht von dem Panther, dessen Blick »vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden [ist], daß er nichts mehr hält«, läßt sich, anders als das begreifende Erkennen, auf die unmittelbare Erfahrung ein. Die Begriffe im strengen, traditionellen Sinne lassen uns, im Gegensatz zu Bildern, nichts sehen. Der Begriff des Panthers, wie er in einem zoologischen Lehrbuch vorkommt, läßt, solange er nur Begriff ist, keinen Panther sehen; noch viel weniger sehen wir etwas in dem ontologischen Begriff »Substanz«. Begriffe an ihnen selbst evozieren auch keine andere sinnliche Empfindung, keinen Geruch, keine Tastempfindung. 2 Auch kein Gefühl, keine Begeisterung oder Abneigung. Wo sie das gleichwohl zu tun scheinen, wird ihr Begriffscharakter gerade überstiegen. 3 Das Vermögen des Begriffs ist der Verstand und nur der Verstand. Phantasie, Gefühl, Interesse, Bedürfnis oder Wille Allerdings können uns Begriffe auf andere Wahrnehmungsweisen verweisen, wenn sie uns an früher gemachte Erfahrungen erinnern. 3 Auch daß von Aristoteles bis zu Hegel immer wieder betont wurde, wie wichtig für die Philosophie die Muße ist, das Freisein von Alltagsverpflichtungen und -geschäften, bezeugt die ihr und d. h. ihrer Begrifflichkeit traditionell zugesprochene Ferne gegenüber Sinnlichkeit und Praxis. Vgl. auch die Bemerkung Hegels am Ende der zweiten Vorrede zur Wissenschaft der Logik, wo er den Zweifel äußert, »ob der laute Lärm des Tages und die betäubende Geschwätzigkeit der Einbildung, die auf denselben sich zu beschränken eitel ist, noch Raum für die Teilname an der leidenschaftslosen Stille der nur denkenden Erkenntnis offen lassen.« (Logik I, 22) 2
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Bild contra Begriff I
sollten so weit wie möglich ausgeschaltet werden, damit ein rein begriffliches Denken gelingt. Genau das macht die Größe des rationalen, rechnenden und begründenden Denkens aus, daß es auf Grund seiner asketischen »Reinheit« allgemeingültig und wahrheitsfähig ist. Es konzentriert sich auf das, was an seinem Gegenstand oder Thema das Typische, Bleibende, das Gesetzmäßige und Wesenhafte ist. Eine vergleichbare Allgemeingültigkeit und Wahrheitsfähigkeit, die der abendländischen Philosophie seit Parmenides unabdingbar zu sein schienen, geht dem Bild und dem bildhaften Denken ab. Was ich hier mit »bildhaft« und »Bild« meine, ist nicht das Gebilde eines bildenden Künstlers, sondern zum einen der bestimmte Anblick, den eine Sache dem sehenden Vernehmen bietet, zum anderen die Ansicht, die dieses Vernehmen gewinnt, wenn es einen Blick auf die Sache wirft, also das Bild, das es sich von ihr macht. Das Bild ist sowohl das, was sich von der Sache her dem Sehen und Fühlen und Denken darbietet, wie zugleich das, was in diesem Sehen durch Sinnlichkeit, Verstehen und Einbildungskraft entsteht. Das Bild hat immer etwas mit dem Sehen und dem Sichtbarmachen zu tun. Doch bei den gedanklichen und sprachlichen Bildern, um die es hier geht, bedeutet »Sehen« nicht nur das rein physiologische Phänomen. Der menschliche Geist hat die Fähigkeit, sich Bilder vor das sogenannte innere oder geistige Auge zu rufen. In diesen Bildern bringen wir etwas zu einer unmittelbaren Gegenwart, ohne daß es leibhaftig anwesend wäre. Ein solches Vor-uns-haben kann sogar auch dadurch hervorgerufen werden, daß wir etwas Bestimmtes hören oder auch riechen oder tasten. Es handelt sich dann um Erinnerungsbilder, die sich früher einmal mit bestimmten sinnlichen Eindrücken verbunden haben; sie werden wieder lebendig, wenn wir Worte aussprechen oder hören, die diese Bilder evozieren. 42 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
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Die Rede vom »inneren Auge« besagt nicht, daß sich das Gesehene irgendwo »in« uns befände; vielmehr sind wir, indem wir ihr Bild vor uns sehen, bei der Sache selbst. 4 Indem wir uns ein Bild von ihr machen, können wir, Raum und Zeit durchgreifend, bei ihr sein, die Re-präsentation ist eine wörtlich verstandene Ap-präsentation, eine Annäherung an die Sache. So ist das Bild, wenn wir es nicht als bloßes Abbild, gleichsam als Abziehbild der Sache in unserem Bewußtsein mißverstehen, eine Weise, wie die Sache anwesend zu sein vermag, wenn sie real abwesend ist. Im Gegensatz zum Begriff, der abstrakt, allgemein, objektiv, raum- und zeitunabhängig, begrenzt, bestimmt und eindeutig ist, bezieht sich das Bild auf Konkretes, Unmittelbares und Dieshaftes, Einzelnes. Trotz dieses direkten Bezugs kann es offen und vieldeutig, insofern unbestimmt bleiben. Es verweist auch auf anderes, auf seine Umgebung, seine Verhältnisse zu anderem. Während der Begriff den Anspruch erhebt, zu erkennen, was etwas ist, will das Bild sichtbar machen, wie es ist und sich verhält. Seine Offenheit bedeutet auch, daß es rätselhaft und geheimnisvoll sein kann, ohne deswegen vage zu sein, gerade weil es die jeweilige Sache nicht in eine Zugänglichkeit zwingt, ihr vielmehr die Freiheit läßt, ihr Unsichtbares jeweils so oder anders oder gar nicht zu zeigen, es z. B. im Unsichtbaren zu belassen, indem es sich im Bild geradezu verHeidegger hat diesen Unterschied wiederholt betont, vgl. z. B. Bauen Wohnen Denken, 157: »Wir stellen die fernen Dinge nicht bloß – wie man lehrt – innerlich vor, so daß als Ersatz für die fernen Dinge in unserem Innern und im Kopf nur Vorstellungen von ihnen ablaufen. Wenn wir jetzt – wir alle – von hier aus an die alte Brücke in Heidelberg denken, dann ist das Hindenken zu jenem Ort kein bloßes Erlebnis in den hier anwesenden Personen, vielmehr gehört es zum Wesen unseres Denkens an die genannte Brücke, daß dieses Denken in sich die Ferne zu diesem Ort durchsteht. Wir sind von hier aus bei der Brücke dort und nicht etwa bei einem Vorstellungsinhalt in unserem Bewußtsein.«
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birgt. Das Rätselhaftbleiben des Bildes bedeutet dann keine bedauerliche Grenze unseres Auffassungs- oder Ausdrucksvermögens, sondern bezeugt, daß das Verhältnis zwischen Mensch und Welt ein vielschichtiges und mehrdeutiges ist. Zu der genannten Offenheit gehört auch, daß die Sache an keine spezifischen Bilder gebunden ist, daß sie also nicht nur in den jeweils gewählten Bildern sagbar ist; diese nennen sie nur auch, sie kann ebenso in anderen, analogen Bildern sichtbar werden. Während Begriffe den Anspruch erheben, die Sache selbst in dem, was sie wahrhaft ist, identisch zum Ausdruck zu bringen, können Bilder oftmals durch andere ersetzt werden. Bilder re-präsentieren die Sache, lassen sie in einem sinnlichen Medium sichtbar werden, sozusagen in einem Anderen wiedererstehen. Darum können nur Begriffe wahr sein, während Bilder dagegen stimmen, treffend sind. Mit einem bildhaften Denken oder einem Sprechen in Bildern meine ich also in erster Linie ein Sprechen, das seine Gegenstände nicht in allgemeine Begriffe aufhebt, sondern für das die Bilder selbst, in ihrer sinnlich-unsinnlichen Jeweiligkeit, in ihrer Weise zu sein, zu Wort und ins Spiel kommen. Die sinnlich-sinnhafte Situation des Bildes steht nicht für etwas anderes, sondern gehört als der bildhafte Ausdruck eines zu Sagenden selbst in den Ablauf des Thematisierten. Weil dieses ein Geschehen, ein Verhältnis, eine Konstellation – und nichts substanzhaft Bleibendes – ist, fügt es sich der bildhaften oder erzählenden Darstellung.
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Unterwegs im amerikanischen Südwesten (Winter 2011/12) Ich bin unterwegs. Unterwegs – also auf Wegen, eigentlich unter, zwischen Wegen: auf verschiedenen Wegen. Nicht auf einem, einem bestimmten Weg, sondern irgendwo des Wegs im Südwesten Nordamerikas. 1 Manchmal sogar, in der Wüste, auf Gängen zu Fuß ohne Weg und Steg. Unterwegs. Nicht zuhause, vorübergehend nicht seßhaft, an keinen Ort gebunden. Nicht nur nicht-zuhause, sondern auch sonst an keinem festen Ort, – in Bewegung durch ein weites Land. Zuweilen scheint mir, ich könnte einfach sagen: ich gehe oder fahre über die Erde, unter dem Himmel. 2 Unterwegssein, das heißt nicht nur überhaupt In-Bewegung-sein, vielmehr auch in Bewegung zwischen Orten, selbst wo die sich erst wie von alleine aus der Fortbewegung ergeben; nicht mehr da und noch nicht dort, und doch zugleich immer auch irgendwo. Insofern dann doch an – wechselnden – Orten, hier oder dort oder anderswo. Der Raum des Unterwegsseins hat den Charakter eines vielfältigen Zwischen, mag auch noch so unbestimmt sein, wozwischen. Bei diesem Unterwegssein ist das Zwischen nicht eingegrenzt zwischen einem Wovonher als bestimmendem, bewirkendem Anfang (arche, Grund) und dem begründenden telos als Ziel und Woraufhin. Vielmehr ist es ein Dazwischen, das seine einander entgegengesetzten »Enden« gewissermaßen in sich einbehält, so daß sie erst aus dem »Ganzen« heraus, aus eben Und zwar mit dem eigenen Auto und dem Autozelt. Wenn ich etwas niederschreibe, so geschieht dies nicht in der Weise einer Reisebeschreibung, ohnehin nicht geordnet vom Beginn zum Ende. Vielmehr gleichsam nomadisch, wie dieses Fahren selbst hin- und herziehend, vorübergehend und verweilend, – und doch in einem verbindenden Raum, dem Raum eines Nachdenkens.
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Unterwegs im amerikanischen Südwesten (Winter 2011/12)
dem, was zwischen ihnen sich ergibt, ihren Sinn und ihre vielleicht vorübergehende Relevanz bekommen. Heidegger sagte einmal, wir seien ungewohnt darin, die Glieder einer Beziehung aus dieser selbst zu denken. 3 Das Unterwegssein als Zwischenzeit und Zwischenraum ist wohl so eine Beziehung; sie spannt sich nicht erst zwischen ihren vorgegebenen Grenzen, zwischen Anfang und Ende des Weges aus, sondern sie ent-faltet diese allererst aus sich heraus und macht sie so erst zu dem, was sie sind, zu Anfang und Ende. Nicht mehr da und noch nicht dort. Da und dort, nicht da und nicht dort, jetzt und dann, nicht mehr und noch nicht: räumliche und zeitliche Orientierung. Unterwegssein, das heißt in Bewegung sein zwischen Räumen oder Gegenden oder Orten und durch Räume sowie Bewegung durch Zeiten und auch zwischen Zeiten. Die Tage, Wochen und Monate dieses Unterwegsseins unterscheiden sich von den meisten sonstigen Reisen, die eine bestimmte Zeit zwischen ihrem Anfang und ihrem Ende, zwischen Abfahrt und Ankunft durchmessen. Solche Reisen werden gewöhnlich zu einem bestimmten Zweck geplant und begonnen; irgendwann kommen sie zu ihrem vorgesehenen oder auch jäh eintretenden Ende. Geschäftsreise, Urlaubsreise, Besuchsreise, Bildungsreise haben jeweils den Charakter einer umgrenzten Zwischenzeit, eines aus dem sonstigen Lebensablauf herausgegliederten Zeitraums, Anfang und Ende sind für sie konstitutiv. Natürlich hat auch diese Reise Anfang und Ende. Ich habe sie geplant. 4 Doch ich versuche, dieses Unterwegssein gleichwohl von anderer Art sein zu lassen, ein seine Enden Unterwegs zur Sprache, 188. Und zwar mit einiger Mühe, weil die Verschiffung des Autos mit dem Dachzelt und der Flug zu besorgen und zeitlich zu koordinieren und später dann auch für die Heimfahrt zu organisieren sind. Es ist das siebte Mal seit meiner »Entpflichtung« im Jahr 2000, daß ich mich durch die und in den Wüsten und
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Unterwegs im amerikanischen Südwesten (Winter 2011/12)
in sich einbehaltendes Dazwischen, eine Zeitspanne, die für sich selbst abläuft und – im Sinne der von Heidegger zitierten Rose von Angelus Silesius, die blühet, weil (nämlich während) sie blühet – währt, solange sie währt. 5 Unterwegs zu sein heißt eben nicht nur, sich auf den Weg zu einem bestimmten Ziel zu machen. Darum trifft Benns Zeile in dem Gedicht Reisen: »ach, vergeblich das Fahren, spät erst erfahren Sie sich« hier nicht 6 ; denn es geht ohnehin nicht so sehr, wie es dagegen im »vergeblich« anklingt, um bestimmte phantasierte und ersehnte Ziele, etwa die Erfahrung von »Höherem« und Erfüllterem, vielmehr um die Erfahrung des Weilens in der Bewegung selbst. Dieser Bewegung ist das Bleiben nicht entgegengesetzt. »Bleiben und Stille bewahren« – das ist gerade in diesem Unterwegssein selbst angesagt. Vielleicht ebensosehr ein Sichentgrenzen wie ein Sich-umgrenzen. Ein Bleiben im Gehen und ein Gehen im Bleiben. Ein Wandern, das im Wandern wohnt, ein Wohnen, das das Wohnen durchwandert. 7 Insofern ist dieses Reisen auch keine aus dem »üblichen« Leben herausgenommene Zwischenperiode, sondern eine Weise, dieses übliche Leben selbst weiter zu führen und sich entwikkeln zu lassen. So ist es höchstens ein besonderer Akzent, eine Apotheose, ein Ausrufezeichen des Lebens-Laufs. Und doch bleibt dieses Unterwegssein eben auch eine Zeit zwischen Enden, zwischen Anfang und Ende, immer Weiten des nordamerikanischen Westens bewege. Immer mehrere Monate, – um wirklich im Unterwegssein selbst anzukommen und da zu sein. 5 Heidegger, Der Satz vom Grund, 68 ff. Vgl. Montaigne, zitiert und erläutert von F. Jullien, Über die »Zeit«, 167 ff.: »Wenn ich tanze, tanze ich; wenn ich schlafe, schlafe ich …« Wenn ich unterwegs bin, bin ich unterwegs. 6 ach, vergeblich das Fahren! Spät erst erfahren Sie sich: bleiben und stille bewahren das sich umgrenzende Ich. 7 Vgl. v. Verf., Wohnen und Wandern, Berlin 1999.
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Die »Mitte« oder das »Dritte« der Gegensätzlichen: das Zwischen
wieder zwischen Morgen und Abend, Tag und Nacht, zwischen Herbst und Frühling durch den Winter; im Zeit-Raum der Erfahrungen, zwischen Erwartungen und Erinnerungen, sowohl an frühere Reisen wie an Momente aus dem ganzen, mitgeführten bisherigen Leben. Eine Zeit zwischen Jüngersein und Älterwerden und auch zwischen Abreise, Losfahren vom Hafen und Zurückkommen zu ihm. Und ein Unterwegs durch den Raum zwischen Golf und Pazifik, zwischen Wasser und Wüste, Ebenen und Bergen, bewohnteren und unbewohnten Gegenden. Auf Highways und Freeways, auf Countryroads und Farmroads, auf geteerten und zuweilen auch ungeteerten, sandigen oder steinigen Straßen. Unterwegs, und doch immer auch wieder an bestimmten Orten und Plätzen. Einen Tag noch am Strand, zwei Tage später in menschenleerer Wüste. Einen Tag zwischen kahlen Bergen und fahlem Gebüsch, am nächsten Tag am riesigen Salzsee mit seinen Abertausenden von Wasservögeln und ihrem wilden Geschrei und Gekreische. Ein Tag mit schweren Wolken und frischem Schnee auf den Bergen jenseits des Sees, am nächsten Tag ein Himmel von mediterranem Blau, eine unerwartete Palmenoase. Fast immer ziemlich kalt in der Nacht und vor allem am Morgen, zuweilen unerwartet heiß am Tag.
Die »Mitte« oder das »Dritte« der Gegensätzlichen: das Zwischen Wenn es in diesen Aufzeichnungen um Erfahrungen von Gegensätzlichkeit und Entsprechung geht, so kommt mit der letzteren wesentlich das in den Blick, was sich zwischen den gegensätzlichen und einander entsprechenden »Seiten« eines 48 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
Die »Mitte« oder das »Dritte« der Gegensätzlichen: das Zwischen
Gegensatzes ausspannt, was sie als ein Gemeinsames sowohl verbindet wie auseinanderhält. Genauer zeichne ich also Erfahrungen auf zwischen Gegensätzen, Erfahrungen von Gegensätzen und ihrem Zwischen. Das Eigentümliche des Zwischen-Raumes ist es, daß er sich sowohl zwischen den Gegensätzlichen ergibt, wie er diese allererst aus sich heraus sein läßt. Gegensätze bedeuten jeweils unterschiedliche Beziehungen, dialektische oder analoge, konträre oder kontradiktorische; die gegensätzlich aufeinander Bezogenen schließen sich gegenseitig aus, oder sie fordern einander oder beides zugleich. Immer aber kommunizieren sie irgendwie miteinander, entsprechen einander. Es besteht jeweils – in einem weiten Sinne – eine Analogie zwischen ihnen; 1 damit impliziert Gegensätzlichkeit ein Drittes, im Hinblick auf das die Pole einander entgegengesetzt sind. Doch wie es für die Gegensätzlichkeit selbst keinen übergreifenden allgemeinen Begriff gibt – das allen Gegensätzen Gemeinsame, daß nämlich das Eine genau das nicht ist, was das Andere ist, ist eher formal und sagt wenig aus über das inhaltliche Verhältnis, in dem beide zueinander stehen –, so gibt es auch auf die Frage, wie jeweils so etwas wie ein »Drittes« zwischen ihnen zu denken ist, keine umfassende Antwort. Eine Erörterung des »Dritten« ist nur für den einzelnen konkreten Gegensatz und diesem analoge einzelne Fälle möglich. Was wir vieldeutig den Raum zwischen Himmel und Erde nennen können, läßt sich, was die Struktur seiner Gegensätzlichkeit betrifft, nicht einheitlich zusammen»Zwischen zwei Dingen besteht eine Analogie, wenn sie sich durch ein Merkmal ähnlich sind, auch wenn sie sich in anderen Merkmalen unterscheiden können.« (Wikipedia) Oftmals ist es lediglich der allgemeine, beide umgreifende Begriff, der die Gegensätzlichen Analoga sein läßt: die Temperatur bei Warmem und Kaltem, die Tageszeit bei Morgen und Abend, die Modalität bei Notwendigkeit und Möglichkeit.
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denken mit der Dämmerung als dem Übergang zwischen Tag und Nacht oder dem Lauen als Mittlerem zwischen Warmem und Kaltem, ebensowenig wie mit einem wie immer gearteten – oder vielleicht gar nicht für sich vorhandenen – Dritten zwischen Anwesen und Abwesen oder zwischen Möglichkeit und Notwendigkeit. Die Frage nach dem Zusammenhang, der zwischen den Gegensätzlichen besteht, damit zugleich nach der sie verbindenden »Einheitlichkeit«, zieht sich durch viele meiner Überlegungen. Da es keinen Begriff gibt, der dies zureichend nennen würde, spreche ich behelfsmäßig von »Mitte« oder »Zwischen« in einem weiten Sinne oder auch von »Einheit« oder »Zusammengehörigkeit«, wobei jedoch immer die unhintergehbare Vielgestaltigkeit im Blick zu behalten ist. 2 Ich kennzeichne damit also eher einen offenen Bereich als eine fest umreißbare Größe. Das »Dritte« soll sowohl einen Zwischenraum zwischen den Gegensätzlichen benennen wie auch ein Kriterium, ein Vermittelndes oder ein sonstwie die Gegensätzlichen Umgreifendes oder sie gemeinsam Unterlaufendes, eine Dimension oder einen Raum, der sie trennt und verbindet, oder das, in Bezug worauf sie einander entgegengesetzt sind. All dies zusammengenommen, ist das Dritte oder die Mitte der unbestimmte, offen-inhaltliche BeIn der chinesischen Philosophie spielte der Begriff der Mitte oder des Mittleren immer eine ausgezeichnete Rolle. In der Encyclopaedia Britannica lesen wir dazu: »The two Chinese characters zhongyong (often translated »doctrine of the mean«) express a Confucian ideal that is so broad and so all-embracing as to encompass virtually every relationship and every activity of human life. In practice, zhongyong means countless things: moderation, rectitude, objectivity, sincerity, honesty, truthfulness, propriety, equilibrium, and lack of prejudice. For example, a friend should be neither too close nor too remote. Neither in grief nor in joy should one be excessive, for unregulated happiness can be as harmful as uncontrolled sorrow. Ideally, one must adhere unswervingly to the mean, or centre course, at all times and in every situation. Such behaviour conforms to the laws of nature, is the distinctive mark of the superior individual, and is the essence of true orthodoxy.«
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reich der negativen/positiven Beziehung zwischen den Gegensätzlichen. Ein Beispiel für ein konkretes »Drittes«, das zwischen den Entgegengesetzten ist, indem es sie trennt und verbindet, ist etwa die Schwelle, – zwischen drinnen und draußen, zwischen Tag und Nacht, zwischen Empfindlichkeit und Unempfindlichkeit. Eine Schwelle verbindet die beiden durch sie Getrennten und überläßt sie in ihr je Eigenes; zugleich kann sie gar nicht ohne jene gedacht werden, sie bildet sich letztlich nur durch sie, auch wenn sie zuweilen, wie etwa steinerne oder hölzerne Türschwellen, eigens markiert und unterstrichen wird. Bei Hesiod 3 oder Parmenides 4 sind die Bereiche von Tag und Nacht einerseits streng geschieden und andererseits doch durch eine Schwelle verbunden. In vielen alten Kulturen wurden die Tag-und-Nacht-Gleichen im Herbst und im Frühling als Schwellenfeste gefeiert, an denen Tag und Nacht sich »die Waage halten«. Die Herbst-Tag-undNacht-Gleiche fällt nicht von ungefähr mit dem Beginn des Sternzeichens Waage zusammen. 5 Das Überschreiten der Schwelle hat, je nach der Richtung, eine entgegengesetzte Valenz: Die Schwelle des Hauses zu überschreiten, kann hei»[…], da wo sich die Nacht und Hemere (Tag) begegnen und einander begrüßen, die mächtige eherne Schwelle überschreitend, die eine hineinzugehen, die andre schreitet hinaus. Niemals umfriedet das Haus alle beide, immer ist eine entfernt von dem Haus und tummelt sich wandernd über die Weiten der Erde, die andere weilt in dem Hause drinnen, und wartet darauf daß die Stunde des Ausgangs herankommt.« (Theogonie, 748; zitiert nach Fränkel, Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums, 115) 4 Da ist das Tor der Straßen von Nacht und Tag, und der Türsturz umschließt es und steinerne Schwelle. Das Tor selber, aus Ätherlicht, ist ausgefüllt von großen Türflügeln. Zu dem hat Dike, die genau vergeltende, die einlassenden Schlüssel. (frg.1, 11 ff.) 5 Zur Waage vgl. unten, S. 99. 3
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Die »Mitte« oder das »Dritte« der Gegensätzlichen: das Zwischen
ßen, »hinaus ins feindliche Leben« zu treten, aufzubrechen in einen Raum des Wagens und sich Bewährens, oder aber hineinzutreten in einen Raum der Kommunikation und der Bereicherung und der Geborgenheit. Die Braut wird über die Schwelle getragen, um dort vor den bösen Schwellengeistern geschützt zu sein. Über die Schwelle ins Haus zu treten, kann das Erreichen der sicheren »Höhle« bedeuten, den Raum des Rückzugs und der Intimität; aber auch des Ab- und Eingeschlossenseins und der gewollten oder ungewollten Einsamkeit. Das gemeinsame »Dritte«, das die im Gegensatz zueinander Stehenden zusammen- und auseinanderhält, hat zuweilen einen eigenen Namen, der z. B. ein Übergreifendes wie Mensch in Bezug auf Mann und Frau nennt oder ein Dazwischenliegendes wie Gleichgültigkeit in Bezug auf Zuneigung und Abneigung, in anderer Weise den Tag zwischen Abend und Morgen. Oder auch die Mäßigkeit zwischen den Extremen der Lust und der Unlust u. ä. Meistens allerdings fehlt ein eigener Begriff – wie z. B. bei den Gegensatzpaaren Zunahme und Abnahme, Gewinn und Verlust, Bewegung und Ruhe. Schwierig scheint es, da von einem Dritten zu sprechen, wo es sich bei den Gegensätzlichen um die Extreme eines Kontinuums handelt, warm und kalt etwa oder schön und häßlich, weil eben einerseits das gesamte Kontinuum das Dritte ist, wie es doch andererseits aus unendlich vielen »Binnengegensätzen« besteht. Dennoch gibt es gerade hier oft ein eigenes Wort für etwas, was zwischen beiden liegt, auch wenn es nicht als Verbindendes oder Unterlaufendes verstanden werden kann, z. B. lau zwischen warm und kalt. Das so bezeichnete Dritte ist nicht das ganze Kontinuum, sondern gewissermaßen der jeweils mittlere Punkt zwischen zwei »benachbarten« Extremen. Mir scheint also – und damit fasse ich diese Überlegun52 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
Die »Mitte« oder das »Dritte« der Gegensätzlichen: das Zwischen
gen noch einmal zusammen – zur Gegensätzlichkeit als solcher, wie verschieden ihre Ausprägungen auch sein mögen, stets so etwas wie ein eigenes »Zwischen«, ein Zusammenhang, eine Mitte zu gehören, die einmal mehr, einmal weniger deutlich ausgeprägt sein können; sie können den Charakter einer nichthaften Räumlichkeit haben, den eines Kontinuums zwischen Extremen oder auch den eines Augenblicklichen, Punktuellen 6 . Oder, um das Gesagte auf eine Alternative zuzuspitzen, es gibt einerseits sowohl Gegensätzliche, zwischen denen sich eine eigene Dimension, ein »Drittes« erstreckt, ein Raum, der beide zueinander- und auseinanderhält, wie der Tag den Morgen und den Abend, oder bei denen das Eine allmählich und kontinuierlich in das Andere übergeht, ohne daß eine eigene dritte Dimension zwischen beiden bestehen würde, – zwischen Sommer und Herbst etwa oder zwischen jugendlich und erwachsen. Wie es andererseits auch solche Gegensätzliche gibt, wie Identität und Anderssein oder Schwangersein und Nicht-Schwangersein, die unmittelbar aneinander grenzen, wo, wie man sagt, kein Blatt dazwischen paßt. 7 Daß es diese Mitte gibt, heißt u. a., daß die Gegensätzlichen auch nicht gegensätzlich sind, daß sie sich gegenseitig nicht absolut ausschließen. Jedenfalls nicht nur ausschließen, sondern auch fordern, daß sie in welcher Weise auch immer gegenseitig aufeinander einwirken, ineinander übergehen.
Eines, wie die Griechen sagten, exaiphnes. Mir scheint, daß, wenn wir in diesen Fällen (kontradiktorischen Gegensätzen) ebenfalls von einem »Dritten« sprechen wollen, dieses jeweils das Eine der beiden Gegensätzlichen ist; die Identität wäre in diesem Sinne ein Spezialfall von Andersheit. Dabei mag sich im Einzelnen spekulativ die schon gestreifte Frage stellen, ob das Eine oder das Andere das Übergreifende oder Unterliegende für beide ist, ob etwa das Leben oder der Tod als ein Drittes für Leben und Tod anzusehen wäre. Und wie stünde es bei den Gegensätzen von Sein und Nichts oder ganz anders bei Tag und Nacht?
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Licht und Dunkel I Licht und Dunkelheit – ein Gegensatz mit sehr unterschiedlich gefärbten Bedeutungen, die u. a. etwas mit ihrer unterschiedlichen Relevanz im alltäglichen Leben zu tun haben, mit dem Wechsel von Wachen und Schlafen, mit dem Einfluß, den das Naturphänomen Nacht auf unseren gewöhnlichen Tagesablauf ausübt. Mit Selbstverständlichkeit assoziieren wir Licht mit Tag, Dunkel mit Nacht. Trotz der gewaltigen Veränderungen, die in diesem Betracht die Elektrifizierung gebracht hat – wenn man einen Augenblick an die nur von einer Ölfunzel erhellten Räume, die nur von einer Fackel erleuchteten nächtlich dunklen Straßen und Wege im Mittelalter denkt –, bleibt in unseren Breiten auch heute noch die Nacht die Zeit der Dunkelheit, – damit übrigens auch die Zeit der Sterne und des Mondes, wie wenig auch die Himmelslichter in den großen Städten noch wahrgenommen werden. Zweifellos hat sich in den Metropolen der Gegenwart die Erfahrung und Empfindung von Licht und Dunkelheit entscheidend gewandelt. Das elektrische Licht – heute teilweise mit »Tageslichtqualität« – hat das Dunkel mit ganz anderer Macht verdrängt, als es einer Kerze, einer Petroleumlampe oder ähnlichem je möglich gewesen wäre. 1 Der Wechsel von hellen Sommern und dunklen Wintern beeinflußt uns bis in unsere physiologischen Befindlichkeiten. Auch wenn wir uns heute äußerlich im Jahreslauf – wie im Tageslauf durch die mannigfaltigen Möglichkeiten der Beleuchtung – durch die Entwicklungen der Heizungstechnik und der Bekleidungsindustrie weitgehend vom Jahreszeitenwechsel abgekoppelt haben, so bleibt es doch unbeEntsprechend verfluchen wir oftmals die Helligkeit in und über den modernen Städten, die den Sternenhimmel unsichtbar macht.
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streitbar, daß die Natur um uns herum, die Tiere und Pflanzen nach der Blüte- und Reifezeit die Zeit der Winterruhe und des Winterschlafs brauchen und nutzen. Und daß auch der menschliche Organismus die Kürze des Sonnenscheins als einen erheblichen Mangel empfindet. Im Herbst jeden Jahres machen wir die schmerzliche Erfahrung: die Tage werden kürzer, es wird später hell am Morgen, und die langen Sommerabende werden zu einer nostalgischen Erinnerung. Der November ist als der Monat der Depressionen und unbestimmten Traurigkeiten bekannt. Und um die Wintersonnenwende stellen wir dann täglich die hoffnungsvolle Frage, ob das Tageslicht nicht tatsächlich schon ein wenig länger andauert. Zugleich brauchen und lieben wir den Wechsel von Licht und Dunkel. Als ich vor einigen Jahren zum ersten Mal, im kanadischen Norden, für einige Tage über den Polarkreis hinaus fuhr, habe ich eine Art körperliches Unbehagen gefühlt wegen des Ausbleibens der gewohnten Dunkelheit. Wenn die Dämmerung nicht mehr den Übergang zur Finsternis bedeutet, sondern nur ein vorübergehendes Schwächerwerden des Lichts – und umgekehrt –, wenn die Dämmerung zweideutig bleibt zwischen Gehen und Kommen und Gehen, dann gerät uns, die wir den strengen Wechsel von Licht und Dunkel gewohnt sind, der gesamte Lebensrhythmus aus dem Takt. Noch stärker und störender war die Erfahrung eines Mangels dann in Skandinavien, als ich im Sommer längere Zeit nördlich des Polarkreises und das heißt im Bereich der sogenannten Mitternachtssonne unterwegs war. 2 Der Wechsel von Licht und Dunkel prägt in den Gegenden nördlich des Polarkreises nicht so sehr den Tages-, als viel Auch wenn ich diese selbst wegen der bewaldeten Hügelrücken und vor allem wegen der fast ständigen Wolkendecke oder doch den Wolkenbänken am Horizont kaum je wirklich zu Gesicht bekam.
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Dauer und Augenblick I (Benn)
mehr den Jahreslauf; Herbst und Frühling sind gewissermaßen die Dämmerungszeiten des Jahres. So ist hier der Gegensatz zwischen der Zeit des Lichts und der Zeit des Dunkels – zusammen mit dem Wechsel von warmer und kalter Jahreszeit – durchaus lebensbestimmend. Noch eindeutiger als anderswo wird darum das Licht als heil- und lebenbringende Macht verstanden, das Dunkel eindeutiger als feindlich und gefährlich und böse. Der lange dunkle Winter hat eben wegen seiner Länge nichts von dem Bergenden und Geheimnisvollen, das wir der Nacht zusprechen; und er unterscheidet sich auch von der winterlichen Ruhe der schlafenden Natur in unseren »gemäßigten«, vom Maß von Tag und Nacht geprägten Breiten. Ich habe gelesen, daß im Norden von Grönland, wo die Polarnacht vier Monate dauert, die Bewohner die Sonne nach alter Tradition bei ihrem ersten Auftauchen über dem Horizont mit Singen und Freudenbekundungen wie In-die-Luftwerfen der Mützen begrüßen. Gibt es dagegen irgendwo ein Feiern der ersten Nächte, in denen wieder Sterne am Himmel zu sehen sind? Ein Willkommenheißen der ersten wirklich dunklen Nächte? Mir haben, als die Sonne um Mitternacht herum kaum unter dem Horizont verschwand, die Nächte – und die Sterne – gefehlt. Ohne daß man sich dessen bewußt ist, wird unser alltägliches Lebensgefühl von dem gewohnten Wechsel von Tag und Nacht wie auch von der allmählichen Änderung der Länge der Tage und Nächte geprägt.
Dauer und Augenblick I (Benn) Ich bin immer wieder auf Gegensätze gestoßen, die die Eigenart haben, daß die eine Seite zugleich auch die andere um56 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
Dauer und Augenblick I (Benn)
faßt, ohne ihr deswegen weniger entgegengesetzt zu sein. Das ausgezeichnete und gewissermaßen modellhafte Beispiel hierfür ist der Gegensatz von Ganzem und Teil. Das Ganze enthält den Teil in sich – und nicht der Teil das Ganze –, aber das Ganze steht »daneben« ebenso im Gegensatz zum Teil. Besonders spannend ist diese Verhältnishaftigkeit da, wo sich, wie ich meine, dem spekulativen Blick jeweils die »negative« Seite der Gegensätzlichen als der gemeinsame Raum zeigt, den beide artikulieren und der sie zu- und auseinanderhält. So sind Stille, Ruhe, Leere und Dunkel je das eine Glied eines Gegensatzes, dessen Raum oder Bezug sie zugleich offenhalten. Ähnlich verhält es sich bei den Gegensatzpaaren unsichtbar/sichtbar, verborgen/unverborgen, dunkel/hell, still/lautend, abwesend/anwesend. Die Dunkelheit etwa ist im Verhältnis zum Hellsein zum einen das Nicht-Helle, gewissermaßen das geringste Maß an Helligkeit; zum anderen steht sie, gleichsam quer dazu, auch für den Zwischen- oder Bezugsbereich, innerhalb dessen überhaupt so etwas wie dunkel und hell wahrgenommen wird. Aber es gibt bei den Gegensätzen dieser Art auch solche, wo kein »negatives« Verhältnis zwischen beiden vorliegt, wie eben bei »Ganzes und Teil«. Oder auch bei dem gegensätzlichen Verhältnis von währender Dauer und Augenblick, dem im Bereich des Räumlichen bis zu einem gewissen Grad das Verhältnis von Raum und Ort entspricht. Auch in diesen Fällen kann man sagen, daß das Eine der beiden zugleich der Raum ist, innerhalb dessen das Andere seinen Ort findet: Die als Augenblick, als kairos erfahrene Zeit taucht als Plötzliches und Erstaunliches aus dem sie umfangenden und unterlaufenden Meer der langen Weile auf. Ein glücklicher Zufall, ein bestürzender oder beglückender Einfall, ein wie ein Blitz einschlagender Moment der Begegnung, – jeweils kristallisiert sich ein Besonderes aus dem Vorgegebenen heraus, drängt sich ein Hier und Jetzt im 57 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
Dauer und Augenblick I (Benn)
Raum der zeitlich-geschichtlichen Welt auf, – wie ein Ton aus der Stille erklingt. Die Dauer – Weile und Währen – ist von anderer Art als der Raum der Leere, des Dunkels und des Schweigens. Die Dauer ist, in ihrer Disponibilität für Augenblicke – oder besser: für den jeweiligen Augenblick – keine Dimension der Ruhe und Leere, die vom Augenblick gebrochen oder durchbrochen würde. Die währende Dauer ist erfahrener Lebensraum und erfahrene Lebenszeit. Ein Uferschloß mit weißen Marmorsteigen und plötzlich eines Liedes Übermacht –, die Serenade spielen viele Geigen, doch hier am Meer in dieser warmen Nacht –. 1 Benn malt ein Bild der Erfahrung einer allerdings nur angedeuteten Entgegensetzung, in der maßgeblich das Verhältnis von Dauer und Augenblick ins Spiel kommt. Ein an Erzählungen der Romantik erinnerndes und irgendwie selbst erzählendes, gleichwohl statisches Bild, – »ein Bild, alleine«, so kennzeichnet Benn es in der nächsten Strophe. In seiner melancholischen, südlich anmutenden Fremdheit hat es etwas Unantastbares, in sich Ruhendes. Ein Schloß am Meeresufer, zu dem eine marmorne Freitreppe hinaufführt. Dann aber: »und plötzlich«. Plötzlich bricht etwas Anderes in dieses stille Bild: die Übermacht eines Liedes. Die Stille zerbricht, die Nacht ist unversehens erfüllt von Klängen, die vom Schloß herüberdringen. Sie gewinnen ihre unvermutete Kraft gerade daraus, daß sie aus der statischen Stille heraus auftönen. (Und vielleicht erhält umgekehrt auch das Bild des Marmorschlosses noch eine tiefere Ruhe und Geschlossenheit durch das übermächtig erklingende Lied?) 1
Gottfried Benn, Erinnerungen –.
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Im »plötzlich« liegt zunächst eine Art Unterbrechung. Plötzlich, das ist auf einmal, unerwartet, aus der gewohnten Dauer herausspringend. Gleichwohl stört das Spiel der Geigen, trotz seines plötzlichen Erklingens, das stille Bild nicht, es bricht nicht dessen gelassen-schöne Stimmung, scheint sie vielmehr abzurunden und noch zu verstärken. Die plötzlich aufklingende Melodie gehört unmittelbar in die Situation. Und doch geschieht da etwas Unerwartetes mit dem Hörenden, es bildet sich ein einzigartiger Augenblick, der Dauer allerdings nicht entgegengesetzt, diese vielmehr umgekehrt in sich versammelnd. Die bestimmte Melodie, die da an das Ohr des Betrachtend-Lauschenden tönt, ist eigentlich keine besondere, ungewöhnliche. Sie erklingt zu vielen Gelegenheiten, an vielen Orten. Ihr plötzliches Auftauchen mag erstaunlich scheinen, aber sie ist zugleich vertraut, weil oft gehört, von vielen Geigen gespielt. Und doch … Jetzt ist es anders. Die Töne – oder vielleicht besser: das Ganze der atmosphärischen Situation, die sie hervorrufen – treffen den Hörenden auf eine einzigartige, unsagbare Weise. Benn deutet es nur leise an, dreifach, mit der Betonung, mit einem »doch« und mit einem Gedankenstrich: »doch hier am Meer in dieser warmen Nacht –.« Eigentlich nichts Besonderes, und doch tun sich da ein unbestimmter Raum und eine offene Gegend auf, es ist etwas geschehen, ohne daß etwas geschehen ist. Der Gedankenstrich, mit dem Benn die Zeile enden läßt (und auch den Titel des Gedichts, »Erinnerungen –«), verweist die Gedanken in ein Unabgeschlossenes, er verweigert implizit ein Ende oder ein Fazit, deutet darauf hin, daß es hier etwas Unsagbares zu sagen gibt. Statt des Gedankenstrichs könnten auch Auslassungspunkte stehen. Es öffnet sich ein Raum der bestimmten Unbestimmtheit – bestimmt, weil sich in eben diesem Augenblick auftuend, unbestimmt, weil ohne spezifische, umrissene Inhaltlichkeit. »Hier am 59 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
Dauer und Augenblick I (Benn)
Meer in dieser warmen Nacht«, in dieser in sich ruhenden Dauer, scheint mit dem augenblicklichen Aufklingen der leisen Melodie eine verborgene Fülle auf, die die Stille der Nacht nicht negiert, sondern im Gegenteil gerade fühlbar werden läßt. Ein Zugleich von statischer Dauer und Augenblickserfahrung sehe ich auch in dem folgenden Gedichtausschnitt. Es ist insbesondere das zweimalige »doch«, was hier die Bruchstelle zwischen beidem anzeigt: Das Tal stand silbern in Olivenzweigen, dazwischen war es von Magnolien weiß, doch alles trug sich schwer, in Schicksalsschweigen, sie blühten marmorn, doch es fror sie leis. 2 Wieder ein in wenigen Strichen gemaltes Bild: ein silberner Olivenhang mit einigen leuchtend weißen Magnolienbäumen hier und da. Doch gegen die scheinbare Harmonie dieses Bildes steht eine über dem Ganzen lastende Schicksalhaftigkeit. Das weiße Blühen widerspricht sich selbst: es ist ein steinernes, ein marmornes Blühen. »alles trug sich schwer«. Das Schicksalsschweigen liegt schwer über dem Tal, kein Zeichen von bewegtem, lebendigem Wachsen und In-Blüte-stehen, nur das steinerne Weiß. Darum und doch zugleich dagegen: »doch es fror sie leis.« Ein leichtes Zittern läuft durch die Magnolien. Trotz des schweren Lastens gibt es eine einzelne Regung, die sich dem allgemeinen Schicksal entzieht, es aufs Ganze gesehen in Frage stellt durch dieses kleine Moment des Erschauerns. Mit dieser knappen Bemerkung des leise Frierens erhält das
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Benn, V. Jahrhundert, II.
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Dauer und Augenblick I (Benn)
Bild, obgleich das marmorne Blühen die Dauer verbürgt, eine das Ganze fokussierende Augenblicklichkeit. Und noch einige Zeilen aus einem dritten Gedicht: Rosen, die blühten und hatten, und die Farben fließen ins Meer, blau, tiefblau atmen die Schatten und die Nacht verzögert so sehr. 3 Es fällt auf, daß diese Zeilen zweimal eine bewußt gesetzte sprachliche Unvollständigkeit enthalten. Beide Auslassungen haben etwas mit der Zeit zu tun. Zunächst »Rosen, die blühten und hatten«. Die Rosen werden evoziert, in eine Gegenwart gerufen, als etwas, das seine gewesene Zeit an sich trägt, was schon eine Zeitlang gewährt und gedauert hat. Die Rosen selbst sind nicht vergangen, aber ihr eigentliches Sein, ihre Blüte, liegt in der Vergangenheit. Was immer sie haben konnten, das hatten sie bereits. Die Rosen blühten und hatten. Was sie hatten, bleibt offen, wendet sich gewissermaßen zurück in das Blühen und damit in das Rosesein als solches. Sie hatten das, was ihnen zu sein aufgegeben und möglich war. 4 Da bedarf es keiner Frage mehr nach dem Was des Habens oder auch nach dem Wann, Wo, Für wen oder Warum des Blühens. Und dann die andere Auslassung: »und die Nacht verzögert so sehr«. Es wird nicht gesagt, was sie verzögert, das Verzögerte bleibt ausgespart und unbestimmt, wie das, was Benn, Valse triste. Bei Aristoteles gab es einen geheimnisvollen Ausdruck für das Wesen von etwas: to ti en einai – was etwas zu sein hatte. Wir können umschreiben: was ihm immer schon von ihm selbst her zu sein aufgegeben, worin es seine Erfüllung zu finden bestimmt war. So etwa verstehe ich auch dieses Präteritum der ersten Zeile gegenüber dem Präsens der folgenden drei und zugleich damit auch die Unbestimmtheit.
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Himmel und Erde
die Rosen hatten. Das Gesamtgedicht heißt »Valse triste«. Könnte man also im Verzögern einen Anklang an das ritardare des ritardando in der Musik mithören? Die Nacht verlangsamt sich. Der Tanz – und der Kontext zeigt, daß Benn tatsächlich bei dem Valse nicht allein an die Musik, sondern auch an das Tanzen denkt – hält gewissermaßen in seiner Bewegung inne, er verhält zwischen Bewegung und Anhalten. Vor allem aber sagt die Zeile, daß die Nacht selbst an sich hält, sich zurückhält, daß sie zögert weiterzugehen. Im Verzögern liegt noch anderes als im Zögern, es fordert etwas, das verzögert wird, auch wenn es hier nicht genannt wird. Das Verzögern zögert das Ankommen von etwas hinaus. Vielleicht das Ankommen der Zeit selbst, einer anderen Zeit? Oder auch des Endes der Zeit, des Todes? Unmittelbar jedoch die Zeit einer Abenddämmerung im Herbst. Es ist nicht mehr Sommer, noch nicht Winter, nicht mehr Tag, noch nicht Nacht. Was war und was sein wird, sammelt sich in einer zeitlosen Weile, in einem Ineinandersein von Dauer und Augenblick, einem unbestimmten Zwischen, wo die Farben verschwimmen und es keine festen Umrisse und Grenzen mehr gibt. Sein und Nichtsein selbst bleiben in der Schwebe.
Himmel und Erde Himmel und Erde – ein uns schlechthin umfassender Gegensatz. Wir wohnen auf der Erde und wandern über die Erde, wir bearbeiten sie und leben von ihr; sie entfaltet sich zu Meeren und Bergen und Ebenen, zu Seen und Strömen, zu Wüsten und Wäldern. Wir bewegen uns unter dem Himmel, schauen zu ihm auf; seine Lüfte und Winde, seine Sonnen62 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
Himmel und Erde
strahlen, sein Regen, seine nächtlichen Gestirne bestimmen unser alltägliches Leben, mal mehr, mal weniger. Heidegger faßt das verbale »wesen« von Erde und Himmel so zusammen: »Die Erde ist die dienend Tragende, die blühend Fruchtende, hingebreitet in Gestein und Gewässer, aufgehend zu Gewächs und Getier.« Und: »Der Himmel ist der Sonnengang, der Mondlauf, der Glanz der Gestirne, die Zeiten des Jahres und ihre Wende, Licht und Dämmer des Tages, Dunkel und Helle der Nacht, die Gunst und das Unwirtliche der Wetter, Wolkenzug und blauende Tiefe des Äthers.« 1 Obgleich sich Himmel und Erde so und in vielen weiteren Bestimmungen fassen lassen, ist unser Bewußtsein von ihnen heute sehr eingeschränkt. Wir wissen zweifellos, daß wir auf der Erde und unter dem Himmel leben, aber wir wissen kaum um unser Sein zwischen Himmel und Erde: wir empfinden und erfahren uns nicht als diesem Raum konkret zugehörig. Ich erinnere mich an ein Seminar vor Jahren, als Studenten mit voller Überzeugung sagten, daß sie bei dem Wort oder Begriff »Himmel« mit Selbstverständlichkeit an den Weltraum und an nichts anderes dächten. In ihrem naturwissenschaftlich geprägten Weltbild war für den Himmel als sich über uns wölbendem »Himmelszelt« mit den erlebten »Sonne, Mond und Sternen« kein Platz, er war dem unendlichen Himmelsraum gewichen, durch den sich die immer eingehender zu erforschenden Himmelskörper bewegen und in den Satelliten und Sonden immer weiter vordringen. 2 Es ist wie mit der Natur überhaupt: ihre Bedeutung für unser Sein und unser Verhalten wird, soweit es sich nicht um Bauen Wohnen Denken, 149 f. Das andere Extrem im Verständnis von Himmel und Erde gibt es allerdings auch noch – unter »einfachen Gemütern« und bei Kindern –, die Vorstellung vom Himmel, in dem der »liebe Gott« mit seinen Engeln wohnt und in dem die Verstorbenen ihre neue und wahre Heimat finden. Aber im Großen und Ganzen ist das dem heutigen Bewußtsein doch sehr in die Ferne gerückt.
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Himmel und Erde
ökologische Gesichtspunkte und d. h. ganz allgemein um die Zukunft von menschlichem Leben »auf dieser Erde« unter den Bedingungen eines Miteinanderauskommens von Mensch und Natur handelt, weitgehend geleugnet, weil wir um uns herum fast nur noch von Menschen Gemachtes und Geplantes antreffen; analog dazu begegnen Himmel und Erde fast nur noch in wissenschaftlich entworfenen und beglaubigten – oder auf der anderen Seite in spirituellen und esoterischen Zusammenhängen. Gleichwohl betreffen meine Überlegungen eben diesen konkreten Raum zwischen Himmel und Erde und diese beiden selbst. Heidegger hat ihn in der kleinen Schrift Hebel – Der Hausfreund u. a. so zur Sprache gebracht: »Denken wir das Zeitwort ›wohnen‹ weit und wesentlich genug, dann nennt es uns die Weise, nach der die Menschen auf der Erde unter dem Himmel die Wanderung von der Geburt bis in den Tod vollbringen. Diese Wanderung ist vielgestaltig und reich an Wandlungen. Überall bleibt jedoch die Wanderung der Hauptzug des Wohnens als des menschlichen Aufenthaltes zwischen Erde und Himmel, zwischen Geburt und Tod, zwischen Freude und Schmerz, zwischen Werk und Wort. / Nennen wir dieses vielfältige Zwischen die Welt, dann ist die Welt das Haus, das die Sterblichen bewohnen.« (17 f.) »Himmel« ist im allgemeinen Sprachgebrauch ein mehrdeutiges Wort. 3 Oftmals setzen wir den Himmel mehr oder weniger gleich mit dem unendlichen Weltraum, mit In Wikipedia werden u. a. diese vier Grundbedeutungen von »Himmel« angeführt: Himmel (Religion), eine religiöse Lokalisierung des Überirdischen und Göttlichen Himmel (planetär), der sichtbare Raum über der Erde oder einem anderen Himmelskörper Sternenhimmel, der nächtliche Anblick der Sterne Himmelskugel, eine imaginäre kugelförmige Abbildungsfläche für astronomische Koordinaten.
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Himmel und Erde
dem Raum, der sowohl »um« wie »oben«, »über uns« ist. Beim Fliegen über den Wolken, wenn der Bezug zur Erde irrelevant zu werden scheint, ist aber auch noch das relative Unten, das »Wolkenmeer«, dem Himmel zugehörig. Bei einem Gang über die Felder schauen wir zum Himmelsblau auf, wir sehen »Wolkenzug und blauende Tiefe des Äthers«, wir bewundern in klaren Nächten – außerhalb der Städte – den »gestirnten Himmel über uns«, wir können den vielgestaltigen Lauf des Mondes mit seinen wechselnden Phasen beobachten. Obgleich uns in der merkwürdigen Doppelwelt, in der unsere Erfahrungen mit unseren wissenschaftlichen Kenntnissen koexistieren, durchaus bewußt ist, daß das »Himmelszelt« so etwas wie eine Fiktion ist, verstehen wir diese Fiktion doch zugleich als unbezweifelbare Lebenswirklichkeit. Mit der »Erde« steht es nicht sehr anders. Auch ihr Name hat mehrere Bedeutungen. Von der Erde, die sich unter dem Himmel ausbreitet und auf der wir leben, »wissen« wir, daß sie »nur« ein Himmelskörper unter unendlich vielen ist. Dennoch haben wir ein affektives Verhältnis zu der Erde als unserem »Heimatplaneten«. Und »Erde« ist darüber hinaus die Erdkrume oder das Erdreich, die Erde, die wir unter unseren Füßen spüren, die wir in den Händen zerkrümeln oder die in der Landwirtschaft bearbeitet wird. Wenn die Dichter von der Erde sprechen, sind diese verschiedenen Bedeutungen oftmals ungeschieden im Spiel. Oftmals ist sie da so etwas wie das Versammelnde der Dinge, die auf ihr leben – »die Tiere der Erde« und »die Blumen der Erde« bei Hölderlin, »die Sterne der Erde« bei Rilke sind Beispiele dafür, wie die Erde als das Raumgebende für die Dinge angesehen wird. Mit ihren höchsten Erhebungen und Aufbrüchen, ihren Schlünden und Abgründen, ihren Ablagerungen und Eruptionen hat die Erde ihre eigene, unendlich weit in vormenschliche Zeiten zurückgehende Geschichte. Sie reicht in unermeßliche Tiefen, in denen sie in steter Bewegung und 65 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
Himmel und Erde
Entwicklung ist, die sich uns in Vulkanausbrüchen und Erdbeben mitteilen. Steht man am Grand Canyon und sieht in den bis in Unvordenkliches zurückweisenden Schichten der Bergwände die gleichsam zum Bild gewordene Erdgeschichte vor sich aufgezeichnet, so relativiert das die Bestimmung des »dienend Tragenden«. Und es wird fragwürdig, ob die Erde wirklich beständig und ruhend, ob sie die »festgegründete« Erde ist, von der Goethe dichtet. Ähnlich, wenn man auf Hawaii auf einen Vulkankrater schaut, aus dessen Öffnung glühender Rauch aufsteigt; oder geht man über die unermeßlich scheinenden, schwarz glänzenden Lavafelder mit ihren an Pflanzenformen erinnernden Strömungsgestalten, so verliert das »hingebreitet zu Gestein« seine phänomenale Allgemeingültigkeit. Merkwürdig ist das Verhältnis von Himmel und Erde. Einerseits sind sie die sich gegenüber liegenden Grenzen unseres Lebensraumes. Wir leben auf der Erde und unter dem Himmel. 4 Aber Himmel und Erde sind zugleich nicht ohne das Dazwischen, für das wir, wie für so vieles, keinen eigenen Namen haben. 5 Welterschaffung wird in manchen Weltentstehungsmythen so gedacht, daß durch einen besonderen Akt der Raum zwischen Himmel und Erde aufgetan, geöffnet wurde, wodurch ihr Gegenüber und damit auch erst sie selbst fixiert wurden. In der chinesischen Mythologie war der zwergengestaltige Pan Gu, vor dem es nur eine Urmaterie und die Urkräfte Yin und Yang gab, das erste einzelne Lebewesen. Bemerkenswert, daß wir dem einen zugehören, irdisch sind, aber uns durch den aufrechten Gang dem anderen zuhalten. Vgl. Heideggers Erläuterungen zu Hebels Bemerkung, wir seien Pflanzen, die aus der Erde ihre Nahrung ziehen und sich zugleich in den Himmel strecken. (Heidegger, Hebel – Der Hausfreund, 37 und Gelassenheit, 16 und 28) Vgl. dazu v. Verf., Der andere Heidegger, 159 f. 5 Wenn wir es nicht in bestimmten Zusammenhängen als »Himmel« bezeichnen. 4
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Himmel und Erde
Durch seine säulenförmige Gestalt hielt er Himmel und Erde auseinander. Nach einer anderen Tradition trennte er mit seiner riesigen Axt Yin und Yang voneinander und ließ so den Himmel und die Erde entstehen. Die Himmelskörper und die ganze Erde bildeten sich aus seinem Leichnam. So wäre also das Dazwischen von Himmel und Erde das erste Geschaffene, für das sie beide konstitutiv und bestimmend bleiben. Ihre Trennung ist keine absolute. Der Himmel bleibt über die Erde gebreitet. So kann Eichendorff in seiner Mondnacht die bekannten Zeilen dichten: Es war, als hätt der Himmel Die Erde still geküßt, Daß sie im Blütenschimmer Von ihm nun träumen müßt. Das »Dazwischen« ist der Raum, in dem wir leben. Dieser Raum, wir sagen auch, der »Luftraum«, der über den großen Ebenen und über den Wüsten unermeßlich, in manchen engen Gebirgstälern eng und erdrückend ist, der Raum über dem Meer, der bis zu den Sternen reicht, scheint nichts zu sein, nichts Eigenes, und ist doch der Raum, der uns umgibt, in dem wir atmen und den wir atmen, in dem wir uns bewegen, in dem wir ausgreifen und uns auf uns zurückziehen. Es ist sehr erstaunlich, daß wir diesen »Raum« nicht zu nennen und im Grunde auch nicht zu begreifen vermögen. Andererseits aber empfinden wir das, was zwischen Himmel und Erde ist, oft auch als dem einen von beiden zugehörig. Beide haben auch einen Allheitscharakter. Bei Laotse heißt »Himmel« oftmals soviel wie Welt, wie »alle Dinge«. Damit ist dann das Ganze, Himmel und Erde und das Dazwischenliegende, gemeint. Aber auch die Erde kann als allheitliche den Himmel mit umfassen. So heißt es bei Rilke in dem Gedicht Der Lesende im Buch der Bilder: 67 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
Himmel und Erde
da wächst die Erde über sich hinaus. Den ganzen Himmel scheint sie zu umfassen: der erste Stern ist wie das letzte Haus. 6 Oft empfinden wir sie beide als Gemeinsames. Das Gemüt weitet sich, wenn wir beide, Himmel und Erde, miteinander aufnehmen, auf beide zusammen aufmerken. Die Weite des Himmels ist eine andere als die Weite der Erde; beides fügt sich ineinander, wenn wir uns auf Himmel und Erde richten. Genauer sind weder die Weite des Himmels noch die der Erde etwas für sich Gegebenes. Wir begegnen ja nie nur dem einen oder nur dem anderen. 7 Nirgendwo weitet sich der Himmel so wie über den Weiten der Tief- oder Hochebenen oder über dem Meer. Und so weit ist die Wüste sonst nie wie unter dem Nachthimmel, der hier größer und unermeßlicher ist als irgendwo sonst. Erde und Himmel spielen fast immer eine bedeutende Rolle in den eben schon erwähnten mythischen Erzählungen von der Weltentstehung. Dabei wird die Beziehung zwischen Und ist nicht auch in diesen Zeilen aus Rilkes siebter Duineser Elegie das Umfassendsein der Erde vorausgesetzt?
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Nicht nur die Morgen alle des Sommers –, nicht nur Wie sie sich wandeln in Tag und strahlen vor Anfang. […] nicht nur, nach spätem Gewitter, das atmende Klarsein, nicht nur der nahende Schlaf und ein Ahnen, abends … sondern die Nächte! Sondern die hohen, des Sommers, Nächte, sondern die Sterne, die Sterne der Erde. 7 Allerdings scheint der Gedanke an den Himmel in tiefen Höhlengängen oder im weitreichenden Untertagebau ganz in die Ferne gerückt zu sein. Doch sind das Ausnahmesituationen, die als solche bewußt bleiben: man kann ans Tageslicht aufsteigen. Und vielleicht hat ja auch die Abwesenheit des Himmels unter der Erde – wie im übrigen auch der Erde im Himmel qua Weltraum – eine ganz eigene Präsenz. (Bemerkenswert übrigens die unmittelbare Assoziation von Erde und Tag in dem Wort »untertage«, während mir keine umgekehrte für Himmel und Nacht einfällt.)
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Himmel und Erde
Himmel und Erde zwar sehr unterschiedlich gesehen, aber andererseits ist es erstaunlich, wie viele Entsprechungen es hier in ganz verschiedenen Kulturen und Sprachfamilien gibt. Der Himmel und die Erde können z. B. Weltenschalen sein, die die Lebenswelt umgeben und aus deren Interaktion alles hervorgeht. »Der Himmel ist mein Vater und Erzeuger, dort ist mein Ursprung, meine Mutter und Verwandte ist diese weite Erde; zwischen den beiden weit ausgedehnten Weltschalen ist der Schooss, dorthin setzte der Vater die Leibesfrucht der Tochter.« 8 Auch abgesehen von der Genese der Menschenwelt führen Himmel und Erde rein räumlich die »Lufträume« für die Menschen zusammen. 9 Im Rigveda finden sich viele Anrufungen und Erwähnungen von Himmel und Erde, die oft als die Eltern bezeichnet werden. Vom Gott Indra wird gesagt, daß er nach seiner Geburt seine Eltern, den Himmel und die Erde, voneinander getrennt habe. Ähnlich wie Zeus – und vor ihm schon dessen Vater Chronos – stieß er seinen Vater vom Thron und übernahm selbst die Herrschaft über die Welt. Es wird aber andererseits auch erzählt, er habe den Dämon, der sich zwischen Himmel und Erde gelegt und sie so voneinander getrennt hatte, durchbohrt und so beide wieder vereint. 10 Bei Hesiod gebiert die Erde (Gaia), schlafend, ohne Eros den Himmel (Uranos) aus sich; beide zeugen dann miteinander weitere Urgestalten, z. B. die Titanen und die einäugigen Zyklopen, Gewitter- und später Vulkangeister. Vielleicht ist von dem, was die Menschen früherer Zeiten und anderer Kulturen dazu brachte, die Erde als Mutter und den Himmel als Vater anzusehen, von der Vertrautheit und Nähe zu Himmel und Erde, selbst wenn wir sie oft kaum Rigveda T. 2, 459. Rigveda T. 1, 524. 10 Vgl. Rigveda T. 1, 324. 8 9
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Himmel und Erde
mehr als solche wahrnehmen, auch heute noch einiges erhalten – zuweilen in einem geradezu affektiven Verhältnis. 11 Himmel und Erde sind uns dann keine bloß »objektiven« Größen, sondern fast so etwas wie Partner; sie stellen in ihrem Zusammenspiel die Bühne dar, auf der sich unser Leben ab-spielt. In vielen Gedichten werden sie als die Gestalten oder Mächte der Natur angesprochen, in denen sich deren Erscheinungen versammeln. Und oftmals ist es, als wäre da auf beiden Seiten, obgleich die Gestimmtheit ihnen gegenüber jeweils eine durchaus unterschiedliche sein kann, von etwas Heimatlichem, Vertrautem – oder je nachdem von etwas Gewaltigem, sogar Bedrohlichem – die Rede. Zum Abschluß noch ein Zitat zur Erde. Chief Standing Bear sagte über die Lakota: »He loved the earth and all things of the earth, the attachment growing with age. The old people came literally to love the soil and they sat or reclined on the ground with a feeling of being close to a mothering power. It was good for the skin to touch the earth and the old people liked to remove their mocassins and walk with bare feet on the sacred earth. The birds that flew in the air came to rest upon the earth and it was the final abiding place of all things that lived and grew. The soil was soothing, strengthening, cleansing and healing.« 12
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Rilke dichtet in der Neunten Elegie:
Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar in uns erstehn? – Ist es dein Traum nicht, einmal unsichtbar zu sein? – Erde! unsichtbar! Was, wenn Verwandlung nicht, ist dein drängender Auftrag? Erde, du liebe, ich will. Oh glaub, es bedürfte nicht deiner Frühlinge mehr, mich dir zu gewinnen –, einer, ach, ein einziger ist schon dem Blute zu viel. Namenlos bin ich zu dir entschlossen, von weit her. 12 Land of the spotted eagle, 6.
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Wüste Der vorherrschende Eindruck der Wüste ist ihre Kargheit, ihre Weite und Leere, das wenn nicht Eintönige, so doch Einheitliche, die fahlen Farben. Endlichkeit und Nichthaftigkeit sind in ihr trotz und doch zugleich auch wegen ihrer scheinbaren Unendlichkeit seltsam präsent. Im menschlichen Bewußtsein hat die Wüste als eine extreme, eine äußerste Gegend seit jeher ihren festen Platz. Die frühen Kulturen haben sich einerseits in den großen Stromtälern entwickelt, andererseits auch unter den Nomadenstämmen, die seit unvordenklichen Zeiten die Wüsten durchziehen. Ich habe viele Wüsten nicht besucht; sie sind Sehnsuchtsziele geblieben. Die Atacama-Wüste z. B. oder die Wüste Gobi oder die Namib-Wüste. Es gehört zu meinen Wüstenerfahrungen, daß sie fragmentarisch sind, – und jetzt auch bleiben werden. Aber ich habe doch sehr unterschiedliche Wüsten gesehen: in Marokko, in Äthiopien, in Dubai und vor allem zu wiederholten Malen in untereinander sehr verschiedenen Gegenden des nordamerikanischen Kontinents, von den nördlichen in Oregon und Idaho bis zu den südlichen von Baja California. Doch über die Wüste zu schreiben ist mir, in wiederholten Versuchen, nicht wirklich geglückt. Hier will ich nur einige Bemerkungen zur Wüste als einem Gegensätzlichen machen, einem Gegensätzlichen zum Meer und zum Wasser überhaupt. Wüste und Meer – ein erstaunlicher Gegensatz. (Zudem ein Gegensatz mit deutlichen Entsprechungen. Immer wieder wird das eine zur Kennzeichnung des anderen herangezogen. 1 ) Mir kam der nicht ganz ernsthafte Gedanke, ob es 1
Hier nur zwei Internet-Belege: Bei Wikipedia ist unter dem Stichwort »Wü-
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Wüste
nicht Gegensätzliche ohne Gegensatz gibt. Die Wüste empfinde ich – wie auf der anderen Seite auch das Meer – als in einer gewissen Gegensätzlichkeit zum je Anderen stehend, obwohl doch das Eine kaum als Negation des Anderen verstanden werden kann, also kein wirklicher Gegensatz zwischen ihnen besteht. 2 Und es gibt auch kein wie immer geartetes Drittes, Gemeinsames, das sie umfaßte oder unterliefe. Was meint es also, wenn die Wüste als ein Gegensätzliches zum Meer empfunden wird? Sowohl die Wüste wie das Meer erscheinen als etwas Extremes, ohne daß es sich bei ihnen jeweils um das Äußerste eines Kontinuums handelte. Solche Extreme stehen so fern zu jedem möglichen Anderen, daß sie nur noch für sich und als sie selbst zu bestehen scheinen. 3 Als Extremlandschaften erfüllen sich das Meer oder die Wüste somit einerseits ganz in sich. Und doch, obgleich die Erfahrung in ihnen an ein Äußerstes kommt, besteht andererseits fast eine Art geschwisterliche Beziehung zwischen ihnen. Auf eine geheimnisvolle Weise, die ich nicht erklären kann, verweisen sie gegenseitig aufeinander, entsprechen sie sich in ihrer größten
ste« zu lesen: »Die Araber bezeichnen die Wüste auch als Meer ohne Wasser.« Und in planet-wissen: »Extrem lebensfeindlich sind vor allem die endlosen Sandmeere«. 2 Bei aller Aufmerksamkeit auf die Gegensätze bleibt ja festzuhalten, daß keineswegs alle Seienden einen Gegensatz an sich oder in sich tragen. Was wäre der Gegensatz zu einem Kornfeld, zu einem Birkenhain? Allenfalls könnte sich hier ein Gegensatz durch den jeweiligen menschlichen Umgang mit ihnen ergeben, wenn also etwa in einem Erbstreit ein Birkenhain in den Gegensatz zu einem Kiefernwald geriete. Ein Chevrolet Corvette steht an sich in keinem Gegensatz zu einem Fiat Panda; aber es lassen sich Situationen denken, in denen dies sehr wohl der Fall wäre. Dinge des menschlichen Gebrauchs geraten als solche leichter in einen Gegensatz zueinander als reine Naturdinge. 3 Ähnlich ist es wohl auch bei extremen, ekstatischen Gefühlen wie Liebe oder Verzweiflung.
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Wüste
Ferne. Sie sind die beiden unfaßlichen Weiten, die wir kennen. 4 Ähnlichkeiten oder Verwandtschaften ergeben sich u. a. durch die Einwirkungen des Windes auf beide Landschaftsformen. Dünen finden wir am Meer und in der Wüste, der Sand in der Wüste kann sich zu Wellenbergen auftürmen. Hier wie da gibt es die vom Wind gezeichneten Rippelungen. Zum Teil verbindet beide auch einfach die Größe, der gegenüber Menschen klein und geringfügig erscheinen. Die Weite, die Dünung, die Macht der Winde, die Einsamkeit … Die Wüste ist, wie auf andere Weise das Meer, unendlich vielgestaltig. Wenn von Wüste die Rede ist, sehen wir Europäer meist die Sahara vor uns. Und diese wiederum stellen wir uns als eine Folge von hohen Sanddünen vor, in der Ferne vielleicht die Silhouette einiger Kamele. Oder auch nur die leicht gerippten weichen Formen, die an künstlerische Aktphotos erinnern. Aber abgesehen davon, daß sich Dünen keineswegs nur in Wüsten finden, bestehen diese auch keineswegs immer aus Sand. Es gibt Wüstengebirge, wie es unendlich weite ebene Stein- oder Sandwüsten gibt. Auch die übliche Vorstellung der Vegetationslosigkeit ist falsch. Die amerikanischen Wüsten, von denen ich hier spreche, sind meistens von graugrünen Sträuchern oder niedrigem Buschwerk bewachsen, – Sagebrush, Chreosote, Mesquite, Yucca, Yoshuatrees, in höheren Lagen Wacholder, Kakteen in großer Vielfalt, die z. B. mit den Saguaros eine erstaunliche Höhe und z. T. bizarre Gestalt erreichen. Und natürlich gehören auch die Tiere zu diesen Wüsten, die Chipmunks und die Erdmännchen, die Roadrunner und Geier und Krähen, die Coyoten und die Skorpione … Das Hochgebirge ist sicher auch eine Extremlandschaft, aber sie läßt sich nicht in ähnlicher Weise auf jene beiden beziehen. Unbeschadet dessen, daß vom Gipfel aus gesehen auch die bis in die fernste Ferne sich erstreckenden Höhen an ein Meer erinnern können.
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Wüste
Obgleich die Wüsten durch ihre Trockenheit definiert sind, begegnet man in ihnen immer wieder, und immer wieder voller Staunen, auch dem Wasser – in Seen, Quellen oder Flüssen und Wasserlöchern. Oder in zahlreichen künstlichen Seen, die als Reservoirs dienen. Besonders eindrücklich sind die riesigen Wüstenseen, wie vor allem der Salton Sea in Kalifornien, an dessen Ufer Abertausende von Fischen über Jahre hinweg vor sich hindorren, weil der Wasserspiegel dieses zuflußlosen, vor fast hundert Jahren durch eine Überschwemmung des Colorado gebildeten Sees langsam, aber unaufhörlich sinkt. Oder der geheimnisvolle, den Indianern heilige, mystische Pyramid Lake mit seinen eigentümlichen Felsformationen. Die eine Hälfte ist für Nicht-Stammesmitglieder nicht zugänglich, in der dunstigen Ferne sieht man – oder ahnt meist nur – weiße rauchende Felsen. Der Rio Grande windet sich durch sehr unterschiedliche Wüsten-Landschaften. Der mächtige Colorado mit seinen bekannten Schluchten und Canyons und den riesigen Stauseen versickert schließlich fast im Wüstensand seines Mündungsgebietes am Golf von Kalifornien. In den nordwestlichen Wüstenstrichen von Idaho und Washington ziehen sich der Snake River und der Columbia River hunderte von Meilen durchs Land. Und da sind die überraschend häufigen Quellen, oft mit mächtigen Silberpappeln an den kleinen durch sie gespeisten Wasserläufen. In Ash Meadows in der Mojave Wüste in Nevada treten sie unglaublich klar und blau mit quirliger Bewegung an verschiedenen Stellen aus dem Untergrund hervor, durchspielt von winzigen Fischen. Über 160 km nordöstlich dringt Wasser in ein weites unterirdisches Wassersystem ein, das sich, unglaublich langsam, durch den Untergrund bewegt, bis sich ihm in der Gegend von Ash Meadows eine geologische Falte wie ein Damm in den Weg legt und es zwingt aufzusteigen; so kommt es in glasklaren Quellen, die kleine 74 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
Miteinander und Ineinander I
Teiche und Wasserläufe mit verschiedenen endemischen Pflanzen und Tieren bilden, an die Oberfläche.
Miteinander und Ineinander I Die gesamte abendländische Philosophie beruht – letztlich bis heute – auf der Überzeugung, daß etwas es selbst und nichts anderes ist. Ein Mensch ist ein Mensch – und nicht etwas, das wesentlich auch Nicht-Mensch wäre. Dies ist die zumeist unhinterfragte Voraussetzung: daß die »Dinge« an ihnen selbst etwas Eindeutiges, in ihrem Sosein Unhinterfragbares sind, daß sich ihre Bedeutung idealiter fixieren läßt, – sonst, so sagt es schon Aristoteles bei der Begründung seines Satzes vom Widerspruch und so wird es bis heute ständig wiederholt –, könnten wir nicht sinnvoll miteinander sprechen und nicht einmal sinnvoll handeln. In dem Augenblick, da wir innerhalb des durch diese unausgesprochene und scheinbar selbst-verständliche Voraussetzung bestimmten Raumes anfangen würden, für oder gegen den Widerspruchssatz zu argumentieren, hätten wir das Spiel verloren, d. h. uns selbst widersprochen; das ist schon bei Aristoteles die Falle, mit der er die Geltung des Widerspruchprinzips unangreifbar macht. Man kann die Selbstidentität von allem nicht in Frage stellen, weil man sich mit dem Infragestellen selbst schon auf die Ebene des Infragezustellenden begeben hätte. 1 Schaut man jedoch genauer hin, so kann man schon in Aristoteles’ Formulierung des Widerspruchssatzes so etwas Es ist wie bei dem Versuch, mit einem Gläubigen über die Wahrheit Gottes zu argumentieren. Er hat einen immer schon, auch als Leugnenden, in seinen Glaubensansatz mit hineingezogen.
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wie eine Spalte entdecken, durch die seine allzu rigorose Interpretation fraglich werden könnte. Er lautet: »Etwas kann nicht zur gleichen Zeit und in der selben Hinsicht es selbst und nicht es selbst sein.« 2 Die in unserem Zusammenhang entscheidende Wendung ist das »nicht in der selben Hinsicht«. Was ich meine, versuche ich mit einem etwas pathetischen Beispiel anzudeuten: Die Vorfreude eines Kindes auf den Heiligen Abend, gemischt aus dem Wissen der vergangenen Jahre vom Geheimnis und Glanz des mit seinen Kerzen strahlenden Weihnachtsbaums im dunklen Zimmer, der zugleich zögernden wie gewissen Erwartung bestimmter, lang gewünschter Geschenke, dem Knistern der festlichen Kleider, dem warmen Klang der alten Lieder, dem Tannen- und Kerzenduft. Und: die geheime Angst vor der Enttäuschung und vergeblicher Erwartung, vor dem Vergessenhaben des aufzusagenden Gedichts, das Wissen um die Kürze des Abends, der Schrecken vor dem nüchtern-hellen »Weihnachtszimmer« am folgenden Morgen, überhaupt davor, daß das Entzücken vorbeigehen wird. Ist nicht beides durchaus gleichzeitig und seltsam verschwistert da? Sein und Nichtsein von Freude bzw. von Angst in einem und demselben Gefühl? Bedeutet da nicht die Freude selbst Angst und die Angst selbst Freude? Empfinden wir nicht alles zusammen wie ein Gefühl? Unsere Erfahrung zeigt ständig, wie uneindeutig die Wirklichkeit ist; etwas ist so und doch zugleich an ihm selbst anders. Beharren wir einseitig auf dem »in der selben Hinsicht« aus Aristoteles’ Formulierung, läßt sich allerdings einwenden, daß eben unser Blick auf die Wirklichkeit jeweils ein verschiedener ist. Dementsprechend wären in jenem Beispiel lediglich verschiedene, sich zum Teil widerstreitende Hinsichten versammelt, die aber durchaus nebeneinander beste2
Vgl. Met. Γ, 1005b20.
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hen könnten. Jeweils kommt es, so sagt man mit Aristoteles, auf die Perspektive, auf die Hinsicht an. »Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust« – und in Wahrheit sind es oft weit mehr als zwei. Gewöhnlich lassen sie sich jedoch ganz gut vereinbaren, und sei es auch mit Kämpfen und Beschwichtigungen. Könnte sich hier aber nicht doch die Frage stellen, was denn eine »selbe Hinsicht« wäre innerhalb eines Weltverständnisses und -verhältnisses, das nicht mehr von fest umrissenen Substanzen und ihnen inhärierenden Akzidentien ausgeht, das das In-der-Welt-sein vielmehr als ein dauerndes Sicheinschwingen in das Ganze des Weltspiels versteht? Das »einerseits ja bzw. so / andererseits nein bzw. nicht so« der Unterscheidung gegensätzlicher Hinsichten beruht auf der Voraussetzung getrennter Dinge oder Substanzen, die dann je für sich nur identisch und d. h. widerspruchsfrei sein können. Was auch heißt: es beruht auf der Voraussetzung jeweils nur einer Wahrheit. Die Welt ist schrecklich – und schrecklich schön zugleich. Stimmt nicht beides? Wozu bedarf es da des Hinweises auf die unterschiedlichen Hinsichten? »Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine«, singt Brecht; aber ist nicht das Große auch schon klein und das Kleine auch schon groß? Und dies nicht nur im Hinblick auf jeweils Größeres bzw. Kleineres, sondern jeweils an ihm selbst. Hat die Dauer nicht einen Charakter der Augenblicklichkeit und der Augenblick seine eigene Dauer? Ist im Licht nicht die Dunkelheit aufbewahrt und in der Dunkelheit das Licht? Kann nicht das Ferne als Fernes nah sein und das Nahe als Nahes fern bleiben? Wie steht es also mit der Selbstidentität, mit der Abgrenzung des Einen gegen das Andere?
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Tänzerische Umkehrung: Unfall (Paul Klee) »Wer auf dem Kopf geht, […] der hat den Himmel als Abgrund unter sich.« Das sagte Paul Celan in seiner BüchnerPreis-Rede. 1 Ist es erlaubt, in Klees »Unfall« einen Anklang an diesen Gedanken zu sehen? Geht es hier vielleicht gar nicht um einen Unfall im gewöhnlichen Sinne, vielmehr um einen Un-Fall, der also gerade kein Fall ist, sondern eine bewußte und gewollte Umkehrung? Leichtfüßig, fast tänzerisch bewegt sich das Mädchen durch die Luft, während ihr Kopf fest auf der Erde aufruht. Unter ihren Füßen/über ihrem Kopf bzw. ihrer tanzenden Gestalt schaut ein Auge vom Himmel, über dem als einer kleinen Barke sie leicht dahinschwebt, – falls wir es auf uns nehmen, das ganze Bild umzudrehen. Zugleich aber ist dieses Auge eine Fermate, ein Halteund Ruhezeichen. Über den schwebenden Tanz hält sie eine Stille, nicht als Einspruch und Gegensatz, sondern eher als eine umfassende und aufhebende Ruhe, die ein heiteres Innehalten der Bewegung ist, sowohl im Sinne einer Pause wie im Sinne eines stillen Fortfahrens.
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Vgl. hierzu vom Verf., Nichts, 67 ff.
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nah und fern Montaretto ist ein kleines ligurisches Dorf, 300 m über dem Meer. An sehr klaren Wintertagen sieht man über ca. 100 km Wasser hinweg auf die verschneiten französischen Seealpen. Morgens trifft das noch goldene Sonnenlicht als erstes auf deren leuchtendes Weiß am Horizont, in der Ferne. »Und die leere Ferne trug«, heißt es in Rilkes Sonetten an Orpheus. Ich denke, daß mit dieser Ferne nicht allein das eine Bezugsglied der Beziehung »Nähe/Ferne« gemeint ist, sondern die Ferne ist der tragende Zwischenraum selbst. Von der fernen Bergkette bis zum Dorf mit seinen Menschen liegt graublau das Meer, ab und an sieht man vereinzelte Fischerboote oder auch mal einen Frachter. Von dort bis hierher, von hier bis dorthin erstreckt sich die Ferne. Die »leere Ferne« ist nicht in dem Sinne leer, daß dort schlechthin nichts anzutreffen wäre, sondern sie ist in sich »disponibel« 1 für unterschiedliche Nähen und Fernen. Indem ihr Zwischen-Raum so etwas wie Ferne und Nähe birgt, ergibt er die Möglichkeiten für mannigfaltige Bezüge und Zusammenhänge, die zwischen Anwesenheit und Abwesenheit spielen. Insofern ist die Ferne wesentlich zweideutig: sie ist die Ferne des Fernen, die Ferne »in der Ferne«, und sie ist die Ferne des Raumes zwischen Nahem und Fernem. Was fern ist, ist nicht nah, nicht bei uns; wenn wir in der Ferne sind, sind wir nicht zu Hause. Das Ferne ist woanders, nicht präsent. Es erscheint innerhalb eines offenen und wechselnden Horizonts. Zwischen uns und ihm liegt ein beträchtlicher Zwischenraum, man braucht lange, um es zu erreichen, – manchmal ist es auch unerreichbar. Je ferner etwas Zur Disponibiliät vgl. F. Jullien, Über die »Zeit«, 167 ff. und Das große Bild hat keine Form, 194 f. 1
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nah und fern
ist, umso unschärfer und vager ist es zu erkennen, bis es mit seiner Umgebung verschwimmt. Auch darum erscheint das unbestimmte Ferne oft rätselhaft und geheimnisvoll; es kommt uns dann unvertraut, fremd vor. Was nah und in der Nähe ist, ist uns dagegen oftmals vertraut, zuweilen geht es uns nahe. Nah ist, was wir berühren oder berühren können, was uns umgibt; zumeist haben wir es klar vor Augen. Sogenannte »objektive« räumliche oder auch zeitliche Ferne und Nähe, die meßbar und ausrechenbar sind, sind etwas anderes als erfahrene und gedachte Ferne und Nähe. Diese sind ebenfalls räumlich oder zeitlich, doch sie geben nicht einfach den objektiv meßbaren Abstand zwischen zwei Gegenständen oder zwischen dem Gegenstand und dem Betrachter an; wie weit jeweils zwei Dinge oder auch Ereignisse oder Menschen voneinander entfernt oder wie eng sie einander angenähert sind, das läßt sich nicht in Zahlen angeben, sondern ergibt sich aus der Beziehung, in der ein bestimmtes Erfahren zum jeweils Nahen oder Fernen steht. 2 Das Nahe liegt auf der Hand, aber es kann sich auch verbergen; es kann glücklichen Besitz, zuweilen aber auch drohende Gefahr bedeuten. Unsere Liebsten sind unsere Nächsten, doch können Menschen uns auch zu nahe treten. Wir können die Nähe als Enge und als Bedrückung empfinden. Ebenso kann die Ferne, die den Blick öffnet und das Gefühl der Weite bietet, umgekehrt auch als schmerzhaftes Entferntsein von Menschen und Dingen und als Verlassenheit wahrgenommen werden. 3 Während uns das Naheliegende zuweilen fern vorWenn Heidegger von Nähe und Ferne spricht – und das tut er überraschend häufig –, bezieht er sie ausnahmslos auf den Denkenden, für den etwas nah oder fern oder beides zugleich ist. 3 Adorno schreibt über Ferne und Nähe im Verhältnis von Menschen zueinander: »Einzig durch die Anerkennung von Ferne im Nächsten wird Fremdheit gemildert: hineingenommen ins Bewußtsein. Der Anspruch ungeschmä2
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kommt – je näher uns etwas ist, umso schmerzhafter empfinden wir manchmal seine Ferne –, können wir auch in der Vergegenwärtigung des Fernen ganz bei uns sein; ebenso kann uns das Ferne auch und gerade als Fernes nah sein, uns nahegehen, uns anrühren. Jeweils trägt das Eine die Möglichkeit des Anderen und den Verweis auf es an sich, es ist nicht ohne die Spanne zum Anderen. Die Nähe ist nicht ohne die Ferne zu denken und umgekehrt. »Meinen wir Nähe, meldet sich Ferne«, sagt Heidegger einmal. 4 Das meint mehr, als daß, was uns nah ist, uns insofern nicht – z. B. nicht mehr oder auch noch nicht – fern ist, daß die Gegensätzlichen jeweils ihr Anderes als ihre Gegenseite an sich tragen, daß also etwa die Erfahrung von Ferne unmittelbar die Erfahrung von Nicht-nahsein ist, – wie das Kranksein das Wissen um Gesundheit in sich trägt. Beide Bestimmungen sind vielmehr miteinander und ineinander Qualifizierungen des Zeitspielraumes, in dem sich unser Leben und Erfahren abspielen. Nähe und Ferne stehen in einem bewegten Verhältnis zueinander und zu dem sie Erfahrenden, weil der Bezugsraum selbst ein in sich bewegter, wechselnder ist. In einem »neutralen«, isotropen und homogenen Raum – Heidegger sagt: im parametrischen Raum – gibt es keine Erfahrung von Nähe und Ferne, nur größere und kleinere Abstände. Dagegen ist der Raum des erfahrenden Begegnens ein in sich spezifizierter Raum, der sich jenachdem als eine obere oder untere, vordere oder hintere und so auch nahe oder ferne Dimension zeigt. Heidegger geht in bezug auf Nähe und Ferne noch weiter mit der folgenden Vermutung: »Vielleicht findet sogar der Raum und alles Raumhafte seinerseits erst eine Aufnahme und Geborgenheit in lerter, je schon erreichter Nähe jedoch, die Verleugnung der Fremdheit gerade, tut dem andern das äußerste Unrecht an«. (Minima Moralia, Nr. 116) 4 Das Wesen der Sprache, 209.
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nah und fern
der nähernden Nähe und der fernenden Ferne, die beide selbst nicht zwei, sondern Eines sind, dafür uns der Name fehlt.« 5 In diesen Wendungen – »nähernde Nähe« und »fernende Ferne« – kommt zum Ausdruck, daß Heidegger, wenn er von Nähe und Ferne handelt, jeweils ein Geschehen im Blick hat, – so, wie er vom räumenden und einräumenden Raum und von der zeitigenden Zeit spricht. Genauer: weil Raum und Zeit Bewegungsgefüge im Zusammenspiel von Mensch und Welt sind, gibt es so etwas wie die sich bewegende Ferne und die sich bewegende Nähe, als Weisen, wie sich unser Sein in der Welt als Verhältnis zu Dingen, zu anderen Menschen und zu uns selbst ereignet. Die innere Bewegtheit der Bezüge von Nähe und Ferne entfaltet sich ganz konkret im Spiel von naher Erde und fernem Himmel. 6 Im traditionellen chinesischen Denken, wie es sich z. B. in der Malerei zeigt, ist es auch das Spiel von Gewässern und Bergen – beide auf unzähligen Bildern auf seltsame und anrührende Weise zusätzlich pointiert durch die Andeutung winziger menschlicher Behausungen oder Verrichtungen. Indem es vielfältig in die Ferne und in die Nähe bringt, das Ferne näherkommen und das Nahe fernerrücken läßt, charakterisiert das Geschehen von Ferne und Nähe das gesamte Wechselspiel zwischen den Menschen und dem, was ihnen aus der Welt und in der Welt entgegenkommt. Offenbar ist die Beziehung zwischen Ferne und Nähe eine offene und sensible. Zwar negieren sie einander, aber mit einer VerΑγχιβασίη, 30. Heidegger könnte hinzufügen: von der Nähe der Sterblichen, die wir selbst sind, und der Ferne jener anderen, die er »die Unsterblichen« oder »die Göttlichen« nennt, also von der Dimension des Unvergänglichen, die über das unmittelbar Sinnliche hinausliegt und doch nicht das Zusammenspiel beider überschreitet.
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Warum die Frage nach der Gegensätzlichkeit?
neinung, von der Heidegger sagt, sie sei rätselhaft, »weil Nähe und Ferne in der Verneinung walten, insofern sie entzieht und doch zubringt«. 7 Oder anders gesagt: der Raum, in dem wir stehen und uns bewegen, ist in stets wechselnder und je bedeutsamer Weise von Nah- und Fernbeziehungen durchzogen; dementsprechend empfinden wir ihn als eng oder weit, die Dinge in ihm kommen uns vertraut oder fremd vor, – nicht im Sinne einer zusätzlichen Bestimmtheit, sondern durch das Licht, in dem sie selbst uns erscheinen, durch die Weise, wie wir sie jeweils wahrnehmen. Weil das Nahe immer schon einen Bezug zur Ferne hat und das Ferne einen Bezug zum Nahen, wird in dem Einen jeweils die Erfahrung des Anderen mit gemacht; so erscheint das Vertraute fremd und das Fremde vertraut.
Warum die Frage nach der Gegensätzlichkeit? Ich bin nicht auf eine allgemeine Theorie 1 des Gegensatzes aus. Je älter ich werde, desto mehr nimmt meine Empfindlichkeit und Skepsis gegenüber dem Entwerfen und Konstruieren von allgemeinen Theorien zu. Theorien verbleiben als solche auf einer begrifflichen Ebene, auch wo sie Empirisches betreffen wollen. Sie gehen von Voraussetzungen bzw. Prämissen aus, die so oder so gesetzt werden, während sie zugleich den Anspruch erheben, evident und rational zu sein. Ich meine, daß man sie höchstens als tentative gelten lassen kann, – »bittweise«, wie Hegel einmal sagt. Da sie als auf Αγχιβασίη, 68. »Allgemeine Theorie« ist eigentlich eine Tautologie. Theorien sind als solche immer allgemein, sie gelten grundsätzlich für alle unter sie subsumierbaren Einzelfälle.
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Warum die Frage nach der Gegensätzlichkeit?
Voraus-setzungen basierend prinzipiell nicht verifizierbar sind, sind sie letztlich nicht mehr als Erklärungsversuche. Diese Überlegungen und Aufzeichnungen verstehe ich demgegenüber als Beschreibungen und Umschreibungen, Bemerkungen, die, kreisend um die Erfahrung von Gegensätzlichkeiten, aufmerksam machen auf diesen oder jenen Grundzug der Welt und dabei zuweilen auch bemüht sind, in kritischer Thematisierung dieses oder jenes Vorurteil, dieses oder jenes Mißverständnis sichtbar und fragwürdig werden zu lassen. Sie versuchen nicht, zu vermeintlich neuen Ergebnissen zu kommen; vielmehr stellen sie Bekanntes zu neuen Konstellationen zusammen, sie erinnern an Vermutungen und Phantasien und öffnen damit vergessene oder nicht bewußt gemachte, zuweilen überraschende Sichten und Einsichten. Bei meinem philosophisch fragenden Blick auf die Welt und ihre Gegebenheiten bin ich immer wieder auf Gegensätze und ihr unterschiedliches Verhältnis zueinander gestoßen, auf die Spannung oder das Schwingungsverhältnis zwischen Gegensätzlichem. Doch es geht mir nicht um eine bloße Bestandsaufnahme möglicher Formen von Gegensätzlichkeit. Meine Überlegungen entspringen auch einer implizit kritischen Fragestellung. Indem ich die Beziehung der Gegensätze zueinander weder als eine dialektische 2 noch als eine sonstDie verschiedenen Dialektiken, von Platon über Kant, Hegel, Marx bis zur Negativen Dialektik von Adorno, entfalten jeweils ein Denken in Gegensätzen. Die marxistische Dialektik z. B. impliziert, daß es so etwas wie eine notwendige geschichtliche Bewegung durch Gegensätze gibt, daß also die Gegensätze aufeinander und auseinander folgende Momente innerhalb eines gesetzmäßigen, d. h. vernünftigen Ablaufs der Geschichte sind. Die »Vernunft der Geschichte« wird dabei nicht als dem Prozeß voraufgehend, im Sinne einer sich realisierenden absoluten Idee – wie bei Hegel – vorgestellt, sondern sie ergibt sich als ein geschichtliches Gesetz in der dialektischen Bewegung selbst und kann darum auch erst post festum begriffen werden. (Vgl. Marx, Grundrisse, Einleitung) Die dialektisch Gegensätzlichen stehen sowohl bei Hegel wie bei Marx insofern in grundsätzlicher Beziehung zueinander, hängen insofern voneinander
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Warum die Frage nach der Gegensätzlichkeit?
wie gesetzmäßige sehe, sondern als das Ineinanderspielen von sich einerseits ausschließenden, sich andererseits fordernden, bestätigenden, ergänzenden Momenten, und das heißt zugleich auch als den Beziehungsraum, der ihr Sichaufeinanderbeziehen entfaltet, richtet sich das Nachdenken – wenn auch weitgehend unausdrücklich – gegen einen Grundzug des vorherrschenden bisherigen Denkens im Abendland. Gegensätzlichkeit ist eine Weise von Beziehung oder Verhältnis, in der die Bezugsglieder einander sowohl negieren wie zugleich affirmieren, – brauchen, bestätigen, voraussetzen, entsprechen. Gegensätzlichkeit ist eine bestimmte Form von Nichtidentität oder Andersheit. Das traditionelle philosophische Denken von seinen griechischen Anfängen bis hin zu Husserl, jedenfalls bis zu Hegel, war demgegenüber ein Denken des Identischen, des einheitlichen, im positiven Sinne verstanden abstrakten Begriffs, der allgemeinen Struktur. Daß ein jegliches anders ist als das andere, daß es also ein Individuelles und Besonderes ist und sich als solches von jedem Anderen unterscheidet, wurde in der philosophischen Tradition natürlich auch gesehen und anerkannt, aber zumeist wurde es nicht weiter befragt und bedacht. Und dies darum nicht, weil es für die Nichtidentität und Jeweiligkeit des Einzelnen keinen allgemeinen – und d. h. ja alles Einzelne umgreifenden – Grund gibt und geben kann. Ein principium individuationis ist im Grunde eine contradictio in adiecto. Danach zu fragen, warum etwas es selbst ist, heißt, so sagt ab, als sie von der Idee des Ganzen abhängen; sie sind dessen durch eine bestimmte Negation hindurchgehende Momente. Das Verhältnis erschöpft sich nicht in bloßer Negation, sonst wäre die Gesamtbewegung nur als zyklisch, als sich ineinander schließender und evtl. wiederholender Kreislauf oder als eine Art Pendelbewegung – wie in der Kantschen Dialektik des Scheins – zu denken. Das Prinzip der »bestimmten Negation« besteht darin, daß das jeweilig Negierende, das nächste Gegensätzliche, um den negierten Inhalt reicher ist als das Vorhergehende, Negierte, und eben darum tatsächlich auf eine höhere Stufe gehoben wird.
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Warum die Frage nach der Gegensätzlichkeit?
Aristoteles in einem seiner spannendsten Texte (Met. Z17), nach nichts zu fragen, oder: überhaupt nicht zu fragen – ouden esti zetein. Denn als Antwort auf diese Frage gäbe es, so sagt er, immer nur den Hinweis auf das Es-selbst-sein des Jeweiligen, – eine Auskunft, die für alles noch so Verschiedene die selbe und insofern nichtssagend wäre. Stattdessen hat die abendländische Philosophie den Weg gewählt, das besondere endliche Seiende zu bestimmen und d. h. in seiner grundsätzlichen Struktur zu umreißen. Es hat allgemeine – überendliche – Prinzipien in den endlichen Dingen angesetzt und aufgewiesen, in einem ersten Versuch mit den obersten gene tes kategorias bei Platon und dann im Einzelnen ausgeführt bei Aristoteles, dessen Denken in dieser Beziehung für die gesamte Entwicklung bis zu Hegel leitend geblieben ist. Für die bestimmende Funktion der Prinzipien und Kategorien spielt die Gegensätzlichkeit von Stoff und Form einerseits, von dynamis und energeia andererseits eine entscheidende Rolle. Unhintergehbare Voraussetzung ist die Denkentscheidung, das Nichtseiende als irgendwie seiend 3 anzusetzen. Mit der Bestimmung durch die Gründe und Kategorien konnte die uneinholbare spezifische Inhaltlichkeit, die jeweilig einmalige qualitative Besonderheit weitgehend außerhalb der philosophischen Betrachtung bleiben. Hier eine Wende herbeiführen zu wollen, bedeutet nicht einfach, etwas bisher nicht Gedachtes nun erstmals in den Blick zu nehmen. Vielmehr kommt jetzt alles auf den Blick bzw. die Weise des Blikkens selbst an, nämlich auf eine Blick-Wendung. Der Blick faßt nicht mehr das Übereinstimmende, insofern Übergeordnete im ihm Gegenüberstehenden zusammen oder heraus, sondern er richtet sich mitgehend auf das Eigene des Jeweiligen, damit gerade auf das Unterscheidende und das je Zufäl3
Vgl. z. B. Platon, Sophistes, 256d ff. und Aristoteles, Physik, A8.
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Bild contra Begriff II Nietzsche
lige. Dieses hält den Blick fest, läßt ihn innehalten, aufmerken, sich wundern. Wir können das Besondere, Zufällige nicht begründen und unter anderes, für es Verantwortliches subsumieren. Insofern können wir streng genommen keinen Begriff von ihm bilden. Wir können es jedoch skizzieren und umschreiben, anzeigen durch Hinweise und Analogien, evozieren durch Bilder. Das umschreibende Beschreiben nähert sich seiner Sache, indem es das Feld oder den Raum betrachtet, in dem das Einzelne als Einzelnes dadurch zu stehen kommt, daß es ein Welthaftes oder Weltliches ist. Ein jedes ist, indem es seine Zeit und seinen Ort in der Welt hat, in einem Gewebe oder Geflecht der Gegensätzlichkeit gehalten (das wir den Raum der Gelassenheit nennen können). Einer Gegensätzlichkeit, die das Hin und Wider einer hin und her schwingenden Bewegung zwischen Polen ist, die Spannung eines gemeinsamen, beide übergreifenden oder sie unterlaufenden Raumes.
Bild contra Begriff II Nietzsche Eine Fülle von Beispielen für ein bildhaftes Denken finden wir bei Nietzsche. Obgleich er theoretisch den rationalen, begrifflichen Charakter der Sprache betont hat, hat er mit seinem eigenen Sprechen dem Nichtbegrifflichen, Bildhaften, Sinnlichen eine neue Bahn eröffnet. Z. B. wenn er, wie schon in anderem Zusammenhang angeführt, über Die fröhliche Wissenschaft sagt, sie scheine »in der Sprache des Thauwinds geschrieben: es ist Uebermuth, Unruhe, Widerspruch, Aprilwetter darin«. 1 1
Vgl. oben, S. 19.
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Bild contra Begriff II Nietzsche
In besonderer Weise ist Nietzsches Denken in Also sprach Zarathustra ein nicht-begriffliches Denken und Sprechen. Dieses Buch erzählt die Geschichte der Suche Zarathustras nach dem höheren Menschen und über ihn hinaus. Begriffe und Begriffliches reichen da nicht mehr hin. Von solchen Gedanken ist nur in Bildern zu sprechen, die allerdings jeweils in strenger Entsprechung zum gedachten Inhalt stehen. Nietzsche hat das Bild des Zarathustra und seiner Wanderungen vor uns hingestellt und das, was er sagen wollte, mit bunten, kräftigen Farben gemalt, so daß wir es nicht nur mit dem Intellekt, sondern auch mit den Sinnen und dem Gefühl, mit unseren eigenen Erinnerungen und Vorlieben, Ahnungen, Befürchtungen usw. lesen müssen, wenn wir seine Botschaft verstehen wollen. An einem spezifischen Beispiel aus diesem Buch will ich einige Momente der Weise, wie Nietzsche mit Bildern umgeht, herausstellen: »Das Wenigste gerade, das Leiseste, Leichteste, einer Eidechse Rascheln, ein Hauch, ein Husch, ein Augen-Blick – Wenig macht die Art des besten Glücks. Still!« (377) Man liest das, empfindet vielleicht die Leichtigkeit und Unbeschwertheit des höchsten Glücks mit, – und hat die Eidechse schon wieder aus dem Blick verloren. Sie hat nur gerade geraschelt, die flüchtige Empfindung eines Raschelns hervorgerufen. Sie gehört in das Bild des Glücks, das evoziert wird, ergibt sich aus der Situation, die ihrerseits den Rahmen für diese Glücksschilderung abgibt. Die Erwähnung der Eidechse dient hier dazu, die Augenblicklichkeit einer Stimmung des Glücks zu nennen und zu benennen. Ihr kommt ersichtlich keine Eigenbedeutung zu; sie will nichts über die Eidechse selbst aussagen, ist vielmehr so etwas wie ein Farbtupfer innerhalb der Schilderung der Situation, die der Reflexion auf das Glück dienen soll. Insofern ist sie ein Moment dieser sinnlich-sinnhaften Überlegung selbst. Das Bild ist dabei nicht allein das, was zur Wie89 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
Bild contra Begriff II Nietzsche
dergabe dieser Reflexion gebraucht wird, vielmehr ebenso das kleine, anschauliche Moment jenes größeren Schauspiels der Mittagserfahrung, das die Anwesenheit des Glücks benennt. Jenes kleine Moment – das Rascheln der Eidechse – fügt sich ein in das Tableau des Mittags, als Zarathustra vor sich hin wanderte, an gute Dinge dachte, sich seiner Einsamkeit freute und sich schließlich unter »einem alten, krummen und knorrichten Baume« ausstreckte. Dieses Bild will keinen objektiven Tatbestand beschreiben, sondern es läßt etwas vor unseren Augen geschehen. Besser, es fügt sich ein in das Geschehen dieses Mittags und seiner Erfahrung, die es eben dadurch mit hervorruft. Einer Eidechse Rascheln. Es ist nicht nötig, dieses Bild näher auszumalen, zumal die Gewichtlosigkeit seiner Andeutung durch näheres Ausführen leicht verlorenginge. Wenn wir gleichwohl nach der Eigenart fragen, wie es hier eingesetzt ist, so kann negativ gesagt werden, daß die Nennung der Eidechse jedenfalls weder als ein Vergleich noch als eine Metapher etwa für den Augenblick des Glücks oder den momentanen Zustand der Seele gebraucht wird, dieser soll nicht umschrieben oder gar ausgedeutet werden. Sondern? Zarathustra ruft in einem Selbstgespräch, in das seine Seele in dem schwebenden Zustand zwischen Wachsein und Schlafen verfällt, sein Glück hervor und beim Namen, er evoziert es, indem er es anspricht, es im Ansprechen präsent und evident macht. Er malt seinem Herzen sein Glück aus, nicht im Sinne der Vorwegnahme eines Zukünftigen, sondern ganz wörtlich als Auspinselung seiner schwebend-leichten, augenblickshaften Realität. Zu diesem Ausmalen gehört der Blick, der das Empfundene widerspiegelt, reflektiert; Unmittelbarkeit der Empfindung und Mittelbarkeit der Reflexion spielen ineinander. Das Glück ist nicht einfach nur das Glück, sondern auch das Glück über das Glück und das über das Glück Gewußte. Es 90 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
Bild contra Begriff II Nietzsche
besteht im Gespräch mit dem Herzen und in der Einsicht in das, was »die Art des besten Glücks« ist: »das Leiseste, Leichteste, einer Eidechse Rascheln«. Bilder sind vieldeutig wie die Gegenstände, die sich in ihnen ausdrücken: Die Sache, die es auszudrücken gilt, kann zum einen in verschiedenen Bildern präsent werden, weil sie selbst viele Analogien zuläßt; zum anderen kann auch das gewählte Bild selbst in unterschiedlichen Kontexten ganz Unterschiedliches zum Ausdruck bringen. Z. B. zeigt ein genauerer Blick auf Nietzsches Umgang mit dem Bild der Schlange, daß er es für die Vermittlung ganz verschiedener Zusammenhänge benutzt. Alles liegt an der Konstellation, die es jeweils zu evozieren gilt und in der die Nennung eines bestimmten Dinges, einer Farbe, eines Geschehens ihre jeweilige Bedeutung durch den Zusammenstand mit anderem erhält. Die Knoten bestimmen sich aus dem Netz, obwohl sich das Netz zugleich erst aus der Verknüpfung der Knoten ergibt und bei anderer Verknotung auch ein anderes wird. Auch die Eidechse kann in anderem Kontext etwas ganz anderes als ihr flüchtiges Rascheln bedeuten, so wenn Zarathustra einmal bemerkt, »daß einer Eidechse List lüstern hier herumschlich.« (158) Ebenso kann die Erfahrung des Augenblicks auch einmal durchaus negativ konnotiert sein, wenn etwa die Rede davon ist, daß die, die nicht mehr an das Leben glauben, sich »dem Augenblicke« hinwerfen (57), während wir ihn hier gerade als Ausdruck des höchsten Glücks kennengelernt haben, – »einer Eidechse Rascheln, ein Hauch, ein Husch, ein Augen-Blick«. Dennoch hat die Bedeutung jeweils ihre eigene Eindeutigkeit, im Schnittpunkt der Beziehungen der verschiedenen Worte zueinander entsteht ein und nur ein Sinn. Und wo gleichwohl mit verschiedenen Bedeutungen gespielt wird, da ergibt auch diese Mehrfalt noch ein eindeutig, d. h. bewußt mehrdeutiges Bild. Die Begriffe sind hier also nicht mehr das einzige Rüst91 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
Bild contra Begriff II Nietzsche
zeug der Philosophie, die begriffliche Behandlung der philosophischen Themen ist oftmals einer bildhaften gewichen. Das jeweils zu Sagende wird auf sehr unterschiedliche Weise umschrieben und umschritten, über-setzt, d. h. hinübergesetzt in eine konkrete, vertraute Umgebung, in sinnliche Zusammenhänge, anschaulich gemacht durch Bilder, in denen es eine vorübergehende Heimat findet. Das, worin das zu Sagende gezeigt wird, ist jeweils dieses selbst, oder, anders gesagt, das zu Sagende ist jeweils in den Bildern und Geschichten. Aber es ist nicht nur in den jeweils spezifisch gewählten Bildern, es ist in ihnen wie auch, analog, in anderen. Während Begriffe den Anspruch erheben, die Sache selbst in dem, was sie wahrhaft ist, identisch zum Ausdruck zu bringen, können Bilder jeweils durch andere ersetzt werden. Bilder re-präsentieren die Sache, lassen sie in einem sinnlichen Medium sichtbar werden, sozusagen in einem Anderen wiedererstehen. Zum Schluß noch ein Zitat aus Ecce homo: »Alles geschieht im höchsten Grade unfreiwillig, aber wie in einem Sturme von Freiheits-Gefühl, von Unbedingtsein, von Macht, von Göttlichkeit … Die Unfreiwilligkeit des Bildes, des Gleichnisses ist das Merkwürdigste; man hat keinen Begriff mehr, was Bild, was Gleichniss ist, Alles bietet sich als der nächste, der richtigste, der einfachste Ausdruck. Es scheint wirklich, um an ein Wort Zarathustra’s zu erinnern, als ob die Dinge selber herankämen und sich zum Gleichnisse anböten«. 2 Ecce homo, 340. Die Macht und Göttlichkeit, von der Nietzsche hier spricht, besagt, daß das Bild eine Art sprachliche Selbstschöpfung der Welt ist; die Dinge selbst bieten sich als die Bilder an, in denen sie ihren unmittelbaren, einfachen Ausdruck finden. Nietzsche findet diese Bilder, weil sie sich ihm im wörtlichen Sinne nahe-legen, fast könnte man sagen: sich ihm aufdrängen: »hier kommen alle Dinge liebkosend zu deiner Rede«. Die Nähe der Liebko-
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Faltung, Entfaltung Eine Sprachfamilie kann – wie eine leibhaftige Familie – einen Raum äußerster Gegensätze und zugleich engster Korrespondenzen widerspiegeln. Einen solchen Raum betretend, den der Falte, überlasse ich mich für eine Weile seinen Hinweisen auf vielfältige Richtungen und Spuren: Falten, Einfalten und Ausfalten, Umfalten, Entfalten, Einfalt, Zwiefalt, Faltung, … Die Falte ist eine lineare Vertiefung, aber auch eine aufgeworfene lineare Erhebung, oder einfach ein Knick. In jedem Fall ist sie eine Unterbrechung der ebenen festen Fläche, in der Weise einer Hebung oder einer Einsenkung, eines Bruchs, – sei es einer Stoffbahn, eines Stücks Papier, einer ebenen Gesteinsformation, einer vormals glatten Haut. Eine Knospe der Nachtkerze am Wegrand, leuchtend in der Dämmerung, entfaltet sich mit bestürzendem Duft. Ich kenne keine Blüte sonst, bei der man der Bewegung des Sich-Auseinanderfaltens in dieser Weise zusehen kann. Ein Blatt nach dem anderen öffnet sich der Abendluft, die zerknitterten Falten glätten sich. Immer wieder ist es wie ein Wunder, es gibt kaum etwas anderes, in dem das griechische Wort physis wie auch das chinesische ziran 1 – von sich aus – ein solche Anschaulichkeit gewinnt, – das reine Aus sich heraus. Als Gegenbewegung erscheint das Zusammenfalten von Stoffen sowie das Falten von Papier und ähnlichem. Origami, die japanische Kunst, unterschiedliche Gegenstände, vor allem Tiere, aus Papier zu falten, hatte ihre erste Blütezeit schon lange vor der ersten Hoch-Zeit der Haiku-Dichtung. sung ist eine unmittelbare, sie läßt die begriffliche Distanz hinfällig werden. Das Bild wird zum nächsten, richtigsten, einfachsten Ausdruck. Es kommt, wenn man es kommen läßt, wenn man auf sein Sprechen hört. 1 Ziran gilt als Übersetzung von »Natur«.
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Faltung, Entfaltung
Sowohl wenn man Wäsche und Kleidung zusammenfaltet, 2 wie wenn Hände zum Gebet gefaltet werden, ist das eine Art Zusammenfalten, etwas wird mit sich zusammen-, auf sich zurückgeführt. Ich finde, die – nicht nur zum Gebet – gefalteten Hände sind ein starkes Bild gestillten, innigen Insich-ruhens. Das Verschränken der Hände schließt ihre in die Welt ausgreifende Bewegung in sich und mit sich selbst zusammen zu einem Kreis des gesammelten Bei-sich-bleibens. Das gefurchte Gesicht eines alten Indianerhäuptlings oder einer von den Jahren gebeugten, buckligen Bäuerin auf japanischen Reisfeldern: Falten haben sich tief eingegraben, Furchen des gelebten Lebens. 3 Als hätten die in Jahrzehnten gegangenen Wege sich selbst in die Gesichter eingegraben. Zu diesen Lebens-Wegen habe ich früher einmal zitiert: »Die Alten glaubten nicht daran, daß einen die vergehenden Jahre alt werden ließen. Sie hatten überhaupt nicht an das Vergehen der Zeit geglaubt. Nicht die Jahre ließen einen Menschen altern, sondern die Meilen und Meilen, die er durch die Welt gewandert war.« 4 Die tiefes Nachdenken anzeigende Stirnfalte, die Zutrauen weckenden Lachfalten oder die in ständiger Bitterkeit heruntergezogenen Mundwinkelfalten – sie alle schreiben Spuren von Stimmungen und Erfahrungen in die Haut ein, 5 mit denen sie dem Anderen ungewollt oder gewollt etwas zu verstehen geben. Platten der Erdkruste treffen aufeinander, eine schiebt sich unter die andere, die kontinentale oder maritime Ebene faltet sich auf. Die Auffaltungen der großen Gebirgskämme Sie soll im übrigen gerade so gefaltet werden, daß keine Falten bleiben! Zu den entlarvendsten Erscheinungen unserer Gegenwart gehört die AntiAging-Industrie, die faltenlose Haut im Alter, das dann kein Alter mehr sein soll, verspricht. 4 Leslie Marmon Silko, Der Almanach der Toten, 16; vgl v.Verf., Nichts, 113. 5 Dieses der Derridazeit und -nachfolge so teure Verb »einschreiben« – bringt es nicht selbst ein Bilden von Furchen und Falten zum Ausdruck? 2 3
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Faltung, Entfaltung
und die großen Grabenbrüche sind zwei der Grundgegensätze, die die Erdgeschichte in all ihren Erscheinungen bestimmen. Ihnen liegen ihrerseits die zum Erdinneren weisende Schwerkraft und die nach oben und außen drängende Erdwärme zugrunde. 6 Die Auffaltung des Himalaya-Massivs durch das Aufeinanderstoßen der Indisch-Australischen und der Eurasischen Platte hob Sedimentgesteine des Tethysmeeres zu den höchsten Erhebungen der Erde auf – Stein gewordener Gegensatz. Falte heißt auf Italienisch plica; 7 die – aus dem Lateinischen auch zu deutschen Fremdworten assimilierten – Komposita nennen unterschiedliche Weisen des Faltens: complicato ist das, was eng, bis zur Verwirrung, in sich zusammengefaltet ist, 8 implicato etwas, das in anderem enthalten, in es eingefaltet ist. Replicare bedeutet sowohl antworten – gewissermaßen den Gang der Rede zurückfalten – wie wiederholen – eine andere Art des Zurückfaltens – und eine Wiederholung, d. h. die Kopie eines Artefakts herstellen. Explicare heißt auseinanderfalten, explizieren. Wie die Knospe sich zur Blüte entfaltet, so entfaltet sich die Möglichkeit zur in ihr angelegten Wirklichkeit. Es ist kein Zufall, daß in Julliens Das große Bild hat keine Form das Wort »entfalten« ziemlich häufig vorkommt und doch unthematisch bleibt. Im Rückgriff auf die frühe chinesische Theorie der Malerei zeichnet er in aufeinander folgenden Analysen nach, wie sich die Dinge aus der Leere als reiner Dem für Gegensätze geschärften Blick fällt auf, wie sehr die Erdgeschichte von gegensätzlichen Energien, Kräften oder Bewegungen geprägt ist, z. B. durch die zyklisch geschehenden Abfolgen von Bildung und Zerbrechen von Superkontinenten oder von Erwärmung und Vereisung der Erde. 7 Vom lateinischen plica, das sich auch in sim-plicitas, ohne Faltung, findet. 8 Interessanterweise bedeutet im Mittelalter complicatus, zusammengefaltet, im Gegensatz zum heutigen Gebrauch einfältig, einfach. »complicatio omnium simplicitas ipsa et absoluta« (Cusanus, z. B. De docta ignorantia I, 21. 24; De beryllo c. 7. 11. 16; vgl. De Deo abscondito). 6
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gewellt/gewunden/krumm – gerade
Disponibilität des an ihm selbst unbestimmten Dao entfalten. Sich entfalten und sich ergeben scheinen mir in der Tat Worte zu sein, die das »Sein« des nicht mehr aus einem bestimmenden Grund her gedachten und erfahrenen Begegnenden in ziemlich adäquater Weise zum Ausdruck bringen. Sie evozieren das, was ich den nichthaften Raum nenne, 9 was Jullien mit der »Disponibilität« m. E. glücklicher benennt als mit »Quellgrund«, also das reine Wovonher des Sich-Entfaltens und Aufgehens ins Dasein.
gewellt/gewunden/krumm – gerade Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts haben gern die Autobahnen und Highways, überhaupt die großen Autostraßen verteufelt, wegen ihrer angeblichen Naturfeindlichkeit und Sterilität. Das können wir auf sich beruhen lassen; mir fiel auf, was für eine aufschließende – landschaftserschließende – Wirkung oftmals die unendlichen geraden Straßen haben, die die amerikanischen Weiten durchziehen. Sie stehen in der Tat in einem eklatanten Gegensatz zu den eigenen Formen der Natur, die, selbst wo sie schroff und zackig sind, kaum je wirklich gerade und linear erscheinen. Eine natürliche Strandlinie, der Lauf eines Flusses, die Formationen der Wolken, alles wölbt und windet, dreht und rundet sich. Die gerade Linie ist – wie das Rechteck und der rechte Winkel, der Winkel überhaupt – zumeist menschengemacht. 1 Für das menschliche Bauen und Errichten von Häusern, Straßen, Vgl. v. Verf., Der andere Heidegger, 100, 125 ff. In der Malerei sind die Gerade und das Rechteck für sich genommen, d. h. wo sie nicht an Menschengemachtem vorkommen, wohl erst mit der abstrakten Malerei im 20. Jahrhundert aufgetreten.
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gewellt/gewunden/krumm – gerade
häuslichem Gerät, spielten die gerade Linie – die kürzeste Entfernung zwischen zwei Punkten – und die gerade Fläche – die z. B. zum Setzen, Stellen, Legen erforderlich ist – immer schon eine bedeutende Rolle. Es waren in früheren Zeiten insbesondere die Heerstraßen, die zur schnellstmöglichen Transportierung von Menschen und Material als gerade Bänder durchs Land liefen. Die »schnurgeraden Römerstraßen« haben über 2000 Jahre lang die konkrete Grundlage, aber auch das Modell für Straßenanlagen gebildet. »Normale« Straßen und Wege passen sich dagegen den Gegebenheiten an, folgen der Landschaft, zuweilen mäandern sie wie Flüsse und Bäche durch Felder und Wiesen. Sie sind nicht so sehr explizit angelegte Straßen als vielmehr Verkehrs- und Verbindungswege, die sich einfach ergeben haben; sie sind durch den Gebrauch entstanden und haben sich dabei natürlichen Gegebenheiten des Terrains angepaßt. Wo dagegen Straßen wirklich angelegt wurden, wie in ihrerseits angelegten, d. h. geplanten – antiken wie mittelalterlichen wie modernen – Städten, wurde und wird für diese meistens – wenn sich nicht durch die Zentrierung um einen Mittelpunkt die zirkuläre oder durch die Lage an einem Fluß die halbkreisförmige Planung 2 nahelegte – die gerade Linie, das Planquadrat 3 gewählt. Folgerichtig erhalten die Straßen in manchen Fällen Zahlen oder Buchstaben als Namen. Widersprechen die ins Unendliche zu gehen scheinenden Straßen in Nordamerika wirklich der natürlichen Schönheit der Landschaft? Mir scheint es vielmehr so, als würden die weichen Formen der Erde durch den Akzent der geraden Bahn sogar verstärkt. In neuem Sinne gilt hier Rilkes von mir häufig zitierte Wendung »Wege gehen weit ins Land und Ein schönes Beispiel hierfür ist Köln. Als zwei bekannte Beispiele unter unzählbaren seien hier Korinth für das Altertum und New York für die Moderne genannt.
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gewellt/gewunden/krumm – gerade
zeigen’s«. Die Straßen entfalten gleichsam die Höhen und Tiefen, die Nähen und Fernen, die Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten um sie herum. Der Gegensatz bringt die Rundungen und Unregelmäßigkeiten, das Eigentümliche und Eigenwillige, aber auch die ruhige Weite der Landschaft in besonderer Weise zum Sprechen. 4 Die gerade und die krumme Linie sind Bilder für unterschiedliche Auffassungen von der Zeit. Die abendländische Tradition versteht diese im Kern als eine linear fortschreitende. Auch wenn die Gewichtung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Verhältnis dieser drei Zeitdimensionen zueinander im Lauf unserer Geschichte differierte, die lineare Ausrichtung war doch immer wieder die vorherrschende. Die Zeit wurde als Zeit-Gerade vorgestellt. Obgleich in der Natur so häufig un-gerade, gewundene und krumme Linien vorkommen, 5 wird im menschlichen Leben zumeist das Gerade höher eingeschätzt und geschätzt als das Krumme oder Gewundene. 6 Das Gerade ist rational, nachkonstruierbar, eine Grundgröße in Geometrie (die kürzeste gedachte Verbindung zwischen zwei Punkten, ohne die Endpunkte) und Mathematik (durch zwei ohne Rest teilbar). Das Krumme wird als das Un-gerade, Verbogene verstanden, übertragen als etwas Unrechtmäßiges und Gesetzwidriges. Im menschlichen Verhalten spricht man von einem aufrichtigen als einem geraden Menschen, der nicht gekünstelt und unredlich oder unehrlich, eben gewunden und krumm oder auch nur »linkisch« ist. Luther schreibt einmal: »Unsere Natur ist durch die Schuld der ersten Sünde so tief auf sich Anders habe ich allerdings viele landwirtschaftlich genutzte Landschaften in den USA erfahren. 5 Als eine ausgezeichnete Form des Krummen kann die Rundung, die Kreisförmigkeit angesehen werden, worauf ich aber nicht eingehe. 6 Das Gerade und das Krumme bildeten bereits eines der zehn grundsätzlichen Gegensatzpaare der Pythagoräer. 4
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Die Waage
selbst hin verkrümmt (lat.: tam profunda est in seipsam incurva), daß sie nicht nur die besten Gaben Gottes an sich reißt und genießt, ja auch Gott selbst dazu gebraucht, jene Gaben zu erlangen, sondern auch nicht einmal merkt, daß sie gottwidrig, verkrümmt und verkehrt alles […] nur um ihrer selbst willen sucht.« 7 Laotse sieht das gelassener, wenn er sagt: »Die große Geradheit gleicht der Lücke.« 8
Die Waage Das Bild der Waage stellt in gewisser Weise das genaue Gegenbild zum Gegensatz dar, aber so, daß sie ihn zugleich zur bleibenden Voraussetzung hat: die Waage bedeutet in ihrem Ruhezustand die Balance 1 – Aus-gewogenheit 2 – zwischen zwei Seiten mit der impliziten Möglichkeit der Bewegung WA 56, 304. Die große Vollendung gleicht der Lücke, – Ihr Nutzen wird nicht abgenutzt, Das groß Gefühlte gleicht dem Leeren, – Sein Nutzen wird nicht erschöpft. Die große Geradheit gleicht der Lücke, – Das große Geschick gleicht der Unbeholfenheit. Der große Gewinn gleicht dem Mangel. Rührigkeit besiegt die Kälte. Ruhe besiegt die Hitze. Stille und Ruhe braucht es, um die Welt richten zu können. (Daodeking, 45) 1 Balance kommt aus dem Lateinischen: bi-lanx – zwei Waagschalen habend. 2 Zum Verhältnis von Sinnlichkeit und Vernunft sagt Schiller in Bezug auf die erstere: »Die Aufgabe ist also, die Determination des Zustandes zugleich zu vernichten und beizubehalten, welches nur auf die einzige Art möglich ist, daß man ihr eine andere entgegensetzt. Die Schalen einer Waage stehen gleich, wenn sie leer sind; sie stehen aber auch gleich, wenn sie gleiche Gewichte enthalten.« (Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 20. Brief) 7 8
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Die Waage
nach entgegengesetzten Richtungen. Ihre Funktion ist es, die Gegenseiten in bezug auf ein gleiches Maß zu beurteilen, die eine in bezug auf die andere zu bestimmen. (Dabei genügt es zuweilen schon, das größere Gewicht der einen Seite für sich selbst herauszustellen: sind wir jemandem gewogen, so neigen wir ihm zu, zumindest implizit vor anderen.) Die Waage kann das Gleichgewicht, die Mitte zwischen zwei Gegensätzlichen – beide gegeneinander abwägend – anzeigen. Wie diese sich umgekehrt durch ihr Eigengewicht gegenseitig die Waage halten und so die Mitte zu dem Punkt ihrer Ausgewogenheit, dem Zünglein an der Waage machen. Die Ausgewogenheit enthält die beiden Gegensätzlichen in sich, während ebenso diese gemeinsam – und doch beide je für sich – ihre Mitte in sich tragen. 3 Die Waage erscheint darum immer wieder als Bild für die Mitte, die zwei Gegensätzliche zueinander- und im Ausgleich hält. Konkrete Erscheinung und allgemeines Bild können dabei nahe beieinander liegen: Daß schon die Sumerer vor 4000 Jahren das Sternbild der Waage als ein solches bezeichneten, wird einerseits damit erklärt, daß es zur Zeit der Herbst-Tag-und-Nachtgleiche am Himmel erschien, also den Ausgleich zwischen Sommer- und Winterzeit anzeigte, wie andererseits damit, daß zu dieser Zeit die Steuereintreiber mit ihrer Waage unterwegs waren, um die geschuldeten Getreidemengen auszumessen. Das Spiel der Waage ist, wenn wir genauer hinschauen, in zweifacher Weise durch Gegensätzlichkeit bestimmt. Zum einen stehen die beiden »Seiten« im Gegensatz zueinander, insofern ein jedes die Oberhand über das Andere zu gewinnen sucht, – die Nacht über den Tag, das Glück über das Un-
Gerechtigkeit besteht da, wo beide Seiten im Gleichgewicht sind; bei der Ungerechtigkeit ist das Gleichmaß verloren, und es überwiegt das Eine über das Andere.
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Die Waage
glück, die Ruhe über die Hektik, das Alter über die Jugend 4 . Jeweils scheint das Eine dem Anderen weichen zu müssen; doch im Augenblick der Schwebe, auf der Schwelle zwischen beiden sind die Gegensätzlichen ebensosehr »gleich«, – sie halten sich die Waage. Zum anderen besteht auf jeder der beiden Waagschalen ein Verhältnis des Mehr oder Weniger. Im Grunde ist es ja so, daß es bei dem Ausgleich der beiden Seiten jeweils um die Austarierung zwischen leichter oder schwerer auf jeder Seite selbst geht. In Goethes Gedicht Ein Anderes heißt es: Auf des Glückes großer Waage Steht die Zunge selten ein; Du mußt steigen oder sinken, Du mußt herrschen und gewinnen Oder dienen und verlieren, Leiden oder triumphieren, Amboß oder Hammer sein. Herrschen und Gewinnen, Triumphieren und Leiden stehen hier für das, was als Entweder/Oder auf beiden Waagschalen des Glückes liegt, aber damit eben auch für den inneren Kampf um ein Mehr oder Weniger auf jeder Seite für sich. Die Waagschale des Amboßseins senkt sich, je weniger sich in ihm selbst das Hammersein durchsetzt und umgekehrt. In zwei Bereichen begegnet uns – im mythologischen Wissen wie in der Literatur – das Bild der Waage traditionell besonders häufig. Zum einen im Zusammenhang der Vorstellungen von einem göttlichen letzten Gericht, vor das jeder Mensch, meist nach dem Tod, gestellt wird. Zum anderen – wenn auch in enger Verwandtschaft dazu – im ZusamDieses Gegensatzpaar unterscheidet sich von den anderen, weil es unumkehrbar ist.
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Die Waage
menhang mit den Geschicken, die das Leben der Menschen und seine Lebenszeit bestimmen. In den altägyptischen Totenbüchern findet sich die Auffassung, daß die Gestorbenen vor ein Totengericht gestellt werden, vor dem sie sich verantworten müssen und wo ihre Seele gewogen wird. Auf Abbildungen sieht man eine Waage, auf deren einer Seite das Herz des Toten liegt, dessen Schwere sich nach den Verfehlungen richtet, die er in seinem Leben begangen hat, oder auch danach, ob er hinsichtlich seiner Taten lügt oder die Wahrheit sagt 5 . Auf der anderen Seite liegt eine Feder. Bleibt die Waage im Gleichgewicht, sind seine Verfehlungen also federleicht gewesen, so kann der Tote in das Reich des Osiris eintreten, anderenfalls fällt er der »Totenfresserin« Ammit zum Opfer. Auch in der jüdischen und in der christlichen Tradition gibt es ähnliche Vorstellungen vom Totengericht. In der Geschichte der an der Wand erscheinenden geheimen, d. h. verrätselten Schrift Menetekel, die dem König Belsazar erst von David gedeutet werden kann, ist ebenfalls von einer Seelenwaage die Rede. Interessanterweise geschieht die Wägung allerdings gerade umgekehrt wie im Totenbuch, wo es auf die von bösen Taten freie Leichtigkeit der Seele ankam: »Du wurdest auf der Waage gewogen und für zu leicht befunden. […] Zerteilt wird Dein Königreich und den Persern und Medern übergeben«. 6 Man kann auch daran erinnern, daß der Erzengel Michael im Mittelalter zuweilen mit Waage und Schwert dargestellt wird, die wir gewöhnlich als Attribute der Justitia kennen. Während es bei ihr aber ganz allgemein um die Waage der Gerechtigkeit geht, wird Michael im Hinblick auf das Ein schönes Beispiel dafür, daß, wie gerade ausgeführt, auch und gerade die beiden Seiten der Waage je für sich schon durch einen Gegensatz bestimmt sind. 6 Altes Testament, Buch Daniel, V, 1–25. 5
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Die Waage
Weltgericht und als »Seelenwäger« gesehen. 7 Hier werden zwei unterschiedliche Komponenten des Bildes der Waage deutlich. Bei dem Erzengel wie bei den alten Ägyptern geht es beim Abwägen nicht so sehr um Gerechtigkeit als um das Gutsein oder Schlechtsein – um die Gewichtigkeit – der Seele im Hinblick auf ihr ewiges Leben. Insofern kommt es auf den Unterschied, die Gegensätzlichkeit der beiden Seiten an. Die Intention der Justitia ist es demgegenüber gerade, eine Gleichheit herzustellen. Hierauf kommen Adorno und Horkheimer in ihrer Dialektik der Aufklärung zu sprechen: »[…] so weist die Waage in der Hand des Zeus, welche die Gerechtigkeit der gesamten patriarchalen Welt versinnbildlicht, auf bloße Natur zurück. Der Schritt vom Chaos zur Zivilisation, in der die natürlichen Verhältnisse nicht mehr unmittelbar, sondern durch das Bewußtsein der Menschen hindurch ihre Macht ausüben, hat am Prinzip der Gleichheit nichts geändert. Ja die Menschen büßten gerade diesen Schritt mit der Anbetung dessen, dem sie vorher bloß wie alle anderen Kreaturen unterworfen waren. Zuvor standen die Fetische unter dem Gesetz der Gleichheit. Nun wird die Gleichheit selber zum Fetisch.« 8 Mit der Waage als Bild für ausgleichende Gerechtigkeit sind wir allerdings schon bei dem zweiten anzusprechenden Bereich. Denn wohl noch häufiger als bei der Abwägung der Seelen drängt sich das Bild der Waage bei der Betrachtung des menschlichen Schicksals auf. So läßt Zeus in der Ilias die Lebensschicksale von Trojanern und Achaiern auf seiner golIn einem ganz anderen Bezug zum Tod benutzt Adorno einmal das Bild der Waage. Hier kommt sie nicht im Tod – bzw. nach dem Tod – im Augenblick des Gerichts über die Seele ins Spiel, sondern der Tod ist hier selbst ihre eine Seite. »[…] wie wenn das Glück selber Verhängtes wäre gleich dem Tod. Dem mythischen Bewußtsein Carmens sind beide die verbundenen Schalen der Waage, und keine Ahnung verheißt ihr, das Glück könne einer anderen Ordnung angehören.« (Fantasia sopra Carmen, 304) 8 a. a. O., Begriff der Aufklärung, 33. 7
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Die Waage
denen Waage sich ausbalancieren. (Ilias 8, 68 ff.) Und später, im Entscheidungskampf zwischen Hektor und Achill vor den Toren der Stadt, als zwischen beiden ein Gleichgewicht zu bestehen scheint – »Also ergriff nicht dieser im Lauf noch enteilete jener« –, läßt er wiederum das Schicksal entscheiden: »Jetzo streckte der Vater empor die goldene Waage, / Legt’ in die Schalen hinein zwei finstere Todeslose, / Dieses dem Peleion und das dem reisigen Hektor, / Faßte die Mitt’ und wog; da lastete Hektors Schicksal / Schwer zum Aides hin«. 9 Was wäre das Ende gewesen, wenn die Götter nicht eingegriffen hätten? Die beiden Kämpfenden hätten es nicht selbst entscheiden können, da sie doch offenbar gleich stark und heldenmütig waren. Offenbar durfte es andererseits nicht der bloße Zufall sein, der über Leben oder Tod der Helden bestimmte. Das Geschick oder Schicksal scheint den Charakter eines Abwägens zu haben, ohne daß ihm deswegen eine eigene Vernünftigkeit zugesprochen würde. 10 Es ist wesentlich unberechenbar. »Denn ewig wanket des Geschickes Waage«, heißt es in Schillers Wallenstein. 11 Im Grunde ist das Schicksal damit eine sehr merkwürdige Macht. In ihm wird ein Schicken gedacht, das letztlich ohne Absender bleibt. Wenn von der Göttlichkeit des Schicksals gesprochen wird, so liegt darin eigentlich nur, daß die Menschen seiner Größe und Unerbittlichkeit ohnmächtig gegenüber stehen. Indem Zeus die goldene Waage emporhebt, vollstreckt er das Schicksal, bestimmt es jedoch gerade nicht selbst nach eigenem Gutdünken oder auch eigener Willkür. Ilias 22, 208. Es ist interessant, daß nicht Zeus selbst entscheidet, er überläßt vielmehr dem Schicksal seinen Lauf. 10 Ein Abwägen also ohne »Abwägen«, was laut Duden gerade »vergleichend und prüfend genau bedenken, überlegen« heißt. 11 Wallenstein selbst glaubt allerdings nicht an das Schicksal als ein launisches, sondern als sein und damit als ein gutes Schicksal. 9
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Die Waage
Zu Beginn von Goethes Estherspiel befürchtet Haman, der Berater des Königs Ahasver, daß die sein ganzes Leben bestimmende Leidenschaft, sein Rachegefühl gegenüber Mardochai, nicht, wie gehofft und intendiert, zum Ziele der Vernichtung des Juden führen könnte. Damit sieht er sich gewissermaßen am Scheidewege einer Erfüllung oder eines Scheiterns seines gesamten Lebenssinnes: »es wägt sich mein Geschick!« »Die Götter halten die Waage / eine zögernde Stunde an«, dichtet Gottfried Benn in dem Gedicht Astern. Blühen und Vergehen verharren in der Unentschiedenheit, auf der Schwelle von Dasein und Nichtmehrdasein, – eine Stunde in der Schwebe zwischen Tageshelle und Abenddämmerung, vor allem zwischen Sommertag und Herbst. »Der Sommer stand und lehnte und sah den Schwalben zu«. »Noch einmal« sammelt sich in diesem Moment die Fülle und Schwere des Sommers, seines Rauschs, seiner Rosen; und doch birgt er längst, trotz seines Zögerns und Verzögerns, als »Erfüllungsstunde« die Gewißheit des Endes in sich, – das Schicksal der Zeitenfolge muß sich erfüllen. Entgegen der gewohnten Vorstellung von der Zeit als einem unaufhörlichen Fluß des Nacheinander hält die goldene Waage der Zeit ihre gleichen Schalen in einer Stille des Ansichhaltens, in einem währenden Augenblick, vielleicht auch hier des Zögerns, vor allem aber des Aufbewahrens und Erinnerns des Gewesenen. Die Zeit ist im Gleich-Gewicht, wenn das Gewesene und das Kommende sich gleichsam ins Antlitz schauen und ins Gespräch miteinander kommen. Im Zustand dieser Aus-gewogenheit behauptet sich jede der beiden Seiten gegen die andere, negiert jene also zumindest in ihrer Eigenständigkeit, und bezieht sich doch zugleich positiv auf sie, indem sie sich ihr gleichsetzt. Das Moment der Ausgeglichenheit zwischen vergangenem Tag und hereingebrochener Nacht kommt besonders 105 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
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schön in Mörikes Gedicht Um Mitternacht zum Ausdruck, – auch hier übrigens ein »Lehnen«. Die erste Strophe geht so: Gelassen stieg die Nacht ans Land, Lehnt träumend an der Berge Wand, Ihr Auge sieht die goldne Waage nun Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn; Und kecker rauschen die Quellen hervor, Sie singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr Vom Tage, Vom heute gewesenen Tage. Zum Schluß noch zwei weitere, sehr unterschiedliche Bezüge auf die Waage: Unstete Waage des Lebens immer schwankend, wie selten wagt ein geschicktes Gewicht anzusagen die immerfort andre Last gegenüber. Drüben, die ruhige Waage des Todes. Raum auf den beiden verschwisterten Schalen. Gleichviel Raum. Und daneben, ungebraucht, alle Gewichte des Gleichmuts, glänzen, geordnet. 12 Und: Rilke, Unstete Waage des Lebens, aus Toten-Mahl, Unstete Waage des Lebens, Nachlaß. 12
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Death Valley
»Im Traum, im letzten Morgentraume stand ich heut auf einem Vorgebirge – jenseits der Welt, hielt eine Waage und wog die Welt. O daß zu früh mir die Morgenröte kam: die glühte mich wach, die Eifersüchtige! Eifersüchtig ist sie immer auf meine Morgentraum-Gluten. Meßbar für den, der Zeit hat, wägbar für einen guten Wäger, erfliegbar für starke Fittiche, erratbar für göttliche Nüsseknacker: also fand mein Traum die Welt; – Mein Traum, ein kühner Segler, halb Schiff, halb Windsbraut, gleich Schmetterlingen schweigsam, ungeduldig gleich Edelfalken: wie hatte er doch zum Welt-Wägen heute Geduld und Weile!« 13
Death Valley Death Valley – Tal des Todes. Das klingt in der deutschen Übersetzung ein wenig nach Karl May und Wilder Westen und meint doch eine der schönsten und vielfältigsten Landschaften, die ich kenne. 1 Der Name erinnert an die SiedlerTrecks, die einen Weg nach Westen suchten und in der trügerischen Hoffnung, eine Abkürzung gefunden zu haben, elend den Dursttod erlitten. Auch heute noch finden immer wieder Menschen in der extremen Hitze und Trockenheit den Tod. Aber heute sind sie, um es brutal zu sagen, selbst schuld;
Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Von den drei Bösen. Ich gebe nur einige wenige Überlegungen und Erfahrungen wieder. Wie schwierig es ist, über etwas so Eindrückliches wie das Death Valley Angemessenes zu sagen, zeigen m. E. auch die sechs »Death Valley« überschriebenen Gedichtstücke von Sarah Kirsch, die im Grunde sehr wenig aussagen.
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Death Valley
mit angemessener Ausrüstung muß man im Death Valley nicht mehr dem Tod begegnen. Weder real noch atmosphärisch oder stimmungsmäßig. Es gibt so viel lebendige Schönheit dort, daß man eher im Hier und Jetzt jubiliert, als daß man Todesgesänge anstimmen würde. Gleichwohl bleiben der Name und die alten und neueren Geschichten präsent. Es ist fast, als verwiese das Leben selbst auf seine Negation. Darum ist Gegensätzlichkeit (etwa die von heißen Tagen und eisigen Nächten, bunten Farben des Gesteins bei Sonnenaufund -untergängen und fahlem Licht in der Mittagshitze oder auch die von weißen Sanddünen und schwarzen Lavahängen, Palmenoasen und vertrockneten Salzseen) hier in besonderer und aufdringlicher Weise erfahrbar. Eine »subjektive« Gegensätzlichkeit besteht für mich auch in seiner Bezeichnung als »Valley«, als Tal. Sie paßt kaum in meine Erfahrung dieser Gegend und überhaupt der Landschaften des amerikanischen Südwestens. Die mountain ranges und die dazwischen liegenden plains, die von Mexiko bis nach Kanada reichen und von der Pazifikküste bis zu den Rocky Mountains und darüber hinaus, erinnern nicht an die aus europäischen Landschaften gewohnten Verhältnisse von Bergen und Tälern, 2 wie sie sich uns z. B. durch die aus Erfahrungen und Stimmungen der Romantik entstandenen Lieder und Gedichte gebildet haben. So erscheinen mir die ausgedehnten Ebenen am Fuße der oder zwischen den langen
Bei Wikipedia ist zu lesen: »Ein Tal ist eine durch das Wechselspiel von Erosion und Denudation entstandene, für gewöhnlich langgestreckte, nach mindestens einer Seite offene Hohlform in der Landschaft. Die linienhafte Erosion erfolgt durch einen Fluss, die flächenhafte Denudation durch gravitative Massenbewegungen. Die tiefste Linie wird je nach Form Tiefenlinie, Talsohle oder Talboden genannt. Diese weist ein monotones (gleichsinniges) Gefälle auf. Bei abweichender Form oder anderen Entstehungsprozessen (z. B. bei Glazialerosion) spricht man nicht von einem Tal, sondern von Talung oder talähnlichen Formen (z. B. glaziale Rinne).« 2
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Death Valley
Bergrücken der Cascades oder der Sierra Nevada nicht als »richtige« Täler. 3 Es mag auch mit an der relativen Kleinformatigkeit und dem unregelmäßigen Wechsel zwischen Tälern und Höhen, die wir in Mitteleuropa gewohnt sind, liegen, daß das Begriffspaar »Berg und Tal« andere Assoziationen weckt als die weiten Formationen des amerikanischen Westens, die insgesamt in das große Trockengebiet des Great Basin gehören, das sich im Regenschatten der Berge entlang der Pazifikküste erstreckt und in dessen Südwesten das Death Valley liegt. Bei der gewohnten Vorstellung von Berg und Tal dominiert der erstere, das Tal liegt zwischen den Berghängen, manchmal auch tief eingeschnitten (wie ein Canyon, z. B. die Donau in ihrem oberen Lauf). Die Great Plains dagegen sind nicht »zwischen Bergen«, eher trennen die parallelen, durch Brüche und Hebungen entstandenen Bergzüge, die sich den Plains gleichsam in den Weg stellen, deren einzelne Teile. 4 Die Ebene steht jeweils in einem kargen und schroffen Verhältnis zu den Berghängen, die zumeist steil abfallen, bzw. in fans, Ablagerungsfächern, in sie münden. Gleichwohl gehören die Bergzüge und Ebenen eng zusammen, bilden die beiden Seiten eines Einen; sowohl wenn man sie von Westen nach Osten in ihrem ständigen und doch vielgestaltigen Wechsel über- bzw. durchquert, wie wenn man in Süd-Nord-Richtung den Bergrücken folgt. Überall Allerdings nennt man in Deutschland auch den weiten Oberrheingraben das Rheintal. 4 Anders ist das Verhältnis von Ebenen und Bergrücken weiter im Osten. Von Tucson kommend bin ich ca. 800 km ostwärts gefahren, auf unendlichen Hochflächen, mal mehr sandig, mal mehr steinig, mal mit gelben Prickley Bear Kakteen bestanden, mal mit Yuccas, mal nur mit Creosote- oder Sagebüschen. Ab und an erschienen Berge am Horizont, kamen allmählich näher, und die Straße stieg, oftmals fast unmerklich, an, bis sie wie in einer letzten Anstrengung in etwas stärkerer Steigung über einen flachen Paß zwischen zwei Berggipfeln führte, um wieder in die nächste Ebene hinabzugelangen. 3
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Death Valley
gibt es kleine und große Nebentäler oder Schluchten, wo das Gestein oftmals besondere Farben und Formen aufweist, vom glatten Marmor bis zu schroffen Nadeln, von an die Palette eines Malers erinnernden Färbungen bis zu dunklem Braun oder Schwarz der Lavahänge oder Abstürze. Die große abflußlose Hauptebene des Death Valley liegt zu einem guten Teil unter dem Meeresspiegel. Weite Flächen sind – unterbrochen von Stellen, wo noch flach das der Verdunstung ausgesetzte Wasser steht 5 – mit weißen Salzkristallen bedeckt, die zu merkwürdigen geometrischen Formen geführt haben. Ab und an regnet es auch im Death Valley. Das sind dann gewöhnlich – alle paar Jahre einmal – riesige Wasserfluten, die große Mengen von Sand und Geröll die Berge hinabwälzen und am Ausgang der Canyons in den charakteristischen fans ablagern. Im Anschluß ist der sonst weitestgehend nackte Wüstenboden der Ebene dann plötzlich übersät von zig Tausenden von bunten Blumen, was unzählige Besucher aus dem ganzen Land anlockt. Vor Jahren kam ich einmal ins Death Valley, als die Wüste blühte. Es ist schon erstaunlich, immer wieder in der Wüste auf Wasser – auf Flüsse, Seen, Wasserlöcher – zu stoßen. 6 Aber die Erscheinung gewordene Gegensätzlichkeit einer in wilden Farben erblühenden Wüste hat noch eine ganz andere Qualität.
Vor zehntausend Jahren verschwand der Lake Manly, der lange Zeit den Talboden bedeckte. Entsprechend den Klimaveränderungen gab es immer wieder feuchte Zeiten mit ausgedehnten Seen, die dann in heißeren Zeiten verdunsteten. 6 Vgl. oben, S. 74. 5
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Licht und Dunkel II Ganz abgesehen von seiner zeitlichen Verknüpfung mit Tages- und Jahreszeiten ist uns das Licht primär das Medium der Sichtbarkeit von Formen und Farben. Das Sehen und die Sichtbarkeit erscheinen als die wichtigsten Voraussetzungen des In-der-Welt-seins. Im Dunklen können das Tast- und vielleicht auch das Geruchs- und Geschmacksvermögen zunehmen – möglicherweise nur mittelbar, durch die Ausblendung des sonst alles bestimmenden Sehens –, das Hören gewinnt eine ganz eigene Qualität in der Nacht; doch die Fähigkeit des Uns-Auskennens in unserem Lebensumfeld ist gewöhnlich primär an das Sehen gebunden. Darum ist es nicht zufällig, daß in der gesamten abendländischen Denktradition dem Licht und der Lichtmetapher eine so überragende Bedeutung zuerkannt wurde. Wenn die gesicherte Erkenntnis dessen, was in Wahrheit ist, des Wesens, im Mittelpunkt des philosophischen Trachtens steht und wenn dieses Wesen in den Dingen im engeren Sinne, in den Substanzen und in diesen, insofern sie Form und Gestalt sind, gesehen wird – während Gerüche, Bewegungsformen, Verhältnisse bloße Akzidentien sind –, dann kommt dem Sehen ein Vorrang unter den menschlichen Sinnen zu, und dann liegt es nahe, auch dem geistigen Sehen und Vernehmen die Führung bei der Erkenntnis der Wahrheit zuzusprechen, so unsichtbar-unsinnlich diese auch angesetzt sein mag. Mit der Bedeutung, die das Licht für das Denken und die Vernunft hat, geht seine enge Verknüpfung mit dem Guten einher, ohne daß eine eindeutige Kausalität in der einen oder der anderen Richtung zu behaupten wäre. (Bei Platon allerdings steht eindeutig die Idee des Guten im Mittelpunkt, das Licht wird in den berühmten Gleichnissen in der Politeia nur zu ihrer Erläuterung herangezogen.) Die Dunkelheit, viel111 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
Licht und Dunkel II
leicht mehr noch die Finsternis gilt in vielen Kulturen als das Reich des Bösen; das Göttliche und Geistige wird als hell, licht erfahren, das Sinnliche und Körperliche als finster. Die dunkle Materie und der helle Geist stehen sich ontologisch und moralisch als einander widerstreitende Prinzipien gegenüber. Das Licht erscheint als vorrangig und »besser«, 1 wohl u. a. auch, weil es das Sehen und damit das Bescheidwissen ermöglicht; die Materie ist finster und böse, auch weil sie undurchsichtig, undurchdringlich und undurchschaubar ist und so Unwissenheit und Unsicherheit bedeutet. Es gibt gleichwohl auch eine der gewohnten Hochschätzung des Lichts entgegengesetzte positive Sicht auf die Dunkelheit. Trotz der Vorherrschaft und der entsprechenden Verehrung des Lichts fühlen wir ja in anderen Situationen und Gegebenheiten auch das Bergende und Beruhigende der Dunkelheit. »Nacht! Nacht! du undurchdringliche, ewige, du liebende Geliebte, du Gipfel der unendlichen Tiefe, du Ruhe der Vollendung«, schreibt Brentano. (Godwi, 104) Die Nacht ist die Zeit der Entspannung und des Schlafs, die Zeit der Liebe. Ihre Dunkelheit ist u. a. konnotiert mit Stille und Ruhe und Unaufgeregtheit. Ist unser Blick nicht mehr von vorneherein auf die Grundhaftigkeit und Beständigkeit des unveränderlichen Seins ausgerichtet, überzeugt und bindet uns die seit Parmenides für das abendländische Denken konstitutive Ausschließung des Nichts nicht mehr, so verliert auch die enge Verbindung zwischen dem Sein, dem Guten und dem Licht ihren Sinn. Jetzt geht es bei der Betrachtung des Seienden eher darum zu erfahren, wie es »nichts ist mit etwas«, wie die Dinge miteinander im nichthaften Raum sind. Das Nichts ist gewisVgl. z. B. unter unzähligen anderen Zeugnissen: »Dunkelheit kann Dunkelheit nicht vertreiben – nur das Licht kann das! Hass kann Hass nicht vertreiben – nur die Liebe kann das!« (Martin Luther King)
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Licht und Dunkel II
sermaßen in die Qualität der Dinge, in die Weise, wie sie sind und sich verhalten, eingezogen. Das Bild für diese Nichthaftigkeit ist das Dunkel. Heidegger hat mit der Stille und dem Schweigen auch die Dunkelheit mehrfach zur Sprache gebracht. »Diese Dunkelheit ist vielleicht bei allem Denken jederzeit im Spiel. […] Das Dunkle aber ist das Geheimnis des Lichten. Das Dunkle behält das Lichte bei sich. Dieses gehört zu jenem. […] Sterbliches Denken muß in das Dunkel der Brunnentiefe sich hinablassen, um bei Tag den Stern zu sehen. Schwerer bleibt es, die Lauterkeit des Dunklen zu wahren als eine Helle beizuschaffen, die nur als solche scheinen will. Was nur scheinen will, leuchtet nicht.« 2 Das Dunkel wird hier als etwas gesehen, was auch noch das Lichte umfaßt oder in sich birgt. Im Leuchten des Lichten schimmert die Herkunft oder der Hintergrund einer Dunkelheit, aus der es seine Kraft nimmt, indem es aufscheint. Damit ist kein Nacheinander gemeint, wie wenn die Freude des Vereintseins ihre Kraft nimmt aus einer langen Trennung. Vielmehr: wie ein reiner Ton eine Stille, die er bricht, doch nicht verdrängen muß, sie vielmehr in sich aufbewahren kann, weil sie es ist, die ihn nährt und hält, so scheint das Helle aus und vor der Dunkelheit. »Alle Dunkelheit der Welt kann das Licht einer einzigen Kerze nicht auslöschen«, sagt ein Spruch aus China. Ich denke, daß die Dunkelheit hier zunächst als Subjekt des Satzes gedacht ist, daß also das Kerzenlicht, so schwach es auch sein mag, der Finsternis ihre absolute Macht zu nehmen vermag. Doch man sollte da noch weiter gehen. Die Dunkelheit der Welt wird gerade dann als eine solche selbst sichtbar, wenn das Licht einer Kerze in ihr aufscheint. So wie umgekehrt die Kerze nur leuchtet, weil sie in der Dunkelheit brennt, – im hellen Tageslicht verblaßt sie. 2
Heidegger, Grundsätze des Denkens, 93.
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Gestillte Gegensätzlichkeit: Maria mit dem schlafenden Kind (Mantegna) Maria hält ihr schlafendes Kind. 1 Mit ihm zusammen bildet sie eine Einheit, die sie – in einem an ein Ei erinnernden schwach angedeuteten Oval – gegenüber der Welt ab- bzw. aus dieser ausgrenzt, zugleich auch in eine eigene Welt eingrenzt. Doch ist diese Geschlossenheit des In-sich-ruhens nicht nur eine körperliche. In ihr spiegelt sich vielmehr ein äußerstes Gestilltsein grundsätzlicher Gegensätze, insbesondere des Gegensatzes von Glück und Trauer, aber auch von Augenblick und Dauer, von Zusammen- und Getrennt-, Eins- und Zweisein, von Anfang und Erfüllung. Man könnte diesem Bild auch den Namen »wissende Liebe« geben. Oder auch: »liebendes Wissen«. Die tiefe Liebe der Mutter zu ihrem Kind, das sie mit ihren bergenden Händen hält, die Liebe, die sich auch in ihrem träumend geneigten Kopf ausdrückt, diese Liebe geht zusammen mit einem tiefen Wissen, das von einem Blick in das Schicksal, das Leben, die Zukunft herzurühren bzw. in diesem Blick zu bestehen scheint. Gefühl und Wissen sind gemeinsam gestillt in ein gelassenes Hingegebensein an das, was sich ergeben wird.
Vielleicht weil das Kind schläft, ist es tatsächlich als ein Säugling gemalt, was ja bei Madonnenbildern eher selten der Fall ist.
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Gegensätze im menschlichen Leben Der Prediger Salomo schreibt: »Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde. Geboren werden und sterben, pflanzen und ausrotten, was gepflanzt ist, würgen und heilen, brechen und bauen, weinen und lachen, klagen und tanzen, Steine zerstreuen und Steine sammeln, herzen und ferne sein von Herzen, suchen und verlieren, behalten und wegwerfen, zerreißen und zunähen, schweigen und reden, lieben und hassen, Streit und Friede hat seine Zeit.« 1 Alles hat seine Zeit, das soll heißen: alles ist je für sich zu einer bestimmten Zeit da, die zu ihm wie es in diese Zeit gehört. Es heißt zugleich: alles hat nur seine ihm zu- und angemessene Zeit, alles geht irgendwann zu Ende. Die Tagesund die Jahreszeiten, die Winde und die Wolken, die Blumen und die Tiere, das Aufblühen und das Verwelken, – alles ist zu seiner Zeit. Es ist irgendwann und ist irgendwann nicht mehr; es war vorher nicht und wird später nicht mehr sein. Darin liegt auch, daß vor ihm anderes war, nach ihm anderes sein wird. Ein jegliches hat seine Zeit. Es erfüllt seine spezifische Zeitspanne, es hat seine Anfangs- und Endstadien, seine Blüte- und Verfallszeiten, seine Höhe- und Tiefpunkte, wie auch seine langen Strecken des Verweilens und Ansichhaltens. Und so verhält es sich auch mit den »menschlichen Dingen«. Was die Menschen tun und schaffen, währt je eine bestimmte Zeit, – sowohl was das Tun selbst wie auch was dessen Ergebnisse angeht. Selbst die »unsterblichen« Werke oder die »ewigen« Schwüre haben ihre Verfallszeiten. Für
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Das Alte Testament, Der Prediger Salomo, 3,1–8.
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Gegensätze im menschlichen Leben
viele Vorhaben gibt es eine geeignete oder günstige Zeit, die in verschiedenen Kulturen von Wahrsagern, Schamanen u. a. bestimmt werden kann. Alles hat seine Zeit. Wenn wir in diesem Satz das »seine« betonen, setzt sich ein »zur rechten Zeit« einem »zur Unzeit« entgegen. Man sagt: alles zu seiner Zeit, und meint, daß etwas zu einem bestimmten Zeitpunkt auch nicht »an der Zeit« sein kann. Seine Zeit ist die Zeit, die dem Ding oder Geschehen wesensmäßig zukommt, die Zeitspanne oder der Augenblick, in denen sie sich in dem, was sie an ihnen selbst sind, in dieser oder jener Weise entfalten können. Spannenderweise nennt der Prediger Salomo, wenn er sagen will, daß alles unter dem Himmel seine Zeit und seine Stunde hat, zum einen nur Gegensätze und zum anderen nur solche, die den Menschen betreffen, und zwar, abgesehen vom ersten Gegensatzpaar, das alle anderen umgreift, ausschließlich gegensätzliche Handlungen. Zeichnet es in besonderer Weise die menschlichen Verrichtungen aus, daß sie sich in Gegensätzen bewegen? Wenn wir etwas tun, haben wir uns dann implizit immer schon für eine von zwei gegensätzlichen Handlungen entschieden, die sich irgendwann notwendig in ihr Gegenteil wandelt, – eben weil sie nur eine bestimmte Zeit zu dauern vermag? Jeweils braucht das Vornehmen Zeit und vollzieht sich in einer bestimmten Zeitspanne. Je für sich scheint es in sich selbst erfüllt; das Bauen, das Lachen und Glücklichsein, das Lieben scheinen in ihrer Je-weiligkeit ganz da zu sein. Ihr Weilen beruht in sich. Und doch liegt in ihnen zugleich der Keim ihres Anderen; ihr Ende ist ihnen schon mitgegeben. Wie auch umgekehrt das Streiten, das Niederreißen oder das Klagen trotz ihrer augenblicklichen Intensität und scheinbaren Absolutheit ihr Aufhören und damit ihr Umschlagen schon in sich haben. Sowohl das »Negative« wie das »Positive« trägt sein Anderes an sich und in sich. 117 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
Gegensätze im menschlichen Leben
Salomo kommt es in diesem Zusammenhang gar nicht auf solche wertenden Konnotationen an, in der Aufzählung wird einmal das Eine, einmal das Andere als Erstes genannt. Jedes für sich wandelt sich von einer Bestimmtheit oder Phase in die entgegengesetzte. Wenn alle ihre Stunde haben, so sind alle zugleich in einer Bewegung des Übergangs von ihrem Sosein zu ihrem Nichtsosein und umgekehrt. Was auch immer der Mensch tut, es hat ausdrücklich oder unausdrücklich gegensätzlichen Charakter, weil es zeitlich ist. Es bleibt nicht, sondern schlägt um in sein Gegenteil, und weil es umschlägt in sein Gegenteil, hat es jeweils nur seine Zeit, es ist augenblickshaft vorübergehend, in der griechischen Zeiteinheit gesagt: ephemer – nur einen Tag dauernd. Zwar denkt, wer baut, nicht daran, daß das Gebaute einmal verfallen wird, wer weint, tröstet sich, solange er weint, nicht damit, daß die Tränen auch wieder versiegen werden. Was der Mensch tut, tut er zumeist, ohne an das Ende zu denken. Aber dennoch schafft und tut er nichts Bleibendes. Der chinesische Weise – und vielleicht der im Heideggerschen Sinne gelassen Besinnliche – ist sich dieser Übergänglichkeit bewußt und bleibt der »Eitelkeit« alles menschlichen Vornehmens eingedenk; er hält sich jeweils in einer Offenheit für beides. Er weiß um die unmittelbare Zusammengehörigkeit, das immanente Aneinandergrenzen und Ineinanderübergehen der gegensätzlichen Handlungen. Sie fügen sich in das Spiel von Entstehen und Vergehen, weil sie Teil des größeren und umfassenden Weltspiels sind. Denn es hat eben nicht nur alles Vornehmen unter dem Himmel seine Zeit, sondern überhaupt steht ein jegliches Ding zwischen Anwesenheit und Abwesenheit. Vielleicht hätte man auch einfach sagen können: alles ist in Bewegung, insofern Bewegung als solche der Übergang von einem Nicht-so in ein So und umgekehrt ist. 118 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
Gegensätze im menschlichen Leben
Salomo mahnt angesichts der Vergänglichkeit von allem menschlichen Tun nicht einfach zu Gleichmut und Gelassenheit. Aus seiner Einsicht in die Eitelkeit und Vergeblichkeit zieht er vielmehr den Schluß, daß es also im menschlichen Leben darauf ankäme, es sich gut sein zu lassen und heiter zu sein. »Darum merkte ich, daß nichts Besseres darin ist denn fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben.« (3, Vers 12) 2 Und: »So sah ich denn, daß nichts Besseres ist, als daß ein Mensch fröhlich sei in seiner Arbeit; denn das ist sein Teil. Denn wer will ihn dahin bringen, daß er sehe, was nach ihm geschehen wird?« (3, Vers 23) Bei dieser Aufforderung zur Freude am jeweiligen Tag und am Leben überhaupt steht die Voraussetzung im Hintergrund, daß es letztlich Gott ist, der alles lenkt und somit auch das Negative und das Ungemach schickt, um den Menschen zu prüfen und ihm seine Kleinheit vor Augen zu führen. Daß Salomo fast nur Verrichtungen des Menschen, nur menschliche Gegensätze nennt, liegt ja auch daran, daß es ihm in seinen Predigten um das angemessene Verhalten des Menschen, und d. h. für ihn, um sein Verhältnis zu Gott geht. Doch zurück zur Gegensätzlichkeit der Verrichtungen selbst. Gleichsam umrahmt sind all die Beispiele für menschliches Vornehmen von dem ersten und umgreifenden Gegensatz des Geborenwerdens und des Sterbens, des Ins-Lebenkommens und Aus-dem-Leben-gehens. Das sind keine vom Menschen gesetzten Pole, sie bilden in ihrer Spannung vielmehr den Raum, innerhalb dessen sich sein Leben abspielt. Die Zeitlichkeit im Sinne der Vergänglichkeit von allem Vornehmen entspricht der Sterblichkeit des menschlichen Daseins. Die einem jeglichen Ding zugemessene Zeit, seine Zeit, Oder in einer anderen Übersetzung: »Ich hatte erkannt: Es gibt kein in allem Tun gründendes Glück, es sei denn, ein jeder freut sich und so verschafft er sich Glück, während er noch lebt.«
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Gegensätze im menschlichen Leben
hat ihren Ort im endlichen Ganzen des menschlichen Lebens und gewinnt ihre Bedeutung von diesem Ganzen her. Die durch Gegensätzlichkeit gezeichneten sterblichen Handlungen und Verhaltensweisen sind, wie sie durch das Zusammenspiel von Geborenwerden und Sterben bestimmt sind, durchzogen von anderen großen Gegensätzen: Einatmen und Ausatmen, Energie und Trägheit, Aufnahme und Ausscheidung bzw. unwillkürliches Empfangen und Geben, Spannung und Entspannung, Anfangen und Aufhören, Zunehmen und Abnehmen, Sich-bewegen und Ruhen. In ihnen reicht die sich zwischen Gegensätzen vollziehende Bewegtheit der Welt selbst in das menschliche Leben hinein bzw. das menschliche Leben hat in ihrem Rhythmus an jener teil. In stärkerem oder geringerem Maß sind diese lebenbestimmenden Dualitäten unabhängig von unserem Wollen und unseren Intentionen. Lebensqualität und Lebensglück hängen zu einem guten Teil davon ab, wie weit es dem Menschen gelingt, sich in diesen großen, vielfältigen Atem der Welt einzufügen. Eine besondere Bedeutung spricht man unter den das menschliche Leben bestimmenden Gegensätzen dem Glück und Unglück, dem Sich-wohl- und Sich-unwohl-fühlen, dem Hochgefühl und Deprimiertsein zu. Aristoteles sagt in seiner Nikomachischen Ethik, daß alles Wissen und alles Tun letztlich auf ein höchstes Gut aus ist, das nicht um eines Zweckes, sondern um seiner selbst willen geschieht; und seine erste Bestimmung des höchsten Gutes kennzeichnet dieses als höchste Glückseligkeit (eudaimonia). 3 Hochgefühl und Niedergeschlagenheit färben auf ihre unterschiedliche Weise all unsere Tage. Wie es uns gelingt, uns einzurichten in unserer Welt und in dem, was uns innerhalb ihrer zustößt Zum Streben nach Glück gehört implizit die Bemühung, Unglück zu vermeiden.
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Gegensätze im menschlichen Leben
und geschieht, wie wir lernen, mit unserem Geschick, mit den Widerfahrnissen unserer jeweiligen eigenen wie der »großen« Geschichte umzugehen, – das alles bestimmt unsere alltägliche Gestimmtheit. So sind unser Glück und unser Unglück, über die jeweiligen Umstände, das »Schicksal« hinaus, zusammengefügt aus eigenem Vermögen und dem, was uns, wie man sagt, in die Wiege gelegt wurde, – auch ein ineinanderspielender Gegensatz. Den letzteren Anteil nennt Hölderlin in zwei schönen Stellen in der Hymne Der Rhein. […] Denn Wie du anfingst, wirst du bleiben, So viel auch wirket die Not, Und die Zucht, das meiste nämlich Vermag die Geburt, Und der Lichtstrahl, der Dem Neugebornen begegnet. […] Drum wohl ihm, welcher fand Ein wohlbeschiedenes Schicksal, Wo noch der Wanderungen Und süß der Leiden Erinnerung Aufrauscht am sichern Gestade, Daß da und dorthin gern Er sehn mag bis an die Grenzen, Die bei der Geburt ihm Gott Zum Aufenthalte gezeichnet. Dann ruht er, seligbescheiden, Denn alles, was er gewollt, Das Himmlische, von selber umfängt Es unbezwungen, lächelnd Jetzt, da er ruhet, den Kühnen.
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Gegensätze im menschlichen Leben
»Es gibt immer zwei Möglichkeiten«, so hört man oft sagen. Entweder – oder, hier oder dort, jetzt oder später, so oder so, für mich oder gegen mich, allein oder zusammen, schon oder noch nicht, gut oder schlecht, himmelhochjauchzend oder zu Tode betrübt, passiv oder aktiv, lebend oder tot. Entweder – oder, es gibt immer zwei Möglichkeiten. (Frau Thatchers oder Frau Merkels »alternativlos« ist demgegenüber lediglich Ausdruck des faktischen oder vorgeblichen Fehlens der Bereitschaft zur offenen Diskussion.) Und wenn wir von der Möglichkeit der Entscheidung für die eine der beiden Möglichkeiten her blicken, haben wir immer nur zwei Möglichkeiten vor uns: dies oder nicht dies – das »nicht dies« mag in bestimmten Fällen auch noch so mannigfaltig sein. Daß jedes seine Zeit hat, heißt, daß es in dem Sinne eine begrenzte Zeit hat, daß seine Anwesenheit umschlägt in Abwesenheit, sein Sein in Nichtsein. Doch ist dieses Nichtsein nicht einfach Nichtsein schlechthin, sondern als Nichtsein von etwas ist es selbst etwas. So vergehen ja auch die Winde und die Wolken, wenn sie aufhören, nicht in ein Nichts, sondern in Windstille – die ihre eigene Qualität hat – bzw. in wolkenlose Bläue hinein. Der Tag wird zur Nacht, der Sommer zum Winter, der Sonnenschein zu Regen und Schnee, die Wärme zur Kälte. Ein jegliches verändert sich in sein Gegenteil. Und ebenso ist es als Gewordenes aus seinem Gegenteil ins Sein getreten. Anfang und Ende sind die Grenzen des Seienden gegen sein Nichtsein. Insofern sind sie in doppeltem Sinne von Gegensätzlichkeit bestimmt. Salomos Gegensätze im »Vornehmen unter dem Himmel« scheinen ausschließende Gegensätze zu sein: entweder würgen oder heilen, Steine zerstreuen oder Steine sammeln, behalten oder wegwerfen. Wenn das Heilen beginnt, hat das Würgen ein Ende, und wenn das Würgen anfängt, ist es mit dem Heilen vorbei. Und doch ist die Zeit, die ein jedes von ihnen einnimmt oder 122 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
Vulkane
ausfüllt, nichts Isoliertes, sie ist nicht ohne das jeweils Andere, – in der Erinnerung oder dem Vorgriff, in dem Versuch der Vermeidung, der Absetzung, der Diskreditierung oder Negierung. »Was geschieht, das ist zuvor geschehen, und was geschehen wird, ist auch zuvor geschehen«. (3, Vers 15) Das gilt nicht allein darum, weil, nach Salomos Überzeugung, alles, was Gott tut, immer besteht, sondern weil alles Vornehmen unter dem Himmel und auf der Erde den Charakter eines In-sich-schwingens hat, weil es trotz der Gegensätzlichkeit, die es seiner jeweiligen Begrenztheit verdankt, doch in Gegenseitigkeit verbleibt. Eines der von Salomo angeführten Beispiele ist »schweigen und reden«. Im alltäglichen Leben scheinen beide in der Tat gegensätzlich in dem Sinne, daß man entweder redet oder schweigt. Im Gespräch wechseln wir zwischen reden und schweigen. Wir reden, z. B. um dem Anderen eine Meinung mitzuteilen, und – im Idealfall – schweigen wir dann, um auf seine Entgegnung zu hören und darüber nachzudenken, worauf wir vielleicht wieder das Wort ergreifen, und so fort. Doch wieviel Reden kann im Schweigen selbst liegen und vielleicht Schweigen und Verschweigen im Reden! Und braucht nicht ein gutes Reden einen Raum des Schweigens, aus dem es aufsteht, ist nicht ein Schweigen nur dann nicht leer und »nichtssagend«, wenn in ihm selbst ein Reden aufbewahrt ist?
Vulkane Gegensatz von grau/weiß/beige bis farbig – rot, gelb, grün bis zu blau – einerseits und schwarz und braun oder rotbraun andererseits. Im Death Valley in Kalifornien liegen oft das 123 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
Vulkane
reinste Weiß bis Beige von weich gewellten Dünen und das Gelb, bläuliche Grau und rostige Rot von schroffen Felsen und ein dunkles Schwarz und Braun von Lavabergen dicht beieinander, zackige und eckige ebenso wie ausgewaschene und abgeflachte, runde Formen. Zum Nordende des Haupttales hin gibt es Vulkankegel, die sich aus den weiten Geröllfeldern der Ablagerungen herausheben. Zauberhaft das Miteinander von schwarz und weiß, – silbrig weiß die kleinen Pflanzen mit ihren quirligen Blättern: weite dunkle, sich mannigfaltig überschneidende Lavahänge mit winzigen weißen und weißrosa Tupfern. An einem stillen Sonntagmorgen bin ich um das Rund der Caldera des Hauptvulkans herumgewandert – an manchen steilen Stellen mit leichtem Herzklopfen. Oft fühlt man sich an oder auf Vulkanen der lebendigen Erdgeschichte unmittelbar nahe. Der ganze westliche Kontinent Amerikas erscheint wie ein aufgeschlagenes Buch seiner geologischen Geschichte mit den gegensätzlichen Tendenzen von Ablagerungen und Aufbrüchen. Auf der einen Seite die mannigfachen Schichtungen aus Sedimentgesteinen, die ja nicht nur die Besonderheit des weltbekannten Grand Canyon bestimmen, sondern an unzähligen Stellen des Landes in mehr oder weniger großartigen Formationen ans Tageslicht treten. Sie bezeugen die bis in die geologische Gegenwart hineinreichende Geschichte des Wechsels von feuchten und trockenen Perioden, von ausgedehnten Meeren mit ihren Kalkablagerungen von Muscheln und anderen Kleinlebewesen und fruchtbaren bis trockeneren Zeiten, als Urwälder oder Savannen das weite Land bedeckten, die Fossilien und versteinerte Bäume als Zeichen hinterließen. Auf der anderen Seite: aus der Tiefe der Erde, aus den unterirdischen Schichten des Erdmantels brach hier und dort das rotglühende Magma heraus, überströmte weite Landschaften und gerann zu glänzendem Gestein, in spitzen und runden, 124 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
Bild contra Begriff III (Heidegger)
zuweilen merkwürdig organisch anmutenden Formen, oftmals die Fließformen des Wassers – Strudel, Wirbel, Strömungen – abbildend. Ist es schließlich verwittert, so ist es zuweilen nur bei genauerer Beobachtung von den sedimentierten Gesteinen zu unterscheiden. Weil die Vulkane die eruptive Gewalt der Kräfte, die aus dem feurigen Erdinnern ans Tageslicht kommen, unmittelbar widerspiegeln bzw. ihr Gestalt geben, wird in ihnen die ständige Bewegung, das eigentümliche »Leben« der Erde unmittelbarer sichtbar als anderswo. Als ich auf Hawaii war, war ein Nebenkrater des Kilauea gerade seit vierzehn Tagen zur relativen Ruhe gekommen, doch in seiner Tiefe brodelte geheimnisvoll das Magma: am Abend, als es dunkel wurde, leuchtete der aufsteigende Rauch orangerot. In der Mojave-Wüste ragt, wenn man von Osten kommt, weither sichtbar ein Vulkankegel schroff aus der weißgleißenden Salzebene auf. Ein Pfad führt mählich an ihm entlang, hinauf bis zum Rand des braunschwarzen Kraters. Unendlich weit dehnt sich unten die sonnenflimmernde Salzwüste uralter Ablagerungen. Gegensatz? Zusammenklang?
Bild contra Begriff III (Heidegger) Heidegger hat von der traditionellen Sprache des Aussagens gezeigt, daß sie dem heute philosophisch zu Denkenden nicht angemessen ist, weil sie, verkürzt gesagt, die Sache zu einem vorgestellten, vor uns hingestellten Gegenstand macht, der durch rationale Bestimmungen begrifflich bewältigt wird. Zugleich wies er kritisch auf die vernutzte und vernutzende Sprache der Technik hin. Der technisch-wissenschaftliche 125 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
Bild contra Begriff III (Heidegger)
Geist ist ein Geist des Messens, des Rechnens und Berechnens, der sich sowohl in der Auffassung von der Sprache als einem rationalen Informationsapparat wie auch in dem oftmals formalen, auf bloße Information abgestellten Sprachgebrauch selbst niederschlägt. Jenen Sprachverkehrungen stellt Heidegger die Sprache eines Sich-selbst-sagens der Sache gegenüber, wie es sich insbesondere in der Sprache des Denkens und des Dichtens ausdrückt. Immer wieder betont er: »Die Sprache spricht.« 1 Oder auch: »Eigentlich spricht die Sprache, nicht der Mensch. Der Mensch spricht erst, insofern er jeweils der Sprache ent-spricht.« 2 Man hat Heideggers Denken oftmals als ein poetisches oder quasipoetisches Denken bezeichnet und wollte es damit als nicht allzu ernst zu nehmend abqualifizieren. Ein Satz wie z. B. der folgende: »Die Erde ist die dienend Tragende, die blühend Fruchtende, hingebreitet in Gestein und Gewässer, aufgehend zu Gewächs und Getier.« 3 kann, wenn man nicht auf die sachliche Notwendigkeit und den strengen Aufbau des Kontextes achtet, in der Tat zu einem solchen Mißverständnis verführen. Es kommt jedoch auf etwas ganz anderes an als auf die Alternative »poetisch oder nicht poetisch«. Wenn wir bei Heidegger z. B. das Wort »Erde« hören, so wird ein bildhaft Konkretes, ein sinnlich-sinnhaftes Ganzes evoziert, dessen Bild Heidegger mit sinnlichen Strichen ausmalt, weil er nur so seiner Sache, der Erde selbst, gerecht zu werden vermag. Anders als mit Worten, die Konkretes und Sinnliches nennen, kann das, was hier zur Sprache kommen soll, die Erde, gar nicht geschildert werden, weil sie selbst nichts Abstraktes ist, vielmehr das Konkreteste schlechthin. Es geht nicht darum, eine begriffliche Bestimmung oder Definition 1 2 3
Z. B. Die Sprache, 12 ff. Hebel – Der Hausfreund, 34. Bauen Wohnen Denken, 149.
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Bild contra Begriff III (Heidegger)
der Erde zu geben. Es geht darum, nachzuvollziehen, was es heißt, daß sich das Menschsein als ein Wohnen vollzieht und daß das Wohnen der »Aufenthalt der Sterblichen auf der Erde« ist. Das ist keine dichterische, sondern eine streng philosophische Absicht. Aber »streng philosophisch« heißt da eben nicht mehr, daß es einem logisch-begrifflichen oder analytischen Beziehungsgefüge einzuordnen wäre. Die vier Bereiche oder »Weltgegenden« von Erde und Himmel, Sterblichen und Göttlichen werden nicht als Begriffe eingeführt, sondern als konkrete, sinnlich erfahrbare, welthafte Größen. Da wird nichts auf den Begriff gebracht, sondern es wird ein Bild von der Welt und damit von unserem In-der-Welt-sein aufgezeichnet. In den Zusammenhang dieser bildhaften Inhaltlichkeit gehören auch die »Beispiele«, an denen Heidegger das welthafte Sich-aufeinander-beziehen der vier eben genannten Weltgegenden erläutert. In dem Aufsatz Bauen Wohnen Denken ist es die Brücke. Sie ist nicht einfach nur ein beliebiges Exemplar, das unter den Allgemeinbegriff »Ding« fällt. Die Brücke ist ein Bild des Dinges, insofern sich in ihr beispielhaft das Geschehen verkörpert, das ein Ding ist, insofern es nämlich, wie Heidegger aufzeigt, in sich eine Welt versammelt. Dieses Ding kann, weil es ein Geschehen ist, nicht durch allgemeine Bestimmungen wie Genus und spezifische Differenz bestimmt werden, sondern nur so, daß sein Geschehen selbst bildhaft aufgezeichnet wird, daß es bildhaft gedacht wird. Wenn ich von bildhaftem Denken, also von Bildern des Denkens oder Denken in und mit Bildern spreche, habe ich allerdings nicht allein Heidegger im Sinn. Es kann sich bei diesen Bildern um so etwas wie Bildgeschichten handeln; dazu gehören Benjamins Denkbilder oder viele Passagen bei Sloterdijk wie die von den »Selbstfindlingen« 4 oder, um ein 4
Vgl. unten, S. 161.
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Bild contra Begriff III (Heidegger)
Beispiel aus einer ganz anderen Denktradition zu nennen, die Geschichten des altchinesischen Weisen Chuangtse. Bei Heidegger dagegen geht es um den Gebrauch von Worten – oder in einem weiteren, gewandelten Sinne auch »Begriffen«, »bildhaften Begriffen« –, die Bilder ausdrücken. Solche bildhaften Worte – »Winke«, wie Heidegger sagt – sind etwa gewähren, einräumen, freigeben, versammeln, wohnen 5 oder auch Weg oder Sprung oder Gegend, – Worte, die bei ihm den Charakter von Grund- oder Leitworten haben, wobei er häufig die alten Wortbedeutungen zu Rate zieht. Viele Begriffe hatten ja ursprünglich einen anschaulichen Gehalt. »Substanz« bedeutete das »Darunterstehende« und meinte das Ding, das seinen Eigenschaften und Zuständen zugrundeliegt. Eine ähnliche Bedeutung hatte im Griechischen das Wort hypokeimenon, lateinisch subiectum, das Darunterliegende, Vorliegende; erst bei Descartes bekam es dann den Sinn, der uns heute geläufig ist. In der Entwicklung haben sich die bildhaft-sinnlich sprechenden Begriffe meist zu feststehenden Terminologien fortgebildet, in denen ihr ursprüngliches Sagen kaum mehr gehört wird; sie erstarrten zu »bloßen« Begriffen. Insofern kommt es, wenn die Bedeutung des Bildhaften in der Philosophie neu eingeschätzt werden soll, nicht unbedingt darauf an, die Begriffe überhaupt zu verlassen, sondern es kann vielmehr darum gehen, sie derart zu verändern, daß ihre Bildkraft neu entbunden wird, sie zu beweglichen, bildhaften Begriffen werden. Es ist kein Zufall, daß es sich hier so oft um »Zeitworte« oder in der älteren Terminologie »Tuworte« handelt. Bei seinem Nachdenken über den Raum geht Heidegger von dem Substantiv »Raum« zu dem Verbum »räumen« über. Die traditionellen Begriffe waren und sind durchweg Substantive, zumindest Substantivierungen. Wir alle sind auf Grund unserer Sprach- und Denktradition gewohnt, wenn wir etwas Vorfindliches beschreiben sollen, zunächst einmal Substantive aufzuzählen. In kaum einer anderen Hinsicht war der platonisch-aristotelische Einfluß so tiefgreifend und weitreichend.
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Bild contra Begriff III (Heidegger)
Genau das scheint der Heideggersche Umgang mit den Worten bzw. der Sprache zu versuchen, wenn er sich von der Sprache und d. h. von der hinter ihr liegenden Geschichte, von der Etymologie eines Wortes einen Wink auf das jeweils Gefragte geben läßt. Bei einem näheren Umgang mit Heideggers Sprechen fängt man selbst an, fast ohne es zu merken, darauf zu achten, was die jeweiligen Worte als solche bedeuten. Man lernt, die Bilder wiederzuerwecken, die ursprünglich in ihnen zu Hause sind. In diesem Sinne kann Heideggers Rückgang auf die »Weisheit der Sprache« häufig als Rückgang zu den Bildern gelesen werden, die sich in den Worten verbergen. Bei diesen etymologischen Rückgängen kommt etwas zum Tragen, was Heideggers späteres Denken auch sonst auszeichnet, daß es nämlich keine Begriffsbestimmungen zu geben, sondern die Sachverhalte in ihrer der jeweiligen Fragesituation entsprechenden Relevanz zum Sprechen zu bringen sucht, womit es jeweils in bildhafte, man könnte auch sagen: konkrete Seinszusammenhänge hineinführt. Zweifellos wäre es möglich, diese Bildworte zu Begriffen im herkömmlichen Sinne einer begrifflichen Terminologie zu machen und so erstarren zu lassen; es kommt eben darauf an, wie man hinhört und wie man mit dem intendierten Sinn mitgeht, d. h. ob man bereit ist, das Sprechen als ein konkretes Geschehen zu verstehen. Zum Beispiel erinnert Heidegger im Zusammenhang seiner Frage nach der Dinghaftigkeit des Dinges an das germanische Wort »thing«. Indem er das Ding als thing, und d. h. als »Versammlung« sprechen läßt, subsumiert er es nicht einfach unter den allgemeinen Begriff »Versammlung«, sondern mit dem Bild des Versammelns macht er das Ding als ein Geschehen sichtbar, das so etwas wie ein Kreuzungs- oder Brennpunkt unterschiedlicher Bahnen, Verhältnisse und Konstellationen ist. In diesem Sinne ist Heideggers Sprache in der Tat ausgesprochen bildhaft. Dagegen erzählt 129 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
Miteinander und Ineinander II
er keine Bildgeschichten, er bleibt in der Weise seines Sagens äußerlich weitgehend begrifflich argumentativ.
Miteinander und Ineinander II Etwas wird durch seine Grenzen bestimmt. Die Definition, der horismos, ist das Bestimmende in der Weise des Eingrenzenden, bzw. Ausgrenzenden, sie ist die Festlegung dessen, was innen und zugehörig und was außen und anders ist. So fixiert die Definition des Menschen als animal rationale die ratio als das Kennzeichnende des Menschen und grenzt damit einerseits alle anderen, nicht an ihr teilhabenden Lebewesen als Nicht-Menschen aus, wie sie auch die übrigen Merkmale des Menschen selbst als weniger wichtig und zweitrangig einstuft. 1 Eine Grenze besteht immer zwischen etwas und etwas anderem, das, was immer es sonst auch sein mag, jedenfalls das nicht ist, was diesseits der Grenze ist. In diesem Sinne trennt die Grenze Gegensätzliches. 2 Im weiteren Sinne trennt sie das Diesseitige nicht allein von dem, was unmittelbar jenseits der Grenze ist, sondern von allem, was sich außerhalb ihrer und d. h. außerhalb seiner selbst befindet. In der Denktradition des Westens gab es seit Platon und Aristoteles spezifische Gegensätze, die als für alles, was seiend genannt werden kann, bestimmend angesehen wurden: Eine solche Bestimmung setzt voraus, daß man mit Gewißheit zu wissen meint, was ratio und rationalitas ist. Mit der Erweiterung dieses Begriffs in der modernen Neuzeit werden dann auch die Grenzen gegenüber dem Tierreich fließender. 2 Der allmähliche Übergang ist keine Grenze im eigentlichen Sinne. Länder gehen nicht ineinander über, wie es dagegen Landschaften tun. 1
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Miteinander und Ineinander II
sinnlich und unsinnlich/vernünftig/denkbar, sichtbar und unsichtbar, zusammengesetzt und einfach, bewegt und unbewegt. Zwischen diesen Gegensätzlichen gab es keinen Übergang. Gleichwohl bestand so etwas wie ein Zusammenhang zwischen ihnen, insofern jeweils das Eine als Grund des Anderen, dieses als durch die Teilhabe an jenem oder durch das Bestimmtwerden durch es begriffen wurde, was jedoch nichts daran änderte, daß die beiden Dimensionen prinzipiell getrennt blieben. Jullien zeigt, wie in der alten chinesischen Malerei-Theorie diese Gegensätze nicht als Gegensätze vorhanden sind, sondern ineinandergreifen und ineinanderspielen, sich vermischen, sich gegenseitig füreinander öffnen, – entsprechend der Lehre von Yin und Yang, die in ihrem Wechselspiel das Dao ausmachen. 3 Ich will die genannten Gegensätze nicht in ihrer Inhaltlichkeit anzweifeln; wir begegnen in unserer Welt zweifellos sowohl Sinnlichem wie Unsinnlichem, wir haben es mit Sichtbarem und Unsichtbarem zu tun usw. Es ist vielmehr ihr spezifischer Gegensatzcharakter, der in Frage zu stellen bzw. umzudenken ist. Wenn die Gegensätze als Pole, als einander gegenüberstehende, ineinander schwingende Entsprechungen gedacht werden, schließen sie einander nicht mehr absolut aus, sie definieren sich nicht mehr durch die ausschließende Negation des je Anderen und sie haben vor allem prinzipiell keinen bestimmenden Charakter mehr. In diesem Sinne schreibt auch Jullien, daß zwar das Eine 3 Vgl. etwa Das große Bild hat keine Form, 29 f.: »[…] daß der Maler folglich im Modus sowohl des ›Manifesten‹ wie des ›Verborgenen‹ beziehungsweise im Modus des ›manifest-verborgen‹ […] malt, und daß er in seinen Figurationen somit das Sichtbare und das Unsichtbare unentwegt vermischt, das gibt vor allem über die Natur dieses Unsichtbaren zu denken. […] Über ihre fruchtbare Disproportion hinaus zählt vor allem die Korrelation der beiden Aspekte, deren Kooperation die Anwesenheit-Abwesenheit wiedergeben soll. Von dieser her sind sie unteilbar und zur Verwirklichung ihrer Komplementarität aufgerufen.«
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Kireji
sich dem Anderen entgegensetzen muß, wie sich aber auch gleichzeitig das Eine aus dem Anderen ergibt. Es ist dieses »gleichzeitig«, was die Gegensätzlichkeit so bedeutsam für das Leben und die Welt sein läßt. Es impliziert einen Widerspruch, der radikal genug verstanden werden muß, derart, daß sein Bestehen selbst als ein Zugleich – von Unmöglichkeit und Möglichkeit – erscheint. Im Bereich dieses Zugleich findet sich das Endliche in einer unendlichen Vielzahl von Bewegungen der Auseinander-setzung und des Ausgleichs. 4 Nur wenn man das Zugleich betont, wird deutlich, daß seine Anerkennung in der Tat den aristotelischen Satz vom Widerspruch hinter sich läßt. Ich sage bewußt nicht »negiert«, weil es nicht darum geht, die traditionelle Logik (und Ontologie) zu negieren, sondern nur darum, sie als nicht bindend, als für bestimmte Zusammenhänge, in denen es um uns und das welthafte Besondere zu tun ist, unwesentlich stehen zu lassen. Jene Logik ist eine Perspektive, die wir einnehmen können, die wir aber auch nicht beachten müssen.
Kireji Bei unseren Haiku-Übertragungen 1 habe ich die Gedichte häufig – fast ohne es selbst zu merken – in Gedankenstriche oder Auslassungspunkte ausklingen lassen. Auch innerhalb dieser Gedichte, meistens nach der ersten der drei Zeilen, legt sich oftmals ein Gedankenstrich nahe. Im Japanischen steht Ich denke, daß das auch für solche Gegensätzlichen gilt, die nicht »aneinanderstoßen«, sondern durch eine Zeit oder einen Raum voneinander getrennt sind. Durch das sie trennende Medium hindurch spiegeln sie sich einander zu. 1 Weiße Tautropfen, 300 Haiku zu Regen und Nebel und Meer … 4
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Kireji
da häufig ein eigenes Zeichen, eine eigene stumme Silbe, ein eigenes Wort oder ein Suffix, im Gedichtinneren etwa ya, shi, tsu und kana oder keri am Ende. Der Schnitt oder die Pause, gleichsam das Atemholen, für das dieses Zeichen steht, gehört als Strukturmoment zum Haiku, das auch dort wirkt, wo es nicht eigens gesetzt wird. Die kireji genannten Zeichen zeigen jeweils eine unausdrücklich bleibende Beziehung an, die auch die Beziehung einer Differenz sein kann. 2 Am Ende des Gedichts deuten sie auf eine Abgeschlossenheit hin, die sowohl in die Bewegung des Gedichts zurückverweist, wie sie es in eine Offenheit freiläßt. 3 Kireji wird gewöhnlich mit »Schnittwort« (cutting word) übersetzt. Wenn es nicht am Ende des Gedichts steht, »schneidet« oder trennt es zwei Bilder oder Gedanken oder jedenfalls Momente. Ebenso hält es die Momente aber auch in einer Beziehung zueinander. Es markiert einen Bruch, 4 der als solcher ein Nichts zwischen zwei Seiten ist, – wie ein Grabenbruch in der Natur, wo die beiden Seiten sich gegeneinander bewegen und verschieben, oder, mit einem ganz ande»Placed elsewhere in the verse, a kireji performs the paradoxical function of both cutting and joining; it not only cuts the ku into two parts, but also establishes a correspondence between the two images it separates, […] creating two centres and often generating an implicit comparison, equation, or contrast between the two separate elements.« (Wikipedia, Kireji) »A kireji fills a role somewhat analogous to a caesura in classical western poetry or to a volta in sonnets. Depending on which cutting word is chosen, and its position within the verse, it may briefly cut the stream of thought, suggesting a parallel between the preceding and following phrases, or it may provide a dignified ending, concluding the verse with a heightened sense of closure.« (Wikipedia, Haiku, kireji) 3 »Das Kireji macht einen Schnitt am Ende eines Gedichtes, wodurch es das Ende betont und einen freien Raum hinterläßt, der eine Weite und Tiefe freigibt.« (Michiko Yoneda, Einige Notizen zur Form der Haiku, in: Weiße Tautropfen, 130 f.) 4 Vielleicht wäre Bruchwort eine bessere Bezeichnung als Schnittwort, weil der Schnitt meist auf ein menschliches Schneiden hinweist. Aus dem selben Grund könnte man auch sagen Einschnittwort. 2
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ren Bild, wie die Nacht zwei ereignisreiche Tage voneinander trennt, die eigentlich eine Einheit bilden. Insofern ist die Funktion des kireji der der Mitte zwischen Gegensätzlichen verwandt, wobei es sich im Haiku meist eher um eine behutsame Beziehung, ein gegenseitiges Aufeinander-weisen und Sich-voneinander-absetzen handelt als um eine ausdrückliche Entgegensetzung. Oftmals sind es gegensätzliche Bilder bzw. Bilder, die eben durch ihre Nebeneinandersetzung – Getrenntheit und Bezogenheit – einen Kontrast mit- oder gegeneinander bilden. Das Schnittwort öffnet eine Leere zwischen zwei Dingen, Geschehnissen, Situationen, Zuständen o. ä., die als dieser Zwischen-Raum der Raum ihres Miteinander und Zueinander ist. Eine kurze Nacht – [ya] Auf den Härchen der Raupen glitzernder Tau. (Buson) Inhaltlich besteht zunächst keine Beziehung zwischen der evozierten Nacht und den – vielleicht im Mond- oder Morgenlicht – glitzernden Tautröpfchen auf den Raupen. Und doch werden beide in einer Beziehung zueinander gesehen, einer Beziehung, die aber gleichwohl eine gebrochene ist. Und wieder treffen wir in diesem Haiku auf das schon einige Male angesprochene Phänomen, daß die eine Seite des gegensätzlichen Bezugs selbst der Raum oder mit dem Raum selbig ist, der den ganzen Bezug umfängt oder unterläuft: Die kurze Nacht fungiert gewissermaßen als der Hintergrund oder der Raum, vor oder in dem sich das erstaunliche Glitzern ereignet. Dunkle Nacht und leuchtendes Glitzern auf den Härchen der Raupen. In den seltensten Fällen sind die durch das Schnittwort getrennten Momente im strengen Sinne gegensätzlich. Meist haben sie nicht einmal einen im engeren Sinne inhaltlichen 134 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
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Bezug zueinander. Dieser ergibt sich erst durch ihre Zusammenfügung im Haiku bzw. durch ihre Zusammen-Wahrnehmung in der Erfahrung, die das konstellative Geschehen eines Weltmoments vernimmt. In den folgenden Beispielen, in denen im Japanischen jeweils das kireji ›ya‹ am Ende der ersten Zeile steht, handelt es sich um unterschiedliche Weisen der Konstellation, aber ich denke, sie zeigen alle die Spannung eines gelassenen Weltgeschehens, im Rhythmus eines Ein- und Ausatmens, eines Antippens zweier differenter »Sachen«, die, indem sie zusammen und doch getrennt vorkommen, einen gemeinsamen Weltaugenblick nennen. Schilfsänger – Unendlich still fließt der Strom. (Issa) Eine Rohrflöte – die Wolken ziehen, wohin sie wollen. (Kenkichi) Ein Regentag – der zerbrochenen Kürbisflasche erzähl ich von alten Zeiten. (Ryôkan) Der erste Schnee – er beugt die Blätter der Winternarzissen. (Bashô) Einsamkeit. Der Herbststurm hat sich gelegt, das Wasser rauscht … 5 (Tôyôjô) In Umschrift lautet dieses Haiku: sabishisa ya nowaki yamu toki umi no oto. Das erste Wort, sabishisa, enthält das Wort sabi, auf das ich in dem Abschnitt gering, arm, einfach, einfältig zu sprechen komme.
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Frühlingsregen – die kleinen Muscheln am Strand werden naß. (Buson) Der Frühling geht – die Vögel weinen, und auch die Fische haben Tränen in den Augen. (Bashô) Frühlingsregen – eine Ente watschelt ums Hoftor. (Issa) Wie auch sonst in sehr vielen Haiku steht hier fast immer in der ersten Zeile ein ausdrückliches Jahreszeitenwort oder ein Wort, das die Tageszeit oder das Wetter nennt; es gibt jeweils die Stimme und Atmosphäre – etwas hochgegriffen gesagt: den Zeitspielraum – des Gedichts vor. Oder es ist ein sinnliches Erscheinen, ein Laut, der gewissermaßen als Kontrapunkt das Fließen des Stromes bzw. das Ziehen der Wolken sich artikulieren läßt. Ich denke, der späte Heidegger ist dem in diesen Haiku implizierten Verhältnis von Welt und Ding ziemlich nahe gekommen, da nämlich, wo er von einem wechselseitigen Versammeln von Welt und Ding spricht. Daß die Welt die Dinge versammelt, besagt, daß die Dinge sich aus Weltlinien ergeben, daß sie Weltlinien austragen und so Weltgegenden stiften. Die Dinge als Dinge zu denken, heißt aufzuzeigen, wie ein an ihm selbst unsichtbares Weltgefüge sichtbar wird, indem es sich an bzw. in einem Ding bricht, wie die Dinge in der Welt ihren Ort, ihren ihnen zukommenden Platz finden, insofern die Welt sie in sich und sich in ihnen versammelt. Zum anderen spricht Heidegger vom »versammelnden Wesen der Dinge«; jetzt sind die Dinge selbst das Versammelnde. Sie sind so etwas wie Brennpunkte des Weltgefüges. 136 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
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Sie sind keine isolierten »Seienden«, keine für sich bestehenden Substanzen mit Eigenschaften, keine Objekte im Erkenntnisfeld von Subjekten. So kann etwa die Brücke, wenn sie herausgesehen wird aus der Gesamtheit des Landschaftsgefüges, als eine Art Akzent der gesamten Gegend gesehen werden, die das Ganze der Landschaft und damit die jeweilige Welt auf ihre spezifische Weise zum Sprechen bringt. Ähnlich bringt in den Haiku, so scheint mir, der weiche Schnee die tanzende Zeit, das Flöten des Schilfsängers das stille Fließen des Stroms zur Entfaltung. Das Schnittwort markiert die Spannung des zwiefältigen Versammelns. In ihm kommt das Unausdrückbare zum Ausdruck, wird das Unsagbare gesagt. Insofern ist es so etwas wie der Spalt, durch den die Offenheit der Leere selbst hindurchscheint. Yoneda schreibt, daß das Schnittwort »einen leeren Raum in das Haiku hineinbringt«. 6 Das ließe sich wohl ergänzen durch einen Blick in der umgekehrten Richtung: das Schnittwort macht das Haiku durch-sichtig auf den leeren Raum, aus dem es hervortritt, in dem es sich begibt und ergibt. Frühlingsregen – / die kleinen Muscheln am Strand / werden naß. Harusame ya koiso no kokai nururu hodo. Der weite Stimmungsraum des sanften Frühlingsregens sammelt sich in den nassen kleinen Muscheln, die, weil sie am Strand liegen, ja wohl häufiger einmal, nämlich vom Wasser des Meeres naß werden, jetzt aber allein und gerade dies anzeigen: den Frühlingsregen. Das kireji, die Schnittstelle der Begegnung von Regen – oder vielleicht besser: Regenstimmung – und Muscheln zeigt in einem winzigen, augenblicklichen Geschehen eben dieses an, das Geschehen selbst, das Geschehen von Welt, – Welt aus Nichts.
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Komplementarität In seinem Buch Das große Bild hat keine Form, das er als einen »Essay über Desontologisierung« versteht, gebraucht François Jullien häufig die Kombination Gegensätzlichkeit/ Komplementarität. In ihr kommt u. a. zum Ausdruck, daß und wie die alten chinesischen Weisheitslehren keinen Widerspruch zwischen Gegensätzlichkeit und Einheitlichkeit gesehen haben. Der Maler – und Jullien unternimmt seinen Versuch der Desontologisierung auf dem Weg über eine Aneignung der chinesischen Theorie der Malerei – wird »seine Kunst dann beherrschen, wenn sich die implizite Gestik ganz ohne Zwang […] durch das alleinige Spiel der Gegensätzlichkeit-Komplementarität vollkommen von selbst erneuert«. (239) »Die Spannung innerhalb der Formen der Landschaft [zunächst in der Landschaftsmalerei, weiter aber auch in der Realität überhaupt] rühren nicht nur daher, daß diese die Unermeßlichkeit in sich tragen, sondern zunächst einmal daher, daß sie einander erfordern, daß sie einander aufrufen und sich durch Gegensätzlichkeit und Komplementarität entfalten.« (218) 1 Die komplementären Gegensätzlichen sind die Pole einer in sich bewegten Beziehung. »[…] um das Bild als Welt in Erscheinung treten zu lassen, genügt [es], Polarität zu erzeugen; die ›Welt‹ entsteht, ›es gibt‹ Welt stets aufgrund einer Polaritätsbeziehung, yin/yang.« (ebd.) Die Gegensätzlichen sind trotz und in ihrer Entgegensetzung eng Zusammengehörige, aufeinander Verweisende Das Malen folgt »dem Vorbild des großen Prozesses der Dinge, der das Offensichtliche und das Latente, das Klare und das Verborgene unablässig variieren läßt. Oder anders ausgedrückt: Wenn das gemalte Bild ›wahr‹ ist, variiert es in einem ebenso tiefen Sinne zwischen Fülle und Leere wie die Welt zwischen Erscheinen und Verschwinden, Auftauchen und Versinken, Manifestation und Entzug.« (269)
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Komplementarität
und Verwiesene, eben die Pole einer Beziehung. Sie ergänzen sich, sie fordern sich gegenseitig, wie sie sich zugleich in bestimmtem Sinne auch ausschließen. Ihre Beziehung zueinander ist getragen durch eine Spannung, die Ausdruck der Gegenbewegung in einem Selben ist. Komplementarität besagt, daß die Gegensätzlichen auf welche Weise auch immer gemeinsam ein Ganzes – wörtlich: gemeinsam ein Volles – bilden, daß sie sich er-gänzen. Wo die Gegensätzlichen komplementär sind, sind sie einander entsprechende »Teile« eines Selben, das sie – und ausschließlich sie – miteinander bilden. Das Anwesende, das Sichtbare, das Nahe ist jeweils nicht das Abwesende, Unsichtbare, Ferne und gehört doch jeweils mit ihm zusammen, ist sowohl auf dem Weg zu ihm wie von ihm herkommend wie in ihm bewahrt. Für unser gewöhnliches Verstehen liegt in diesem Sowohl-als auch ein Widerspruch, den wir aushalten müssen. Er zeigt sich seinerseits als der Gegensatz eines Zugleich von möglich und unmöglich, – eines Zugleich, das als solches in der Schwebe bleibt. Was auch immer als Gegensätzliches begegnet, es findet sich in steten Bewegungen der Auseinander-setzung und des Ausgleichs, des Spiels der Waage oder des Pendels. Die Zusammengehörigkeit der Gegensätzlichen leuchtet unmittelbar ein, wo es sich um ein zeitliches Nacheinander handelt, wie etwa bei den von Salomo angeführten Gegensätzen des menschlichen Handelns oder bei den entgegensetzten »Enden« eines Kontinuums wie heiß und kalt oder gesund und krank; wenn das eine von beiden schwindet, ruft es durch eben dieses Schwinden das ihm Entgegengesetzte hervor. Aber die in sich schwingende Bewegung der Gegensätzlichen ist nicht nur eine zeitliche des Übergangs. Der Tag schwindet in die Nacht, der Sommer verändert sich bis hin zum Winter; aber es neigt sich auch der Himmel der Erde zu (»es war, als hätt’ der Himmel die Erde still geküßt«), die Erde erhebt sich in ihren höchsten Bergen »bis in den Himmel«. Die Eine wird 139 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
gering, arm, einfach, einfältig
aufgrund der Gegensätzlichkeit beider nicht zu dem Anderen, sie bleiben einander gegenüber, aber sie halten sich gegenseitig. So liegen sich Land und Meer gegenüber, in der steten Gezeitenbewegung eines Gebens und Nehmens, und doch in ewiger Trennung. Und so er-gänzen sich Weibliches und Männliches, nicht im Nacheinander, sondern im Ineinander, sowohl als Miteinander wie zuweilen auch als Gegeneinander.
gering, arm, einfach, einfältig C’è un’ape che se posa su un bottone de rosa: lo succhia e se ne va … Tutto sommato, la felicità è una piccola cosa. (Trilussa, Felicità) 1 »una piccola cosa« – etwas Kleines, eine kleine Sache. Das Glück ist etwas Kleines, Geringes, es begegnet in geringen Dingen. Ein Schmetterling an einem Sonnentag im Winter, ein bizarrer verkohlter Baum am Weg, ein selbstvergessen spielendes Kind: una piccola cosa. Um diese kleine Sache zu sehen, bedarf es lediglich eines einfachen Hinschauens. Dessen Einfachsein, seine Einfalt, ist nicht einfach durch Konzentration oder Abstraktion zu erreichen. Damit der Blick bereit ist, die geringfügigen Dinge und Begebenheiten in ihrem stillen Eigensein wahrzunehmen, dafür braucht es eine »Armut im Geiste«, ein Freigewordensein von der Fülle all desDa ist eine Biene, die sich auf eine Rosenknospe setzt: sie saugt an ihr und fliegt weg … Alles in allem ist das Glück ein kleines Ding.
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gering, arm, einfach, einfältig
sen, was gewöhnlich auf den im Lebenskampf Befindlichen einströmt. In der japanischen Ästhetik – aber der Sache nach wohl überhaupt im überkommenen ostasiatischen Lebensgefühl – gibt es zwei einander sehr ähnliche und oft zusammengenannte Begriffe: wabi und sabi. 2 Wörtlich bedeuten beide zunächst so etwas wie Armut, Einsamkeit. Wabi geht ursprünglich mehr in die Richtung von Elendsein, Verlassenheit und Sich-verlassen-fühlen, sabi mehr in die von Altertümlichkeit, Anspruchslosigkeit, Ursprünglichkeit. Doch allgemeiner wird mit beiden ein Geist des Kleinen, Schlichten, Einfachen, Unvollendeten ausgedrückt. Dieser Geist ist einerseits, wie die genannten Begriffe anzeigen, der Geist einer gewissen Mangelhaftigkeit und Unvollkommenheit, der aber andererseits gerade nicht als Negatives im landläufigen Sinne, als bloßer Mangel, sondern als Vorzug, als Auszeichnung verstanden wird. Die Abgrenzung gegenüber dem Großen, dem Angesehenen und Anspruchsvollen gehört wesentlich zu dem hier gemeinten Begriff des Geringen hinzu. Suzuki nennt als ursprüngliche Wortbedeutung für wabi neben »Armut«: »der feinen Gesellschaft fremd sein«. Da wird die Abgrenzung, das Sichabsetzen vom Entgegengesetzten, ganz deutlich. Arm zu sein bedeutete für die herumwandernden Mönche und Haiku-Dichter, auf Ämter und Würden, auf Reichtum und äußere Annehmlichkeiten zu verzichten. Aber sie taten dies – wie Franziskus von Assisi und andere »heilige« Männer und Frauen in unserer Vergangenheit – aus freien Stükken. Sie waren nicht bloß, mit Rilkes Worten aus dem Buch von der Armut und vom Tode, »Nichtreiche«, sondern Arme
Siehe hierzu Suzuki, Zen und die Kultur Japans, 14 sowie Schwalbe, Japan, 288.
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gering, arm, einfach, einfältig
um des Armseins willen. 3 Denn: »Der Verzicht nimmt nicht. Der Verzicht gibt«, wie Heidegger in Der Feldweg sagt. (90) In der alten chinesischen Literatur findet sich eine Fülle von Anekdoten, die davon erzählen, wie Fürsten und andere Würdenträger verschiedenen Weisen Ämter und Reichtümer zukommen lassen wollten, welche diese jedoch ablehnten, meist mit der Begründung, daß sie sich nicht abhängig machen wollten. Heidegger fährt am Ende seiner kleinen Schrift fort: »Er [der Verzicht] gibt die unerschöpfliche Kraft des Einfachen.« Dieses aber, das Einfache, so heißt es zuvor, »verwahrt das Rätsel des Bleibenden und des Großen.« (89) Mir scheint zwar, daß sich in diesen Sätzen auch noch eine Differenz zum ostasiatischen Denken verbirgt, insofern das »Bleibende und Große« und seine »unerschöpfliche Kraft« vielleicht doch auf etwas Eigenes, Machtvolles verweisen, was im japanischen wabi nicht mitgedacht ist. Jedenfalls aber zeigt sich hier wie dort, daß im Gedanken des Geringförmigen der negierende Bezug zu einem Anderen liegt, gegen das sich jenes wesentlich wendet. 4 Das impliziert sicher immer – nicht nur bei Heidegger – das Bewußtsein einer eigenen Kraft. Aber es ist eine stille Kraft, sei es die Kraft eines heiteren Abgeschiedenseins, sei es, wie Hölderlin es singt, die Kraft der eigenen »wandelnden Götterkräfte«. Sie manifestieren sich z. B. im Garten des Gesangs. […] nur mach die Armen endlich wieder arm. Sie sind es nicht. Sie sind nur die Nicht-Reichen, die ohne Willen sind und ohne Welt; gezeichnet mit der letzten Ängste Zeichen und überall entblättert und entstellt. 4 Vgl.: »Nun kann sich niemand eine Verneinung bestimmt denken, ohne daß er die entgegengesetzte Bejahung zum Grunde liegen habe. Der Blindgeborene kann sich nicht die mindeste Vorstellung von Finsternis machen, weil er keine vom Lichte hat; der Wilde nicht von der Armut, weil er den Wohlstand nicht kennt.« (Kant, Kritik der reinen Vernunft, A575) 3
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gering, arm, einfach, einfältig
[…] der Garten, wo ich, wandelnd Unter den Blüten, den immerjungen, In sichrer Einfalt wohne, wenn draußen mir Mit ihren Wellen allen die mächtge Zeit Die wandelbare fern rauscht und die Stillere Sonne mein Wirken fördert. 5 Die Betonung des Unfertigen oder des Altertümlichen, des Verschwebenden und Vergänglichen, des Schlichten und Armen entspringt einem Lebensgefühl, das sich im Ungefähren, Offenen, Unabgeschlossenen zu Hause weiß. Die frei gewählte Armut – etwa eines Buddha oder eines Franziskus – bedeutet in diesem Zusammenhang »unabhängig sein von den Dingen der Welt«. 6 Das heißt nicht notwendig, daß sie sich von der Welt und ihren Dingen tatsächlich abwendet, Armut in diesem Sinne kann, aber muß nicht mit Askese zusammengehen. Worauf es ankommt, ist die innere Freiheit, das Nichterfülltsein von »weltlichen« oder auch »metaphysischen« Gedanken, Wünschen und Bedürftigkeiten, damit Unabhängigsein sogar von »Armut und Reichtum«. 7 Diese freie Armut ist verschwistert mit Einfachheit, Reinheit und Leere. Nietzsche 8 schreibt im Zarathustra: »Frei steht noch großen Seelen ein freies Leben. Wahrlich, wer wenig besitzt, wird um so weniger besessen: gelobt sei die kleine Armuth!« (63) Oder noch einmal Rilke aus dem Stundenbuch, Das Buch von der Armut und vom Tode, über die Armen: Friedrich Hölderlin, Mein Eigentum. Suzuki, Zen und die Kultur Japans, 14. 7 In den Schriften Gothama Buddhas ist diese Armut ein immer wiederkehrendes Thema. Sie findet sich durchgängig in der klassischen chinesischen und indischen Literatur. 8 Er nennt allerdings in der Vorrede zum Zarathustra auch in mehrfacher Wiederholung »Armut und Schmutz« abschätzig zusammen. 5 6
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gering, arm, einfach, einfältig
Denn sie sind reiner als die reinen Steine und wie das blinde Tier, das erst beginnt, und voller Einfalt und unendlich Deine und wollen nichts und brauchen nur das Eine so arm sein dürfen, wie sie wirklich sind. Die hier gemeinte Reinheit ist nicht in erster Linie moralisch verstanden, sondern im Sinne eines Ungetrübtseins von allen Ablenkungen und Einschlüssen, – mit den »reinen Steinen« sind wohl Edelsteine gemeint, für die ihre Reinheit ja Kriterium ihres Wertes sein kann. Rein heißt ein-fältig, frei von Komplikationen und Differenzen. Die Einfalt ohne Namen führt zur Wunschlosigkeit. Die Wunschlosigkeit führt zur Stille: So wird die Welt von selber recht. 9 Wenn Laotse sagt, daß die Welt von selber recht wird, wenn die Einfalt »herrscht«, so scheint dieses »von selber« auf eine Mühelosigkeit hinzuweisen, auf die Bedeutung von »einfach«, nach der sie im allgemeinen Sprachgebrauch dem »schwierig« entgegengesetzt ist. Doch läßt sich von ihm sagen: »Er ist das Einfache, das schwer zu machen ist«. 10 Es bedarf eines ganzen Lebens der Übung und des Lernens, um zu einem armen, einfachen, schlichten Herzen zu gelangen, das nicht auf Leistung und Vollendung aus ist, sondern sich dem Nicht-handeln – dem berühmten chinesischen wu wei – zu überlassen vermag. Die Absetzung von den »Dingen der Welt«, um zur Stille und zur Einfalt zu finden, kann umgekehrt auch als Einfalt und Stille verstanden werden, die zur Abgrenzung gegenüber den weltlichen Dingen führen soll. 9 10
Laotse, Tao Tê King, 37. Was Brecht vom Kommunismus sagt (Lob des Kommunismus).
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gering, arm, einfach, einfältig
Sie ist sowohl für das ostasiatische Denken wie z. B. für die Mystik Meister Eckharts ein Weg der Selbstfindung, auf dem es gerade darum geht, das »selbsthafte« Selbst zu verlieren, wie es die bekannte altjapanische Geschichte vom Ochsen und seinem Hirten erzählt. Das letzte Bild dieser Geschichte zeigt den über jene Selbstfindung hinaus- und durch die heitere Leere des Nichts hindurchgegangenen Hirten als einfältigen und geringen, zugleich strahlend glücklichen und den Dingen des Marktes zugewandten Menschen. 11 Eine kleine Bemerkung zum Schluß: In einer Welt, in der es so viel schicksalhafte Armut und Entbehrung gibt, erscheint ein Satz wie der von Rilke »Denn Armut ist ein großer Glanz aus Innen […]« (ebd.) fast zynisch. Angesichts ins Unermeßliche gewachsener verschuldeter und meist unverschuldeter Armut überall auf der Erde mag es zweifelhaft sein, ob man von Armut in einem positiven Sinne überhaupt reden darf, jedenfalls da, wo es um Armut nicht nur im Geiste geht. Aber dieses Dilemma hat jener Begriff immer schon an sich gehabt. Auch in den heiligen indischen Schriften z. B. ist sowohl von Armut und Not und Entbehrung als elender Situation die Rede wie von der selbst gewählten, zu erstrebenden Armut. Die innere Zwiefältigkeit und Widersprüchlichkeit dieses Begriffs läßt sich nicht aufheben. 12 Mit entblößter Brust und nackten Füßen kommt er herein auf den Markt. Das Gesicht mit Erde beschmiert, der Kopf mit Asche über und über bestreut. Seine Wangen überströmt von mächtigem Lachen. Ohne Geheimnis und Wunder zu mühen, läßt er jäh die dürren Bäume erblühen. (Der Ochs und sein Hirte, 49) 12 Es sei noch angemerkt, daß die Tendenz zum Einfachen zuweilen zum Ausdruck eines generellen Ungenügens an der eigenen Zeit bzw. an bestimmten Entwicklungen und Ausformungen insbesondere der Zivilisation werden kann. Das Ziel eines »einfachen Lebens« (vgl. Ernst Wiechert, Das einfache Leben, 1939) wurde – seit Thoreau und Emerson – zu einer spezifischen Lebenshaltung. Das Sichgenügenlassen, das ja schon Diogenes in seiner Tonne praktizierte, hat die Armut gewissermaßen zu einem Lebensprinzip gemacht. 11
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Die Qual des Minotaurus In Ägypten, in den kleinasiatischen Königreichen, auch in Israel war der Stier wegen seiner Stärke und Heiligkeit ein bevorzugtes Opfertier. Ein Stier – oder auch Zeus in der Gestalt eines Stiers – trug Europa aus dem Osten nach Kreta. Und es war ein dem Meer entstiegener weißer Stier, den, von Poseidon verflucht, die unglückliche Königin Pasiphaë, übrigens eine Schwester der Zauberin Kirke, begehren mußte. Es war nicht das Tier, das die Frau bezwang, sondern Pasiphaë verführte – mithilfe einer von Dädalos eigens dafür konstruierten Kuh-Attrappe – den Stier zu dem Liebesakt, in dem das unglückliche Mischwesen Minotauros gezeugt wurde, – das leibhafte Zeugnis einer verbotenen Grenzüberschreitung, körperlich gewordener Fluch sozusagen. Die besondere Tragik dieses Tiermenschen oder dieses Menschentieres liegt m. E. darin, daß – anders als bei den Kentauren – sein Leib ein menschlicher, sein Kopf dagegen der eines Stieres war. Man könnte vermuten, daß in seiner Darstellung das Fehlen von Geistigkeit und Beseeltheit im Mittelpunkt stünde, weil der Kopf ein »bloß« tierischer ist. Merkwürdigerweise aber ist das Gegenteil der Fall. Der Stierkopf zeigt in Blick und Haltung eine unbeschreibliche Empfindung und beseelte Ausdruckskraft. In seinem Blick äußert sich die Sinn- und Ausweglosigkeit eines Lebens, das kein eigenes Leben sein darf. Er ist in seiner Tierheit wie im – ebenfalls von Dädalos gefertigten – Labyrinth gefangen. Sein Gesicht spiegelt die Qual der Zerrissenheit zwischen den beiden nicht zusammenfügbaren und in ihm doch ineinandergefügten Wesen. Mir scheint, daß in dem Ausdruck dieses Kopfes sichtbar wird, daß er irgendwie »weiß« und doch im strengen Sinne nicht wissen kann, daß es für ihn keine Hoffnung gibt. 146 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
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Unterwegs in Skandinavien (Sommer 2013) Wieder unterwegs, diesmal – fast unversehens – im europäischen Nordosten und Norden, zwischen Baltischem Meer und Eismeer, auf jenem mächtigen und merkwürdigen Festlandsrücken, der sich auf der Karte wie der breite Rücken eines Tieres ausnimmt, dem Baltischen Schild. Auch hier – wie auf dem amerikanischen Kontinent – stößt man ständig auf die sichtbar gewordene Geschichte der Erde, auch wenn sie in diesen Gegenden andere Ereignisse zu erzählen scheint als in Amerika. 1 Die – gleichwohl natürlich auch hier durchaus vorhandenen und wirksamen – Bewegungen, die als Glut und Lava aus dem Erdinneren an die Oberfläche drängen, 2 sowie die Verschiebungen und Auffaltungen durch das Aufeinandertreffen der Kontinentalplatten fallen in Skandinavien weniger auf, weil es vielmehr der Wechsel von Erderwärmung und -abkühlung, und d. h. vor allem anderen die letzte Eiszeit ist, was die sichtbaren Erscheinungen bestimmt hat. Übriggeblieben sind Tausende von Seen und die vielen kleinen Flüsse und großen Ströme, die zerklüfteten Küsten, die Fjorde. Obgleich es Jahrzehntausende her ist, prägen insbesondere die riesigen Eismassen, die beim Schmelzen die großen Dieser Eindruck hängt allerdings entscheidend davon ab, wo auf dem nordamerikanischen Kontinent man sich befindet. Im Nordosten und im Nordwesten von Kanada ist die Landschaft ebenfalls weitgehend von einem ehemaligen riesigen Eisschild bestimmt. Ohnehin sind, aufs Ganze gesehen, die erdgeschichtlich relevanten Phänomene auf der ganzen Erde letztlich die gleichen, durch die gleichen Kräfte und Gegensätze bestimmt. 2 Leka ist eine kleine Insel im Nordwesten von Norwegen. Ihre menschliche Geschichte reicht über 10.000 Jahre zurück, und ihre erdgeschichtliche Entwicklung läßt sie zu den spannendsten Flecken der Erde gehören. Denn wie sonst nur an einigen wenigen Stellen auf der Erde hat sich hier die Erdkruste am Meeresboden selbst soweit gehoben und dann aufgefaltet, daß dessen Schichtungen oberhalb der Meeresfläche als diese Insel und d. h. auf ihr sichtbar geworden sind. 1
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Unterwegs in Skandinavien (Sommer 2013)
von Gletschern geschlossenen Trogtäler bildeten und so die unzähligen Fjorde zurückließen, den Charakter dieser Landschaft, sie hinterlassen den stärksten Endruck. Hinzukommen die Auswirkungen der sogenannten kleinen Eiszeit und in der Gegenwart die Phänomene der teilweise massiven Zurückbildung der großen Gletscher, die wir ja auch aus den Alpen kennen. Das mächtige Silbergrau der Felswände mit ihren vom Eis und den mitgeschobenen Geröllmassen gezeichneten Furchen spricht von der »Arbeit« eines lebendigen Geschehens sowohl über Jahrzehntausende wie auch über wenige Jahre hin. Nirgendwo sonst habe ich die gegensätzliche Zwiefalt von Festland und Meer so schroff erfahren wie in der innigen Verschränktheit von Gebirge und Wasser im Norden von Norwegen, – wobei man nicht genau weiß, ob die Gletscher dem ersteren oder dem letzteren zuzuordnen sind. Deren gleißendes Weiß, ihre blauen Abbrüche, die zurückgelassenen silbernen Felsmulden, – all das spiegelt sich im mal schwarzen, mal grünen, mal fast milchigen, zuweilen sonnenglänzenden, zumeist aber wolkenverhangenen Wasser der Fjorde und der dann schließlich doch auch erreichten weiten Meeresflächen. Gletscher: Mitte, Vermittelndes, Übergängiges, Gemeinsames, Entsprechendes zwischen Stein und Wasser? Zu Stein gefrorenes, erstarrtes, zusammengepreßtes Wasser? Was ich da als schroff bezeichne, gehört zum Auszeichnenden dieser Landschaft – die großartige Härte ihrer Konturen und Verbindungen, unterstrichen durch die Temperaturen des hohen Nordens, die ja der Grund für diese erstaunliche Nähe von verschneiten und vereisten Gipfeln einerseits und dem Meeresspiegel andererseits sind. Das Wort »Meeresspiegel« gewinnt im Übrigen hier eine neue, wörtliche Bedeutung. Das Meer bietet sich wie eine sichtbar gewordene Antwort auf die Bergzüge und Inseln – und 149 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
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wilden Wolken – dar, die sich auf seiner Oberfläche in klarer und doch rätselhafter Umkehr wiederholen. Zwar ist das Meer mit seinen stark ausgeprägten Gezeiten, seinen Möwen und Wildgänsen, seinen mal riesigen und mal winzigen Seeigeln, seinem Tang und seinen Muscheln, seinen ständig wechselnden Farben und Bewegungen durchaus etwas Eigenes, Mächtiges. Aber zugleich bleibt es in diesen Gegenden durch die allgegenwärtigen Spiegelungen in eigentümlicher Weise als Entsprechung an das Land gebunden. 3 Wenn ich mich später an es zurückerinnere, wird es nie ohne die Inseln, ohne die Berge mit ihren zuweilen schroffen, zuweilen weichen Formen, ohne die Fischerorte mit den bekannten roten Häusern und Hütten und ohne die gelben Felder sein.
Dauer und Augenblick II Auf Wikipedia lesen wir über die Zeit: »Die Zeit beschreibt die Abfolge von Ereignissen, hat also im Gegensatz zu anderen physikalischen Größen eine eindeutige, unumkehrbare Richtung. […] Aus einer philosophischen Perspektive beschreibt die Zeit das Fortschreiten der Gegenwart von der Vergangenheit kommend zur Zukunft hinführend.« Abfolge und Fortschreiten – wo findet sich da der Gegensatz von Dauer und Augenblick? Mit ihm kommt etwas in den Blick, was sich dem Fortriß der Zeit, ihrem steten Fortgang von VerganDer Unterschied zwischen bergigen Küsten und flachen Meeresstränden ist kein beiläufiger. Die Ostsee in Schweden und die Nordsee in Dänemark haben in der Erfahrung, in der Weise, wie sie auf das Gemüt wirken, mit den Meeresufern im hohen Norden kaum etwas gemein. Das sind jeweils ganz verschiedene »Sachen«.
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genheit, Gegenwart und Zukunft entzieht, womit also ein ganz anderes Thema angeschlagen wird. 1 Ganz anders dann, wenn wir mit dem Augenblick nicht die Zeitpunkte der aufeinanderfolgenden Jetzte meinen und mit der Dauer nicht die sich aus jenen zusammensetzende Linie, die aus der unvordenklichen Vergangenheit über die Gegenwart in die ins ewige Undsoweiter sich erstreckende Zukunft verläuft. Dauer und Augenblick im hier gemeinten Sinn sind keine objektiv meßbaren Größen. Eher sind sie Weisen, wie wir die Zeitlichkeit des jeweils Begegnenden wahrnehmen. Der Augenblick ist ein Zeitmoment, eine Zeit, die nicht andauert; eine zeitliche Dauer bedeutet eine nicht nur augenblickliche, sondern länger währende Zeit. 2 Der Augenblick dauert nicht, die Dauer währt über den Augenblick hinaus. Der Augenblick ist wie ein plötzlicher Sonnenstrahl aus einer dunklen Wolkenwand, ein Einbruch in die Zeit wie ein Ausbruch aus ihr. Die Dauer ist wie eine Landschaft, die wir durchwandern, in der wir selbst zuweilen innehalten, die uns mitunter aber auch, von sich aus, stehenbleiben und Atem holen läßt, so daß wir den Blick auf einen bestimmten Ort in ihr richten können. Die folgenden drei sehr verschiedenen dichterischen Zeugnisse für erfahrene Dauer betreffen drei grundsätzliche Weisen, wie wir uns zur Zeit verhalten, rückblickend, gegenwartsbezogen, vorausschauend; sie sprechen jeweils sowohl betont aus einer ganz gegenwärtigen Erfahrung der Dauer heraus, wie sie, unausdrücklich, eine je spezifische Haltung
Unbeschadet dessen, daß etwa Aristoteles bei seiner Bestimmung des Wesens der Zeit als jenes Fortgangs Gebrauch von der kontinuierlichen Dauer und den sie messenden Jetzt-Momenten, also Augenblicken macht. 2 Objektiv betrachtet soll der Augenblick nach Wikipedia, obgleich er als unspezifische Zeitspanne bezeichnet wird, etwa »3–4 Sekunden, umgangssprachlich deutlich länger (1–2 Minuten)« »dauern«. 1
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gegenüber dem gegenwärtigen Augenblick als einem dem Dauern Zugehörigen wie ihr gegenüber Anderen zum Ausdruck bringen. Das erste Beispiel steht in dem – von Nietzsche vertonten – Gedicht Aus der Jugendzeit von Friedrich Rückert. Es lautet: »Doch die Schwalbe singt, doch die Schwalbe singt im Dorf wie einst.« Das »doch« versucht einen Einspruch gegenüber der bitteren Erfahrung der Gegenwart, deren Inhaltslosigkeit in dem Gedicht näher beklagt wird. Daß die Schwalben wie einst, wie in der »Jugendzeit« singen, daß sie damit über die Zeiten hin verläßlich sind – was auch heißt, daß sie den herbstlichen Abschied »doch« mit neuer Ankunft im Frühling gleichsam immer wieder gutmachen –, schafft einen offenen Raum des Überdauerns oder Durchdauerns der einzelnen, insbesondere der widrigen gegenwärtigen Zeitereignisse. Die Vergangenheit verbindet sich mit der Gegenwart, wobei unterschwellig auch ein Vertrauen auf die Zukunft mitschwingt; etwas bleibt, und das allein reicht schon als Trost. Zum zweiten zwei Zeilen aus der dritten Fassung von Friedrich Hölderlins Hymne Mnemosyne: »Vorwärts aber und rückwärts wollen wir nicht sehn. Uns wiegen lassen, wie auf schwankem Kahne der See.« Uns wiegen zu lassen, das heißt, uns der uns tragenden Bewegung anheimzugeben, mitzugehen mit ihr, gelassen zu sein. Was hier und jetzt begegnet, möge genügen; da bedarf es keines Blicks zurück oder nach vorn. Die währende, lange Zeit ist wie der ruhige Wellengang des Meeres, gleich dem Rhythmus des Aus- und Einatmens. Was auch immer als Einzelnes begegnen mag, es hat sich schon in diesen wiegenden Rhythmus eingefügt. Und schließlich, aus Gottfried Benns drittem Epilog 1949-Gedicht: »Und Schmetterlinge, März bis Sommerende, das wird noch lange sein.« Wie die Schwalbe besänftigend auf das »einst« verweist, so sichern die Schmetterlinge, die Som152 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
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mervögelein, tröstend-beruhigend ein »noch lange« zu. Wie jene fordern auch diese nicht zu einem Vorwärts- oder Rückwärtsschauen auf. Aber sie geben, trotz der ja gerade ihnen eigenen Zerbrechlichkeit und Flüchtigkeit, der Dauer des Jetzt ihr gelassenes Weilen, – und so auch unserem Verweilen in ihr. »Das wird noch lange sein«. Gleichwohl wird es nicht immer sein. In allen drei angeführten Sätzen schwingt eine gewisse Wehmut mit, ein unausgesprochenes Wissen um die Endlichkeit der gegenwärtig währenden Dauer. Die Dauer birgt einen Augenblick in sich, der sie nicht nur durchbricht wie jeder andere, der sie vielmehr radikal bricht und als solche in Frage stellt, den Augenblick des Todes. Der Tod, verstanden als Augenblick des Sterbens bzw. Gestorbenseins, ist der Eintritt äußerster und bitterster Abwesenheit in die lebendige Anwesenheit. Zugleich jedoch ist diese Abwesenheit zeit unseres Lebens immer schon anwesend, insofern wir uns eben als Sterbliche wissen. In mehr oder weniger ausdrücklicher Weise wissen wir immer schon, daß jeder Augenblick der letzte des Hierseins und der Anwesenheit, der erste des Wegseins und der schlechthinnigen Abwesenheit sein kann und daß der erste Augenblick unseren Seins auf dieser Erde zugleich der erste Augenblick unseres Weges zum Ende hin, in diesem Sinne unseres Sterbens ist. Die Weile des Zeitraums des Lebens trägt den Augenblick des Sterbens immer schon in sich. Doch es gilt auch das Umgekehrte. Die Sterblichkeit, zumindest das Wissen um sie und damit das Wissen um eine grundsätzliche Nichthaftigkeit, »umfängt« unser gesamtes Leben. Dieses ist selbst »ein Spiel im Nichts«, wie Benn in dem den Epilog-Gedichten zugehörigen Gedicht Erinnerungen – sagt. »Dunkel ist das Leben, ist der Tod«, singt Bi Lai im Trinklied vom Jammer der Erde, das Gustav Mahler in sein Lied von der Erde inte153 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
Wasser und Stein
griert hat. »Dunkel ist die Nacht, dunkel sind die Wege Zarathustras«, spricht Zarathustra, als er den Leichnam des zu Tode gefallenen Seiltänzers vor sich sieht. Vor der dunklen und stillen Macht des Totseins erscheint das Leben wie die verschwindende Spur einer Sternschnuppe.
Wasser und Stein Vom Phänomen her liegt es nahe, Wasser und Stein in einem Gegensatz zueinander zu sehen. Gehört zum Wasser Durchsichtigkeit, Veränderlichkeit, Formlosigkeit, so sind dagegen die Steine und Felsen Ausdruck des Festen, Bleibenden und Umgrenzten. Wasser dringt in die schmalsten Ritzen, – und steigt, verdunstet, in die höchsten Höhen. Wasser verströmt; gehalten ist es stets lediglich von außen, – und sei es auch durch die unendlichen Schalen der flachesten, sanftesten Strände. Steine dagegen sind undurchdringlich und hart. Man kann sich an ihnen stoßen, kann vom Steinschlag erschlagen werden. Sie sind nicht nur fest umgrenzt, sie dienen oftmals selbst als Grenzsteine, Marksteine, Mauern. In den Brunnen wird das Einfassende des Steins gegenüber dem von ihm selbst her verfließenden Wasser besonders deutlich. Und doch gibt es auch viele Entsprechungen zwischen den Steinen und dem Wasser. So etwa die, daß sie beide in so großer Vielfalt der Gestalten vorkommen. Vom kleinsten Dunst- und Regentropfen über Quellen, Ströme und Meere bis hin zu den ca. 70 %, die den menschlichen Körper ausmachen, vom Wasserdampf bis zum Eis der Gletscher begegnet uns Wasser in untereinander kaum vergleichbaren Erscheinungsformen. Vom winzigsten Kieselstein und den mannigfaltigsten Sänden über all die vielen Steine am Weg 154 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
Wasser und Stein
und auf dem Feld und über die Felsen der Gebirge bis zu diesen selbst, den mächtigen Auffaltungen der Erde auf dem Festland wie in den Tiefen der Meere, sehen wir Steine in unterschiedlichster Zusammensetzung und mit unterschiedlichster Entstehungsgeschichte – Basalt, Granit, Sandstein, Lavabrocken, Edelsteine … Oder eine andere Vergleichbarkeit: Das Wasser erscheint farblos, die Steine grau, und d. h. »unbunt«. 1 Doch in Bezug auf beide sieht die bewußt erfahrene Wirklichkeit anders aus. Viele Erscheinungen des Wassers zeigen eine ganz eigene Färbung, auch wenn diese nur bedingt diesem selbst zukommt. 2 Wenn die Farben das sinnfälligste Merkmal des irdischen Seienden sind, so spricht die spezifische Farbigkeit des Meeres – sein Grau- oder Blau-, Türkis- oder Smaragd-, Orange- oder Rotgefärbtsein – für eine ganz eigene, ganz spezifische Sinnfälligkeit. Die Meere und Seen haben ihre sich ständig ändernden Farben, hervorgerufen von Schwebstoffen, von Plankton, Algen und anderen Meerestieren, vom Untergrund, von Winden und Strömungen, vor allem aber als Spiegelungen der wechselnden Himmel mit ihren Folgen von Licht und Schatten. Der vielleicht schönste See, den ich je gesehen habe, der Crater Lake in den Kaskaden in Oregon, hat eine tiefdunkelblaue Farbe.
»Als Grau wird ein Farbreiz bezeichnet, der dunkler als Weiß und heller als Schwarz ist, aber keinen farbigen Eindruck (Farbvalenz) erzeugt. Grau besitzt keine Buntheit, es ist eine unbunte Farbe. […] Generell gilt die Farbe Grau als langweilig, traurig und nichtssagend. Grau ist unauffällig und steht für etwas Unbedeutendes oder Uninteressantes.« (Wikipedia, Grau) 2 Daß sehr tiefes, klares Wasser auf Grund von Schwingungen der Wassermoleküle im infraroten Bereich gleichwohl »selbst« eine bläulich-grünliche Farbe hat, kann hier beiseite bleiben. Die »blauen« Seen und Meere hingegen verdanken sich der Tatsache, daß die blauen (violetten und ultravioletten sowie infraroten) Anteile der Sonnenstrahlen am weitesten in die Tiefe vordringen, am wenigsten verschluckt werden. 1
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Wasser und Stein
Über die Farbe der Steine am Meer habe ich schon mehrfach geschrieben. 3 An den verschiedensten Orten der Erde beeindrucken die roten oder auch die weißen Felsen. In der Gegend des mittleren Laufs des Colorado bei Lee’s Ferry erscheinen die Berghänge in abgestuften Farben von grau, blau, tiefrot, orange, gelb und weiß. 4 Eine eindrucksvolle Landschaft in Arizona trägt den Namen Painted Desert. Von grauen, farblosen Steinen kann da keine Rede mehr sein. Über die äußeren Entsprechungen hinaus verweisen Steine und Wasser aber auch direkter aufeinander, indem sie sowohl Eigenschaften des je Anderen an sich tragen wie sie direkt aufeinander einwirken. 5 Das Wasser liegt an den Polkappen und in den hohen Gebirgen in fester, zu Jahrtausende alten Eismassen und Gletschern erstarrter Form vor. In Lawinen stürzen Eis, »festes Wasser«, und Steine, in gewaltiger Bewegung, miteinander zu Tal. Was die gemeinhin dem Wasser zugeschriebene Veränderbarkeit und Beweglichkeit angeht, gibt es diese auch bei den scheinbar »unbeweglichen« Steinen. Das wird z. B. in den fließenden Formen der schwarzglänzenden Lavafelder sinnfällig. Im Nationalpark Craters of the Moon in der Snake-River-Ebene in Idaho oder ausgedehnter noch im Hawaii Volcanoes National Park auf Big Island bin ich auf den weiten, unglaublich schönen Lavaflächen herumgegangen, die sich auf der Insel in großem Schwung bis ins Meer hinein »ergießen«: Strudel, Ströme, Kaskaden, Wirbel, dazwischen ab und zu aus den Spalten hervorwachsend kleine Blumen oder sogar Bäumchen. Die er-
So z. B. in diesem Buch, S. 29. Vgl. v. Verf., Über Natur, 335. 5 Das macht die Gegensätzlichkeit von Wasser und Stein nicht weniger schroff, ebnet sie nicht ein. Aber es zeigt doch wiederum, wie wenig der Gegensatz selbst etwas Festes, Klares, Eindeutiges ist. 3 4
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starrten strudelnden, quirlenden Fließformen der Vulkanlandschaften bezeugen, wie die Starrheit doch nur eine Form ist, in der der Stein erscheint, nämlich auf der Erdoberfläche, während er unter der Erdkruste in unvorstellbar großen Strömen dahinfließt. Erdgeschichtlich gesehen vermittelt der Anblick der harten Steine je nur eine Momentaufnahme des Zusammenspiels der die Erde ausmachenden gegensätzlichen Kräfte. Beide vermögen direkt auf das je Andere einzuwirken und es zu verändern. So beeinflussen Wind und Wasser über die Zeiten hin das scheinbar Feste der Gesteine und geben ihm dadurch eine eigene Beweglichkeit: »Die Steine selbst, so schwer sie sind, …« singt Schubert bzw. Müller. Umgekehrt kann der Stein das Wasser eindämmen, hat dies jedenfalls vor der Verwendung des Betons getan – der ihn allerdings auch in der Form des Sandes enthält –, in Talsperren und Brunnen und Befestigungsmauern; zu Brücken gefügt können die Steine den trennenden Charakter der Flußläufe überwinden usw. Und doch ist im Vergleich die vielfältige Macht des Wassers über den Stein wohl die stärkere. Als erstes fällt einem die steinbezwingende, bohrende, aushöhlenden, erodierende Kraft des Wassers ein. In Jahrzehntausenden hat es die tiefen Täler und Schluchten gegraben. Jene wunderbaren runden und ovalen Steine und Felsen in den Meeren und Flüssen sind vom unendlichen Strömen und Wellengang geglättet und geschliffen. In unendlich scheinenden Perioden hat das Wasser tropfenweise riesige Höhlen gebildet. Der sprichwörtliche »stete Tropfen höhlt den Stein«. Ähnliches sagt auch die Auskunft des Jungen, der den alten Laotse auf seinem Ochsen über das Gebirge führte, über die Lehre seines Meisters:
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Wasser und Stein
[…] Daß das weiche Wasser in Bewegung Mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt. Du verstehst, das Harte unterliegt. 6 Und noch eine ganz andere Bemerkung zu dem Bezug zwischen Wasser und Stein möchte ich anfügen. Wenn wir statt »Stein« erweiternd »Berg« sagen, so können wir auf die spannende Tatsache stoßen, daß die Zusammenstellung Berg (e)-Wasser der chinesische Ausdruck für Landschaft ist und daß diese als etwas verstanden wird, »was durch Wechselwirkung der Komponenten der Welt Belebung bewirkt«. (François Jullien, Das große Bild hat keine Form, 151) Die umgebende oder vor einem liegende Landschaft als solche wahrzunehmen, heißt auch, sich als zugehörig zum »großen Spiel von Gegensatz und Komplementarität« zu sehen. Berge und Wasser stellen die Pole des Spannungsfeldes dar, das die Welt ausmacht. Ihr Verhältnis ist die Wechselwirkung »zwischen dem Oben und dem Unten, dem Vertikalen und dem Horizontalen, dem Kompakten (Massiven) und dem Flüssigen, dem Undurchdringlichen und dem Transparenten, dem Reglosen und dem Bewegten, usw. ›Berge-Wasser‹ symbolisiert diese Dualitäten, die die Welt aufspannen, sowie die unendlichen Austausche, die sich daraus ergeben.« (150) 7 Jullien führt aus der chinesischen Theorie der Landschaftsmalerei noch eine schöne Bemerkung an, mit der ich diese Überlegungen zu Wasser und Stein beende. Nachdem er dargestellt hat, wie im Wasser die »Arterien« des Berges und im Berg das »Gesicht« des Wassers gesehen werden – »der Berg umfängt und strukturiert, während das Wasser zirkuliert und fließt« – schreibt er: »Gleichzeitig drückt sich das 6 Brecht, Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration. 7 Ob es sinnvoll und richtig ist, hier von einem »Symbolisieren« zu sprechen, sei dahingestellt.
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Sprachliche Bilder
eine durch das andere aus, da sie beide vom selben rhythmischen Pulsieren durchdrungen sind: die Wellen heben und senken sich wie die Gipfel, und die Gipfel reihen sich endlos und ununterbrochen aneinander wie die Wellen.« (151)
Sprachliche Bilder Insofern das sprachliche Bild, also das Bild, mit dem wir einen Gedanken zum Ausdruck, zur Sprache bringen, die unmittelbare, sinnliche Anwesenheit von etwas evoziert, dies aber im Medium eines inneren Sehens, steht es einerseits an der Schwelle zwischen dem Bereich des Sinnlichen und dem Bereich des Unsinnlichen oder Sprachlich-Geistigen, des Sinnes, hebt es eben damit aber andererseits die Trennung beider Bereiche in sich auf, macht den scheinbaren Gegensatz zu einem Raum der Komplementarität. Die Sinne und der Sinn spielen im Bild ineinander. 1 Noch stärker als das Wort überhaupt hat das sprachliche oder gedankliche Bild, also das Wort als Bild, am Sinnlichen wie am Unsinnlichen teil. Eben auf Grund dieser Doppeldeutigkeit im wörtlichen Sinn, dergemäß sich in ihm jeweils ein Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtbarem, wir können auch sagen, von Ungesagtem und Gesagtem austrägt, ist das sprachliche Bild für ein Denken wichtig, das eine AlterHeidegger hat auf die nicht nur sprachliche Nähe zwischen diesen beiden Worten – »Sinne« und »Sinn« – hingewiesen. So sagt er z. B. einmal in Bezug auf das Dichten: »Allein, es ist eben nicht nur ein sinnliches Sagen, sondern es sagt den Sinn«; und ein anderes Mal in Bezug auf die Sprache: »Laut und Schrift sind zwar Sinnliches, aber Sinnliches, darin je und je ein Sinn verlautet und erscheint.« (Hebel – der Hausfreund, 38)
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Sprachliche Bilder
native zum traditionellen Denken sein will. Es hat einerseits keine konkrete sinnliche Realität, wenn wir von den geäußerten Lauten – oder auch dem Schriftbild – absehen; aber trotz dieser Unsinnlichkeit vermag es auf der anderen Seite doch Sinnliches zu evozieren, es vermag uns in eine Welt der Farben, Klänge und Düfte zu versetzen. Wenn wir sagen »ein blauer Morgen«, so können in diesem Bild z. B. die Stimmung und Atmosphäre und die sinnliche Intensität eines Sommermorgens mit seiner Kühle und Klarheit zur Sprache kommen. Foucault beginnt sein Buch Die Ordnung der Dinge mit der Schilderung eines Gemäldes von Velázques. Das Gemälde ist nicht der eigentliche Gegenstand dieses Textes, das Bild im doppelten, iterierten Sinne gibt lediglich einen gewissen Anstoß und Einstieg. Die – übrigens fast dramatisch inszenierte – Auseinandersetzung mit ihm wird als Vorspiel gewählt, das unversehens mit der Sache konfrontiert, um die es Foucault zu tun ist, ohne daß das Folgende als allgemeine Schlußfolgerung aus der Beschäftigung mit dem Gemälde ein- und fortgeführt würde. Der Ansatz bei etwas, das dem unmittelbar zu Sagenden fremd, aber gleichwohl analog ist, kann als eine bildliche Maskierung oder auch Verkleidung der eigentlichen Thematik bezeichnet werden. Voll von Bildern sind gewöhnlich die Texte von Sloterdijk; zuweilen scheinen ihn die Bilderlust und die Bildereinfälle geradezu mitzureißen. In dem Bericht über ein Gespräch von ihm und Oskar Lafontaine im Wiener Burgtheater war zu lesen: »Sloterdijk präsentierte sich im Burgtheater erneut als virtuoser Metaphern-Jongleur, dessen Sätze das Publikum amüsierten. Wenn er etwa vom ›Staat als Dimmer‹ sprach, ›der das Überhitzen von Kreisläufen verhindert‹.« 2 Aber auch im eigentlich philosophischen Diskurs ist Sloterdijk ein Mei2
www.spiegel.de/kultur/sloterdijk-und-lafontaine-brueder-im-geiste.html.
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Sprachliche Bilder
ster der Bilder. Beispielhaft weise ich auf das Bild des Findlings aus dem ersten Kapitel in seinem Buch Weltfremdheit hin: Sloterdijk wählt hier das Bild des »Selbstfindlings« für das, was er den heroischen Charakter des Menschen nennt. Nach einer Erläuterung des Begriffs des Findlings führt er u. a. aus: »Der einzige Grund, von Steinen auf Menschen zu kommen, ergibt sich aus dem Findlingseffekt, der unleugbar auch an menschlichen Subjekten auftritt. Es geschieht vielleicht nicht häufig, aber es kommt vor, daß Menschen inmitten der Landschaft der Dinge innehalten und auf ihr Ich aufmerksam werden.« Indem Sloterdijk ständig zwischen den Aspekten des Bildes und einer unmittelbaren Darstellung der »menschlichen Tatsachen« hin und her geht, ohne daß das jeweils einen Bruch bedeuten würde, will er mit dem Bild des Selbstfindlings einen Zug am Menschsein anschaulich machen, der im Folgenden als Basis für die Erörterung des begeisterten Selbst des Helden dient. »Auch unter den Selbstfindlingen sind die Gletscher weggeschmolzen. Für sich selbst rätselhaft, liegt jeder einzelne unruhig und zusammenhanglos in der Landschaft – ein atmendes Monument einer Urgeschichte, die dem eigenen Gedächtnis entgeht. Ich sitze am Tisch und existiere; ich erblicke eine Kastanienwurzel und fühle ein Würgen im Hals: Existenz.« 3 Und schließlich füge ich zur Erläuterung des sprachlichen Bildes noch eine Äußerung von Adorno über die Einbahnstraße von Benjamin an: »Bilder jedoch sind die Stücke der ›Einbahnstraße‹ nicht wie die platonischen Mythen von der Höhle oder vom Wagen. Es sind eher gekritzelte Vexierbilder als gleichnishafte Beschwörungen des in Worten Unsagbaren. Sie wollen nicht sowohl dem begrifflichen Denken Einhalt gebieten als durch ihre Rätselgestalt schockieren und 3
Weltfremdheit, 16 und 18.
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schwarz/weiß – der Schnee
damit Denken in Bewegung bringen, weil es in seiner traditionellen begrifflichen Gestalt erstarrt, konventionell und veraltet dünkt. Was nicht im üblichen Stil sich beweisen läßt und doch bezwingt, soll Spontaneität und Energie des Gedankens anspornen und, ohne buchstäblich genommen zu werden, durch eine Art von intellektuellem Kurzschluß Funken entzünden, die jäh das Vertraute umbeleuchten, wenn nicht gar in Brand stecken.« 4
schwarz/weiß – der Schnee Unsere Welt, in der wir uns bewegen und die wir sinnlich erfahren, ist maßgeblich eine farbige Welt. Ich fand es immer bemerkenswert, daß Parmenides da, wo er das reine, ewig mit sich selbst selbe Sein kennzeichnet und es entschieden gegen alles von den Sterblichen für wahr Gehaltene, alles Bewegliche und Sich-verändernde und darum letztlich irgendwie Nichtseiende abgrenzt, dieses letztere zugleich als etwas Farbiges bestimmt. 1 Die Qualität des endlichen, sinnlichen Seienden konzentriert sich gewissermaßen darin, daß sie sich unseren Augen in der unendlichen Vielfalt der Farben darbietet; die Farben versammeln das mannigfaltige Sinnliche in sich. Als das ausgezeichnet Sichtbare werden sie in der Dichtung häufig mit dem durch die anderen Sinne Wahrnehmbaren zusammengedacht, so etwa mit den Düften oder den Tönen. Die Letzteren betreffend singt Eichendorff: »Sind Theoder W. Adorno, Benjamins ›Einbahnstraße‹, 680–681. Frg.8, 38 ff.: »[…] Dem ist all das zugesprochen, was die Sterblichen gesetzt haben, in der Überzeugung, daß es wahr sei: zu werden und zu vergehen, zu sein und nicht zu sein und den Ort zu wechseln und die lichte Farbe zu verändern.«
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schwarz/weiß – der Schnee
die Farben denn nicht Töne, / Und die Töne bunte Schwingen?« (Anklänge) und Hofmannsthal: »Aufragend mit den Farben, die verklingen, / Mit langen Griffeln, seltsam und gewunden, / Mit Purpurfäden und mit grellen Tupfen« (Die Töchter der Gärtnerin). Und dann gibt es andererseits diese Tage, wo alles weiß – und im Kontrast dazu auch schwarz – ist. Ein Baum, eine Linde mit großem rundem, nach oben sich zuspitzendem Umriß, steht scharf und wunderbar gezeichnet mit ihren schwarzen und zugleich weißen Ästen, – eine »affirmative Leugnung« alles Farbigen, Vollen und Bunten. Das Weiß des Schnees hat den doppelten Charakter, daß es einerseits verbirgt, zudeckt, nichthaft erscheinen oder werden läßt und daß es andererseits zu unterstreichen und hervorzuheben vermag. Wenn der frisch gefallene Schnee auf dem Schwarz der Äste liegt, bekommen diese eine eigene Schärfe und Präsenz. Ihr Wirklichsein, ihr Sein erhält eine neue Intensität dadurch, daß das Sichtbarsein, der schwarze Umriß, durch sein Unsichtbarsein, die verbergende Nachzeichnung im überlagernden Weiß, eigens betont wird. Sowohl für den verbergenden wie für den akzentuierenden Charakter des Schnees gibt es ein Zitat aus der Zen-Tradition. Zum einen: »Schnee liegt auf den Blütenrispen des Uferschilfs; schwer ist’s, zu unterscheiden, wo diese anfangen und wo jener aufhört.« 2 Zum anderen: »Schnee, tausend Berge bedeckt er; warum ist nur ein einsamer Gipfel weiß?« 3 Der Schneefall dämpft die Geräusche. Indem er die Farben und Gestalten überdeckt, bringt die mit ihm einhergehende Stille so etwas wie eine Beruhigung der sinnlichen Bi-Yän-Lu, Niederschrift von der Smaragdenen Felswand, 251. Zen-Wort, zitiert in Keiji Nishitani, Vorbereitende Bemerkungen zu zwei Meßkircher Ansprachen von Martin Heidegger, 156. Zu beiden Zitaten vgl. v. Verf., Schnee auf silberner Schale? Überlegungen zur Heideggerschen und zur ostasiatischen Denkhaltung.
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schwarz/weiß – der Schnee
Wahrnehmung überhaupt mit sich. Qualitäten, Bewegungen, Vielfältigkeiten sind wie reduziert. Und so scheinen auch Zeit und Zeitwahrnehmung verändert. In großen Flocken fällt der Schnee – läßt er die Zeit langsamer vergehn? (Kôichirô) Weicher Schnee – still tanzt die Zeit. (Mori) Auf Herkunft und Zukunft fällt der Glanz des Schnees. (Santôka) Endloser Schneefall hört doch irgendwann auf – Frühling … (Mantarô) Jeder Ton erstarb. – Tönt so der Schnee? (Udô) Auch in der Frage in Mutter Courages Lied »Wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr?« liegt ein Hinweis auf den Zeitbezug des Schnees. Der Schnee verwandelt eine Landschaft in wenigen Stunden – und in wenigen Stunden kann er auch wieder verschwinden. Während die Flocken fallen, scheint zuweilen der ganze Raum in Bewegung geraten, ein stetes Abwärts, manchmal auch schräg im eisigen Wind. Manchmal schneit es zwar tagelang, und dann dauert es vielleicht auch längere Zeit, bis alles wieder geschmolzen ist. Aber wir wissen doch, daß die verschneite Landschaft etwas 164 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
Bewegungsraum zwischen Gegensätzlichen
Vorübergehendes ist, – ungleich vergänglicher als die Wiesen und Wälder und Ortschaften, die der Schnee zeitweilig zudeckt. So sind die Gegensätze in der Schneelandschaft sehr vielfältiger Art: Gegenwärtig bestehend gegen vergehend, weiß gegen schwarz, ruhig gegen bewegt oder auch umgekehrt, eintönig gegen bunt, still gegen belebt.
Bewegungsraum zwischen Gegensätzlichen Gegensätzliche haben in vielfältiger Weise einen Bereich zwischen sich. Er ist bestimmt durch ihre Zeitlichkeit wie durch ihre Räumlichkeit, also durch die unterschiedlichsten Spannungen von früher und später, gegenwärtig und vergangen, oben und unten, vorne und hinten, südlich und nördlich, nah und fern, eng und weit. Oder auch durch qualitative Gegensätze wie warm und kalt, glücklich und leidvoll, schmerzhaft und wohltuend, üppig und karg, vertraut und fremd. Viele dieser Gegensätze sind so etwas wie Grenzen von bzw. Spannungsmomente innerhalb von sich durchhaltenden Bewegungen oder vielleicht besser Beweglichkeiten 1 . Wie sich im Zeitlichen die Bewegung als kontinuierlicher Übergang vom Noch-nicht zum Schon und vom Jetzt zum Nichtmehr vollzieht, so geschieht sie im Räumlichen vom Hier Aufgrund des Vorherrschens der Linearität unseres traditionellen Zeitbegriffs denken wir auch die Bewegung prinzipiell linear. Aristoteles hat dem »vorher-nachher« oder »früher-später« der Zeit ein solches der logischen und der ontologischen Abfolge an die Seite gestellt. »Beweglichkeit« nennt gegenüber »Bewegung« eher ein »Zittern in sich«, ein »In-sich-schwingen«, also das Sich-aufeinander-beziehen von Unterschiedenem, das jeweils nicht bei einem fixierten Einen stehenbleibt.
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Bewegungsraum zwischen Gegensätzlichen
zum Dort, im Qualitativen vom So zum Nicht-so. Jedes Bewegungsmoment konstituiert sich aus der inneren Differenz zwischen zwei entgegengesetzten Phasen, als Übergang von dem einen zum anderen. 2 Größe und Kleinheit oder Glück und Leid sind schon insofern Momente einer Beweglichkeit – wir könnten auch sagen: Lebendigkeit –, als, figürlich gesprochen, unser Blick hin- und herwandert zwischen ihnen; wir sehen sie zusammen, indem wir den Gegensatz zwischen ihnen wahrnehmen bzw. uns hineinziehen lassen in die zwischen ihnen sich vollziehende Spannung oder Differenzbewegung. 3 Und wie steht es mit solchen Gegensätzen wie »schwanger und nicht schwanger«? Sind auch sie Pole einer Bewegung? Handelt es sich bei ihnen überhaupt um einen Gegensatz im geläufigen Verständnis? Gehört zu dem, was Schwangersein ist, das Nichtschwangersein, gewissermaßen als seine Schattenseite? Ist Nichtschwangersein überhaupt etwas, ist es nicht die bloße Verneinung eines möglichen Prädikats? Und wie könnte es dann eine innere Beweglichkeit zwischen diesen Gegensätzen geben, handelt es sich nicht bloß um ein Entweder/Oder? Interessanterweise gebraucht Aristoteles gerade solche – irgendwie künstlichen – Gegensätze, um die Möglichkeit von Bewegung aufzuzeigen. Für ihn bilden etwa »Haus und Nicht-Haus« in einem bestimmten Sinne einen Gegensatz, insofern Nicht-Haus als »Noch-nicht-Haus« oder auch »Nicht-mehr-Haus« verstanden werden kann, dann nämlich, Es ist erstaunlich, wie sehr wir in unserer Wahrnehmung und Erfahrung durch den zeitlichen Ablauf unseres Wahrnehmens und Erfahrens bestimmt sind. Es ist uns fast unmöglich, einen nicht-zeitlichen Übergang vorzustellen, der nicht irgendwie ein Gehen durch die Zeit (und den Raum?) wäre. 3 In dem Wort »Differenz« liegt schon ein Bewegungsmoment; differre bedeutet »auseinandertragen«. Insofern verweist die Differenzbewegung auf die im wörtlichen Sinne verstandene Auseinander-setzung. 2
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Bewegungsraum zwischen Gegensätzlichen
wenn man auf das Werden des Hauses schaut. Entsteht ein Haus, so kann es, so Aristoteles, nicht aus Nichts entstehen, denn aus bloßem Nichts entsteht nichts. Etwas muß also schon vorhanden sein; es kann allerdings gerade noch kein Haus sein, liegt vielmehr lediglich als Material vor, als Steine, Ziegel und Holz z. B. In diesem Sinne kann Aristoteles sagen, daß das Noch-nicht-Haus selbst irgendwie schon »etwas« ist, – daß jedes Seiende aus etwas wird, das das spezifische Nochnicht dessen ist, was wird, insofern es die Möglichkeit oder genauer die Bestimmung hat, sich zu jenem zu verändern. Werden die Dinge allgemein als in Bewegung, im Übergang seiend verstanden, so fügen sie sich ganz unmittelbar in Gegensatzverhältnisse. So ist dann auch das Nichtschwangersein, wenn es z. B. in Hinsicht auf eine gewünschte oder eine gefürchtete Schwangerschaft in den Blick rückt, bzw. besser umgekehrt, wenn es von dieser her betrachtet wird, ebenso wie sein Gegenteil je ein Moment einer in sich lebendigen Bewegung. Bei den Überlegungen zum Unterwegssein habe ich auf eine Bemerkung von Heidegger aus Das Wesen der Sprache hingewiesen. Sie lautet: »Wir sind nicht, und wenn, dann nur selten und dabei kaum, in der Lage, eine Beziehung, die zwischen zwei Dingen waltet, rein aus ihr selbst her zu erfahren. Wir stellen uns die Beziehung sogleich von dem aus vor, was jeweils in der Beziehung steht.« 4 In verwandter Weise sind wir auch gewohnt, wenn wir von Gegensätzen sprechen, diese zunächst für sich zu thematisieren, als zwei Entitäten, zwischen denen sich dann eine Gegensatzbeziehung feststellen Unterwegs zur Sprache, 188. »nicht, und wenn, dann nur selten und dabei kaum« – eine merkwürdige, bei Heidegger sonst nicht übliche Vagheit des Sprechens. Sie mag mit der hier angesprochenen »alten weit ausgreifenden Verlegenheit« zusammenhängen, »in der sich unser Denken und Sagen überall und ständig befindet«, wenn wir ein angemessenes Verhältnis zu gewinnen versuchen zu dem, was eine Beziehung ist.
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Bewegungsraum zwischen Gegensätzlichen
läßt. Heidegger spricht zwar nicht, wie man zunächst meinen könnte, von einer Vorgängigkeit der Beziehung selbst vor denen, zwischen denen sie besteht. Aber er weist darauf hin, daß wir dieses Zwischen gewöhnlich nicht als solches wahrnehmen, es nicht eigens in den Blick nehmen: es »bleibt unsichtbar«. Das abendländische Denken war seit seinen griechischen Anfängen primär auf die einzelnen »Sachen« gerichtet, in seiner Struktur war das einzelne Nomen privilegiert, insbesondere die eigenständige Substanz. 5 Entsprechend ist in den indoeuropäischen Sprachen 6 gewöhnlich das Subjekt das beherrschende Moment; von ihm und auf es zu werden die Prädikate und weiteren Bestimmungen ausgesagt. Die jeweilige Situation, das Geschehen, die innere oder äußere Bewegung treten dann höchstens vermittelt in Erscheinung. Dagegen gibt es in anderen Sprachfamilien, z. B. im Chinesischen, viele Sätze ohne Subjekt. Hier ist »das Offenlassen des Subjekts der Handlung unerläßlich für die Präzisierung der Geschehensqualität selbst. Es wird etwas Allgemeines zum Ausdruck gebracht, das in sprachlicher Form als subjektoffene Geschehensqualität erscheint.« 7 Es kommt mehr darauf an, die Art der Beziehung zwischen einzelnen Momenten zum Ausdruck zu bringen, als diese Momente selbst herauszustellen. Ich denke, es lohnt sich, solche unterschiedlichen Sprech- und Denk-Einstellungen im Blick zu haben, wenn man der spezifischen Beziehung zwischen Gegensätzlichen Vgl. zu dieser Fragestellung v. Verf., Unter anderem: die Dinge, 11 ff. und passim. 6 Diese werden dementsprechend als »subjekt-prominent« bezeichnet. Vgl. Rolf Elberfeld, Sprache und Sprachen, 214. Subjektprominente Sprachen verwenden primär eine »Prädikationsstruktur«, – im Gegensatz zur »Toposstruktur« »topik-prominenter« Sprachen. 7 Elberfeld, 213. Ich frage mich allerdings, ob die Rede von »Allgemeinheit« hier angemessen ist. 5
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Miteinander und Ineinander III (Kirsch)
nachspürt. Es kann nicht darum gehen, dem Einen oder dem Anderen, den Gegensätzlichen oder der Beziehung zwischen ihnen, ihrem Bewegungsraum, einen Vorrang zuzusprechen. Jene sind nie und nirgends ohne diese und umgekehrt. Aber wir können, nach der Weise der abendländischen Sehgewohnheit, vornehmlich die Ersteren in den Blick fassen und das, was zwischen ihnen ist – »waltet«, wie Heidegger sagt, – eher im Unsichtbaren belassen; oder wir können unser Augenmerk gerade umgekehrt auf dieses Letztere richten und ihm dadurch eine eigene Sichtbarkeit verleihen, daß wir auf das Gegensatzgeschehen als solches achten und auf den »Raum«, innerhalb dessen es sich abspielt. Ein besonderes Kennzeichen des Raums der Entgegensetzung ist seine Negativität: das Geschehen ist ein gegenwendiges Negieren. Doch dieses Negieren vernichtet das je Andere nicht; insofern es sich vielmehr von diesem her in sich selbst zurückspiegelt, bestätigt es das Andere zugleich, setzt es sich das Andere entgegen. Das Negieren ist, weil es ein gegenseitiges ist, ein Hin-und-her-schwingen zwischen beiden. Sich auf die Entgegensetzung als solche einzulassen, heißt, sich gelassen in ihren Bewegungsraum einzuschwingen.
Miteinander und Ineinander III (Kirsch) Ich weiß nicht, wie Sarah Kirsch es mit der Identität der Dinge gehalten hat. Mir scheint jedoch, daß einige ihrer Gedichte ein Gespür für die offene Zusammengehörigkeit der Dinge miteinander und untereinander ahnen lassen.
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Miteinander und Ineinander III (Kirsch)
Neujahr Schönes Licht als ich malte Versunken und spürte mich Nicht die Sonne ging Unter der Mond gleichzeitig Auf und sahen einander. Es fällt auf, daß die Zeilen ineinander verschränkt sind, sich gleichsam umarmen. Würden sie je für sich festgehalten, ergäbe sich teilweise Unsinn. Ich malte versunken und ich spürte mich nicht, – diese Auskünfte müssen erst aufgespürt werden, nicht »zwischen den Zeilen«, aber im Durchgang durch die Zeilen, im Zusammenklang der Zeilen. Die Abwesenheit von Satzzeichen hebt ebenso wie das Hinüberziehen der Zeilen ineinander, das Enjambement, die gewohnten Trennungen auf und ermöglicht dadurch neue Verknüpfungen der Gegenstände in sich und miteinander. Sonne und Mond kennen wir als die beiden gegensätzlichen Gestirne von Tag und Nacht (obgleich dieses Kennen, was den Mond anbelangt, eigentlich falsch ist, weil sein AmHimmel-sein keineswegs an die Nacht gebunden ist). Hier aber, im Auf- bzw. Untergang, sehen sie einander. Sie begegnen sich, sie sind eine kurze Zeit einander nah und gemeinsam da. Damit geben sie sich und auch ihre Gegensätzlichkeit nicht auf, aber diese wird zu etwas gemeinsam Ausgetragenem. Vielleicht gibt im übrigen auch der Titel des Gedichts einen Hinweis auf den Charakter der Verschränkung, auch wenn es da nicht um Sonne und Mond geht. »Neujahr« hat an sich mit dem Inhalt wenig zu tun. 1 Aber es ist der Tag der Für meine Erfahrung ist die Begegnung von Sonnenuntergang und Mondaufgang übrigens mit der Hitze der Saguaro-Wüste in Arizona verbunden und gerade nicht mit der kalten Zeit um Neujahr.
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Leben und Tod
Jahreswende, wenn ein Jahr zu Ende geht und eines neu beginnt, wenn auf der Schwelle zwischen beiden beides ist und nicht ist, nämlich das Eine noch ist und nicht mehr ist und das Andere noch nicht ist und schon ist. Sonne und Mond sehen sich in ihrem Gehen und Kommen – die Dichterin aber malt versunken in dem schönen Licht, so versunken, daß sie sich gar nicht spürt. Auch hier die Andeutung eines Gegensatzes, zwischen der malenden Frau und der Natur. Doch im Gegensatz zu den gewohnten Verhältnissen widerspricht jener Gegensatz gewissermaßen sich selbst: der Mensch ist seiner selbst nicht bewußt, die Gestirne aber sehen sich, nehmen sich wahr.
Leben und Tod Der härteste, scheinbar nicht vermittelbare Gegensatz, mit dem wir Sterblichen es zu tun haben, ist der Gegensatz von Leben und Tod. 1 Vermutlich gehört es zum menschlichen Dasein seit seinen Anfängen, daß es sich – als einzelner Mensch oder mit Hilfe von den Göttern näherstehenden Schamanen o. ä. oder vermittelt durch Weise – mit diesem zunächst als ziemlich eindeutig erscheinenden Faktum auseinandersetzt. 2 Gerade wegen der äußersten GegensätzlichDie Zusammenstellung einiger Auffassungen erfolgt hier ganz unsystematisch und eher zufällig. Das gilt zwar für die meisten der in diesem Buch zusammengestellten Stücke. Aber in Bezug auf den Tod mag die Betonung des Fragmentarischen der Gedanken noch besonders angezeigt sein. 2 Auch noch die propagierte Gleichgültigkeit dem Tod gegenüber ist eine Form ernsthafter Beschäftigung mit ihm. Epikur hat bekanntlich die Beschäftigung mit dem Tod überhaupt von sich gewiesen: »Mit dem Tod habe ich nichts zu schaffen. Bin ich, ist er nicht. Ist er, bin ich nicht.« 1
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Leben und Tod
keit besteht eine große Nähe und Zusammengehörigkeit zwischen Leben und Tod. Der Blickpunkt, von dem aus der Gegensatz betrachtet wird, ist naturgemäß das Leben. Die unterschiedlichen Auffassungen betreffen darum umgekehrt in erster Linie den Tod. Je nach kulturellem Hintergrund oder Umfeld wird er als Gegenstand äußerster Angst, als Erlösung und Befreiung, als schlechthinniges Ende 3, als Wendepunkt, als natürlicher Prozeß 4, als äußerste Möglichkeit oder umgekehrt als äußerste Unmöglichkeit begriffen – gefürchtet, herbeigesehnt, anerkannt und zugelassen. Die Überzeugung des Anaximander (und des Antiphon): »darein, woraus die Dinge entstehen, vergehen sie auch wieder, wie es bestimmt ist,« nimmt dem Tod, wenn wir seine Unausweichlichkeit der allgemeinen Vergänglichkeit zurechnen, in gewisser Weise die Schärfe. Doch kann eine solche Rücknahme in den Kreislauf des Ganzen auch, in zwar ähnlicher, konkreterer und vielleicht radikalerer Weise, anders, mehr auf das menschliche Selbstverständnis bezogen, verstanden werden. Das scheint etwa bei den Aymara in Bolivien der Fall zu sein: Das Wort für Tod bedeutet hier ›zur Erde zurückkehren‹. Das Sterben ist kein Verlöschen, sondern eine Heimkehr, eine Wiedervereinigung mit dem Ursprung, das Einfließen in den Urgrund und die Quelle des Lebens. 5 Es ist somit ein Durchgang, ein ruhig erwartetes Hinübergehen in Das Ende muß vielleicht nicht abrupt geschehen, es kann einen allmählichen Übergang ins Nichts geben. »Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt«, soll Brecht gesagt haben. 4 Heinrich Heine schreibt einmal: »Alles in der Welt endet durch Zufall und Ermüdung.« 5 Auch im Fernen Osten kann der Raum, aus dem heraus sich Leben ergibt, als der selbe Raum, in den es sich wieder entzieht, – das Nichts – gedacht werden: Weiße Chrysanthemen – ich erblicke den Ort, wo ich war vor meiner Geburt … (Onifusa) 3
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Leben und Tod
einen anderen Zustand, der nicht als etwas Schreckliches, zu Fürchtendes, sondern als Schönes und Friedliches gedacht wird, das Bestandteil des gelebten Lebens selbst ist. Wie es hier dann zugleich auch Anfang eines neuen Lebens ist, auch wenn das von dem »gelebten Leben« nicht mehr gewußt wird. Das Verhältnis von Leben und Tod erscheint als ein sich immerfort aus sich selbst gebärender Kreis, die unaufhörliche Spirale, die Schlange, die sich in sich selbst zurückwindet. Dementsprechend ist nichts nur für sich existent, alles ist miteinander verbunden. Der Tod ist selbst ein Verbindungsweg, eine Brücke, und Teil des großen Zusammenhangs. Beide, Leben und Tod, sind einander komplementär, spielen ineinander, halten sich die Waage. Im abendländischen – im griechischen wie im christlichen – Denken finden wir eine eigentümliche Verschränkung der beiden Entgegensetzungen »Leben und Tod« und »Geistiges (oder auch Seelisches) und Leibliches«. Im Leben ist der Geist an den Leib gebunden, der Tod bedeutet die Trennung beider. Da das Geistige hier unhinterfragt der bessere und erstrebenswerte Teil im Menschen ist, geht dessen Streben darauf, ihn auch schon im Leben so weit wie irgend möglich zu entwickeln und sich so in diesem Leben auf das, was erst im Tod erreicht wird, das jenseitige »Leben«, das »Leben nach dem Tod«, vorzubereiten. Die Philosophen, so sagt Platon, streben, indem sie nach der reinen, von aller Sinnlichkeit und Leiblichkeit freien Erkenntnis der Wahrheit streben, im Grunde nach dem Tod. »Der Philosoph muß schon im Leben sterben, lebend den Tod vorwegnehmen, […] Der Tod ist also kein Schlußpunkt, […] sondern ein besonderer Anfang, ein Ausgangspunkt, an dem die von der Last des Leibes befreite Seele leicht wie ein Schmetterling in einen ›edlen, reinen und unsichtbaren‹ Ort sich erhebt.« 6 Der Tod, die äußerste Mani6
Byung-Chul Han, Philosophie des Zen-Buddhismus, 98.
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Der Mond in der Fremde
festation der Endlichkeit des Menschen, die darum »Sterblichkeit« heißt, wird in radikaler Umkehr als der Eingang ins Unendliche, ins ewige Leben verstanden. Doch ließe sich der Tod nicht auch aus einem grundsätzlich anderen Ansatz heraus als der Ort sehen, an dem das Nichts, aus dem her sich unser Sein entfaltet und das uns in unserem Sein hält und trägt, wie durch einen kleinen Spalt hindurch sichtbar wird? In der Erfahrung des Todes – der Erfahrung des Todes anderer und der Auseinandersetzung mit dem uns bevorstehenden eigenen Tod – erreicht uns sozusagen ein Strahl des Nichts, das unsere Vergangenheit und unsere Zukunft und – gewußt oder nicht gewußt – der ständig präsente Hintergrund unserer Gegenwart ist, die daran ihre Spannung und Erstaunlichkeit und Geheimnishaftigkeit hat. Bei dieser Auffassung von Leben und Tod macht die radikale Trennung von Geistigkeit und Leiblichkeit keinen Sinn. Die Nichthaftigkeit des Lebens bedeutet eine gewisse Auflösung der Undurchdringlichkeit der Materie und damit des Leiblichen, wie sie ebenso eine gewisse Erdung und damit Verleiblichung des Seelischen und des Geistigen bedeutet.
Der Mond in der Fremde Eines Nachts in Montaretto weckte mich die Helligkeit des Mondes. Er schien hoch durch die Balkontür. Ein breites Lichtband lief draußen übers Meer herüber und setzte sich im Zimmer über den Fliesenboden fort bis zu meinem Gesicht. Fast vertikal lag der Mond am Himmel – die Mondbarke alter Mythen.
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Der Mond in der Fremde
Ein Haiku von Hôyû lautet: Das Boot des Mondes – 1000 Meilen groß sein geblähtes Segel! Unmittelbar kamen mir Zeilen aus einem Gedicht von Li Bai (besser bekannt als Li-tai-Pe) in der Übersetzung von Hans Bethge in den Sinn, die ich seit meinen Mädchentagen besonders liebe. Bethge gab ihm die Überschrift »In der Fremde«: In fremdem Lande lag ich. Weißen Glanz Malte der Mond vor meine Lagerstätte. Ich hob das Haupt – ich meinte erst, es sei Der Reif der Frühe, was ich schimmern sah, Dann aber wußte ich: der Mond, der Mond … Und neigte das Gesicht zur Erde hin, Und meine Heimat winkte mir von fern. (1920) Inzwischen fand ich diese Wort-für-Wort-Übersetzung: Bett vor hell Mond Glanz gleichwie sein Erde auf Reif heben Haupt aufblicken hell Mond senken Haupt denken alt Glanz In im Deutschen üblicher Wortfolge hört sich das etwa so an: Heller Mondglanz vor meinem Bett – Wie Reif auf der Erde –, Aufblickend seh ich den hellen Mondschein, Niederblickend denk ich an alten Glanz.
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Der Mond in der Fremde
Vor Jahren habe ich einmal, nachdem ich auf eine gegenüber der mir bekannten sehr unterschiedliche Version gestoßen war, verschiedene Übertragungen dieses Gedichts herausgesucht. Neuerdings haben Frank Becker 1 und Georg Patzer 2 eine größere Zahl zusammengestellt, die meisten scheinen Sekundärübersetzungen aus dem Englischen zu sein. Hier eine Auswahl: In stiller Nacht Vor meinem Bette heller Mondenglanz, Als überdeckte Reif den Boden ganz. Das Haupt erheb’ ich, seh’ zum hellen Mond, Senk’ es und denke meines Heimatlands. (Otto Hauser) Wanderer erwacht in der Herberge Ich erwache leicht geblendet, ungewohnt Eines fremden Lagers. Ist es Reif, der über Nacht den Boden weiß befiel? Hebe das Haupt – blick in den strahlenden Mond, Neige das Haupt – denk an mein Wanderziel … (Klabund) In der Herberge Vor meinem Lager weißer Schein – Deckt Frühreif so den Boden zu? Auf seh ich, seh in Mond hinein, Seh niederwärts – o Heimat du! (Hans Böhm)
Musenblätter: Nachtgedanken – Lesarten. Ein Gedicht von Li tai-pe in verschiedenen deutschen Übertragungen (14. 07. 07) 2 Literaturkritik, 2010. 1
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Der Mond in der Fremde
Nachtstille Mondlicht sah ich vor meinem Lager, Mich wundernd, obs nicht Reif am Boden sei. Ich hob mein Haupt, sah draußen den Bergmond; Ich senkt mein Haupt, gedenk meiner fernen Heimat. (Hans Schiebelhuth) Nachtgedanken Vor meinem Bett das Mondlicht ist so weiß, Daß ich vermeinte, es sei Reif gefallen. Das Haupt erhoben schau ich auf zum Monde, Das Haupt geneigt denk ich des Heimatdorfs. (Günter Eich) Nachsinnen in der stillen Nacht Vor der Schlafstatt leuchtet hell der Mond. Ich frage mich, ob Reif den Boden bedeckt. Das Haupt hebend – blicke ich in den strahlenden Mond. Das Haupt neigend – denke ich an meine Heimat. (Li Show Lai) Vor meinem Bette Vor meinem Bette Ich Mondschein seh, Als wär der Boden Bedeckt mit Schnee. Ich schau zum Mond auf, Der droben blinkt, Der Heimat denkend Das Haupt mir sinkt. (Alfred Forke)
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Der Mond in der Fremde
In der Herberge Vor meiner Bettstatt lag wie Reif so weiß Des Mondlichts mitternächtiges Geglänz, Ich hob das Haupt – der Mond schien voll und blank – Und ließ es wieder sinken, heimwehkrank. (Manfred Hausmann) Gedanken einer ruhigen Nacht Ein Bett. Mondschein davor wie weißer Sand; Ob nächtens Rauhreif hier den Zugang fand? Ich heb das Haupt, schaue den Mond – er glänzt – Senke das Haupt: o fernes Heimatland! (Max Geilinger) In der Herberge Vor meinem Ruhbett nichts als Mondenschein, Vor Rauhreif schimmernd. Morgen wird es schnein. Heb ich das Haupt, seh ich den vollen Mond, Senk ich das Haupt, fällt mir die Heimat ein. (Georg Schneider) In der Herberge Vor meinem Bett wirft der Mond einen grellen Schein. Ich wähne, es ist Frühreif, was am Boden glänzt. Hebe das Haupt – und schau den leuchtenden Mond, Senke das Haupt – und denk an mein Heimatland … (Hans Heilmann) Nachtgedanken Vor meinem Bett das Licht des Mondes, so weiß, als decke Reif den Boden. Ich hebe das Haupt und betrachte den Mond; Ich senke den Blick und denke der Heimat. (Renate Stolz) 178 https://doi.org/10.5771/9783495860489 .
Der Mond in der Fremde
Es ist verwunderlich, daß fast alle Übertragungen von der Heimat und von der Fremde sprechen; beide Konnotationen sind im Gedicht nicht unmittelbar vorhanden, wenn man den »alten Glanz« nicht als einen eindeutigen Hinweis auf eine ferne Heimat deuten will (was allerdings im Kontext der chinesischen Lyrik vielleicht möglich wäre). Das ursprüngliche Gedicht zeichnet in vier Zeilen ein Bild mit diesen vier aufeinander folgenden Momenten: Mondlicht fällt bis zum Bett des Dichters. Es sieht aus wie Reif. Der Dichter blickt auf und erkennt den Mond. Er senkt den Blick wieder und denkt an »alten Glanz«. In den ostasiatischen Traditionen gibt es eine große Zahl von Bildern, auf denen wir eine Mondbetrachtung 3 – insbesondere des Herbstmondes – sehen. 4 Im vorliegenden Gedicht allerdings gehört der Blick auf den Mond nicht zu einer mit Freunden und Wein verbrachten, mehr oder weniger meditativen Zeremonie, sondern das Mondlicht trifft ganz unvorbereitet auf den Liegenden bzw. seine Schlafstätte. Das weiße Strahlen sieht aus, als wäre Reif gefallen, erst dann wird dem Aufblickenden bewußt, daß es das Mondlicht ist, was da hell auf ihn fällt. Aber er versenkt sich nicht ins Schauen, vielmehr kehrt sich sein Blick um, er senkt sich gewissermaßen in sich selbst zurück und besinnt sich auf das, Tanizaki Jun’ichir beschreibt in seinem Buch Lob des Schattens (69), wie die heute noch vorherrschende Sitte der herbstlichen Mondschau im gegenwärtigen Japan zuweilen pervertiert wird. Im Ishiyama-Tempel wurden einmal für das Fest Lautsprecher installiert, aus denen Beethovens Mondscheinsonate zu hören war. Und hier wie an anderen traditionellen Orten der Mondschau waren festliche Beleuchtungen installiert – was dem Sinn der Zeremonie natürlich zuwiderläuft. 4 Es gab in China sogar eigene Mondbetrachtungsstühle sowie eigene Reiskuchen und eine eigene Suppe, die man bei dieser Gelegenheit zu sich nahm. Im übrigen kann einem beim Thema Mondbetrachtung auch Caspar David Friedrichs so ganz anderartiges »Zwei Männer in Betrachtung des Mondes« einfallen. 3
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Der Mond in der Fremde
was ihm in dem gegenwärtigen Schein als Vergangenes, zu Erinnerndes begegnet. Der Glanz des Mondes öffnet einen weiten Raum, in dem sich wie von selbst das Heben und Senken des Blicks ergibt, dessen Zwiefalt jene Offenheit noch verstärkt bzw. dieser erst ihre unbestimmte – fast traumhafte – Richtung gibt. Wie gesagt, ist der »alte Glanz« für die meisten Übersetzer die verlassene Heimat, die ganze Situation wird als eine Erfahrung »in der Fremde« verstanden. Im übrigen wird bemerkenswert viel hinzuerfunden – bis hin zu der Vermutung »Morgen wird es schnein«, (wohl weil es eines Reims auf »fiel ein« bedurfte). 5 Doch die Kernintuition, die uns Li-tai-pes Worte vermitteln, sagt lediglich: Nächtliches Mondlicht – Auf- und Niederblicken – Sich-eröffnen eines Horizontes alten Glanzes. Was ist mit diesem »alten Glanz«? »Und meine Heimat winkte mir von fern«. Wie die ferne Heimat nennt der alte Glanz eine seltsame, weither sprechende Zugehörigkeit, einen durch den Wink des Mondes aufgeschlossenen Raum der Ferne und Nähe zugleich, der bestimmten Unbestimmtheit, der anwesenden Abwesenheit oder abwesenden Anwesenheit. Obgleich ich das kleine Gedicht seit über sechzig Jahren kenne, ist mir jetzt – im Alter – erstmals der Gedanke aufgetaucht, es könnte mit dem alten Glanz und seiner Konnotation von Ferne in ganz behutsamer Andeutung an den Tod gedacht sein. 6 An einen Tod, der dem Wortlaut, wenn Eine Nachdichtung, die von einem vorliegenden Original vielleicht nur einen Anstoß aufnehmen möchte, hätte sicher alle Freiheiten. Aber hätten dann nicht wirklich eigene Gedichte entstehen müssen? Mir scheint das jedoch merkwürdigerweise nur für die Übertragung von Hans Bethge der Fall zu sein. 6 Seishu hat im Angesicht seines Todes dieses Gedicht geschrieben: Es hat aufgeklart. – Auf dem Lotus Die ewige Wahrheit des Vollmonds. 5
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Der Mond in der Fremde
auch nicht der Intention nach in dem alten Kirchenlied von Notker dem Stammler zur Sprache kommt: »Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen.« 7 Der weite Raum des Mondlichts – das Wasser rauscht. (Tei)
Oder den ich auch aus diesen, gewöhnlich Goethe zugesprochenen Troststrophen heraushöre:
7
Eines Morgens wachst Du nicht mehr auf. Die Vögel singen, wie sie gestern sangen. Nichts ändert diesen neuen Tagesablauf. Nur Du bist fortgegangen. Du bist nun frei und unsere Tränen wünschen Dir Glück. Mit der hier angesprochenen Freiheit könnte jene unbestimmte Offenheit angedeutet sein.
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Zitierte Literatur
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Zitierte Literatur
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Zitierte Literatur
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