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German Pages 559 [432] Year 1976
LÖHS/DÖRING
Im Mittelpunkt der Mensch Umweltgestaltung — Umweltschutz
Im Mittelpunkt der Mensch Umweltgestaltung — Umweltschutz
Herausgegeben von
Karlheinz Löhs und Sonnhild Döring
Mit 192 Abbildungen
und 27
Tabellen
AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1975
Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3 — 4 © Akademie-Verlag, Berlin, 1975 Lizenznummer: 202 • 100/518/75 P 249/74 Einband und Schutzumschlag: Erika Kerschner Gesamtherstellung: VEB Druckerei „Thomas Müntzer", 582 Bad Langensalza Bestellnummer: 761 913 4 (6159) • LSV 1305 Printed in GDR E V P : 27,—
Vorwort
Gegenwärtig wird weltweit eine „Umwelt-Diskussion" geführt, die in ihrer Vielfalt ein Spiegelbild der unterschiedlichen Interessen und Betrachtungsweisen, insbesondere aber ein Ausdruck der jeweiligen gesellschaftspolitischen Positionen ist, von denen aus an die Lösung der regionalen wie auch der globalen Umweltprobleme herangegangen wird. In den kapitalistischen Ländern hat diese Diskussion einen zunehmend negativen Akzent: Umweltverschmutzung, Umweltschäden, Umweltkrise . . . . Bei einer solchen Betrachtungsweise sind ganz ohne Zweifel ökonomische Interessen im Spiel. Man wälzt die Kosten für den Umweltschutz auf den Verbraucher ab, indem man ihm glaubhaft macht, daß wissenschaftlichtechnischer Fortschritt untrennbar mit steigender Umweltbelastung verbunden sei. Dieser pessimistischen Orientierung treten Wissenschaftler unserer Republik mit dem vorliegenden Buch entgegen. Aus der Sicht der sozialistischen Gesellschaft stellen Autoren unterschiedlichster Fachrichtungen die wichtigsten Probleme der Mensch-Umwelt-Beziehungen dar Und zeigen Wege zu ihrer Bewältigung bzw. ihrer künftigen Bearbeitung. Diese Publikation ist weder als Lehrbuch noch als umfassendes Kompendium einer „Umweltwissenschaft" gedacht. Das Buch entstand vorwiegendaus Einzelbeiträgen, die bereits in der Zeitschrift „Wissenschaft und Fortschritt" veröffentlicht und auf den neuesten Stand gebracht wurden. Der unterschiedliche fachliche Standort der Autoren bedingt — trotz aller Einmütigkeit im Grundanliegen — verständlicherweise auch eine unterschiedliche Auffassung des Begriffs „Umwelt". Die Verfasser, die Herausgeber und der Verlag hoffen jedoch, daß mit diesen Beiträgen das Anliegen des Umweltschutzes und der Landeskultur in unserer sozialistischen Gesellschaft deutlich wird, nämlich den Menschen als Bezugspunkt jeglicher Bemühungen um die Gestaltung der Umwelt zu sehen. Die bisher in der sozialistischen Staatengemeinschaft bereits erzielten Resultate bestätigen die Richtigkeit dieses Standpunktes. Den Wissenschaftlern der Klasse „Umweltschutz und Umweltgestaltung" der Akademie der Wissenschaften der DDR danken wir herzlich für die Beratung und Unterstützung.
Februar 1974 KARLHEINZ LÖHS
SONNHILD DÖRING
Inhaltsverzeichnis
MOTTEK, H A N S
Umweltschutz — ökonomisch betrachtet
1
KATZENSTEIN, ALFRED
Zwischenmenschliche Beziehungen
16
BACH, HEBBEBT
Mensch-Umwelt-Beziehungen aus der Sicht der Anthropologie
31
THIELE, HEINZ
Gestaltung der Arbeitsumwelt
45
QUAAS, M A X
Arbeitszeit — Freizeit — Erholung
56
SCHWANDT, ALFRED
Mensch und Wolinumwelt
74
LÖHS, KARLHEINZ; GIBEL, WOLFGANG; FISCHER, GEBHARD W .
Chemische Toxikologie und Umweltschutz
90
B E I N , HORST
Fremdstoffabbau im Organismus
112
ENGST, RUDOLF
Umweltbedingte Risikofaktoren in der Ernährung
130
HECHT, KARL
Zur Rolle der zentralnervalen Regulation in der Organismus-Umwelt-Beziehung 151 JÜNGHANS, RUDOLF; NITSCHKOFF, STEFAN
Einfluß des Lärms auf den Organismus — notwendige Schritte zur Lärmbekämpfung 174 LAUTERBACH, ROBERT
Mensch und geophysikalische Umwelt
187
STUBBE, H A N S
Evolution unter dem Einfluß des Menschen LEHMANN,
203
EDGAR
Kartographie im Dienst der Umweltforschung
218
NEEF, ERNST
Mehrfachnutzung des Bodens
233
SCHWABE, K U R T
Umweltschutz und Rohstoffprobleme
246
Inhaltsverzeichnis
VIII KUTZSCHBAUCH, K U R T
Abprodukte — Beseitigung, Ablagerung, Nutzung
258
WILINSKI, ERICH
Wasser im Blickwinkel der sozialistischen Umweltgestaltung
270
SCHÜTZLEE, A L B B E C H T
Schutz des Weltmeeres
287
SCHNURRBUSCH, G O T T F R I E D
Landwirtschaft und Landeskultur
302
THOMASIUS, H A R A L D ; P A U L , F B I T H J O F
Porstwirtschaft und Landeskultur
316
K I N D T , OTTO
Bergbaufolgelandschaften
335
STÖCKER, G E B H A R D
Beiträge der Ökologie zur Umweltforschung
353
BAUER, LUDWIG
Naturschutzgebiete und ihre Aufgaben
367
L Ö H S , K A R L H E I N Z ; R O L L E , WOLFGANG
Luftverschmutzung und Gesundheit
385
Gesetze und Verordnungen zur sozialistischen Landeskultur (Auswahl)
403
Autorenverzeichnis
410
Stichwortverzeichnis
413
Fotonachweis
'
422
Umweltschutz — ökonomisch betrachtet
HANS MOTTEK
J e mehr wir in der DDR und den anderen Ländern der sozialistischen Staatengemeinschaft die bewußte planmäßige Leitung der Produktion im Interesse der arbeitenden Menschen vervollkommnen, als desto notwendiger erweist es sich, solche die ganze Welt bewegende Prägen wie die der Umweltverschmutzung oder der Erschöpfung der Naturressourcen verstärkt zu berücksichtigen. Das ergibt sich aus dem Anliegen der sozialistischen Gesellschaft, die Produktion so zu lenken, daß sie maximal dazu beiträgt, die Lebensbedingungen der Werktätigen zu sichern und zu verbessern, ihre (gegenwärtigen und zukünftigen) Bedürfnisse zu befriedigen. Dies kann offensichtlich nicht geschehen, wenn wir nur diejenigen Wirkungen betrachten, derentwegen wir die unterschiedlichen Produktionsprozesse vor allem betreiben: die jeweiligen isolierbaren Produkte und deren normalen Gebrauch. Darauf hat schon F E I B D E I C H E N G E L S vor knapp hundert Jahren eindringlich hingewiesen, als er über das Verhältnis des Menschen zur ihn umgebenden Natur schrieb: „. . . der Mensch macht sie durch seine Änderungen seinen Zwecken dienstbar, beherrscht sie. . . . Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr mit unsern menschlichen Siegen über die Natur. . . . Jeder hat in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet, aber in zweiter und dritter Linie hat er ganz andre, unvorhergesehene Wirkungen, die nur zu oft jene ersten Folgen wieder aufheben." 1 ) E N G E L S forderte deshalb, die entfernteren natürlichen, aber auch gesellschaftlichen Folgen . . wenigstens unserer gewöhnlichsten Produktionshandlungen . . ." 2 ) zu erforschen und beherrschen zu lernen, und er erkannte, daß dazu ,,. . . eine vollständige Umwälzung unsrer bisherigen Produktionsweise und mit ihr unsrer jetzigen, gesamten gesellschaftlichen Ordnung . . ." 2 ) gehört. Wir haben mit dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse die grundlegende Voraussetzung geschaffen, die Forderung von E N G E L S ZU erfüllen. Es mag befremdend klingen, ist aber nicht zu bestreiten: Gestützt auf M A K X ' und E N G E L S ' Erkenntnisse haben wir heute in Theorie und Praxis hinsichtlich der Kenntnis und Beherrschung der gesellschaftlichen Folgen unserer Produktionstätigkeit mehr erreicht als in bezug auf deren Folgen in der Natur. Über die komplizierten Teilsysteme der natürlichen Umwelt, wie Atmosphäre, Hydrosphäre oder Ökosysteme, ihre Entwicklung, Wechselwirkung und ihre Reaktion auf die unterschiedlichen menschlichen Eingriffe, über die Rückwirkungen veränderter Umweltsysteme auf Gesundheit, F.: Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen, in: Dialektik der Natur, Berlin 1952, S. 190 a ) ebenda, S. 192 X
) ENGELS,
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H A N S MOTTEK
Arbeitsfähigkeit und Wohlbefinden des Menschen oder auch über die physikalischen, chemischen, geologischen und biologischen Voraussetzungen umweltfreundlicher Technologien wissen wir eine Menge, aber das reicht noch nicht einmal in allen wichtigen Fällen aus, bestimmte Risiken und Möglichkeiten zuverlässig abzuschätzen. Das ist natürlich kein Grund, pessimistisch zu sein. Wir wissen und können noch zu wenig, gemessen an der gesamten, ungeheuren Aufgabe. Im Sinne von E N G E L S geht es ja im Sozialismus nicht schlechthin um UmweltscÄwte, sondern letztlich um das bewußte Gestalten der Umwelt zum Wohl des Menschen. Es wäre jedoch illusionär, zu vergessen, daß wir erst am Anfang dieses Prozesses stehen, daß wir uns zunächst noch vorzugsweise darum zu bemühen haben, XJmweltschäden zu vermeiden und zu beseitigen. Nicht zufällig heißt ja auch das für Umweltfragen zuständige Staatsorgan der DDR „Ministerium für Umweltschutz . . .". Bei dem für die ökonomische Praxis so wichtigen Versuch, die ökonomisch-theoretischen Grundaspekte des Mensch-Umwelt-Verhältnisses zu verstehen, ist also von der Problematik der Umweltschäden auszugehen, aber zugleich stets an das weit umfassendere Anliegen der sozialistischen Gesellschaft zu denken, das unseren Bemühungen um den Umweltschutz — bei aller Ähnlichkeit in technischer Hinsicht — eine andere Qualität verleiht als denen in kapitalistischen Ländern: Wir bewerten Umweltschäden und unsere Maßnahmen dagegen stets nach ihrem Einfluß auf die gegenwärtigen und zukünftigen Lebensbedürfnisse der arbeitenden Menschen. Was ist „ökonomisch tragbar" ? Die Umweltverschmutzung — ein Hauptaspekt der Umweltschäden — scheint sich auf den ersten Blick recht unkompliziert ökonomisch bewerten zu lassen: Man braucht anscheinend nur von der Forderung auszugehen, keine Verschmutzungsprozesse zuzulassen und darüber hinaus die durch frühere Verschmutzung eingetretenen negativen Effekte zu beseitigen. Die ökonomische Problematik beginnt aber damit, daß diese Forderung — die auch in unserem Landeskulturgesetz weitgehend formuliert ist — keineswegs sofort verwirklicht werden kann. Ganz abgesehen von den Zeiträumen, die das Sanieren gestörter Umweltsysteme beansprucht — es ist nicht einmal möglich, mit einem Schlag die Neuemission von Schadstoffen überall zu verhindern. Das gilt nicht nur für die Produktion, sondern auch für die Konsumtion; man stelle sich nur einmal vor, was es für die Heizung ganzer Stadtgebiete mit sich brächte, wenn plötzlich „verboten" würde, die Luft mit Schwefeldioxid aus verbrannter Kohle anzureichern. Umweltschutzmaßnahmen müssen auch für sozialistische Länder ökonomisch tragbar sein. Was aber unter „ökonomisch tragbar" zu verstehen ist, bedarf einer Analyse. Prinzipieller Ausgangspunkt dafür ist im Sozialismus nicht ein Einzel-, sondern das Gesamtinteresse der Gesellschaft. Jede Maßnahme, jeder Aufwand ist für uns ökonomisch tragbar, wenn er die gegenwärtigen und die zukünftigen Lebensbedingungen (direkt Und vermittelt) mehr positiv als negativ beeinflußt. Auch Umweltschutzmaßnahmen sind nicht nur nach ihren unmittelbaren, sondern
Umweltschutz — ökonomisch
betrachtet
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ebenso nach ihren entfernteren Wirkungen zu beurteilen; und eine der wichtigsten „Nebenwirkungen" jedes Aufwandes für Umweltschutz ist es eben, daß er Mittel und gesellschaftliches Arbeitsvermögen kostet, die dann nicht für die erhöhte Befriedigung traditioneller Bedürfnisse verfügbar sind. Es ist und bleibt eine schwierige Frage für die sozialistische Gesellschaft, die Mittel für Umweltschutz auf der einen und für andere gesellschaftliche Zwecke — vor allem für den vergrößerten Verbrauch von Konsumgütern einschließlich der dafür erforderlichen Produktionsmittel — auf der anderen Seite so zu verteilen, daß die gegenwärtigen und die künftigen Bedürfnisse optimal befriedigt werden können. Erleichtert wird das Lösen dieser Frage, wenn es gelingt, diese miteinander konkurrierenden Bedürfnisse ökonomisch auf einen Nenner zu bringen — anders gesagt, wenn die verschiedenen Aspekte des Umweltschutzes auf das ökonomische Kategoriensystem abgebildet werden. Umweltschäden und ökonomische Kategorien Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, daß wir wichtige Wirkungen der Produktion — negative in Gestalt der Umweltschäden, aber auch verschiedene positive — in der ökonomischen Theorie und Praxis bisher nicht voll erfaßt haben. Solche Wirkungen können direkten oder indirekten Einfluß auf die Lebensbedingungen haben (Abb. 1). Lärm, hoher Schadstoffgehalt der Luft, beeinträchtigte Badegelegenheiten oder zerstörte Landschaftsschönheit wirken sich direkt als verschlechterte Lebensbedingungen aus. Diese Wirkungen kommen denen gleich, die das Fehlen (oder mangelhafte Arbeiten) von Gesundheits- oder kulturellen Einrichtungen hätte: Sie entsprechen einer Beeinträchtigung der gesellschaftlichen Konsumtion. Wer also Umweltschäden verursacht, tut im Prinzip das Gleiche, als wenn er die Konsumgüterproduktion — dem Gebrauchswert nach — einschränkte. Die direkte Wirkung von Umweltschäden auf die Lebensbedingungen könnte man deshalb als „negative gesellschaftliche Konsumtion", ihr Verursachen als eine „negative Konsumgüterproduktion" auffassen. Allerdings sind bei der eigentlichen Konsumgüterproduktion Einflüsse des Außenhandels, der Vorratspolitik, des Transports und des Handels zu berücksichtigen. Umweltschäden andererseits wirken meist nicht sofort, sondern erst nach einer gewissen Zeit, in der sie sich bis über charakteristische Schwellenwerte addiert haben; und wenn sie fühlbar werden, lassen sie sich oft nicht mit der gleichen Sicherheit auf die Ursachen zurückführen, wie das beim Zusammenhang zwischen der eigentlichen Konsumgüterproduktion und den Lebensbedingungen möglich ist. Deshalb läuft der Ausdruck „negative Konsumgüterproduktion" nicht auf ein einfaches Umkehren des Vorzeichens hinaus. Einen indirekten Einfluß üben Umweltschäden auf die Lebensbedingungen aus, indem sie die Produktion beeinträchtigen. Verschmutztes Wasser erfordert aufwendige Produktionsschritte Und senkt so die Effektivität der Produktion; die Kontamination landwirtschaftlicher Produkte mit Schadstoffen mindert ihre Qualität. Beides läuft ökonomisch auf eine
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HANS MOTTEK
(wiederum vom Gebrauchswert her gefaßte) Verringerung der Produktion hinaus — im Unterschied zum direkten Einfluß auf die Lebensbedingungen jedoch nicht nur der Produktion von Konsumgütern, sondern auch der von Produktionsmitteln. Aber nicht nur die aktuelle Produktion, sondern auch die potentielle wird durch Umweltschäden beeinträchtigt: durch Schädigung der Produktivkräfte.
Abb. 1 Wirkungszusammenhänge zwischen umweltrelevanten Schadfaktoren und Bedürfnisbefriedigung
5
Umweltschutz — ökonomisch betrachtet
Die wichtigste Produktivkraft ist der Mensch. Einwirkungen des Umweltzustandes auf die Produktivkraft Mensch sind zunächst natürlich identisch mit dem direkten Einfluß auf die Lebensbedingungen — aber die ökonomische Analyse weist uns hier auf einen Folgeeffekt: Die Konsumgüterproduktion wirkt ja nicht nur direkt auf die Lebensbedingungen, sondern zusätzlich indirekt (und zeitlich verzögert), indem sie die Reproduktion der menschlichen Arbeitskraft sichert. Bessere, gesündere, schönere Wohnung, Kleidung, Ernährung, wirksamere Medikamente usw. begünstigen — Unter gewissen Voraussetzungen — ein Steigern der Produktion; Umweltschäden können die Arbeitsfähigkeit und damit die Produktion beeinträchtigen.
+ höhere Konsumgüterproduktion
—
Verschmutzen der Umwelt
•
•
4-
umfangreichere Konsumtion
erhöht die menschliche
mindert Produktivkraft
—
unmittelbare Beem trächtigung der L ebensbedingungen
macht Stimuli
materielle wirksamer
L.
erhöht die
mindert Arbeitsproduktivität
1 L
1 1 1 1 1
Abb. 2 Eine höhere Konsumtion beeinflußt auf zwei Wegen die Arbeitsproduktivität; ihr negatives Gegenstück — die Beeinträchtigung der Lebensbedingungen durch Verschmutzen der Umwelt — hingegen nur auf einem
Ein weiterer Folgeeffekt ist problematisch. Unter bestimmten Bedingungen ist ein gewisser Stand oder auch ein Zuwachs der Konsumtion erforderlich, damit die materiellen Stimuli (Lohn, Prämie . . .) produktivitätserhöhend wirken können. Dieses Kausalverhältnis ist in der Abbildung 2 schematisch dargestellt. Da aber solche Stimuli im wesentlichen nur die individuelle Konsumtion beeinflussen, wirkt dieses Kausalverhältnis nicht (oder nur stark abgeschwächt) über die gesellschaftliche Konsumtion. Die unmittelbare Schädigung von Menschen durch
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H A N S MOTTEK
Umweltveränderungen kann — wie wir sahen — als eine Art negative gellschaftliche Konsumtion angesehen werden; deshalb verwundert es nicht, wenn dieser ' indirekte Einfluß — das partielle Aufheben der Wirksamkeit materieller Stimuli — zwar bei der eigentlichen Konsumgüterproduktion, kaum jedoch bei deren negativem Gegenstück — dem Verschmutzen der Umwelt — zu beobachten ist. Beim Verteilen der Mittel kann das durchaus praktisch wirksam werden. Auch die materiell-technischen Produktivkräfte — technische Arbeitsmittel, Maschinen, Apparaturen, zur Produktion benutzte Gebäude — büßen in einer verschmutzten Umwelt einen Teil ihrer Produktionsfähigkeit ein, wenn auch vielleicht nicht so empfindlich wie der Mensch. Bekannt ist z. B. der Einfluß der Luftverschmutzung auf die Korrosion 1 ). Soweit Korrosion an materiell-technischen Produktivkräften von industriellen Abprodukten herrührt, handelt es sich um eine negative Einwirkung der Produktion auf die Produktion — vergleichbar dem Verschleiß. Der Unterschied liegt allerdings darin, daß die betroffenen Betriebe den normalen Abnutzungseffekt selbst hervorrufen, die umweltbedingte Korrosion hingegen nicht unbedingt. Neben den materiell-technischen sind die sogenannten natürlichen Produktivkräfte von wachsendem Interesse. Inwieweit natürliche Systeme als Produktivkräfte anzusehen sind, ist noch nicht völlig geklärt. Diese Frage wird aber besonders aktuell, hat doch die Inanspruchnahme natürlicher Systeme zu Produktionszwecken vielerorts ein solches Ausmaß erreicht, daß deren Fähigkeit ernsthaft gefährdet wird, bestimmte Naturstoffe als Roh- und Hilfsstoffe für die Produktion zur Verfügung zu stellen (natürliche Ressourcen): Geschädigte Wälder produzieren weniger Sauerstoff; an wichtigen Standorten genügt das Wasserdargebot nicht mehr den Erfordernissen der Produktion usw. All das wirkt sich nicht nur auf die Produktion, sondern auch unmittelbar auf den Menschen aus. Die Fähigkeit natürlicher Systeme der Biosphäre zu für uns interessanten Leistungen (Dargebot von Energie, Stoffen, nutzbaren Lebewesen, Erholungswert usw.) nennt man die sich selbst regenerierenden Ressourcen. Jedoch abgesehen davon, daß jede derartige Selbstregeneration objektive, wenn auch nicht ein für allemal festliegende Grenzen hat, sollte sich auch in ökonomischer Hinsicht niemand durch den Begriff „Selbstregeneration" in die Irre führen lassen: Die Leistungsfähigkeit von Ökosystemen zu erhalten, erfordert Arbeit, gesellschaftlichen Aufwand! Es geht allerdings nicht nur darum, die Leistungsfähigkeit von Ökosystemen zu erhalten; seit den ältesten Zeiten arbeitet der Mensch daran, sie zu steigern ( = Kultivierung). Der Übergang zu Ackerbau und Viehzucht, später der zur Forstwirtschaft, waren Schritte in dieser Richtung. Heute wird viel getan, das Naturdargebot an Fischen wesentlich zu vergrößern 2 ). Man kann aber nicht ein Ökosystem für sich allein kultivieren: Die optimale Beeinflussung eines Teilsystems 1
) vgl. REINHARD, G.; FISCHER, M.: Korrosion der Eisenmetalle und Korrosionsschutz, Wiss. u. Fortschr. 23 (1973) 3, S. 105 2 ) vgl. FALK, K.: Bewirtschaftung der Küstengewässer, Wiss. u. Fortschr. 20 (1970) 10, S. 464; RITZHAUPT, H.: Wissenschaft und Praxis der Hochseefischerei, Wiss. u. Fortschr. 21 (1971)
1,S. 9
Umweltschutz
— ökonomisch
betrachtet
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ist auf die Dauer nicht möglich, wenn sie auf Kosten „benachbarter" Teilsysteme geht; das Kultivieren eines Teilsystems zieht unvermeidlich die Tendenz zum Kultivieren auch anderer Teilsysteme nach sich. So beeinflußt menschliche Arbeit immer mehr die bisher wenig berührten Naturbedingungen und macht sie zu Produktivkräften. Neben den materiell-technischen Produktivkräften werden so die „natürlichen" Produktivkräfte zu immer beachtlicheren ökonomischen Größen. Das Vergrößern oder Vermindern der Leistungsfähigkeit natürlicher Produktivkräfte ist dem Vergrößern oder Vermindern der Produktionskapazität materiell-technischer Produktionssysteme — etwa Fabriken — gleichzusetzen. Ganz anders als bei den Systemen der Biosphäre liegt das Problem bei den lithosphärischen Systemen, aus denen wir Erze, Kohle, Mineralien usw. gewinnen. Hier kann von einem Selbstregenerieren überhaupt nicht gesprochen werden. Gewiß erschließt uns der wissenschaftlich-technische Fortschritt immer neue Vorkommen und macht überdies bisher nicht genutzte Naturstoffe zu Rohstoffen; aber die neuen Vorkommen sind meist ungünstiger gelagert und erfordern einen höheren Aufwand zum Fördern und Aufbereiten. Der Ausweg besteht darin, die benutzten Stoffe zurückzugewinnen und zu Systemen des geschlossenen Stoffkreislaufs zu kommen. Es darf dabei aber nicht vergessen werden, daß ein solcher geschlossener Kreislauf auf jeden Fall mehr Energie erfordert als das bisher übliche Ausbeuten der Lager, in denen die Rohstoffe relativ konzentriert vorliegen. Und sowohl darüber, wie solche geschlossenen Kreisläufe aufzubauen sind, als auch über die dafür erforderlichen Energiequellen mangelt es uns bis heute an hinreichend exaktem und detailliertem naturwissenschaftlichem und technologischem Wissen, das wir brauchen, um all die im Prinzip sichtbaren Möglichkeiten bei tragbarem ökonomischem Aufwand verwirklichen zu können. Der Zeithorizont Bei den „natürlichen" Produktivkräften zeigt sich besonders deutlich ein Aspekt, der prinzipiell allen Umweltproblemen eigen ist: die Tatsache, daß sich die ferneren Wirkungen unseres Handelns erst eine gewisse Zeit später zeigen. Dem Ökonomen ist diese Erscheinung — der sog. Zeithorizont — bekannt, sie kommt z. B. beim Zusammenhang zwischen Investitionen und Akkumulationen einerseits und der Konsumtion andererseits vor oder auch in der Beziehung zwischen Abteilung I (Produktion von Produktionsmitteln) und Abteilung I I (Produktion von Konsumtionsmitteln). Es ist auch für eine sozialistische Gesellschaft nicht einfach, gegenwärtige und zukünftige Bedürfnisse gegeneinander abzuwägen und in ein optimales Verhältnis zu bringen. Berücksichtigt man darüber hinaus, daß Umweltschäden — zumindest in besonders belasteten Gebieten — heute schon die Lebensbedingungen vieler Menschen stark beeinträchtigen, so wird verständlich, warum es so schwierig ist, Umweltschäden Und Maßnahmen zur Umweltgestaltung ökonomisch richtig zu bewerten und in den Gesamtprozeß der bewußten Leitung der Produktion einzubeziehen. Sicherlich ist diese Frage ein Teil jenes komplizierten Grundproblems
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HANS MOTTEK
der sozialistischen Gesellschaft, das darin besteht, entsprechend dem Ziel — die Lebensbedingungen der Werktätigen maximal zu sichern und zu verbessern — die gesellschaftliche Gesamtarbeit in den richtigen Proportionen zu verteilen.
Kriterium: Nationaleinkommen ? Dieses Gründproblem erfordert, aus der allgemeinen Zielsetzung exakte ökonomische Kriterien für die Entscheidungen der sozialistischen Wirtschaftspraxis abzuleiten. Die Quanta der Bedürfnisbefriedigung sind — selbst wenn man gegenwärtige und zukünftige Bedürfnisse auf einen Nenner bringen kann — zwar vergleichbar, aber nicht im selben Sinn meßbar wie z. B. die Produktion von Stahl oder Elektroenergie. Deshalb verwendet die ökonomische Praxis als hauptsächlichen Maßstab für die Leistung der Volkswirtschaft das Nationaleinkommen — das Gesamtprodukt der Volkswirtschaft nach Abzug der in der Produktion verbrauchten Produkte (Rohstoffe, Halbfabrikate) sowie der zum Ersatz abgenutzter Fonds erforderlichen Mittel. Die Kennziffer „Nationaleinkommen" dient nicht nur dazu, die ökonomische Praxis zu orientieren und das volkswirtschaftliche Gesamtergebnis zu bewerten; von ihm gehen auch viele theoretische Untersuchungen — z. B. über den Nutzeffekt von Investitionen — aus. I n dem Maß, wie Datenverarbeitungsanlagen und mathematische Optimierungsmethoden in den Dienst der Planung und Leitung gestellt wurden, nahm die Bedeutung eines solchen Maßstabes zu, indem das Nationaleinkommen zum Optimalitätskriterium, zur zu optimierenden Zielfunktion wurde. 1 ) Es hat in der wissenschaftlichen Diskussion in der D D R und in anderen sozialistischen Ländern nicht an Einwänden gegen diese bestimmende Rolle des Nationaleinkommens gefehlt. Die Einwände ergeben sich im Grunde daraus, daß die Optimierung vor allem vom Geldausdruck des Nationaleinkommens ausgeht, der als die Summe der Werte, nicht aber der Gebrauchswerte gilt. Betrachtet man die Struktur des Nationaleinkommens und seine Verwendung zu einem bestimmten Zeitpunkt (genauer: in einem relativ eng begrenzten Zeitraum), so ist das Verhältnis der Werte der einzelnen Teile — z. B. von Akkumulation und Konsumtion — von nicht geringem Interesse. Über längere Zeit hinweg dagegen — z. B. beim langfristigen Optimieren der Entwicklung des Nationaleinkommens — ist hingegen der Wertaspekt nicht ausschlaggebend. In der DDR z. B. ändert sich bis zum Ende unseres Jahrhunderts der gesamte gesellschaftliche Arbeitsaufwand nur wenig. Wir müssen bekanntlich für viele Jahre mit etwa konstanter Arbeitskräftezahl rechnen, und eine Zunahme des neuzuschaffenden Gesamtprodukts müssen wir fast ausschließlich durch höhere Arbeitsproduktivität erreichen. Steigende Arbeitsproduktivität bedeutet aber Sinken des Werts pro Produkteinheit; insgesamt gesehen wird bei uns eine wachsende Produktenmenge stets etwa den gleichen Gesamtwert repräsentieren. Wenn wir also von stetigem Wachsen 1
) zur Optimierung der Volkswirtschaft vgl. z. B.: Mathematik und Kybernetik in der Ökonomie, Berlin 1973, S. 241, 271 ff.
Umweltschutz — ökonomisch betrachtet
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des Nationaleinkommens sprechen, meinen wir keineswegs ein Erhöhen der Summe aller hergestellten Gebrauchswerte. Da wir aber nun einmal mit Wertgrößen rechnen müssen, wenden wir einen „Trick" an: Wir gehen von unveränderlichen Preisen, bezogen auf ein sog. Basisjahr, aus. Damit können wir beim Berechnen des Gesamtprodukts zwar nicht den wirklichen Wert berücksichtigen, wohl aber den Wert, den das Gesamtprodukt des Rechnungsjahrs gehabt hätte, wäre es unter den Bedingungen des Basisjahrs produziert worden. Man geht also von dem Arbeitsaufwand aus, der notwendig gewesen wäre, das gegenwärtige Gesamtprodukt mit der früheren Arbeitsproduktivität zu erzeugen. So wird mittels eines Wertausdrucks erfaßt, wie die Summe der Gebrauchswerte gesteigert, wie Bedürfnisse befriedigt und die Befriedigung zukünftiger Bedürfnisse gesichert wurden. So gesehen kann es nicht verwundern, daß marxistische Wirtschaftswissenschaftler das Hauptkriteriüm „Nationaleinkommen" und die Methoden, es zu berechnen, kritisieren. So wichtige Faktoren wie das Produktionssortiment und die Qualität der erzeugten Güter lassen sich darin ebensowenig widerspiegeln wie auch der Umweltzustand. Vergleichen wir noch einmal die Folgen negativer Umweltveränderungen für die Produktion mit der normalen Abnutzung des Produktionsapparats. Die Abnutzung wird — zumeist in Gestalt des dafür benötigten Ersatzprodukts — vom Gesamtprodukt des Rechnungsjahrs abgezogen, wirkt sich also nicht erst auf das zukünftige, sondern schon auf das gegenwärtige Nationaleinkommen aus. Die „Abnutzung" der Naturressourcen hingegen spiegelt sich im Nationaleinkommen nur hinterher und sehr indirekt wider, z. B. indem wir höheren Aufwand zum Gewinnen der gleichen Menge Braunkohle oder größere Ausgaben für die Wasserwirtschaft einplanen müssen. Da aber die natürlichen Ressourcen bei uns ebenso Volkseigentum sind wie die technischen Produktivkräfte, haben wir die Möglichkeit und die Pflicht, beide gleichermaßen optimal zum Wohle des Volkes zu nutzen, so daß die Erwägung naheliegt, ob man nicht auch in der Volkswirtschaftsplanung beider einfache — möglichst auch erweiterte — Reproduktion auf die prinzipiell gleiche Weise in Rechnung stellen sollte. Dazu genügte es jedoch nicht, wollten wir etwa nur den Verschleiß natürlicher Ressourcen erfassen und ökonomisch bewerten. Im Prinzip unterschieden wir uns damit wenig von bürgerlichen Weltuntergangspropheten, und in praxi würde der Blick auf zukünftige Bedürfnisse zu stark das gegenwärtige Nationaleinkommen belasten. Immerhin produzieren wir ja nicht nur negative Umweltveränderungen, sondern zugleich auch wachsendes Wissen über Wege, neue Ressourcen zu erschließen und an die Stelle alter, verbrauchter zu setzen — also einen Vorlauf für zukünftige Bedürfnisbefriedigung. Zumindest der Zuwachs an solchem anwendungsfähigem, operablem Wissen müßte ebenso mit bewertet werden wie der Verschleiß natürlicher Ressourcen. Analog zu den Folgen von Umweltveränderungen für die Produktion könnte man auch ihre unmittelbaren Konsequenzen für die Lebensbedingungen behandeln: Neben den direkten positiven Wirkungen der Produktion auf die Lebensbedingungen in Gestalt des wachsenden Angebots traditioneller Güter wären negative Wirkungen durch Umweltverschmutzung usw. zu berücksichtigen, indem man eine 2 Uxnweltgestaltung
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H A N S MOTTEK.
entsprechende Summe vom Gesamtprodukt oder zumindest vom Nationaleinkommen abzuziehen hätte. Auch hier wäre neben der negativen eine positive Seite zu bewerten: der Effekt planmäßiger Umweltgestaltung, soweit er nicht als isolierbare Produkte in Warenform vorliegt und deshalb bisher ökonomisch nicht berücksichtigt werden kann. Das gilt z. B. für die Sanierung geschädigter Ökosysteme, wie Flüsse und Seen, oder auch für die Forstwirtschaft: Die Erholungsleistungen des Waldes sind ja nicht etwa deshalb weniger wichtig als die Holzproduktion, weil sie nicht unmittelbar in Mark ausgedrückt werden können. Wie das einmal geschehen könnte, ist noch nicht geklärt. Auch andere schwierige Probleme sind zu lösen, bevor es praktisch möglich wird, Umweltschäden und Umweltverbesserungen im Nationaleinkommen abzurechnen. Wenn wir z. B. die Erholungsleistungen der Forstwirtschaft als Teil des Gesamtproduktes betrachten wollen, dann müßten wir das wohl auch bei den Leistungen von Schwimmbädern, Krankenhäusern usw. tun, die aber in den Bereich der gesellschaftlichen Konsumtion gehören. Und deren Einrichtungen unterscheiden sich wesentlich von denen der Konsumgüterproduktion, obwohl die Effekte ihrer Tätigkeiten für die Bevölkerung einander entsprechen. Der Betrieb einer Strumpffabrik z. B. bringt ebenso einen Beitrag zum gesellschaftlichen Gesamtprodukt wie ihr Bau: Strümpfe wie Strumpffabrik sind Produkte in Warenform, können bewertet und verkauft werden. Beim Schwimmbad oder dem Krankenhaus hingegen sind zwar die Anlagen in gleicher Weise bewertbar, nicht jedoch die Leistungen. Ihr Bau spiegelt sich im Gesamtprodukt wider, nicht aber ihr Betrieb. Das mag befremdlich erscheinen, hat aber eine objektive Grundlage, denn auch in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft spielen solche ökonomischen Kategorien wie die sozialistische Warenproduktion, die Finanzen, die wirtschaftliche Rechnungsführung eine wichtige Rolle bei der Leitung der sozialistischen Produktion. Derartige Fragen werden von Wirtschaftswissenschaftlern auch in der DDR untersucht; Lösungen, die sich bereits in naher Zukunft praktisch anwenden ließen, wurden jedoch noch nicht gefunden. Berücksichtigen wir, daß volkswirtschaftliche Entscheidungen unser aller Interessen berühren, so ist verständlich, daß man mit dem Einführen neuer Kennziffern warten muß, bis die Grundfragen geklärt sind. Wollten wir plötzlich die Kennziffer „Nationaleinkommen" nach ganz anderen Methoden berechnen, so erhielten wir im Grunde eine neue Kennziffer, die zwar den gleichen Namen trüge, aber mit der alten zumindest nicht voll vergleichbar wäre. Das könnte zu falschen praktischen Schlußfolgerungen führen. Deshalb ist es wohl zweckmäßiger — wie sowjetische Ökonomen vorschlugen — zumindest als Zwischenstadium neben das Nationaleinkommen ein zusätzliches Bewertungskriterium für volkswirtschaftliche Entscheidungen zu stellen: die Umweltqualität. In dieser Kennziffer könnten die Veränderungen der für die Lebensbedingungen der Menschen unmittelbar und mittelbar wirksamen Eigenschaften des Umweltzustandes eingeschätzt und zusammengefaßt werden. Natürlich enthebt uns dieser Vorschlag nicht der Notwendigkeit, die oben skizzierten Probleme zu lösen; denn bevor wir eine für die Entscheidungspraxis handhabbare Kennziffer „Umweltqualität" (oder zumindest eine geeignete Kombination
Umweltschutz — ökonomisch betrachtet
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verschiedener ausgewählter Umweltkennziffern) haben werden, sind noch viele ökonomische, biologische und technische Zusammenhänge zu erforschen. Umweltschutz und Betriebsergebnis Vorausgesetzt, es sei das Kriterium gefunden, nach dem man optimale Proportionen zwischen dem Aufwand für Umweltschutz und -gestaltung und dem für andere gesellschaftliche Bedürfnisse herstellen könnte, so bleibt doch noch die Frage offen, in welcher Form die für den Umweltschutz wirksamen Entscheidungen getroffen und die Einheiten der sozialistischen Produktion — Betriebe, Kombinate, Genossenschaften — an richtigen Entscheidungen interessiert werden sollen. In der bisherigen Praxis spielt der Erlaß gesetzlicher Bestimmungen, die etwa eine Emission von Schadstoffen über bestimmte Grenzwerte hinaus verbieten, die entscheidende Rolle. Diese Form wird auch in Zukunft ihre Bedeutung behalten. Solange das Nationaleinkommen das hauptsächliche operable gesamtvolkswirtschaftliche Optimalitätskriterium bleibt und in diesem Kriterium weder Umweltschäden noch positive Leistungen zur Umweltgestaltung voll berücksichtigt werden, sind solche gesetzlichen Bestimmungen ein Teil jener sog. Restriktionen — in der Sprache der Optimierung —, ohne die eine Ziel vorgäbe in der Luft hängt. Bei dieser Form ist es aber nicht möglich, Leistungen zu bewerten, die über das Erfüllen der gesetzlich vorgeschriebenen Minimalforderungen hinausgehen. Außerdem haben solche Vorschriften den Charakter von außen an die Betriebe herangetragener Verbote ; sie müssen ergänzt werden durch positive, mobilisierende Zielsetzungen. Schon heute werden Investitionen für den Umweltschutz und andere umfassende Umweltschutzmaßnahmen in der DDR, der UdSSR und anderen sozialistischen Länder in den Volkswirtschaftsplan aufgenommen. Sowjetische Ökonomen haben jedoch zu Recht darauf hingewiesen, daß dies nicht die einzige Form bleiben kann, in der der Umweltschutz volkswirtschaftlich geplant wird. In bezug auf traditionelle Konsumgüter plant man ja auch nicht nur die Investitionen, sondern ebenfalls deren Wirkung (z. B. nicht nur den Bau einer Strumpffabrik, sondern auch den Produktionszuwachs an Strümpfen). Analog wäre neben den Umweltschutzmaßnahmen unmittelbar die Entwicklung des Umweltzustandes in die Planung einzubeziehen. Dafür eben müßten Kennziffern der Umwelt qualität geschaffen werden. Es reicht nicht aus, im Volkswirtschaftsplan einen Planteil „Umweltschutz" zu haben, selbst wenn außer den Investitionen darin auch die Entwicklung des Umweltzustandes geplant würde. Es kommt darauf an, alle sozialistischen Betriebe und Kombinate zu einem umweltgerechten Verhalten zu veranlassen, und zwar nicht nur durch allgemeine gesetzliche Bestimmungen und Plandirektiven, sondern auch durch ein unmittelbares materielles Interesse an derartigen Leistungen, etwa durch geeignete ökonomische Hebel. Dazu müßte z. B. geklärt werden, wann man einschlägiges Verhalten der Betriebe negativ und wann man es positiv bewerten sollte: Man kann Betriebe vor allem für Umweltschäden, die sie verursachen, mit.einem Teil ihres Betriebsergebnisses haftbar machen; man kann aber auch vorzugsweise das Vermeiden bzw. die Beseiti2*
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HANS MOTTEK
gung derartiger Schäden als positive Leistung bewerten. Entscheidet man sich für die zweite Variante, so wäre etwa das Inganghalten einer Umweltschutzanlage als eine Art zusätzlicher Produktion zu bewerten. Einer Investition entspräche dann das Sanieren eines geschädigten Umweltsystems und darüber hinaus jede langfristige Verbesserung der Umweltqualität. Solche positiven Umweltleistungen müßte dann der sozialistische Staat den Betrieben vergüten. Auch hierzu sind noch umfangreiche Forschungen erforderlich; deren Dringlichkeit wird immer mehr anerkannt. Jedoch muß man sich in diesem Zusammenhang vor Illusionen hüten. Auch der beste ökonomische Hebel wirkt nicht allein und automatisch. Das lehrt unsere ganze langjährige Praxis der wirtschaftlichen Rechnungsführung. Niemals werden wir uns auf den Selbstlauf eines sozialistischen Marktes verlassen, stets die Rolle der zentralen Volkswirtschaftsplanung betonen. Zentrale Planung und eigenverantwortliches Wirtschaften der Betriebe — stimuliert durch geeignete Hebel — in ihrer Einheit erlauben uns, alle unsere ökonomischen Probleme zu lösen, darunter auch das des Umweltschutzes. Umweltbewußtsein — auf sozialistische Weise Es liegt in der Natur der sozialistischen Produktionsverhältnisse, daß sie bewußtes, planmäßiges Handeln der Volksmassen — erst recht natürlich der Leiter — verlangen. Ökonomische Maßnahmen müssen durch moralische Stimuli ergänzt werden, sollen sie auf die Dauer richtig wirken. Die Notwendigkeit von Umweltschutz und Umweltgestaltung verstärkt die Bedeutung moralischer Stimuli: Sie erfordert eine veränderte Einstellung zur Natur; sie zwingt dazu, natürliche Ressourcen weder in der Produktion noch im privaten Leben für unerschöpflich zu halten, sondern sorgsam alle Wirkungen menschlichen Tuns auf die Natur zu beachten. Umweltschutz durchsetzen, heißt Bedürfnisse umzubewerten. Es treten Bedürfnisse in den Vordergrund, deren man sich bisher nicht oder doch nicht im erforderlichen Umfang bewußt war. Insbesondere werden zukünftige Bedürfnisse gleichrangig neben aktuelle gestellt. Sich umweltbewußt zu verhalten, heißt somit, sich der eignen Verantwortung für kommende Generationen bewußt zu werden, ihnen die Erde in einem würdigen Zustand zu hinterlassen, wie K A K L M A B X forderte. Diese Verantwortung gehört unmittelbar zu dem sozialistischen Bewußtsein, von dem immer mehr Bürger unserers Landes durchdrungen sind. Im Kapitalismus unlösbar Bei der Vielfalt, Kompliziertheit und Stärke der auf die natürliche Umwelt und in ihr wirkenden Faktoren ist es offensichtlich notwendig, die darauf gerichteten Einwirkungen bewußt zu steuern, keine Anarchie zuzulassen und dabei von dem Ziel auszugehen, die menschlichen Lebensbedingungen zu erhalten und zu verbessern. Eine Gesellschaft, die dazu keine Möglichkeit hat, kann nicht den Um-
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weltschutz im notwendigen Umfang gewährleisten oder gar die Umwelt optimal gestalten, mag man in ihr noch so laut die Werbetrommel für „Umweltbewußtsein", „Umweltfreundlichkeit" usw. rühren. Es war und ist der Kapitalismus, der die Technologie bisher stets ohne Rücksicht auf die Umwelt entwickelt hat und keinerlei natürliche Ressourcen schont, wenn ihm Profit winkt. Ein Kapitalist, der nicht nach Maximalprofiten strebt, sondern menschliche Bedürfnisse optimal zu befriedigen versuchen wollte, wäre zum Untergang verurteilt, weil er den Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Warenproduktion zuwiderhandeln würde. I n der J a g d nach Maximalprofit aber kann jeder Kapitalist nur die Kosten minimieren, die seinen eignen Betrieben unmittelbar in Gestalt des Aufwands für Löhne, Ersatz von Maschinen, für Rohstoffe und Halbprodukte entstehen. Ein Nutzen für die Gesellschaft bleibt zwangsläufig unberücksichtigt, wenn er nicht zugleich Nutzen für den Käufer ist, für den man diesen bezahlen lassen kann; u m s o weniger kann ein Kapitalist sich um den Schaden sorgen, den er kommenden Generationen durch rücksichtsloses Verschwenden von Naturressourcen zufügt. Die vielgerühmten Gesetze des Marktes halten ihn keineswegs zu umweltgerechtem Verhalten an, auch wenn umweltfreundliche Produkte und Technologie sich zeitweilig besser verkaufen lassen als in Verruf geratene — im Gegenteil: Die kapitalistische Konkurrenz zwingt dazu, sich nur auf die Senkung der betrieblichen Kosten zu orientieren. So steht das Privateigentum an Produktionsmitteln in diametralem Gegensatz zu den Erfordernissen einer gesunden Umwelt. Diese Erkenntnis ist heute nicht mehr nur Marxisten eigen; sie dringt immer mehr auch in jene bürgerlichen Kreise vor, die dem Marxismus zumindest fremd gegenüberstehen, aber die Gefahren des profitbestimmten, anarchischen Einwirkens auf die Umwelt ernst nehmen. In solchen Kreisen sieht man mitunter den Ausweg in der staatsmonopolistischen Regulierung (wobei man obendrein diese mit den äußerlich ähnlichenMaßnahmen sozialistischer Planung und Leitung verwechselt). Gewiß hat die staatsmonopolistische Regulierung die Wirkungsweise der kapitalistischen Konkurrenz eingeschränkt. Gewiß sind die herrschenden Klassen der imperialistischen Länder auf diese Weise bestrebt, die ökonomische Entwicklung zu beeinflussen, indem sie z. B. durch dem Krisenzyklus entgegenwirkende Maßnahmen sowohl zyklischen Überproduktionskrisen als auch der sog. überhitzten Konjunktur sowie der Inflation entgegenzutreten suchten. Solche Maßnahmen haben seit dem 2. Weltkrieg die Wiederkehr einer weltweiten Wirtschaftskrise wie 1929 auf längere Zeit verhindert, aber um den Preis eines fortschreitenden Inflationsprozesses, der überdies — nach anfänglich stimulierenden Effekten — im Endergebnis zur Stagnation und sogar zum Rückgang der Produktion bei steigender Arbeitslosigkeit zu einer akuten Krise führen mußte und führte. Hat die staatsmonopolistische Regulierung schon auf ihrem ureigensten Gebiet — in der Ökonomie — nicht die gewünschten Ergebnisse gebracht, so schränken die entgegenstehenden Interessen mächtiger Monopolgruppen erst recht ihre Wirksamkeit für den Umweltschutz ein. Darüber kann auch die Tatsache nicht hinwegtäuschen, daß kapitalistische Staaten zunehmend Maßnahmen gegen Umweltverschmutzung verkünden. Abgesehen davon, daß selbst die Summe solcher
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staatlicher Einzelmaßnahmen noch lange kein Volkswirtschaftsplan zur Umweltgestaltung ist, hemmt die Zerrissenheit und moralische Krise in der imperialistischen Gesellschaft die Wirksamkeit der erlassenen ebenso wie den Erlaß weitergehender, umfassenderer Umweltschutzmaßnahmen. Das gilt auch dann, wenn solche Maßnahmen dem Gesamtinteresse der herrschenden Klasse entsprechen. Der Widerspruch zwischen diesem Gesamtinteresse — zu dessen Sprecher sich so manche Regierung dieser Länder macht — und den Interessen der einzelnen Gro ßkapitalisten und privaten Monopolgesellschaften erwächst unmittelbar aus dem Privateigentum an Produktionsmitteln und macht es unmöglich, daß staatliche Regulierungsmaßnahmen in vollem Umfang wirken könnten. Das nämlich müßte das Privateigentum aushöhlen, auf dem letztlich eben dieser Staat beruht. Wenn die kapitalistische Gesellschaftsordnung prinzipiell unfähig ist, das Gesamtproblem des Umweltschutzes zu lösen oder etwa gar die Umwelt bewußt zu gestalten, so bedeutet das jedoch keineswegs, jegliche staatliche Maßnahmen zum Umweltschutz wären unter kapitalistischen Bedingungen völlig unwirksam. Die USA z. B. sahen sich infolge der weit fortgeschrittenen Motorisierung und Industrialisierung schon sehr frühzeitig zu solchen Maßnahmen gezwungen. Umweltschutz wird zum Geschäft für zahlreiche kapitalistische Monopole. Nicht zu vergessen ist der Druck von unten. Auf den Volksmassen lasten die Folgen der Umweltverschmutzung am schwersten, und wo fortschrittliche Kräfte, insbesondere die Arbeiterbewegung, sich dieses Problems organisiert angenommen haben, ist der Druck auf die Regierungen schon so stark, daß sie — ähnlich wie zu sozialpolitischen Konzessionen — zu Umweltschutzmaßnahmen greifen mußten. Im dicht besiedelten Japan ist das offensichtlich. Organisiertes Handeln kann staatlich verfügte Umweltschutzmaßnahmen durchsetzen helfen und wirksamer machen sowie ihre Sabotage durch einzelne kapitalistische Großunternehmer verhindern. Richtig gehandhabt, ist die Forderung nach wirksamen Maßnahmen gegen die Umweltverschmutzung durch die großen Konzerne ein Bestandteil des allgemeindemokratischen Kampfes gegen die Herrschaft des Monopolkapitals, in dem übrigens auch das Bündnis der Arbeiterklasse mit humanistischen Wissenschaftlern einen konkreten Inhalt erlangen kann. Bestandteil der friedlichen Koexistenz Die Tatsache, daß die kapitalistischen Länder in bestimmtem Umfang Umweltschutzmaßnahmen durchführen können und müssen, ist auch für den Umweltschutz der sozialistischen Länder von Bedeutung, Die große Mehrzahl unserer Umweltschutzmaßnahmen führen wir natürlich innerhalb unserer eignen Grenzen und vor allem in der Zusammenarbeit der sozialistischen Staatengemeinschaft durch; aber es gibt gewichtige Probleme, die globale oder regionale Anstrengungen erfordern und nicht an den Grenzen der sozialökonomischen Systeme enden. Hierzu gehören z. B. die Gefahren, die dem Makroklima drohen oder die aus der Verschmutzung der Weltmeere erwachsen und sowohl die Sauerstoffproduktion als auch den Zugriff zu den natürlichen Schätzen der Ozeane gefährden. Es ist
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k a u m Zeit, mit wirksamen Maßnahmen gegen solche Gefahren solange zu warten, bis der Sozialismus auch in den großen, bisher imperialistischen Ländern gesiegt h a t . Davon gehen die Vorschläge der UdSSR und anderer sozialistischer Länder für eine Zusammenarbeit von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung zum Schutz der natürlichen Umwelt aus. 1 ) Die Voraussetzungen für eine solche internationale Zusammenarbeit sind dieselben, die auch der realistischen Einstellung von Teilen der Monopolbourgeoisie zur internationalen Entspannung zugrunde liegen. Unser Kampf um die Sicherung des Friedens und um internationale Entspannung zielt darauf, die schlimmste Gefahr für die Menschheit und ihre Umwelt — die Gefahr des modernen, thermonuklearen, chemischen u n d biologischen Krieges — zu bannen; ebenso dient die Zusammenarbeit gegen globale Gefahren der Umweltverwüstung dazu, für die friedliche Koexistenz ein festeres F u n d a m e n t zu schaffen.
Weiterführende Literatur Kapiza, P.: Der Planet Erde — unser Haus, Pravda v.
15. 5. 73, PdSU, Nr. 2 7 / 1 9 7 3 , S. 33 Kapiza, P.: Das Verhältnis zwischen Mensch und Natur — drei Aspekte des globalen Problems, Wiss. Welt 17 (1973) 2, S. 23 u. S. 31 Fedorenko, N.; Gofman, K.: Rationelle Gestaltung der Umwelt als Problem der optimalen Planung und Leitung, Sowjetwiss., Gesellschaftswiss. Beiträge 3/1973, S. 230 Mottek, H.: Zu einigen Grundfragen der Mensch-Umwelt-Problematik, Wirtschaftswiss. 20 (1972) 1, S. 36 Fjodorov, J.: Aktuelle Probleme der Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Umwelt, Sowjetwiss., Gesellschaftswiss. Beiträge 3/1973, S. 239 Rundtischgespräch „Der Mensch und seine Umwelt", Sowjetwiss., Gesellschaftswiss. Beiträge 11/1973, S. 1208, und 12/1973, S. 1233 Maeuabski, B.; Tabassov, K.: Monopole kontra Umwelt, Sowjetwiss., Gesellschaftswiss. Beiträge 3/1973, S. 252 Zaregoeotzev, G. J.: Die Technisierung der Umwelt und die Gesundheit des Menschen, Sowjetwiss., Gesellschaftswiss. Beiträge 3 1973, S. 262
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) An die Völker der Welt, PdSU, A Nr. 150 v. 29. Dez. 1972, S. 28
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Leben und Gesundheit eines Organismus werden in erster Linie durch seine Umwelt bestimmt. I n einer lebensfeindlichen Umwelt, z. B. auf der Sonne, auf vielen Planeten und in anderen kosmischen Räumen ebenso wie in großen Tiefen oder in polaren Gebieten, hört das Leben auf. Umweltbedingungen, die alles zum Leben Erforderliche bieten, sind nur in einem winzigen Bruchteil des Weltalls zu finden. Aber selbst unter lebensbegünstigenden Verhältnissen hängt es davon ab, ob ein Organismus die Fähigkeit besitzt, durch entsprechende Kontaktstellen sowie durch geeignete Einwirkung auf die Umwelt seine Stoffwechsel- und anderen lebenswichtigen Bedürfnisse zu befriedigen.
Verhältnis zum Mitmenschen wandelt sich Die Organismus-Umwelt-Beziehung verläuft beim Menschen qualitativ anders als bei den übrigen Lebewesen. Nur der Mensch ist imstande, die Umwelt in koopera-' tiver Arbeit zu verändern, während alle anderen Organismen sich ihr nur anpassen können. Diese besondere menschliche Fähigkeit führte im Laufe der Menschheitsgeschichte dazu, daß sich der Einfluß des Menschen auf die Umwelt immer mehr verstärkte. Aus der Fachliteratur wissen wir, daß die komplizierte wirtschaftliche Struktur, die unsere Versorgung ermöglicht, das Resultat eines jahrtausendelangen Fortschritts ist. Bekanntlich erbrachten MIAKX und E N G E L S den Nachweis, daß der Wesenskern dieser Entwicklung, ihre eigentliche Dynamik, in dem ständigen Wachstum der Produktivkräfte liegt, d. h. in dem menschlichen Streben, sich die Natur in steigendem Maße nutzbar zu machen. Ihre brillante Erkenntnis, daß die Steigerung der Produktivkräfte bis in die Neuzeit hinein in harten Klassenkämpfen realisiert wurde, wobei jahrtausendelang die Unterdrückten unmenschlich ausgebeutet und zu Werkzeugen degradiert wurden, ist so bekannt, daß darauf hier nicht näher eingegangen zu werden braucht. Immerhin führte diese durch blutige Austragung antagonistischer Gegensätze in den Beziehungen der Menschen gekennzeichnete Entwicklung auch dazu, daß sich im Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt ein entscheidender qualitativer Umschwung vollzog. Während der primitive Mensch den Zufällen der ihn umgebenden Natur mehr oder weniger wehrlos ausgeliefert war, verändert der moderne Mensch als Teil einer hochentwickelten ökonomisch-politischen Organisation die Natur nach seinen Bedürfnissen.
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Dafür wird sein Leben in zunehmendem Maße von den Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung bestimmt. Nicht örtlicher Regenfall oder das Sprudeln natürlicher Quellen sichert die Versorgung mit Trinkwasser, sondern die Organisation der Wasserwirtschaft. Ebenso hängt die Versorgung mit Lebensmitteln
Abb. 3 Arbeitsbeziehungen sind das dynamische Element, das es dem Menschen ermöglichte, sich aus dem Tierreich zu erheben und die Natur entsprechend seinen Bedürfnissen umzugestalten. Damit veränderte der Mensch aber zugleich seine Arbeits* und Lebensbedingungen, ja sogar die Beziehungen innerhalb der Familie. Waren Kadavergehorsam und strenge Unterordnung das Merkmal der Klassengesellschaft, so kennzeichnen Kameradschaft und verständnisvolles Eingehen auf die Probleme des Kollegen unsere sozialistischen Arbeitsbedingungen. Kontakte zu anderen Menschen sind für jeden einzelnen lebenswichtig; er kann nur in der Gemeinschaft wahrhaft Mensch sein. Andererseits können lang andauernde und ungelöste Konflikte im zwischenmenschlichen Bereich zu schweren psychischen und auch physischen Krankheiten führen
und Kleidung — schon ein spezifisch menschliches Bedürfnis — weniger von der Fruchtbarkeit des Bodens, dem Tierbestand oder örtlichen klimatischen Ereignissen ab als von der Organisation der Wirtschaft. Auch die in der natürlichen Umwelt drohenden Gefahren, z. B. Raubtiere, Epidemien oder Naturkatastrophen, werden weitgehend aus dem Leben des modernen Menschen gebannt.
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Die damit dem Menschen gebotenen günstigen Möglichkeiten, seine Bedürfnisse zu befriedigen, alle seine Fähigkeiten zu entwickeln und sich aus der Abhängigkeit von der Natur zu befreien, können vorerst nicht voll genutzt werden; denn auf Grund der inneren Widersprüche der einerseits so produktiven gesellschaftlichen Entwicklung entstehen andererseits auch unerhört zerstörerische, neue Gefahrenherde. Arbeitslosigkeit, Hungersnöte, Mangelkrankheiten, Kriege und Wirtschaftskrisen, bei denen Millionen Menschen zugrunde gehen, fallen auf das Konto dieser letztlich politisch-ökonomischen Widersprüche. Schließlich ist in diesem Zusammenhang auch an die ständig wachsenden Gefahren der durch die Industrie verursachten Umweltschäden zu denken: die Verseuchung des Wassers und der Luft, die Lärm- und allgemeine Reizüberflutung, die bedrohliche Zunahme mutagener und kanzerogener Schadstoffe sowie toxischer Abprodukte der Industrie. So entwickelte sich aus der unmittelbaren Abhängigkeit des primitiven Menschen von der Natur die gegenwärtige Situation, die dadurch gekennzeichnet ist, daß das politisch-ökonomische System und die gesellschaftlichen Verhältnisse überhaupt immer größere Bedeutung erlangen als Vermittler zwischen Mensch und natürlicher Umwelt und dabei die ursprüngliche Abhängigkeit des Menschen von der Natur graduell verändern, bis wir schließlich imstande sind, die Natur weitgehend unseren ständig wachsenden Bedürfnissen anzupassen und damit eine qualitativ neue Stufe der Entwicklung zu erreichen. Dabei wird allerdings zunächst die Abhängigkeit des Menschen von der Natur solange in eine Abhängigkeit von der politisch-ökonomischen Entwicklung eingetauscht, bis es gelingt, auch diese letztere bewußt zu steuern. Die Erkenntnis, daß dafür die revolutionäre Entmachtung der Finanzoligarchie und ihrer Machtapparate Voraussetzung ist, setzt sich immer mehr durch. Unsere Umwelt besteht also aus zahlreichen miteinander verwobenen Komponenten, die sich in ständiger Veränderung und Entwicklung gegenseitig beeinflussen: einerseits der ganze Komplex von Faktoren, die — unter dem Begriff „natürliche Umwelt" zusammengefaßt — bereits vor dem Menschen existierte, andererseits die gesellschaftliche Umwelt, die eine spezifisch menschliche Schöpfung ist. Während die natürliche Umwelt gründlich erforscht wurde, was u. a. zur Entwicklung von etwa hundert naturwissenschaftlichen und mathematischen Disziplinen führte, blieb die gesellschaftliche Umwelt noch bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts weitgehend unerforscht. Denn obwohl gesellschaftliche Einflüsse das Leben der Menschen bereits so tiefgreifend veränderten, daß die Bedeutung natürlicher Umweltfaktoren vergleichsweise in den Hintergrund trat, gelang es bürgerlichen Ökonomen und Soziologen nicht, über die Erkenntnis von Teilprozessen hinaus zum Wesentlichen vorzudringen. Erst die genialen Entdeckungen von M A R X Und E N G E L S enthüllten Dynamik und Entwicklungstendenzen gesellschaftlicher Veränderungen und lieferten gleichzeitig die Methodik zur weiteren Erforschung gesellschaftlicher Vorgänge und zu ihrer systematischen Veränderung. Ähnlich wie herrschende Ideologie und Klasseninteresse der kapitalistischen Oberschicht eine weitergehende Analyse der ökonomischen Vorgänge gehemmt hatten, so verhinderten sie auch lange Zeit die tiefergehende wissenschaftliche Untersuchung einer anderen lebenswichtigen Kompo-
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Abb. 4 F ü r das Kind ist der Kontakt zu Gleichaltrigen besonders wichtig; das Kinderkollektiv hat einen großen Anteil an der Formung seiner Persönlichkeit
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nente der gesellschaftlichen Umwelt des Menschen: der zwischenmenschlichen Beziehungen. Zwar hatten sich schon viele Wissenschaftler mit diesen Fragen beschäftigt — schließlich gibt es Schwierigkeiten auf dem Gebiet der zwischenmenschlichen Beziehungen, seit es überhaupt Menschen gibt, und sie sind oft für das Leben des einzelnen gravierend — aber es gelang ihnen nicht, die Zusammenhänge zu erfassen. Auch hatten sich schon früher Schriftsteller bemüht, ein lebendiges Bild dieser Beziehungen in geschichtlicher Perspektive zu vermitteln, wobei naturgemäß des öfteren zeitbedingte Auffassungen und Interessen einzelner Autoren das Bild verfälschten. So erschienen vielfach die biblische Schilderung von Adam und Eva oder z. B. auch DEFOES Darstellung von Robinson Crusoe als Prototyp der Soziogenese.
Ist Gemeinschaft lebenswichtig ? Demgegenüber konnten MARX und ENGELS — gewissermaßen als Beiprodukt ihrer politisch-ökonomischen Untersuchungen — eine ganze Reihe wichtiger Erkenntnisse über das Wesen der zwischenmenschlichen Beziehungen darlegen. Zum Beispiel wiesen sie nach, daß der Mensch ein soziales Wesen ist, also überhaupt nur in der Gemeinschaft mit anderen Menschen leben und Mensch sein kann, ja daß er seine Entwicklung zum Menschen erst der gemeinsamen Arbeit verdankt. Diese Erkenntnis wurde zu Anfang unseres Jahrhunderts vielfach bestätigt. Dramatisch war z. B. die Entdeckung von zwei Kindern in Indien, die — im frühesten Alter ausgesetzt — zwar ihr Leben in Gemeinschaft mit wilden Tieren gefristet hatten, aber in Verhalten und psychischen Eigenschaften nichts Menschliches mehr aufwiesen. Sogar bei den höheren Säugetieren konnte die lebenswichtige Bedeutung von Kontakten mit Artgenossen eindeutig ermittelt werden. So stellte SACKETT in sorgfältigen Untersuchungen an Rhesusaffen fest, daß sich bei allen Tieren, deren Beziehungen zum Muttertier und zu den anderen Affen während des ersten Lebensjahres mehr als drei Monate lang unterbrochen wurden, trotz guter Ernährung und Pflege schwere, dauerhafte Verhaltensstörungen entwickelten. Diese Störungen äußerten sich allgemein als Unfähigkeit, sich an die Umwelt anzupassen, wobei besonders ausgeprägt abnorme Veränderungen im „sozialen" 1 ), vor allem im sexuellen und mütterlichen Verhalten auftraten. Ähnliches beobachteten HENRY und Mitarbeiter bei Mäusen. Bei diesen Tieren waren die Störungen im mütterlichen Verhalten sogar so ausgeprägt, daß die Muttertiere alle ihre Jungen fraßen. Nehmen schon im Tierreich die Beziehungen zu den Artgenossen einen so bedeutsamen Raum ein, so ist das beim Menschen noch in weit höherem Maße der Fall. Die von SPITZ untersuchten Waisenkinder in amerikanischen Krankenhäusern zeigten z. B. trotz hygienisch und diätetisch einwandfreier Versorgung bei längerem 1)
Der Ausdruck sozial wird häufig auch auf das Zusammenleben der Tiere angewendet. W i r sind jedoch der Meinung, daß dieser Begriff — ohne Anführungszeichen — nur für Menschen verwendet werden sollte, weil nur sie in einem Gesellschaftssystem leben, während das Zusammenleben von Tieren im wesentlichen durch biologische Abläufe geprägt ist
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stationärem Aufenthalt charakteristische Entwicklungsstörungen Und Regressionen (Marasmus), die eindeutig auf Mangel an sozialer Stimulation zurückzuführen waren. Zweifellos wirkt soziale Isolation besonders nachhaltig, wenn sie während der frühen Kindheit erlebt wird. Aber auch bei Jugendlichen und Erwachsenen führt ein Mangel an sozialen Kontakten zu ernsthaften Erkrankungen und beeinträchtigt
Mit Liebe und Geduld wenden sich besonders die Älteren den Kindern zu und beeinflussen sie oft nachhaltig. Ist dieser Einfluß in jedem Fall so günstig wie hier T
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die Adaptationsfähigkeit an die Umwelt. Tatsächlich wurde und wird ja die soziale Isolierung (z. B. Einzelhaft) als eine der schwersten gesellschaftlichen Sanktionen angesehen, die in zahlreichen Fällen zu extremen Adaptationsstörungen, Krankheit und sogar zum Tod führen kann. Selbst hei der Durchschnittsbevölkerung treten manche Erkrankungen (z. B. Magengeschwüre und Bluthochdruck) in bestimmten Bevölkerungsgruppen (Unverheiratete, Verwitwete und Geschiedene), von denen man annehmen kann, daß sie mehr unter Kontaktschwierigkeiten zu leiden haben als andere, häufiger auf als bei gleichaltrigen Verheirateten. Bei den Tieren beruhen „soziale" Kontakte weitgehend auf instinktiver Grundlage; ihre Entwicklung wird durch innerorganismische Abläufe bestimmt, und sie sind primär auf biologische Ziele gerichtet. Daher kann man ihre Ausbildung und eventuelle Störungen auch weitgehend innerorganismisch, physiologisch-psychologisch erforschen. Zwischenmenschliche Beziehungen werden dagegen mehr und mehr durch die gesellschaftlichen Lebensverhältnisse bestimmt, unter denen die Arbeitsverhältnisse eine vorrangige Rolle spielen.
Dilemma der bürgerlichen Wissenschaft Indem die politisch-ökonomischen Veränderungen den Einflußbereich der natürlichen Umwelt zurückdrängen und sich sozusagen zwischen Natur und Menschen schalten, wächst auch ihr Einfluß auf die Art und Weise, wie sich der Mensch anderen Menschen gegenüber verhält. Allerdings finden gesellschaftlich bedeutsame Veränderungen erst nach mehr oder weniger großer Verzögerung ihren Niederschlag in neuen Formen und Inhalten zwischenmenschlicher Beziehungen. Die überlieferten Verhaltensnormen werden oft nur allmählich durch neue ersetzt. Daher konnte es geschehen, daß neue Formen zwischenmenschlicher Beziehungen oft längere Zeit übersehen oder sogar verächtlich gemacht wurden. Stattdessen wurde die sanktionierte und vorherrschende Art zwischenmenschlicher Kontakte als unveränderlich und „natürlich" dargestellt (wie es dem Interesse der herrschenden Ausbeuterklassen entsprach). Das beschleunigte Tempo der Nachkriegsentwicklung in Politik und Ökonomie hat aber zu so beträchtlichen Wandlungen auch im zwischenmenschlichen Bereich geführt, daß Verhaltensweisen — beispielsweise auf dem Gebiet der intimen Beziehungen —, die früheren Generationen noch als zeitlose Merkmale „menschlicher N a t u r " erschienen, uns heute veraltet oder gar inhuman anmuten. Das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, das Generationsproblem, überhaupt die Beziehungen zwischen Mann und Frau, die Rolle der Frau in der Gesellschaft, die Beziehungen innerhalb und zwischen verschiedenen Klassen, Schichten, Rangund Funktionsstufen im Arbeitsprozeß und bei der Freizeitgestaltung, das Verhältnis zum Staat und seinen Einrichtungen usw. zeigen gegenwärtig eine nie dagewesene Vielfalt unterschiedlicher Inhalte, Formen und Entwicklungsstufen. Dieser Entwicklung der zwischenmenschlichen Beziehungen gegenüber ist die bürgerliche Wissenschaft in einer ähnlichen Situation wie die frühbürgerliche gegenüber dem rapiden ökonomischen Fortschritt der ersten Hälfte des 19. J h . : Für sie
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sind die Probleme Unübersehbar geworden. Viele Einzelaspekte werden sorgfältig untersucht, aber die Klassenschranken führen dazu, daß man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht, also über der Beschäftigung mit Einzelproblemen die Dynamik der Entwicklung nicht erkennt bzw. nicht erkennen darf; denn abgesehen von rein naturwissenschaftlicher und technologischer Entwicklung ist Fortschritt stets eine Gefahr für das System. Sicherlich ist richtig, daß sich zwischenmenschliche Beziehungen auf einer biologischen Grundlage entwickeln. Immerhin befriedigen im Normalfall die Mutter oder der Vater die ersten biologischen Bedürfnisse des Kindes. Diese ersten frühen Erfahrungen üben einen dauerhaften Einfluß aus. Zweifellos lassen sich auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen Verhaltensweisen wiedererkennen, die bereits bei den höheren Säugetieren zu finden sind. Aber ausschließlich auf diesen Grundlagen die ganze Lehre zwischenmenschlicher Beziehungen aufzubauen, wie es psychoanalytische Schulen tun, heißt die ständig zunehmende Bedeutung sozialer 1 Einflüsse im Leben des heutigen Menschen zu negieren. Im Rahmen dieser kurzen Übersicht ist es nicht möglich, alle die Ansätze zu erwähnen, mit denen man die drängenden Fragen zwischenmenschlicher Beziehungen zu begreifen versuchte — Ansätze, die doch im Grunde genommen nicht weiterführten, weil sie in bürgerlichen Denkschablonen befangen blieben. Nennen wir nur zwei so unterschiedliche Beispiele wie die Schule des sozialanthropologischen Relativismus und die moderne Rollentheorie.
Ungleicher Kampf bürgerlicher Wissenschaftler Die sozialanthropologischen Relativisten gingen von dem begrüßenswerten humanistischen Anliegen aus, die bornierte Rassen- und Klassenüberheblichkeit der „blütenweißen protestantischen Oberschicht" in den USA, die schon so viel Unheil angerichtet hat, mit wissenschaftlich stichhaltigen Beweisen zu widerlegen. Mutige Forscher, wie BOAS, LINTON, MEAD und BENEDIKT, lebten oft jahrelang mit verschiedenen Völkern und Volksstämmen, um deren zwischenmenschliche Beziehungen, Sitten und Gebräuche zu erforschen. I n ihren wissenschaftlichen Berichten zeigten sie dann, daß die Kulturen anderer Volksgruppen, das Verhalten der Menschen zueinander sich oft fundamental von den Gewohnheiten, Auffassungen und Beziehungen der tonangebenden weißen, westeuropäisch-amerikanischen Oberschicht unterscheiden, daß also der Lebensstil der herrschenden Kreise der USA keineswegs universal, natürlich oder „gottgewollt" ist. Dabei gelang es ihnen zu beweisen, daß diese „fremden" und oft von ethnozentrischen 1 ) Propagandisten als „niedriger", „weniger kultiviert" usw. geschilderten Kulturen vom Standpunkt der Erziehung ihrer Kinder, der Beziehungen untereinander, insbesondere auch in bezug auf Rücksichtnahme Schwächeren und Kranken gegenüber, der herrschenden westlichen Lebensart in vielen Dingen überlegen sind. J
) ethnozentrisch — Sitten und Gebräuche, politische Verhältnisse, Wirtschaft und Kultur des eigenen Volkes als Vorbild und universellen Maßstab für alle Völker betrachtend
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Eine Reihe anderer Wissenschaftler übertrug diese Betrachtungsart auch auf die verschiedenen Klassen im kapitalistischen System. So schilderten die L Y N D S sowie W A E N E B und seine Mitarbeiter verschiedene Subkulturen in amerikanischen Städten. Aber so gut gemeint und edel die Motive dieser Forscher auch waren — da sie die Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung nicht zu erfassen vermochten, blieben ihre Lehren darauf beschränkt, eine mehr oder weniger fatalistische Toleranz zu propagieren. Mit einem ganz anderen Aspekt der zwischenmenschlichen Beziehungen befaßt sich die bürgerliche Rollentheorie. Jeder einzelne von uns muß täglich zahlreiche Rollen und Funktionen übernehmen. Fast automatisch wechseln wir das Rollenspiel entsprechend den Erwartungen, die unsere Umwelt an uns stellt. Als Familienmitglied übt die Mutter z. B. morgens zu Hause ihre Funktion aus. Dabei ist es selbst dort manchmal notwendig, schnell von einer Rolle in die andere überzuwechseln. So ändert sie den Ausdruck ihrer Stimme, wenn sie sich als Mutter dem Kleinkind zuwendet, dann als Frau mit ihrem Mann spricht und im nächsten Moment den Schulkindern Aufträge für den Tag erteilt. Schon auf dem Weg zur Arbeit übernimmt sie andere Rollen, wenn sie z. B. als Verkehrsteilnehmer mit Fußgängern, Kraftfahrern, Straßenbahn- und S-Bahnfahrgästen in Berührung kommt oder als Käuferin schnell noch kleine Einkäufe tätigt. So geht es dann am Arbeitsplatz weiter: Sie wechselt ihr Verhalten, je nachdem, ob sie mit einem jüngeren oder älteren Kollegen, einem Mann oder einer Frau, einem Vorgesetzten oder Gleichgestellten zu t u n hat. Sie verhält sich anders bei der Arbeit als in der Pause und wiederum anders in einer Sitzung. Damit verbunden ist eine ständige Umstellung und eine Entwicklung der Fähigkeit, das „Passende" zu tun. Zweifellos ist auch eine Analyse dieser Seite des zwischenmenschlichen Verhaltens wichtig. Insbesondere kann ein Verständnis der Konflikte, die sich z. B. aus der Notwendigkeit ergeben können, widersprüchliche Rollen zu „spielen", dem einzelnen helfen, besser zurechtzukommen. Aber auch dieser Ansatz bietet keine Möglichkeit, den Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen in seiner Gesamtheit zu erfassen und in seiner geschichtlichen Entwicklung zu begreifen. Und gerade darauf kommt es an, wenn wir diese Umweltfaktoren gezielt verändern wollen. Nur wenn wir die vorwärtstreibenden und die hemmenden Faktoren genau kennen und von der realen Gegenwartssituation ausgehen, können wir wirkungsvoll in das Geschehen eingreifen.
Bereits im vorigen Jahrhundert analysiert und begriffen Wie bereits erwähnt, haben M A B X und E N G E L S — obwohl sie sich nur sekundär mit psychologischen Fragen befaßten — wichtige Hinweise zur Dynamik der zwischenmenschlichen Beziehungen gegeben. So zeigte E N G E L S in seiner Monographie „Über den Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates" 1884 im einzelnen auf, wie Veränderungen auf wirtschaftspolitischem Gebiet (z. B. das Erstarken der Bourgeoisie am Ausgang des Feudalismus) zur Entwicklung neuer zwischenmenschlicher Verhaltensnormen (in diesem Fall zu individuellen Liebesbeziehüngen) führten. Auch M A R X stellte (z. B. im „Kapital") wiederholt die
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Dialektik des Einflusses der sich entwickelnden kapitalistischen Verhältnisse auf die Familienbeziehungen dar. So geißelte er die brutale und unmenschliche Art, in der der Kapitalismus die bestehenden patriarchalischen Familienverhältnisse zerstörte Und Frauen wie Kinder zur Lohnarbeit zwang. Gleichzeitig hebt er aber hervor, daß dieser zerstörerische Einfluß des Kapitalismus auch eine in der Perspektive positive Seite hat, indem er die Grundlage schafft für eine höhere Form des Familienlebens und die Gleichberechtigung der Geschlechter. Die politökonomischen Veränderungen beeinflussen aber nicht nur die Familienbeziehungen. Die wesentliche Tatsache, daß der relativ niedrige Entwicklungsstand der Produktivkräfte dazu führte, daß die bisherige Geschichte der Menschheit eine Geschichte von Klassenkämpfen war, ein erbarmungsloser Kampf zwischen Herrschenden und Beherrschten, wirkte sich auf alle Gebiete des menschlichen Lebens aus. Selbst bürgerliche Soziologen sind auf Grund ausgedehnter Untersuchungen zu der Einsicht gelangt, daß die Klassenlage des Einzelnen sein Verhalten, sein Denken sowie seine Beziehungen zu anderen Menschen tiefgreifend formt. Ein Landarbeiter in einem kolonial abhängigen Land führt beispielsweise nicht nur ein völlig anderes Leben als ein selbständiger Farmer in den USA oder ein LPG-Bauer in der DDR, er ernährt sich anders, denkt anders und hat völlig andere Beziehungen zu seinen Mitmenschen, auch zu seiner Familie. Selbst in relativ wohlhabenden kapitalistischen Städten und Gemeinden atmen Arbeiter im buchstäblichen Sinn andere Luft als Fabrikherren. (Arbeiterviertel sind meist in dem Sektor der Großstädte angelegt, in dem der Qualm der Großbetriebe die Luft verpestet, während die Villen der Besitzenden sich in den Gebieten mit der besten Luft befinden.) Ähnlich unterschiedliche Verhältnisse bestehen in bezug auf Erholung, Urlaub, Kultur und Bildung. Einen weiteren wichtigen Hinweis für eine dialektische Betrachtungsweise der zwischenmenschlichen Beziehungen gab M A K X durch seine Analyse der „Versachlichung" zwischenmenschlicher Beziehungen. I n der Gesellschaft des Mittelalters erhielten die Beziehungen der Menschen zueinander Norm und Sinn im Rahmen einer „göttlichen Ordnung". Dagegen erscheint unter kapitalistischen Bedingungen der einzelne als Repräsentant mehr oder weniger erstrebenswerter Sachwerte. Der Weg zur Ware führt über deren Besitzer, der Weg zur Erbschaft über den Erblasser, der Weg zum standesgemäßen Einkommen über den wohlhabenden Ehepartner. So sieht man im anderen oft weniger den Menschen als in erster Linie den Vermittler der Ware, ja gewissermaßen die Ware selbst. Aber: So wie der Kapitalismus die überkommenen patriarchalischen Familienbande zerstört und damit die Voraussetzung für eine höhere Form gleichberechtigter Familiengemeinschaft herstellt, so bereitet er auch — indem er die Beziehungen der Menschen zueinander ihrer sentimental-religiösen Verbrämung entkleidet — den Boden für die nach seinem Sturz möglichen aufrichtigen Beziehungen, die auf Gemeinsamkeit, Achtung und Liebe gegründet sind. Die zwischenmenschlichen Beziehungen werden aber nicht nur einseitig von biologischen und politisch-ökonomischen Faktoren geprägt, sondern sie beeinflussen ihrerseits auch die politisch-ökonomischen Verhältnisse. Da ist als erstes z. B. der gewaltige positive Einfluß zu erwähnen, den das Kampfbündnis aller gegen 3
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Unterdrückung und Krieg Kämpfenden und die internationale Solidarität in Vergangenheit und Gegenwart auf die Entwicklung ausüben. Hemmend wirken zwischenmenschliche Beziehungen dagegen auf die gesellschaftliche Entwicklung, wenn Menschen ihr Verhalten zueinander an Normen und Wertsystemen orientieren, die den herangereiften ökonomisch-technischen sowie politisch-ideologischen Erfordernissen nicht mehr entsprechen und sich auch nicht mehr im Einklang mit dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis befinden. Ein derartiges Zurückbleiben führt zu qualvollen inneren Widersprüchen und Konflikten, die schließlich ihren Ausdruck in neurotischen Störungen und anderen Erkrankungen bzw. in abnormen Reaktionen (Selbstmord) usw. finden.
Probleme unseres Zusammenlebens Aber auch in anderer Weise können unangepaßte zwischenmenschliche Beziehungen die gesellschaftliche Entwicklung beeinträchtigen oder stören. So ist bekannt, daß übertriebener Egozentrismus und individualistischer Subjektivismus (ein Überbleibsel kapitalistischer Denkweise) eine Atmosphäre erzeugen, die sich nachteilig auf das sog. Arbeitsklima und die Produktivität auswirkt. Umgekehrt haben sich in den sozialistischen Ländern bereits neue Beziehungen zwischen Angehörigen zahlreicher Kollektive herausgebildet, welche die gesellschaftliche Entwicklung stimulieren können. Die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen hat sowohl auf den Gesundheitszustand und auf das subjektive Wohlbefinden des einzelnen als auch auf den politisch-ökonomischen Fortschritt der Gesellschaft einen kaum zu überschätzenden Einfluß. Es ist daher notwendig, diese Vorgänge gezielt in ihrem UrsacheWirkungs-Gefüge wissenschaftlich zu durchdringen. Das kommt z. B. auch darin zum Ausdruck, daß in den vergangenen Jahren alle Direktiven und Beschlüsse der höchsten Parteigremien in den sozialistischen Ländern immer wieder Hinweise darauf enthielten, wie die zwischenmenschlichen Beziehungen in der Leitungsebene, in den Kollektiven, zwischen Genossen und Parteilosen usw. gezielt zu beeinflussen sind. Gegenwärtig gibt es zahlreiche bedeutsame Untersuchungen, in denen Probleme zwischenmenschlicher Beziehungen bearbeitet werden. Das trifft z. B. für Fragen der Krippen- und Heimerziehung von Kleinkindern und der Charaktererziehung in der Schule zu. Intensiv werden Ehe- und Sexualprobleme sowie die Verbesserung der Leitungstätigkeit, die Festigung von Arbeitskollektiven u. a. erforscht. Andere Wissenschaftler befassen sich mit Methoden des Einbeziehens weiterer Bevölkerungskreise in die Leitung des Staates und anderer gesellschaftlicher Prozesse. Dabei werden wichtige praxiswirksame Einsichten gewonnen. In der Folge politisch-ökonomischer Veränderungen entstehen aber auch ständig neue Formen zwischenmenschlicher Beziehungen. Denken wir z. B. an die Neuererbewegung, den sozialistischen Wettbewerb, den Kampf um den Staatstitel „Kollektiv der sozialistischen Arbeit" bzw. den Titel „Brigade der D S F " oder auch an die sozialistische Nachbarschaftshilfe, die Hausgemeinschaften usw. So werden an
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Abb. 6 Junge Paare gab es schon immer. H a t sich nur die Kleidung geändert
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vielen Stellen unterschiedliche Erfahrungen gesammelt und z. T. in der Tagespresse und anderen Kommunikationsorganen ausgewertet. Die X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Berlin gaben ein eindrucksvolles Bild von der aktiven Einbeziehung der Jugend in den Aufbau unserer Gesellschaft und von den Perspektiven, die sich dabei eröffnen. Allerdings erwachsen aus dieser Praxis eine Reihe neuer Aufgaben mit vielfältigen Lösungsmöglichkeiten. So ergibt sich ein buntes Bild zahlloser Einzelerkenntnisse über bedeutungsvolle Zusammenhänge zwischenmenschlicher Beziehungen, deren Einbeziehung in die Praxis die gesellschaftliche Entwicklung fördern wird. Über diesen erfolgreichen Ansätzen, die Beziehungen des Menschen zu seiner gesellschaftlichen Umwelt wissenschaftlich zu erhellen, können wir die Augen nicht vor den noch bestehenden Schwierigkeiten verschließen. Viele Krisen im Zusammenleben von Menschen werden zum Ausgangspunkt physisch, psychisch und ökonomisch gleichermaßen schwerer Schäden. Leider können wir sie vorerst nur statistisch erfassen, ohne ihre Dynamik bzw. die zu ihrer Überwindung notwendigen Maßnahmen genau zu kennen: die besorgniserregend hohe Zahl funktioneller Erkrankungen (man rechnet damit, daß etwa 25 Prozent aller Patienten den Arzt wegen derartiger Beschwerden aufsuchen), die unangemessen hohen Kriminalitäts-, Sucht-, Medikamentenmißbrauch- und Selbstmordraten, der hohe Prozentsatz gestörter Familienbeziehungen, Scheidungen und verunsicherter, unglücklicher Kinder, die aus diesen Verhältnissen hervorgehen usw. Es ist nur ein schlechter Trost, wenn wir feststellen, daß derartige Katastrophen bei uns insgesamt weniger verheerend auftreten als in den kapitalistischen Ländern. Sozialistische Gesellschaft stellt neue Fragen Aus dem bisher Gesagten geht hervor, daß Voraussetzungen geschaffen werden müssen, um der politökonomisch wie menschlich gleichermaßen dringlichen Notwendigkeit Rechnung zu tragen, einen grundlegenden Einblick in die Dynamik zwischenmenschlicher Beziehungen zu gewinnen. Die für ein derartiges Unternehmen unbedingt erforderliche interdisziplinäre Gemeinschaftsarbeit kann nur in einer sozialistischen Gesellschaft Zustandekommen. Dabei geht es z. B. um die grundlegende Motivierung des Menschen. Optimale Befriedigung menschlicher Bedürfnisse sowie die Notwendigkeit, den Imperialismus zu überwinden, erfordern maximale Leistungsfähigkeit in der Produktion und effektivste Organisation des sozialistischen Wirtschaftssystems. An dieser Feststellung ist sicherlich nicht zu rütteln. Es fragt sich nur, ob die individuelle Motivierung, der Antrieb, mit dem wir gegenwärtig noch an diese Aufgaben herangehen — in anderen Worten: die Einstellung, die von frühester Kindheit an durch Erziehung geprägt wird —, für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft die günstigste ist. Im Vergleich zum Tempo der revolutionären Veränderung der Produktionsverhältnisse passen sich persönliche Wertsysteme relativ langsam an die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse an; grundlegende Einstellungen sowie erzieherische und allgemein-soziale Normative verändern sich auch nach der Zerschlagung des kapitalistischen Wirtschaftssystems nur schrittweise. So werden
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wir nach wie vor häufig in Familie, Schule, Ausbildung und Beruf gleichermaßen dahingehend beeinflußt, eine weitgehend egozentrisch-ehrgeizige Leistungshaltung zu entwickeln, die oft noch durch das Überbewerten des sichtbaren (bzw. auffällig zur Schau gestellten) Besitzes materieller Güter bekräftigt wird. Gewiß wird der Heranwachsende wie der erwachsene Werktätige bei uns immer wieder darauf hingewiesen, daß es darauf ankommt, kameradschaftlich zu sein, an die Empfindungen seiner Mitmenschen zu denken, mitzufühlen usw. Gewiß wurde auch der Inhalt unserer Schul- und Freizeitliteratur gegenüber der herkömmlichen und in der B R D noch üblichen Verherrlichung des Besitzes und der kapitalistischen Ideologie radikal verändert, aber nach wie vor zählt in der Schule wie im Beruf in erster Linie die meßbare individuelle Leistung. Sie wird durch Zensuren bzw. später mit Geld „belohnt". Die zwar verringerte, aber nach wie vor existierende Kluft zwischen ausschließlicher Bewertung ökonomisch meßbarer Leistung und verständnisvoller Rücksichtnahme gegenüber Mitmenschen haben wir gewissermaßen aus dem Kapitalismus übernommen. Dort nimmt sie die bekannte zwiespältige Form der „Sonntagsideologie" = „liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst!" und der realen „Alltagsideologie" = „friß oder werde gefressen" an. Bei uns wirkt eine solche vielfach noch existierende Einstellung den Bemühungen entgegen, eine gesunde Lebensweise sowie ein sozialistisches Gemeinschaftsleben zu entwickeln und sozialistische Persönlichkeiten zu erziehen. Durch die immer umfassendere Entwicklung unserer sozialistischen Gesellschaft hat sich diesbezüglich bereits vieles verändert: Nutzt doch Unsere Leistung nicht mehr nür dem einzelnen, sondern fast immer auch der Allgemeinheit. Auch gibt es bei Uns schon beachtliche Bemühungen, neben der meßbaren Leistung andere Werte zu berücksichtigen. Denken wir nur daran, wieviel Geld Und Zeit für gesellschaftliche Und kulturelle Tätigkeit bzw. gesUndheits- Und familienfördernde Maßnahmen (vorbeugende Und Heilkuren, Haushaltstag usw.) bereitgestellt werden. Aber diese Maßnahmen sind im Hinblick auf die Prophylaxe funktioneller Erkrankungen nur ein Anfang. Jeder Arzt, jeder Psychotherapeut sieht in seiner Praxis zahllose Patienten, bei denen — nicht zuletzt durch übertriebenen Ehrgeiz Und überhöhtes Leistungsstreben — die familären Beziehungen zerstört, die berufliche Arbeit erschwert und damit die physische Und psychische Belastung über die Toleranzgrenze hinaus erhöht wird. In solchen Fällen entwickeln sich häufig funktionelle Erkrankungen, bei denen die best e ärztliche Versorgung einschließlich kostspieliger Genesungskuren nur dann zum Erfolg führen, wenn es gelingt, die Einstellung des Patienten zu ändern. Wieviele Leiden, wieviel Arbeitszeitverluste bringt das alles mit sich ? Wie oft wird der Produktionsablauf durch längere Krankheit der Werktätigen gefährdet ? Ist es da nicht der Mühe wert zu Untersuchen, ob in einer gefestigten sozialistischen Gesellschaft ein Mensch, der von klein auf nicht in erster Linie auf Leistung ausgerichtet, sondern mehr zur Freude am Schaffen, an der schöpferischen Betätigung Und zürn fro hen Bejahen der positiven Züge Und der Freundschaft zu den Mitmenschen erzo gen wurde, eine objektiv größere Leistung (mit weniger Krankheitsausfallzeiten) zu erzielen vermag als der krampfhaft nach Leistung Strebende ?
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Das K i n d spielt und bastelt mit Vergnügen, aber schon bald engen wir seine Freude durch Leistüngsforderungen ein. Ebenso reduzieren wir seine bevorzugten Beziehungen zu Mitschülern und Gleichaltrigen „bis die Schularbeiten gemacht sind". Lohnt es sich nicht, durch gezielte interdisziplinäre Forschung zu ermitteln, wie kooperative und soziale Anlagen ebenso wie Freude am Schönen, Gestaltüngsdrang und Genußfähigkeit optimal entwickelt und gefördert werden können, ohne sie erst zugunsten vorgeschriebener Leistungsnormen zu beschneiden ?*) Die Entwicklung derartiger Persönlichkeiten widerspricht den Grundinteressen des kapitalistischen Systems; denn sie würden es schnell zerstören. Wenn es sich jedoch erweisen sollte, daß eine solche Erziehung und ein entsprechendes System von Bestätigungen größere Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit ebenso wie erhöhte kritische Verantwortlichkeit und ein engeres Zusammengehörigkeitsgefühl, weniger Hektik Und bessere Gesundheit mit sich brächte, so könnte die sozialistische Gesellschaft diese Methode zur Erziehung qualitativ neuer Persönlichkeiten nutzen, systematisch planen Und entwickeln Und dadurch einen weiteren entscheidenden Baustein f ü r die Überlegenheit des Sozialismus liefern. Weiterführende Literatur W.: Der Mensch im Weltbild der Wissenschaft, Köln 1969 L.: Marxismus und Theorie der Persönlichkeit, Berlin 1972 SEGAL, J.: Rätsel des Lebens, Berlin 1973 HOLLITSCHER, W., Kain oder Prometheus, Berlin 1972 Der Mensch und das Leben, Eine Enzyklopädie der biologischen Wissenschaften, Bd. 5—8, Leipzig/Jena/Berlin 1967/68 HOLLITSCHER, SEVE,
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) In diesem Zusammenhang ist interessant, daß der amerikanische Psychologe B R O N F E N BRENNER in seinem vielgelesenen Buch „Zwei Kindheitsweiten — USA und UdSSR" (1970) dem aggressiven Wettbewerbsgeist der amerikanischen Vorschul- und Schulerziehung den Geist gegenseitiger Zuneigung und Zusammenarbeit der sowjetischen Pädagogik gegenüberstellt
Mensch-Umwelt-Beziehungen aus der Sicht der Anthropologie HEBBEET
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Die biologische Struktur des Menschen hat sich im Verlauf von Millionen Jahren in enger Wechselwirkung mit der natürlichen Umwelt entwickelt. I n der jüngeren Menschheitsgeschichte veränderte der Mensch seine Umwelt zunehmend, aber zunächst doch nur sehr begrenzt. Heute verfügt er über technische Voraussetzungen, die es ihm in einem nicht gekannten Ausmaß gestatten, über die Erde hinaus seinen Lebensraum zu modifizieren. Durch die wissenschaftlich-technische Revolution wurde es möglich, daß der Mensch nicht mehr nur symbolisch nach den Sternen greift. Nicht nur dubiose Futurologen, sondern auch renommierte Wissenschaftler konzipieren atemberaubende Zukunftsbilder von der Umgestaltung der Erde und unserer Nachbargestirne. Meist mit einem Unterton des Bedauerns wird dabei häufig festgestellt, daß die unter bestimmten Umweltverhältnissen historisch entstandene biologische Struktur des Menschen bei der Verwirklichung der Pläne ein Hemmnis sein werde und teilweise heute bereits sei. Es gibt jedoch Biologen, die darin keine prinzipielle Schwierigkeit sehen und bereit sind, den Menschen künftigen Anforderungen entsprechend biologisch zu verändern. Der langsame und schwerfällige Prozeß der biologischen Evolution soll durch rasch wirksame Eingriffe etwa des „Geningenieurs" ersetzt werden, der den Menschen nach Maß schaffen soll. Man glaubt, nur auf diese Weise mit der Bevölkerungszunahme, der angeblich immer bedrohlicher werdenden genetischen Degeneration der Menschheit und anderen Problemen fertig zu werden. Nicht selten wird die Meinung vertreten, daß nur durch eine gezielte Anpassung der biologischen Struktur des Menschen an die Technik und Zivilisation deren weiterer Fortschritt und damit die Zukunft der Menschheit garantiert werden könne. Es ist nicht nur eine Illusion, die Menschheitsprobleme allein mit biologischen Programmen bewältigen zu wollen, sondern ein gefährlicher Irrtum. Es reicht nicht aus, derartige Programme einfach zu ignorieren; denn manches von dem, was da propagiert wird, ist heute bereits prinzipiell machbar oder wird über kurz oder lang methodisch praktikabel sein. Zumindest im Hinblick auf Teilfragen werden wir in Zukunft nicht um die Entscheidung herumkommen, den Menschen durch eine entsprechende Manipulation an biologisch nicht angepaßte Umweltverhältnisse anzugleichen oder — möglicherweise auf Kosten eines weiteren technischen oder sonstigen Fortschritts — die Umwelt entsprechend den biologischen Gegebenheiten des Menschen zu gestalten. Welche Antwort spätere Generationen auf diese Frage geben werden, kann heute noch niemand sagen. Bis auf weiteres können wir jedoch entsprechend unserem
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Wissensstand, in Kenntnis der gesellschaftlichen Bedingungen auf der Erde und auf Grund unserer sozialistischen Auffassung von der Würde des Menschen eine biologische Manipulation mit dem Ziel einer rationelleren Nutzung bzw. Gestaltung unserer Umwelt nicht verantworten. Eine biologische Manipulation dürfen wir nur im Sinne einer individuellen Therapie medizinisch-pathologischer Zustände dulden. Die technische Ausbeutung der Naturschätze und die Eingriffe in die Umwelt haben Dimensionen angenommen, die nicht nur zum Nachdenken über das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt anregen, sondern auch zum Handeln zwingen. Der Umweltschutz ist weltweit zu einem Problem ersten Ranges geworden, das oftmals nicht ohne Emotionen diskutiert wird. Entweder man verdammt den technischen Fortschritt nach A r t der Bilderstürmer oder aber verfällt einem Wissenschaftsaberglauben, der ohne Skrupel zu einer hemmungslosen Anwendung aller technischen Möglichkeiten verführt, weil die tatsächlich vorhandenen Probleme negiert oder verniedlicht werden. Daß dabei mehr oder weniger vordergründig sehr handfeste ökonomische Interessen im Spiel sind, bedarf keiner ausdrücklichen Erläuterung. E s ist zweifellos eine wichtige Aufgabe der Wissenschaft, die in der Öffentlichkeit in Gang gekommene Diskussion über die Mensch-Umwelt-Beziehungen zu entmythologisieren Und ins rechte Licht zu rücken. Ausgangspunkt muß dabei die
Abb. 7 Lärmbelästigung, Luftverschmutzung und Stressituationen, wie sie z. B. im Straßenverkehr auftreten, sind nur einige Probleme der Mensch-Umwelt-Beziehungen
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Frage sein, in welchen konkreten Beziehungen das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt gestört ist und wie wir mit den heute zur Verfügung stehenden Mitteln Und Möglichkeiten diese Disharmonien beseitigen und künftig verhindern können. Diese Frage muß so allgemein aufgefaßt werden wie sie formuliert ist; denn es wäre kurzsichtig, die Umweltproblematik auf die Wasserverseuchung, die Luftverschmutzung, den Raubbau am Boden und die Lärmbelästigung zu reduzieren. Natürlich ist es richtig und dringend notwendig, daß endlich dem bedenkenlosen Umgang mit dem Wasser und der Luft ein Ende gesetzt wird. Es darf aber dabei nicht übersehen werden, daß es eine Vielzahl anderer Störungen der Mensch-Umwelt-Beziehungen gibt, die zwar meist weniger spektakulär und offensichtlich, aber deshalb nicht weniger bedeutsam sind. Die Gesamtproblematik der MenschUmwelt-Beziehungen geht weit über den Umweltschutz hinaus.
Der Mensch — ein biologisches Wesen Wenn man die Mensch-Umwelt-Beziehungen aus der Sicht der humanbiologisch orientierten Anthropologie betrachtet, muß zunächst Klarheit darüber bestehen, daß der Mensch ein biologisches und gesellschaftliches Wesen zugleich ist. Dieser objektiv bestehende Zusammenhang hat seine Ursache in der Entstehungsgeschichte des Menschen und darf nicht aus dem Auge verloren werden, wenn man nicht Gefahr laufen will, in einen einseitigen Biologismus zu verfallen. Ebenso können aber auch die Gesellschaftswissenschaften von den realen biologischen Gegegebenheiten des Menschen nicht absehen, wenn sie sich nicht der Spekulation schuldig machen wollen. Die Äußerung von O R T E G A Y G A S S E T : „Der Mensch hat keine Natur, was er hat, ist Geschichte" ist ebenso falsch, wie die Ansicht von D A R L I N G TON: „Die Erbsubstanzen, die in den Chromosomen enthalten sind, bilden die stoffliche Grundlage, die letztlich den Lauf der Geschichte bestimmt". Die Evolution des Menschen ist nur dann richtig zu verstehen, wenn die biologischen und gesellschaftlichen Prozesse in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit analysiert und die bestehenden Rückkopplungen aufgedeckt werden. Man wird dann auch nicht zu der Meinung kommen können, die biologische Evolution des Menschen sei mit dem Auftreten des Homo sapiens beendet und seitdem durch die gesellschaftliche Entwicklung abgelöst. Natürlich ist nicht zu übersehen, daß im Verlauf unserer Vergangenheit die Evolution zunächst ausschließlich biologische Aspekte aufwies und daß dann zunehmend eigengesetzliche gesellschaftliche Prozesse an Bedeutung gewonnen haben, die sich mit biologischen Kategorien nicht hinreichend erklären lassen. Aber diese Soziogenese vollzog sich und vollzieht sich noch heute nicht losgelöst vom biologischen Substrat, wie auch die Dynamik der biologischen Struktur des Menschen nicht zum Stillstand kommt; denn ein solcher Zustand wäre gleichbedeutend mit dem biologischen Tod. Die weitere Zukunft der Menschheit hängt ganz wesentlich von ihrer künftigen gesellschaftlichen Entwicklung ab. Es wäre aber gefährlich, davon auszugehen, daß der gesellschaftliche Fortschritt keine Rücksicht auf die biologische Struktur des Menschen zu nehmen brauche; denn nicht alles, was theoretisch machbar ist,
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kann vom Menschen physisch und psychisch verkraftet werden. Diese Tatsache hat sich auch bis zu gewissen Futurologen herumgesprochen, die hieraus aber die angebliche Notwendigkeit ableiten, daß der Mensch mit Hilfe der modernen Genetik biologisch entsprechend verändert Und angepaßt werden müsse, damit er seiner eigenen Entwicklung nicht im Wege stehe. Da heute noch niemand auch nur annähernd überblicken kann, welche vielseitigen Folgen eine genetische Manipulation der Menschheit haben würde, wäre allein schon aus diesem Grund ein solches Vorgehen nicht zu verantworten. Die Alternative hierzu ist aber keineswegs die Resignation. Die bestehenden biologischen Möglichkeiten des gegenwärtigen Menschen werden mit Sicherheit erst zu einem Bruchteil genutzt, und für die weitere Entwicklung der Menschheit stehen noch Ungeahnte Potenzen zur Verfügung. Es kommt darauf an, die vorhandenen Anlagen zu erkennen Und zur Entfaltung zu bringen. Da alle Merkmale durch das Zusammenspiel zwischen Erbe und Umwelt realisiert werden, gilt es, Diskrepanzen zwischen den biologisch-psychischen Veranlagungen Und der Daseinsgestaltung zu verhindern; denn eine optimale Merkmalsentwicklung ist nur unter optimalen Umweltbedingungen möglich, wie andererseits Umweltverhältnisse, welche die genetisch determinierte Reaktionsfähigkeit über- oder unterfordern, zwangsläufig zu Fehlleistungen, Krankheit oder Tod führen. J e mehr Menschen auf dieser Erde nicht mehr ausschließlich Objekt gesellschaftlicher Klassen- oder andersartiger Gruppeninteressen sind, sondern bewußte und aktive Gestalter ihres Daseins werden, um so notwendiger ist es, die Beziehungen des Menschen zu seiner Umwelt auch Unter diesem Aspekt zu betrachten. Eine der Hauptaufgaben der Humanwissenschaften besteht darin, das vielschichtige und äußerst dynamische Beziehungsgefüge, in dem der Mensch steht, durchsichtiger zu machen. Dabei geht es aber nicht Um das Hervorbringen von Wissen um seiner selbst willen, sondern Um ein auf „Machenkönnen" gerichtetes Wissen, das ein wissendes Beherrschen der Natur ermöglicht. Unter unseren sozialistischen Gesellschaftsbedingungen bedeutet das, daß die Erforschung der Umweltbeziehungen des Menschen nicht einseitig auf seine Leistungserhöhung abzielt, sondern daß zugleich eine Steigerung des Wohlbefindens angestrebt wird.
Erforschung der biologischen Variabilität des Menschen — eine wesentliche Aufgabe der Anthropologie Zur Problematik der Mensch-Umwelt-Beziehungen in dem umrissenen Sinn hat die Anthropologie einen ganz wesentlichen Beitrag zu leisten. Die biologische Orientierung der Anthropologie führt allerdings dazu, daß sie diese Beziehungen auch nur Unter ganz bestimmten Aspekten Und keineswegs umfassend zu analysieren vermag. Im Gründe genommen gibt es keine Wissenschaftsdisziplin, die zuständig oder in der Lage wäre, das Gesamtgefüge der Mensch-Umwelt-Beziehungen hinreichend zu untersuchen, weil es eigenartigerweise keine Disziplin gibt, die das wichtigste Objekt, das die Wissenschaft kennt, in seiner Komplexität zum Gegenstand hat. Von den vielen Einzelwissenschaften, die sich mehr oder weniger direkt
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mit dem Menschen befassen, hat aber die Anthropologie eine besonders ausgeprägte integrative Funktion, die gerade für die Klärung der Beziehungen des Menschen zu seiner Umwelt eine ganz besondere Bedeutung hat. Das Kernproblem der Anthropologie besteht in der Erforschung der gruppenspezifischen biologischen Variabilität des Menschen im Bereich des Normalen. Dabei hat die Anthropologie nicht nur die Varianzen zu erfassen, die in Vergangenheit und Gegenwart bei den verschiedenen regionalen Gruppen bestanden bzw. bestehen, sondern sie hat sich auch mit der Variabilität der verschiedenen ontogenetischen Entwicklungsstadien, einschließlich der Geschlechtsausprägung sowie der Unterschiedlichen Sozial- und Leistüngsgrüppen, zu beschäftigen. Eine Variabilitätsforschung, die wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht werden will, kann sich aber nicht auf die Erfassung Und Systematisierung der Varianten beschränken ; sie muß auch der Frage nach den Ursachen und den Bedingungen der Variabilität nachgehen. Das heißt mit anderen Worten, daß Anthropologie ohne Genetik heute nicht mehr denkbar ist. Dabei reicht die Humangenetik im engeren Sinne für die Ursachenanalyse nicht aus. Wenn z. B. L E N Z in seiner „Medizinischen Genetik" (1970) die Humangenetik als die Wissenschaft bezeichnet, „welche den erblichen Anteil an der Entstehung der menschlichen Unterschiede zu erkennen sucht", und er weiterhin sagt, „Gegenstand humangenetischer Forschung sind damit alle Unterschiede zwischen Individuen oder Gruppen, deren rein exogene Entstehung nicht ohne weiteres klar ist", dann erhebt sich mit Recht die Forderung nach einer die Humangenetik ergänzenden Umwelt- oder Milieuforschung. Es gibt allerdings keine von genetischen Strukturen völlig unabhängigen biologischen Merkmale oder Prozesse. Selbst bei einer durch Unfall verursachten Knochenfraktur ist zumindest der Heilungsprozeß von individuell verschiedenen genetischen Faktoren abhängig. Die Humangenetiker im engeren Sinn konzentrieren ihr Augenmerk aber meist auf die genetischen Strukturen sowie deren Auswirkungen und betrachten — besonders bei kompliziertem Erbverhalten — die Umweltfaktoren oft nur sehr undifferenziert. Der humangenetisch orientierte Anthropologe hingegen ist eher geneigt, die beiden Faktorenkomplexe gleichrangig zu behandeln.
Grenzen der genetisch bedingten Reaktionsfähigkeit sind unzureichend bekannt Schon seit M E N D E L ist bekannt, daß nicht Merkmale oder Eigenschaften, sondern Anlagen vererbt werden. Was von einer Generation an die nächste weitergegeben wird, sind genetisch wirksame Strukturen, die in einem Zusammen- und Wechselspiel mit Umweltfaktoren den Phänotyp hervorbringen. Die Umwelt beeinflußt aber nicht alle Merkmale gleichsinnig oder mit gleicher Intensität, da das Genom nicht einheitliche, sondern von Gen zu Gen unterschiedliche Reaktionsmöglichkeiten offenläßt. J e nach der Breite der genetischen Reaktionsmöglichkeiten sprechen wir von mehr oder weniger ümweltstabilen oder umweltlabilen Merkmalen. Im Regelfall gibt es im Hinblick auf modifizierende Umwelteinflüsse einen
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größeren oder kleineren Bereich, der physiologisch normale Reaktionen zuläßt. Darüber hinaus gehende Umwelteinflüsse führen aber entweder zu keinerlei weiteren Merkmalsveränderungen oder aber zu physiologisch abnormen Prozessen oder schließlich zum Zusammenbruch der Reaktion. Das bedeutet, daß Merkmale in
Abb. 8
Die extremen körperlichen und psychischen Belastungen, denen Kosmonauten ausgesetzt sind, lassen Rückschlüsse auf die menschliche Leistungsfähigkeit zu
keinem Fall durch Umwelteinflüsse unbegrenzt manipulierbar sind Und daß bei einer Umwelt, die dem Normalbereich der genetisch bedingten Reaktionsfähigkeit nicht adäquat ist, pathologische Veränderungen zu erwarten sind. Die Frage, inwieweit die intraindividuelle oder gruppenspezifische Varianz durch die Umwelt
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beeinflußt oder beeinflußbar ist, hat deshalb außerordentliche Bedeutung für die Klärung der Mensch-Umwelt-Beziehungen. Allerdings können dabei logischerweise weder der individuelle Gesamtphänotyp noch die Umwelt als Ganzes betrachtet werden, sondern man muß beide in ihre Einzelfaktoren aufgliedern. Auch muß davon ausgegangen werden, daß unterschiedliche Genotypen auf den gleichen Umweltfaktor verschieden reagieren. Selbst der gleiche Mensch reagiert z. B . in verschiedenen Altersstadien auf gleiche Umweltfaktoren unterschiedlich, da sich die Umwelteinflüsse — abgesehen von mutagenen Agenzien — nicht uhmittelbar auf die Genstrukturen, sondern auf die Genprodukte auswirken. Das Genom ist aber nicht in seiner Ganzheit ständig aktiv.
Abb. 9 Die Ermittlung der potentiellen intellektuellen Leistungsfähigkeit eines Menschen ist ein bisher noch nicht befriedigend gelöstes Problem
Die Grenzen der genetisch bedingten Reaktionsfähigkeit des gesunden Menschen lassen sich methodisch nur schwer erforschen. Solche Experimente würden extreme Belastungen zahlreicher Versuchspersonen bis in den Grenzbereich pathologischer Zustände hinein erforderlich machen, die sich zumindest dann von vornherein verbieten, wenn man irreversible Schäden nicht ausschließen kann oder wenn der Versuch in irgendeiner Weise gegen die Würde des Menschen verstößt. Selbst wenn sich etwa Astro- oder Aquanauten freiwillig extremen Bedingungen aussetzen lassen, um die Grenzen der Belastungsfähigkeit auszuloten, oder wenn Leistungssportler überfordert werden, erhebt sich die Frage, ob sich der kontrollierende Arzt nicht der fahrlässigen Körperverletzung schuldig macht, wenn Schäden entstehen.
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Der Sportarzt, j a wahrscheinlich aüch mancher Betriebsarzt, befindet sich in einer ähnlichen Situation, wenn er Belastungen gutheißt, deren Effekte er nicht voraussehen kann. Gewisse Aufschlüsse über die Grenzen der Reaktionsfähigkeit geben ungeplante Notsituationen, wenn es gelingt, retrospektiv die Einzelfaktoren zu analysieren, wie auch Krankheitszustände diesbezügliche Rückschlüsse zulassen. Meist gibt es in solchen Fällen aber zu viele schwer- oder nichtfaßbare Randbedingungen, so daß die Ergebnisse nicht ohne weiteres auf Normalzustände und auf gesunde Personen übertragbar sind. Die Kenntnis der individuellen Grenzen der genetisch bedingten Reaktionsfähigkeit, wie sie durch die besprochenen Möglichkeiten erworben werden kann, ist natürlich von prinzipiellem wissenschaftlichem Interesse; in der Praxis hat sie jedoch nur in Sonderfällen Bedeutung, da nur relativ wenige Menschen in extreme Umweltsituationen kommen. Dies gilt aber nicht ohne weiteres für psychische Merkmale. Hier wäre es sicher von Vorteil, wenn zumindest der obere Grenzbereich etwa der individuellen intellektuellen Leistungsfähigkeit rechtzeitig experimentell ermittelt werden könnte, um durch entsprechende pädagogische Maßnahmen die individuellen Anlagen zu voller Entfaltung bringen zu können. Aber vorerst gibt es hier noch eine Menge theoretischer und praktischer Schwierigkeiten, um die potentielle intellektuelle Leistungsfähigkeit zu ermitteln. Auch wäre ein beträchtlicher pädagogischer Aufwand erforderlich, wenn man die Förderung nicht auf bestimmte, besonders aussichtsreiche Gruppen beschränken wollte, wodurch dann wiederum brisante gesellschaftliche Und ethische Probleme aufgeworfen würden. Für zahlreiche praktische Belange würde eine hinreichende Kenntnis der durchschnittlichen Reaktionweise auf bestimmte gegebene Umweltfaktoren bei klar Umrissenen Personengruppen ein beträchtlicher Gewinn sein. Norm werte, die allein aus Mittelwerten bestehen, haben aber nur eine sehr eingeschränkte Verwendbarkeit. Erst wenn auch die entsprechenden Streuwerte, die Fehlergrenzen und möglichst auch der Erb- und Umweltanteil am Zustandekommen der Merkmalsvariabilität bekannt sind, erhalten Normwerte ihre volle Aussagekraft. Die leider weit verbreitete These von der Stagnation der biologischen Evolution seit dem Auftreten des Homo sapiens macht es dem Nichtanthropologen oft schwer zu begreifen, daß es über die Haut-, Haar- Und Augenfarbe hinaus auch heute noch beträchtliche Unterschiede in vielen biologischen Merkmalen zwischen den verschiedenen Populationen — selbst auf engstem Raum, auch innerhalb der D D R — gibt Und daß deshalb anthropologische Parameter nicht unbesehen von einer Population auf andere übertragen werden können. Ebenso verbietet die Dynamik biologischer Merkmale die Übertragung von Ergebnissen der anthropologischen Variabilitätsforschung von einer Generation auf die andere. E s sei hier nur an das Akzelerationsphänomen unserer Tage erinnert, das sehr deutlich demonstriert, wie tiefgreifend und vielseitig der Mensch auf veränderte Umweltverhältnisse innerhalb kurzer Zeit biologisch zu reagieren vermag. Die Akzeleration ist auch ein Beweis für die engen Wechselwirkungen zwischen biologischen und gesellschaftlichen Veränderungen; denn der biologische Prozeß wird durch eine komplexe gesellschaftlich bedingte Umweltmodifikation ausgelöst und zeigt
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selbst aber wieder vielfältige Rückwirkungen auf soziale Vorgänge, Verhaltensnormen usw. Das wird deutlich, wenn man z. B. an die Vorverlegung der Geschlechtsreife bei unseren Mädchen um 3 Jahre innerhalb unseres Jahrhunderts mit all den damit verbundenen Konsequenzen denkt. Allein schon das soziobiologische Problem der Akzeleration verdeutlicht die Notwendigkeit einer eingehenden Erforschung der Mensch-Umwelt-Beziehung. Welche Methoden stehen uns aber nun speziell für die Aufhellung des Erbe-Umwelt-Verhältnisses bei der Realisierung humanbiologischer Merkmale zur Verfügung ? Methodische Probleme beim Erforschen der Erbe-Umwelt-Verhältnisse Inwieweit ein Merkmal erblich ist, läßt sich — wenn man von Kreuzungsversuchen absieht — nur an solchen Organismen exakt prüfen, die sich entweder ungeschlechtlich oder eingeschlechtlich, parthenogenetisch, vermehren oder bei denen eine strenge Inzucht durch Selbstbefruchtung möglich ist. Es sei hier nur an die klassischen Experimente mit dem Salinenkrebs oder mit den reinen Linien der Bohne oder den Standortvarianten des Löwenzahns erinnert, die wesentliche Einblicke in die modifikatorische Wirkung der Umwelt erbracht haben. Die wichtigste Voraussetzung für solche Versuche ist die genetische Identität der verwendeten Objekte; unterschiedliche Merkmalsausprägungen können dann eindeutig auf Umwelteinwirkungen zurückgeführt werden. Beim Menschen gibt es — abgesehen von monozygotischen Zwillingen — keine Individuen, die genetisch identisch sind. Selbst bei eineiigen Zwillingen können aber somatische Mutationen oder gar Genommutationen zu genetischen Unterschieden führen. Bekanntlich gibt es eineiige Zwillinge, die verschiedengeschlechtlich sind. Wenn man von diesen Sonderfällen absieht, was in den meisten Fällen ohne weiteres gerechtfertigt ist, zählen in der Humanbiologie Zwillingsuntersuchungen zu den wichtigsten Möglichkeiten, um die jeweiligen Erb- und Umweltanteile bei der Merkmalsmanifestation zu erfassen. Am aufschlußreichsten für die Erbe-Umwelt-Problematik sind Untersuchungen an eineiigen Zwillingspaaren, die von Geburt an unter verschiedenen Umweltbedingungen aufgewachsen sind. Aber selbst bei ihnen kann man nicht davon ausgehen, daß die Intrapaardifferenz Aufschluß über den maximal möglichen, oder auch über den durchschnittlich für die Gesamtmenschheit zutreffenden modifikatorischen Einfluß der Umwelt gibt. Die meisten bisher untersuchten Zwillingsserien stammen aus bestimmten Populationen mit charakteristischen, begrenzt variierenden Umwelteinflüssen, und sie ermöglichen deshalb auch nur eine Aussage über die Auswirkungen dieser speziellen Umwelt. Voraussetzung für eine derartige Aussage ist, daß die untersuchten Zwillingspaare für die Gesamtheit der Bevölkerung repräsentativ sind, was aus begreiflichen Gründen bei getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen schon zahlenmäßig meist Schwierigkeiten bereitet. Hinzu kommt noch, daß derartige Zwillinge oft in einer besonderen sozialen Situation leben und deshalb eine Siebungsgruppe darstellen, bei der von der Normalbevölkerung abweichende Umweltverhältnisse bestehen.
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Bei gemeinsam aufgewachsenen eineiigen Zwillingen ist es nicht leicht, eine zahlenmäßig die Ausgangsbevölkerung repräsentierende Gruppe auslesefrei zusammenzustellen, in der die Intrapaardifferenz im Durchschnitt ebenso groß ist wie bei zufällig nach Paaren zusammengestellten Individuen aus der gleichen Population. Bei den meisten gemeinsam aufgewachsenen eineiigen Zwillingen sind die Umweltdifferenzen geringer als zwischen nicht verwandten Personen. Gelingt es, die genannten Fehlerquellen weitgehend auszuschalten, dann können eineiige Zwillinge auch Aufschluß über die Gesamtvariabilität der Population geben, da sich unter idealen Voraussetzungen die Interpaarvarianz zur Intrapaarvarianz wie die Gesamtvarianz in der betreffenden Bevölkerung zu ihrem umweltbedingten Anteil verhält.
Abb. 10 Untersuchungen an Zwillingen geben Aufschluß über das Zusammenspiel von Erbund Umweltfaktoren bei der individuellen Entwicklung des Menschen
Es gibt vereinzelte Untersuchungen, bei denen gemeinsam aufgewachsene einund zweieiige Zwillinge sowie gemeinsam und getrennt aufgewachsene Geschwister und schließlich nichtverwandte Individuen verglichen wurden. Solche Untersuchungen sind natürlich sehr aufwendig, führen aber bei der Erforschung des Erbe-Umwelt-Verhältnisses zu optimalen Ergebnissen. Auf die statistischen Probleme der Zwillingsforschung soll hier nicht näher eingegangen werden. Bei derartigen Untersuchungen ist es äußerst schwierig, die wirksamen Umweltfaktoren differenziert zu erfassen, was meist dazu führt, daß die Umwelt als Block angesehen wird, ohne sie näher zu analysieren. Auch ist die Zwillingsschwangerschaft eine Besonderheit, bei der — besonders bei eineiigen
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Zwillingen — gehäuft Schwangerschaftstoxikosen, Aborte, Frühgeburten und Mißbildungen auftreten, wie auch die perinatale Sterblichkeit allgemein und die pränatale Sterblichkeit männlicher Früchte deutlich erhöht sind. Die intrauterinen Bedingungen sind bei Zwillingen andere als bei Einzelfrüchten. Ganz geringfügige Umwelteinflüsse oder die Besonderheiten der Zwillingsschwangerschaft können bei eineiigen Zwillingen zu Manifestationsschwankungen oder unterschiedlicher Ausprägung und damit zur Verschiedenheit führen; aber auch die Gemeinsamkeit besonderer intrauteriner Bedingungen, die beide Paarlinge gleich stark treffen, kann umgekehrt exogen Gleichheit bei eineiigen Zwillingen hervorbringen. Beim Untersuchen der Erblichkeit psychischer Merkmale kann wichtig sein, daß das Intelligenzniveau der Zwillinge im Durchschnitt etwas geringer ist als das der Einlinge, ihr Spracherwerb ist verzögert, und nicht selten sind sie bezüglich der Händigkeit diskordant, was sich gegebenenfalls auf die Entwicklung von Fähigkeiten und Fertigkeiten auswirkt. Das Erbe-Umwelt-Verhältnis kann man beim Menschen auch mit Hilfe von Populations- oder Verwandtenvergleichen erforschen. Beim Populationsvergleich wird in der Regel eine Gruppe von Auswanderern mit ihrer Ursprungsbevölkerung verglichen. Es muß dann aber abgesichert werden, daß die Auswanderer der Herkunftsbevölkerung wirklich entsprechen; denn möglicherweise wanderten Individuen von bestimmtem Körperbautypus oder bestimmte soziale Schichten bevorzugt aus. Es kann sich also um die Auswanderung von Siebungsgruppen handeln. Auch eine nachträgliche Auslese kann nicht ohne weiteres ausgeschlossen werden, wenn nicht alle Auswanderer oder erst die Folgegenerationen erfaßt werden. Möglicherweise erlagen bestimmte Genotypen der Umsiedlung, dem Zwang zur Neuanpassung usw. eher als andere, oder aber sie erlitten eine Vitalitätsminderung, die sich auf die Fortpflanzungsintensität auswirkte. Ähnliche Probleme bestehen auch bei Vergleichen von Populationen verschiedener Herkunft in gleicher Umwelt oder gleicher Populationen in unterschiedlicher Umwelt. Lebt die Auswanderergruppe unter extrem anderen Bedingungen als die Ursprungsbevölkerung, dann kann unter Umständen ein größerer umweltbedingter Modifikationsbereich erfaßt werden als bei Zwillingsuntersuchungen; allerdings müssen dann Selektionsfaktoren ausschließbar sein. Mit wirklich idealen Bedingungen für die exakte Erfassung der Erbe- und UmweltAnteile menschlicher Merkmale kann — genau genommen — in keinem Fall gerechnet werden. Doch auch eingeschränkte Aussagen sind bei entsprechend kritischer Verwendung für die Praxis eminent wichtig.
Das Anlagenreservoir der Menschheit ist bei weitem noch nicht ausgeschöpft Ein richtig angewandtes genetisches Grundwissen wirkt sich auf die Auswahl Und das Training von Leistungssportlern sowie anderen Menschen, von denen hohe Leistungen erwartet werden, nicht unbeträchtlich aus, wie es besonders auch für den Psychologen und Pädagogen sehr wesentlich ist. Aber auch der Arzt, vor 4
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allem der Sozial-, Arbeits- und Kommunalhygieniker, der Städteplaner und Architekt, der Soziologe und viele andere sollten eigentlich mehr von den Einwirkungsmöglichkeiten der Umwelt auf den Menschen wissen, als es gemeinhin der Fall ist. Nur so wird es gelingen, die genetisch gegebenen biologisch-psychischen Möglichkeiten des Menschen zu optimaler Entfaltung zu bringen und Diskrepanzen zwischen den Veranlagungen und der Daseinsgestaltung zu vermeiden. Dabei sei nochmals betont, daß nicht allein eine Leistungssteigerung des Menschen das Ziel der Bemühungen sein darf; eine Steigerung des Wohlbefindens muß zumindest gleichrangig angestrebt werden. Welche Reserven in dieser Hinsicht noch zu erschließen sind, soll nur durch ein Beispiel angedeutet werden, das in letzter Zeit in verschiedenen Diskussionen eine Rolle gespielt hat. Man kann wohl davon ausgehen, daß traditionell in allen hochzivilisierten Bevölkerungen die Struktur und das Verhalten der Gesellschaft von Männern geprägt werden. Dementsprechend schwierig ließ und läßt sich noch heute die Gleichberechtigung der Frau realisieren. Die meisten Engagierten sind sich — mehr oder weniger vordergründig motiviert — darüber klar, daß Gleichberechtigung nicht Gleichmachen bedeutet. E s wäre aber mit einiger Sicherheit ein beträchtlicher Gewinn für den Einzelnen und die Gesellschaft, wenn wir — über Fortpflanzung und Muskelleistung hinaus — über die Erbe-Umwelt-Anteile der psychophysischen Geschlechtsunterschiede besser unterrichtet wären und dann durch eine entsprechende Umweltgestaltung die geschlechtsspezifischen Anlagen auch gezielt fördern und einsetzen könnten. Auf diese Weise würde sich ein gewiß noch nicht voll ausgenutzter weiter Bereich des Anlagereservoirs der Menschheit ohne irgendeine Manipulation erschließen lassen. Dabei ist nicht zu befürchten, daß die Frau auf Grund „wissenschaftlich unwiderlegbarer Beweise" wieder in die Küche verbannt würde. Menschengerechte Produktion Es gibt aber auch große Komplexe der Mensch-Umwelt-Beziehungen aus der Sicht der Anthropologie, bei denen genetische Faktoren nur mittelbar von Bedeutung sind. Hierzu gehört die notwendige Anpassung von Massenbedarfsgütern, Arbeitsplätzen, Maschinen, Fahrzeugen, Werkzeugen, Einrichtungsgegenständen und der Kleidung an den Menschen — ein Arbeitsgebiet also, auf dem die Anthropologie unmittelbar produktionswirksam wird. Der Beitrag, den das Fach hier leisten kann, besteht vor allem im Feststellen der Variabilität des Körperbaues der Bevölkerung, gegliedert nach Alter, Geschlecht, Berufs- und Verbrauchergruppen sowie nach regionalen Gesichtspunkten. Für den Export macht sich in steigendem Maß auch eine entsprechende Kenntnis der anthropologischen Parameter von fremden Bevölkerungsgruppen erforderlich. Dabei spielt nicht nur die allgemeine Verbesserung des Gebrauchswertes der Industrieprodukte eine große Rolle, z. B. die Paßfähigkeit der Konfektionskleidung. Es geht u. a. auch um das Verhindern einseitiger körperlicher Beanspruchungen sowie Unphysiologischer Bewegungsabläufe und im Zusammenhang damit vorzeitiger Ermüdungserschei-
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nUngen lind teilweise nicht unbeträchtlicher Gesundheitsgefährdungen. Deshalb ist die bestmögliche Anpassung, der industriellen Umwelt und der Industrieprodukte an den Menschen nicht nur ein dringendes ökonomisches Erfordernis, sondern u. a. auch eine wesentliche Voraussetzung für eine Verbesserung der Arbeitskultur, die ja nicht nur in einer freundlichen Arbeitsatmosphäre besteht, sondern die auch die konkreten Arbeitsbedingungen und -belastungen einschließt. Eine vorbildliche und hocheffektive Zusammenarbeit zwischen Industrie und Anthropologie besteht seit einigen Jahren in der Volksrepublik Polen. Unsere In-
A b b . 11 D u r c h eine bessere A n p a s s u n g der A r b e i t s u m w e l t an die psychophysischen Gegebenh e i t e n des Menschen lassen sich noch wesentliche Leistungsreserven erschließen u n d d a s W o h l b e f i n d e n des Menschen verbessern
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Hebbeet Bach
dustrie dagegen erkennt zum Nachteil der Verbraucher bzw. Nutzer ihrer Produkte nur sehr zögernd die Möglichkeit einer derartigen Kooperation Und h a t es bisher versäumt, die forschungsleitenden Organe durch konkrete Anforderungen zu veranlassen, daß ihr eine entsprechende Und fachlich fundierte Zuarbeit geleistet wird. Insgesamt muß leider eingeschätzt werden, daß unsere gegenwärtigen konkreten Kenntnisse von den anthropologisch relevanten Mensch-Umwelt-Beziehungen f ü r viele praktische Belange noch längst nicht ausreichend sind. E s ist deshalb dringend erforderlich, durch eine entscheidende Verbesserung der entsprechenden anthropologischen Forschüngsmöglichkeiten die in diesem F a c h vorhandenen Potenzen im Interesse des Einzelnen und der Gesellschaft möglichst bald zu voller Geltung zu bringen. Umweltforschung ist letztlich immer auf den Menschen bezogen und deshalb prinzipiell ohne Anthropologie auch nicht betreibbar. Weiterführende Literatur Gbimm, H. : Grundriß der Konstitutionsbiologie und Anthropométrie, Berlin 1966 McCornick, E. J. : Anthropotechnika, Warschau 1964 Bach, H. (Hrsg.): Mensch und Umwelt aus der Sicht der Anthropologie, Jena 1974
Gestaltung der Arbeitsumwelt
HEINZ THIELE
Die Arbeit ist eine wesentliche Voraussetzung für die Existenz des Menschen. Sie ist die bewegende Kraft der Kultur und Zivilisation sowie — nach E N G E L S — der entscheidende Faktor für die Entwicklung des Menschen überhaupt. Die Arbeit ist zugleich eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Erhaltung und Förderung der Gesundheit. Gesundheit bedeutet sowohl Freisein von krankhaften Veränderungen und Funktionen als auch — der Definition der Weltgesundheitsorganisation folgend — physisches, psychisches und soziales Wohlbefinden. Dazu gehört auch volle körperliche und psychische Leistungsfähigkeit.
Abb. 12 Pflanzenanlage inmitten der Schaltwarte im Kraftwerk des Braunkohlenkombinats Espenhain
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HEINZ THIELE
Im Verlauf der Differenzierung der Arbeitsprozesse Und der zunehmenden Arbeitsteilung hat die berufliche Arbeit in ihrer Wirkung auf den Menschen außer positiven auch negative Akzente bekommen. Die negativen sind im Bewußtsein oft so vordergründig, daß zahlreiche Menschen die Arbeit vorwiegend als Mittel zur Erfüllung ihrer materiellen Bedürfnisse und weniger als höchste menschliche Und gesellschaftliche Befriedigung empfinden. Diese allgemeine Aussage über das subjektive Erlebnis der Berufsarbeit ist natürlich für die kapitalistischen Und sozialistischen Produktionsbedingungen stark zu differenzieren. Die Forderung nach höchster Arbeitsproduktivität, die auf lange Sicht zur Überlegenheit der sozialistischen Wirtschaft führen wird, ist z. Z. noch wegen des wirtschaftlichen Wettbewerbs der beiden koexistierenden Gesellschaftsordnungen mit negativen Einflüssen der Arbeit auf die Gesundheit verbunden (z. B . Lärm, körperliche Überbelastung, Zwangshaltung, häufig wiederkehrende gleichförmige Bewegungen oder Überschreitung zulässiger Grenzwerte für physikalische und chemische Noxen). Während der Kapitalist diese gesundheitsschädigenden Einflüsse nur insoweit zu beseitigen bestrebt ist, als sie seinen Gewinn vermindern, sind die Arbeiter, Ingenieure und Ärzte der sozialistischen Gesellschaft bemüht, alle negativen Einflüsse zu beseitigen. Dabei wissen sie, daß die optimale menschenbezogene Arbeitsgestaltung langfristig auch den gemeinsamen Gewinn aus der Arbeit auf ein mit kapitalistischen Methoden nie erreichbares Niveau heben wird. Derzeitig bringt es aber der harte ökonomische und gesellschaftliche Wettstreit zwischen beiden Gesellschaftssystemen mit sich, daß die Industrie nicht nur ihre Arbeitsprozesse nicht vollkommen schadfrei zu halten, sondern häufig auch ihre Emissionen und Abfallprodukte nicht von der Umwelt und den kommunalen Bereichen fernzuhalten imstande ist. So steht der Mensch als der Arbeitsgestalter und zugleich als der von den Auswirkungen der Arbeitsprozesse in allen Lebensbereichen Betroffene vor gewaltigen Aufgaben. Im folgenden wollen wir uns im wesentlichen auf Probleme der Arbeit beschränken. Die Arbeit optimal zu gestalten, ist nur soweit möglich, wie die Wirkungen der Arbeitsfaktoren auf den Menschen bekannt sind. Diese setzen sich aus Anforderungen, Bedingungen und Expositionen zusammen. Das umfangreiche Lehrgebäude der Arbeitsmedizin ist bis in die heutige Zeit analytisch-deskriptiv und empirisch bestimmt. Man kennt die Reaktionen des Organismus auf zahllose Einzelfaktoren; dieses Wissen spiegelt sich in der Praxis im wesentlichen in den entschädigungspflichtigen Berufskrankheiten wider. Sie reichen von den akuten und chronischen Vergiftungen durch Metalle und deren Verbindungen sowie verschiedene Gifte (z. B . Benzol und seine Abkömmlinge, Halogenkohlenwasserstoffe, Schwefelkohlenstoff, Kohlenmonoxid) über die vorrangig allergisch bedingten Hautkrankheiten, die Staublungenkrankheiten Silikose und Asbestose, die Überlastungsschäden am Skelett- und Bewegungssystem, die Lärmschwerhörigkeit, die Krankheiten durch ionisierende Strahlen, die humanen und vom Tier auf den Menschen übertragbaren Infektionskrankheiten, die bösartigen Neubildungen Und Tropenkrankheiten bis zu den allergisch bedingten Erkrankungen der Atmungs-
Gestaltung der
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Arbeitsumwelt
organe (Bronchitis, Asthma und Lungenemphysem). Aus Abbildung 13 ist die Zahl der 1972 neu anerkannten Fälle — zusammengefaßt nach den Hauptgruppen — zu ersehen. Im internationalen Vergleich zeugen diese Zahlen von einer guten gesetzlichen Grundlage und guten Erfassung, allerdings zugleich auch von noch 6203
2000 [~~| Männer Frauen H f l Jugendliche
1537 1500 -
126$ i m
1000
661
r
609 528
500-
4-30
W
359 289 188 75
83
107
95 0
Lärmschwerhörigkeit
Hautkrankheiten
Zoo' anthroponosen
Silikosen, Asbestosen
I i Überlastungdes Skeletts
n Infektionskrankheiten
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B5
Vergiftungen
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0
sonstige Berufskrankheiten
Abb. 13 I m J a h r 1972 wurden in der D D R 11834 Berufskrankheiten anerkannt. Nur 1 7 , 9 % davon betrafen Frauen (obwohl im gleichen J a h r 4 9 % der Berufstätigen Frauen waren!) und 1 , 5 % Jugendliche
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keineswegs befriedigenden Arbeitsbedingungen. Relativ günstig ist die Tatsache zü bewerten, daß Berufskrankheiten bei Frauen Und Jugendlichen Unter 18 Jahren infolge des besonderen Gesundheitsschutzes im Vergleich zu den Beschäftigten insgesamt weniger häufig auftreten. Die Anzahl der jährlich anerkannten Berufskrankheiten ist ein unmittelbarer Appell an die Arbeitsgestaltung sowie an die technische und medizinische Prophylaxe. Die Berufskrankheiten werden deshalb jährlich in den einzelnen Volkswirtschaftsbereichen gemeinsam mit den verantwortlichen Organen des Gesundheitswesens ausgewertet. Die Dunkelziffer der nicht erfaßten Und diagnostizierten Berufskrankheiten muß für einige Formen recht hoch eingeschätzt werden. Das gilt vor allem für bösartige Neubildungen Und eine Reihe von chronischen Vergiftungen, die kein berufskrankheitsspezifisches Symptomenbild haben, sondern sich dem arbeitsmedizinisch unerfahrenen Arzt „lediglich" beispielsweise als Bronchialkrebs, Blutarmut, Leukämie, Leberschaden, Zerebralsklerose, Polyneuritis, Spondylosis, Ekzem, chronische Bronchitis usw. darstellen, ohne daß er ihre Ursache im Beruf sucht. Trotz der genannten Einschränkung ist dieser Teil der Arbeitsmedizin in seinen Grundzügen relativ gut überschaubar. Auch in der aktuellen wissenschaftlichen Arbeit wird ihr Ursache-Wirkungs-Gefüge weiter erforscht. Hierzu gehören die zahlreichen in der chemischen Industrie und im Rahmen der Chemisierung der Volkswirtschaft angewandten Chemikalien einschließlich ihrer Umsetzungs- und Abfallprodukte, z. B. Plaste (Polyurethane, Epoxidharze, Polyester u. a.), Schädlingsbekämpfungs- und Pflanzenschutzmittel, Beryllium, Vanadiumpentoxid in mit Heizöl betriebenen Anlagen, aber auch physikalische Faktoren, wie Lärm, Ganzkörpervibration Und über Hand-Arm eingeleitete Schwingungen, elektromagnetische Felder Und Laser. Im Tierexperiment und durch Reihenuntersuchungen an Exponierten werden die Fragen der Pathogenese (toxische, immunologische, neurotrophische und sonstige Mechanismen), der Frühdiagnostik, Prophylaxe und Therapie geklärt. Mittels physiologischer Parameter, z. B. des Herz-KreislaufSystems und des Gasstoffwechsels, werden die kurzfristigen Einflüsse körperlicher Schwerarbeit, der Haltearbeit, Hitze, Kälte, Lärm, Vibration, aber auch psychischer Belastungen Untersucht. Die Ergebnisse dieser Forschungen ermöglichten es, arbeitshygienische Bekämpfungsmaßnahmen, Überwachungs- und Betreuungsrichtlinien und zulässige Grenzwerte für Chemikalien, sog. MAK (maximale Arbeitsplatzkonzentrationen in der Raumluft), sowie eine Reihe von TGL für die Messung und Bewertung des Lärms, der Beleuchtung, des Mikroklimas usw. zu erarbeiten. Bei der Prüfung der Schutzgüte von Arbeitsmitteln und Technologien sowie der Begutachtung von Berufskrankheiten konnte die Arbeitshygiene in der erforderlichen Qualität mitwirken. Seit mehreren Jahren lösen wir uns aber zunehmend aus dieser Phase der Arbeitsmedizin; denn diese im Prinzip eindimensionale bzw. monokausale Betrachtungsweise kann das stets komplexe Geschehen im Arbeitsprozeß nicht voll erfassen. Wir gehen schrittweise zur sog. synthetischen plurikausalen Forschungsarbeit über, die nur in interdisziplinärer Kooperation zwischen Arbeitsmedizinern, Hygie-
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nikern, Technikern, Ingenieuren und Psychologen geleistet werden kann. Sie erfaßt den Arbeitsprozeß komplex im Sinn der Ergonomie und berücksichtigt dabei die übrigen Lebensbereiche in angemessener Form.
Abb. 14 Mit Piatherm gefüllte Stofftüten im Traktorenwerk Schönebeck sorgen für weitgehende Schalldämmung
Das einfachste Modell für diese Betrachtungsweise ist die Tatsache, daß zwei gleichzeitig einwirkende Noxen eine ganz andere als eine einfach zusammengesetzte Wirkung haben können. Die Noxen können sich additiv, über- oder unteradditiv (bis
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zur völligen gegenseitigen Auslöschung) in Bezug auf den menschlichen Organismus verhalten. Experimentell befassen wir uns gemeinsam mit unserem sowjetischen Partner, dem Moskauer Institut für Arbeitshygiene und Berufskrankheiten, mit solchen Fragen. Die wirkliche Situation im Arbeitsleben ist natürlich noch viel komplizierter, da zahlreiche Arbeitsfaktoren und darüber hinaus Einflüsse aus übrigen Lebensbereichen auf den Menschen wirken. Wir müssen das für die Gesundheit des Menschen bedeutsame Gewicht der einzelnen Einflüsse und ihrer Kombinationen kennenlernen. Ferner kommt es darauf an, die ererbten Und erworbenen Eigenschaften des Menschen bezüglich der Neigung zu Gesundheitsschäden oder bezüglich seiner Widerstandskraft gegen bestimmte Einflüsse exakt zu definieren. In diese Forschungsaufgaben gehen nicht nur die Fragen der genetischen Konstitution, sondern auch Probleme der Motivation, des Bewußtseins Und der Leistungsfähigkeit mit ein. Kenntnisse dieser Art lassen sich nur mittels epidemiologischer Methoden gewinnen und sichern. Sie sind der Schlüssel für die menschengerechte Arbeitsgestaltung, die Auswahl für bestimmte Tätigkeiten geeigneter Personen sowie für die gesundheitsfördernde Lenkung von chronisch Kranken Und Körpergeschädigten (Schonarbeit, Rehabilitation).
Abb. 15 Funktionelle Verbindungen zwischen arbeitsmedizinischen Tauglichkeitsuntersuchungen und ergonomisch-professiographischen Analysen (die unterbrochenen Linien zeigen bei a die Nutzung epidemiologischer Ergebnisse aus arbeitsmedizinischen Untersuchungen für die physiologische und hygienische Arbeitsgestaltung, bei b die Nutzung der Arbeitsanalysen für die richtige Tauglichkeitsbewertung zum Einsatz auf den Arbeitsplätzen)
Gestaltung der
Arbeitsumwelt
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I n welcher Form die Analyse der Tätigkeit und die Analyse des Gesundheitszustandes im Sinne der Synthese zu dem Ergebnis der optimalen Arbeitsgestaltung führen, zeigt Abbildung 15. Die Arbeit nach dieser strategischen Konzeption ist nur möglich durch das exakt meßbare, zumindest aber reproduzierbare und für statistische Zwecke skalierte Beschreiben der Arbeitsanforderungen, -expositionen und -bedingungen auf der einen Seite sowie des Gesundheitszustandes und der Leistungsfähigkeit des Menschen auf der anderen Seite. Die Arbeitsplatzcharakteristik und die ergonomische Komplexanalyse (vgl. C in Abb. 15) vermögen bereits mit der jetzt im Forschungsverband Arbeitsmedizin entwickelten Methodik gute Ergebnisse bei der sozialistischen Rationalisierung zu erzielen, und zwar in allen Phasen der Rekonstruktion — von der Planung über die Projektierung bis zur Betriebspraxis. Das hat sich in einem Umfangreichen Modell des VEB Stoßdämpferwerk in Hartha erwiesen. I n diesem Betrieb war bereits ein Rationalisierüngsprojekt mit hohem Niveau der Arbeitsproduktivität erarbeitet worden, bei dem jedoch die obligatorische Konzeption zur Gestaltung sozialistischer Arbeits- und Lebensbedingungen einen isolierten Anhang zu den Grundsatzentscheidungen darstellte. Sie verwirklichte daher nicht die notwendige arbeitsmedizinische Integration. Die zum Nachholen dieser Aufgabe eingesetzte interdisziplinäre Arbeitsgruppe, der Technologen, Arbeitsingenieure, Arbeitsmediziner, Arbeitspsychologen, Arbeitsökonomen Und andere für das Projekt verantwortliche Kader angehörten, hat sich in dieser Zusammensetzung gut bewährt. In die Maßnahmepläne zur gesundheitsgerechten Arbeitsgestaltung gehörten außer den Hinweisen bezüglich Arbeitsschwere, Arbeitshaltung, anthropometrischer (die Körpermaße betreffender) und psychophysiologischer Gestaltung, Lärmbekämpfung, Beleuchtung und Farbgebung auch Hinweise für Arbeits- Und Paüsenzeiten, für die PaüsengestaltUng, die Arbeitskultur, die Arbeiterversorgung, Außenanlagen mit Kleinsportfeldern und die arbeitsmedizinische Betreuung durch Vorsorgeuntersuchungen und Dispensairebetreuung von gefährdeten Beschäftigten. Die arbeitshygienischen Bedingungen im Werk Hartha konnten auf diese Weise optimiert bzw. wesentlich verbessert werden. Nach der ersten E t a p p e der Rationalisierung näherte sich beispielsweise das Verhältnis zwischen kcal/min und Puls/ min bei verschiedenen Arbeitsgängen dem als günstig erachteten Verhältnis von 1:8, während es vorher 1:20 betragen hatte. Durch den Bau eines neuen Sozialgebäudes wurden die bisher unzulänglichen sozialen Verhältnisse — vor allem hinsichtlich der Umkleideräume und Garderoben — gründlegend verbessert. Bei der Gestaltung der Waschräume Und Garderoben wurde das sog. Schwarz-Weiß-Prinzip (getrennte Ablage der Berufs- und der Straßenkleidung) beachtet, außerdem Dusch- und Bademöglichkeiten und weitere sanitäre Einrichtungen geschaffen. Gemeinsam mit zwei weiteren Betrieben Und dem Rat der Stadt Hartha wurde ein Kindergarten für 80 Kinder errichtet. Dadurch konnten die Betriebe gleichzeitig weibliche Arbeitskräfte aus der nichtberufstätigen Bevölkerung gewinnen. Für die Reproduktion der Arbeitskraft wurden in einer Außenanlage zwei Zonen eingerichtet. In der passiven Zone, die sich direkt am Speisesaal befindet Und durch
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einen Treppenaufgang erreichbar ist, wurde ein 3 m hoher Springbrunnen gebaut, der mit Zierpflanzen umgeben ist. Die Fläche ist begehbar. Vorhandene Sitzbänke können im Sommer durch das Aufstellen von Stühlen ergänzt werden. Die Unmittelbar am Sozialgebäude gestaltete aktive Zone ist so angelegt, daß mehrere
Abb. 16 Direkt am Speisesaal des Stoßdämpferwerkes Hartha des V E B Renak-Werke befindet sich dieser Bereich der sog. passiven Erholung
Minigolf-Anlagen angebracht werden können. Sich an beide Zonen anschließende Grünflächen bieten die Möglichkeiten zur aktiven Erholung Und zum Ausruhen. In der zweiten Schicht sind diese Anlagen beleuchtet, so daß sie besonders in den Sommermonaten auch abends genutzt werden können.
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Die Pausengestaltung in der Produktionshalle selbst trägt ebenfalls zur Reproduktion der Arbeitskraft bei. In der Produktionshalle wurde ein Aufenthaltsraüm gebaut, der über eine 20stufige Treppe erreichbar ist (Bewegungseffekt!) Und in dem Kaffee, Brötchen usw. verkauft werden. Durch Koordinierung der Pausen ist es möglich, daß diese Einrichtung von allen Kollegen genutzt werden kann. Die Gestaltung der Aüßenanlagen im Werksgelände ist durch die Mitwirkung der Deutschen Bauakademie optimal gelungen. So wurden z. B. die technischen Einrichtungen für das Kesselhaus durch Anbringen von Strukturwänden in die Anlagen optisch eingefügt und die farbliche Gestaltung der Gebäude dem Charakter der Außenanlagen angepaßt. Mittels ärztlicher TaUglichkeits- und Überwachungsuntersuchungen mit den im Forschungsverband Arbeitsmedizin entwickelten arbeitsmedizinischen Siebtestprogramm war es möglich, für alle Werktätigen im Stoßdämpferwerk Hartha einen dem Leistungsvermögen entsprechenden Arbeitsplatz zu sichern, die arbeitsmedizinische Dispensairebetreuung aufzubauen und notwendige ambulante und stationäre Behandlungen einzuleiten. Alle Maßnahmen der gesundheitsgerechten Arbeitsgestaltung wurden mit den Kollegen der Produktion und der Betriebsgewerkschaftsleitung beraten, wodurch die Qualität des Projektes verbessert und zugleich die Arbeitsfreude erhöht wurde. Nach einem J a h r erfolgte die erste Auswertung. Das Rationalisierungsprojekt des Stoßdämpferwerks hatte sich bewährt. Krankenstand Und Fluktuation nahmen ab, Und die Arbeitsproduktivität stieg beträchtlich an. Die komplexe Wirkung von Arbeitseinflüssen auf den Gesundheitszustand Unter Berücksichtigung der individuellen Disposition kann nur mit Hilfe epidemiologischer Methoden geklärt werden. Die Epidemiologie befaßt sich mit der Verbreitung Und den Ursachen von Krankheiten sowie den die Gesundheit beeinflussenden Verhaltensweisen. Beispielsweise wurde mit epidemiologischen Methoden nachgewiesen, daß ein Zusammenhang besteht zwischen der steigenden psychischen Arbeitsbeanspruchung und der Zunahme der vegetativen Syndrome, des Bluthochdrucks sowie der Koronarerkrankungen bis hin zum Herzinfarkt. Die allgemeine Arteriosklerose wird ebenfalls auf erhöhte psychische Belastungen in Verbindung mit körperlicher Inaktivität zurückgeführt. I n einer WHO-Studie über die Epidemiologie der Arteriosklerose wird außer Schwefelkohlenstoff und Kohlenmonoxid der psychische Streß unter den bisher bekannten ursächlichen Faktoren genannt, während Arteriosklerose und koronare Herzkrankheiten bei physischer Aktivität signifikant seltener auftreten. Personen, die im Beruf meist sitzen, haben häufiger koronare Herzkrankheiten als solche, die körperliche Arbeit mit erhöhtem Kalorienümsatz verrichten. Körperliche Arbeit senkt im Langzeitversuch den Lipidspiegel, vor allem den Cholesterinspiegel des Blutes, der zu den Risikofaktoren für das Auftreten von Herzinfarkten zählt. Untersuchungen über Zusammenhänge zwischen psychischen Parametern und klinischen Befunden liegen kaum vor. Wir selbst haben Leitkader der mittleren und oberen Ebene eines Industriezweiges medizinisch und psychologisch im Rahmen eines Dispensairemodells untersucht. Während die Häufigkeit vegetativer Be-
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schwerden und psychischer Störungen nur wenig vom Lebensalter abhing, bestanden deutliche Beziehungen zwischen diesen Befunden Und der allgemeinen intellektuellen Leistungsfähigkeit. Leitkader, deren Leistungsfähigkeit zwar über dem Durchschnitt aller Werktätigen, aber Unter dem Durchschnitt der leistungsfähigeren Leitkader lag, zeigten gehäuft neurotische Symptome und Herz-KreislaufBefunde. Aus den Ergebnissen kann geschlossen werden, daß physische und psychische Überforderungssyndrome dann vermehrt auftreten, wenn die mit einer Tätigkeit verbundenen Anforderungen nicht ausreichend mit dem psycho-physischen Leistungsvermögen übereinstimmen. In diesem Zusammenhang muß man daran denken, daß Krankenstandsanalysen unter bestimmten Voraussetzungen dazu beitragen könnten, Beziehungen zwischen Arbeitsbeansprüchüng und Gesundheitszustand zu erhellen. Krankenstandsanalysen sind diesbezüglich noch nicht effektiv genutzt worden; sie enthalten in der primären Datendokumentation derzeitig auch noch keine entsprechend aussagefähigen Parameter. Die Analysen beschränken sich auf die Höhe des Krankenstands in den Industriegewerkschaften, Bezirken und Kreisen mit Differenzierung nach Diagnosegruppen, Alter und Geschlecht. Aus Analysen des Gesundheitszustandes in Verbindung mit Krankenstandsanalysen an über 43000 in Vorsorgeuntersuchungen 1969 bis 1971 erfaßten Werktätigen des Bauwesens konnten keine Korrelationen zwischen der Quote der krankhaften Befunde Und der Höhe des Krankenstands nachgewiesen werden. Die in Verwaltung und Bauleitung Beschäftigten mit der hohen Befundrate von 3 0 % hatten einen Krankenstand von 5,48%. E r war wesentlich niedriger als bei Verkehrstätigkeiten, bei denen die Befundrate 26%, der Krankenstand aber 9,21% betrug, oder als bei Hoch-und Tiefbauarbeitern, bei denen die Befundrate nur 22% und der Krankenstand 9,04% betrug. Zu den beiden letztgenannten Beschäftigtengruppen gehören zahlreiche wenig qualifizierte Arbeitskräfte. Bei den sog. Verkehrstätigkeiten sind das die Transportarbeiter, bei den Hoch- und Tiefbauarbeitern die sonstigen Hilfsarbeiter. Die Höhe des Krankenstands ist nach diesen Untersuchungen weniger vom Gesundheitszustand als von der Qualifikation und Verantwortung des Werktätigen abhängig. So beobachten wir auch in der Dispensairebetreuung der Berufsschullehrer und Lehrausbilder des Bauwesens bei einer Häufigkeit pathologischer Befunde bis zu 6 0 % einen unverhältnismäßig niedrigen Krankenstand. Gegenwärtig konzentrieren wir uns in der arbeitsmedizinischen Epidemiologie auf die Taüglichkeits- und Überwachungsuntersuchungen. Sie werden zur Prophylaxe benutzt Und dienen in Verbindung mit der operativen Krankenstandsanalytik zugleich der Erforschung der Arbeitseinflüsse auf die Gesundheit. Auf Grund der dabei gewonnenen Ergebnisse sollen die seit 1955 geltenden Rechtsvorschriften für ärztliche Reihenuntersuchungen Werktätiger 1975/76 gesetzlich neu geregelt werden. Die arbeitshygienischen Analysen führen teils direkt zur Verbesserung der Arbeitsprozesse und Arbeitsbedingungen in den Betrieben; sie ermöglichen aber auch Aussagen Und Kennziffern über die Beanspruchung von Organen und Organsystemen als Voraussetzung für die Taüglichkeitsbeurteilung. Im J a h r 1972 haben wir im
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Gestaltung der Arbeitsumwelt
Forschungsverband Arbeitsmedizin mit 14 Kooperationspartnern 5906 Werktätige aus 32 Betrieben in 10 Industriezweigen mit Hilfe einer einheitlichen Methodik arbeitsmedizinisch untersucht. Bei 61,2% von ihnen fanden wir von der Norm abweichende Befunde. Befunde mit Krankheitswert hatten 18,5% der Untersuchten. Tauglichkeitseinschränkungen waren bei 21,9% aller Untersuchten festzustellen (Tabelle 1), UntaUglichkeit nur bei 1%. Tabelle 1 Ergebnisse von arbeitsmedizinischen Untersuchungen des Forschungsverbandes Arbeitsmedizin an 5906 Werktätigen
Stütz- und Bewegungssystem Herz-Kreislauf Sinnesorgane Frauenkrankheiten Atmungssystem Verdauungssystem Nervensystem Fettsucht Verletzungsfolgen Haut Niere und Harnwege
abnorme Befunde in% der Untersuchten
davon % Probanden mit Tauglichkeitseinschränkung
21,8 21,1 18,6 17,1 14,1 9,9 8,2 7,4 6,9 4,9 2,8
36 32 30 11 29 17 30 19 29 31 25
Die weiteren Analysen der Tätigkeitsgrüppen ergaben eine Reihe interessanter Informationen über Phänomene der Selektion, aber auch über Erkrankungsprofile, die auf Faktoren der Arbeitsumwelt zurückgeführt werden konnten. Die hieraus abgeleiteten Hypothesen müssen noch durch Wiederholungsuntersuchungen im sog. epidemiologischen Längsschnitt überprüft und bestätigt werden. Auf jeden Fall zeigte sich erwartungsgemäß, daß so einfache lineare Beziehungen zwischen Organbelastung, Tauglichkeit Und Organschädigung, wie man sie teilweise anderenorts angenommen hatte, nicht bestehen. Der menschliche Organismus ist eben keine additiv zusammenrechenbare oder auf die Organsysteme zü dividierende Größe. Der methodische Ansatz des Forschungsverbandes Arbeitsmedizin hat sich insgesamt gut bewährt. Er verspricht nicht nur bessere Erkenntnisse über die Tauglichkeitskriterien; sondern er ist auch brauchbar zum Erforschen der sog. paraprofessionellen Krankheiten, also der häufigen sog. Volkskrankheiten, an deren Entstehen Und Verlauf berufliche Faktoren maßgeblich beteiligt sind. Weiterführende Literatur HANSPACH, H . ; HÄTTBLEIN, H.-G. U. Autorenkollektiv: W A O bei der Vorbereitung von R a t i o -
nalisierungsvorhaben, Wirtschaft (Sonderausgabe), Dezember 1973
Arbeitszeit — Freizeit — Erholung
MAX
QUAAS
Arbeit Und Erholung bilden eine dialektische Einheit. Arbeitspause, Freizeit Und Urlaub sind ein wesentlicher Bestandteil der erweiterten sozialistischen Reproduktion. K A R L M A R X schrieb dazu: „Das Maß des Reichtums der Gesellschaft im Kommunismus ist nicht die Arbeitszeit, sondern die Freizeit ihrer Mitglieder; denn die Freizeit ist nicht nur Zeit für die Erholung, für die Wiederherstellung menschlicher Kräfte, sondern auch Raum für die Entwicklung ihrer Persönlichkeit."
Abb. 17 ,,.. . denn die Freizeit ist nicht nur Zeit für die Erholung, für die Wiederherstellung menschlicher Kräfte, sondern auch Raum für die Entwicklung ihrer Persönlichkeit" (KARL MARX)
Für die Werktätigen der DDR erhöhte sich die Freizeit in den letzten Jahren erheblich durch komplexe Veränderungen in der gesellschaftlichen Produktion Und im sozialen Leben. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt, die Automatisierung der Produktion, der Einsatz der Wissenschaft als unmittelbare Produktiv-
Arbeitszeit
— Freizeit
— Erholung
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kraft und das Wachstum des kulturell-technischen Niveaus der Werktätigen erhöhten die gesellschaftliche Arbeitsproduktivität. In diesem Zusammenhang wird die für die Produktion der Existenzmittel erforderliche Arbeitszeit ständig eingeschränkt, und es wird möglich, die Freizeit zu-verlängern. Es kommt aber z. Z. weniger auf eine weitere Arbeitszeitverkürzung an, sondern darauf, die vorhandene Freizeit zu einer echten frei verfügbaren Zeit zu machen. Deshalb ist auch in der Forschung diesem Problemkreis verstärkte Aufmerksamkeit zu widmen. Andere Quellen vermehrter Freizeit sind die sozial-ökonomischen Maßnahmen, z. B. bessere Wohnverhältnisse und gute kommunale Versorgung der
Abb. 18 Auch die Weiterbildung trägt zur Entwicklung der Persönlichkeit bei
Werktätigen. Es kann angenommen werden, daß sich die frei verfügbare Zeit in den nächsten 20 Jahren auf mehr als das Doppelte erhöhen wird. Die Entwicklung der Persönlichkeit wird sehr wesentlich von der Tätigkeit in der Arbeits- und Freizeit im Rahmen der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt. Eine vielseitige Tätigkeit ist mit mannigfaltigen individuellen Beziehungen verknüpft Und stellt eine wichtige -Voraussetzung für die universale geistige Entfaltung dar. Unter anderem wächst das Niveau der kulturellen Entwicklung und der Aktivität im kulturellen Leben mit der allgemeinen Bildung und Qualifikation, mit der gesellschaftlichen Aktivität, mit der Erweiterung nichtberuflicher Tätigkeiten in der 5
Umweltgestaltung
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M A X Q U A AS
Freizeit. Alle diese Faktoren stehen miteinander in Wechselbeziehungen, so daß mit der steigenden Anzahl von Bindungen, die das Individuum eingeht, die Wirkung jedes dieser Faktoren größer wird. Dabei spielt die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben eine besondere Rolle. Neben anderen ermöglicht gerade die gesellschaftliche Tätigkeit, die individuellen Beziehungen reicher zu gestalten, Und trägt so besonders zür Persönlichkeitsentwicklung bei. Bekanntlich sind die einfache und die erweiterte Reproduktion der Arbeitskraft untrennbare Bestandteile der planmäßigen erweiterten sozialistischen Reproduktion. Auf diesem Gebiet besteht jedoch ganz offensichtlich ein Nachholebedarf in Theorie und Praxis gegenüber der Reproduktion in der materiellen Sphäre. Daher konzentrieren wir unsere Aufmerksamkeit auf folgende Bereiche: 1. Arbeitszeit einschließlich Schicht- und Nachtarbeit, 2. Arbeitspausen, 3. Freizeit und Erholung.
Arbeitszeitregelung Die Arbeitszeitregelung zählt ebenso zu den Arbeitsbedingungen wie die Umweltfaktoren Klima, Licht, Lärm und andere. Die optimale Arbeitszeit ist für den Gesundheitsschutz der Werktätigen wichtig und muß wissenschaftlich begründet und in der sozialistischen Praxis durchgesetzt werden. Eine optimale Arbeitszeitregelung trägt dazu bei, Überbeanspruchungen und vorzeitige Abnutzüngserscheinungen zu vermeiden, Expositionszeiten gegenüber schädlichen Arbeitsumweltfaktoren zu verkürzen und eine ausreichende Freizeit für die biologische Reproduktion Und für die Persönlichkeitsentwicklung zu gewähren. Bis in die Neuzeit hinein gab es kein Gesetz, das die Arbeitszeit begrenzt hätte. Besonders im Frühkapitalismus waren extrem lange Arbeitszeiten von 12 bis 14 Stünden täglich üblich. Dies gehörte zu den Ursachen für die geringe Lebenserwartung der Arbeiterbevölkerung. Erst Ende des 19. und zu Beginn des 20. J h . erkämpfte das Proletariat in den damaligen Industriestaaten Gesetze zur Begrenzung der Arbeitszeit. Die herrschenden Klassen begannen zu erkennen, daß die extensive Ausbeutung der Arbeiter durch die intensive ersetzt werden muß, um die hohen Profitraten zu gewährleisten. Die sozialistische Gesellschaft ist bestrebt, die Arbeitszeit schrittweise weiter zu verringern. Das Verkürzen der langen Arbeitszeiten hat erfahrungsgemäß vor allem bei körperlicher Arbeit und dort, wo das Arbeitstempo vorwiegend selbst bestimmt werden kann, einen produktionssteigernden Effekt, wie sich bei der Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit in unserer Republik zeigte. Als arbeitshygienisches Grundprinzip gilt dabei: Das Verkürzen der Arbeitszeit darf nicht durch eine unzumutbare Beanspruchung der Arbeitskraft erkauft werden. Durch Intensivierung der sozialistischen Volkswirtschaft sind die Voraussetzungen zu schaffen, daß in der verkürzten Arbeitszeit die gleiche oder eine höhere Arbeits-
Arbeitszeit — Freizeit — Erholung
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leistung erzielt werden kann; d. h., einerseits sind Technik, Technologie und Organisation der Produktions- und Arbeitsprozesse zu verbessern, andererseits qualifizieren sich die Werktätigen planmäßig Und entwickeln sich zu sozialistischen Persönlichkeiten. Die Arbeitszeitverkürzungen haben mit dazu beigetragen, daß die mittlere Lebenserwartung und die durchschnittliche produktive Lebensphase in den letzten Jahrzehnten weiter angestiegen sind.
Einteilung der Arbeitszeit In Anlehnung an die TGL 2860-56 (Zeitgliederung in der Produktion) unterteilen wir die tägliche Arbeitszeit nach arbeitsmedizinischen Gesichtspunkten in drei Abschnitte: Hauptarbeitszeit, Nebenarbeitszeit, Arbeitsunterbrechungen. Es ist kaum möglich, daß die Arbeitszeit restlos als produktive Zeit genutzt wird. Bei fast allen Arbeitsvorgängen treten — wenn auch in unterschiedlichem Maß — Nebenarbeitszeiten und ArbeitsünterbrechUngen auf. In der Regel sind die Nebenarbeitszeit und die arbeiterabhängigen Zeitverluste um so größer, je schwerer die körperliche Arbeit ist. Das Verhältnis der einzelnen Teile der täglichen Arbeitszeit ist außerdem noch von einer Reihe anderer Faktoren abhängig, z. B. vom Übüngsgrad, vom Alter und vom Geschlecht. Die Nebenarbeiten sind manchmal als getarnte Pausen zu betrachten, da auch bei einfachsten Arbeiten mit körperlicher und psychonervaler Beanspruchung Arbeitsunterbrechungen aus physiologischen Gründen notwendig sind. In einer zunehmenden Zahl von Berufen spielt die Arbeitsbereitschaft eine entscheidende Rolle. Zahlreiche Werktätige müssen ständig handlungsbereit sein, obwohl ihre Handlungsmöglichkeiten im Normalfall gering sind, beispielsweise beim Überwachen von hochmechanisierten und automatisierten Produktionsprozessen. Diese Form der Arbeit kann eine erhebliche psychonervale Belastung darstellen, insbesondere während der Nachtschichten. Außer seiner beruflichen Tätigkeit muß der Werktätige noch notwendige Arbeiten des täglichen Lebens durchführen — abgesehen von Nebenbeschäftigungen (Feierabendbrigaden). Hierbei müssen werktätige Frauen oft ein erhebliches Maß an zusätzlicher Arbeit bewältigen. Diese ist arbeitshygienisch allerdings anders zü beurteilen als die Berufsarbeit.
Arbeitszeit und Arbeitsintensität In einigen Bereichen der Industrie (Schmieden, Metallbe- und Verarbeitung usw.) haben wir beobachtet, daß die Arbeiter danach streben, das zu leistende tägliche Arbeitspensum schneller zu erfüllen als in der vorgegebenen täglichen Arbeitszeit. Das Bemühen jedes einzelnen um mehr Freizeit ist zwar verständlich, aber wir müssen aus arbeitsmedizinischen Gründen vor dieser Tendenz warnen. Bei der 5*
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M A X QUAAS
unangemessenen Beschleunigung der Arbeit ist der Gesamtenergieverbrauch für die gleiche tägliche Arbeitsleistung u. U. bis zu 600 kcal höher, das Herz-KreislaufSystem wird stärker belastet, und die Gesamtermüdung ist größer. Die möglichen Vorteile — mehr Freizeit, Zeitreserven zum Ausgleich für eventuelle Havarien oder schlechte Arbeitsorganisation — stehen in keinem Verhältnis zu der erhöhten Belastung. Durch Überstunden kann der positive arbeitsmedizinische Effekt der verkürzten Arbeitszeit wieder aufgehoben werden — insbesondere bei hoher Arbeitsintensität. Außerdem erreicht man in der neunten Arbeitsstunde im allgemeinen nur etwa
tägliche
Arbeitszeit
"
Abb. 19 Übersteigt die tägliche Arbeitszeit ein bestimmtes Maß, so läßt die Arbeitsleistung nach, und zwar um so mehr, je schwerer die Arbeit ist: a — linearer Zusammenhang zwischen Arbeitszeit und Leistung; 6 — tatsächliche Leistungsverteilung bei mittlerer, c — bei hoher Belastung (nach LEHMANN)
70 bis 80% der durchschnittlichen Stundenleistung des normalen Arbeitstages; in der 10. und den weiteren Arbeitsstunden sinkt die Arbeitsleistung noch weiter bzw. ist nur mit erheblicher Willens- und Kräfteanspannung zu erreichen (Abb. 19). Überstundenarbeit belastet nicht nur den Organismüs stärker; auch die täglichen Expositionszeiten gegenüber verschiedenen Noxen (Arbeitsklima, Lärm, evtl. Gifte) werden größer, das Unfallrisiko ist durch Ermüdung erhöht, der Krankenstand steigt, und die Qualität der Arbeit verschlechtert sich — abgesehen von den Auswirkungen auf den folgenden Arbeitstag.
Arbeitszeit
— Freizeit — Erholung
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Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit Mit der Verkürzung der Arbeitszeit auf 43,75 Stunden wöchentlich war es vertretbar, die 5-Tage-Arbeitswoche einzuführen — obwohl erst bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden die 5-Tage-Arbeitswoche als optimal angesehen werden kann. Zur Zeit werden einige spezielle Arbeitszeitregelungen diskutiert, z. B. die sog. gleitende Arbeitszeit. Sie hat den Vorteil, daß die Arbeitszeit weitgehend individuell festgelegt und der Phase der größten Leistungsfähigkeit angepaßt werden kann. Bei geistig-schöpferischen Arbeiten dürfte diese Form der Arbeitszeitregelung die Arbeitsleistung günstig beeinflussen. In einigen Bereichen der Produktion ist sie jedoch nicht anwendbar. Aber auch eine veränderte Wochenendregelung bei der bestehenden 5-TageArbeitswoche könnte manche Vorteile bringen. Zum Beispiel wären bei einer Arbeitszeit in der ersten Woche von Montag bis Freitag und in der zweiten Woche von Dienstag bis Samstag 14tägig drei zusammenhängende Tage Freizeit möglich. Darüber hinaus würden an zwei Tagen der Berufsverkehr und am Sonntagabend der Wochenend-Rücklaufverkehr entlastet. Schicht- und Nachtarbeit Beim heutigen Stand der Technik sind Schicht- und Nachtarbeit in vielen Betrieben unerläßlich. Der Mensch hat sich aber während der phylogenetischen Entwicklung hinsichtlich seiner anatomischen, physiologischen und psychologischen Eigenschaften im wesentlichen auf Tagesaktivität eingestellt, und seine biologischen Voraussetzungen sind heute kaum anders als vor vielen Jahrtausenden.
Abb. 20 Durchschnittliche Schwankungen des Blutzuckerspiegels bei Bettruhe innerhalb von 24 Stunden
Die Schichtarbeit beeinflußt zweifellos die Leistungsfähigkeit sowie das Arbeitsergebnis und verursacht physiologische Veränderungen im Organismus. Die Schichtarbeit wirkt jedoch nicht nur physisch auf den Organismus, sondern der Werktätige muß sie auch psychisch verarbeiten.
62
Max Quaas
Objektiv gleiche Arbeitsbedingungen können demnach inter- u n d intraindividuell — je nach Besonderheiten ihrer psychischen Verarbeitung — ganz verschiedene Einflüsse auf den Organismus und das Bewußtsein des Menschen haben. Die Analyse der Arbeitsbedingungen allein reicht daher nicht aus, um zu erklären, wie bestimmte Arbeitsbedingungen auf den Menschen wirken. Es m u ß in jedem Fall mit u n t e r s u c h t werden, wie der Werktätige seine Arbeitsumwelt, also auch den Schichtrhythmus, psychisch verarbeitet. Aus dieser Tatsache ergeben sich erhebliche theoretische und praktische Konsequenzen für künftige Forschungen über die optimale Gestaltung der Wechselschichtarbeit.
Biorhythmen und Schichtarbeit I m Zusammenhang mit der Schicht- und Nachtarbeit spielt der biologische 24S t u n d e n - R h y t h m u s (zirkadianer Rhythmus) des Menschen eine wichtige Rolle. Der menschliche Organismus hat sich im Lauf der Phylogenese an die irdischen Bedingungen, besonders an den Tag-Nacht-Rhythmus, angepaßt. Viele physiologische Parameter, z. B. Hormon- und Blutzuckerspiegel, Körpertemperatur, Herzfrequenz und Blutdruck, sind mit diesem R h y t h m u s korreliert. Das Zentralnervensystem übernimmt dabei die Koordination der physiologischen Erscheinungen. Die wesentlichen Zeitgeber für den Menschen sind die soziale Umwelt, die meteorologischen Einflüsse (z. B. der Hell-Dunkel-Wechsel und Klimaschwankungen zwischen Tag Und Nacht) sowie Nahrungsaufnahme, Schlafgewohnheiten U. a. Der menschliche Organismus bildet bedingte Reflexe auf die Zeit aus. Durch die Mehrschichtarbeit sind die Wechselbeziehungen zwischen äußeren und inneren Zeitgebern des Menschen gestört, weil in der Nacht keine vollständigen Tagesbedingungen und am Tage keine absoluten Nachtbedingungen simuliert werden können. Eine vollständige Anpassung des Menschen an die Mehrschichtarbeit ist also kaum möglich. Deshalb befindet sich der Wechselschichtarbeiter im Zustand der ständigen ,,Umanpassung". Auch pharmakologisch läßt sich der 24-Stunden-Rhythmus nur in gewissen Grenzen beeinflussen.
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18
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6 Uhr
Abb. 21 Verlauf der physiologischen Leistungsbereitschaft über 24 Stunden (prozentuale Abweichungen vom Tagesdurchschnitt nach Werten von Bjerner, Holm und Swens-
son)
Arbeitszeit — Freizeit — Erholung
63
Die Arbeitsleistungsfähigkeit und -bereitschaft zeigen normalerweise Maxima in den Vormittags- und Nachmittagsstunden und Minima in den Mittags- und Nachtstunden (Abb. 21). Bestimmte Untersuchungen lassen darauf schließen, daß der biologische 24-Stunden-Rhythmus das Produktionsgeschehen beeinflussen kann, insbesondere die Unfall- und Fehlhandlungsmöglichkeiten, sofern dem nicht durch geeignete Maßnahmen vorgebeugt wird. Bei Schicht- und Nachtarbeit kann es relativ schnell zu einem Schlafdefizit kommen, das nicht nur die Arbeitsleistungsfähigkeit verringern, sondern darüber hinaus eine Reihe von Erkrankungen zur Folge haben kann. Der hohe Anteil von Schlafstörungen bei Schicht- und Nachtarbeitern dürfte im wesentlichen folgende Ursachen haben: den Lärm (der etwa 60—70% aller Schlafstörungen verursacht), den biologischen 24-Stunden-Rhythmus sowie Helligkeits- und Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht. Bei größeren Untersuchungen in unserer Republik konnte festgestellt werden, daß die durchschnittliche Schlafdauer bei der Nachtschicht nur 6,1 Stunden, bei der Frühschicht 6,9 und bei der Spätschicht 7,6 Stunden beträgt. Diese durchschnittlichen Schlafzeiten werden aber individuell erheblich durch soziale Faktoren variiert, z. B. Arbeitsweg, Familienstand, Kinderzahl und Hausarbeit. Demgegenüber ist die echte Freizeit bei der Nachtschicht mit 4,2 Stunden pro Tag am größten, während in der Frühschicht 2,9 und in der Spätschicht nur 1,5 Stunden Freizeit registriert wurden. Die Untersuchungen ergaben aber auch, daß sich die durchschnittlichen Wegezeiten in der Spätschicht um 10%, in der Nachtschicht um 20% erhöhten. Wenn es auch hinsichtlich der gesundheitlichen Beeinträchtigungen durch Schichtarbeit noch unterschiedliche Meinungen gibt, so stehen doch die nervösen Störungen — im wesentlichen durch chronisches Schlafdefizit verursacht — im Vordergrund. Danach folgen die Krankheiten im Bereich des Magen-Darm-Kanals. Der Gesamtgesundheitszustand der Schichtarbeiter unterscheidet sich dagegen in vielen wesentlichen Parametern — z. B. Körpergewicht, 'Blutdruck, durchschnittliche Lebenserwartung, Krankenstand — nicht von dem der Tagarbeiter. Optimale Gestaltung der Schicht- und Nachtarbeit Die genannten Nachteile können durch optimale Gestaltung der Schicht- und Nachtarbeit gemildert bzw. teilweise kompensiert werden. Vor allem optimale Schichtwechselpläne, ausreichender Schlaf, Freizeit zur Erholung und zur Befriedigung individueller, sozialer, kultureller und gesellschaftlicher Bedürfnisse, sowie gute medizinische und soziale Betreuung können das Wohlbefinden und die Leistungsfähigkeit der Schichtarbeiter gewährleisten. Hinsichtlich der Gestaltung der Schichtlageperioden gibt es prinzipiell zwei Möglichkeiten : 1. Lange Schichtlageperioden von mindestens 3 bis 4 Wochen führte man ein mit der Absicht, gehäufte „Umanpassungen" des Menschen zu vermeiden. Aber der
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Abb. 42 Beispiele für enzymatische Oxidationen: links — oxidative N-Demethylierung von Aminophenazon; Mitte — oxidative O-Demethylierung von Codein; Oxidation der Methylgruppe führt zu ihrer Abspaltung (-•) als Formaldehyd; rechts — co-Hydroxylierung des n-Octans zu primärem n-Octanol
OH Abb. 43 Anilin wird in der Leber sowohl in p- und o-Aminophenol als auch in Phenylhydroxylamin umgebaut i) Das hierbei entstehende Morphin ist bereits in kleinsten Mengen für Kinder stark giftig. Deshalb dürfen Kleinkinder keinen codeinhaltigen Hustensaft erhalten
114
HOEST R E I N
Langkettige Alkane werden unterschiedlich behandelt: Im tierischen Organismus ist die Oxidation an tertiären oder — falls diese fehlen — an sekundären C-Atomen bevorzugt; für alkanmetabolisierende Mikroorganismen hingegen ist die oj-Hydroxylierung typisch (Abb. 42, rechts). Für alle Hydroxylierungsreaktionen — auch solche, die Cyclokohlenwasserstoffe (wie Cyclohexan) und kondensierte Kingsysteme (wie Naphthalin, Steroide und das kanzerogen wirkende 3,4-Benzpyren) betreffen, ist ein besonderes Enzymsystem vorhanden, das Cytochroni-P-450-System (Tab. 8). Tabelle 8 Enzymatische Umbaureaktionen von Fremdstoffen in der Leber Enzym
Art der Biotransformation
CytochromP-450-System
Hydroxylierung von aliphatischen und aromatischen Verbindungen (Arzneimitteln, Kanzerogenen, Insektiziden, natürlichen und synthetischen Steroiden, Fettsäuren u. a.) Hydrolyse von Estern und Säureamiden (z. B. Abbau und Inaktivierung von Lokalanästhetika) Reduktion von Azo- und Nitrogruppen (Azofarbstoffen, Arzneimitteln) Konjugation mit Glucuronsäure oder Schwefelsäure (Konjugation erfolgt an Fremdsubstanzen mit alkoholischer oder phenolischer OH-Gruppe und an Aminogruppen
Esterasen FlavinEnzyme Transferasen
Reduktive Vorgänge sind bei der Biotransformation seltener. Sie betreffen Azound Nitrogruppen und werden durch unspezifische Flavin-Enzyme katalysiert. Auch eine Hydrolyse (von Estern und Säureamiden) ist mit Hilfe von Esterasen möglich. Ein Analogon zur anorganischen Präzipitation ist das Eliminieren von Fremdstoffen durch Konjugation. Transferasen vermitteln die Bindung an Glucuronsäure, Schwefelsäure, Essigsäure und Aminosäuren. Für den menschlichen Organismus steht die Kopplung der Fremdstoffe an Glucuronsäure im Vordergrund (Tab. 8). In vielen Fällen ist die Konjugation der oxidativen Reaktion nachgeschaltet (Abb. 44).
Abb. 44 Biotransformation des Schlafmittels Phenobarbital (5-Athyl-5-phenylbarbitursäure, Lepinal®: Hydroxylierung des Benzolrings, anschließend Konjugationsreaktion mit Glucuronsäure
Fremdstoffabbau
im
Organismus
115
Oxidation vermindert Lipoidlöslichkeit Während die Zellmembran für größere wasserlösliche Moleküle eine Barriere darstellt, ist sie gut für lipoidlösliche Substanzen durchlässig. Diese lösen sich in den Lipoidschichten der Zellmembran und erreichen so ihren Wirkort — das Zellinnere. Es ist deshalb kein Zufall, daß die meisten biologisch aktiven Substanzen (z. B. Arzneimittel, Insektizide) sich durch hohe Lipoidlöslichkeit auszeichnen. Lipoidlösliche Xenobiotika werden aber auch — vor allem im Fettgewebe — oft über längere Zeit gespeichert; das gilt z. B. für lang wirksame Schlafmittel und Insektizide vom Typ des DDT und Hexachlorcyclohexan (Abb. 45).
Abb. 45 „Schicksal" eines Fremdstoffs im tierischen Organismus
116
HOEST REIST
Die Niere scheidet nur wasserlösliche Stoffe in größerem Umfang aus. Im Blutplasma befindliche lipoidlösliche Fremdsubstanzen werden zwar teilweise in den Nierenglomerula abfiltriert, aber durch die Membranen der Tubuluszellen weitgehend zurückresorbiert, so daß nur etwa 1—2 Prozent des ursprünglich abfiltrierten lipoidlöslichen Fremdstoffes wirklich ausgeschieden werden. Gelingt es dem Organismus, die Lipoidlöslichkeit von Xenobiotika zu vermindern und sie in wasserlösliche umzuwandeln, so läßt sich die Durchlässigkeit der Zellwände für sie ebenso zurückdrängen wie ihre Speicherung. Gerade das aber wird durch Oxidation meist erreicht (vgl. Abb. 42 und 43). Abhaurate bestimmt Wirksamkeit Biotransformation bedeutet nicht nur beschleunigtes Ausscheiden, sondern damit auch zeitlich begrenzte Wirkung des Xenobiotikums (Tab. 9). Tabelle 9 Die unterschiedlich lange Wirkung zweier injizierbarer Narkotika wird durch ihre Abbaugeschwindigkeit bzw. Oxidierbarkeit bestimmt Thiopental
Hexobarbital
Oxidation durch Mikrosomen
langsam
schnell
Narkosedauer
lang
kurz
Die Wirkungsdauer der Schlafmittel z. B. ist nur für einige Stunden oder für die Zeit des Einschlafens erwünscht. Gebräuchliche Schlafmittel vom Typ der Barbiturate würden aber einige Monate im Organismus verbleiben, wenn sie nicht durch Einbau polarer Gruppen in wasserlösliche Metaboliten umgewandelt und rasch mit dem Harn ausgeschieden würden. Das Chinin bliebe ohne Biotransformation theoretisch 100 Jahre (Halbwertszeit!) im Organismus. Die Biotransformation senkt die Halbwertszeit beim Menschen auf etwa 6 Stunden. Art und .Geschwindigkeit der Biotransformation sind von Art zu Art recht unterschiedlich. Darüber hinaus zeigen sich erhebliche individuelle Differenzen, welche vom Alter, von der Ernährung (insbesondere ist der Abbau bei Eiweißmangel verzögert) und auch vom Gesundheitszustand des Organismus abhängen. Mit der unterschiedlichen Abbaugeschwindigkeit für Arzneimittel hängt deren individuell verschiedene Wirkung zusammen. Deshalb ist die Kenntnis der Abbaurate für das Dosieren eine wichtige Größe. Da aber die wirksame Konzentration im Blutplasma (der Plasmaspiegel), die im wesentlichen durch die Abbaurate bestimmt wird, in den meisten Fällen nicht gemessen werden kann, bleibt die individuelle Abbaurate zwangsläufig unberücksichtigt. Verzögert wird der Abbau auch, wenn die am Fremdstoffabbau beteiligten Enzyme in ungenügender Menge vorhanden sind.1) In vielen Fällen befinden sich gleich1
) Enzymmangel kann eine genetische Ursache haben, vgl. REIN, H.: Proteine in der Medizin, Wiss. u. Fortschr. 22 (1972) 11, S. 483
Fremdstoffabbau
im
Organismus
117
zeitig mehrere F r e m d s t o f f e im Organismus, z. B. bei — bewußt oder u n b e w u ß t — kombinierter Anwendung verschiedener Arzneimittel. Bedürfen diese f ü r die Biotransformation des gleichen f r e m d s t o f f a b b a u e n d e n Systems, so besteht die Gefahr, d a ß die E n z y m k a p a z i t ä t nicht ausreicht. Die K o n k u r r e n z der F r e m d stoffe um das a b b a u e n d e System k a n n W i r k u n g s d a u e r u n d -intensität bestimmter Wirkstoffe bedeutend ansteigen lassen u n d d a m i t toxische E f f e k t e auslösen. Der Abbau derjenigen Substanz wird verzögert sein, deren Bindungsaffinität zum E n z y m geringer ist. Auch eine Substanz in besonders hoher K o n z e n t r a t i o n k a n n einen anderen Fremdstoff vom aktiven Z e n t r u m des E n z y m s verdrängen. So bindet sich Alkohol ebenfalls an das f r e m d s t o f f a b b a u e n d e E n z y m s y s t e m . Da er in der Leber in hoher Konzentration vorliegen k a n n , verdrängt er andere Wirkstoffe und verzögert ihren Abbau. D a r a u s erklärt sich die Unverträglichkeit verschiedener Arzneimittel, z. B. bestimmter Schlafmittel, mit gleichzeitigem Alkoholgenuß.
Giftung Bei der Vielfalt der chemischen S t r u k t u r e n der Xenobiotika leuchtet jedoch ein, d a ß die Biotransformation nicht in allen Fällen zu Stoffen mit geringerer biologischer W i r k u n g f ü h r t . Bisweilen entstehen durch die Biotransformation aus biologisch unwirksamen Verbindungen erst die wirksamen, oder aus biologisch wirksamen Substanzen entstehen ebensolche mit anderen Wirkungsqualitäten. Einige Arzneimittel werden z. B. erst im Stoffwechsel in die biologisch a k t i v e n Metaboliten umgewandelt. Auf diese Weise k a n n es s t a t t zum E n t g i f t e n zum Vergiften kommen, z. B. bei der in Abbildung 43 erwähnten Oxidation des Anilins. D a s hierbei e n t s t e h e n d e P h e n y l h y d r o x y l a m i n ist ein starkes Blutgift, das die Oxidation des zweiwertigen Eisens im r o t e n Blutfarbstoff zum dreiwertigen Eisen katalysiert (Methämoglobinämie). Dieses Hämoglobinderivat bindet den Sauerstoff nicht mehr, u n d d a m i t fällt die Sauerstoffversorgung der Organe aus.
Im endoplasmatischen Retikulum I m Prinzip verfügt jede Körperzelle über die Fähigkeit, Xenobiotika u m z u b a u e n . Hauptsächlich jedoch werden die Fremdstoffe in der Leber abgebaut. D a s erklärt auch, d a ß bei schweren, die F u n k t i o n dieses Organs einschränkenden Lebererkrankungen F r e m d s t o f f e verzögert a b g e b a u t werden. D a r a u s erwächst insbesondere die Gefahr, daß sich Arzneimittel im Organismus anreichern — z. B. Aminophenazon oder das Psychopharmakon Meprobamat. Nach dem U m b a u liegen die Xenobiotika in der Regel in einer f ü r die Ausscheidung durch die Niere geeigneten Form vor (Abb. 46).
HORST R E I N
übrige O r g a n e
Xenobiotikum im Blutplasma
.Kreislauf* der lipoid löslichen Xenobiotika
im Glomerulum Rüdediffusion im Tubulus
Ausscheidung mit der Galle in geringerem Ausmaß (betrifft vor allem konjugierte Verbindungen)
Ausscheidung wasserlöslicher
Metaboliten im Horn
Abb. 46 Die Leber nimmt beim Umbau von Fremdstoffen in ausscheidbare wasserlösliche Metabolite eine Schlüsselstellung ein. Die Niere scheidet die wasserlöslichen Metabolite aus. Lipoidlösliche Fremdstoffe werden zwar in den Primärharn abfiltriert, aber in den Tubuli wieder zurückresorbiert
Fremdstoffabbau im Organismus
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f VII) und überträgt ihn schließlich auf das Xenobiotikum (VII I). Da es die mikrosomale Elektronentransportkette abschließt, ist es in seiner Funktion von den vorhergehenden Gliedern dieser Kette abhängig. Dieses Enzym wurde vor etwa 15 Jahren entdeckt. Seinerzeit stellte man fest, daß der Stoffwechsel der Lebermikrosomen — insbesondere ihre Fähigkeit, Arzneimittel zu oxidieren — durch Kohlenmonoxid gehemmt wird. Gleichzeitig mit dieser Hemmung entsteht bei 450 um eine charakteristische Absorptionsbande, nach der dieses Cytochrom benannt wurde. Offenbar wird — analog wie beim x
) Die sog. non-heme-iron-Proteine wurden in den letzten Jahren intensiv untersucht, da sie als Elektronenüberträger sowohl in der tierischen als auch in der pflanzlichen Zelle vielfältige Funktionen ausüben. Sie dienen als Elektronenüberträger bei verschiedenen Photoreduktionen, sind an der mitochondrialen Elektronentransportkette beteiligt, und auch bei der bakteriellen Stickstoffassimilation haben sie funktionelle Bedeutung. Ihre Beteiligung an Hydroxylierungsreaktionen ist für das Steroide hydroxylierende System in der Nebenniere (Adrenodoxin) und für das Campher hydroxylierende System aus Pseudomonas putida (Putidaredoxin) nachgewiesen, für das mikrosomale Elektronentransportsystem der Leber noch nicht vollständig gesichert. Charakteristisch für alle diese Proteine sind ihr im allgemeinen niedriges Redoxpotential, der Wertigkeitswechsel des Eisens während der katalytischen Aktivität und die EisenSchwefel-Bindung mit dem sog. labilen Schwefel 2 ) Welche Aufgabe dem Lipid zukommt, ist noch nicht vollständig geklärt. Nach neuesten Untersuchungen ist das Lipid für den Elektronentransfer zum P-450 notwendig; dagegen hat es auf die Bindung des Substrats an das P-450 keinerlei Einfluß. In die Abbildung 49 wurde es nicht mit aufgenommen 9
Umweltgestaltung
122
HOBST R E I N
Abb. 49 Für die oxidative Entgiftung von Fremdstoffen in den Zellen vieler Organismen ist ein Enzym verantwortlich, das die gleiche prosthetische Gruppe hat wie der rote Blutfarbstoff: das Cytochrom P-450. Dieses Hämenzym wirkt mit anderen Enzymen — einem anderen eisenhaltigen Protein (Fe-Protein), einem Flavin-Enzym (FAD) und vermutlich dem Cytochrom b 5 — zusammen, die den Energie- und Elektronentransport von den Energielieferanten NADPH und NADH zum Cytochrom P-450 vermitteln. Die Graphik veranschaulicht die derzeitige Vorstellung vom Mechanismus dieses Enzymsystems. Das Cytochrom P-450 (I) bindet den Fremdstoff (X), wobei sich die Bindungsverhältnisse zwischen dem Eisen der prosthetischen Gruppe und seinen Nachbaratomen — den N-Atomen der Hämscheibe, einer basischen Gruppe B und dem Schwefel S - einer Thiolgruppe — so ändern, daß ein Ladungswechsel des Eisens möglich wird. Dadurch kann das Enzym Elektronen (II —• I I I und V VI) und Luftsauerstoff (III —>• IV) aufnehmen, den Sauerstoff aktivieren (IV V und VI -* VII) und den Fremdstoff oxidieren (VII I). Da das Cytochrom P-450 ein Einelektronenakzeptor ist, müssen die beiden zum Aktivieren des Sauerstoffs nötigen Elektronen in getrennten Schritten zugeführt werden, wobei wahrscheinlich unterschiedliche Enzyme katalytisch wirken
Fremdstoffabbau im Organismus
123
Hämoglobin — das Kohlenmonoxid an das Hämeisen, den Bindungsort des Sauerstoffs, angelagert, was die oxidierende Funktion des Systems stört (Abb. 50). Gegenüber anderen Enzymen zeichnet sich das Cytochrom P-450 durch weit geringere Substratspezifität 1 ) aus. Es vermag Fremdsubstanzen unterschiedlichen Charakters zu oxidieren. Allerdings ist seine Anpassungsfähigkeit insofern begrenzt, als es vorzugsweise körperfremde lipoidlösliche Substanzen umsetzt. Im Organismus vorhandene hydrophile Verbindungen, wie Kohlenhydrate und Aminosäuren, werden ebensowenig gebunden wie die meisten rein lipoidlöslichen Produkte des Intermediärstoffwechsels. Am oxidativen Metabolismus körpereigener Steroidhormone (z. B. des Cholesterins), an der co-Oxidation der Fettsäuren und der Bildung ungesättigter Fettsäuren hingegen ist es wahrscheinlich beteiligt. Ob eine Substanz für das Cytochrom-P-450-Enzymsystem ein Substrat ist, hängt offenbar nicht nur von ihrer Lipoidlöslichkeit ab, sondern auch von weiteren physiko-chemischen Eigenschaften des Moleküls — etwa von seiner sterischen Struktur und von der Ladungsverteilung über das Gesamtmolekül.
Abb. 50 Kohlenmonoxid und Sauerstoff konkurrieren um den gleichen Bindungsort. Bei hoher Konzentration des Co wird dieses an das Hämeisen gebunden. Der somit blockierte Bindungsort des Sauerstoffes bedeutet gehemmte Enzymfunktion. Die CO-Verbindung hat eine intensive Absorptionsbande bei 450 nm. Starke Lichtblitze der gleichen Wellenlänge vermögen die CO-Bindung aufzubrechen
Der Oxidationsmechanismus Die molekulare Struktur des Cytochrom P-450 ist noch ungenügend erforscht. Jedoch ist seine prosthetische Gruppe mit der des Hämoglobins identisch: Ein Porphyrinring mit einem im Zentrum gebundenen Eisenatom bildet die sog. Hämscheibe 2 ). Als 5. Ligand dieses Komplexes wild eine schwach basische Gruppe des Proteins angenommen (wahrscheinlich eine Imidazolgruppe der Aminosäure Histidin), für die 6. Koordinationsstelle (auf Grund vergleichender ElektronenspinresonanzUntersuchungen) der Schwefel einer Thiolgruppe. vgl. P F E I L , W.: Biokatalyse — Merkmale und Einsatzmöglichkeiten, Wiss. u. Fortschr. 2 3 (1973) 2, S. 79 2 ) vgl. R E I N , H.: Elektronenspinresonanz, Teil II, Wiss. u. Fortschr. 23 (1973) 6, S. 254, Abb. 8a 9*
124
HORST R E I N
Dieser Komplex ist in der Lage, molekularen Sauerstoff zu binden und zu aktivieren. Dazu werden pro Sauerstoffmolekül zwei Elektronen benötigt, die je ein Reduktasesystem liefert. Ausgangspunkt der mikrosomalen Elektronentransportkette ist das energiereiche NADPH1). Es wird durch ein Flavin-Enzym dehydriert, das als prosthetische Gruppe FAD 1 ) enthält. Pro FAD-Molekül werden zwei Elektronen frei, die einzeln — vermittels des Fe-Proteins — auf das Cytochrom P-450 übertragen werden müssen. Da das Cytochrom P-450 ein Einelektronenakzeptor ist, kann bei dem Schritt (II —>• III) nur ein Elektron übertragen werden. Das für die Sauerstoffaktivierung notwendige zweite Elektron (V —s>- VI) führt — wie neuere Untersuchungen wahrscheinlich machten — ein anderes Cytochrom zu, das Cytochrom b5. Dieser Elektronenüberträger ist im endoplasmatischen Retikulum in etwa gleicher Konzentration vorhanden wie das Cytochrom P-450. Die Elektronen liefert in diesem Fall das NADH 1 ); auch hier verläuft der Elektronentransport über ein FlavinEnzym. Die Bindung des Xenobiotikums an das Cytochrom P-450 (I —> II) erzwingt für das Enzym eine Konformation, die eine Reduktion des Hämeisens durch die Reduktase (II —> III) ermöglicht2). Soll molekularer Sauerstoff an das nunmehr zweiwertige Hämeisen gebunden werden ( I I I — I V ) , so müssen die Bindungen zwischen Eisen und Schwefel oder basischem Liganden aufgespalten werden. Das erfolgt offenbar im Zusammenhang mit dem Reduktionsvorgang. Damit der Sauerstoff auf das Xenobiotikum übertragen werden kann, muß es in unmittelbarer Nähe des am Hämeisen gebundenen Sauerstoffs, in sterisch günstiger Lage, gebunden werden (II). Möglich ist auch, daß sich Xenobiotikum und Sauerstoff während des Aktivierungsvorgangs infolge einer weiteren Konformationsänderung des Enzyms derart annähern, daß der Sauerstoff übertragen werden kann. Aus Bindungsstudien ließ sich folgern, daß sich dieXenobiotika in eine nichtpolare Tasche binden. Diese ist größer, als wir sie aus Röntgenstrukturmodellen des Hämoglobins oder des Cytochrom c kennen, so daß relativ große Moleküle an das aktive Zentrum des Enzyms gebunden werden können. Da spektral zwei Gruppen von Substraten unterscheidbar sind, werden zwei Bindungsorte angenommen: Xenobiotika der Gruppe I (Hexobarbital-Typ; typische hydroxylierbare Substrate, wie Arzneimittel, kanzerogene Substanzen, Steroide) sollen sich innerhalb der Proteintasche direkt gegenüber dem am Hämeisen befindlichen Sauerstoff binden; die Xenobiotika der Gruppe I I (Anilin-Typ; aromatische primäre Amine, ) NAD — Nicotinsäureamid-adenin-dinucleotid; NADP — NAD-phosphat; FAD — Flavinadenindinucleotid; NADH, NADPH und FADH — ihre Hydrierungsprodukte 2 ) Bei Substratbindung ändert sich der Spinzustand des Hämeisens. Ohne Substrat hat das Eisen einen niedrigeren Spin; dabei ist es in der Ebene der Hämscheibe angeordnet. Die Substratbindung bewirkt den Übergang in einen höheren Spinzustand, und das Eisen bewegt sich aus der Hämscheibe heraus. Der schwierige Nachweis der Änderung des Spinzustandes gelang bis jetzt nur bei dem löslichen bakteriellen Cytochrom P-450 aus Pseudomonas putida x
Fremdstoffabbau
im Organismus
125
heterocyclische Aromaten mit einem Stickstoffatom und n-AIkylamine) sollen sich auf der dem Sauerstoff gegenüberliegenden Seite der Hämscheibe anlagern. Der Vorgang der Sauerstoffakti vierung ist im einzelnen noch nicht geklärt. Postuliert wird die Bildung eines Hyperoxidanions (OjT, V) und eines Peroxidanions (07~, V I I ) durch den Ladungswechsels des Hämeisens F e 2 + - > F e 3 + + e~. Erforscht ist noch nicht, ob der Übertragungsmechanismus des Sauerstoffs vom Cytochrom P-450 auf das Xenobiotikum unbedingt den reaktiven PeroxidanionP-450-Komplex (VII) benötigt, oder ob vielleicht schon die Struktur V I dafür ausreicht. Jedenfalls schließt sich der Reaktionskreis durch die Übertragung eines Atoms Sauerstoff auf das Substrat (Oxygenasereaktion) bei gleichzeitiger Reduktion des zweiten Sauerstoffatoms durch Wasserstoff zu Wasser (Oxidasereaktion ( V I I I ) . Da hierbei das Enzym zwei unterschiedliche Reaktionsarten in einem Prozeß katalysiert, ist für dieses Enzymsystem auch die Bezeichnung ,,mischfunktionelle Oxidase" gebräuchlich. Enzyminduktion Vor etwa 20 Jahren wurde folgende aufsehenerregende Entdeckung gemacht: Das kanzerogen wirkende Buttergelb 1 ) erzeugte bei Versuchstieren keinen Leberkrebs, wenn gleichzeitig eine zweite krebserregende Substanz —das 3-Methyl-cholanthren — verabfolgt wurde. Dieses unerwartete Ergebnis erklärt sieh dadurch, daß die zweite Substanz die Fähigkeit des Organismus zur Transformation der Xenobiotika durch vermehrte Cytochrom-P-450-Produktion steigert. Diese Erscheinung — das Stimulieren des Fremdstoffabbaus durch Fremdstoffe — wird Induktion genannt. Inzwischen weiß man, daß das mikrosomale Enzymsystem durch die verschiedensten Substanzen — durch polycyclische und halogenierte Kohlenwasserstoffe, durch Arzneimittel und sicher auch durch eine Reihe von Umweltfaktoren, die im einzelnen noch nicht bekannt sind — induziert werden kann. Gesteigert wird der Fremdstoffabbau nicht nur in der Leber, sondern auch in anderen Organen. So induziert das im Tabakrauch vorhandene krebserregende 3,4-Benzpyren seinen eigenen Abbau außer in der Leber auch in der Lunge, der Niere, der Haut, der Darmwand und in der Plazenta. Bei Frauen, die während der Schwangerschaft täglich 10--40 Zigaretten rauchten, stieg die Aktivität der Benzpyrenhydroxylase in der Plazenta um rd. 70°/0 an. Die Induktoren gingen auch in den kindlichen Kreislauf über und erhöhten die Hydroxylaseaktivität der fetalen Leber. Man nimmt an, daß besonders die im Zigarettenrauch enthaltenen cyclischen Kohlenwasserstoffe die Abbauenzyme induzieren. Aber nicht nur sie selbst werden dadurch beschleunigt oxidativ abgebaut, sondern auch andere Substanzen, z. B . das Nicotin. Infolgedessen ist die bekannte Nicotinwirkung beim Raucher nicht mehr so intensiv und dramatisch wie beim Neuling. Zugleich wird dadurch aber i) 3-Methyl-4-dimethylaminoazobenzol; dieser Azofarbstoff wurde der Butter bzw. Margarine zum Gelbfärben zugesetzt bevor seine kanzerogene Wirkung bekannt war
126
HOBST R E I N
auch der Arzneimittelabbau gefördert. So ist der Phenacetinspiegel im Serum nach Einnahme der gleichen Dosis bei Rauchern geringer als bei Nichtrauchern. Nicht nur Zigarettenrauch, auch andere Umweltgifte können den Arzneimittelabbau verändern, wie folgendes Beispiel zeigt: Chemiearbeiter einer DDT-Fabrik wiesen einen 20--30fach höheren DDT-Gehalt im Fettgewebe auf als Kontrollpersonen. Da halogenierte Kohlenwasserstoffe gute Induktoren für Abbauenzyme sind, war bei diesen Personen der Arzneimittelabbau allgemein beschleunigt. Sie metabolisierten Aminophenazon doppelt so schnell wie Kontrollpersonen, und die Serumspiegel-Halbwertszeit des Antirheumatikums Phenylbutazon war bei ihnen um 19% geringer. Auch ihr Steroidstoffwechsel war so beschleunigt, daß die Ausscheidung von 6/S-Hydroxycortison um 57% über der Norm lag. In der Konsequenz würden derart exponierte Personen statt einer zwei Kopfschmerztabletten oder täglich eineinhalb statt einer kontrazeptiven „Pille" benötigen, um die gleiche sichere Wirkung zu haben. Auch verschiedene Insekten reagieren auf Insektizide, aber auch auf Phénobarbital mit einer gesteigerten Cytochrom-P-450-Produktion. Bei der Hausfliege Musca domestica wird durch halogenierte Kohlenwasserstoffe nicht nur der Metabolismus dieser Insektizide stimuliert, sondern auch die Hydroxylierung anderer Xenobiotika. So erhöht sich die Hydroxylierungsrate des Naphthalins um ein Mehrfaches. Induktion ist also ein Vorgang, der bei den Insekten zu Resistenz führt ; betrifft er das arzneimittelabbaüende System des Menschen, spricht man von Gewöhnung. Induktoren als „Gegengifte" ? Die große Vielseitigkeit und die Induzierbarkeit des fremdstoffabbauenden Enzymsystems legen den Gedanken nahe, dieses System, gezielt zu beeinflussen und — z. B. für medizinische Zwecke — zu nutzen. So wäre es für das Behandeln von Vergiftungen ein wesentlicher Vorteil, wenn Entgiftungsvorgänge gesteuert werden könnten. Es ist aber heute noch nicht möglich, die Tätigkeit des Systems so schnell anzuregen, daß akute Vergiftungsfälle damit beherrschbar wären. Wohl aber gelingt es, die Kapazität der Systeme durch Induktion zu steigern. Beispielsweise hat das Phénobarbital beim Tier und auch beim Menschen als Induktor praktische Bedeutung erlangt. Kühe, deren Futter — und deshalb auch deren Milch — stark mit halogenierten Kohlenwasserstoffen angereichert war, hatten nach wiederholten Gaben von Phénobarbital eine wesentlich reinere Milch. Personen, die auf Grund besonderer Expositionen einen hohen Gehalt an DDT im Blut aufwiesen, reagierten nach Behandlung mit Phénobarbital oder dem Antikrampfmittel Diphenylhydantoin mit einer schnellen Senkung des Insektizidspiegels. In der klinischen Praxis bewährt ist die Anwendung der Induktoren zum schnelleren Ausscheiden von Gallenfarbstoffen. Sowohl bei Neugeborenen, deren Mechanismus zum Binden des Bilirubins an Glucuronsäure noch ungenügend ausgebildet ist1), als auch bei einem Überangebot an Bilirubin — bei hämolytischer Anämie und bei bestimmten Lebererkrankungen (GiLBERT-Syndrom, intrahepatische Chol)
vgl. G M Y E E K , D.: Alternative zur Blutaustauschtransfusion, Wiss. 4, S. 169
u. Fortschr.
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lestase) — läßt sich mit dem Schlafmittel Phenobarbital oder dem Antirheumatikum Phenylbutazon das Entgiftungssystem induzieren und damit die Ausscheidung dieses endogenen Stoffwechselproduktes beschleunigen. Die mit diesen Krankheiten verbundenen Symptome — Gelbsucht und Juckreiz — klingen schnell ab. Auch ein erhöhter Steroidgehalt des Organismus (bedingt durch lang dauernde Behandlung mit Steroiden oder bei der CusnrNGsehen Krankheit) ist durch eine induktiv gesteigerte Hydroxylierung der Steroide zu normalisieren. Die Schlüsselstellung des Cytochrom P-450 im System der Biotransformation von Fremdstoffen zeigt sich auch daran, daß sich — abhängig von der Induktordosis und von der Dauer seiner Verabreichung — zuerst die Enzymaktivität des oxidativen Fremdstoffabbaüs erhöht. Das kann man direkt nachweisen, indem man den Gehalt an Cytochrom P-450 mißt. Später steigt auch die Aktivität der reduzierenden und der Glucuronsäure transferierenden Enzyme. Die Hoffnung, einst das fremdstofftransformierende Enzymsystem so zu beschleunigen, daß man mit seiner Hilfe auch akute Vergiftungen bekämpfen kann, erscheint insofern durchaus berechtigt, als in Zellkulturen die induktionsspezifische R N S bereits 30 min nach Aufnahme von polycyclischen Kohlenwasserstoffen vermehrt synthetisiert wird. Die Induktion betrifft nur die fremdstoffabbauenden Enzyme; die am Intermediärstoffwechsel der Zelle beteiligten Enzyme werden nicht induziert. Vielleicht gelingt es einmal, auch Induktoren zu entwickeln, die die Produktion weiterer Zellproteine erhöhen, und dadurch krankhafte Prozesse der Leber zu beeinflussen und zu heilen. Fremdstoffoxidierende Systeme in Pflanzen Pflanzen synthetisieren ganz verschiedenartige, komplizierte chemische Verbindungen, wie Alkaloide, Steroide und Terpene. Diese im sog. Sekundärstoffwechsel entstehenden, meist biologisch hochwirksamen Substanzen werden unter Mitwirkung verschiedener Enzymsysteme produziert — darunter auch solcher, die denen der Leber ähneln. Eine mischfunktionelle Oxidase bewirkt die Biosynthese des Gibberellins, eines den Pflanzenwuchs regulierenden Hormons. Im Mutterkornpilz, Claviceps purpurea, sind Cytochrom P-450 und Cytochrom b 5 an der Alkaloidsynthese beteiligt. Auch hier lassen sich beide Cytochrome durch Phenobarbital induzieren, Und es wird vielleicht einmal möglich sein, damit die Synthese dieser für die Geburtshilfe so wichtigen Mutterkornalkaloide zu steigern. Die beschriebenen Enzymsysteme dienen in der Pflanze nicht nur der Biosynthese. Die Pflanze bedient sich derselben Enzyme, um Pflanzenschutzmittel um- und abzubauen. Auch hier werden diese Wirkstoffe also vorwiegend durch oxidative Reaktionen entgiftet. Gelingt es, auch diese Prozesse durch Induktion zu beschleunigen, so lassen sich die aus Sicherheitsgründen festgelegten Karenzzeiten für pflanzliche Produkte von der Behandlung mit einem Pflanzenschutzmittel bis zur Ernte oder zur Weiterverarbeitung verkürzen und zusätzliche Garantien gegen ein Anreichern von Rückständen in der Pflanze schaffen.
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Fremdstoffmetabolismus bei Mikroorganismen Verschiedene Bakterienarten zeichnen sich durch hohe hydroxylierende Aktivität aus. Teilweise findet man auch in ihnen ein ähnliches Enzymsystem wie in der Leber. So sind bakterielle O-Dealkylasen in Pseudomonas- und Nocardia-Arten nachgewiesen. Läßt man die Bakterienspezies Nocardia NHi in 4-Methoxy-3-hydroxybenzoat wachsen, so wird ein O-Demethylasesystem induziert, das Phenylmethyläther demethyliert. Bei den Wildtypen von Pseudomonas putida können Enzyme induziert werden, die komplizierte Verbindungen umbauen, z. B. das L-Hydroxyprolin bis zum Ketoglutarat sequentiell abbauen. Wachstum von Pseudomonas putida in Campher induziert eine Methylenhydroxylase, deren Reaktionsmechanismus weitgehend aufgeklärt ist. Wie bei der mikrosomalen Hydroxylase ist bei diesem bakteriellen Enzymsystem neben dem Cytochrom P-450 eine spezifische Reduktase — das Putidaredoxin — beteiligt, und Elektronendonor ist das NADH. Pseudomonas oleovorans katalysiert dieco-Hydroxylierung vpn Alkanen. Die Oxidation von n-Octan zu Octanol und Octansäure ist auch mit zellfreien Extrakten von Corynebacterium sp. möglich, deren Oxidationskapazität durch Wachstum in nOctan induziert wurde. Die Hydroxylierungsreaktion erfolgt mit einem löslichen Enzymsystem, in dem das Cytochrom P-450, ein Flavinprotein und NADH beteiligt sind. Wie die tierische Zelle verwenden die Bakterien zum Hydroxylieren ebenfalls atmosphärischen Sauerstoff.
Perspektive: industrielle Stoffwandlung Induktion bedeutet nicht nur verstärkten Fremdstoffabbau, sondern vor allem auch Adaptation an spezifische Milieubedingungen. Das bekannteste Beispiel dafür ist wohl das Wachsen einiger gezüchteter Mutanten von bestimmten, ausgewählten Mikroorganismen auf gewissen Erdölfraktionen. Zwei Aspekte begründen, warum derzeit weltweit intensiv auf diesem Gebiet geforscht wird: die Möglichkeit, bakterielles Eiweiß industriell zu gewinnen — sie ist heute in der Sowjetunion Und anderen Industriestaaten, vor allem aüch in Japan, schon Wirklichkeit — und die Aussicht, einmal induzierte Enzymsysteme für die stoffwandelnde Industrie nutzen zu können. Noch nicht voraussehen läßt sich, welche Systeme für enzymatisch katalysierte Stoffwandlungsprozesse zukünftig am wichtigsten sein werden. Man kann Mikroorganismen selbst, ihre Enzymsysteme oder einzelne Enzyme nutzen. Es ist auch möglich, Enzyme aus Zellkulturen zu gewinnen, denn auch diese sind induzierbar. Der Vorteil mikrobieller Systeme ergibt sich aus ihrer hohen Wachstumsrate und aus der hohen Adaptationsfähigkeit der Mikroorganismen. Gelänge es, membrangebündene Enzyme — z. B. das mikrosomale Enzymsystem — für industrielle Stoffwandlungsprozesse einzusetzen, so hätte das den Vorteil, daß die Enzyme stabilisiert wären 1 ) und ein gerichteter Elektronentransport über mehrere voneinander abhängige Enzyme stattfände.
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Die Erforschung der Reaktionsmechanismen, mittels derer Organismen Fremdstoffe eliminieren, ist nicht n u r bedeutsam f ü r das Erkennen und Beeinflussen des biologischen Fremdstoffumbaus, f ü r die Arzneimittelforschung u n d zum Einschätzen der Gefahren heutiger u n d zukünftiger Xenobiotika in der Biosphäre, sondern auch wichtig für den zukünftigen Einsatz der Systeme f ü r die stoffwandelnde Industrie. Weiterführende Literatur ACKERMANN, E . : D e u t s c h e s G e s u n d h e i t s w e s e n 2 8 , 7 2 1 , 7 6 9 ( 1 9 7 3 ) CONNEY, A . H . ; BURNS, J . J . : S c i e n c e 1 7 8 , 5 7 6 ( 1 9 7 2 ) ULLRICH, V . : A n g e w a n d t e C h e m i e 8 4 , 6 8 9 ( 1 9 7 2 )
BOYD, G. S.; SMELLIE, R. M. S.: Biological Hydroxylation Mechanisms, London und New York 1972 DEWAIDE, J. H.: Metabolism of Xenobiotics, Nijmegen 1971
*) vgl. POMMERENING, K.: Trägerfixierte Enzyme, Wiss. u. Fortschr. 23 (1973) 7, S. 310
Umweltbedingte Risikofaktoren in der Ernährung
RUDOLF ENGST
Zur Ernährungsweise unserer Bevölkerung Unter den Einflüssen der Umwelt auf den Menschen spielt die Ernährung eine besondere Rolle. Sie ist mitverantwortlich für die Gesundheit, die Leistungsfähigkeit und für die Lebenserwartung. Für Nahrungs- und Genußmittel geben wir einen erheblichen Teil des Nationaleinkommens aus. Verglichen mit überwundenen Gesellschaftsordnungen der Vergangenheit hat in unserer Republik jeder Bürger genug bzw. reichlich zu essen. Keiner muß mehr seine Kinder hungern sehen, während andere verschwenden. Es steht ein vielseitiges, im internationalen Vergleich zum Teil sehr billiges, hygienisch einwandfreies Lebensmittel- und Speisensortiment zur Verfügung, aus dem jeder nach seinen Wünschen wählen und sich abwechslungsreich und vernünftig ernähren kann — auch wenn die Versorgung noch nicht immer alle Wünsche zu erfüllen vermag. Ernähren wir Uns aber wirklich optimal und damit gesundheitsfördernd ? Viele die Gesundheit beeinträchtigende und die durchschnittliche Lebenserwartung verkürzende Krankheiten haben dank der Erkenntnisse der Hygiene sowie der Erfolge der Medizin an Gefährlichkeit verloren. An ihre Stelle sind jedoch heute
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Risikofaktoren
in der
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andere, zivilisationsbedingte Schäden getreten, welche die positive Bilanz wieder schmälern. Erinnert sei an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Krebs oder Leberschäden. Fehl- und Überernährung tragen ganz wesentlich zum Entstehen dieser sog. Zivilisationskrankheiten bei; aber auch andere ernährungsbedingte Risikofaktoren gehören zu ihren Ursachen. Ernährungsgewohnheiten Die individuelle Kost ist bedingt durch unterschiedliche Ernährungsgewohnheiten und andere Faktoren. Es handelt sich dabei teilweise'um sehr lationale, aber zum erheblichen Teil auch um irrationale Einflüsse. Die Abbildung 53 gibt derartige E inflüsse sicher nur unvollkommen wieder. Gewohnheiten, die uns unsere Umwelt suggeriert, sind für nicht wenige Ernährungsfehler verantwortlich. Solche Gewohnheiten kann man nach und nach ändern. Aber nicht nur Tabus und Ernährungsgewohnheiten im engeren Sinn prägen die Verhältnisse. Mit dem Beginn der Industrialisierung und der Ablösung der Agrardurch die Industriegesellschaft im vorigen Jahrhundert setzte ein Ernährungswandel ein, in dessen dynamischem Prozeß wir uns noch immer befinden. Aus den Ursachen dieses Wandels läßt sich die heutige Ernährungssituation ableiten. Mit der ansteigenden Arbeitsproduktivität steigen Kaufkraft und Lebensstandard. Man will nicht mehr nur den Hunger stillen, sondern auch den Appetit und den persönlichen Geschmack befriedigen und deshalb aus einem großen Sortiment von Lebensmitteln seinem Geschmack entsprechend wählen können. Es gilt als selbstverständlich, daß Lebensmittel unabhängig von Ort und Zeit ihrer Gewinnung ständig oder wenigstens nach Belieben zur Verfügung stehen.
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RUDOLF ENGST
Besondere Forderungen resultieren aus der Gleichberechtigung der Frau im Sozialismus. Sie will sich nicht mehr auf Küche und Kinder beschränken, nicht mehr ihr halbes Leben mit dem Zubereiten der Mahlzeiten vergeuden. Diese Hausarbeit muß ihr die Industrie mehr und mehr abnehmen. Entsprechende Anforderungen ergeben sich aus dem wachsenden Qualifizierungsbestreben, aber auch aus der bewußteren Freizeitgestaltung. Die gesellschaftliche Speisenwirtschaft erhält deshalb eine völlig neue Bedeutung und Qualität. Die Betriebe, Gaststätten, Urlaubszentren, Schulen, Kindergärten, Universitäten, Kasernen, Altersheime und Krankenhäuser übernehmen einen wachsenden Teil unserer Versorgung; sie bestimmen bereits heute die Ernährung großer Bevölkerungsteile.
Abb. 53 Die verschiedenen Einflüsse auf die individuelle Ernährung (nach HAENEL 1972)
Die zwangsläufig erhöhte psychische und verminderte physische Belastung (Verringerung der körperlichen Arbeit) sollte sich in unserer Ernährung widerspiegeln. Trotz der eingangs erwähnten grundsätzlich positiven Ernährungssituation weisen unsere Statistischen Jahrbücher hohe Zunahmen an Krankheiten aus, die zweifellos ernährungsbeeinflußt sind und durch Übergewicht gefördert werden. Etwa bei 15 Prozent der Kinder, 20 Prozent der Männer und 40 Prozent der Frauen übersteigt heute das Körpergewicht die optimale Norm um mindestens ein Fünftel. Die Hauptursache hierfür ist eindeutig der durchschnittlich zu hohe Kalorienverbrauch. Es werden etwa 11 Prozent mehr an Kalorien aufgenommen als benötigt. Der Überschuß setzt sich als F e t t an Bauch und Hüften ab, und die d a durch bedingte Gewichtszunahme ist oft mit negativen individuellen und volkswirtschaftlichen Konsequenzen verbunden. Besorgniserregend sind der überhöhte
Umweltbedingte Risikofaktoren
in der Ernährung
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Fettverzehr und die qualitative Änderung der Kohlenhydratanteile in unserer Nahrung. Der Anteil an Stärke und vor allem ballaststoffreichen Kohlenhydraten hat ständig ab-, der an Zucker ständig zugenommen. Im Gegensatz zum meist rationalen Verhalten im täglichen Leben — sei es in der Arbeit, in der gesellschaftlichen Tätigkeit oder in der Familie — sind in unserer Ernährung emotionelle Impulse bis hin zur Unvernunft ständig wirksam. Man sollte weniger fette und süße Lebensmittel essen, um die Kalorienzufuhr zu reduzieren, weniger tierische Fette (auch Butter) und dafür mehr pflanzliches Fett wie Öle und Margarine verzehren, um den Cholesterinspiegel des Blutes zu reduzieren, der das Entstehen von Herz-Kreislauf-Krankheiten fördert. Man sollte ferner mehr
Abb. 54 Während noch immer unzählige Menschen auf der Welt hungern und verhungern müssen, werden in kapitalistischen Ländern aus Gründen der Preisspekulation hochwertige Nahrungsmittel vernichtet
Milch, Magermilcherzeugnisse, Obst und Gemüse (zum Teil roh) sowie Vollkornerzeugnisse und Fisch regelmäßig in die tägliche Kost einbeziehen, um auch Vitamine, Eiweiß und Mineralstoffe in ausreichenden Mengen aufzunehmen. Ohne Zweifel ist es sehr schwierig, Ernährungsgewohnheiten grundlegend zu verändern. Die besonderen Möglichkeiten unserer sozialistischen Gesellschaft, in der Produkte nicht unter dem Gesichtspunkt des Profits, sondern des gesellschaftlichen Nutzens hergestellt und vertrieben werden, geben zwar die besten Voraussetzungen
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für ein erfolgreiches Wirken; der Schlüssel zur vernünftigen Ernährung liegt aber letztlich im vernünftigen Verhalten des Verbrauchers. Er muß den richtigen Gebrauch machen von den heute und künftig angebotenen Lebensmitteln, und die Gesellschaft sollte erzieherisch auf den einzelnen so einwirken, daß er die gesunde Ernährung als die erwünschte und normale ansieht. Ein gutes Angebot an diätetischen und auch an kalorienreduzierten Lebensmitteln steht bereits zur Verfügung. Unter Beteiligung der Ernährungswissenschaftler wird dieses Sortiment ständig erweitert und verbessert. Fremdstoffe in der Nahrung als Risikofaktoren Nicht nur die Wechselbeziehungen zwischen Ernährung und Umwelt, sondern auch diejenigen zwischen Ernährung und Umweltschutz sind sehr ausgeprägt. Es gibt zahlreiche Fremdstoffe, die erwünscht oder unerwünscht in die Nahrung gelangen und mit ihr mehr oder weniger regelmäßig über die gesamte Lebensperiode aufgenommen werden. Die Wege, auf denen sie in die Nahrung und in den menschlichen Organismus gelangen, sind vielfältig; sie werden mit den anthropogenen Faktoren wirksam, wie Abbildung 55 zeigt. Das Vorkommen von vielen fremden Stoffen mit unphysiologischen oder gar toxischen Eigenschaften in Lebensmitteln ist als eine wesentliche Ursache für die ernährungsbedingte Gefährdung der menschlichen Gesundheit erkannt worden. Anthropogene Einflüsse \Wohngebiet^ Industrie
Verkehr
Land- und Forstwirtschaft
I
L
Pflanzenproduktion
Abgase Abfälle
Pestizide
^
Nahrungs-u. Futtermittelindustrie
1
I Tierproduktion
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Dünget
Kulturmaß Tierarznei- Hilfsmittel nahmen mittel
technische Hilfsmittel
Verschmutzungen-Kontaminationen \ Wasser
Lebens-u.Futtermittel
Boden •~-+\Luft\
1 I Belastungen
}-
\ Pflanzen Mensch
Abb. 55 Fremdstoffe gelangen auf vielfältigen Wegen in die Nahrungsmittel des Menschen
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Risikojahtoren
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Daher ist diese Problematik, die bei herkömmlichen und neuen Lebensmitteln die gleiche Rolle spielt, in der ganzen Welt ein untrennbarer Bestandteil der Ernährungsforschung geworden. Die mögliche und in vielen Fällen auch erwiesene Bedrohung der menschlichen Gesundheit durch Fremdstoffe aus Nahrungsmitteln hat dazu geführt, daß sich in den letzten 15 bis 20 Jahren die Weltgesundheitsorganisation und andere internationale Gremien intensiv mit ihr befassen und sich die Gesundheitsbehörden vieler Kulturstaaten bemüht haben, die Fremdstoffe unter Kontrolle zu bringen. In der DDR ist hierfür 1962 durch das Lebensmittelgesetz eine geeignete Grundlage geschaffen worden. Man teilt die Fremdstoffe in zwei große Gruppen ein (Tab. 10), und zwar in die absichtlich zugesetzten Stoffe, die bestimmungsgemäß mitgenossen werden (Zusatzstoffe oder Additive), und in die unbeabsichtigt in die Lebensmittel gelangenden Fremdstoffe (Kontaminanten).
Zusatzstoffe In der DDR werden gegenwärtig etwa 150 Fremdstoffe als Nahrungsmittelzusätze verwendet. Es handelt sich z. B. um Konservierungsmittel, Lebensmittelfarbstoffe, Antioxidantien, konsistenzerhaltende Stoffe und Schönungsmittel. Eine große Bedeutung haben künstliche Süßstoffe und Aromastoffe. Wenn man synthetische (künstliche) Aromastoffe mit berücksichtigt, dann dürfte sogar die Zahl von 150 fremden Zusatzstoffen erheblich überschritten werden. Nicht alle Fremdstoffsätze dürften unentbehrlich sein. Es ist z. B. darauf hinzuweisen, daß die Verwendung von Konservierungsmitteln durch geeignete Produktionsverfahren und Lagertechniken auf ein geringes Maß reduziert werden kann. Auch die Verwendung künstlicher Lebensmittelfarbstoffe erscheint nicht unumgänglich. Die Färbung der Lebensmittel übt nach PAVLOV psychisch-physiologisch auf die Sekretion der Verdauungssäfte einen erheblichen Einfluß aus. Es sollte durchaus möglich sein, die Verzehrgewohnheiten im Laufe der Jahrzehnte so zu beeinflussen, daß die originäre Buntheit der Nahrung und die Verwendung natürlicher Färbemittel als ausreichend empfunden werden. Die absichtlich zugesetzten Stoffe werden nach strengen toxikologischen Richtsätzen zugelassen. Hier ist eine vorbildliche internationale Zusammenarbeit im Gange, die sich z. B. in WHO-Empfehlungen und RGW-Beschlüssen ausdrückt. Art und Menge der Zusatzstoffe werden so ausgewählt, daß bei bestimmungs- und sachgemäßer Verwendung die menschliche Gesundheit nicht gefährdet wird. Ein Zusatzstoff wird erst dann endgültig zugelassen, wenn die toxikologische Prüfung in oft vieljährigen Tierversuchen seine Unbedenklichkeit bestätigt hat. Eine solche Forderung ist nur erfüllbar, wenn die internationalen Erfahrungen ausgetauscht werden können. Dieses Unterfangen wird von Organisationen wie der WHO, dem RGW und der FAO sehr gefördert. Man ermittelt durch Tierversuche, für die die WHO Mindestanforderungen vorgeschlagen hat, den sog. No-toxic-effect-level, d. h. die Menge, die bei täglicher Gabe mit dem Futter keine Effekte auslöst, die auf eine vorübergehende oder dauerhafte Schädigung des Versuchstieres hinweisen.
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Risikofaktoren
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Endgültig anerkannt werden nur Versuchsergebnisse, die aus Langzeitexperimenten über eine ganze Lebensperiode der Versuchstiere gewonnen wurden. Zum Errechnen der zulässigen Menge eines Fremdstoffes im Lebensmittel dividiert man den No-toxic-effect-level durch einen Sicherheitsfaktor (meist durch 100, bei subchronischen Versuchen oder zusätzlichen Risiken sogar durch 500 oder 1000). Bei Erfahrungen am Menschen kann dieser Faktor im günstigsten Fall auf etwa 20 erniedrigt werden. Unter Berücksichtigung des durchschnittlichen Körpergewichtes und der Verzehrgewohnheiten ergibt sich dann die duldbare Menge eines Fremdstoffes im Lebensmittel. Unkontrolliert in Nahrungsmittel gelangende Fremdstoffe Für zahlreiche Risiken sind jedoch die unbeabsichtigt in das Lebensmittel gelangenden Fremdstoffe verantwortlich, die sog. Kontaminanten, da ihr Vorkommen nicht von vornherein beeinflußbar und abschätzbar ist. Man schätzt, daß ihre Zahl in der DDR 1000 weit überschreitet und in manchen anderen Ländern erheblich größer ist. Vor allem bei den Kontaminanten ist auch mit dem Auftreten unbekannter Umwandlungsprodukte zu rechnen, die die Gesamtsituation unübersehbar machen und oft die Ursache für zusätzliche Noxen sind. Die unbeabsichtigt vorkommenden Stoffe gelangen häufig durch direkte Umweltverschmutzung in die Nahrung. Hierbei denkt man zunächst an spontane Vergiftungen, Applikationsunfälle oder andere akute Gefahren. Diese sollen aber im folgenden ausgeklammert werden; denn sie sind im allgemeinen sichtbar, in gewisser Weise abzuschätzen, und es ist auch möglich, gezielte Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Emissionen, Exhalationen, Abwässer aus den verschiedensten Quellen und chemische Behandlungsverfahren, die die Fortschritte in der Landwirtschaft, aber auch in der Industrie bestimmen, sind andererseits auch verantwortlich für die wachsende Kontamination unserer Nahrungsmittel. Hierfür gibt es genügend Beweise, obwohl unsere diesbezüglichen Kenntnisse noch vergleichsweise gering sind. Nach Ermittlungen der WHO nehmen wir im Durchschnitt 70 Prozent der Schadstoffe mit der Nahrung, 20 Prozent mit der Atemluft und 10 Prozent mit dem Wasser auf. Man schätzt, daß etwa 80% der krebsfördernden Faktoren exogene Noxen sind, und unter diesen dürften Nahrungsbestandteile und -Verunreinigungen die Hauptrolle spielen. Die fremden Stoffe sind mitverantwortlich für das Entstehen eines neuen Zweigs der Lebensmittel- und Ernährungswissenschaft, den wir als Lebensmitteltoxikologie bezeichnen. Sie befaßt sich mit Zusatz- und Schadstoffen, die der Mensch in scheinbar unterschwelligen und damit in der Regel in zunächst nicht auffälligen Mengen aus der Umwelt aufnimmt. Es handelt sich aber um zahlreiche verschiedenartige Noxen, die man im Zusammenhang sehen muß, weil sie zu additiven kumulativen oder summativen Effekten führen und sich in ihrer Wirkung sogar potenzieren können. Nach DRTJCKREY sind Konzentrations-, Kumulations- und Summationsgifte zu unterscheiden. Konzentrationsgifte sind Stoffe, die giftig sind, aber unterhalb 10
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einer Grenzdosis vom Körper abgebaut oder andersartig entgiftet werden, ohne Schäden hervorzurufen. Kumulationsgifte werden im Körper, und zwar bevorzugt in einzelnen Organen oder Geweben, gespeichert und rufen beim Erreichen bestimmter Konzentrationen Schäden hervor. Bei Summationsgiften kann man zwar mit einem Abbau der wirksamen Substanzen und ihrer Ausscheidung aus dem Körper rechnen; der einmal gesetzte, zunächst unterschwellige Reiz addiert sich jedoch bei wiederholter Applikation bis zu einer Gesamtdosis, die zu gegebener Zeit — scheinbar unvermittelt — die Krankheit auslöst. Für die gefürchteten Spätschäden sind vor allem die Summationsgifte verantwortlich. Kanzerogene, teratogene und mutagene Effekte gehören demzufolge hierher. Ein weiteres Phänomen ist das der Wirkungspotenzierung. Die Toxizität des Organophosphats Malathion beispielsweise kann in Gegenwart von anderen Organophosphaten, wie Parathion, auf das Zehnfache gesteigert werden. Die Empfindlichkeit des Organismus gegenüber Schadstoffen ist nicht nur auf Grund genetisch bedingter Unterschiede verschieden. Es ist erwiesen, daß auch verschiedene Ernährungsformen bei der Toxizitätsprüfung eines Stoffes unterschiedliche Ergebnisse bewirken können. Außerdem kann die Empfindlichkeit bei Kindern, alten Menschen oder Rekonvaleszenten verändert sein. Kalorienmangel oder Mangel an bestimmten lebenswichtigen Stoffen können sich ähnlich auswirken. So ist die Toxizität der schwefligen Säure von der Versorgung der Versuchstiere mit bestimmten B-Vitaminen abhängig. Nach unseren heutigen Erkenntnissen ist die optimale Vitamin-B-Versorgung des Menschen in vielen Fällen nicht gesichert, so daß die ohnehin kleine Sicherheitsspanne für Schwefeldioxid noch kleiner wird. Weitgehend ungeklärt ist auch das Problem der ernährungsbedingten Allergene. Das enorme Ansteigen allergener Erkrankungen sollte dazu veranlassen, uns rechtzeitig und intensiv mit ihnen zu befassen. Wir wissen aus vielen in-vitro- und auch in-vivo-Versuchen, daß zahlreiche Fremdstoffe durch Blockierung von Fermenten den Stoffwechsel beeinflussen und uns die abnorme Steuerung von Körperfunktionen verständlich machen, die zu allergischen Erscheinungen führen.
Zur Rückstandsanalytik Die notwendige Erfassung und Bestimmung der Rückstände von Kontaminanten konfrontiert den Analytiker mit besonderen Problemen. Umfang und Schwierigkeit der Rückstandsanalytik rechtfertigen, daß sie heute als ein selbständiger Zweig der analytischen Chemie gilt. Die gesuchten Wirkstoffe sind in der Regel nur in der Größenordnung von 1:1000000 bis 1:10000000 im Vielstoffgemisch Lebensmittel bzw. in den Ernteprodukten vorhanden und müssen aus diesen durch oft langwierige Operationen isoliert werden. Dies setzt spezielle Erfahrungen und Fähigkeiten voraus. Die ursprünglichen Methoden, die sich der Kolorimetrie und anfänglich auch der Papierchromatographie bedienten, werden immer mehr abgelöst durch modernere
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Verfahren. Heute sind spektrophotometrische, polarographische und besonders dünnschichtchromatographische Methoden genauso gebräuchlich wie die Gaschromatographie, die durch Einsatz spezieller Detektoren und Techniken (Elektroneneinfang- und Flammenionisationsdetektoren) noch vor kurzem undenkbare Anwendungsmöglichkeiten erschlossen hat. Oft gestatten derartige moderne Methoden auch die Vereinfachung komplizierter Analysen. Durch Kopplung verschiedener Verfahren — z. B. Dünnschichtchromatographie und Gaschromatographie oder Polarographie — werden die Methoden verfeinert. Der Differenzierung der in großer Zahl entstehenden Metaboliten werden Möglichkeiten eröffnet und durch hochkomplizierte Geräte wie IR-Spektrographen schwierige Identifizierungen möglich. Der Einsatz biochemischer Verfahren — in erster Linie der Enzymatik — gestattet nicht nur die Identifizierung (besonders bei der Kopplung mit der Dünnschichtchromatographie), er liefert zusätzliche Hinweise auf die Enzymwirksamkeit von Fremdstoffen, z. B. Pestiziden. Das bekannteste Beispiel bieten die cholinesterasehemmenden Organophosphate und Carbamate, die enzymatisch elegant bestimmt werden können. Schwermetalle Durch die Industrialisierung und Chemisierung gelangen Spuren toxischer Schwermetalle vermehrt in die Nahrung. Dies trifft besonders für Blei und Bleiverbindungen zu. Kohle und ganz besonders Braunkohle als Energielieferanten sind die eine Ursache; Kraftstoff (der als Antiklopfmittel Bleitetraäthyl enthält) ist die andere. Ursprünglich in der Flugasche bzw. in den Abgasen der Emittenten enthalten, kommt Blei als Fallout auf Erntegüter und Futtermittel. Der Bleiausstoß eines P K W z. B. beträgt bei normal verbleitem Kraftstoff auf 100 km etwa 2 bis 3 g. Allein in den USA sollen 1964 rund 240001 Blei auf landwirtschaftliche Nutzflächen niedergegangen sein. Demgegenüber wirken die reichlich 420 t Bleitetraäthyl, die die im gleichen J a h r in der DDR verbrauchten Kraftstoffe enthielten, recht bescheiden. Im Jahre 1972 wurden bei uns allerdings bereits 1540 t Bleitetraäthyl für Vergaserkraftstoffe verwendet. Unter mitteleuropäischen Verhältnissen fand man bis zu einer Entfernung von 100 m von Verkehrsadern in Getreide und Futtermitteln eine um das Zwei- bis Vierfache erhöhte Bleimenge — auf den Mittelstreifen von Autobahnen im ungünstigsten Fall bis zum Dreißigfachen — gegenüber den Normalwerten. Fast alle pflanzlichen Produkte enthalten heute Bleispuren bis zu etwa 1 mg je kg Produkt. Man schätzt, daß nicht zuletzt aus diesem Grund die Bleiaufnahme des Menschen seit 1900 mindestens auf das Sechsfache gestiegen ist. Der größte Teil des aufgenommenen Bleis wird zwar wieder ausgeschieden; nur etwa 5 Prozent dürfte der Körper absorbieren. Die nahrungsbedingte Bleiaufnahme wird aber zusammen mit der über die Atemluft zur Gefahrenquelle. Auch in der Luft unserer Großstädte wurden bereits Bleigehalte festgestellt, die über den als zulässig erkannten MIK-Werten (Maximale Immissions-Konzentration) liegen. Vom zuständigen WHO-Expertengremium wurde die zulässige tägliche Bleiaufnahme mit Lebensmitteln vorläufig auf 350 ¡ig festgelegt. Im gleichen Bericht hat man aber die mitt10*
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lere tägliche Bleiaufnahme schon mit 230 bis 350 [xg angegeben — zuzüglich einer weiteren Menge von ca. 90 ¡xg aus der Atemluft. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn amerikanische Wissenschaftler von einem beunruhigenden Anstieg des Blutbleispiegels der Einwohner gewisser amerikanischer Großstädte sprechen, in denen die Verhältnisse zweifellos viel ungünstiger sind, als sie in einigen Städten der DDR registriert wurden. Unter anderem bedarf auch die Quecksilberverschmutzung der Biosphäre, besonders die der Flüsse und der Küstengewässer, unsere Aufmerksamkeit. Abwässer der chemischen und der holzverarbeitenden Industrie und Saatgutbeizmittel sind für Quecksilberkontaminationen verantwortlich. Besonders viel Quecksilber enthalten die schwedischen Küstengewässer und die in ihnen lebenden Fische. Man verwandte in Schweden große Mengen von Arylquecksilber-Verbindungen zum Bekämpfen von schleimbildenden Pilzen in der Holzverarbeitung. Wesentlich giftiger als Quecksilber selbst und auch als Arylquecksilberverbindungen ist Methylquecksilber, das man regelmäßig mitfindet und von dem man weiß, daß es von methylierenden Mikroorganismen in Boden und Wasser gebildet wird. Die schwedischen Befunde treffen in der beschriebenen Höhe für unsere Küstengewässer nicht zu, obwohl auch hier in den Fischen zunehmend Quecksilberspuren gefunden werden. Quecksilber kann zu einem besonderen Problem werden, zumal akute Massenerkrankungen mit tragischen Folgen im Bereich des Möglichen liegen. Mehrere mit zahlreichen Todesfällen wurden bereits beschrieben. Aufsehen erregte z. B. der Vorfall in der japanischen Minamatabucht, wo als Folge eines verantwortungslosen Vorgehens der kapitalistischen Großindustrie größere Mengen quecksilberhaltiger Abwässer ins Küstengewässer geleitet wurden. Der Genuß der dort gefangenen Fische führte zwischen 1953 und 1960 zu 46 registrierten Todesopfern und weit über einhundert Vergiftungsfällen. Aber auch andere toxische Schwermetalle finden sich zunehmend in der Biosphäre. Zink, Kupfer, Blei und Selen gelangen über Abgase und Abwässer immer wieder in Trinkwasser und Nahrungsmittel und damit in den menschlichen Organismus. In der Nähe von Zink- und Bleihütten sind unnormal hohe Aufnahmen der toxischen Metalle durch die dort ansässige Bevölkerung wiederholt beschrieben worden. Ein besonders unrühmliches Beispiel ist die Itai-Itai-Krankheit, die — wiederum in J a p a n — zu 135 Todesfällen und 426 registrierten Erkrankungen in etwa 25 Jahren führte. Ausgelöst wurde die Katastrophe durch Cadmiumsulfat, das aus den Abraumhalden von Zinkhütten ausgewaschen wurde und über den Jintsungawafluß in Trinkwasser und Lebensmittel gelangte. Die Hinterbliebenen verklagten den offensichtlich schuldigen Industriekonzern lange Zeit vergeblich auf Schadenersatz. Dem Cadmium, das mit Phosphaten vergesellschaftet sein kann und z. B. auch in Dieselkraftstoffen festgestellt wurde, dürfte als toxisches Spurenelement aus der Umwelt in Zukunft ohnehin eine größere Aufmerksamkeit zukommen. Kanzerogene In Verbrennungsprodukten werden regelmäßig polycyclische Kohlenwasserstoffe gefunden — besonders bei unvollkommener Verbrennung, die bei den mit
Umweltbedingte Risikofaktoren in der Ernährung
141
Kraftstoffen auf Kohlenwasserstoffbasis betriebenen Motoren praktisch die Regel ist. Ein Teil dieser Verbindungen erregt wegen seiner krebsfördernden Eigenschaften unsere Aufmerksamkeit. Als besonders gefährlicher kanzerogener Kohlenwasserstoff gilt das 3,4-Benzpyren (Abb. 56). Wir finden es heute praktisch in
Abb. 56 3,4-Benzpyren
allen Böden und auf Ernteprodukten in zwar geringen, aber durchaus meßbaren Mengen. Die Benzpyrenkonzentration im Boden ist deutlich abhängig von der Entfernung von industriellen Emittenten und von Verkehrsadern (Tab. 11). Diese Kontamination wirkt sich aber auch auf Obst, Gemüse und Futtermittel aus, die in Industrienähe signifikant höhere Benzpyrengehalte aufweisen als in Industrieferne (Abb. 57). Derartige kanzerogene Kohlenwasserstoffe entstehen übrigens auch bei technologischen Prozessen wie Grillen, Braten und Rösten. Der hierdurch aufgenommene Anteil bleibt aber im allgemeinen in mäßigen Grenzen. Ein Beispiel, wie durch geeignete Technologien unerwünschte Benzpyrenaufnahmen vermieden werden können, ist die Rauchgastrocknung von Getreide. Stadtgas als Brennstoff erscheint völlig unbedenklich, während Rohbraunkohlen zu ganz erheblicher Benzpyrenanreicherung im Getreide führen (Abb. 58). Die mutmaßliche Gesamtaufnahme an 3,4-Benzpyren im Verlauf eines 70jährigen Lebens zeigt die Tabelle 12. Sie beweist, daß die in großen Mengen verzehrten Lebensmittel mit relativ geringer Kontamination die Aufnahmebilanz viel mehr belasten als Lebensmittel wie Bohnenkaffee oder über Holzkohle gegrilltes Fleisch, von dem man erfahrungsgemäß nur wenig zu sich nimmt. Die erwähnten Kohlenwasserstoffe bilden aber nur einen Teil der mit der Nahrung aufgenommenen Kanzerogene. Seit einigen Jahren weiß man, daß Nitrosamine und Tabelle 11 Gehalt verschiedener Erdproben an 3,4-Benzpyrcn (ug 3,4-Benzpyren je kg Erde) Sand (Ostsee) Waldboden (Ostsee) Sand Havelsand Gartenerde Humus Bushaltestelle Autobahn Bahnhof Waldboden (Braunkohlengebiet) Rasenerde (Teerwerk)
0,8 35 10 40 1 0 0 - 800 800 1500 3000 3000 17500 60000
R U D O L F ENGST
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Abb. 57 Der Benzpyrengehalt der Ernteprodukte ist abhängig von industriellen Emittenten und von Verkehrsadern
Brennstoffe Dieselöl
Gas
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Braunkohlen- Rohbraunkoh/e briketts
Getreide unbehandelt industrie- industrie nah fern
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» l , 2 : ohne Wirkung auf biologische Vorgänge (z. B. anorganische Mineralsalze wie Gips, NaCl, B a S 0 4 ; Kieselsäure)
Langsam lösliche oder feinteilige unlösliche Stoffe mit spez. Gewicht > 1 , 2 : ohne Wirkung auf biologische Vorgänge bei bestimmtem Verdünnungsgrad (z.B. Lösungsrückstände bei Herstellung anorganischer Produkte, Metallhydroxide; Al(OH) 3 , Fe(OH) 3 , Calciumarsenat, Härtesalz, Kohlenhydrate, j Schlamm aus Kläranlagen)
Flüssige oder gelöste Stoffe
Lösliche oder im Meer dispergierbare Stoffe; ohne Wirkung auf biologische Vorgänge (z. B. anorganische Mineralsalze wie Gips, NaCl, Na 2 S0 4 , CaCl2)
Lösliche oder im Meer dispergierbare Stoffe: ohne Wirkung auf biologische Vorgänge bei bestimmtem Verdünnungsgrad (z. B. Fäkalien, Abfallsäuren, Phenole, Schwermetallsalze wie Cr, Zn, Mn, Cu, Co; Alkalien, Farbstoffe, Pflanzenschutzmittel)
I n Behältern verpackte Stoffe
Tiefe Meeresgebiete
Stoffe, die zu starkverdünnt werden müßten, um unschädlich zu sein, oder die heftig mitMeerwasser reagieren; (z. B. Chlorkohlenwasserstoffe, radioaktive Substanzen)
299
Schutz des Weltmeeres
belegen. Bereits ein Blick auf Karten der Linien gleichen Salzgehalts beider Nebenmeere läßt beträchtliche Unterschiede im Salzgehalt erkennen (Abb. 130). Während in der Nordsee der Salzgehalt zwischen 30 und 35°/ 00 schwankt, nimmt er in der Ostsee vom nördlichen Kattegat mit 25°/ 0 0 systematisch auf 3 bis 2°/ 00 im Nordm 0
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3000 m) zu charakterisieren. Daneben wird man die Abfallstoffe nach Merkmalen wie Menge, physikalische und chemische Eigenschaften und schädigende Einflüsse ( W E I C H A K T 1 9 6 8 ) beurteilen müssen. Gegenwärtig fehlen rechtliche Bestimmungen für das Einbringen von industriellen und kommunalen Abfällen ins Meer außerhalb der Hoheitsgewässer der einzelnen Staaten. Auch in den Territorialgewässern der Staaten ist die rechtliche Lage unterschiedlich. Mit wenigen Ausnahmen, in denen um behördliche Genehmigung zur Beseitigung von Abfallprodukten im Meer ersucht wurde, sind Menge und Art der ins Meer eingebrachten Stoffe weitgehend unbekannt, wodurch die Gefahr einer nicht wiedergutzumachenden Verschmutzung des Meeres verstärkt wird. Es gilt, Grundlagen für eine internationale Konvention zu erarbeiten, die für alle Staaten verbindlich ist. Internationale Übereinkünfte zur Bekämpfung der Verschmutzung durch industrielle und kommunale Abfallprodukte fehlen, weil die Schädlichkeit der verschiedenen Abfälle auf Grund der variablen hydrographischen Verhältnisse der Seegebiete bisher unzureichend eingeschätzt werden konnte. Empfehlungen für eine Konvention erarbeitete 1968 eine Arbeitsgruppe der IOC (Intergovernmental Oceanographic Commission). Gleichzeitig wurde die Bildung einer Expertengruppe der IMCL, FAO und UNESCO (IOC) über wissenschaftliche Gesichtspunkte der Verschmutzung der See empfohlen. Ziel der Zusammenarbeit sollen die Kontrolle
Schutz des
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Weltmeeres
und Meldung der einzubringenden Stoffe nach Art, Zusammensetzung, Menge und Verpackung sowie die Regelung über Erlaubnis oder Verbot der Abfallbeseitigung im Meer sein. Übereinkünfte zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch Industrieabfälle wurden für den Nord-Ost-Atlantik 1972 in London abgeschlossen. I m November 1973 einigte man sich in Helsinki weitgehend über den Entwurf für eine Konvention zur generellen Verhinderung der Ostseeverschmutzung, die am 22. 3. 1974 als Staatsvertrag unterzeichnet wurde und der Ratifikation der Signatarstaaten bedarf. I n Fortführung der Stockholmer UN-Tagung über den Umweltschutz 1972 sind weitere diesbezügliche Aktivitäten u. a. von der z. Z. tagenden I I I . Seerechtskonferenz in Genf zu erwarten. Aus der Darstellung des Gesamtproblems der Verschmutzung des Meeres ist ersichtlich, daß weder Verbot noch Erlaubnis der Abfallbeseitigung im Meer bedenkenlos entschieden werden können. Andererseits kann das Meer nur begrenzte Mengen an Abfallstoffen unbeschadet aufnehmen, und es ist daher dringend geboten, internationale Übereinkünfte über das Einbringen aller Fremdstoffe ins Meer zu treffen und deren Einhaltung zu kontrollieren. Bieten sich wie beim Öl andere Möglichkeiten der Abfallbeseitigung an, wird man das Einbringen der Schadstoffe ins Meer verbieten können. Bei Produkten, bei denen andere Möglichkeiten der Beseitigung nicht oder unter unvertretbar hohen ökonomischen Aufwendungen vorhanden sind, muß man Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, um Schäden auf die Nahrungsreserven, Trink- und Brauchwasserversorgung sowie die Erholung zu vermeiden. E s ist also erforderlich, zwischen der Wahrung der Reinheit des Weltmeeres und der Notwendigkeit der industriellen und kommunalen Abfallbeseitigung optimale Kompromisse zu finden, die den zukünftigen Lebensinteressen des Menschen entsprechen. Weiterführende Literatur BROSIN, H . - J . R O H D E ; K . - H . :
Probleme
der Verunreinigung
des Meeres,
dargestellt
an
Bei-
spielen aus der Ostsee, Seewirtschaft 2 (1970) 9, S. 708 LINDNER, H . ; ZILM, K . - H . : Nutzung und Beinhaltung der Küstengewässer — ein Beitrag zur Reinhaltung der Ostsee, Wasserwirtschaft, Wassertechnik 2 2 (1972) 4, S. 134 Meeresverschmutzung durch Schiffe (Internationale IMCO-Konferenz vom 8 . 1 0 . bis 2 . 1 1 . 1973 in London), Hansa 110 (1973) 20, S. 1813 TOMCZAK, G.: Über die Versenkung radioaktiver Abfallstoffe im Meer, Das Gas- u. Wasserfach 1 0 9 (1968) 20, S. 5 4 1 - 5 4 2 TOMCZAK, G.: Versuch einer Klassifikation industrieller Abfallprodukte in bezug auf die Möglichkeit einer Versenkung auf See, Helgoländer wiss. Meeresunters. 17 (1968), S. 6 bis 24 WEICHABT, G.: Veränderungen des Meeres durch Abfälle und die darauf basierende Einführung von 5 Gefahrenklassen für das Einbringen von Abfällen ins Meer, Helgoländer wiss. Meeresunters. 17 (1968), S. 3 9 8 - 4 1 0
Landwirtschaft und Landeskultur
GOTTFRIED SCHNTIKRBUSCH
Zu den vielfältigen Aufgaben der sozialistischen Landeskultur gehört es, die für eine land- oder forstwirtschaftliche Nutzung geeigneten Bodenflächen planmäßig zu nutzen, zu schützen und zu erweitern sowie deren Fruchtbarkeit zu erhalten bzw. zu steigern. Im Landeskulturgesetz sind diese Verpflichtungen für die sozialistische Land- und Forstwirtschaft eindeutig fixiert. Vor allem die komplexen Meliorationsvorhaben müssen sowohl der sich entwickelnden industriemäßigen Pflanzenproduktion entsprechen als auch gleichzeitig die landeskulturellen Eigenschaften der betreffenden Gebiete verbessern helfen. Zum Schutz des Bodens in der DDR „Die DDR verfügt nur über eine begrenzte landwirtschaftliche Nutzfläche, die sich von Jahr zu Jahr durch Industrie- und Straßenbauten, durch landwirtschaftliche Bauten und anderes verringert. Im Verlaufe der letzten zwanzig Jahre gingen dadurch der DDR rund 250000 Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche verloren . . . Das mußte durch zusätzliche Intensivierung auf anderen landwirtschaftlichen Nutzflächen ausgeglichen werden. Von 100 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche müssen 268 Einwohner ernährt werden, d. h., aufj jeden Einwohner der DDR kommt nur 0,37 ha landwirtschaftliche Nutzfläche." (GRÜNEBERG). Trotzdem konnte unsere Landwirtschaft dank der zielstrebigen Agrarpolitik der DDR das staatliche Aufkommen an Erzeugnissen der Pflanzen- und Tierproduktion von 1950 bis 1970 auf 223 Prozent erhöhen. Auch künftig wird es nötig sein, durch weitere Intensivierungsmaßnahmen den unumgänglichen Flächenrückgang zu kompensieren und dabei die Produktion noch weiter zu steigern. Im Dezember 1964 trat die „Verordnung zum Schutz des land- unf forstwirtschaftlich genutzten Grund und Bodens" in Kraft, welche durch die 1967 vom Ministerrat verabschiedete „Verordnung über Bodennutzungsgebühr" ergänzt wurde. Im Artikel 15 unserer 1968 beschlossenen Verfassung heißt es: „Der Boden der Deutschen Demokratischen Republik gehört zu ihren kostbarsten Naturreichtümern. Er muß geschützt und rationell genutzt werden. Land- und forstwirtschaftlich genutzter Boden darf nur mit Zustimmung der verantwortlichen staatlichen Organe seiner Zweckbestimmung entzogen werden." Mit diesem verfassungsrechtlichen Auftrag, der in keiner deutschen Verfassung so eindeutig formuliert war, wird der umfassende Schutz des Bodens zur gemeinsamen Aufgabe der staatlichen Organe,
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Landeskultur
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der gesellschaftlichen Organisationen, Betriebe und Einrichtungen und schließlich jedes Bürgers. Diese Aufgabe ist äußerst vielfältig und kompliziert. Auch in unserer sozialistischen Gesellschaft setzt sich der Schutz des Bodens nicht im Selbstlauf durch, und n u r durch verantwortungsbewußtes Handeln sind volkswirtschaftliche Schäden zu vermeiden. Verlust landwirtschaftlicher Nutzfläche Der „Schutz des Bodens" muß sowohl q u a n t i t a t i v als auch qualitativ verstanden werden. Da die D D R weitaus weniger landwirtschaftliche Nutzfläche f ü r die Nahrungsgüterproduktion besitzt als andere Länder, müssen alle f ü r die Pflanzenproduktion geeigneten Bodentlächen so intensiv wie möglich genutzt werden. J e Einwohner verfügt die D D R im Vergleich zur Volksrepublik Bulgarien n u r über 52 Prozent, zur Ungarischen Volksrepublik über 55 Prozent und zur CSSR über 76 Prozent der Nutzfläche für die Pflanzenproduktion. Als hochindustrialisiertes Land h a t die D D R einen hohen Energiebedarf, der auch im kommenden J a h r z e h n t vornehmlich durch Abbau der Braunkohlenvorräte gedeckt werden muß. Die Gewinnung im Tagebauverfahren zwingt aber dazu, umfangreiche land- und forstwirtschaftliche Nutzflächen sowie Straßen, Gebäude und teilweise ganze Ortschaften ihrer ursprünglichen Nutzung zu entziehen. Durch zielbewußt geplante Maßnahmen der Wiedernutzbarmachung wird es möglich, einen beachtlichen Anteil dieser beanspruchten Flächen so herzurichten, daß sie hohe Produktionsleistungen erbringen und landeskulturell wertvolle Bergbaufolgelandschaften entstehen. In der Direktive zum F ü n f j a h r p l a n 1971 — 1975 ist festgelegt, mindestens 9700 ha Bergbauflächen zur land- und forstwirtschaftlichen Rekultivierung zu übergeben. Damit werden etwa 70 Prozent der beim Abbau der Braunkohle entzogenen Flächen der Land- oder Forstwirtschaft zurückgegeben. Darüber hinaus entstehen beim planmäßigen Wiederurbarmachen eine Reihe sog. Restlöcher, die als Wasserspeicher sowohl der Landwirtschaft als auch der I n d u strie dienen können und die neugestalte Landschaft landeskulturell bereichern. Sie können zugleich beliebte Naherholungszentren werden, wie das Restloch P a h n a im Bezirk Leipzig und der Knappensee im Bezirk Cottbus. Obwohl sich die Flächenbilanz der Braunkohlenbetriebe erfreulich entwickelt, ist infolge des stürmischen Wachstums unserer Industrie sowie der Land- und Nahrungsgüterwirtschaft, des Wohnungs- und Städtebaues, des Verkehrswesens und durch das Erschließen von Bodenschätzen mit weiterem Flächenentzug zu rechnen. Trotz aller Bemühungen, ehemals land- und forstwirtschaftlich genutzte Flächen zurückzugewinnen und Neuland zu erschließen, werden sich der Umfang und das Tempo des Entzugs von land- und forstwirtschaftlichen Nutzflächen für andere Bereiche der Volkswirtschaft vorerst nicht wesentlich verringern. Jeder vorgesehene Entzug von Flächen aus der land-, forst- oder wasserwirtschaftlichen Nutzung (vor allem, wenn er nicht als zeitweilig zu betrachten ist) muß sehr verantwortungsbewußt geprüft werden. Bei allen Entscheidungen, die sowohl
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von den örtlichen u n d staatlichen Leitungen als auch von den betroffenen Betrieben der Land- u n d F o r s t w i r t s c h a f t zu treffen sind, ist stets davon auszugehen, daß der Boden nicht vermehrbar ist. Dieses Verantwortungsbewußtsein war nicht immer und nicht bei allen an der Bodennutzung beteiligten P a r t n e r n vorhanden. Insbesondere vor 1965 ging m a n sehr großzügig mit dem Boden um. Die „ B o d e n n u t z u n g s v e r o r d n u n g " von 1964 sowie insbesondere die 1967 erlassene „BodennutzungsgebührenVerordnung" sind als ökonomische Hebel zu betrachten, welche diese besorgniserregende Entwicklung bremsen sollen. Aus der Tatsache, d a ß der Flächenentzug in den letzten J a h r e n etwa gleichbleibend 12000 ha jährlich betrug, k a n n m a n nicht ohne weiters folgern, die bisher ergriffenen Maßnahmen zum Schutz des Bodenfonds seien wirkungslos geblieben. Die D y n a m i k einer sich entwickelnden Volkswirtschaft wird stets einen bestimmten Flächenentzug unvermeidlich bedingen. Trotz des beschriebenen Mitwirkens der Öffentlichkeit bei der Entscheidung über den Bodenentzug erscheint der jährliche Flächenrückgang noch zu hoch. Das wird sich erst ändern, wenn alle Beteiligten bereits während der P l a n u n g des P r o d u k tionsvorhabens eine sog. Ganzheitsbetrachtung vornehmen. E s geht vor allem d a r u m , die bisher üblichen Beurteilungskriterien u m die wesentlichsten landeskulturellen P a r a m e t e r zu erweitern. E s d ü r f e n nicht n u r die gewünschten Prod u k t i v i t ä t s p a r a m e t e r der Investition, sondern es müssen auch entsprechende
Abb. 131 Das Vergrößern der Schläge ist oft durch Beseitigen funktionsloser Gehölze möglich. Hierbei wird nicht nur landwirtschaftliche Nutzfläche gewonnen, sondern auch die industriemäßige Pflanzenproduktion ermöglicht (Landschaftsschutzgebiet Malchiner Becken)
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Abb. 132 und 133 Durch Hydromelioration und Verfällen können wasserführende Solle (kleine Teiche glazialen Ursprungs) beseitigt werden
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landeskulturelle Parameter geplant werden. Solche Zielkriterien aus dem landeskulturellen Bereich sind Bodenbedarf in Qualität und Quantität, Wasserbedarf und Abwasseranfall je Produkteneinheit, Emission von Schadstoffen usw. Viele Beispiele aus dem Verkehr, dem Bauwesen sowie auch aus der Landwirtschaft offenbaren die Möglichkeiten, mit unvermeidlichen, im volkswirtschaftlichen Interesse liegenden Eingriffen in die Landschaft zugleich deren landeskulturellen Wert zu erhalten oder sogar zu steigern. Wie gut man Bau- und Lagerplätze in den landwirtschaftlichen Produktionsprozeß wieder eingliedern kann, zeigt sich am Beispiel der Autobahn Leipzig—Dresden, die 1971 dem Verkehr übergeben wurde. Alle längs der neuen Verkehrsstraße liegenden Randstreifen, die während des Baus der landwirtschaftlichen Nutzung zeitweilig entzogen werden mußten, wurden ebenso kultiviert wie funktionslos gewordene Feldwege, Stell- und Lagerplätze. Gleichzeitig legte man Schläge zusammen, verbesserte die Vorflutverhältnisse und führte Boden- und Hydromeliorationen durch, die insgesamt die Eignung der Flächen für die industriemäßige Pflanzenproduktion nachhaltig verbesserten. Analoge Ziele, die für alle der Pflanzenproduktion dienenden Standorte bedeutsam sind, hat die planmäßige Flurneugestaltung. Vor allem sollen große, einheitlich gestaltete Flächen geschaffen werden, was vielfach mit einem beachtlichen Flächengewinn verbunden ist. So haben die Mitglieder der etwa 5000 ha umfassenden Kooperation Straußfurt, Bezirk Erfurt, vor allem durch das Beseitigen funktionsloser Feldwege, Kultivieren überalterter Obstgehölze und das Verrohren kleiner Binnengräben etwa 100 ha landwirtschaftliche Nutzfläche gewinnen können. Dabei wurden zusätzlich etwa 50 ha Fläche zum Bepflanzen mit Schutzgehölzen ausgewiesen. Ähnliche gute Beispiele für eine volkswirtschaftlich effektive, landeskulturell sinnvolle Intensivierung sind aus den Kooperationen Neuholland, Berlstedt und Bobritzschtal bekannt geworden. Die Mitglieder dieser Kooperation haben bewiesen, daß man eine Landschaft nicht landeskulturell entwerten muß, um einen rationellen Maschineneinsatz zu ermöglichen, wie das bisweilen befürchtet wird. Durch das Einbeziehen der Bepflanzungspläne in den Komplex aller Intensivierungsmaßnahmen konnte der Landschaftscharakter, der sehr wesentlich von den Gehölzund Gewässeranteilen geprägt wird, verbessert werden. Die Fläche für die geplanten Schmuck- und Schutzpflanzungen gewann man durch das Kultivieren von Ödlandflächen. Leider sind diese Beispiele noch nicht typisch. So werden unmittelbar neben schlechten, nicht mehr befahrbaren Wegen zweite und dritte Fahrspuren angelegt, welche die Produktionsflächen einschränken. Solche Flächen sind meist sehr kostengünstig rekultivierbar. In manchen Fällen ist die zunehmende Flächeninanspruchnahme durch die sozialistischen Landwirtschaftsbetriebe jedoch unerläßlich. So müssen neue Stallkomplexe für die industriemäßige Tierproduktion nahezu ausnahmslos auf bisher nicht bebauten Flächen errichtet werden. Die Notwendigkeit hierzu leitet sich bereits aus den seuchenhygienischen Forderungen ab (Einhalten bestimmter Schutz-
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Landeskultur
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Abb. 135 Ein funktionsloser Graben wird mit Aushubmassen eines nahegelegenen Vorfluters gefüllt und d a m i t ein Bearbeitungshindernis beseitigt
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zonen und Mindestabstände). Bedingt durch die erforderlichen Erschließungsund Verbindungsstraßen ergibt sich in diesen Fällen trotz der hohen Konzentration der Tierbestände ein beachtlicher Flächenbedarf. Während jedoch bei Anlagen der industriemäßigen Tierproduktion notwendige seuchenprophylaktische Gründe für das Herauslösen aus dem Dorf sprechen, trifft dies für sonstige Bauten wie Werkstätten, Trockenanlagen, Speicher u. ä. nicht zu. Sie werden nur deshalb vorzugsweise in die freie Flur gebaut, weil trotz der zu zahlenden Bodennutzungsgebühr (die für die Landwirtschaft lediglich 25 Prozent der üblichen Gebühren beträgt) dieses Verfahren aus enger betriebswirtschaftlicher Sicht kostengünstiger abschneidet als der vorherige Abriß alter Gebäude und das Bebauen der dadurch frei werdenden. Flächen innerhalb der Ortslagen. Bei vielen Industriebauten sprechen sowohl material- und bautechnische Gründe als auch insbesondere technologische Erfordernisse eindeutig für den Flachbau. In verschiedenen Bereichen der Metallbearbeitung und des Maschinenbaues verursacht die Vertikalförderung einzelner Werkstücke und Halbfertigteile im Zuge der Fließfertigung bis zu zwanzig Mal höhere Kosten als die Horizontalbeförderung. Daraus geht hervor, daß eine Bodennutzungsgebühr auf diesem Sektor nichts zu verändern vermag. Angesichts der hohen technologischen Vorteile der Flachbauweisen werden sie auch bei umfassender volkswirtschaftlicher Beurteilung ihren Vorrang behaupten. Es darf auch nicht so weit gehen, daß aus berechtigter Sorge um die Erhaltung des Bodenfonds der objektiv erforderliche technologische Fortschritt behindert wird. Um im jeweiligen konkreten Fall richtig entscheiden zu können, bedarf es noch umfangreicher Untersuchungen. Durch das Aufstellen von Verflechtungsmodellen unter Beachtung aller Rand- und Nebenwirkungen (wie M O T T E K all die Wirkungen nennt, die bis vor kurzem kaum im Produktionsprozeß oder im Ziel der Produktion berücksichtigt wurden) soll ein komplexes und objektives Beurteilen ermöglicht werden. Zu den vielen, hierfür erforderlichen Voraussetzungen gehören u. a. objektiv begründete Normative für den notwendigen Flächenanspruch beim Anwenden bestimmter Produktionsprozesse, Technologien und Verfahren. Erst wenn diese vorhanden sind, wird es möglich, unter Beachtung territorialer Besonderheiten derartige Verflechtungsmodelle mit Hilfe der EDV zu lösen bzw. zu optimieren.
Landwirtschaftliche Nutzung und Erholungswert Während die Industrie den Erholungswert der Landschaft vor allem durch Emissionen, Gewässerverunreinigung und Lärm beeinträchtigt, gerät die Landwirtschaft insbesondere durch ihre Intensivierungs- und Rationalisierungsmaßnahmen in Gegensatz zum Erholungswesen. Dabei wird im Landeskulturgesetz eindeutig festgelegt, daß notwendige Intensivierungsmaßnahmen den Charakter einer geschützten Landschaft keineswegs beeinträchtigen dürfen. Wie die Praxis zeigt, verstoßen viele LPG, V E G und ihre Kooperationen insbesondere durch Rodungen sehr oft gegen die Gesetze. So wur-
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den viele markante Feldeichen, die zum typischen Erscheinungsbild unserer Nordbezirke gehören, ohne Rücksprache und damit auch ohne die erforderliche Zustimmung des Kreisnaturschutzbeauftragten beseitigt, ohne daß auch nur versucht wurde, an anderer Stelle als Ersatz Gehölze anzupflanzen. Andererseits zeigen Beispiele aus den LPG Neuholland und Berlstedt, daß hohe Produktionsergebnisse in der Pflanzenproduktion mit einer landeskulturellen Aufwertung der Produktionslandschaft durchaus vereinbar sind.
Abb. 136 Durch Terrassierung können Steilhänge obstbaulich genutzt werden (in der Nähe von Brno)
Gegenwärtig werden die zur Sicherung der landeskulturellen Erfordernisse notwendigen Kontroll- und Führungsaufgaben noch keinesfalls mit der Konsequenz wahrgenommen, die im Interesse unserer gesamten Volkswirtschaft nötig wäre. Vielfach dominieren subjektive Entscheidungen, welche die Probleme nicht gesellschaftlich optimal lösen. Um diese Aufgaben entsprechend dem Verfassungsauftrag und gemäß dem Landeskulturgesetz zu erfüllen, bedarf es auch geeigneter Kriterien und Parameter, die den Charakter und den Wert einer Landschaft bestimmen. Dazu sind Befunde insbesondere aus den ökologischen Forschungen unerläßlich, die z. Z. in ausgewählten Naturschutzgebieten laufen. Sie ermöglichen objektive Aussagen über die vielfältigen funktionalen Zusammenhänge, z. B. zwischen Umfang und Anordnung von Schutzgehölzen sowie zwischen Spektrum und Populationsdichte bestimmter Tierarten und -gattungen. Erst dann können die bisherigen bescheidenen Versuche, die Funktion oder den Wert einzelner Landschaftselemente über das Schätzen von Besucherfrequenzen, Ertragsermittlungen u. ä. zu kennzeichnen, zu einer allseitigen, lange Zeiträume erfassenden Ermittlung des gesellschaftlichen Gebrauchswertes weiterentwickelt werden.
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Schutz des Bodens vor qualitativen Beeinträchtigungen N u r ü b e r eine höhere B o d e n f r u c h t b a r k e i t ist eine höhere E f f e k t i v i t ä t d e r menschlichen Arbeit u n d der eingesetzten materiellen F o n d s in der L a n d - u n d F o r s t w i r t s c h a f t möglich. I n dem B e m ü h e n , die Q u a l i t ä t des B o d e n s zu verbessern u n d d a m i t die E f f e k t i v i t ä t der P f l a n z e n p r o d u k t i o n zu erhöhen, s t i m m e n die v o l k s w i r t s c h a f t lichen I n t e r e s s e n m i t d e n b e t r i e b s w i r t s c h a f t l i c h e n f a s t völlig überein. V o n e n t sprechenden ökonomischen Regelungen s t i m u l i e r t , u n t e r n e h m e n die sozialistischen L a n d w i r t s c h a f t s b e t r i e b e große A n s t r e n g u n g e n , u m d u r c h richtige S t a n d o r t v e r t e i l u n g , bessere B o d e n b e a r b e i t u n g , o p t i m a l e D ü n g u n g u n d A n b a u leistungsfähiger S o r t e n die E r t r ä g e weiter zu steigern. Tabelle 22 Pflanzliche Bruttoerträge und Mineraldüngerverbrauch in der DDR bzw. in Deutschland (nach KUNDLER 1970)
1900 1938 1950-52 1959-61 1962-64 1965—67
GE/ha LN
kg NPK/ha LN
kg N/ha LN
13 25 27,7 29,8 30,7 34,9
10 65 83 120 126 163
3 33 30 37 43 66
Auf die M i n e r a l d ü n g u n g ist etwa die H ä l f t e der g e s a m t e n E r t r a g s s t e i g e r u n g zur ü c k z u f ü h r e n (Tab. 22, A b b . 137). D a die o p t i m a l e n N ä h r s t o f f g a b e n n o c h n i c h t erreicht sind, wird der M i n e r a l d ü n g e r a u f w a n d k ü n f t i g n o c h weiter steigen. D u r c h d a s O p t i m i e r e n d e r M i n e r a l d ü n g e r g a b e n n a c h A r t , Menge u n d Z e i t p u n k t in Abhängigkeit vom N ä h r s t o f f a n s p r u c h der jeweiligen K u l t u r e n u n d von d e r Sorpt i o n s f ä h i g k e i t des B o d e n s k ö n n e n u n m i t t e l b a r e S c h ä d e n a n den E r n t e p r o d u k t e n sowie m i t t e l b a r e — z. B. G ü t e m i n d e r u n g e n des G r u n d w a s s e r s u n d d e r Fließge-
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