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German Pages 469 [472] Year 2003
Hans-Peter Nowitzki Der wohltemperierte Mensch
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Herausgegeben von
Ernst Osterkamp und Werner Röcke
25 (259)
W DE G Walter de Gruyter · Berlin · New York 2003
Der wohltemperierte Mensch Aufklärungsanthropologien im Widerstreit
Hans-Peter Nowitzki
W G DE
Walter de Gruyter · Berlin · New York
2003
Die Arbeit wurde gefördert durch ein Stipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes und gedruckt mit Unterstützung der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. ISBN 3-11-017725-0 ISSN 0946-9419 Bibliografische Information Der Deutschen
Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © Copyright 2003 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin
Für Jana und Clemens
Vorwort Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um die für den Druck geringfugig überarbeitete, im Mai 2001 fertiggestellte und dem Rat der Philosophischen Fakultät der Universität Jena vorgelegte Dissertation »Anthropologie und Aufklärung. Johann Karl Wezeis Versuch über die Kenntniß des Menschen — Aufbau, Quellen, Mittel und Methoden einer spätaufklärerischen Anthropologiekonzeption«. Die Arbeit hatte ursprünglich zum Ziel, die Anthropologiekonzeption Johann Karl Wezeis in ihren grundlegenden Strukturen sichtbar zu machen und mit seinem belletristischen Œuvre in Beziehung zu setzen. Schnell zeigte sich, daß eine angemessene Würdigung der spätaufklärerischen Anthropologiekonzeption ohne umfassende problem-, ideen- und wissenschaftsgeschichtliche Rekontextualisierung nicht zu erreichen sein würde. Es galt daher, das medizin- und philosophiehistorische Terrain der Früh- und Hochaufklärung zu sondieren und zentrale anthropologierelevante Problemlagen herauszuarbeiten. Das spiegelt die Gliederung der vorliegenden Studie wider: während der erste Teil vorwiegend der diachronen Perspektive verpflichtet ist und grundlegende Problemfelder konturiert, ist der zweite Teil vorwiegend synchron angelegt und darauf ausgerichtet, die Eigenständigkeit und Vorzüge der Wezelschen Anthropologiekonzeption herauszuarbeiten. Die den beiden Teilen vorangestellte Einleitung dient der Orientierung des Lesers und soll an zentrale Fragestellungen anthropologischen Denkens im 18. Jh. heranführen und die entscheidenden Entwicklungsetappen skizzieren. Im Anhang werden verschiedene Facetten des anthropologischen Diskurses, deren quellengesättigte Darstellung ihres Umfanges wegen im Rahmen einer Fußnote nicht zu realisieren war, als weiterfuhrende Anmerkungen präsentiert. Der Übersichtlichkeit und leichten Benutzbarkeit wegen wurde im bibliographischen Anhang auf die getrennte Verzeichnung von Primär- und Sekundärliteratur verzichtet. Im Register sind alle Namensnennungen unterschiedslos verbucht. Ausgenommen davon sind nur die Autoren Krüger, Unzer, Platner und Wezel, deren Omnipräsenz in den ihnen eigens gewidmeten Kapiteln eine Verzeichnung wenig sinnvoll erscheinen lassen. Besonderen Dank schulde ich meinem Lehrer Prof. Dr. Klaus Manger, der die Studie angeregt und ihr Entstehen mit kritischen Hinweisen begleitet und engagiert gefördert hat. Zu ihrem Abschluß trug auch die Förderung durch die Studienstiftung des Deutschen Volkes bei. Zu danken habe ich auch den Professoren Wolfram Hogrebe und Olaf Breidbach sowie den Herausgebern der »Quellen und
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Vorwort
Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte« fur die Aufnahme der Studie in ihre Reihe. Mein Dank gilt ferner allen Bibliotheken, die mir in großzügiger Weise ihre Bestände zugänglich machten, insbesondere den Mitarbeitern der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena für ihre entgegenkommende Unterstützung. Zudem habe ich dem Universitäts- und dem Stadtarchiv Leipzig, dem Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden, dem Archiv der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, dem Thüringischen Staatsarchiv Rudolstadt, der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Tübingen, der Niedersächsischen Staatsund Universitätsbibliothek Göttingen, der Burgerbibliothek Bern, der British Library, der Yale Library (Beinecke Rare Book and Manuscript Library) und dem Staatsarchiv der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen zu danken.
Jena, im März 2003
Hans-Peter Nowitzki
Inhaltsverceichnis Vorwort
VII
Einfuhrung
1
Der Empfindungs-Begriff in der Iatromathematik, im psychischen und dynamischen Vitalismus (1740-1780) Johann Gottlob Krüger und die nomologische Fixierung des Empfindungsgeschehens 1. Einleitung
33
2. Die Naturlehre (1740-1750) Krügers iatromechanische Anthropologiekonzeption 3. Exkurs: Natürliche und künstliche Maschinen
36 39
4. Krüger und die zeitgenössischen Anthropologien im Grundriß eines neuen Lehrgebäudes der A rtçneygelahrtheit (1745)
43
5. Das Krügersche Empfindungsgesetz
57
6. Ich bin einiatromusikalischer Philosoph durch die Töne. Krügers Anthropologieentwurf 7. Experimentalseelenlehre contra empirische Psychologie Krügers Versuch einer Experimental-Seelenlehre (1756)
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8. Das Krügersche Empfindungsgesetz in der zeitgenössischen Diskussion (H. F. Delius, J. A. Unzer, F. Schiller)
78
Johann August Unzers neurophysiologische Begründung des vitalistischen Empfindungsbegriffs 1. Einleitung 2. Johann August Unzer — ein bio- und ergographischer Abriß 3. Die Neue Lehre von den Gemiithsbewegungen (1746) Unzers Weiterbildung der iatromathematischen Affektenlehre Krügers 4. Unzers Adaption der iatromechanischen Anthropologiekonzeption Krügers
87 90
95 102
X
Inhaltsverzeichnis
5. Die Philosophische Betrachtung des menschlichen Körpers überhaupt (1750) - Unzers erster Physiologieentwurf
106
6. Exkurs: Hallers Irritabilitäts- und Sensibilitätslehre
121
7. Unzers Reformulierung des Krügerschen Empfindungsgesetzes auf der Grundlage eines neurophysiologischen Vitalismus
129
Paradigmen spätaufklärerischer Anthropologiekonzeptionen (1770-1790) Vom mechanistischen zum animistischen Menschenbild. Ernst Platners teleologische Anthropologiekonzeptionen in der zeitgenössischen Kritik 1. Einleitung
165
2. Die Briefe eines Arztes an seinen Freund über den menschlichen Körper (1770/71) - Grundlinien eines mechanistischen Physiologiekonzepts
168
3. Platners mechanistischer Anthropologieentwurf von 1772 und seine zeitgenössischen Kritiker
172
4. Platners Aufsatz Über einige Schwierigkeiten des Haikrischen Systems (1781) — Eine anthropologische Neuorientierung
205
5. Die Neue AnthropologieförÄrge und Weltweise (1790) Ein psychovitalistischer Anthropologieentwurf
212
6. Herz contra Platner Der Streit um das Wesen der Gedächtniseindrücke
223
Johann Karl Wezeis experimentelle Anthropologiekonzeption — Möglichkeiten und Grenzen eines empiristischen Welt- und Menschenbildes 1. Einleitung
251
2. Die Genese der philosophisch-anthropologischen Anschauungen Wezeis
255
3. Anthropologische Gehalte im belletristischen, literarkritischen und pädagogischen Schrifttum Wezeis in den siebziger Jahren
263
4. Wezeis Diskussion des teleologischen und kausalanalytischen Anthropologiebegriffs im belletristischen Schrifttum
277
5. Methoden, zu einer Kenntniß des Menschen zu gelangen
281
6. Anlaß, Inhalt und Aufbau des Wezelschen Versuchs
283
7. Der experimentell-introspektive Anthropologiebegriff des Versuchs
293
Inhaltsverzeichnis
XI
8. Literarische Ausdrucks- und Gestaltungsweisen der experimentellen Anthropologie
300
9. Quellen und Quellenkritik im Versuch
306
10. Die anatomischen und physiologischen Voraussetzungen des panassoziattven Anthropologiebegriffs im Versuch
315
11. Der Empfindungsbegriff und die Konzeption des binären Empfindungs-Vorstellungs-Komplexes als Angelpunkt der sensualistischen Anthropologiekonzeption
341
12. Probleme der terminologischen Fixierung und literarischen Darstellung von Empfindungen auf der Grundlage sensualistischer Anthropologie
362
Anhang
371
Literaturverzeichnis
389
Personenverzeichnis
453
Einführung Die Studie hat das Ziel, das anthropologische Denken des 18. Jh. in seinen Konstitutionsbedingungen transparent zu machen. Es ist gekennzeichnet von einem holistischen Ausgriff auf den Cartesischen homo duplex und darauf ausgerichtet, wieder den ganzen Menschen in den Blick zu nehmen. In der Einführung werden kursorisch der Forschungsstand referiert und der methodische sowie sachliche Ansatz skizziert, dem die Studie verpflichtet ist. In den beiden ersten Kapiteln stehen mit dem Empfindungsbegriff exemplarisch das Commercium mentis et corporis und das Denken sub specie machinae im Zentrum der Aufmerksamkeit. Das erste Kapitel entfaltet die dem anthropologischen Denken unterliegende erkenntnistheoretische Folie: das Maschinenmodell. Es zeigt anhand des Krügerschen Empfindungsgesetzes, welche Möglichkeiten es eröffnete, das Commercium-Vtohitm Mitte des 18. Jh. auf erfahrungswissenschaftlicher Basis neu zu formulieren. Das folgende Kapitel dokumentiert, wie sich der iatromathematische Empfindungsbegriff allmählich in einen vitalistischen wandelt und welchen nomologischen Gesetzmäßigkeiten im Rahmen des Maschinenmodells ein vitalistisches Empfindungsgeschehen folgt. Die beiden darauffolgenden Kapitel legen den Schwerpunkt auf die verschiedenen Möglichkeiten von Anthropologieentwürfen im letzten Drittel des 18. Jh. und ihre anatomisch-physiologischen und psychologischen Voraussetzungen. Das dritte Kapitel arbeitet anhand der Diskussion um den Platnerschen Anthropologiebegriff ein wissenschafts- und problemgeschichtliches Koordinatensystem heraus, in das mit dem vierten Kapitel die Wezelsche Anthropologiekonzeption eingebettet wird. Wezeis in den Jahren 1784/85 erschienener fragmentarischer Versuch über die Kenntniß des Menschen bildet den Ausgangspunkt der Überlegungen zu der hier vorliegenden Untersuchung und markiert zugleich deren Endpunkt. Mit ihm versucht Wezel, seine bereits den belletristischen, literarkritischen und pädagogischen Werken und Schriften unterlegten anthropologischen Anschauungen theoretisch zu fixieren und in einer systematischen Grundlegung der Kenntnis vom Menschen gerinnen zu lassen. Die Wezeis Gesamtschaffen intentional umgreifende Klammer bildet die Pädagogik als aufklärerischer Gestus im allgemeinen und die pädagogische Anthropologie im besonderen. Sie stellt das Verbindungsglied zwischen seinen philosophischen, literaturtheoretischen und dichterischen Werken dar. Die das Wezelsche Œuvre durchziehenden anthropologischen Grundgedanken in ihrer theoretischen Fixierung als einen genuin eigenständigen und originellen Systemansatz aufzuzeigen, ist der Untersuchung zur Aufgabe
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Einführung
gemacht. Nur wenn die gedankliche Präzision Wezelscher Argumentationen eingesehen ist, eröffnet sich dem Leser die eigentümliche Dimension seines holistischen Denkens, das der Aufklärungszeit essentiell anhaftet. Es -wird einsichtig werden, in welch unmittelbarer Nachbarschaft Ästhetik, Pädagogik und Anthropologie stehen und wie eng diese miteinander verzahnt sind, so daß das eine schlechterdings nicht ohne das andere in seiner ganzen Tragweite zu erfassen ist. Johann Karl Wezeis (1747-1819) Schaffensperiode währte nur etwa fünfzehn Jahre. In dieser Zeit, von 1772-1787, veröffentlichte er Romane, Lust- und Singspiele, arbeitete er pädagogische Traktate aus und entwarf den großangelegten Versuch über die Kenntniß des Menschen - eine Anthropologie, die letztlich unvollendet blieb. Mit seinem Œuvre prägte Wezel, wenn auch nicht unmittelbar nachhaltig, die deutsche Aufklärungslandschaft. Seine vielgelesenen Werke gerieten bald schon bei den Zeitgenossen in Vergessenheit. Erst Anfang des 20. Jh. begann die Literaturgeschichtsschreibung, sich Wezeis anzunehmen und nach seinem spezifischen Beitrag zur Aufklärung in Deutschland zu fragen1. Eine Forcierung der Bemühungen um Wezel und sein Werk brachten die sechziger und siebziger Jahre, als vereinzelt Neuauflagen seiner Werke erschienen. Die Sammlung von Rezensionen, Vorreden, Repliken und kleineren Schriften, von Schmitt in den Jahren 1971 bis 1975 veranstaltet2, rundete das Wezelbild ab. Die in der Folge einsetzende stärkere germanistische Beschäftigung mit Wezeis Werken kam schließlich zu dem Ergebnis, daß seinem Gesamtschaffen ein höherer literaturgeschichtlicher Stellenwert beizumessen sei. Trotz einer in den letzten Jahren eminent anwachsenden Fülle von Einzelstudien zu bestimmten Aspekten aus des Dichters Œuvre bleibt Adels 1968 publizierte Wezel-Monographie die einzige große und in sich geschlossene Darstellung zu Wezeis Leben und Werk, in der die Kontinuität in seinem Denken auf umfassender, eine Vielzahl von Facetten seines Werkes berücksichtigenden Grundlage transparent und darauf aufbauend der Versuch einer literatur- wie philosophiegeschichtlichen Einordnung gemacht wurde. Keiner folgenden Arbeit gelang es seitdem, von einer dezidierten Untersuchung am Text ausgehend, den philosophischen, literaturkritischen, dichterischen und pädagogischen Gehalt in Wezeis Schriften als Ausdruck eines in sich geschlossenen Menschen- und Weltbildes aufzuweisen. Die nur punktuell vorgenommenen Untersuchungen sind zumeist effektiv bestimmt, ermangeln genetischer Betrachtungsweisen und begnügen sich fast gänzlich mit dem Aufweis von sog. >Einflüssenempirischethierischen SeelenkräftenMechanismen< und >Maschinen< ist, und der Versuch schließlich war ja »in allzu
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punktuell wahrnimmt und dabei nicht von Wezeis Werken ausgeht. Seine physiologiehistorischen Kenntnisse verdankt er fast ausschließlich Sekundärquellen: so kommt er beispielsweise auf den Wezelschen Versuch über die Kenntniß des Menschen erst im Epilog in einem Absatz zu sprechen (ebd., S. 249f.), sieht man einmal von einer Zitation daraus in einer Anmerkung auf den Seiten 125f. ab. Heinz (1996), S. 17. Der Versuch, in erster Linie an fiktionalen Texten das anthropologische Denken der Zeit namhaft zu machen, fuhrt zu einer Ästhetisierung des Anthropologischen und damit zu einer möglicherweise unbeabsichtigten, vielfach unbewußten Loslösung des Anthropologischen von seinen genuinen Wurzeln. Einem solch vorwiegend ästhetisch-literarisch konzipierten Anthropologie-Begriff steht das Faktum entgegen, daß die Frage nach dem Anthropologischen eben nicht nur und nicht in erster Linie im fiktionalen Schrifttum behandelt wird; auch gehen von dort nicht die innovativen Neuerungen aus! Vielmehr wird im Ästhetischen die positive und negative Spannbreite im besonderen ausgelotet Das Menschlich-Allgemeine bleibt den philosophischen Anthropologiekonzeptionen vorbehalten. — Hier liegen auch die Ursachen, weshalb im belletristischen Schrifttum Wezeis nur sog. (Be-)Sonderlinge literarisch gestaltet werden. Heinz (1996), S. 118f.
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Einfuhrung
enger und darum verleugneter Anlehnung« an Platners Anthropologe für Arge und Weltweise von 1772 entstanden18, wie Kosenina herausgearbeitet zu haben glaubt19. Eine Untersuchung wie die hier vorgelegte wird also neben sachlich-genetischen Problemen zeitgenössischen terminologischen Differenzierungen nachgehen müssen, um die Frage beantworten zu können, was den Versuch eigentlich zu einer so vielbeachteten und hochgeschätzten Anthropologie machte. Hierfür ist der Rückgriff auf die primäre Quellenbasis unbedingt angeraten. Dort wird man die nötigen Fingerzeige ebenso finden wie die den Versuch flankierenden Rahmenbedingungen. Garve, dessen Urteil angesichts der Wezel von Kosenina gemachten Plagiatsvorwürfe doppelt schwer wiegt, weil er ein intimer Freund Platners war, schreibt an Weiße nach der Lektüre des ersten Teils: »Wezeis Buch ist mit mehr handgreiflichen und klaren Iden angefüllt, und macht mir weit weniger Mühe [als Herders Ideen %ur Philosophie der Geschichte der Menschheit Er geht seinen eignen Gang, auf dem er viel bekanntes findet, welches er doch durch die neue Verbindung dem Leser unterhaltend macht. Mit Herders Geschichte der Menschheit hat es, nach meiner Einsicht, gar keinen Zusammenhang. Gegen Platnern ist es eben so wenig gerichtet: obgleich eine Stelle aus der Anthropologie mit hartem Tadel citirt wird. Es ist selbst eine Anthropologie, nicht, wie mich dünkt, irgend einem andern Autor entgegengesetzt, sondern eine Sammlung der eignen Wezelschen Gedanken. Der Plan ist gar nicht übel ausgedacht; die Ausführung, wie der Styl, ist nicht sorgfältig ausgearbeitet.«20 - Im Gegensatz zu Garves positiver Einschätzung des systematischen Aufrisses und methodischen Ansatzes stößt der Versuch bei Hamann auf fundamentale Kritik und mißgünstigste Aufnahme: »Wetzeis Versuch ist ein Nebenbuhler [von Herders Ideen] in sehr ungleichem Format und Zuschnitt.« Denn: »Vom Himmel muß unsere Philosophie anfangen — und nicht vom theatro Anatomico und den Sectionen eines Cadavers.«21 Unschwer läßt sich der Grund der Hamannschen Verstimmung angeben: es ist der konsequente, auf das zeitgenössische anatomische und physiologische Wissen gegründete empiristische Grundzug des Wezelschen Versuchs. Denn den Zeitgenossen stand unmittelbar klar vor Augen, welche psychologischen und physiologischen Theoreme Wezel
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Riedel (1994), S. 135. Nicht ganz so weit geht Seibert Sie meint aber auch, da Wezel, ebenso wie Platner, in Leipzig lebte, »daß der Universitätsprofessor Ernst Platner - ungeachtet der philosophischen Streitigkeiten 1781/82 - der entscheidende Vermittler für Wezeis philosophisches und physiologisches Wissen gewesen« sei, was exakt nachzuweisen der Fragmentcharakter des »Versuchs« allerdings unmöglich mache (Seibert (1981), S. 39f.). Kosenina (1989), S. 94-98. Christian Garve an Christian Felix Weiße (Charlottenbrunn, den 29. July 1784), in: Briefe von Christian Garve an Christian Felix Weiße und einige andere Freunde 1 (1803), S. 192f. Johann Georg Hamann an Johann Gottfried Herder (Königsberg, den 6. (8.) August 1784), in: Johann Georg Hamann Briefwechsel 5 (1965), S. 175. Die von Hamann herausgestellte grundsätzliche Unterschiedlichkeit beider Abhandlungen nimmt in ihrer Formulierung auf die programmatische Eingangspassage des ersten Buches der Ideen Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784) Bezug, in der es heißt »Vom Himmel muß unsre Philosophie der Geschichte des menschlichen Geschlechts anfangen, wenn sie einigermaassen diesen Namen verdienen soll.«
Einfuhrung
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im Rahmen seiner Anthropologie miteinander verknüpfte: Unzers vitalistische Zoonomie und die mechanische Psychologie à la Bonnet. In das vitalistische Paradigma wird Wezel durch die Unzerschen Schriften eingeführt. Unzer, von dessen im allgemeinen Physiologie genannten Ersten Gründen der Physiologe der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper (1771) Wezel durch eine Rezension in der Allgemeinen deutschen Bibliothek2 erfahren hat, beschäftigt sich vornehmlich mit neurophysiologischen Regulierungs- und Steuerungsvorgängen. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wieviel der menschliche Körper allein und seelenunabhängig an erhaltungsdienlichen Funktionen zu übernehmen in der Lage ist. Im Rückgang auf Haller, der in seinen 1752 vor der Gottingsehen Gesellschaft der Wissenschaften unter dem Titel de partibus corporis humani sensibilibus et irritabilibus gehaltenen Vorträgen empfindliche und reizbare Körperteile unterschieden hatte, entwickelt Unzer seine Theorie eines nervösen Empfindungsbegriffs. Im Gegensatz zu Hallers Mechanismus und in Abgrenzung zum Stahlschen Animismus inauguriert Unzer mit der Nervenkraft als tierischer Eigenschaft ein Drittes. Dieses, die Sinnlichkeit, später Nervenkraft genannt, ist »die Grundlage des sinnlichen Eindrucks, der als physisches Geschehen am Nerven grundsätzlich von seelischen Vorgängen verschieden ist«23. Haller, der Empfindlichkeit einmal als physische Erregbarkeit der Nervenfaser und zugleich als psychisches Erleben begriff, wird von Unzer terminologisch ob der unzulässigen Homonymie korrigiert. In seinem Grundriß eines Lehrgebäudes von der Sinnlichkeit der thierischen Körper (1768) formuliert Unzer erstmals seine neuartigen und weitreichenden Thesen: »Ich behaupte«, heißt es dort, »daß das Gefühl aller äußerlichen Sinne blos eine Eigenschaft des Sensorii thierischer Körper [i. e. des Nervensystems], daß es keine Vorstellung, keine Empfindung der Seele, und in ihr gar nicht; sondern ausser ihr im Körper vorhanden sey: daß es nicht durch die Seele gewirkt werde, und daß die Empfindung der Seele blos eine Vorstellung von diesem Gefühle sey, welche die Seele eben so, wie die Vorstellungen vergangener oder künftiger Dinge, durch ihre Vorstellungskraft hervorbringt; daß ein Gefühl ohne Vorstellung der Seele, schlechterdings betrachtet, statt finden könne, und daß also das Gefühl eine den Nerven eben so eigene anerschaffene thierische Eigenschaft sey, als es der Reiz in den Muskelfäsergen ist. Dieser Lehrsatz wird eine Menge Nebel zerstreuen, die uns bisher das System der Sinnlichkeit verborgen haben, blos weil wir irrig vorausgesetzet, daß Fühlen und Empfinden einerley sey, und daß das, was der Nerve bey seinem Gefühle leidet, eine Vorstellung, ein Gedanke der Seele wäre."24 Den Grundriß läßt Unzer dann erneut 1769 in der verbesserten und vermehrten Neuauflage seines Arztes als 101. und 102. Stück einrücken und veröffentlicht 1771 schließlich einen fertig ausgeführten systematischen Aufriß unter dem Titel Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper (1771). Dieses opulente Werk von etwa 800 Seiten nimmt, angeregt durch die schon erwähnte
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Allgemeine deutsche Bibliothek 16(1772), S. 502-513. May (1970), S. 86. Unzer, Grundriß (1768), S. 7f.
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Einführung
Rezension, auch Wezel zur Kenntnis und läßt es in seinen Versuch einließen. Unzer initiiert mit diesem Werk eine wissenschaftsgeschichtlich äußerst folgenreiche Weichenstellung, die vom bis dahin herrschenden Mechanismus weg und mitten hinein in den dynamischen Vitalismus fuhrt, etwas, das den Zeitgenossen schon in aller Deutlichkeit vor Augen stand. Der Rezensent der Unzerschen Ersten Gründe einer Physiologe (1771) in der vorgenannten Allgemeinen deutschen Bibliothek umreißt Unzers Anliegen mit folgenden Worten: »Die mechanischen Ärzte haben ihr Fach redlich bearbeitet. Stahl sähe es, daß der bloße Mechanismus nicht hinreichend sey: aber er sprang gleich zu den Wirkungen der Vorstellungskraft über, um sich auszuwickeln und iibergieng daher, was durch blos thierische Kräfte möglich war. H. U. [i. e. Herr Unzer] tritt auf die Mitte; läßt auf einer Seite den bloßen Mechanismus; auf der andern die Wirkungen des Geistes und zieht blos die thierischen Kräfte hervor, die mit dem Mechanismus freylich einschlagen und mit den Vorstellungen des Geistes harmonisch fortlaufen: aber doch als ein drittes für sich in der Theorie besonders gedacht werden können.«25 Aus Bonnets psychologischen Werken erhält Wezel seinen der mechanischen Psychologie verpflichteten Impuls. Es sind vor allem die siebziger Jahre, in denen die mechanische Psychologie Hochkonjunktur in Deutschland hat. Sie ist eine prinzipiell antimetaphysisch ausgerichtete empirische, aber mechanistische Psychologie, die sich zur Erklärung seelischer Phänomene ausschließlich mechanischer Gesetzmäßigkeiten bedient. Bonnet, selbst kein Sensualist, da er neben der Erfahrung auch die Reflexion als Erkenntnisquelle gelten läßt, spricht zwar nicht mehr von angeborenen Begriffen wie Descartes, dafür aber ganz analog von angeborenen Hirnfasern26, die unter Zugrundelegung des Oszillationsmodells und der Assoziationsgesetze eine Vielzahl von Verstandesoperationen naturwissenschaftlich erklären sollen. Damit wird das das gesamte 18. Jh. prägende Denken sub specie machinae vom Materiellen auf Teile des Ideellen ausgedehnt, indem es die Seele um einige ihrer klassischen Funktionen beschneidet und diese dem Gehirn überträgt. Beide, Unzers Bestrebungen, die tierischen resp. vitalistischen Abläufe nomologisch zu fixieren, und Bonnets Depotenzierung des Seelischen zugunsten einer zerebral lokalisierten mechanischen Psychologie, verknüpft Wezel und bietet damit einen genuin eigenständigen Lösungsansatz, der grundverschieden von dem eines Ernst Platner ist, der den Unzerschen Überlegungen stets ablehnend gegenüberstand. Die Modernität der Wezelschen Anthropologiekonzeption fußt auf der produktiven Anverwandlung der seinerzeit innovativsten psychologischen und neurophysiologischen Überlegungen, wofür die vorliegende Studie den Nachweis erbringen wird. Diese hier in aller Kürze umrissenen Grundgedanken hatte sich Wezel schon relativ früh zu eigen gemacht. Bereits in seinem Erstling, dem Tobias Knaut, lassen
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Allgemeine deutsche Bibliothek 16(1772), S. 503. »Ich nehme nicht so wohl angeborne Begriffe, als vielmehr angebome Fibern, an« (Bonnet, Betrachtung über die Natur (' 1766), S. 404).
Einführung
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sie sich aufweisen. Sie bleiben über Jahre seines schriftstellerischen Schaffens hinweg vergleichsweise stabil. Von einem >dogmatischen Schlummer< à la Kant kann bei Wezel seit Anfang der siebziger Jahre keine Rede mehr sein. Sein quasipietistisches Erweckungserlebnis hat er Lockes Essay concerning human understanding (1690) und der oben genannten Rezension der Unzerschen Physiologie in der Allgemeinen deutschen Bibliothek (1772) zu danken. Danach scheinen sich seine philosophischen Grundüberzeugungen recht schnell verfestigt zu haben, so daß mit Fug und Recht von philosophischen resp. anthropologischen Konstanten gesprochen werden kann. Diese sollen in der vorliegenden Studie nachgezeichnet werden, ausgehend von den belletristischen Werken über die für das Dessauer Philanthropin verfaßten Pädagogischen Unterhandlungen bis hin zu dem Fragment gebliebenen Versuch über die Kenntniß des Menschen, der den Mittelpunkt der Studie bildet. Wezel gelingt es, das sei bereits vorweggeschickt, weit davon entfernt, der Platnerschen Anthropologie-Konzeption von 1772 zu folgen oder diese gar plagiieren zu wollen, einen in seiner Zeit singulären holistisch-sensualistischen AnthropologieBegriff zu inaugurieren. Dabei wird in der introspektiv-assoziationstheoretischen Anthropologie Wezeis wider Erwarten dem Phänomen des Tierischen nicht der Stellenwert eingeräumt, den man sich im Hinblick auf Unzer erwartet hätte, was wohl dem synthetischen, Vitalistisches und Assoziationspsychologisches vereinenden Zugriff anzulasten ist. Wezel läßt aber andererseits auch zu keiner Zeit die organische Kinese vollständig in mechanischer aufgehen. Das liegt nicht in seiner Absicht, denn in erster Linie geht es ihm um die Projektion nomologischer Gegebenheiten auf der Folie maschinaler (nicht mechanischer) Kausalitäten. Im Mittelpunkt des Interesses steht für Wezel dann auch weniger das Problem der Selbstbewegung, dem vor allem Hallers, Platners und auch Unzers Aufmerksamkeit gegolten hatte, sondern mehr das der kontrollierten und unkontrollierten Selbststeuerung und —regelung des Organismus >Mensch< und die sich daraus möglicherweise ergebenden moralphilosophischen Verwerfungen. Zwangsläufig tritt bei ihm dann auch, ganz anders als noch bei Unzer, der dem Vitalismus so wichtige Kraftbegriff in den Hintergrund. Sein Maschinenbegriff ist zwar immer noch ein vitalistischer, nur mit anderer modelltheoretischer Gewichtung. Unweigerlich führt das Bestreben der Anthropologie, Psychisches und Physisches zu verbinden, zum Commercium-Ptoblem und damit zur Frage nach der Natur der Empfindungen. Wezel versucht dem mit der Vorstellung von der natürlichen assoziativen Verknüpfung von Idee und Empfindung beizukommen, die dann auch den Ausgangspunkt für seine ästhetischen und pädagogischen Anschauungen bildet. Den Dreh- und Angelpunkt seiner Bemühungen stellt die unlösbare Verknüpfung des Emotionalen mit dem Rationalen dar, wodurch die Empfindung eine bedeutsame Aufwertung erfährt. Konstitutiv steht dafür die generelle Binarität der Empfindungs-Vorstellungskomplexe ein. Das eigentliche Problem des Versuchs besteht darin, daß Wezel in assoziationspsychologischer Manier bestimmte, auch von Unzer als solche angesehene Seelenwirkungen ins Gehirn verlegt: damit lokalisiert er einmal mehr als Unzer darin, nämlich das Vorstellungsvermögen, zugleich aber auch weniger, insofern er das
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Einführung
Nervöse nicht als etwas vom Automatismus Verschiedenes auffaßt. Wezeis Anschluß an die Unzersche Reflexionslehre, in deren Mittelpunkt das Ganglion steht (dem er allerdings als sog. kleinen Gehirnen bzw. Quasi-Relaisstationen keinerlei Aufmerksamkeit schenkt), bringt nicht nur eine auch von der zeitgenössischen Assoziationspsychologie mitgetragene Entthronung der Seele mit sich, sondern zugleich eine auch partielle des Gehirns zugunsten des Mechanismus bzw. Automatismus (im Sinne Wezeis). Das Gehirn wird von Wezel somit nicht mehr als die einzig wichtige Innervationsquelle für das Zustandekommen von Vorstellungsverknüpfungen begriffen, dem unter den nur passiven Leitungsorganen die zentrale somatische Funktion zukommt - eine Meinung, die vor allem unter den mechanischen Psychologen gängig war. Auch insofern arbeitet Wezel einer ganzheitlichen, den Körper stärker berücksichtigenden Anthropologie vor. Aus der Adaption wesentlicher Gedanken, die der zeitgenössischen mechanischen Psychologie einerseits und dem Vitalismus Unzers anderseits entstammen, entsteht ein Mittleres, das weder Animismus noch Vitalismus ist Um es in seiner prinzipiell zerebralen Grundlegung auch begrifflich kenntlich zu machen, könnte man diese Position im Hinblick auf den damaligen Wissenschaftskontext als assoziativen Zerebralismus bezeichnen, soweit es die Vorstellungen und die damit verknüpften Empfindungen betrifft. Doch hier macht Wezel keineswegs halt. Das, was die mechanische Psychologie an assoziativen Gesetzmäßigkeiten zur Erklärung mentaler Vorgänge bereitgestellt hat, dehnt er auf das durch die Unzersche zoonomische Anthropologie charakterisierte Tierische und Mechanische aus. Aus der Komplexität der von Wezel auf diese Weise angenommenen UrsacheWirkungs-Zusammenhänge und deren permanenter Veränderlichkeit geht letztlich ein überaus dynamisch konzipiertes Menschenbild hervor.27 Dies führt in der Folge zur psychophysikalischen Demaskierung der Tugend, die dann die von Wezel in den belletristischen Werken verfolgte literarische Strategie bestimmt und zu einer um sich greifenden anthropologischen Beunruhigung unter den Lesern seiner Werke fuhrt. Dabei gehört Wezeis Aufwertung der Empfindung zu einer das ganze 18. Jh. durchwaltenden Aufwertung des Sinnlichen überhaupt, das sich vor allem gegen die stoische Forderung richtet, daß die Seele affektionslos sein soll. Er geht darin jedoch nicht so weit, das Sinnliche vom Rationalen vollkommen abzulösen. Vielmehr plädiert er für ein ausgewogenes Verhältnis von Vernunft und Leidenschaft.28 Mit dieser allgemeinen Charakterisierung und der groben Einbettung in die spätaufklärerische Wissenschaftslandschaft selbst ist noch nicht viel gewonnen. Zufriedenstellen kann erst die Offenlegung der in den Wezelschen Versuch mündenden Denkbewegungen. Welche Probleme also trieben die Denker um, welche methodischen Möglichkeiten standen ihnen zur Auflösung zu Gebote, welchen Stand hatten die zeitgenössische physiologische und psychologische Wissenschaft
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»In der Sede, und im ganzen Menschen, ist nie eine Wirkung die Folge Einer Ursache, sondern das zusammengesetzte Produkt vieler« (Wezel, Pädagogische Schriften (1996), S. 98). Wezel, Versuch 2 (1785), S. 160.
Wissenschafts-und problemgeschichtliche Dimension
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erreicht, was versprach man sich von der Lösung bestimmter Probleme und welche Faktoren gaben den Ausschlag, bestimmte Fragestellungen nicht weiter zu verfolgen und bislang akzeptierte Problemlösungen erneut auf den Prüfstand zu bringen und schließlich als untauglich zu verwerfen? - Auf all diese Fragen müssen Antworten gefunden werden, um den Wezelschen Versuch sowohl hinsichtlich seiner Ambitionen als auch seiner Stärken und Schwächen angemessen einordnen zu können. In Frage steht ein auf den Versuch hin zu errichtender, die Geistesgeschichte nicht einebnender Interpretationsrahmen. Die Studie nimmt sich deshalb vor, zeitgenössische Problemgehalte herauszuarbeiten, in ihrer Entwicklung nachzuzeichnen und ihre Ausstrahlungen auf bestimmte Begriffs- und Theoriebildungen zu beobachten. Es wird also immer darum gehen, die sachlichen und die terminologischen Dimensionen gleichermaßen in ihrer wechselseitigen Bezogenheit zu berücksichtigen. Da sowohl die konkrete Behandlung der im allgemeinen zur Diskussion stehenden Probleme als auch ihre begriffliche Fassung stets an bestimmte bio- und ergographisch determinierte Zusammenhänge gebunden sind, wird die Arbeit in Aufbau und Methode diesen Rechnung zu tragen haben. Der synchronen Perspektive, also der beschreibenden Darstellung ausgesuchter Werke, ihrer Analyse und Interpretation, wird eine diachrone an die Seite gesetzt, in der es um deren kontextuelle, problemorientierte und wissenschaftsgeschichtliche Einbettung geht. Dabei werden die Untersuchungen immer wieder von den Fragen nach Wahrnehmungsrastern und damit verknüpften Begriffsfeldern gesäumt werden, um auf diese Weise das Sachliche im Diskursiven adäquat aufzuweisen.
A. Wissenschafts- und problemgeschichtliche Dimension Das anthropologische Denken vom Ausgang des 17. bis mindestens zum Ausgang des 18. Jh. beschäftigten insbesondere drei Problemkreise: (1) das wissenschaftstheoretische Konzept >Maschine< und dessen Möglichkeiten und Grenzen, (2) das Empfindungsgeschehen als ein Commercium-Phinomen par excellence sowie (3) die Bestimmung der Anthropologie hinsichtlich ihrer Gegenstände, Methoden und Quellen wie auch ihrer Stellung innerhalb der vorhandenen Wissenschaftssystematik. 1. Das Konzept >Maschine< im Cartesischen Mechanismus, im Newtonschen Physikalismus und im dynamischen Vitalismus Drei grundlegende Problemkreise hielten den Mechanismus der ersten Hälfte des 18. Jh. insbesondere in Atem: (1) das Problem der Selbstbewegung (z. B. der Herzbewegung), (2) das Problem der Empfindungs- bzw. Reaktionsfähigkeit des
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Einführung
Organismus und (3) das Problem der Selbstreproduktion.29 Das Problem der Selbstreproduktion konnte innerhalb des mechanistischen Paradigmas nicht befriedigend geklärt werden, und es hatte mit dem Aufkommen der epigenetischen Theorien der Generation das Nachsehen. Ebensowenig vermochte der Mechanismus der Schwierigkeit der Empfindungs- und Reaktionsfähigkeit Herr zu werden, was sich besonders gut an Johann Gottlob Krügers Avancen dem Animismus gegenüber ablesen läßt. Ebenfalls ungelöst blieb die Frage, was das Herz als den Motor des Lebens überhaupt bewegt. Neue wegweisende, das mechanistische Paradigma durchbrechende Antworten gab erst der Mitte des Jahrhunderts emporstrebende, empiristisch stimulierte Vitalismus, der dem Lebendigen eigene nichtmechanische Kräfte zusprach. Anlaß und Auslöser des Paradigmenwechsels waren Hallers Vorträge Departibus corporis humant sensibiitbus et irritabilibus (1752), in denen dieser Rechenschaft über jahrelang durchgeführte Versuchsreihen ablegte und deren Ergebnis im Aufweis spezifischer, an bestimmte Körperstrukturen gebundener Kräfte des Lebendigen bestand. Er entwickelt darin insbesondere den neuen, zukunftsträchtigen Grundbegriff der Physiologie, den der Irritabilität (Reizbarkeit). Reiz-Reaktions-Phänomene kannte man schon lange, man konnte sie empirisch aufweisen und sie demzufolge nicht leugnen. Zum Problem wurden sie aber in dem Augenblick, als man die Frage zu beantworten suchte, wie es möglich ist, daß ein reizbarer Körper, der durch einen kleinen Anstoß gereizt wurde, gelegentlich mit einer überaus starken, aus dem Anstoß allein nicht ableitbaren Bewegung reagierte.30 Damit stand das Kausalitätsaxiom der Cartesischen Mechanik in Frage. Denn, das hatten Haller u. a. nachgewiesen, es gibt Körperteile, die reizbar sind und deren Reiz-Reaktions-Schema (Adäquanz von Ursache und Wirkung) im Rahmen der bislang angenommenen mechanischen Kausalität nicht erklärbar war. Die Irritabilität mußte also einer besonderen, von der mechanischen unterschiedenen Naturkausalität unterworfen sein. Sie offenbarte aufs deutlichste die Grenzen des Cartesischen Mechanismus mit seiner Leugnung der für das Lebendige so wichtigen Spontaneität und damit der Dynamik31. Das leitete eine biologische Wende innerhalb des Mechanismus ein und bedeutete zugleich eine indirekte Depotenzierung des Seelischen, da die der Muskelfaser einwohnen-
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Vgl. Toellner (1977), S. 61. In der Vorrede seiner Anfangsgründe der Pbisiologie des menschlichen Körpers schreibt Hallen »Denn es kommt bei der thierischen Maschine vieles vor, das von den gemeinen mechanischen Gesezzen weit abweichet; nämlich starke Bewegungen, die von geringen Ursachen erreget sind: schnelle Umläufe der Säfte, die sich durch solche Ursachen sehr wenig vermindern lassen, durch welche sie, nach den angenommenen Gesezzen, hätten gehemmet werden müssen: Bewegungen, die sich von völlig unbekannten Ursachen mit einschleichen: heftige Bewegungen, die von schwachen Fasern herfurgebracht sind: Verkürzungen der Fasern, die alle Rechnungen übersteigen, und was dergleichen mehr ist. Ich halte darum keineswegs davor, daß solche [i. e. mechanische] Gesezze gleichwol solten verworfen werden, nach welchen sich die bewegenden Kräfte, ausserhalb dem thierischen Körper, richten müssen: ich verlange nur, daß man sie nie bei unsren belebten Maschinen anwenden solte, woferne die Versuche nicht damit übereinstimmen« (Haller, Anfangsgründe derPhisiologie 1 (1759), Vorrede [unpag.], S. 16). Borsche (1991), S. 15.
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de Irritabilität mitunter seelenunabhängig agiert. Bis etwa 1770 etablierte sich die Irritabilitätslehre Hallers in der Wissenschaft vollständig, wenn auch vielfaltig modifiziert. Die vitalistische Wende ist demnach grundlegend mit dem Eingang des naturphilosophischen Wissenschaftskonzeptes Newtons in die Medizin verknüpft - ein Umstand, der auch den Zeitgenossen unmittelbar bewußt war, was eine Bemerkung Unzers illustrieren mag, in der es heißt »Diese Erneuerung der Naturlehre [nach den Grundsätzen des Newton] ist auch der Zeitpunkt der Wiederherstellung der Arzneykunst«32. Es war der Iatromechanismus, bereichert um die Newtonsche Physik, der förmlich von innen heraus zum Vitalismus drängte und im Medizinischen zum Entstehen einer neuen experimentell-naturwissenschaftlich fundierten Disziplin führte: der Physiologie. Insofern ist es auch zutreffend, die Abkehr von der mechanistischen Programmatik Descartes' als durch die Einsichten der experimentell (neu)begründeten Physiologie motiviert zu sehen.33 Als nachcartesische, im Geiste moderner Experimentalwissenschaft arbeitende Wissenschaft bestrebte sie sich, die Phänomene des Lebens neu und systematisch zu untersuchen. Es gibt aber weder einen Hiatus noch einen Saltus im Übergang vom Mechanismus zum Vitalismus. Vielmehr handelt es sich um eine vieljährige Gemengelage, in der mal das eine, mal das andere Moment stärker hervortritt, bis sich dann schließlich der Vitalismus um etwa 1755 für annähernd einhundert Jahre Bahn bricht. Das legt aber den Schluß nahe, daß der sich aus dem Cartesischen Mechanismus entwickelnde dynamische Physikalismus ebenso wie der sich wiederum daraus ableitende Vitalismus bei allen signifikanten Unterschieden in wissenschaftsmethodischer Hinsicht große Ähnlichkeiten aufweisen. In Rede steht, wie unschwer zu erkennen ist, das Maschinenmodell und die davon abgeleitete naturphilosophische Vorgehensweise des >mechanischen PhilosophierensMaschine< ist ein Funktionsmodell, dessen Funktionieren sich in der Theorie in der Berechenbarkeit und in der Praxis im Effekt zeigt. Sie fingiert das Urbild im Partiellen, separiert bestimmte Funktionswirklichkeiten und bildet diese dem Urbild >Natur< nach. Die Probe liegt in der adäquaten Effizienz; über Erfolg
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Platners Abkehr vom Mechanismus und seine Hinwendung zum Spiritualismus spiegeln genau diese zeitgenössische monistische Tendenz zum Idealismus wider. Vgl. Wittern (1993), S. 265.
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oder Mißerfolg einer Nachbildung entscheidet der praktische Effekt Dabei verliert keiner der Zeitgenossen das Bewußtsein von der grundlegenden Modelldifferenz.36 Das Denken sub specie machinete war immer methodisch-fiktionales Denken und kann deshalb nicht ohne weiteres als Materialismus inkriminiert werden. Nur so wird verständlich, daß die Maschine das gesamte 18. Jh. hindurch ein von allen allgemein anerkannter Interpretationshorizont geblieben ist. Unmittelbar mit dem Maschinenmodell ist die Begriffsgeschichte des Terminus >Kraft< in der ersten Hälfte des 18. Jh. verknüpft. Die Benutzung des KraftBegriffs indizierte zunächst einmal einen mechanistischen Ansatz. In dem Moment aber, als man zwischen >toter< und lebendiger Kraft< differenzierte und dieser Unterscheidung ins Medizinische Eingang fand, begann sich dort ein Denken Geltung zu verschaffen, das nunmehr gerade dem Lebendigen vorzügliche Aufmerksamkeit zukommen ließ. Es war Leibniz, der mit der Rede von der vis viva — der lebendigen Krafttoten KräfteStatik< gewesen war, begründete Leibniz mit der vis viva eine dynamisch fundierte Mechanik als Lehre bzw. Metaphysik von den lebendigen Kräften< - eine >DynamikPhysik (i. w. S. als Komplementärbegriff zur Metaphysik) von den lebendigen Kräften< beschreiben, die sich entschieden vom Mechanismus abwendet und schließlich im Vitalismus gipfelt37. Damit ging aber ein Riß durch die Naturphilosophie selbst, was die Wiedererringung ihrer Einheit auf die Tagesordnung setzte. Diese kam erst in dem Augenblick wieder zustande, als es dem Mathematiker Jean le Rond d'Alembert in seinem Traité de dynamique (1743) gelang, die Formel für die Berechnung der Kraft: K= Vi m-v2 festzusetzen. Sie verband beide wieder: die Statik Descartes' und die Dynamik Newtons. Das mechanistische Postulat von der durchgehenden Mathematisierbarkeit der Welt war Ausdruck der alleinigen Hochschätzung des Quantitativen. Alles war nur noch Maschine von einerlei Art Zunächst glaubte die Ärzteschaft, ihr sei damit die Möglichkeit gegeben, die Medizin als Erfahrungswissenschaft von Grund auf mathematisieren zu können. Doch nach und nach ließ man das Ansinnen fallen und suchte stattdessen nach qualitativ bestimmten Gesetzmäßigkeiten in Funktionsverläufen. Das Quantitative tritt zugunsten des Qualitativ-Funk-
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Insofern ist Baruzzi nur eingeschränkt zuzustimmen, wenn er schreibt: »Neben der Verwandlung der Metaphysik als einem Denken sub specie aeternitatis zu einem Denken sub specie humanitaüs sehen wir einen Grundzug des Denkens hervorbrechen, den wir als das Denken sub specie machinae bezeichnen. Es zeigt sich in der Hinwendung zum Gründen als Erzeugen, Herstellen, dem Unterstellen eines maschinalen Prinzips in allen Gründungsvorstellungen« (Baruzzi (1973), S. 11 f.). Denn der Vorstellung von der maschinalen Erstellung eines Menschen hing, soweit ich sehe, im 18. Jh. niemand nach. Borsche (1991), S. 3.
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tionalen wieder mehr in den Hintergrund. Leibniz verschaffte diesem Gedanken mit seiner Unterscheidung von natürlicher und künstlicher Maschine nachhaltig Eingang in das Denken des 18. Jh. Mit der Irritabilität als einer vis viva gelang es Haller dann Mitte des Jahrhunderts, der physikalischen Metapher lebendige Kraft< Eingang in die empirischen Naturwissenschaften zu verschaffen und den metaphysischen Animismus ebenso wie den mechanischen Materialismus in ihren Erklärungsansprüchen zurückzuweisen. Leibniz' zunächst nur metaphysische Größe wird von Haller als physisches Charakteristikum einer lebendigen Struktur verstanden und empirisch aufgewiesen. Gerade der Eingang des Begriffs der >lebendigen Kraft* ins Medizinische, speziell ins Physiologische, und seine sich in rasanter Schnelligkeit vollziehende vitalistische Uminterpretation kann in der ersten Jahrhunderthälfte gut beobachtet werden.38 Insofern lassen sich gerade auch am Begriffsinhalt der lebendigen Kraft< und seiner Verwendung die schrittweise Abkehr von mechanistischen Denkweisen nachvollziehen; zugleich aber auch ermessen, wie stark die Geburtshilfe der Mechanik bei der Entstehung der neuen Denkrichtung des Vitalismus war, der essentiell vom mechanischen Dynamismus profitierte. In dem kleinen Aufsatz Von dem richtigen Begriffe der mechanischen Philosophie (1710/1737) gibt Christian Wolff Rechenschaft von dem eben skizzierten Wandel des Mechanismus-Verständnisses in der ersten Hälfte des 18. Jh., der sowohl den Maschinen- als auch den Kraftbegriff betrifft. »Zu unsern Zeiten«, heißt es einleitend, »führet man die mechanische Philosophie fast durchgehende im Munde«39. Und doch sei den meisten Philosophen »der wahre Begriff von der mechanischen Philosophie [...] ganz und gar unbekannt«.40 Denn sie übersehen, daß sich der Mechanik-Begriff grundlegend gewandelt habe und nun nicht mehr mit der althergebrachten Cartesischen Bedeutung übereinkomme. Und niemandem habe man diese Weiterentwicklung mehr zu danken als Leibniz. »Denn er hat nicht nur [...] die wahren Gesetze von dem Widerstande der festen Cörper, von dem Widerstande der Materie, darinnen der Cörper sich beweget, und von der Bewegung der geworffenen schweren Cörper in einer ihnen widerstehenden Materie, den biß dahin ganz und gar unbekannt gewesenen Begriff von den Kräfften, desgleichen die Art und Weise die bewegende Kräffte auszumessen, aller Welt vor Augen zu legen, sich gefallen lassen; sondern er hat auch die Geseze, nach welchen sich die Cörper im Stoffe richten, auf eine unvergleichliche Weise gesuchet und gefunden.«41 Die mannigfaltigen wissenschaftlichen und damit semantischen Verände-
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So bedient sich beispielsweise Krüger noch seines mechanistischen, wenngleich schon dynamisierten Inhalts; Unzer aber füllt ihn bereits vitalistisch, d. h. bio-dynamisch, um die Lebenserscheinungen nichtmechanistisch beschreiben zu können. — Zur Unterscheidung psychodynamischer (=Animismus) und biodynamischer Konzepte (=dynamischer Vitalismus) vgl. Rothschuh (1978), S. 291293. Wolff, Von dem richtigen Begriffe (1710/1737), S. 723. Ebd., S. 724. Ebd., S. 729.
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rangen hätten dazu gefuhrt, daß die Wissenschaft von der Bewegung »doch bloß den Nahmen der Mechanic oder Bewegungskunst behalten«, alles andere sich aber grundlegend gewandelt habe42. Mechanisch philosophiere demzufolge nurmehr der, »der die Wirckungen nach denen wahren Bewegungs-Gesezen der Natur erkläret, und ihre Möglichkeit dem Verstände begreiflich vorstellet. Nun aber werden alle Cörper insges. Maschinen genennet, deren Würckungen aus ihrer Zusammensetzung nach denen ewigen Gesezen der Natur erfolgen«43. Insofern sei es auch weiterhin richtig zu sagen, die »Mechanic« sei das »Gesezbuch der Natur«44, wenngleich sie jetzt eine um die Newtonsche Physik vermehrte sei. Außer Kontaktwirkungskräften kommen nunmehr auch Fernwirkungskräfte für eine Maschine in Frage, und diese setzen nicht nur extern an der Maschine mit ihren Wirkungen an, sondern können, worauf der Vitalismus abhebt, auch in der Maschine selbst ihren Ursprung haben. Diesen Aspekten, dem Wandel des Maschinenparadigmas, ist insbesondere das erste Kapitel der vorliegenden Studie gewidmet, wenn sich auch das Funktionsmodell von ebenso fundamentaler Bedeutung für die am Schluß der Untersuchung behandelte Wezelsche Anthropologiekonzeption erweisen wird. Dabei wird klar werden, daß der Wezel gemachte Vorwurf, er verstünde den Menschen als eine Maschine, lediglich ein ahistorisches, oft modernistisch-vitalistisches, -animistisches oder -theologisches Vorurteil ist, das jeglicher Grundlage entbehrt. 2. Das Empfindungsgeschehen als ein Commeraum-Vhänomea par excellence Das eigenständige Profil einer aufklärerischen Anthropologiekonzeption läßt sich besonders gut an der Art und Weise der Behandlung des Empfindungsproblems ablesen, insofern es ins Zentrum der Behandlung des Commercium-Ptoblems führt und vieles über den dem Körper und dem Seelischen eingeräumten Stellenwert verrät. Zudem gewährt es Einblick in anthropologische Perspektivierungen, ζ. B. ob das Körperliche vom Geistigen her gewertet wird oder umgekehrt. Der Empirismus, der zwei Quellen der Erkenntnis annimmt: die Selbstbeobachtung (reflexion) und die Wahrnehmung (Sensation und Körpergefühl), als auch der Sensualismus, der alles einzig auf die Wahrnehmung zurückführt, werden gleichermaßen auf das Phänomen der Empfindung geleistet. Ja, der Zugang zum Seelischen, zum Verstand und Willen, zum Erkennen und Begehren, wie die Vermögen von altersher betitelt wurden, eröffnen sich dem Empirismus wie dem Sensualismus prinzipiell nur über die Empfindungen. Die sensation transformée avancierte daher gleichsam zum Herzstück aufklärerischer Anthropologiekonzeptionen. Daß die von Descartes getrennten Substanzen zugleich auch miteinander agieren, davon legte die tägliche Erfahrung beredtes Zeugnis ab — und zwar allein
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schon durch das allgegenwärtige Empfinden.45 Das von Descartes postulierte metaphysische Commercium wird durch das Empirische quasi unterlaufen, der kausale Hiatus zwar nicht beseitigt, aber überbrückt. Denn hier konnte von einer âme separée du corps im strengen Sinne keine Rede mehr sein. Empfindung, Leidenschaft und Temperament stießen den Empiriker auf eine solche Vielfalt von Phänomenen, daß ihm das metaphysische Postulat schlechterdings kaum noch tragfahig erscheinen konnte. Der Rückgriff auf das scholastische InfluxusParadigma war unumgänglich. Zugleich aber schärfte die Cartesische Philosophie das methodische Bewußtsein ungemein, und zwar so, daß die Beschäftigung mit dem Menschen eine neue Qualität bekam. Mit der Cartesischen Abkehr von der bislang herrschenden scholastischen Substanzontologie und der Hinwendung zum Funktionalontologischen verband sich ein Perspektivwechsel: der Seinsbezug wurde durch einen konsequenten Ichbezug abgelöst - ein Vorgang, der in der deutschen Frühaufklärung vor allem mit dem Namen Christian Thomasius verbunden ist46 und dem die aufklärerischen Anthropologiekonzeptionen ihre subjektzentrierte Ausrichtung verdanken. Den Stellenwert, den Empirist und Sensualist der Empfindung fur das Seelische einräumen, verschiebt traditionelle Konstellationen auf das Nachhaltigste. Das Empfindungsvermögen, das seit der Antike im abendländischen Denken47 als unterstes der drei Seelenvermögen Empfindung, Handlung und Denken angesehen wurde, avanciert im Verlaufe des 18. Jh. zu einem zentralen, zunächst noch seelischen, später dann häufig auch zerebralen Vermögen. Diesen philosophischen Gewichtungs- und Lokalisierungstendenzen kommt Haller mit seinem experimentellen Nachweis der Irritabilität und Sensibilität naturwissenschaftlich entgegen und bereitet ihre naturwissenschaftliche Sanktionierung zumindest vor. Das vor allem seit Descartes verabsolutierend auf das metaphysische Leib-SeeleProblem reduzierte Commerdum wird infolgedessen wieder um seine physische Domäne erweitert, eben das empirische Leib-Seele-Problem, das unmittelbar abhängig ist von dem augenblicklichen Kenntnisstand der Anatomie und Physiologie, insbesondere im Hinblick auf das Gehirn und die Nerven. Wenn man auch im gesamten 18. Jh. vergeblich nennenswerten hirnanatomischen und -physiologischen Kenntniszuwachs suchen wird, so gibt es doch bestimmten, oft zunächst auch nur vermuteten, spekulativ vorweggenommenen, experimentell-erfahrungswissenschaftlich noch nicht einholbaren Wissenszustrom, der manchmal ganz weitreichende Konsequenzen nach sich zu ziehen vermochte.48 In erster Linie sei hier an die neuroanatomischen und -physiologischen Hypothesen (Nervensaite vs. Nervensaft bzw. -geist) und das ebenfalls nur hypothetisch angenommene sensorium commune und die Konzeption von den verschiedenen Seelenorganen (Äquipotenztheorie des Gehirns vs. Zentrenlehre) erinnert. Der zerebra-
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Specht (1966), S.61f. Wundt (1945), S. 11-13,314. Vgl. Atist. de anim. 413bl2-414a32. Vgl. Anhang.
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le Empfindungsbegriff löst während der sechziger und siebziger Jahre das Empfindungsgeschehen vom Commercium mentis et corporis. Denn es berührt bald Seelisches überhaupt nicht mehr. Bei Krüger und Unzer gab es noch einen seelischen Empfindungsbegriff; letzterer konnte auch die sich daraus ergebenden unangenehmen Konsequenzen vermeiden, indem er strikt zwischen nervösem Empfindungsgeschehen und seelischem Empfindungsinhalt trennte. Die mechanischen Psychologen aber erklären die Empfindung dann kurzerhand zu einem rein hirnphysiologischen Phänomen. Auch die Leidenschaften sind jetzt, im 18. Jh., keine eigentlichen Leiden der Seele mehr, wie noch bei Descartes49, sondern psychophysiologische Phänomene, die ihren Platz im Nerv und Gehirn haben. Damit wird die stoische Sicht auf die Affekte, wonach diese unvernünftige und widernatürliche Regungen der Seele seien, aufgekündigt. Davon ist auch der Tugendbegriff, was aufs deutlichste in Wezeis belletristischen Werken zu sehen sein wird, betroffen. Denn nunmehr, da die Leidenschaften als etwas durchaus Natürliches angesehen werden, die gelegentlich schon mal ins Affektive ausarten und dadurch anomal-naturwidrig werden können, besteht die Tugend darin, das zur Tugend fuhrende rechte Maß zu finden. Im klaren Gegensatz dazu befand sich das auf Unterdrückung und Abwesenheit jeglicher Leidenschaften abgestellte stoische Tugendideal der Ataraxia (αταραξία, tranquillitas animi; Sen. de ira 2,17,7). Auch in der Medizin erfahren die Leidenschaften seit der Frühaufklärung eine differenziertere Wertung. Ihr Stellenwert für Gesundheit und Krankheit beschäftigt dann das gesamte 18. Jh. unablässig.50 Es ist überaus aufschlußreich zu sehen, wie bei Krüger und beim frühen Unzer der kinästhetisch aufgefaßte Empfindungs-Begriff in Gestalt ihrer dynamischen Physiologien über die Cartesische Grenzscheide von res extensa und res cogitans hinausdrängt, dem Vitalismus gleichsam vorarbeitet und den substanzontologischen Hiatus mit Hilfe des Maschinenmodells förmlich funktional transzendiert (wiewohl sie sich, was im 18. Jh. fast durchgehend der Fall war, über den konkreten Transaktionsmodus zwischen Körper und Seele ausschweigen). 3. Anthropologie als Wissenschaft - ihre Gegenstände, Methoden, Quellen und Stellung innerhalb der traditionellen Disziplinenhierarchie Es scheint im Rückblick, als sei die Anthropologie im ausgehenden 18. Jh. gewissermaßen der archimedische Punkt gewesen, von dem aus die Pädagogik, Philosophie, Naturwissenschaft, die Politik, die ganze Belletristik, ja die gesamte geistige und tätige Welt ihren Antrieb für die als so dringlich empfundene grundsätzliche Erneuerung erhalten hat. Zugleich scheint sie aber auch ein Brennpunkt gewesen zu sein, in dem sich all das gebündelt traf, was die von ihr durchstrahlten
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Vgl. Descartes, Les passiona te l'âme (1650), §§ 19 und 28. Rothschuh (1978), S. 307.
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Wissensgebiete gleichsam reflektierten, nunmehr aber mit Neuem, grundsätzlich Anderem angereichert und dazu angetan, die Anthropologie in neuem, veränderten Glänze erstehen zu lassen. Vor allen anderen Wissenschaftsdisziplinen aber machte sich anthropologisches Denken in der Medizin und der Philosophie geltend. Restaurativ-Theologisch-Metaphysisches und Innovativ-Naturwissenschaftliches kamen zusammen, verwoben sich in- und stritten miteinander, beides dabei gleichermaßen eingebettet in Überliefertes, traditionell tief Verwurzeltes. Anthropologie wurde gewissermaßen zum Inbegriff der Erneuerung schlechthin, indem sie den Wissenschaften neue, oft auch eminent beunruhigende Problemstellungen aufzeigte und sie mit diesen Impulsen grundlegend dynamisierte. Anthropologisches Denken ist, wie jedes andere wissenschaftliche Denken, genuin problemgebundenes, gegenstandsorientiertes Denken, es sei metaphysisch oder empirisch, und kreist so auch im 18. Jh. stets um die beiden Pole des Menschenmöglichen und des Menschennotwendigen. Die Bestimmung des Menschen< nähert sich dem Notwendigen vom Möglichen her und skizziert ein davon abgezogenes Menschenbild, die >Kenntnis des Menschen< geht genau den umgekehrten Weg.51 Während jenes den Menschen in eine rational abgesicherte, häufig theologisch verankerte Seinsordnung einordnet, bettet diese den Menschen und mit ihm die Rationalität in sein animalisches Wesen ein.52 — Vor diesem Hintergrund muß Hamanns oben schon angeführte Kritik an Wezeis Versuch gesehen werden, wenn er schreibt: »Vom Himmel muß unsere Philosophie anfangen - und nicht vom theatro Anatomico und den Sectionen eines Cadavers.« Daß das keine nur untergeordneten, bloß akzidentiellen Fragen waren, darüber herrschte Einigkeit unter den Gelehrten. Sie sahen in der Anthropologie eine Basis, die für grundlegende Gesellschafts- und Lebensorientierungen Aussagen treffen und Korrektive für Bestehendes liefern sollte. Ihre oben schon herausgestellte Ausrichtung auf das Individuum bedingt ein Charakteristikum der deutschen Anthropologien jener Zeit: in ihnen kommt der Mensch mehr als bio-psychisches Wesen denn als biopsycho-soziales Wesen zum Ausdruck. Anthropologie, heute wie damals, verlangt mit ihrer interdisziplinären, zwischen Philosophie und Medizin vermittelnden Orientierung vom Anthropologen eine originäre synthetische Leistung ab, die um so mehr Respekt verdient, da bereits damals die Arbeitsteiligkeit der Wissenschaften schon sehr weit fortge-
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Sombart unterscheidet ganz zutreffend zwei Erkenntniskreise, die das Wort Anthropologie umgreift: der eine widmet sich dem Sein und Sinn des Menschen, der andere seinem Dasein und Sosein. Fragen zum Sein und Sinn greifen naturgemäß ins Transzendentale aus und werden insbesondere im Philosophischen und Theologischen behandelt. Die empirische Anthropologie dagegen wendet sich dem Menschen in seinem Dasein und Sosein zu. Hier ist der Mensch ein Gegenstand der Erfahrung und nicht der spekulativen Bestimmung (Sombart (1938), S. 96-98). Tetens, Philosophische Versuche 2 (1777), S. 373: »Allemal aber kann die Frage: was kann aus dem Menschen werden, und was und wie soll man es aus ihm machen? nur gründlich und bestimmt beantwortet werden, wenn die theoretische: was ist der Mensch? was wird er und wie wird erst in den Umständen und unter dem Einflüsse der moralischen und physischen Ursachen, unter denen er in der Welt sich befindet? vorher bestimmt und deutlich beantwortet ist.«
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schritten war53. Eine sachgerechte, den wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Anthropologie hatte auch im 18. Jh. schon stets die organismischen wie die psychischen und kommunikativen Voraussetzungen des Menschen zu explizieren, wobei der Anthropologe natürlich auf den aktuellen Kenntnisstand verwiesen war. Andere als darauf aufbauende fiinktions- und konstruktionsmorphologische Beschreibungen des Menschen waren inakzeptabel, wie man im Verlauf der Studie immer wieder aufs neue bestätigt finden wird. Der Anthropologiebegriff kann sowohl sachlich als auch disziplinar54 thematisiert werden, obgleich strenggenommen das eine natürlich nicht ohne das andere zu denken ist. Zunächst soll jedoch der wissenschaftsthematische Aspekt im Vordergrund stehen. Zu Beginn des 18. Jh. herrschte Einigkeit darüber, daß die Anthropologie von verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen und Fakultäten betrieben werden muß. Nur über den Modus war man uneins. Die Experimentalphilosophen (a) ordneten die Anthropologie der in der Philosophischen Fakultät behandelten Physik bzw. Naturphilosophie zu.55 Sie folgten damit der alten ari-
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»Soll Anthropologie kein blos allgemeiner Begriff für zwei reale Wissenschaften seyn, so sezt sie eine Synthesis zweier für eignes Gebiet zu beschränkenden realen Wissenschaften voraus und ist eine Wissenschaft des ganzen Menschen (in concreto), wenn dagegen die Psychologie eine Abstraction voraussezt und die Wissenschaft des innem Menschen (in abstracto) ist« (Carus, Psychologie 1 (1808), S. 21). Disziplinar heißt hier nicht: konkrete Form sozialer Institutionalisierung. Wenn hier von Anthropologie als Wissenschaftsdisziplin die Rede ist, dann lediglich im Sinne einer kognitiven Differenzierung der >Wissenschaft vom Menschenvernünfügen< Ärzte voran (ebd., S. 176ff.; vgl. auch Scheer (2001), S. 644f.).
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Β. Begriffsgeschichtliche Dimension Die wissenschaftliche Terminologie des 18. Jh. war noch nicht, wie heute, definitorisch eingeschmolzene geschichtslose Begrifflichkeit, die den alltagssprachlichen Bezug im Bewußtsein der Sprecher verloren und sich zu einer bloßen Ansammlung von termini technici gewandelt hat. Ganz im Gegenteil, sie schillert noch in einer verwirrenden semantischen Vielfarbigkeit und ist alles andere als jedweden metaphorischen Nebensinns entkleidete, nackte, sog. klare Terminologie, und als solche objektive Wahrheit generierende Begrifflichkeit.77 Der mit der traditionellen alltagssprachlichen Gebundenheit gegebenen terminologischen Konservativität hat auch die Fachsprache des 18. Jh. und damit wiederum die Überfuhrung dieser ins popularphilosophische Schrifttum, dem gerade auch die belletristischen Werke Wezeis zuzurechnen sind, Tribut gezollt. Das Neue zeigt sich hier wie dort stets im Alten, fur den heutigen Leser nur kennbar an feinsten, kaum spürbaren Nuancierungen, was es mitunter äußerst kompliziert macht und unter Umständen sehr mühselig sein läßt, gerade die innovativen Momente in der Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem, von Altem und Neuem aufzuweisen. Erschwerend tritt hinzu, daß natürlich jeder durch seine Alltagssprache wie durch die Literatur immer schon in einer metaphorischen Tradition steht, was die Rezeptionsgeschichte der Wezelschen Werke und ihre Einordnung in den französischen Materialismus aufs Sinnfälligste belegen. Bereits Wezel wußte um das damit verbundene Risiko, denn: »In jeder Sprache werden gewisse Metaphern so gänge und gebe, daß sie beynahe zu eigenthümlichen Bezeichnungen der Sache werden, die sie ausdrücken.«78 Dabei ist das kein Problem nur der früheren Jahrhunderte. Auch heute kommen beispielsweise die Fachsprachen der Physik und der Technik nicht ohne agentivierende, anthropomorphisierende und ältere, am zeitgenössischen Kenntnisstand gemessen, veraltete fachsprachliche Termini aus; genausowenig wie sie auf Analogien zur Beschreibung neuer Sachverhalte verzichten können.79 So ist die Maschinen-Metaphorik bis heute wirksam geblieben, wenngleich sie anders akzentuiert auftritt: der funktionalontologische Gestus ist prinzipiell der gleiche geblieben, es verschiebt sich aber der Zweck der Metaphorik vom begreifenden Nachvollzug hin zur rationalen Reproduzierbarkeit à la Hobbes80, wobei man glaubt, das Substanzontologische sei über das Funktionsontologische hinweg tendentiell einholbar.81
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Vgl. auch Kutschmann (1983), S. 16f. Wezel, Rezension: Deutsches Museum, 1777. Erster Band. Fortsetzung (1780), S. 67. Vgl. Jakob (1991), S. 97. Hobbes, De corpore (1655), 1,1,8. Vgl. Baruzzi (1973), S. 52f.
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Die Wissenschaftsentwicklung ist also generell durch eine parallel verlaufende und sich gegenseitig durchkreuzende Metaphorisierung und De-Metaphorisierung gekennzeichnet. Dieses Miteinander von Eigentlichem und Uneigentlichem sowie Gleichzeitigem und Ungleichzeitigem in der Wissenschafts- wie in der Literatursprache kann besonders gut an Schlüsselbegriffen aufgewiesen werden, die ganze Wissenschaftsparadigmen zu repräsentieren in der Lage sind, wie etwa an der Saiten- und der Maschinenmetapher. Gerade der Uhren- und Maschinenmetaphorik muß im 17. und 18. Jh. der Rang einer epochalen, die Denkstrukturen determinierenden Wurzel- bzw. Hintergrundmetaphorik eingeräumt werden.82 Damit sind jene Leitvorstellungen benannt, die es dem Historiker ermöglichen, Terminologien, in ihrem umfassenden Sinnhorizont eingebettet, erst eigentlich zu verstehen, Metaphorisches von Nichtmetaphorischem fuglich zu trennen und ihre transitorisch metaphorisierenden und demetaphorisierenden Momente als Charakteristikum einer lebendigen Sprache zu begreifen.83 Da oben bereits genugsam auf die Maschinenmetapher eingegangen worden ist, sei an dieser Stelle auf die Domäne des Seelischen in der Sprache verwiesen. Im Gefolge der fortschreitenden Materialisierung traditioneller Seelenfunktionen, ihrer Herabstimmung zu bloßen Hirnfunktionen, wie sie schon im 18. Jh. zu beobachten ist, wird der vormalige metaphorische Ausdruck seiner Metaphorizität zunehmend entkleidet. Es war nun nicht mehr nötig, zur auch sprachlichen Wahrung des überkommenen unkörperlichen Seelenbegriffs figürlich von den Seelenfunktionen zu reden. Um über mentale Prozesse zu sprechen, konnte man nun durch die indirekte Bedeutung hindurch auf die direkte zugreifen. Denn anschauliches Sprechen lag bereits dann vor, wenn physiologisch oder, im Falle Wezeis, abbildlichreal gesprochen wurde. Nicht, daß die Verlagerung vom Seelischen ins Zerebrale metaphorisches Sprechen generell überflüssig gemacht hätte — das wäre zuviel gesagt; es hat aber das Sprechen viel Metaphorisches auf diesem Felde verloren, was es später wieder hinzugewinnen sollte. Dieses sprachliche Faktum spiegelt ein epistemisches wider, glaubte man doch den Phänomenen des Denkens im weitesten Sinne etwas näher gekommen zu sein, insofern der Hiatus zwischen Seele und Körper für weit unüberbrückbarer gehalten wurde als der zwischen körperlichem Gehirn und übrigem Körper. An die Stelle einer Psychologie der Seele konnte eine Physik der Seele treten, deren Assoziationsgesetze die genaue Entsprechung der Newtonschen leges motu darstellten.84 Die sich darin widerspiegelnde Verkörperlichung der Seele ist ein langer gewollter begriffsgeschichtlicher Prozeß der Entkörperlichung bzw. Vergeistigung der Seele und der mit ihr verknüpft gedachten Vermögen vorausgegangen. Die Entkörperlichung des Subjektbegriffs wurde solange vorangetrieben, wie sie dazu angetan war, theologisches, philosophisches, aber auch naturwissenschaftliches Denken zu unterstützen. Das Zeitalter der Aufklärung und die in ihr aufstrebende Anthropologie mit ihren auf
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Nieraad (1977), S. 90. Blumenberg (1960), S. 69. Vgl. Ortega Y Gasset (1927/1954), S. 322.
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Einfühlung
Ausgleich zwischen Körper und Seele gerichteten Bestrebungen widerstand einem solch vergeistigten Subjektbegriff immer mehr, arbeitete einer zunehmenden Materialisierung vor und fand ihren wohl sinnfälligsten Ausdruck in der mechanischen Psychologie. Das alles sei der eigentlichen Studie vorweggeschickt, einmal, um auf bestimmte Schwierigkeiten hinzuweisen, die das Thema mit sich bringt, zum anderen aber auch, um für einige Probleme zu sensibilisieren, die einer eindimensionalen Behandlung und Lösung widerstehen. Die oft nur thesenartigen Bemerkungen sollten eine Handreichung bieten und den Aufbau der Studie hinsichtlich ihrer Problemkreise, die dafür in Anschlag gebrachten Methoden und die zu erwartenden Ergebnisse zu rechtfertigen. Während die Reihenfolge der Dimension A gewissermaßen die Unterteilung der Studie in zwei Teile begründet, unterliegt die Dimension Β der gesamten Studie, indem sie das Bewußtsein dafür wecken sollte, daß das Denken immer an eine sprachliche Praxis gebunden ist, die man kennen muß, um über vormals Gedachtes und Bezwecktes angemessen sprechen und reflektieren zu können.
Der Empfindungs-Begriff in der Iatromathematik, im psychischen und dynamischen Vitalismus (1740-1780)
Johann Gottlob Krüger und die nomologische Fixierung des Empfindungsgeschehens
1. Einleitung Johann Gottlob Krüger (1715-1758) verdient in der vorliegenden Untersuchung verschiedener Faktoren wegen besonderes Augenmerk. Als ein herausragender Vertreter der Halleschen Medizin der ersten Hälfte des 18. Jh. trägt er die forcierten und weit in die zweite Hälfte des 18. Jh. ausstrahlenden anthropologischen, Medizin und Philosophie vereinenden Bestrebungen der Hallenser Aufklärung, die nachhaltig u. a. die Ästhetik der Spätaufklärung anthropologisch konturierten. Daneben steht Krüger auch als (Wieder-)Begründer der Vorstellving von der solidaren Beschaffenheit der Nerven in Deutschland exemplarisch ein, die in der Metapher von der Seele als Saiteninstrument ihren beredten Ausdruck findet und »inter den Zeitgenossen heftig diskutiert wird. Ihr schlossen sich u. a. Christian Wolff (1679-1754), David Hartley (1705-1757) und Joseph Priesdey (1733-1804) an. Die solidare Nervenvorstellung bildet die anatomisch-physiologische Grundlage zur Formulierung seines wegweisenden Empfindungsgesetzes. Und zu guter Letzt ist Krüger Lehrer, Vordenker und Mentor Johann August Unzers. Von ihm übernimmt Unzer entscheidende Anregungen, an ihn kann er unmittelbar anknüpfen. Krüger steht damit an der Schwelle zu einer neuartigen Nervenphysiologie im Rahmen eines dynamischen Vitalismus und präludiert gewissermaßen Unzers Formulierung des Reflexbogens. Von herausragender Bedeutung ist die Inaugenscheinnahme des Verhältnisses beider zueinander auch deshalb, weil sich an ihnen der Übergang vom Mechanismus, der trotzdem auch Elemente eines psychischen Vitalismus enthält, zum dynamischen Vitalismus aufzeigen läßt. Krüger verkörpert einen Höhepunkt mechanistischen Denkens, da er bereits voll auf dem Fundament der Newtonschen Physik aufruht und diese in seine medizinischen Ansichten einfließen läßt. In Unzer vollziehen sich dann die Abkehr und der Neuanfang. Um beider Denkwelten in ihrer Disparatheit, aber auch in ihren Konvergenzen verstehen zu können, ist es angebracht, sich zunächst Krügers Werdegang vor Augen zu führen und dann ausgewählte Werke in den Blick zu nehmen. Johann Gottlob Krüger wird 1715 in Halle an der Saale geboren. Er besucht die Lateinschule des Halleschen Waisenhauses und erwirbt sich dort sehr gute
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Vorkenntnisse, die ihm den Universitätsbesuch mit bereits fünfzehn Jahren erlauben. Auf der Universität folgt er in erster Linie seinen naturwissenschaftlichen Interessen und Neigungen und widmet sich vor allem der Mathematik und Physik. Im Juni 1737 erlangt er den philosophischen Magistergrad.1 Danach belegt er den Studiengang Medizin. Zu seinen medizinischen Lehrern zählen sein in medizinischen Belangen mechanistisch orientierter Patenonkel Friedrich Hoffmann (1660-1742), Johann Heinrich Schulze (1687-1744) und Johann Friedrich Cassebohm (1699-1743). Fünf Jahre später, am 4. April 1742 bekommt er die medizinische Doktorwürde an der Friedrichs-Universität verliehen, nachdem er am 31. März 1742 seine Dissertation De sensatione2· verteidigt hat. Ein Jahr später publiziert er eine Zuschrifft an seine Zuhörer: worinnen er Ihnen seine Gedancken von derElectricität mittheilet und Ihnen zugleich seine zukünftige Lectionen hekant mach fi, und wird damit, zusammen mit seinem Schüler Christian Gottlieb Kratzenstein4 (1723-1795) und dem Leipziger Medizinprofessor Samuel Theodor Quelmaltz (1696-1758)5, zum Begründer der modernen Elektrotherapie. Nach nur einem Jahr beruft man ihn zum außerordentlichen Professor der Medizin, und nachdem ein weiteres Jahr vergangen ist, 1744, hat er bereits eine ordentliche Professur für >Weltweißheit und Arzneygelahrtheit< an der FriedrichsUniversität inne, eine in Halle typische fächerübergeifende Kombination.6 1746
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Meditati/ma physical de nonnuUis ad motum globuli e sdopeto explon pertinentibus praeside lóame Henrico Schulde [...] esamini submittet ìoann Gottlob Krueger, Halae Magdeburgicae 1737.
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Halae Magdeburgicae: Carl Herrmann Hemmerde 1742. Halle: Carl Herrmann Hemmerde 1743,21745. Christian Gottlieb Kratzensteins erste Publikation dazu fallt in das Jahr 1744 und nicht, wie häufig zu lesen ist, ins Jahr 1745. Sie trägt den Titel: Schreiben von dem Nutzen der Elettricità! in der Anpeyms-
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senschaft. An Herrn Georg Friedrich Faber als Demselben der mediciniscbe Doctorhuth auf der Universität Halle aufgesetzt wurde (Halle: Carl Herrmann Hemmerde 1744). Die zweite Auflage ist ähnlich betitelt Abhandimg von dem Nutzen der Electriätät in der An¡neyaiissenschafi. In einem Schreiben an D.[oktor] G.[eorg] F.[riedrich] F.[aber]. Ztveyte und vermehrte Außagt, Halle: Cad Herrmann Hemmerde 1745.
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Kratzenstein war eng mit Heinrich Friedrich Delius (1720-1791), einem der späteren Kommentatoren des Krügerschen Gesetzes, befreundet; ihre Bekanntschaft reicht bis in die gemeinsame Schulzeit in Wernigerode zurück, danach waren sie Kommilitonen an der Friedrichs-Universität in Halle. Quelmaltz kurierte bereits 1744 zweimal gelähmte Finger mittels Elektrizität (vgl. Quelmaltz, De bomine electrica, Lipsiae 1744). Für den Entwurf des Gründungsstatuts der Medizinischen Fakultät der 1694 gegründeten Hallenser Friedrichs-Universität zeichnet der im März 1693 zum Professor der Medizin ernannte Friedrich Hoffmann (1660-1742) verantwortlich. Das darin niedergelegte Leitbild der universitären Medizinerausbildung orientiert sich an Ehrenfried Walter von Tschirnhausens (1653-1703) Medicina mentis (1687). Ziel der neuen von Tschirnhausen erarbeiteten Wissenschaftskonzeption ist die stärkere Bindung der einzelnen Fakultäten an den modernen mathematisch-physikalischen Erkenntnisfortschritt. Die Koppelung macht sich in Hoffmanns Entwurf dahingehend geltend, daß er für die eigene Fakultät eine Kombination der Primariatsprofessur mit einer Professio Physices vorsieht (vgl. Kaiser (1977), S. 539). Praktisch bedeutet das die Aufweichung der bislang gleichsam hermetische Abgeschlossenheit verbütgenden Fakultätsgrenzen. So konnte nunmehr z. B. der in der Philosophischen Fakultät lehrende Christian Wolff zugleich in der Medizinischen Fakultät Dissertationen physikalisch-mathematischer Themenstellung verteidigen lassen. Allerdings gab es eine
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wird er auswärtiges Mitglied der Berliner Akademie, und 1751 ergeht an ihn ein Ruf als Professor der >Arzneykunde und Philosophie^ an die Julius-Carls-Universität in Helmstedt, den er annimmt. 1758 verstirbt er überraschend in Braunschweig. Krüger ist ein überaus fruchtbarer Schriftsteller. Man lobt vor allem seine leichte, gut faßliche Schreibart, die sich bei ihm mit Sachkompetenz und Vorurteilslosigkeit verbinde.8 Jedweder >verhärteter< Dogmatik steht er ablehnend gegenüber. Die Bandbreite seiner überaus großen Anzahl von Schriften spiegelt unterschiedlichste Interessen wider. Neben philosophischen, medizinischen, physikalischen und methodischen Fragen äußerte er sich auch zu Problemen psychologischer und pädagogischer Art.9 Bei dieser enzyklopädischen Ausrichtung kann es nicht wundernehmen, daß sich bei ihm auch Ansätze ganzheitlichen anthropologischen Denkens aufweisen lassen. Er gehört somit zu jenem Kreis von Medizinern, die das Commercium-Vtohiem zunehmend problematisieren und von hier ihren Ausgangspunkt für die anthropologische Begründung der medizinischen Wissenschaften nehmen. In diesen Zusammenhang gehören vor allem folgende Abhandlungen Krügers, die im folgenden einer einläßlichen Analyse unterzogen werden: (1) die dreibändige Naturlehn (1740-1750)10, (2) der Grundriß eines neuen Lehrgebäudes der A rtqieygelahrtheit (1745) und (3) der Versuch einerExperimental-Seelenlehre (1756). Daneben werden vier weitere Arbeiten Krügers berücksichtigt werden: seine Anmerkungen aus der Naturlehn über einige sytr Musik gehörige Sachen (1747), die Gedanken von der Vernunft der Thien (1752), die Zuschrift an seine Zuhönr von der Ordnung, in welcher man die Artyuygelahrbát erlernen müsse (1752) sowie die Träume (1754, erw. 1758, durchges. und erw. in 5. Auflage 1785)11.
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solche fakultätsübergreifende Lehre stets nur in Verbindung mit der Philosophischen Fakultät als der tradidonellen Vorstufe zu den drei höheren Fakultäten (Schräder (1894a), S. 74). Alle Lehrenden waren nach wie vor angehalten, die Fakultätsgrenzen zu beobachten, zugleich aber auch verpflichtet, sich der aus den anderen Fakultäten stammenden Hilfsmittel zu bedienen - so sah es der § 5 des ersten Kapitels der Universitätsstatuten vom 1. Juli 1694 vor (vgl. Schräder (1894b), S. 483). Vgl. Geyer-Kordesch (2000), S. 245. Kurt Sprengel, ein Schüler Krügers, nennt ihn »einen der angenehmsten, geschmackvollsten Schriftsteller unter den Iatromathematikern. Niemand wusste wol geschickter die dornigen und unfruchtbaren Höhen dieses Systems zu vermeiden: Niemand verstand die abstractesten Wahrheiten in ein angenehmere Gewand zu kleiden, und sie selbst dem Layen mit einer unübertrefflichen Klarheit und in einer reinen, gebildeten Sprache so darzustellen, als Krüger« (Sprengel, Versuch einer pragmatischen Geschichte der Anpeykunde 4 (1801), S. 538. Unter seinen Publikationen finden sich u. a. folgende Titel: Gedancken Vom Coffee, Thee, Toback und Schnupftohack (Halle: Hemmerde 21746); Die Regeln der Sprache des Hertens bey der Töllneriscben und Schröderischen ehelichen Verbindung (Halle: Hemmerde 1750) und die Gedancken von der Erhebung der Kinder, Erster Theil von der Bildung des Leibes (Halle: Hemmerde 1752). Linden charakterisiert die dreibändige Naturlehre mal als »physische Anthropologie«, mal als »philosophisch-physische Anthropologie« (Linden (1976), S. 27,34). Vgl. Gehring (1973), S. 23.
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Dabei gilt das Augenmerk vor allem der spezifischen Art von Mechanismus, •wie sie sich u. a. in der Methodik widerspiegelt und das Bild vom Menschen konturiert.
2. Die Naturlehre (1740-1750) Krügers iatromechanische Anthropologiekonzeption Krügers dreibändige Naturlehre ist in die drei Teile gegliedert: in die Physik, die Physiologie und in die allgemeine und besondere Pathologie. In der Bandaufteilung spiegelt sich bereits Krügers Wissenschaftsauffassung, indem sie den Weg vom Allgemeinen über das Einzelne zum Besonderen zeichnet. Grundlegend sei, und das läßt Krügers iatromechanische Ausrichtung schon erahnen, »die Wissenschaft dessen, was durch Kräfte der Cörper möglich ist«12 - die »Naturlehre«. Sie sei die philosophische Erkenntnis der Körper und der »Grundstein des medicinischen Lehrgebäudes, ohne welchen es ohnmöglich feste stehen kan [...]. Ohne Naturlehre würde gar keine Physiologie seyn«13. Das bedeutet eine Weichenstellung für das Selbstverständnis des Mediziners. Ebenso wie in der Physik gelte es auch in der Physiologie, methodisch vorzugehen, alles aus Gründen herzuleiten und auf mathematische Art darzulegen. Beide Quellen der Wissenschaften überhaupt, die Erfahrung und die Vernunft, das »schwache Gesicht«14 und der »neugierige Verstand«15, müssen methodisch ausbalanciert werden. Später, in seiner Experimental-Seelenlehrt (1756), wird er die Vernunft die »Tochter der Erfahrung« nennen, deren Herrschaftsgebiet um einiges größer sei als das der Vernunft. Man könne deshalb die Erfahrung die Mutter der Vernunft nennen.16 Im ersten Band der Naturlehre entwirft Krüger die Grundzüge seines mechanistischen Weltbildes. Es ruht ganz auf den Newtonschen Grundsätzen auf. Zwei Kräfte kommen den Körpern im allgemeinen zu: die Trägheitskraft (vis inertia) und die bewegende Kraft (vis motrix)17. Kraft (vis) definiert Krüger (hier ganz in Wolffschen Bahnen wandelnd18) als »dasjenige, was den zureichenden Grund von einer Veränderung in sich begreift; und also eine bewegende Kraft, was den zureichenden Grund von der Bewegung in sich hält«19. Zwei Arten von Bewegungen gebe es in der Natur, die Pulsion (Abstoßung) und die Attraktion (Anzie-
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Krüger, NatuHehre 1 (21744), S. 2 § 1. Krüger, Zuschrift (1752), S. 17. Synekdochisch (pars pro loto) steht das Sehvermögen hier stellvertretend für alle Sinne des Menschen. Krüger, Naturlehre 1 (21744), S. 1 § 1. Krüger, Experimental-Seelenlehre (1756), S. 3f. Krüger, Naturühn 1 (M744), S. 17 § 17. Christian Wolff, Vernünftige Gedancken Von GOTT, Der Welt und der Seele des Menschen, Auch allen Dingen überhaupt ("1751), S. 60-62 §§ 115-117. Krüger, Naturühn 1 (21744), S. 17 § 17.
Die Naturlehrt (1740-1750)
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hung). Die Bewegung der Körper verläuft stets nach »gewissen unveränderlichen Gesetzen«20, den drei Newtonschen Grundgesetzen: (1) Jeder Körper beharrt in seinem Zustand der Ruhe oder der gjeichförmigen geradlinigen Bewegung, wenn er nicht durch einwirkende Kräfte gezwungen wird, seinen Zustand zu ändern {Corpus omne perseuerat in statu suo quiescenti, vel mouendi vniformiterin directum, nisi quatenus a viribus impressts cogitur statum illuni mutarezl); (2) Die Änderung der Bewegung ist der Einwirkung der bewegenden Kraft proportional und geschieht nach der Richtung derjenigen geraden Linie, nach welcher jene Kraft wirkt (mutatio motus proportionalis est vi motrici impressae, & fit secundum lineam rectam, qua vis illa imprimitur22)·, (3) Die Wirkung ist stets der Gegenwirkung gleich, oder die Wirkungen zweier Körper aufeinander sind stets gleich und von entgegengesetzter Richtung {actio & reactio sunt aequales23). Das zweite Bewegungsgesetz wird fur Krüger die Keimform des Empfindungsgesetzes werden. Ebenfalls ganz an Newton angelehnt übernimmt er von diesem neben den klassischen verändernden Kräften des Cartesischen Mechanismus, Stoß {ictus) und Druck (pressus), mit der Schwerkraft {vis centripeta) die umstrittene Fernwirkungskraft {actio in distans). Krüger stellt sich damit unverkennbar in den Dienst des seinerzeit neuartigen naturphilosophischen Forschungsprogramms, der dynamischen Physik Newtons. Natürlich birgt die erneute Zulassung von Fernwirkungskräften große Gefährdungen, kann es doch dazu führen, daß man sich immer dann mit neuen Fernwirkungskräften weiterhilft, wenn die Schwierigkeiten bei der Erklärung bestimmter Phänomene schier unüberwindlich scheinen. Hier taucht unversehens und aufs neue das Schreckgespenst der Scholastik auf und mit ihm die viel gescholtenen qualitates occultae. Krüger weiß anderseits aber auch um die grundlegenden Schwierigkeiten einer Erfahrungswissenschaft und gibt zu bedenken: vielleicht ist alles sichtbar, das mag sein, räumt er in Hinsicht auf das cartesianische Sichtbarkeitsaxiom für Kraftwirkungen ein; es ist aber dem Menschen nicht gegeben, alles zu sehen. Der darin zum Ausdruck kommende erkenntnistheoretische Skeptizismus spricht sich bereits in den einleitenden Worten seiner Naturlehre aus, wo es heißt, der Mensch habe ein »schwaches Gesicht«24. Neben dem naturphilosophischen Dynamismus findet man bei Krüger eine ausgeprägte antimetaphysische Ausrichtung. Vehement lehnt er eine Vielzahl Leibnizscher Philosopheme ab25. So gilt ihm beispielsweise die Monadenlehre als
Ebd., S. 20 § 24. Ebd., S. 21 § 24. 22 Ebd., S. 23f. § 29. 23 Ebd., S. 30 § 37. 24 Ebd., S. 1 § 1. 25 Im w/-iw«-Streit allerdings ist er sich eins mit Leibniz: »Weil sich aber gleichwohl das Blut würcklich bewege so besitzt es eine lebendige Kraft, welche dem Quadrate der Geschwindigkeit 20
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eine unzulängliche metaphysische Spekulation, wenngleich man eine unendliche Teilbarkeit in der Naturlehre ebensowenig annehmen könne: »Ohnerachtet [...] die Natur die Cörper in gantz erstaunlich kleine Theilgen aufzulösen pflegt so folgt doch daraus eben so wenig, daß die Natur vermögend sey, diese Theilung unendlich weit fortzusetzen, als daß sie dieselbe bis auf Monaden fuhren könne«26. Metaphysisch lasse sich eine Teilung ins Unendliche fortsetzen, in der Natur aber bleibe die Zerteilung irgendwo stehen27. Die Physik Krügers behandelt nicht nur die Gegenstände der klassischen Physik. Neben den klassischen physikalischen Themen finden in sie auch Erörterungen Eingang, die später, wenn auch weit ausführlicher, in der Physiologie abgehandelt werden. Hierzu gehört das Kapitel 14: Von den Pflanzen und Thientf Der Mensch, heißt es darin, »ist ohnstreitig der vollkommenste Einwohner der Erde«29. Die gesamte Erde scheint nur für ihn, zu seinem Zwecke geschaffen worden zu sein — ein anthropozentrischer Gedanke, der hier noch theologisch verwurzelt ist. Unter allen natürlichen Maschinen, die aufgrund der Nerven sich bewegen und empfinden können, sei der Mensch die vollkommenste und »über alle übrige erhaben«30. Der Nerv, dem bereits hier von Krüger ein exzeptioneller Stellenwert eingeräumt wird, hat eine motorische und eine sensible Funktion. Die Bewegungskraft im Menschen ist an den Nervensaft gebunden, einer im Gehirn vom Blut abgesonderten subtilen Materie31; das Empfindungsvermögen ist ebenfalls an die
proportional ist« (ebd., S. 834 § 678). 26
Ebd., S. 9 § 8 .
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Ebd., S. 10 § 9.
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Ebd., S. 814-854 §§ 658-693.
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Ebd., S. 815 § 658.
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Ebd., S. 827 § 671.
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Ebd., S. 844 § 688. Die Vorstellung, daß das Gehirn drüsenartig aufgebaut ist und der Spiritus animaüs und die Nervenflüssigkeit darin sezerniert werden, ist Gemeingut der Zeit und wird von vielen Ärzten geteilt, allen voran von Herman Boerhaave (1668-1738); ursprünglich schreibt sich die Ansicht von der glandulären Struktur des Gehirns von Marcello Malpighi (1628-1694) her (vgl. dazu Wenzel (1999), S. 25f.). Der Spiritus als eine äußerst feine Materie erfahrt danach im Körper eine stufenweise Verfeinerung: in der Leber wird der dampfartige Spiritus naturalis aus der aufgenommenen Nahrung gewonnen, im Herzen zum luftartigen Spiritus Vitalis veredelt, der, im arteriellen Blut befindlich, die Körperteile belebt und erwärmt, bis er schließlich im Gehirn zum ätherischen Spiritus animaUs wird. Die traditionelle Lehre von den drei Spiritus-Arten wird von Descartes dahingehend verändert, als daß es nunmehr nur noch eine einzige Spiritus-Ait gibt, den Spiritus animalis, ein »gewisser, sehr feiner Hauch [...], oder besser eine sehr lebhafte und reine Flamme« (Descartes, Über den Menschen (1632), S. 54; vgl. auch S. 63). - Die Vorgänge im Muskel stellt sich Krüger, hierin an die alte »Aufblähungs«-Theorie anknüpfend, folgendermaßen von »Allem Ansehen nach geschieht die Würckung des Muskels durch den Nervensaft. Denn wenn dieser in seine Fäsergen hineindringt: so schwellen sie auf, sie werden zugleich aber auch kürtzer, und ziehen den Knochen [...] nach sich, fast auf die Art, wie ein Strick, wenn er feuchte wird und das Wasser in seine Zwischenräumgen hineindringt, kürtzer wird und ein grosses Gewichte, das daran hänget, aufhebet. [...] Der Nerve des Muskels wird also darzu dienen, daß der Einfluß des Nervensaftes nach dem Willen der Seele oder auch nach einer vorhergegangenen Empfindung [also unwillkürlich] geschiehet. Denn es ist ein Gesetze der Bewegung in dem Cörper der Menschen und der
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Nerven gebunden, allerdings nicht an den Nervensaft, sondern an die Nervenhäute. Das Bewegungs- und Empfindungsvermögen »natürlicher Maschinen«32 wird eingehend im zweiten Teil der Naturkhre, in der Physiologie, behandelt Vor allem sei es ihm wichtig gewesen, schreibt Krüger in der Vorrede, »die Lehre von der Empfindung in ein grösseres Licht« zu setzen.33 Bevor aber auf Krügers Definition der Empfindung und ihre Grundlagen näher eingegangen wird, ist es hilfreich, die Krügersche Ansicht vom Menschen als natürliche Maschine im Kontext seiner Zeit zu sehen.
3. Exkurs: Natürliche und künstliche Maschinen Der menschliche Leib ist eine natürliche, keine künstliche Maschine, so Krüger. Der Unterschied zwischen beiden besteht darin, daß man von einer künstlichen nicht behaupten könne, die Teile der Teile seien wiederum Maschinen, also ebenfalls natürliche Maschinen. »Bey der vollkommensten Uhr«, schreibt er, »sehe ich nur auf die Grösse, Figur und Zusammenfugung der Räder, nicht aber auf die Grösse, Figur und Zusammenfügung der Theilchen der Materie, woraus diese Räder verfertigt worden sind. Sonst würde eine Uhr mit meßingenen Rädern anders als eine mit eisernen gehen müssen. Hingegen bey den Pflantzen und Thieren finden wir beständig, daß auch die Theile der Theile bey nahe eben so vollkommene Maschinen sind, als das gantze34. So ist zum Exempel der gantze menschliche Körper eine Maschine. Ein Muskel ist ein Theil davon, und dieser ist aufs neue eine Maschine. Der Muskel besteht aus Fäserchen und diese sind wiederum Maschinen.«35 — Bemerkenswert ist, das sei bereits an dieser Stelle angemerkt, daß er die natürliche Maschine >Menschlicher Körper< und, wohl in bewußter Distanz zu Stahl, noch nicht >Organismus< nennt. — Wenn Krüger andernorts vom »menschlichen Körper« als »allerkünstlicher Maschine« spricht36, hebt er auf dessen großen Differenziertheitsgrad ab, der menschlicher Wißbarkeit und Kunstfertigkeit uneinholbar entzogen ist. Der Künsder, im zeitgenössischen Sprachgebrauch die Bezeichnung für den Mechaniker, kann die allerkünstlichste Maschine nicht konstruieren; sie entzieht sich seinem poiedschen Ansinnen und
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Thiere, daß auf eine Empfindung immer eine Bewegung erfolget, die ihr proportional ist [Kriigersches Gesetz]. Man könnte solches durch viele medicinische Observationen und Experimente darthun, und sich desselben mit grossem Vortheile zu Auflösung verschiedener Fragen in der Artzneykunst bedienen, wenn nur mein gegenwärtiger Zweck dergleichen Abhandlungen litte« (ebd., S. 841 § 685). Ebd., S. 827 §671. Krüger, NaturUhn 2 (21748), Vorrede, [unpag.] S. 5. Krüger, Grundriß (1745), S. 44. Ebd., S. 45. Ebd., S. 65; vgl. auch S. 13.
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macht die poietische Differenz zwischen Künstlichem und Natürlichem fühlbar, denn die natürliche Maschine ist von der künstlichen nicht nur graduell, sondern wesenhaft unterschieden.37 So etwas vermag nur die Natur oder Gott. Man war sich zu dieser Zeit eben sehr wohl der Modelldifferenz als einer unüberbrückbaren Distanz zwischen Kunstwerk und Natur bewußt! Die Bezugnahme auf Leibniz' Monadologie ist unübersehbar: so findet sich das von Krüger gewählte illustrierende Beispiel für den Unterschied zwischen natürlicher und künstlicher Maschine (»natürlicher automata und künstlicher automata«) dort fast wörtlich im § 6638; mit einer Modifikation allerdings: Leibniz ist der Dualismus von Körper und Geist fremd. Der lebendige Körper, der Leib, ist ein Automat39, da die Leibniz'sche Monade eine nicht zu trennende Einheit von Körper und Seele ist, eine sogenannte Realidealeinheit, eine metaphysische Voraussetzung, die bei Krüger kein Gehör findet. So heißt es z. B. in Leibniz' Neuem System der Natur (1695): »Einzig und allein unser System läßt endlich den wahren und unermeßlichen Abstand erkennen, der zwischen den geringsten Erzeugnissen und Mechanismen der göttlichen Weisheit und den größten Kunstwerken eines begrenzten Geistes besteht: ein Unterschied, der nicht nur den Grad, sondern die Art selbst betrifft. Die Maschinen der Natur haben eine wahrhaft unendliche Anzahl von Organen und sind so gut ausgestattet und so gegen alle Zufalle gerüstet, daß es nicht möglich ist, sie zu zerstören. Eine natürliche Maschine bleibt stets noch in ihren kleinsten Teilen Maschine, ja, sie bleibt, was von noch größerer Bedeutung ist, stets dieselbe Maschine, die sie gewesen ist, da sie durch die verschiedenen Falten, die sie erhält, nur umgestaltet und bald ausgedehnt, bald eingeengt und gleichsam konzentriert wird, wenn man schon glaubt, sie sei zugrunde gegangen.«40 Und in den Vernunftprinyipien der Natur und der Gnade, § 3 heißt es ähnlich: »Dieser Körper [der sog. »Eigenkörper«, der aus einer Zentralmonade, dem »Zentrum«, und der aus vielen anderen untergeordneten Substanzen zusammengesetz-
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Gottfried Wilhelm Leibniz, Neues System der Natur und der Gemeinschaft der Substanzen, wie der Vereinigung zwischen Körper und Seele (1695), S. 264f. »So ist jeder organische Körper eines Lebewesens eine Art von göttlicher Maschine oder natürlichem Automaten, der alle künstlichen Automaten unendlich übertrifft. Denn eine durch Menschenkunst gebaute Maschine ist nicht auch Maschine in jedem ihrer Teile. So hat z. B. der Zahn eines Messingrades Teile oder Stücke, die für uns nichts Künstliches mehr sind und die nichts mehr von der Maschine merken lassen, zu deren Betrieb das Rad bestimmt war. Aber die Maschinen der Natur, d. h. die lebendigen Körper, sind noch in ihren kleinsten Teilen, bis ins Unendliche hinein, Maschinen. Eben darin besteht der Unterschied zwischen Natur und Kunst, d. h. zwischen der göttlichen Kunstfertigkeit und der unsrigen« (ebd., § 64). — In der ersten, von Köhler veranstalteten Übertragung der Monadologie ins Deutsche ist noch von Zähnen »an einem eisernen Rade« die Rede (Köhler, Lehr-SätZf über die Monadologie (1720), S. 33 § 66). Auch Huth, dessen Ausgabe der Köhlerschen verpflichtet ist, schreibt ebenfalls noch von »einem eisernen Rade« (Huth, Kleinere Philosophische Schriften (1740), S. 29 § 66). Robinet schließlich tilgt aufgrund der Hs.fer zugunsten der interlinearen Korrektur loton (Robinet, Principes de la Philosophie ou Monadologie (1954), S. 110). Die Monade ist eine »Espèce de Machine Svine, ou d'un Automate naturel» (Leibniz, Monadologie (1714), § 64). Leibniz, Neues System der Natur und der Gemeinschaft der Substanzen sowie der Vereinigung zwischen Seele und Körper (1966), S. 258f.
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ten »Masse« besteht] ist organisch, wenn er eine Art Automat oder natürlicher Maschine bildet, die nicht nur im Ganzen, sondern auch in den kleinsten Teilen, die sich bemerkbar machen können, Maschine ist.« Innerhalb der Monade gelte die Gesetzmäßigkeit der Zweckursachen des Guten und Bösen; in der äußeren Erscheinung hingegen vollziehen sich die Veränderungen zwischen den Monaden nach den Gesetzen der Wirkursachen, aber eben nur scheinbar, da alles in Wirklichkeit der prästabilierten Harmonie unterworfen ist. Der Unterschied zwischen natürlicher und künstlicher Maschine, der sich gegen Descartes' Tierautomatentheorie richtet, läuft auf die Frage hinaus, bis wohin ein Körper etwas Maschinenartiges aufweist: die künstliche Maschine hört irgendwo auf, da ihr keine Entelechie einverleibt ist, so Leibniz; »die lebendigen Körper [hingegen] sind noch Maschinen in ihren kleinsten Teilen bis ins Unendliche«, ein Unterschied, der kein bloß gradueller, sondern ein prinzipieller ist. — Hier zeigt sich die Leibniz'sche Konzeption der Ontologie im Kleinen, die Metaphysik des unendlich Kleinen, des metaphysischen Punktes, konkretisiert im Maschinenbild. Die kleinste organische Maschine ist eine in Analogie zum »metaphysischen Punkt«41 — man könnte sie eine >metaphysische Maschine< nennen. — Die (physische) natürliche Maschine ist nach Leibniz nur infinitesimal zu verstehen und zu beschreiben, die künstliche dagegen finitesimal42. Diese Ansichten teilt Krüger, wie oben bereits angemerkt worden ist, nicht. Für ihn sind auch die natürlichen Maschinen endlich, nur eben so ausdifferenziert, daß sie menschlicher Einsicht und Imitation für immer uneinholbar entzogen bleiben. Unter dem Blickwinkel vom Ganzen und seinen Teilen betrachtet, heißt das, jeder Teil einer natürlichen Maschine ist im Gegensatz zur künstlichen wiederum eine Welt für sich. Die Teile einer natürlichen Maschine bilden zusammen deshalb eben kein Aggregat (Gesamtheit), sondern ein wahrhaft Ganzes, das mehr ist als nur die Summe seiner Teile. Im Cartesianismus fand der Unterschied zwischen Natürlichem und Künstlichem keinen Niederschlag. Die >Natürlichkeit< einer Pflanze ist für Descartes mit der mechanischen und damit mit der künstlichen >Natürlichkeit< der gesamten Physik prinzipiell vergleichbar. Der Unterschied von natürlicher und künstlicher Natürlichkeit reduziert sich auf den Aspekt von Wahrnehmbarkeit und NichtWahrnehmbarkeit aufgrund der Größenverhältnisse. So schreibt Descartes beispielsweise einmal in den Prinzipien der Philosophie: »Dabei [in der Zurückführung aller materiellen Dinge auf Gestalt und Bewegung] haben mich die durch Kunst gefertigten Werke nicht wenig unterstützt; denn ich fand nur den Unterschied zwischen ihnen und den natürlichen Körpern, daß die Wirkungen der Maschinen lediglich von der Tätigkeit von Röhren, Federn und andrer Werkzeuge abhängen, die, da sie in gewissem Verhältnis zu den Händen stehen müssen, die sie herstellten [und deshalb nicht mikroskopisch, d. h. nicht unsichtbar klein sind], stets so
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Ebd. S. 265f.; vgl. auch Kaulbach (1965), S. 43-47. Hans Driesch spricht angesichts dessen nicht unzutreffend vom Maschinendifferential (Driesch (1922), S. 38).
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groß sind, daß ihre Gestalten und Bewegungen leicht wahrgenommen werden können; dagegen hängen die natürlichen Wirkungen beinahe immer von gewissen so kleinen Organen ab, daß sie nicht wahrgenommen werden können. Denn es gibt in der Mechanik keine Gesetze, die nicht auch in der Physik [Naturlehre] gälten, von der sie nur ein Teil oder eine Unterart ist, und es ist daher der aus diesen und jenen Rädern zusammengesetzten Uhr ebenso natürlich, die Stunden anzuzeigen, als es dem Baum natürlich ist, diese Früchte zu tragen. So wie nun die, welche in der Betrachtung der Automaten geübt sind, aus dem Gebrauche einer Maschine und einzelner ihrer Teile, die sie kennen, leicht abnehmen, wie die anderen Teile, die sie nicht sehen, |per analogiam^ gemacht sind, so habe auch ich versucht, aus den sichtbaren Wirkungen und Teilen der Naturkörper zu ermitteln, wie ihre Ursachen und unsichtbaren Teilchen beschaffen sind.«43 Einig sind sich alle drei, Descartes, Leibniz und Krüger, daß das Natürliche über eine maschinale Struktur verfugt. Nur behauptet Descartes eine prinzipielle maschinale Gleichartigkeit von Natürlichem und Künstlichem; lediglich die Komplexität natürlicher Strukturen, die zudem auch nur endlich sei, lege einen Unterschied zwischen beiden fest. Diese finite Differenz ändere aber nichts daran, daß beide den gleichen mechanischen Gesetzmäßigkeiten unterworfen sind. — Leibniz hält dem das theologisch motivierte Argument entgegen, zwischen Menschenwerk und Gottes Schöpfung gebe es eine unüberbrückbare Distanz. Die unendliche Weisheit Gottes spiegele sich in der unendlichen Komplexität des Natürlichen wider. — Auch Krüger bezieht gegen die Cartesische Maschinentheorie Stellung, indem er sich der Leibniz'schen Terminologie bedient. Anders als dieser läßt er aber das argumentative Movens nicht zu: weder Metaphysisches noch Theologisches können über das Physische etwas entscheiden. Deshalb folgt er einerseits Descartes in der Annahme, auch die Struktur der natürlichen Maschine sei endlich; er kündigt ihm die Gefolgschaft aber in dem Augenblick auf, in dem Descartes eine prinzipielle Gleichheit zwischen Natürlichem und Künstlichem postuliert, und zwar nicht, weil er glaube, die natürlichen Maschinen gehorchten anderen Gesetzmäßigkeiten, sondern weil die Annahme einer prinzipiellen Gleichheit die poietische Differenz zu verdecken drohe. Und an ihr müsse festgehalten werden, wolle man sich den natürlichen Gegenständen angemessen zuwenden. Krüger argumentiert also in erster Linie wissenschaftsmethodisch, und zwar aus einer empiristischen Position heraus, die sich den Blick weder durch methodische Fiktionen wie die Cartesische Maschinentheorie noch durch metaphysisch-theologische Prämissen verstellen lassen will.
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Descartes, Die Primaten der Philosophie IV (1992), S. 245f. § 203.
Krüger und die zeitgenössischen Anthropologien im Grundriß
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4. Krüger und die 2eitgenössischen Anthropologien im Grundriß eines neuen Lehrgebäudes der Artzneygelahrtheit (1745) Im Jahre 1745, Krüger ist gerademal zwei Jahre Extraordinarius der Medizinischen Fakultät in Halle, macht er eine Programmschrift bekannt und widmet sie dem ersten Leibarzt des Preußischen Königs und Direktor der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Johann Theodor Eller (1689-1760). Bereits in der Dedikation dieser Abhandlung, dem Grundriß eines neuen Lehrgebäudes der Artzneygelahrtheit; versichert er, daß das »medicinische Lehrgebäude, welches [er] darinnen abgerissen habe«, neu sei44. Zweierlei, heißt es in der sich anschließenden Einleitung, bezwecke er mit seinem Grundriß·. Zum einen möchte er untersuchen, »in wie weit die Lehren der Mechanischen und Stahlianischen Artzneygelahrtheit gegründet sind«, um schließlich zwischen beiden »einen Friedensstifter abzugeben, besonders da ich mir dieses Amt selbst aufgetragen habe«45. Darüber hinaus möchte er sich über den in seiner Physiologie vorgetragenen »Lehrbegriff« deutlicher erklären und damit seine Unparteilichkeit unter Beweis stellen, »da er so wol mit den Lehren der Mechanischen als Stahlianischen Artzneygelehrten in einer Übereinstimmung ist«46. Die Uneinigkeit unter den Medizinern hofft er mit Hilfe der von Christian Wolff propagierten mathematischen Methode beizulegen, obgleich er nicht glaube, daß in der »Artzneygelahrtheit« eine solche Gewißheit zu erlangen wäre wie in der Geometrie.47 »Jedermann«, beginnt die Abhandlung, »ist bekannt, daß die heutigen Artzneygelehrten zwey verschiedene Meinungen haben, wenn sie von den Veränderungen die sich in den menschlichen Cörpern ereignen den Grunde anzeigen sollen.«48 Der strittigste Punkt zwischen beiden Lagern, den Mechanisten à la Boerhaave (1668-1738) und den Animisten der Stahlschen Schule (1659-1734), betrifft die Frage, ob der menschliche Körper eine Maschine sei, so daß man mechanisch von ihm philosophieren könne, oder nicht. Der Streit zielt gleich auf zwei neuralgische Punkte, die für die Medizin von eminenter Wichtigkeit sind: Wie ist der Gegenstand dieser Wissenschaft, der Mensch, beschaffen, und welches methodi-
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Krüger, Grundriß (M^S), Vorrede [unpag.] S. 3. Ebd., S. 7. Ebd., S. 8; vgl. auch S. 68. Diese irenische Absicht ist ein besonderes Charakteristikum von Krügers akademischer Lehre. So weiß noch 1751 der vormalige Respondent Unzers, Johann Christian Bolten (?-?), in seinen Gedancktn von psychologischen Curen (Halle 1751) folgendes zu berichten: »Dieser scharfsinnige Gelehrte [Krüger] hat weder denen Mechanisten noch denen Stahüanem völlig Beifal gegeben, sondern Er hat gezeiget, daß man zwar von dem menschlichen Körper mechanisch philosophiren, gleichwol aber auch die Seele dabei beständig mit zu Rathe ziehen müsse« (ebd., S. 95). Ebd., S. 3-5. Ebd., S. 1.
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sehe Rüstzeug verlangt der Gegenstand. Mit anderen Worten, es geht um die dem jeweiligen Untersuchungsgegenstand adäquaten Untersuchungsmethoden. Um sein irenisch orientiertes Lösungsmodell argumentativ gehörig in Anschlag bringen 2u können, geht Krüger zunächst an die terminologische Analyse der Frage, ob der menschliche Körper eine Maschine sei und man demzufolge von ihm mechanisch philosophieren könne. Hierfür gelte es folgende Fragen zu beantworten: (1) »was man durch eine Maschine verstehet« und (2) »was mechanisch philosophiren heisset«49. Der Zwist zwischen Mechanisten und Animisten liege in der ungenauen Definition und in der fehlerhaften Beantwortung der beiden Fragen begründet. Die Beantwortung bietet dem Leser im Überblick Krügers neues System und diejenigen Ansätze, die Unzer später aufnehmen und fruchtbar weiterentwickeln wird. Daß Krüger ausgerechnet mit diesen beiden Fragen einsetzt, läßt eine mechanische Betrachtungsweise erwarten. Aber ganz im Gegensatz dazu definiert er in Abgrenzung zum herkömmlichen einen neuen Maschinen-Begriff, bei dem expnssis verbis auf den Leibniz'schen Satz vom zureichenden Grunde (prineipium rationis sufficienüi) Verzicht geleistet wird. Bislang nahmen die Mechanisten an, so Krüger, eine Maschine sei ein zusammengesetztes Ding, dessen Bewegung in seiner Struktur seinen zureichenden Grund habe50. Er hält dem entgegen, daß »eine Maschine ein zusammengesetztes Ding [sei,] vermöge dessen Struktur die Bewegung verändert werden muß«51. Unter »Struktur«52 aber versteht er »die Art der Zusammensetzung«53, nicht nur die Zusammensetzung schlechthin. Im Gegensatz zur herkömmlichen mechanistischen Maschinen-Definition vermengt er dadurch nicht die »bewegende Kraft der Maschine«54 mit ihrer »Struktur«55 und vermeidet, der Maschine eine Eigenbewegung zuzusprechen, die sie zum Automaten, zum Selbstbewegten macht. Denn darin liege schließlich die Ursache, weshalb sich Animisten und Mechanisten nicht über die »Natur des menschlichen Körpers« vergleichen könnten. Denn die Animisten hielten die »vernünftige Seele« für die Natur des menschlichen Körpers, die Mechanisten hingegen die »Struktur des menschlichen Leibes«. Aber weder bewege sich der Körper »von selbsten«56, noch könne man die Struktur des Leibes für die »bewegende Kraft« ansehen. Die Struktur »modificiret oder verändert« nur. Wenn man annähme, daß der zureichende Grund der Bewegungen des menschlichen Körpers in der Struktur der Zusammensetzung beschlossen wäre, so widerspräche das »dem ersten
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Ebd., S. 9. Ebd., S. 12. Ebd., S.11. Ebd. Ebd. In der Mechanik nennt man »alles dasjenige bewegende Kräfte was da vermögend ist eine Maschine in Bewegung zu setzen. Und gehören also dahin Menschen, Vieh, Federn, Gewichte, Luft, Wasser, Feuer, u. s. w.« (ebd., S. 12f.). Ebd., S. 12. Ebd., S. 13.
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Gesetze der Bewegung, in dem uns dieses lehret, daß ein jeder Körper wenn er einmal ruhet in Ewigkeit fort ruhe, und wenn er einmal in Bewegung gesetzt worden wäre, seine Bewegung ohne Aufhören in einer geraden Linie mit einer gleichförmigen Geschwindigkeit fortsetze, wenn er nicht von einer andern Kraft genöthiget würde, diesen seinen Zustand der Ruhe oder Bewegung zu verändern«. Krüger bezieht sich damit ganz offensichtlich auf das erste Bewegungsgesetz Newtons, das Trägheitsgesetz (lex inertiaé)sl. Dem Körper fehlt ein Kraftzentrum. Selbst wenn er einmal bewegt worden wäre, so erlahmte einmal die Bewegung und erstürbe schließlich, da der menschliche Körper sich nicht »von selbsten«58 bewegen kann. Damit spricht er dem menschlichen Körper jede Selbstbewegung ab, legt in die Seele das Lebensprinzip und gibt sich hier als Psychovitalist zu erkennen. Gleichnishaft stellt er sich das Verhältnis zwischen Körper und Seele folgendermaßen vor: »Wie wenn nun der menschliche Körper eine Handmühle wäre, so würde die Seele der Müller seyn der sie bewegen würde. Aber dieser Müller würde drehen, ohne zu wissen wie die Mühle inwendig aussähe. Wie wäre es nun wenn es der Seele eben so ginge?«59 Die Krügersche Maschinen-Definition vorausgesetzt, muß auf zweierlei gesehen werden, wenn der zureichende Grund davon angegeben werden soll, weshalb eine Bewegung der Maschine »vielmehr so als anders erfolge«60. Einmal ist die bewegende Kraft61 zu spezifizieren, um Aufschluß über die Stärke oder Schwäche der Bewegung zu erhalten, und zum anderen müßte auf die Struktur gesehen werden, aus der man die gesuchte Modifikation abnehmen kann. Diese Untersuchungsmethode der menschlichen Maschine nennt Krüger zunächst ganz konventionell »mechanisch philosophiren«62. Die Methode zielt auf die Erklärung
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Vgl. Newton, Philosophiae naturalis principia mathematica (1687), S. 12; fi726), S. 13. Klüger, Grundriß (1745), S. 13. D. h. der menschliche Körper, von der Seele getrennt, ist kein Automat (vgl. im Gegensatz dazu die Leibniz'sche Monade, die so etwas wie ein unköiperlicher natürlicher Automat bzw. eine Art göttliche Maschine ist; Leibniz, Monadologie (1714), §§ 18, 66). Krüger, Grundriß (1745), S. 16. Die Rede vom Müller, der nicht weiß, wie die Mühle beschaffen ist, zielt auf das Stahlsche Diktum von der sich ihren Körper selbst erbauenden Seele. — Wenn hier nicht die vielleicht zu erwartende Uhrenmetaphorik, sondern stattdessen die Mühlenmetaphorik bemüht wird, so muß man sich vergegenwärtigen, daß im 16. und 17. Jh. neben der Wasserfördertechnik die Mühlentechnik die produktivste Maschinentechnik überhaupt war. Diese und die Uhrentechnik verkörperten den Höchststand der zeitgenössischen Maschinentechnik schlechthin (vgl. Jakob (1991), S. 120). Ebd., S. 17. Als Gewährsmann dafür, daß man auch vom menschlichen Körper mechanisch philosophieren könne, gilt ihm der Neapolitaner Giovanni Alfonso Borelli (1608-1679), ein Hauptvertreter der italienischen mechanischen Physiologie des 17. Jh., mit seinem posthum veröffentlichten Werk De motu animaüum (dt Von der Bewegung der Tiere), einer Abhandlung aus den Jahren 1680/81, die fast das gesamte Gebiet der Physiologie ausmißt (Krüger, Grundriß (1745), S. 27). Der Mathematiker und Physiker Borelli bemühte sich als Vertreter der Schule Galileis seit etwa 1650 unter Zuhilfenahme mechanischer und geometrischer Gesetzmäßigkeiten grundlegende physiologische Bewegungsabläufe zu erklären. In seiner Naturlehre 2 ((21748), 2, S. 17-19) beruft sich Krüger bei der Erörterung der Frage, was mechanisch philosophieren heißt, dann auf Christian Wolffs Anfangs-Gründe Der Mechanick Oder Be-
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von Phänomenen mittels Bewegangsänderungen ab. Darin drückt sich in nuce Newtons Forschungsprogramm des Dynamismus aus, wonach Erscheinungen daraufhin befragt werden sollen, welche bewegungsverändernden Kräfte ihnen als Ursachen zugrunde liegen und welche Gesetzmäßigkeiten sich daraus abnehmen lassen, aus denen wiederum Erscheinungen deduziert werden können. 63 Die konventionelle Bezeichnung der Methode als »mechanisches Philosophiren« bekommt bei Krüger allerdings eine andere inhaltliche Füllung. Die Schwierigkeiten diskutierend, die einem solchen wissenschaftlichen Herangehen in der Medizin entgegenstehen, entwickelt er eine eigenständige Methodik, die sich bewußt an die Newtonsche Philosophie anschließt und eine radikale Wendung gegen den Cartesischen Mechanismus einschließt, wie unten gezeigt werden wird. Diese Neuerung hat weitreichende Konsequenzen. Sie erlaubt es Krüger, das hinter dem Commerrium-Vtob\zm stehende Kausalitätsproblem philosophisch neu im Sinne Newtons zu fassen, worin ihm auch sein Schüler Unzer folgen wird. Die anticartesische Stoßrichtung seines »mechanischen Philosophirens« offenbart sich in der Diskussion v o n Problemkreisen, die sich der neuen Methodik sperren. So
wegungs-Kunst (1730) und zitiert nach folgender Passage: »Wir werden bald vernehmen / daß unveränderliche Gesetze der Natur sind / nach welchen alle Kräfte ihre Bewegung hervorbringen / wenn sie etwas bewegen / und die Machinen gleichfals nach diesen unveränderlichen Gesetzen vermöge ihrer Structur die Kräffte zu vortheilhafftiger Bewegung vermögend machen. Daher pfleget man alle Würckungen Mechanisch zu nennen / die nach den unveränderlichen BewegungsGesetzen der Natur aus der Structur oder Beschaffenheit der Dinge nothwendig so und nicht anders erfolgen. Wenn nun jemand sich rühmen wil / daß er mechanisch philosophire / so muß er die Würckungen der Natur und Kunst nach den Bewegungs-Gesetzen der Natur aus der Structur der würckenden Dinge erklären und klärlich erweisen / wie sie nach jenen vermöge dieser möglich sind. [...] Und hieraus erkennet ihr / was diejenigen für Gedancken haben / welche nicht allein das grosse Welt-Gebäude / sondern auch auf unserer Erd-Kugel alle Pflantzen / Thiere / ja den menschlichen Cörper selbst Machinen nennen. Sie geben nemlich durch diese Benennungen zu verstehen / daß die Bewegungen in dem grossen Welt-Gebäude nicht weniger als alle Veränderungen und Würckungen / die wir bey den Pflantzen / Thieren / ja in dem menschlichen Cörper selbst wahrnehmen / nach den ewigen Bewegungs-Gesetzen der Natur aus ihrer Structur nothwendig erfolgen / und also ihre Möglichkeit allein durch Erwegung dieser beyden Sachen von dem menschlichen Verstände begriffen werden kan. [...] Wenn ihr dieses bedencket / so werdet ihr bald sehen / daß die wenigsten mechanisch philosophiren / welche das Wort Mechanice stets im Munde haben. Ihr werdet auch ohne vieles Kopfbrechen begreiffen / daß die mechanische Philosophie nicht so ungereimt ist / wie sie von Unverständigen ausgeschrieben wird. Ja / wenn ihr im Fortgange mercken werdet / daß weder die Bewegungs-Gesetze der Natur / noch das Vermögen der Kräfte ohne die Geometrie und Rechen-Kunst erkandt werden können; so werdet ihr ohne weiteres Bedencken zugeben / es könne ohne die Mathematick jemand so wenig tüchtig philosophiren / als einer der keine Füsse hat / oder wenigstens lahm ist / hurtig rennen und lauffen« (in: Christian Wolff, Der Anfangs-Gründe Aller Mathematischen Wissenschaften Anderer Theil (41730, S. 747f.). 1731 erhob Wolff in seiner Cosmologia generalis (§ 75) das mechanische Denken (mechanice philosophari) zur zentralen Methode: »Mechanice de rebus in mundo adspectabili existentibus philosophatur, qui mutationes, quae ipsis accidunt, ex eorum structuris, texturis et mixtionibus, seu ex modo compositionis secundum regulas motus intelligibili modo explicate (vgl. auch Wolffs Abhandlung Von dem richtigen Begriffe der mechanischen Philosophie (1710/1737), S. 725-736. 63
Krüger, Grundriß (1745), S. 18f.: »denn da sie [die Körper] sich würcklich bewegen so muß nothwendig etwas vorhanden seyn, welches den zureichenden Grund von ihrer Bewegung in sich begreift, das ist sie müssen eine bewegende Kraft besitzen«.
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Grutubiß
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muß er zunächst einräumen, »daß uns in vielen Fällen die bewegendefn] Kräfte unbekannt sind«64. Und das gilt in grundsätzlicher Hinsicht. Denn das, was »bewegende Kraft« genannt werde, sei nicht explikabel.65 Hiervon sind sowohl die Newtonschen Fernwirkungskräfte (actio in distani) betroffen, als auch die Cartesischen Stoß- und Druckvorgänge als Kontaktwirkungskräfte. Krüger verteidigt vehement die Newtonsche Attraktion mit dem Argument, die Stoß- und Druckkräfte seien in keiner Hinsicht klarer, wie von cartesianischer Seite immer wieder vorgebracht werde: und der Kontakt, die »Berührung«, könne auch nicht als conditio sine qua non physikalischer Wechselwirkung angesehen werden. Aber nicht nur die »bewegenden Kräfte« sind häufig unbekannt, auch die sie bestimmenden Naturgesetze66, »nach welchen die bewegende Kräfte ihre Würkung hervorbringen«67. Als dritte Schwierigkeit, die dem »mechanischen Philosophiren« entgegensteht, erweist sich die noch ungenügende Kenntnis der Struktur des menschlichen Körpers.68 Krüger hatte als Aufgabe »mechanischen Philosophirens« herausgearbeitet, »daß man aus der Strucktur einer Maschine, aus ihrer bewegenden Kraft und den Gesetzen der Natur begreiflich machen müsse, warum die Bewegung vielmehr so als anders erfolge«. Die soeben angeführten drei Problemkreise scheinen diese Art zu philosophieren zu konterkarieren. Eigentlich, so könnte gefolgert werden, ist »mechanisches Philosophiren« unmöglich. An dieser Stelle nun zieht Krüger zwei grundlegende Betrachtungen ein: »mechanisch Philosophiren« nehme er »hier in einem etwas weidäuftigern Verstände, als es in derjenigen mathematischen Wissenschaft, die man Mechanick nennet, zu geschehen pfleget«69. (Die herkömmliche »Mechanick« meint die Cartesische.) »Denn man betrachtet daselbst nur ordentlicher Weise den Druck, oder wenn man die Phoronomie dazu rechnet, die Würkung welche die Körper durch stossen verrichten«70, d. h. sie reduzieren unzulässigerweise alle bewegenden Kräfte auf Stoß- und Druckkräfte bzw. »Pulsion«. Demgegenüber macht Krüger geltend, daß »zwey Arten möglich [sind], wie ein Körper in den andern würcken kan, nehmlich die Pulsion und Attraction«.71
Herzklopfen< in leidenschaftlicher Aufregung, seelenunabhängig nicht zu klären sind. Da der Mensch fast immer von Affekten beherrscht werde, ja diese die Triebfedern seiner Handlungen sind151, und ohne sie »das Leben einem wachenden Traume [ähnelte, so seien] die alten auf den närrischen Einfall [geraten], daß der Wille in dem Hertzen seinen Sitz habe«152. Mit diesem Seitenhieb auf die Mechanisten begnügt sich Krüger und übergeht im Weiteren das Problem aber gänzlich. Nicht jede Bewegung des Nervensaftes sei vermögend, Vorstellungen hervorzubringen. Hierzu bedürfe es noch eines weiteren Organs bzw. Organbestandteils, der Nerven. Die Nerven selbst sind die Werkzeuge153, die Instrumente der Empfindung, und nicht der Nervensaft. Mit dieser Formulierung rückt er das Nervöse innerhalb der Cotnmerrium-Ptoblemzak in eine exponierte Stellung. Die Nerven sind diejenigen Schnittstellen und Vermitdungsebenen im menschlichen Körper, die sinnliche Reize in innere Bewegungen transformieren, und zwar so, daß davon »physikalisch philosophirt« werden kann. Der Nervensaft agiert nur noch als Erhaltungs- und Ubertragungsmedium. Der Nerv setzt sich aus Nervenhaut und inwendigem, sehr weichem Mark zusammen, das vom Gehirn seinen Ursprung nimmt. Das ist aber nur die Makrostruktur der Nervenfaser. Das Mark selbst besteht wieder aus sehr vielen Nervenfasern mit Mark und Nervenhäuten. In solcherart Struktur des Nervenbündels setze sich gleichsam das Mark des Gehirns {substantìa medullosa) fort, das nichts anderes sei, »als eine Menge von unbeschreiblich zarten Fäsergen, welche mit dem Nervensafte erfüllet sind«154. Zum eigentlichen Sitz aller Empfindlichkeit aber macht Krüger die Nervenhäute; sie sind die eigentlichen Instrumente der Empfindungen155. Das Nervenmark
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Ebd., S. 558. Ebd., S. 559. Vgl. ebd., S. 619. Ebd., S. 560. Diese Lehre geht auf Piaton, Aristoteles und die Hippokratiker zurück, die im Herzen den Sitz der Seele annahmen. Piaton, der zwar an der zephalozentrischen These vom Gehirn als Sitz des höchsten Seelenteiles, der Vernunft, festhält, lokalisiert den Willen aber im Herzen und die Begierde im Unterleib (Plat rep. 435b-441c; Tim. 69c-70b). Aristoteles bestimmt das Herz generell als Seelensitz (kardiozentrische Vorstellung). Das Herz ist ihm das Zentralorgan aller denkenden und wahrnehmenden Seelenfunkrionen (Arist. part. an. 652a-653b; gen. an 743b-744a). Krüger, Naturiehn 2 (21748), S. 567. Ebd., S. 566. Ebd., S. 581, 577. Ausgangspunkt der Krügerschen Überlegung war, »ob die Empfindung alleine vermittelst des weichen Theiles der Nerven geschehe, oder ob dieses nicht vielmehr durch die Haut, welche einen jeden Nerven, er sey auch so weich als er immer wolle, umgiebet, verrichtet werde« (ebd., S. 567). Er fuhrt dann zunächst Β agli vis Lehrmeinungen an: Dieser ging von der Ei-
Das Krügersche Empfindungsgesetz
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habe nutmehr die Funktion, den Nervenhäuten die subtile Materie, Lebensgeister oder Nervensaft genannt, zuzuführen, die ohne Nervensaft austrocknen und mit ihrer Elastizität ihre Empfindlichkeit verlieren 15δ. Die Elastizität der Nervenhäute lasse sich, so Krüger, empirisch belegen: »Wenn man einen Nerven durchschneidet, so ziehet sich seine Haut zurück, und das Marek des Nervens kömmt zum Vorscheine. Man begreift leicht, daß [...] diese Haut [...] dergestalt ausgedehnt gewesen seyn [muß], daß sie eine beständige Bemühung gehabt hat, sich wieder zusammenzuziehen.«157 Die Nervenhäute sind demzufolge von Natur aus elastisch und gespannt, vergleichbar der gespannten Saite eines Musikinstruments.158 Was also liegt näher, vom analogen Aufbau auf eine analoge Funktionsweise zu schließen und die Nervenbewegungen mit Hilfe der »Gesetze der Elastizität« zu beschreiben. Das Empfindungsphänomen, als Bewegung der Nervenhäute verstanden, reduziert sich letztlich auf Vibrationsbewegungen (»zitternde Bewegungen«). In den §§ 315-318, in Gänze mit Schwabacher Lettern gesetzt, der in Frakturtexten des 18. Jh. verwendeten Auszeichnungsschrift, wird das Krügersche Gesetz mathematisch spezifiziert. In ihnen zeigt sich in letzter Konsequenz, was Krüger meint, wenn er von »physicalischer Philosophie« und ihrer Methodik, dem »mechanischen Philosophiren« im weiteren Sinne spricht. Bereits die den Inhalt des § 315 umreißende Marginalie deutet die Zielrichtung an: Von der Ausmessung der Empfindung®. Analog den Gegebenheiten bei einem Saiteninstrument werden die Nervenzustände schwingungstheoretisch charakterisiert. Die vormalige Benennung der Nervenhäute als »Instrumente« der Empfindungen öffnet sich neben dem zeitgenössischen medizinischen Bedeutungsgehalt auch dem musikalischen. Die Konkretisierung des Krügerschen Gesetzes liest sich dann wie folgt:
genpulsation der harten Haut des Gehirns (der Jura malti) aus, wodurch der Nervensaft in die Nervenröhrchen getrieben werde. Die Muskeln, denen eine von den Nerven unabhängige Kraft, eine vis insita, eignet, werden humoral durch den aus dem Gehirn strömenden Nervensaft gesteuert. Sie bewirken Bewegung durch Aufblähung (diese iatrophysikalische, ursprünglich von Franz de le Boë, genannt Sylvius (1614-1672), stammende, später auch von Descartes propagierte Lehre von den Nervenröhrchen, den canalículos Umissimos, findet sich noch bei Boerhaave, dem Lehrer Hallers). Baglivi hat daraus geschlossen, die harte Haut des Gehirnes sei die alleinige Ursache aller körperlichen Bewegungen (ebd., S. 572f.), denn ihnen komme eine außerordentliche Empfindlichkeit zu (ebd., S. 79f., 567, 575). Krüger lehnt eine Verknüpfung der Eigenpulsation und des weichen, mit Nervensaft angefüllten Nervenmarks als Ursache ab (ebd., S. 573-575) und reklamiert stattdessen allein die Nervenhäute als Sitz aller Empfindlichkeit (ebd., S. 576). Neben den Nervenhäuten habe zwar der Nervensaft auch Anteil am Empfindungsgeschehen, aber einen deutlich untergeordneteren. 156 Ebd., S. 576f. 157 Ebd., S. 584f. 158 Aber bereits der ebenfalls der Iatrophysik zuneigende Leipziger Anatom, Physiologe und Kliniker Johannes Bohn (1640-1718) lehnte in seinem CIRCULOS ANATOMICO-PHYSIOLOGICUS,
SEU OECONOML4 CORPORIS ANIMA1JS, Hoc est, Cogitata, Functìonum Ammaliartipotissimarw Formalitatem & Causas concemenlia (Leipzig: J. F. Gleditsch 1686) die Vorstellung ab, wonach der
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Nerv eine Saite sei, da dieser nie gespannt, sondern stets locker sei und aus weichen Fäden bestehe. Krüger, NaturUhn 2 0*1748), S. 586.
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Johann Gottlob Klüger und die nomologische Fixierung des Empfindungsgeschehens
»Wenn die Empfindung von einer zitternden Bewegung der Nervenhäute herrühret, und die Wirckung der Ursache, von welcher sie hervorgebracht wird, jederzeit proportional ist; so kan es nicht fehlen, es muß die Empfindung desto stärcker und lebhafter seyn, je heftiger die zitternde Bewegung der Nervenhäute gewesen ist. Nun aber ist jederzeit die Bewegung einer Saite desto heftiger, je stärcker sie angestossen worden, und je elastischer sie ist. Derowegen hat man nur auf zweyerley zu sehen, wenn man die Grösse der Empfindung beurtheilen will, nemlich auf die Gewalt, mit welcher die äussern Cörper in die Gliedmasse der Sinne würcken, und auf die Elasticität der Nervenhäute, in denen die Empfindung hervorgebracht wird. Die Elasticität einer gespannten Saite ist desto grösser, je grösser die Gewalt ist, mit welcher sie sich in ihren vorigen Zustand versetzet, nachdem ihre Figur verändert worden ist (P.I. §. 6716°). Die Gewalt, mit welcher sie dieses thut, ist desto grösser, je geschwinder ihr Bewegung geschiehet (P.I. §. 56161). Nun aber bewegt sie sich desto geschwinder, je stärcker sie gespannt ist (P.I. §. 344162). Derowegen ist die Elasticität einer gespannten Saite der Kraft, von welcher sie gedehnt wird, proportional. Wenn man nun auch bey der Empfindung auf die Elasticität der Nervenhäute zu sehen hat, so wird von ihnen eben dasselbe gelten müssen. Die Empfindung wird jederzeit desto lebhafter seyn, je stärcker die Nerven gespannet sind. Und hieraus können wir den Schluß machen, daß die Empfindungen in einer zusammengesetzten Verhältniß, der in die Gliedmasse der Sinne wirckenden Cörper und der Spannung der Nervenhäute seyn müssen. Und weil eine zusammengesetzte Verhältniß erwächst, wenn man die Glieder zweyer einfachen Verhältnisse in einander multiplicirt; so wird man die Gewalt des Cörpers, welcher die Gliedmasse der Sinne berühret, mit der Kraft, von welcher die Nervenhäute gedehnt werden, multipliciren müssen, wenn man die Grösse der Empfindung zu bestimmen verlangt.«163 Die Empfindung ergibt sich demnach aus dem Produkt der von außen auf den menschlichen Körper sinnlich einwirkenden Kraft und der für die Saitenspannung aufgebrachten Zugkraft. Die einwirkende Kraft könne, bei Druckkräften
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Kriiger, Naturiehn 1 P1744), S. 56: »Gleichwie nun ein Cörper desto härter ist, je grössere Kraft erfodert wird seine Figur zu ändern, so ist er ferner desto elastischer, je grösser die Kraft ist, mit welcher er sich in seine vorige Figur versetzet.« Ebd., S. 46f. Ebd., S. 428f. Krüger, NatuHehn 2 ( 2 1748), S. 586-588. In der Krügerschen Formalisierung liest es sich so: »Es sey die eine Empfindung = S die andere — s, die Gewalt des einen Cörpers der sie hervorbringt — V des andern = v. Die Spannung des Nervens im ersten Falle = T, im andern = t: so ist S : s = V Τ : v t (§. 315.). Wenn nun Τ = e so verhält sich S : s = V : ν. Das ist: die Lebhaftigkeiten der Empfindungen verhalten sich, wie die Kräfte der Cörper, von welchen sie hervorgebracht worden, wenn die Spannungen der Nerven gleich groß sind. Setzet femer V = v. so ist S : s = Τ : t. Derowegen verhalten sich die Empfindungen, wie die Spannungen der Nervenhäute, wenn die Wirkkungen der Cörper, welche die Gliedmassen der Sinne berühren, gleich groß sind« (ebd., S. 589). Ging es im «f-iwe-Streit allein um die adäquate Fassung der physikalischen, so beschäftigt Krüger hier nun die psychophysische Kausalität.
Das Krügersche Empfindungsgesetz
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eine tote, bei Stoßkräften eine lebendige sein. Die Zugkraft selbst ist eine lebendige Kraft. 164 Aus den individuell und zeitlich unterschiedlichen Spannungszuständen der Nerven erwachsen unterschiedliche Erlebensweisen. Deshalb empfinden Personen gleiche Sachverhalte unterschiedlich. Aber auch ein und dieselbe Person kann einmal etwas lebhafter empfinden als ein anderes Mal. Da die Zugspannung als eine lebendige Kraft sich »wie das Quadrat der Geschwindigkeit [...], mit welcher die Saite zittert, [verhält,] so muß nothwendig [...] die Empfindung dem Quadrate
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Hier folgt Krüger offensichtlich Leibniz und seiner »jeder mechanisch-realen Deutungsmöglichkeit entkleideten Wort- oder metaphysischen Begriffsschöpfung« riebendige Kraft* (Szabó (1987), S. 69), die ihre Wurzeln in der Renaissancephilosophie hat (Borsche (1991), S. 3). Leibniz lehnte im sog. w/-iwa-Streit den Cartesischen Rechnungsausdruck für das Kraftmaß eines bewegten Körpers (der hierin Marin Mersenne (1588-1648) folgt) mit m-v als der Quantität der Bewegung ab. Stattdessen sah er das wahre Kraftmaß eines bewegten Körpers in Anlehnung an Galileo Galileis (1564-1642) Fallgesetz mit dem Rechnungsausdnick m-v1 adäquat charakterisiert und bezeichnete dieses als lebendige Kraft* (vis viva oder vis activa, erst Gaspard Gustave de Coriolis (1792-1843) wird dafür '/i m v> prägen). Den Cartesischen Ausdruck für den Druck eines ruhenden Körpers bezeichnet Leibniz im Gegensatz zur >lebendigen< als >tote Kraft* (vis mortutr, heute: Impuls). Demzufolge, schreibt Krüger, seien die toten Kräfte »in ratione composita simplici massumm & cekritattam, die lebendigen aber «in ratione composita ex simplici massamm & duplicata ccleritatum. (Krüger, Naturkhn 1 (21744), S. 590, vgl. auch ebd., S. 494). >Lebendige Bewegung* ist eine Bewegungsänderung (Beschleunigung oder Abbremsung) oder/und eine Änderung der äußeren Form (Deformation). »Lebendige Kraft* ist die alleinige Ursache fur die Änderung eines Bewegungszustandes bzw. einer äußeren Form. Im 17./18. Jh. ist der Kraftbegriff als eine eminent anthropomorphe Größe noch an die Sichtbarkeit gekoppelt: ihr unterliegt die Vorstellung einer körperlichen Anstrengung mittels Muskelkraft, so daß »lebendige Kraft* zweierlei Aspekte zugleich benennt: (a) einen medizinisch-anthropologischen, der damit den Akzent auf die Kraft lebendiger Wesen legt, und (b) einen physikalischen, wobei es speziell um Bewegungskiäfte geht. Dieses Sichtbarkeitspostulat bringt es zudem noch mit sich, daß die Ursache, nämlich die »Kraft«, mit ihrer sichtbaren Wirkung, der »Arbeit*, die die Kraft verrichtet hat, in eins gesetzt wird. Zu guter Letzt schließt das Bedeutungsfeld »Kraft* auch noch den traditionellen Vermögensbegriff mit ein: neben der eigentlichen Kraft (Ursache) und der Arbeit (Wirkung) benennt es auch die (mechanische) »Energie* als das einem Körper bzw. System inhärente Arbeitsvermögen, einmal die »potentielle Energie* (Energie der Lage), ein anderes Mal die »kinetische Energie* (Bewegungsenergie/Wucht), ein weiteres Mal vielleicht die Summe aus beidem. - Das Sichtbarkeitspostulat, das viele Cartesianer bewog, die nicht sichtbaren Newtonschen Fernwirkungskräfte als aristotelischscholastische quaiitates occultât zu verwerfen, strahlt bis in den Automatenbegriff aus: ein »Automat* ist dann im 18. Jh. nicht nur ein sich selbst Bewegendes schlechthin, sondern etwas, das sich offensichtlich selbst bewegt. Daher werden vcrständlicherweise auch Uhren, deren Triebfedern einem äußeren Betrachter verborgen bleiben, »Automaten* genannt. Das bedeutet, im Maschinenbegriff des 18. Jh. ist das energetische Prinzip, anders als im Automatenbegriff, nicht mit enthalten (vgl. Jakob (1991), S. 193). Das selbstbewegende Moment im Automaten wird mit einer in ihm wirkenden »lebendigen Kraft* in Verbindung gebracht Sicher ist das der Grund, weshalb Leibniz in seinem Specimen Jynamiaim (1695) auf diesen sprachlichen Isomorphismus abhebt und ihn für die Physik fruchtbar zu machen sucht; zugleich dürfte die organomorphe Begrifflichkeit Leibniz' wiederum die Übernahme des Maschinen- bzw. Automatenmodells in den medizinischen Mechanismus und Animismus begünstigt haben. Beidemale, und darin ist die intentionalc Ausgangsbasis zu sehen, korreliert dem sprachlichen ein kognitiver Isomorphismus und läßt die lexikalische Diffundierung erst eigentlich wünschenswert erscheinen.
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der Geschwindigkeit proportional seyn, mit welcher die Nervenhäute zittern«165. D. h. die Empfindung wächst gegenüber der Zittergeschwindigkeit im Quadrat an, so daß mitunter eine relativ kleine Bewegung schon eine recht lebhafte Empfindung hervorruft. »Denn, unserm gegenwärtigen Lehrsatze zu Folge, muß die Empfindung hundertmal lebhafter seyn, wenn die zitternde Bewegung in den Nervenhäuten zehnmal geschwinder geschiehet.«166 Als empirische Belege fur die Proportionalität der Empfindung zur Spannung der Nervenhäute fuhrt Krüger ins Feld, daß man »eine Art der Tortur« habe, »da der Missethäter gewaltsam ausgedehnt wird, und man befindet, daß sein Cörper dadurch so empfindlich gemacht wird, daß ihm auch die geringste Berührung Schmertzen verursachet. Und eben dieses zeigt sich in Kranckheiten, wenn ein Theil des Leibes durch einen Krampf zusammengezogen wird.«167 Die Parallelisierung von Nerv und Musiksaite, von Empfindung und Ton führt unversehens zur Parallelisierung von Anthropologie und Tonologie und zur Ersetzung der humoralpathologischen Idiosynkrasie durch die solidarpathologische Idiotonie. Das Physikalisch-akustische scheint sich hier relativ problemlos und in sich schlüssig mit dem Emotional-affektiven zu verbinden. Was liegt angesichts dessen für einen Mediziner näher als der Rückgriff auf die Methodische Schule des Altertums? Diese ging von Asklepiades von Bithynien (ca. 120-ca. 30 v. Chr.) aus, dem Begründer der griechischen Solidarpathologie, und fand in Themison von Laodikeia (1. Jh. n. Chr.) ihren führenden Mediziner. Den Methodikern zufolge hat jeder Körperteil das Vermögen der Ausdehnung und der Kontraktilität; auch hat jeder Körperbaustein einen ihm eigentümlichen natürlichen Tonus (τόνος). Untereinander sind die Körperteile so verbunden, daß sie sich durch Kontraktionen und Entspannungen gegenseitig beeinflussen und dadurch miteinander >sympathisierenSaite< zu bleiben, ausspart, ist vermutlich dem Umstand geschuldet, daß Krüger auf vier Haupttemperamente kommen muß und hierfür zwei Merkmale hinreichend sind. Hinzu kommt, daß der Nerv als gespannte Saite nicht als Leitungsmedium in Frage kommt: »Denn es ist kaum zu vermuthen, daß die zitternde Bewegung der Nervenhäute bis zu den Häuten des Gehirnes fortgesetzet werden solte. [...] Denn [...] die Erfahrung [lehrt], daß die zitternde Bewegung durch keine Saite fortgehe, welche krumm gebogen oder allenthalben unterstützt ist. Solchergestalt wird die zitternde Bewegung der Nervenhäute nur an dem Orte geschehen, wo die Empfindung hervorgebracht wird, und so gleich den Lebensgeistern mitgetheilet werden müssen«169, die für Weiterleitung der Bewegung Sorge tragen. Rein kombinatorisch ergeben sich aus den einzelnen Spannungszuständen (>scharf< oder >schlaffgrob< oder >zartFreudeFreude< in ihren verschiedenen Gradabstufungen (>FrohsinnFröhlichkeitFreudeFreude< zeigt, so ζ. B., wenn man einem überaus existentiell Bedürftigen unerwartete Hilfe leistet (§ 100). Im folgenden Abschnitt liegt das Augenmerk auf den physiologischen Vorgängen während der Gemütsbewegung >FreudeInnerer Sinn« bezeichnet hier ein intellektuelles Vermögen, wonach der Geist sich dessen, was in ihm geschieht, bewußt ist und sich mittels des inneren Sinnes selbst wahrnimmt (Christian Wolff, Phüosopbia rationalis sine Logica (M740), S. 125 § 31: »Mens [...] sibi conscia est eorum, qux in ipsa contingunt [...] seipsam percipit sensu quodam interno.«) - Auch John Locke sah im inneren Sinn das reflexive Bewußtsein des Geistes (Locke, Essay concerning human understanding (1690), 2,4, § 1). Krüger, Expmmental-Seeienkhn (1756), S. 13. Ebd., S. 14. Gemütsbewegungen sind graduell hoch zu veranschlagende Empfindungen des Vergnügens und Mißvergnügens.
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übertrieben starken Gemütsbewegung ausschlagen kann, daß sie 2um Affekt wird und tödlich endet, gehört zum Gemeingut der Zeit. Solchen krankhaften Auswüchsen ist der letzte die Freude behandelnde Paragraph gewidmet (§ 102). Die Struktur der Behandlung trägt deutlich die gleiche methodische Handschrift, wie sie dann auch in Wezeis Versuch über die Kenntniß des Menschen (1784/85) begegnen wird, nur eben bereits dreißig Jahre früher.
8. Das Krügersche Empfindungsgesetz in der zeitgenössischen Diskussion (H. F. Delius, J. A. Unzer, F. Schiller) Zusammenfassung und Ausblick: Krüger hält als Dynamist und Iatromathematiker am Cartesischen Substanzendualismus fest. Gegen die cartesianischen Mechanisten führt er die lebendigen Kräfte Leibniz' und die Newtonsche Physik ins Feld. Mit der Newtonschen Physik macht sich ein antirationaler Zug bemerkbar. Statt der bislang eher diskursiv-synthetisch verfahrenden Methodik favorisiert Krüger eine an der Induktion orientierte Methode mit ihren beiden Säulen, dem Versuch und der Beobachtung. Auf diesem Fundament entwickelt er eine nervöse Empfindungslehre, die ihren Ausdruck im sog. Krügerschen Gesetz findet. Davon ausgehend versucht er, das Empfindungsgeschehen mathematisch zu explizieren, wozu er die Empfindungslehre mit der Tonlehre verknüpft. Sein physikalischer Reduktionismus läßt ihn auch vor den anderen vier Sinnen nicht haltmachen. So entwirft er, um sein synästhetisierendes Anliegen zu verdeutlichen, eine Augenmusik, das sog. Farbenklavier. Die anatomische Grundlage für die Oszillationstheorie der Nerven bildet die zeitgenössische Faserntheorie. Das Krügersche Empfindungsgesetz, so könnte man prononciert sagen, ist das aus einem strikt empiristischen, antimetaphysischen Ansatz geborene Bestreben, mit der Leibniz'schen Fensterlosigkeit der Monade216 zurechtzukommen. In Ansehung des Commercium mentis et corporis entscheidet er sich, wie die meisten seiner Arztkollegen auch, an dem Inßuxusphysicus festzuhalten. Als Mitder zwischen Körper und Seele wird der Nerv angesehen. Ausdruck der psychologischen Seite des Empfindungsprozesses ist die Empfindung, der als physiologisches Pendant die jeweilige bewußte oder unbewußte Bewegung im Körper entspricht. Empfindung selbst wird noch ganz rational als an Seelisches gebunden betrachtet. In der Pathologie eignet Krüger, wie allen anderen Iatromathematikem auch, eine Inkonsequenz. Medizintheoretisch gibt es in der Ätiologie nur Fehler in der körperlichen Bewegung217; sie bewirken schließlich alle Krankheiten (z. B. wird das Fieber als eine vermehrte Herzbewegung angesehen218. Wird es allerdings
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Leibniz, Monadologe (1720), § 7. Krüger, Νβ/νΜπ 2 fl748), S. 31. Krüger, NatuHebn 3/1 (1755), S. 7.
Das Krügersche Empfindungsgesetz in der zeitgenössischen Diskussion
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klinisch, sieht Krüger über den theoretischen Grundsatz hinweg und findet zu den praktischen Lehren der Mechanisten zurück, so z. B. wenn er mit Boerhaave die Entzündung aus einer Verstopfung entstehen läßt.219 Im Gegensatz zu den älteren mechanistischen Lehren öffnet sich Krüger in der Pathologie auch chemischen Ansichten. Die Blutröte z. B. resultiert dann aus der Verbindung des Schwefels mit dem Laugensalz220; auch hätten viele Krankheiten ihre Ursache in der Schärfe der Säfte. Krügers Empfindungsgesetz (Jex Krügeriana) wurde von vielen Zeitgenossen erwähnt221, rege diskutiert und oft variiert Einmal kam es deswegen sogar fast zu so etwas wie einem Prioritätenstreit.222
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Ebd., S. 124. Krüger, Naturühre 2 ( 2 1748), S. 169. U. a. Georg Christoph Lichtenberg, Κέρας ά μ α λ θ ε ί α ς (dt. Füllhornbuch) (1765-1772), S. 53 Nr. 81: Dieses Buch verdient überhaupt großes Augenmerk, da es umfangreiche Notate aus Krügers Physiologie und Unzers Arg enthält. In Johann Gottlieb Schiffers Electriscber Mediati (*1766) kann man dazu folgendes lesen: »Die Arzneygelehrten haben in der Medicin einen gewißen Lehrsatz einge führet, der heut zu Tage bey nahe schon ein Grundsatz geworden, und daraus sie nicht nur viele natürliche Veränderungen, die in dem menschlichen Körper vorgehen, sondern auch die Wirkungen vieler innerlichen und der meisten äusserlichen Arzneymittel erklären. Er heißt: Auf eine jede Empfindung folget eine gewiße Bewegung, und nachdem jene sieh verändert, so wird auch diese andern (ebd., S. 37). Sein Lehrer sei es gewesen, der Altdorfer Professor für theoretische Medizin, Johann Nikolaus Weiß (1702-1783), der bereits vor mehr als zwanzig Jahren den Satz behauptet, seinen Studenten gelehrt und seit dieser Zeit unter seinem Vorsitz in vier Dissertationen verteidigen lassen habe: in den ersten beiden wird der medizinische Lehrsatz dargelegt, in der dritten auf die medizinische Praxis angewandt und in der vierten in einem eingeschränkten Sinne expliziert. Die vier Dissertationen faßte Weiß später zusammen und gab sie mit einer Vorrede versehen unter folgendem Titel heraus: JOHANNIS NICOLAI WEISII [...] TETRAS DISSERTATÌONVM MEDICARVM QVIBVS THEOREMA MEDICVM ALIA SENSATIO AUIMOTVS ADSTRVTTVR APPUCATVR JJMTTATVR. CVM PRAEFAMINE DE VARIANTE PAKITVMIRRITABILJTATE (Altdorfii 1756). Allerdings fand die früheste Verteidigung erst am 23. November 1745 statt (diejenige Schiffers), die nächst folgenden fanden dann am 20. April 1752, im Juni 1753 und am 16. Oktober 1756 statt. Auf Krügers und Delius' Schriften wird erst in der zweiten Dissertation Bezug genommen und für einen eingeschränkteren Geltungsbereich der Gesetze plädiert (vgl. CoroUana Respondents, S. 33f.). Man kann also getrost die Urheberschaft für die nomologische Fixierung des Empfindungsgeschehens Krüger zusprechen. Denn bereits 1744 heißt es in Ernst Anton Nicolais (1722-1802), eines Schülers von Krüger und nachmaligen Jenaer Medizinprofessors, Erstlingsschrift von den Witrckunffn der Einbildungskraft in da menschlichen Cörper aus den Gründen der neuern Weltnuißheit hergeleitet (Halle 1744): »Sie [die Empfindung und die Bewegung der Nervenhäute] sind in einen beständigen Zusammenhang, und daher darf es uns am allerwenigsten befremden, wenn geschickte Naturlehrer behaupten, daß allemahl an dem Orte, wo eine Empfindung hervorgebracht worden, eine Bewegung entstehe, die ihr proportional ist. Ich werde diesen Satz so lange für eine unumstößliche Warheit halten, bis mir jemand einen Fall, der mich des Gegentheils überführet, aufbringen wird. Denn ich sehe gar nicht ab, wie man ohne ihm dasjenige, was im menschlichen Cöiper vorgehet, vernünftig erklären will. Er ist ein beständiges Gesetze, nach welchen sich alle Veränderungen in uns richten, eine Quelle von unzehlig vielen andern Warheiten, und ein Grundsatz, der in die Artzneygelahrtheit einen starcken Einfluß hat. So nothwendig, so unentbehrlich, so nutzbar dieser Satz ist, so sehr hat man sich zu verwundern, daß man an ihn, ich will eben nicht sagen, nicht eher gedacht, sondern ihn nicht öfterer bey den menschlichen Cörper anzubringen sich bemühet hat Nur dem geschickten und gelehrten Herrn Professor Krüger muß man den Ruhm lassen, daß er ihn
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Johann Gottlob Krüger und die nomologische Fixierung des Empfindungsgeschehens
Zu denjenigen, die sich um die theoretische Durchdringung des Empfindungsgeschehens auf der Basis des Krügerschen Gesetzes bemühten, zählt Heinrich Friedrich Delius (1720-1791)223 mit seinem im Hamburgischen Magasin publizierten Aufsatz: Theoria etfoecundus in mediana vsus principit: Sensationen sequitur motus sensationiproportionates, d. i. Theorie und nützlicher Gebrauch des Satzes in der Ançtneykunst; daß nämlich auf eine Empfindung eine Bewegung folge, so der Empfindung proportional ist, einem 1749 aus Anlaß der ihm konferierten Professur verfaßten Programm gleichen Titels (heute würde man von einer Antrittsvorlesung sprechen).224 Delius will in diesem Aufsatz die »Theorie der Bewegungen des menschlichen Körpers deutlich und begreiflich machen«225. Obwohl Krügers Name nur einmal beiläufig fallt226, und nicht einmal in diesem Zusammenhang, handelt es sich bei der Abhandlung um eine Explikation des Krügerschen Gesetzes. Grundlegend für die proportionale und finale Bewegung im menschlichen Körper seien das »Leben« und das »vereinigte Commercium zwischen dem Leibe und der Seele«227. Auch er tritt der Oszillationstheorie der Nerven bei228, problematisiert diese Ansicht aber in keiner Weise. Für das >Leben< und das Commercium komme dem Nervensystem, wie schon bei Krüger, eine fundamentale Rolle zu, indem es als materieller Träger der
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in die Medicin eingeführt, und seinen Nutzen weitläufiger gezeiget hat« (Ε. A. Nicolai, Wirckungn der Einbildungskrafi (1744), S. 24f.). Ε. A. Nicolai, das sei nebenher noch bemerkt, folgt Krüger auch in der grundsätzlichen Wertschätzung der Philosophie, insbesondere aber der Mathematik und Musik für die Medizin (ebd., S. 10f., 17f.; vgl. auch Nicolai, Die Verbindung der Musik mit der Artpeygelahrtheit (1745), Vorrede, [unpag.] S. 20f.; zum Krügerschen Gesetz ebd., S. 14 § 8). Zu den zahlreichen Physiologen, die das Krügersche Gesetz übernahmen, gehört u. a. auch der in Kopenhagen lehrende Physiologieprofessor Georg Heuermann (1722-1768) mit seiner vierbändigen Physiologe (Kopenhagen und Leipzig 1751-55). Die das Krügersche Gesetz betreffenden Passagen sind im 20. Kapitel des zweiten Bandes (1752) eingerückt (S. 390-429 §§ 480-504, insb. S. 414 § 493 und S. 426f. § 502). In den siebziger Jahren kann man es dann, nunmehr ohne Herkunftsbeleg, in Johann Georg Sulzers (1720-1779) Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen (1751/52, S. 54) wiederfinden, der, eigenem Eingeständnis zufolge, genaue Kenntnis von Krügers Naturlehrt und dem wichtigen 16. Kapitel: Von der Empfindung überhaupt hatte. Delius (1720-1791) studierte in Halle (u. a. bei Johann Gotdob Krüger), Berlin, Leipzig und Helmstädt Medizin, promovierte 1743 in Halle und bekleidete seit 1749 die fünfte medizinische Professur in Erlangen. Er war Animist der Stahlschen Schule und griff vehement die Hallersche Irritabilitätslehre mit seinen Animadversiones in doctrinam de irritabilitate tono, sensatione et motu corporis humani (Erlangae: Camerarius 1752) an, da er sich in seinem religiösen Selbstverständnis verletzt fühlte und die Hallersche Irritabilitätslehre Atheisten wie La Mettrie Vorschub geleistet habe (vgl. Kaiser/Krosch (1966), S. 201-209, Wittern (1993), S. 251ff. Kreuter 1 (1996), S. 248). Theoria etfoecundus in mediana usus principii: sensationem sequitur motus sensationi pwportionatus: programma / Henricus Fridericus Delius, Erlangae 1749. Im gleichen Jahr ließ er unter seinem Vorsitz auch eine Dissertation mit dem Titel Toni theoria magnum medirinae incrementum: dissertalo medita [...] praeside Henrico Friderico Delio defendet Io. Georgias Emanuel Rasner (Erlangae 1749) verteidigen. Delius, Theoria (1756), S. 193. Ebd., S. 216. Implizit nimmt er auch auf Krüger und seine Analogie vom menschlichen Körper als ein Saiteninstrument Bezug (S. 210). Ebd., S. 194. Ebd., S. 195.
Das Kriigersche Empfindungsgesetz in der zeitgenössischen Diskussion
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Empfindungs- und Bewegungsübertragung fungiert: »Wo aber Nerven sind, da gilt auch die Theorie von der Empfindung und Bewegung«229. Gegenüber Krüger modifiziert Delius das Gesetz folgendermaßen: »Auf die Empfindung [...] folget eine Bewegung, so der Empfindung proportional, conform und convenient ist«230. >Convenient< ist eine Bewegung dann, wenn sie auf einen Endzweck gerichtet ist und diesen zu erreichen trachtet.231 Die »verbesserte« Fassung zeigt eine überraschende >Blauäugigkeit< ihres Verfassers. Denn beispielsweise das Kriterium der Konvenienz widerspricht augenscheinlich allgemein bekannten empirischen Befunden wie dem oben angegebenen Esel-Beispiel. Neben Delius diskutiert auch Unzer das Kriigersche Gesetz. Er tritt ihm zunächst bei und versucht, es weiter auszubauen und für die Tier- und Humanphysiologie fruchtbar zu machen, verschmilzt es anschließend mit harmonistischen Vorstellungen à la Leibniz, bis er es schließlich seinem System von der tierischen Sinnlichkeit integriert und als eine Gesetzmäßigkeit unter anderen ausweist. Diesen Werdegang gilt es im anschließenden Kapitel nachzuzeichnen. Dabei wird stets darauf Acht zu geben sein, wie sich neueste naturwissenschaftliche Erkenntnisse einerseits und philosophische Einsichten anderseits gegenseitig befruchten, ausschließen, bedingen und modifizieren, denn darin gerade liegt, so eine Hauptthese der Arbeit, das primum movens der Halleschen medizinischen Schule in der ersten Hälfte des 18. Jh. Hier soll ein kleiner prospektiver Exkurs Platz finden. Es handelt sich um den jungen Friedrich Schiller (1759-1805), in dessen dritter Dissertation man überraschend dem Krügerschen Gesetz begegnet, das für ihn nicht unwichtig scheint. Friedrich Schiller gehört mit seiner dritten medizinischen Dissertation aus dem Jahre 1780, Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen betitelt, eigentlich nicht mehr in den zeitlichen Rahmen dieses Untersuchungsabschnitts. Trotzdem ist es nicht uninteressant, in ihm einen weiteren Interpreten des Krügerschen Gesetzes zu erkennen. Nicht weil es Friedrich Schiller ist, sondern weil er noch 1780 ein Gesetz diskutiert, von dessen Urheber er offenbar kein Wissen mehr hatte. Augenscheinlich war das Kriigersche Gesetz so sehr zum Allgemeingut geworden, daß es damals schon die Bindung zu seinem ursprünglichen Verfasser verloren hat. Daneben ist aber auch bemerkenswert, wie lange sich ein ursprünglich der iatromathematischen Schule entstammendes Gesetz im allgemeinen Bewußtsein der Zeit erhalten hatte und festsetzen konnte, ja mehr noch: es ist überraschend zu sehen, vor welchem Problemhorizont Schiller das Gesetz dann diskutiert. Es läßt nicht nur Rückschlüsse auf den Kenntnisstand Schillers zu, sondern zeigt auch, inwieweit gerade das Kriigersche Gesetz in der Lage war, als Fokus anthropologischen Denkens zu fungieren: es hatte sichtlich über Jahrzehnte hinaus weithin Akzeptanz und genügte den Erklärungsansprüchen philosophischer und medizinischer Denker wohl noch vollauf. Aber nicht
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Johann Gottlob Klüger und die nomologische Fixierung des Empfindungsgeschehens
nur das: erstaunlich ist das Faktum auch, weil damit die wirkungsmächtige Ausstrahlung der Hallenser Hochaufklärung mit ihren weitreichenden konzeptionellen Überlegungen zur Anthropologie einen exemplarischen Beleg findet. Wie bereits Krüger und nach ihm Unzer will auch noch Schiller der Medizin aufhelfen und sie »aus der engen Sphäre einer mechanischen Brodwissenschaft in den höhern Rang einer philosophischen Lehre«232 erheben. Die Dissertation wendet sich zu diesem Zwecke einem speziellen Problem zu, der philosophischen Behandlung des psychophysischen Zusammenhangs. Schillers Versuch gliedert sich in zwei komplementäre Hauptteile: einen, der den leib-seelischen Zusammenhang als physischen, und einen anderen, der ihn als philosophischen, d. h. psychischen behandelt. Der erste Teil, Physischer Zusammenhang betitelt, untersucht demnach ausschließlich den Beitrag des Körpers zum Geistigen, der zweite Teil dagegen, Philosophischer Zusammenhang überschrieben, zeigt das Geistige in seinem Wirken und seiner Bedeutung für das körperliche Leben auf. Schiller geht ganz konventionell von einer dichotomischen Struktur des Menschen aus: der Mensch besteht aus Leib und Seele, die miteinander in einem bestimmten wechselseitigen Verhältnis stehen. Im Mittelpunkt der Abhandlung steht vor allem der Einfluß des Körperlichen auf das Seelische, womit er in erster Linie die somatische Determination des Menschen thematisiert. Die das Körperliche vielfach verkennende Psychologie seiner Zeit brandmarkt er in folgendem Bild: »den Philosophen, der die Natur der Gottheit entfaltet, und wähnet, die Schranken der Sterblichkeit durchbrochen zu haben, kehrt ein kalter Nordwind, der durch seine baufällige Hütte streicht, zu sich selbst zurück und lehrt ihn, daß er das unseelige Mittelding von Vieh und Engel ist«233. Ganz traditionell faßt er die Seele als wesenhaft einfach und ewig auf, die Materie als räumlich und zeitlich234. Das Materielle des Menschen ist sein Körper; ihn beleben das vegetabilische (= chemische), physische (— mechanische) und das tierische Leben235. Das vegetabilische und physische Leben verläuft nach den schon bekannten allgemeinen Gesetzen der Physik, wie sie die Mechanik und
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Schiller, Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistig/m (1780), S. 37-75, hier. S. 38 (künftig: NA 20/1, S. 38). Ebd., S. 47. Es handelt sich dabei um Vers 17 des Hallerschen Gedichtes Gedanken über Vernunft, Abeiglauben und Unglauben (1729). Der Gedanke selbst ist nicht genuin Hallerscher Provenienz. Bereits in Pascals Pensées (Sect. VI, 358) findet er sich; vgl. auch Alexander Popes Essay on man, I,225ff. Schiller NA 20/1, S. 42. Ebd., S. 43. Es ist hier Platz, auf einen naheliegenden Mißverstand hinzuweisen: Schiller kennt drei Stufungen im menschlichen Körper: die »Vegetation« (das Stoffliche), die »tierische Mechanik« und die »unbekannte Mechanik«. Vegetation und tierische Mechanik verkörpern das physische Leben, die unbekannte Mechanik das tierische Leben des tierischen Organismus (ebd., S. 43). Das tierische Leben wird u. a. durch die »Empfindlichkeit der Nerven und die Reizbarkeit des Muskels« charakterisiert. Alle drei Stufungen des Lebens, das vegetabilische, das mechanische und das tierische, zusammen konstituieren mit ihren »organischen Kräften« den menschlichen Körper. D. h. »tierische Mechanik« soll hier nur so viel heißen wie Mechanik des Tierischen und darf demzufolge nicht mit Unzers »Thierischem« verwechselt werden, das das mechanische Moment nicht kennt.
Das Kiúgerschc Empfindungsgesetz in der zeitgenössischen Diskussion
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Chemie bereits aufgesucht haben. Der »thierische Organismus« hingegen bewegt sich nach uns bislang nicht einsehbaren Gesetzen. Zwei Prinzipien sind grundlegend fur den tierischen Organismus: die Reizbarkeit der Muskelfaser und die Empfindlichkeit und Beweglichkeit der mit Lebensgeistern angefüllten Nervenröhren236. Zwischen Geistigem und Leiblichem vermittelt ein Inßuxus (ein »grosse[r] und reelle[r] Einfluß«) den »merkwürdigen Beitrag des Körpers zu den Aktionen der Seele«237. Das tierische Leben ist mehr als das physische Leben; sein Prinzip sind die tierischen Empfindungen, die in den Nerven liegen238. Sie sind es, die die grundlegenden Funktionen eines tierischen Körpers absichern. Die Empfindung als ein psychophysisches Phänomen gibt den Körper in seelischen Gewahrsam. Die Seele wiederum bewahrt und sichert ihn durch ihre Regentenfunktion vor den Unbilden der Körperwelt239. Da die Empfindung der Seele den Körper überantwortet, kann die Seele gar nicht mehr anders, als für den ihr vergesellschafteten Körper Sorge zu tragen, da ihr Wohlergehen vom Wohlergehen des Körpers abhängt240. Der Seele werden von Schiller somit alle erhaltungsdienlichen Funktionen des Körpers zugesprochen. Es ist aber nicht die vernünftige Seele, sondern vermutlich so etwas wie die anima sensitiva. So macht er für die erhaltungsdienlichen Funktionen des Körpers die tierischen Empfindungen im Gegensatz zu den geistigen Empfindungen als denen des Denkens verantwortlich. Diese »sollen aber doch nur auf der Oberfläche der Seele schweben, und niemals in das Gebiet der Vernunft reichen«241. D. h. konkret, der Seele sind die jeweiligen »Modifikationen« des tierischen Organismus angenehm oder unangenehm, was zugleich heißt, sie sind erhaltungsdienlich oder nicht, so daß die Seele den Körper dahin steuert, das Angenehme zu suchen und das Unangenehme zu fliehen. Schiller ist also ein Psychovitalist. Der Beitrag des Körpers zum Forterhalt des Lebens besteht dann darin, daß er der Seele seine Modifikationen als tierische Empfindungen zukommen läßt, da die Seele »durch eine unwiderstehliche Macht zu den Handlungen des physischen Lebens bestimmt werden« muß242. »Der Körper [ist]
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Schiller NA 20/1, S. 43. Ebd, S. 41. Ebd., S. 65. Ebd., S. 44. Ebd., S. 45. Den »Konsens der Maschine mit der Seele« (ebd., S. 61) beschreibt auch Schiller interessanterweise mit Hilfe der Instrumenten-Analogie: »Man kann [...] Seele und Körper nicht gar unrecht zweien gleichgestimmten Saiteninstrumenten vergleichen, die neben einander gestellt sind. Wenn man eine Saite auf dem einen rühret, und einen gewissen Ton angibt, so wird auf dem andern eben diese Saite freiwillig anschlagen, und eben diesen Ton nur etwas schwächer angeben. So wekt, vergjeichungsweise zu reden, die fröhliche Saite des Körpers die fröhliche in der Seele, so der traurige Ton des ersten den traurigen in der zweiten, Diß ist die wunderbare und merkwürdige Sympathie, die die heterogenen Principien des Menschen gleichsam zu Emern Wesen macht, der Mensch ist nicht Seele und Körper, der Mensch ist die innigste Vermischung dieser beiden Substanzen« (ebd., S. 63f.). Ebd., S. 45. Ebd., S. 44f.
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also der erste Sporn zur Thätigkeit; Sinnlichkeit243 die erste Leiter zur Vollkommenheit«244. Schiller betrachtet die tierischen Empfindungen als einen Impuls, der »das innere Uhrwerk des Geists« in Gang bringt245, und legt damit einen wichtigen Grund für seine Wirkungspoetik. Empfindungen als psychophysische Phänomene werden von Schiller nach ihrer Herkunft in »geistige« und »thierische Empfindungen« unterschieden244. Die Korrespondenz von Körper und Geist wird durch den »Nervenzusammenhang«247 sichergestellt. Die Nerven charakterisiert ihr Ton: im gesunden Zustand geben sie wohlklingende »Töne«, im kranken »Mißtöne«248. Aber auch im gesunden Zustand straffen sich die Nerven und spannen wieder ab. Insbesondere der Schlaf stellt eine solche natürliche »periodische Abspannung«249 dar. Nicht nur die Nerven haben unterschiedliche Spannung, sondern der ganze Körper. Damit huldigt auch Schiller der zeitgenössischen Fasern-Theorie. So heißt es z. B. einmal, daß »die reizbaren [Muskel-]Fasern im müden Dampfbad geschmeidig spielen« [=sich bewegen]250, und bei Gelegenheit der Erörterung von Denken und Körper in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit schreibt Schiller, »die Saiten des Denkorganes erschlaffen, wenn sie kaum ein wenig angestrengt worden«251. Allenthalben ist das Schillersche Denken in den Zeitgeist getaucht, berührt Bekanntes und wird von den gleichen Problemen bewegt. Ebenso verhält es sich hinsichtlich seiner Methodik. Schiller entwirft im § 7, Methode überschrieben, die Vorstellung eines Gedankenexperimentes. Er geht vom Gedanken aus, Teile des Menschen zu separieren und zu analysieren. Das »Resultat dieser Untersuchung muß durch Fakta bestätigt werden«252. Und tatsächlich geht Schiller im Verlaufe seiner Abhandlung von den einzelnen seelischen Vermögen aus und untersucht, inwieweit sie in ihrer Ausbildung und Vervollkommnung vom Körper abhängen. Seine Untersuchung fuhrt ihn schließlich auf eine Gesetzmäßigkeit, die den Zusammenhang von Körper und Seele im Menschen, der durch »ein ewiges Gesez der Weisheit«253 begründet worden ist, adäquat beschreiben soll. Diese Gesetzmäßigkeit stellt gewissermaßen »ein Fundamentalgesez der gemischten Naturen«254 dar. Ihr ist der § 12 gewidmet, der Thierische Empfindungen begleiten die
Die Begtiffiichkeit erinnert stark an Unzers physiologische Werke aus den siebziger Jahren. Ebd., S. 56. 245 Ebd., S. 50. 246 Ebd., S. 45. 247 Ebd., S. 68. 2 « Ebd., S. 67. 249 Ebd., S. 71. 250 Ebd., S. 57. 251 Ebd., S. 71. 252 Ebd., S. 49. 253 Ebd., S. 45. 254 Ebd., S. 57. Riedel verdoppelt das »Fundamentalgesetz der gemischten Naturen« ungerechtfertigterweise und erklärt das zweite zum »Spiegelbild des ersten«. In ihnen spräche sich die Quintessenz der medizinischen Anthropologie des jungen Schiller aus (Riedel, Anthropologie (1985), S. 122). 243
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geistigen255 überschrieben ist. Das Gesetz wird von Schiller dergestalt formuliert: »Die Thätigkeiten des Körpers entsprechen den Thäügkeiten des Geistes; d. h. Jede Überspannung von Geistesthätigkeit hat jederzeit eine Überspannung gewisser körperlicher Aktionen zur Folge, so wie das Gleichgewicht der erstem, oder die harmonische Thätigkeit der Geisteskräfte mit der vollkommensten Übereinstimmung der leztern vergesellschaftet ist. Ferner: Trägheit der Seele macht die körperlichen Bewegungen träge, Nichtthätigkeit der Seele hebt sie gar auf«256. Unschwer erkennt man in dem Schillerschen »Fundamentalgesez« das Krügersche Gesetz wieder. Allerdings werden an keiner Stelle Krüger und die Diskussion des Gesetzes unter den Gelehrten erwähnt. Es hatte wohl im 18. Jh. so große Verbreitung gefunden, daß man sich über dessen Herkunft gar nicht mehr im klaren war. Augenfällig wird aber auch, daß Schiller mit seiner Dissertation gewissermaßen noch den Stand der Empfindungslehre um die Jahrhundertmitte repräsentiert. Offensichtlich hat er keine Kenntnis von den neuesten Ergebnissen der Einzelwissenschaften. Daran ändert auch die Namensnennung von Haller, Boerhaave, Lyonnet und Swammerdam nichts. Neuere nervenphysiologische Arbeiten werden genausowenig reflektiert wie die inzwischen viel differenzierteren Interpretationen des Krügerschen Gesetzes, worüber vor allem der folgende, Unzer gewidmete Abschnitt einen Überblick geben wird. Es wird sodann auch deutlich werden, worin die anatomischen und physiologischen Defizite der Schillerschen Dissertation zu sehen sind. Das ist vor allem deshalb überaus bemerkenswert, da der Arv$ (1759-1761) und die Ersten Gründe einer Physiologie (1771) zum Lektürekanon der Medizinerausbildung an der Stuttgarter Karlsschule gehörten257. Dessenungeachtet liefert Schiller mit seiner Dissertation einen exemplarischen Beleg dafür, daß das von Krüger formulierte Gesetz bis weit in die Spätaufklärung diskutiert worden ist. In Gelehrtenkreisen hielt man es noch immer, ungeachtet der inzwischen hinzugekommenen neuen neurophysiologischen Erkenntnisse, für konsistent genug, das Empfindungsgeschehen und damit das Commerüum mentis et corporis zu beschreiben. Wie grundlegend es die Vorstellungen und Sichtweisen der Zeit geprägt hat, darüber konnte die Schillersche Abhandlung einigen Aufschluß gewähren, weshalb sie hier auch kursorisch zur Sprache gekommen ist. Inzwischen allerdings hatten die Einsichten in anatomische und physiologische Zu-
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Auch hält er die nomologische Fixierung der leib-seeUschen Wechselwirkung im Empfindungsgesetz für eine eigenständige Schillersche Leistung, der es in bewußter Analogie zu Adam Fergusons (1723-1816) »Naturgesetzen der Geisterwelt« in den Institutes of Moral Philosophy (Edinburgh 1769) formuliert haben soll (ebd., S. 126). Schiller NA 20/1, S. 56. Ebd, S. 57. Vgl. Riedel, Anthropologie (1985), S. 16 Anm. 29; S. 20f. Anm. 15). Und so kann es auch nicht überraschen, wenn sich in den Schriften von Schillers Philosophielehrer an der Karlsschule, Jacob Friedlich Abel (1751-1829), oft Bezugnahmen auf Unzers physiologische Schriften, insbesondere dessen Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper (1771) finden (vgl. Abel, Über die Quellen der menschlichen Vorstellungen (1786), S. 103,205 u. ö.).
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Johann Gottlob Krüger und die nomologische Fixierung des Empfindungsgeschehens
sammenhänge eine neue Stufe erreicht, so daß man dem Krügerschen Empfindungsgesetz schwerlich das ihm von den meisten Gelehrten bis in die achtziger und neunziger Jahre des 18. Jh. zugestandene Erklärungspotential weiterhin ohne Einschränkung zubilligen konnte. Dieses Ungenügen erkannt und das Krügersche Gesetz mit den um die Mitte des 18. Jh. gemachten naturwissenschaftlichen Entdeckungen in Einklang gebracht zu haben — dieses Verdienst muß Johann August Unzer zuerkannt werden. Er bildete das Krügersche Gesetz schöpferisch weiter, so daß er bereits Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre des 18. Jh. zu einer Neuinterpretation der neurophysiologischen Prozesse gelangte, die sich nicht nur auf das Krügersche Gesetz bezog, sondern zugleich einer neuen anthropologischen Denkrichtung Bahn brach.
Johann August Unzers neurophysiologische Begründung des vitalistischen Empfindungsbegriffs
1. Einleitung Johann August Unzer (1727-1799), zwölf Jahre jünger als sein akademischer Lehrer Johann Gottlob Krüger, steht zunächst noch unter dem unmittelbaren Einfluß der philosophischen und medizintheoretischen Anschauungen seines Mentors. Erst nach und nach gelingt es ihm, sich davon zu lösen und eigene Wege zu gehen. Bestimmend aber bleibt die von Krüger vorgezeichnete Bahn: die Erforschung des Empfindungsgeschehens. Später wird man in Unzer einen Vorläufer des Edinburgher Professors der Medizin William Cullen (1710-1790) sehen. Unzers Wirksamkeit und Ausstrahlung ist der letztendliche Sieg der dynamischen Nervenpathologie in Deutschland zuzuschreiben, wenngleich er die Nerventheorie letztlich doch nicht ungebrochen in die Pathogenese hat einfließen lassen. Auf dem Gebiet der Pathologie bleibt er, wie schon sein Lehrer Krüger, scheinbar inkonsequent; er läßt weiterhin viele Krankheiten aus veränderten Körpersäften entstehen und zeigt sich hier eher als Humoral- denn als Solidarpathologe. Verantwortlich dafür ist die größere Praktikabilität des humoralpathologischen Ansatzes in der zeitgenössischen Therapeutik, die eine genaue und in erster Linie nur theoretisch interessierende Ätiologie in den Hintergrund treten läßt. Die größte Wirksamkeit konnte Unzer mit seiner Konzeption einer vom Nervensystem ausgehenden Physiologie verbuchen. Die neurophysiologische Theorie, mit der er zum Mitbegründer der Nervenphysik wird, überbrückt den von Mechanisten und Animisten hinterlassenen Hiatus, dessen Überwindung bereits das Lebenswerk Krügers gegolten hatte. Den vollendeten theoretischen Ausdruck findet seine Neurophysiologie in den Ersten Gründen einer Physiologe der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper (1771)1. Darin begründet er eine das organische Leben durchwaltende Gesetzmäßigkeit, die Nervenkraft, wie sie Newton mit der Attrak-
Unzer, Erste Grimât einer Physiologie der eigentlichen tbierischen Natur tbieriscber Kütper, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1771. Das Werk ist dem dreizehn Jahre älteren Bruder Johann Christoph Unzer (1714-1771) gewidmet, nicht zu verwechseln mit dessen gleichnamigen Sohn (1746-1809), dem späteren Professor für Naturlehre und Naturgeschichte am Altonaer Gymnasium und Herausgeber des Alhmaiscben gelehrten Meratrius.
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Unzers neurophysiologische Begründung des vitalistischen Empfindungsbegriffs
tionskraft fur das Mechanische gefunden hatte. Die Ersten Gründe einer Physiologie sind das Resultat einer Jahre währenden Suche, die oft auch, vom Ergebnis her betrachtet, auf Abwege geriet. Die ersten Spuren solcher Überlegungen reichen zurück bis in die Hallenser Studienjahre und entwickelten sich in der Auseinandersetzung mit dem Krügerschen Empfindungsgesetz. Dabei vollzieht Unzer im Laufe von etwa 25 Jahren den Übergang vom Mechanismus und Psychovitalismus zum dynamischen Vitalismus im Gewände des Nervosismus. Unzers Wirkung war im Deutschland der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immens. Größte Verbreitung fand seine volksaufklärerische medizinische Wochenschrift Der Arg (1758, 21760, 31769, 31770)2, die ihm den Namen eines »deutschen Tissot« einbrachte3. Neben Albrecht von Haller und Johann Georg Zimmermann bestimmte er maßgeblich die medizinische Landschaft der zweiten Hälfte des 18. Jh. Rückblickend schreibt Goethe in seiner Autobiographie: »Nach dem Vorgange eines Ausländers, Tissot, fingen nunmehr auch die Ärzte mit Eifer an, auf die allgemeine Bildung zu wirken. Sehr großen Einfluß hatten Haller,
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Er wurde ins Schwedische (Teilübers. in Stockholms Wekoblad 1763-1773), ins Dänische (Kopenhagen 1766-1770), ins Holländische (Amsterdam 1766; Ausz. 1773) und ins Französische übersetzt (vgl. X. [Fraktur, recte: Antiqua; Rezensent: Philipp Gabriel Hensler], Oer Arg. Eine medirínischt Wochenschrift. (1770), S. 3). Brief Friedrich Nicolais an Unzer vom 24. Juni 1768; (vgl. Reiber (1996), S. 22). - Der Erfolg hat bekanntlich viele Neider. Unter ihnen findet man Ernst Platner, den Leipziger Mediziner und Popularphilosophen. Der ganze erste, Johann Georg Zimmermann dedizierte Band seiner Briefe eines Arges an seinen Fremd über den menschlichen Körper (Leipzig 1770) ist mit Invektiven gegen Unzers A r g gespickt Tenor der Ausfalle ist, eine medizinische Laienpublizistik sei in Deutschland im Gegensatz zur Schweiz (Tissot) nicht vonnöten und leiste nur der unsachgemäßen Selbsttherapie Vorschub. Im 25. Brief heißt es z. B.: »Ich bin wider alle dieienigen Bücher mit Grund eingenommen, welche nicht die medicinischen Kenntnisse, sondern vielmehr den medicinischen Vorwitz, unter den Menschen ausbreiten und vermehren. Man hat meines Erachtens in der Berlinischen Bibliothek [2(1766), S. 51-55; Rez.: Christian Friedrich Börner (1736-1800)], bey Beurtheilung des Arges, sehr richtig geurtheilt, wann man dergleichen deutsche Bücher unter die vornehmsten Ursachen der iiberhandnehmenden Pfuscherey rechnet« (S. 349). Und in der Vorrede schreibt Platner »Selbst das andere Geschlecht hat itzt seine medicinischen Modebücher, und man sieht hier und da den Arg ganz vertraut bey dem Moliere liegen« (S. VI). Unzer nimmt den Fehdehandschuh auf und verfaßt für die Allgemeine deutsche Bibliothek (14 (1771), S. 81-90) eine wenig wohlwollende Rezension der Platnerschen Physiologie in Briefen (S. 81) und wirft ihm u. a. eine unkritische Übernahme der Hallerschen Irritabilitätslehre vor (S. 87). Platner repliziert mit einer 54seitigen Vorrede im zweiten Band seiner Briefe eines Anges (1771). Der zweite Band ist auch der letzterschienene der auf ursprünglich vier Bände angelegten Briefe eines Arges. — Wenn Platner sein Werk Johann Georg Zimmermann dediziert und dann den Unzerschen Arg angreift, so ist das kein Zufall: beide Namen stehen für zwei unterschiedliche Konzepte medizinischer Laienaufklärung. Unzer geht mit Tissot und im Gegensatz zu Zimmermann und Platner so weit, dem medizinischen Laien Therapien von Krankheiten zu beschreiben, um sie damit in den Stand zu versetzen, sich selbst zu kurieren. Zimmermann ist es nur um die theoretische bzw. philosophische, nicht aber um die medizinpraktische Aufklärung zu tun (man erinnere sich, daß Zimmermanns Von der Erfahrung (1763/64) unter dem Baconschen Motto steht: Non ex vulgi opinione, sed ex sanojudicio. — >Nicht auf Grund der Volksmeinung, sondern auf Grund eines gesunden Urteils«). So kann Börner auch in der erwähnten Rezension schreiben: »Wäre es nicht besser, statt des Arztes dem Verständigern Zimmermanns Erfahrungen vorzuschlagen und den Arzt zu bitten die Erklärung darüber dem Ungelehrten als eine wahre Wohlthat zukommen zu lassen?« (S. 54).
Einleitung
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Unzer, Zimmermann, und was man im einzelnen gegen sie, besonders gegen den letzten, auch sagen mag, sie waren zu ihrer Zeit sehr wirksam.«4 Die nachstehenden Kapitel werden sich mit Unzers akademischem Werdegang und ausgewählten Publikationen befassen, die den Ursprung und die Entfaltung seiner vitalistischen Gedankenwelt zu verdeutlichen geeignet sind. Dabei wird es nötig sein, dem Maschinen-Begriff und der Konzeption einer zwischen Philosophie und Medizin vermittelnden allgemeinen Physiologie sowie dem Entwurf einer darin eingebetteten besonderen tierischen Physiologie verstärkte Aufmerksamkeit zu schenken. Daneben werden aber auch allgemeine innerdisziplinäre Tendenzen zur Sprache kommen, die auf die Problementfaltung und die Herausbildung des Vitalismus ausstrahlten. Abschließend werden in groben Zügen die Unzerschen Grundsätze der tierischen Physiologie skizziert und das ihr inhärente wesentlich Neue zur Sprache gebracht. Dem bio- und ergographischen Abriß schließt sich zunächst ein Kapitel an, das sich Unzers iatromathematischem Ausbau der Krügerschen Temperamenten- und Affektenlehre unter Zugrundelegung seines Empfindungsgesetzes zuwendet. Das dritte Kapitel hat ebenfalls eine Schrift aus dem Jahre 1746 zum Inhalt. Mit ihr versucht Unzer, zwischen Metaphysikern und Medizinern hinsichtlich des Stellenwertes der Seele für die erhaltungsdienlichen Funktionen des Körpers zu vermitteln. Dieser auf Ausgleich bedachten irenischen Schrift ist ein Sendschreiben beigebunden, das nun aber das genaue Gegenteil zu erreichen sucht: in ihm problematisiert Unzer das Krügersche Gesetz und löst die Sensibilität vom Seelischen auf neurovitalistischer Basis. Das vierte, sich anschließende Kapitel markiert dann exemplarisch das medizinisch-philosophische Denken Mitte des 18. Jh., kurz vor Hallers wirkungsmächtigen Vorträgen, die die Heraufkunft des Vitalismus als einer das iatromechanische und —mathematische Paradigma für längere Zeit in den Hintergrund drängenden Strömung begünstigten. Unzer konzipiert in seiner allgemeinen Physiologie eine medizinische Anthropologie, die die systematische Voraussetzung für die späteren Ersten Gründe einer Physiologie (1771) bildet; er stellt mit Hilfe des Maschinen-Begriffs Überlegungen an, wie weit die mechanistischen Erklärungsmethoden zur Beschreibung von Lebensvorgängen hinreichend sind, und versucht anschließend, mit dem Krügerschen Gesetz als nomologischem Ausdruck des Commercium mentis et corporis an die philosophische Lehre von der prästabilierten Harmonie anzuknüpfen. Das fünfte Kapitel schließlich beschäftigt sich mit Unzers radikaler Hinwendung zum neurophysiologischen Vitalismus mit all seinen Auswirkungen auf die medizintheoretischen und —praktischen Grundanschauungen. Im Mittelpunkt wird auch hier Unzers Arbeit am Krügerschen Gesetz stehen. Inzwischen wird Unzer den von Haller ausgehenden Impuls aufgenommen und selbständig fortgebildet haben. Am Ende steht dann ein imponierendes vitalistisches Gedankengebäude, das in der Lage ist, verschiedenste klinische Lehren zu absorbieren und
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Johann Wolfgang von Goethe, Aus meinem Liben. Dichtung und Wahrheit, in: ders., Werke 9, hg. Erich Trunz, München: dtv 1998, S. 277 (=Hamburger Ausgabe).
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Unzers neurophysiologische Begründung des vitalistischen Empfindungsbegriffs
zu assimilieren und auf die medizintheoretischen Fragen der Selbstbewegung und der Empfindungs- bzw. Reaktionsfähigkeit in durchaus überzeugender Weise befriedigende Antworten zu geben.
2. Johann August Unzer - ein bio- und ergographischer Abriß Johann August Unzer wird 1 7 2 7 im Preußischen in Halle an der Saale geboren. E r besucht die dortigen Schulen, erhält aber eine wohl ungenügende Bildung vermittelt. Bereits 1 7 4 2 sieht man ihn an der noch jungen Friedrichs-Universität ein Medizinstudium aufnehmen. Neben dem Studium arbeitet er emsig daran, seine Bildungslücken zu schließen und sein Wissen zu vervollkommnen. In der Philosophie und Mathematik w o h n t er dem Unterricht der W o l f f i a n e r J o h a n n Friedrich Stiebritz (1707-1772) 5 und Johann Gottlob Krüger ( 1 7 1 5 - 1 7 5 9 ) bei. Im Medizinischen ist Krüger ebenfalls sein »Präceptor und Freund« 6 ; er macht ihn in der theoretischen Medizin mit dem Boerhaaveschen Lehrgebäude und seinem eigenen bekannt. Johann Junker (1680-1759), sein Taufpate, den er als »Vater, Lehrer und Freund« verehrt 7 , unterrichtet ihn in den Stahlschen Grundsätzen der theoretischen Medizin 8 . Im Praktischen verdankt er allein dem Kliniker Junker
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Johann Friedrich Stiebritz (1707-1772) kehrt 1733 als ein zum Wolffianismus Bekehrter aus Gießen nach Halle zurück und verhilft hier der Philosophie Christian Wolffs zum Durchbruch, die aber eigentlich erst mit dessen Rückkehr im Jahre 1740 den unbedingten Sieg davontragen sollte. 1730 wird er Magister, 1735 Adjunkt und 1737 außerordentlicher Professor der Philosophie in Halle. Im Jahre 1743 schließlich bekommt er die ordentliche philosophische Professur für Ökonomie, Politik und Kameralwissenschaft übertragen. Seine aktive Parteinahme für den Wolffianismus spiegeln zunächst zwei Erklärungen zu Wolffs deutscher Logik und zur Metaphysik, die Erläuterung Der Vernünftigen Gedancken Von den Kräften Dei Menschlichen Verstandes Des Hochberiihmten Welt-Weisen Herrn Geheimden Rath Wolffs (Halle: Fritsch 1741, 21742, M747) und die Erläuterung der Woljftschen Vemünfftign Gedancken von GOtt, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (Halle: Fritsch 1742, 21747) [Zweiter Tbeil, Halle und Bernburg: Fritsch 1743] wider. Kurze Zeit später sieht er sich durch das immer mehr aufschwellende lateinische Schrifttum Wolffs veranlaßt (und damals waren erst die die theoretische Philosophie betreffenden Werke zum Abschluß gekommen!), einen allumfassenden Abriß zu verfertigen, der zweibändig in den Jahren 1744/45 unter dem Titel Philosopbia Wolßana contracta in Halle erscheint. Im ersten Band zieht er die lateinische Logik, Ontologie und Kosmologie zusammen, im zweiten die empirische und die rationale Psychologie sowie die Theologie. Vgl. Unzer, in: Nachrichten von den vornehmsten Lebensumständen (1753), S. 223. Ebd., S. 222f. Johann Junker bzw. Juncker (1680-1759) findet, nachdem er 1717 in Halle zum Doktor der Medizin promoviert hat, eine Anstellung als Arzt am Halleschen Waisenhaus. 1730 wird er ordentlicher Professor und führt in Halle den klinischen Unterricht ein. Er gilt als Apostel der Stahlschen Lehrart, die er zur Richtschnur seiner medizinischen Abhandlungen macht. Die große Anzahl seiner Abhandlungen enthalten wenig Originelles und stellen vielfach bloße Bearbeitungen Stahlscher Lehrsätze dar. Schon im Titel findet sich immer der Hinweis, daß er sich ganz der Stahlschen Lehre verschrieben hat (aethode Stahliana tractandos, mtthodo Stahitana conscripta). Große Verbreitung finden in erster Linie seine tabellarisch angeordneten Kompendien, z. B. der CONSPECTVS CHIRURGIE ΤΑΜ MEDICE, METHODO STAHLIANA CONSCRIPTA;QVAMINSTRVMEN-
J. Α. Unzer - ein bio- und ergographischer Abriß
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seine Ausbildung. Mit erst achtzehn Jahren verfaßt er eine Neue Lehre von den Gemütbsbewegungen (1746). 9 Das Neue besteht in dem Versuch, die v o n Krüger in der Physiologe vorgetragene solidarphysiologische Temperamentenlehre weiter aufzufächern und die verschiedensten Neigungen und körperlichen Leidenschaften jedes Temperaments aus der jeweils eigentümlichen Spannung und Struktur der Nerven herzuleiten. Die Abhandlung findet bei Krüger wohlwollende A u f nahme, so daß er zu ihr eine Vorrede beisteuert. Trotz solch günstiger Auspizien regt sich unter den Fachkollegen kein großer Zuspruch. D e r streng solidarpathologische Ansatz wird v o n Anfang an heftig befehdet. Unzer suspendiert schließlich die Krügersche Nerventheorie und wendet sich der Stahlschen Lehre zu. Noch im gleichen Jahr tritt er erneut v o r das Publikum und legt ihm mit einer
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TAUS, RECEmiSSIMORVM AVCTORVM DVCTV COLLECTEE, indifferentguter< Affekt und die Wollust (unvernünftige Liebe) sowie der Ehrund der Geldgeiz als >böse< Affekte. An allen vier Affektarten hat jeder Mensch teil, wobei die vernünftige liebe stets die unterste und geringste ist. Von den drei anderen Arten beherrscht eine den Menschen derart, daß sie für ihn charakteristisch ist. Kein Mensch wird demzufolge etwas »rechtschaffen Gutes« tun, »dabey Wollust/ Ehr-Geitz oder Geld-Geitz nicht interessiret« sind (Thomasius, Von der Kunst Vernünftig und Tugendhaft lieben. Als dem einbogen Mitte! einen glückseligen! galanten und vergnügen Leben φ gelangen¡ Oder Einleitung Zur SittenLehre (1692), S. 146f., 154ff., 185f., 305f.; zur Thomasischen Affektenlehre vgl. auch Bienert (1934), S. 36-43). Gerade der letzte Aspekt wird einen zentralen Stellenwert auch in Wezeis anthropologischen Grundanschauungen haben, worauf zu gegebener Zeit zurückzukommen sein wird. Unzer, Gemüthsbewegungen (1746), Vorrede Krügers [unpag.], S. 12. Ebd., Vorrede Krügers [unpag.], S. 20. Die Stoiker sind »bey der Bestreitung der Affecten selber in Affect gerathen«. Den Sieg über die Affekte hätten sie nicht erringen können, wenn sie nicht selbst »Sclaven der Affecten gewesen wären«. Das, was man gemeinhin als die größten stoischen Tugendhandlungen anzusehen pflegt, z. B. Catos und Lukretias Selbstmord, sind nichts weniger als Ergebnisse der Affektlosigkeit. Vielmehr sind sie »eine seltsame Art eines gantz ausserordentlich hochgetriebenen Ehrgeitzes« (ebd., Vorrede Krügers [unpag.], S. 9f.). Ebd., Vorrede Krügers [unpag.], S. 12.
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Unzeis neurophysiologische Begründung des vitalistischen Empfindungsbegriffs
Bewegungen zu bestimmen«37. Diesem Manko bisheriger Affektenlehren möchte er mit seiner neuen Lehre abhelfen: »Es ist die Mathematik, welche mir Mittel an die Hand gegeben, die Affecten also abzuhandeln«38. Der Argumentationsgang seiner Neuen Lehre von den Gemütbsbewegungen läßt sich folgendermaßen nachzeichnen: zuerst entwickelt er auf der Krügerschen solidarpathologischen Basis die Vier-Haupttemperamenten-Lehre weiter zur 16-Temperamentenlehre mit zwölf gemischten und vier Haupttemperamenten. Dazu wird neben dem polaren Differenzierungsmodus ein skalarer eingeführt. Doch nicht allein um die Temperamente geht es Unzer in seiner Abhandlung, im Mittelpunkt stehen die Affekte als seelische Phänomene (Gemütsbewegungen). Die Temperamente bilden lediglich nervöse Konstitutionstypen. Die Affekte sind psychische Wirkungen, darin den Empfindungen gleichend. Sie sollen in ihrer Gebundenheit an die nervöse Struktur aufgewiesen werden. Die Zuschreibung eines bestimmten Temperamententyps zu einem Affekt basiert auf empirischen Beobachtungen. Dem Haupttemperament wird ein Hauptaffekt, dem gemischten Temperament ein gemischter Affekt zugeordnet. Dabei wird klar, daß es sich hier bei einem Affekt um eine habituelle Begierde handelt, nicht um eine herrschende Gemütsbewegung im Sinne einer >Laune< etwa. Unzers Argumentation setzt mit der Explikation neurophysiologischer und -anatomischer Voraussetzungen ein: Der zitternde Nerv und der Nervensaft sind die Instrumente der Empfindung39. Analog der Krügerschen Einteilung wird ein Quadrupel von Nerveneigenschaften angenommen (zart oder grob und scharf/gespannt oder schlaff)40 und den vier Haupttemperamenten zugeordnet. Die Grundlage der Deduktion liefert das Krügersche Gesetz, das er mathematisch ausformuliert und mit Fallbeispielen belegt41. Die ganze Abhandlung setzt die Richtigkeit des Gesetzes voraus, das besagt: »Auf eine jede Empfindung erfolgt in unsern Körper eine Bewegung, welche dieser Empfindung proportional ist«42 und baut darauf auf. Die Überleitung von der Empfindung zum Affekt ist mit der Definition der Affekte als »anhaltende und vermehrte Empfindungen« gegeben. Affekte wirken gegenüber den einfachen Empfindungen nur viel stärker, intensiver43. Für die unterschiedlichen Intensitäten der Bewegungen reicht die mit dem Krügerschen Nerven-Quadrupel einholbare Differenz nicht hin. Die ursprünglich von Krüger zugrunde gelegte polare Eigenschaftsstruktur der Nerven, die ihm die klassischen vier Haupttemperamente neurophysiologisch herzuleiten ermöglichte, wird von Unzer um eine skalare Betrachtungsweise erweitert. Die polare Betrachtungsweise Krügers charakterisiert das Temperament mit Hilfe anatomischer
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Ebd., Zueignung Unzers [unpag.], S. 5. Ebd. Unzer, Gmiithsbemgungm (1746), S. 1. Krüger, Naturübn 2 (21748)> S. 609. Unzer, Gtmüthsbewegungen (1746), S. 3f. Ebd., S. 4. Ebd., S. 12.
Die Neue Lebte van den Gemüthsbeaegingen (1746)
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Merkmale, nämlich durch die jeweilige Spannung und Stärke der Saiten und den daraus resultierenden neurophysiologischen Eigenschaften, der Stärke und der Geschwindigkeit der Nervenoszillation. Für die vier Haupttemperamente ergibt sich daraus folgendes Bild: Nerv anatomisch charakterisiert Saitenspannung Saitenstärke Choleriker Melancholiker Sanguiniker Phlegmatiker
scharf scharf schlaff schlaff
zart grob zart grob
physiologisch charakterisiert Stärke der NervenGeschwindigkeit oszillation der Nervenoszillation heftig geschwind heftig langsam nicht heftig geschwind nicht heftig langsam
Zur Herleitung der gemischten Temperamente knüpft Unzer zunächst noch an Krügers polare Charakteristik an. Wenn zwei Haupttemperamente in einem physiologischen (nicht anatomischen) Nervencharakteristikum übereinkommen, liegt eine Verwandtschaft vor, und zwar insofern, als beiden eine Tendenz zum je anderen »verwandten« einwohnt. So kommt ζ. B. das cholerische Temperament mit dem melancholischen in Hinsicht der heftigen Nervenoszillation überein. Deshalb könne man von einem, und jetzt hält die skalare Betrachtungsweise Einzug, cholerischen Melancholiker und einem melancholischen Choleriker sprechen, womit jeweils attributiv die jeweilige Tendenz eines Haupttemperaments angezeigt wird. Recht problemlos ließen sich so neben dem melancholischen Choleriker und cholerischen Melancholiker, der cholerische Sanguiniker und saguinische Choleriker herleiten. Komplizierter gestaltet sich die Ableitung der gemischten Temperamente des melancholischen Sanguinikers und des sanguinischen Melancholikers. Das polare Modell versagt hier, da das sanguinische (zart + schlaff : nicht heftig + geschwind) wie auch das melancholische Temperament (grob + scharf : heftig + langsam) in keiner ihrer Eigenschaften übereinkommen. Unzer wechselt jetzt den Modus und geht zur skalaren Betrachtungsweise über. Die Geschwindigkeit der Nerven beim sanguinischen Temperament {geschwind) sei im Verhältnis zur Geschwindigkeit des cholerischen {geschwind) als langsam, und nicht mehr als geschwind zu betrachten. Dies ist dann genug, eine Bindung an das Melancholische anzunehmen44. Große Schwierigkeiten bereitet die solidarphysiologische Herleitung der Temperamente und der mit ihnen verknüpften Affekte im Falle des Phlegmatikers, da dessen Nervenbestimmungen bloß negative Bestimmungen enthalten: die Bewegungen sind weder geschwind noch heftig45. D. h. sie empfinden nur schwach. Da aber der Affekt eine anhaltende und vermehrte Empfindung ist46 - alles Positivbestimmungen - , kann der Phlegmati-
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Ebd,S. 15. Ebd., S. 67. Ebd,S. 12.
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Unzers neuiophysiologische Begründung des vitalistischen Empfindungsbegriffs
ket genaugenommen gar keine Affekte haben. »Ein Affect ist eigentlich eine vermehrte Empfindung [...,] derohalben können die Affecten solcher Personen nicht einmal mit Recht zu denen Affecten gerechnet werden.«47 Erneut versagt das polare Modell. Aber auch hier eröffnet die skalare Betrachtungsweise einen Ausweg. Die Positiv-Negativ-Polarität weicht einer Mehr-Minder-Skala. Das, was vordem unter kinästhetischem Vorzeichen lediglich als negative Eigenschaft erschienen war, wandelt sich nun in eine positive, minderen kinästhetischen Gehalts. Zu den den phlegmatischen Typus auszeichnenden Affekten zählen die >GelassenheitGemüthsruheUnbeweglichkeitZufriedenheit< und /Tugend^. Der Hauptaffekt des Phlegmatikers, und das meint Unzer genauso ernst wie Krüger, ist der >SchlafDing< nur gedacht, ist es ein >Gedankending< (ens rationis, ens cogitabile), ist es aber wirklich, redet man von einem >Außen-< oder >Einzelding< (ens reali). Insofern kommt der Begriff >Ding< mit dem des >Körpers< als eines dreidimensionalen, ausgedehnten, undurchdringlichen, teilbaren, trägen und schweren Gebildes nicht überein. Ein >Ding< (ens) kann, wenn es eine Struktur hat und demzufolge zusammengesetzt ist, mit gutem Grund >Maschine< genannt werden. Was ist da natürlicher, als einen ausgesonnenen intriganten Plan eine >Maschine< zu nennen. — Diese Bedeutungsnuance selbst ist ebenfalls bereits antiken Ursprungs: im Griechischen kann μηχανή auch List, Kunstgriff, Ränke bedeuten (vgl. Hes. theog. 146; Aischyl. Ag. 1391). Das Moment des für den Betrachter uneinsichtig bleibenden energetischen Zentrums und der schwer oder ebenfalls nicht einsehbaren Struktur bzw. Funktionsweise einer Sache oder eines Sachverhaltes trägt den traditionellen Maschinenbegriff ebenfalls seit der Antike mit und empfiehlt diesen auch gewissermaßen zur Bezeichnung theatralischer Vorrichtungen und intriganter Handlungen sowie derjenigen, die in solche wissentlich oder unwissentlich involviert sind. Erst das Mittelalter löste das energetische Zentrum aus dem Begriffsfeld >Maschine< heraus und bezeichnete es als ingenium (span, engenno, &z. engin). Erst in der frühen Neuzeit wurde der Bedeutungsverlust insofern wieder wettgemacht, als der Automatbegtiff in dieses Bedeutungsfeld eintrat. Ende des 18., Anfang des 19. Jh. dann begann erneut das energetische Moment in den Maschinenbegriff einzudringen und Aufnahme zu finden. Adelung, Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches 3 (1777), Sp. 384f.
Die Philosophische Betrachtung des menschlichen Körpers überhaupt (1750) Ein künstlich zusammengesetztes und mit einer, wenn auch nicht eigenen und willkürlichen Bewegung versehenes Ding (ζ. B. das Weltgebäude, die Uhr) (c) Engste Bedeutung. Ein zusammengesetztes Werkzeug (a), das dazu dient, Bewegungen hervorzubringen oder zu erleichtern
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(D) In der Malerei bezeichnet es die Komposition der Gegenstände auf der Leinwand
(E) Verzierungen im Theater
Da Adelung in seinem puristisch ausgerichteten Wörterbuch fachsprachlichen Verwendungen kaum Augenmerk schenkt, kann es nicht überraschen, hier den medizinischen Sprachgebrauch vollkommen übergangen zu sehen. Dessen ungeachtet hatte sich die Rede von der »menschlichen Maschine« lange schon im medizinischen und alltäglichen Sprachgebrauch festgesetzt. Dazu bedurfte es nicht erst der aufsehenerregenden Schrift Julien Offray de La Mettris, h'homme machine (1747)100. So 6ndet man ζ. B. in Zedlers GROSSEM UNIVERSALr LEXICON bereits 1739 Einträge zur machina corporis humana bzw. machina humana. Die Cartesische Physik mit ihrer Ausstrahlung auf alle Wissensgebiete ihrer Zeit führte die Rede vom menschlichen Körper als einer Maschine mit sich und verlieh auch dem zeitgenössischen medizinischen Sprachgebrauch ein mechanistisches Aussehen. Damit ist zugleich angezeigt, daß die Rede vom Menschen als einer Maschine nicht automatisch einen Materialismus indiziert. Im Gegenteil, bei kaum einem der Mediziner zeigt sich ein solcher Monismus. Die übergroße Mehrzahl von ihnen sieht im Menschen einen homo duplex; so auch Krüger, Unzer und der Literat Wezel. Krüger z. B. schreibt im zweiten Teil seiner Naturlehre (21748) ganz wolffisch: »Ein zusammengesetztes Ding, das vermöge seiner Structur geschickt ist, die Bewegungen zu verändern, nennen wir eine Maschine. Was ist demnach gewisser, als daß der menschliche Cörper eine Maschine sey?«101 Darauf, daß es in der Ärzteschaft Widerstände gegen die mechanistische Terminologie gab, weist Krüger im Anschluß selbst hin, als er auf die damit assoziativ verknüpften Vorstellungen vom menschlichen Körper als eines Bratenwenders oder einer Mühle zu sprechen kommt. Der Verfasser des >Maschinennatürlicher< und »künstlicher Maschine< »einfache natürliche Maschine^12. Der Rubtizierung in >natürliche< und »künstliche Maschinen< korrespondiert eine Differenzierung des »StrukturStruktur< im eigentlichen Sinne, wie sie den »mechanische» und »tierischen Maschinen< inhäriert114. Das Mischungsverhältnis der ersten Elemente entscheidet darüber, ob etwas zu den flüssigen oder zu den festen Teilen zu rechnen ist115. Lediglich die festen Teile sind zugleich »mechanische Maschinen< und verfügen, hierin den Flüssigkeiten gleichend, über physikalische Bewegungskräfte wie Schwerkraft, Anziehungskraft, Ausdehnungskraft, Elastizität116, außerdem aber noch, und das unterscheidet sie von den Flüssigkeiten, über mechanische Bewegungskräfte117. Ausdrücklich bindet Unzer die unterschiedlichen Bewegungskräfte {vires motrices) an bestimmte Strukturen: »Der menschliche Körper besitzt durch seine Struktur besondere Arten von Bewegungs-Kräften, und ist also eine mechanische Maschine [...]. Weil er durch keine Kunst hervorgebracht worden, ist er eine natürliche Maschine [...] und da unendlich viele Theile desselben wieder [mechanische] Maschinen sind; so ist träne zusammengesetzte Maschine«™. In der Struktur des Körpers liegt das »Wesen der Maschine« beschlossen119 und damit die unter-
Ebd., S. 2t f. »2 Ebd. 113 Ebd., S. 56, 59; vgl. auch Anonymus, Artikel: Menschliche Maschine, in: Grosses UNIVERSALr LEXICON Aller Wissenschrfen und Künste 20 [=Zedler] (1739), Sp. 809. 114 Unzer, Philosophische Betrachtung (1750), S. 46, 73. Daß die Erde als Prinzip des Festen den Grundstoff des ganzen menschlichen Körpers bildet, ist in jener Zeit Allgemeingut unter den Ärzten und Philosophen. Die Vorstellung selbst kann bis in die antike Naturphilosophie und in die biblischen Zeiten zurückverfolgt werden. 115 Ebd., S. 65. 116 Ebd., S. 76,99. 117 Ebd., S. 74f. 118 Ebd., S. 113f. 119 Ebd., S. 114. Mit der Rede vom iWesen der Maschine^ das in der Struktur des Körpers beschlossen liegt, kündigt sich der Ausgriff der bislang nur physikalischen Betrachtungsweise ins Metaphysische an. 1,1
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schiedlichen Bewegungskräfte. Da die Bewegungskräfte aber nicht von ihren Bewegungsursprüngen losgelöst betrachtet werden können (für Unzer ist das zu diesem Zeitpunkt noch die Seele), ist der Ausgriff der Physiologie mit dem Tierischen aufs Seelische und damit ins Metaphysische unvermeidlich. Das StrukturMoment und mit ihm der Maschinen-Begriff transzendieren die tradierten Grenzen der Wissenschaftsdisziplinen und verlangen nach einer Vermittlung von Medizin und Philosophie. In dieser Transzendenz wurzelt letztlich die von Unzer beabsichtigte Konsolidierung seiner »allgemeinen Physiologie« als einer zwischen Physischem (Medizin) und Metaphysischem (Philosophie) vermittelnden Wissenschaft. Der Aufbau des menschlichen Körpers kann nun, nachdem die Begrifflichkeiten philosophisch auseinandergesetzt und klar abgegrenzt worden sind, folgendermaßen beschrieben werden. Die ursprünglichen Maschinen des menschlichen Körpers sind die »allerersten Fäsgen«120 der Muskeln, Knochen etc., die selbst nicht mehr aus Maschinen bestehen121. Durch den Ausschluß der amorphen Körper aus dem Maschinen-Begriff mit Hilfe des engeren Strukturbegriffs vermeidet Unzer einen regressus ad infinitum im Sinne eines Maschinendifferentials. Die ursprünglichen Maschinen bilden die Elemente der zusammengesetzten Maschinen des Körpers, ζ. B. der Knochen, Muskeln, Nerven. Diese wiederum bilden größere maschinelle Gebilde, die gewöhnlich Organe heißen und in ihrer Gesamtheit die Körper-Maschine ergeben. Es gibt verschiedene Arten von Fasern: Knochenfasern, Muskelfasern, Nervenfasern u. a. Sie unterscheiden sich voneinander durch ihren Komplexitätsgrad und ihre materielle Zusammensetzung: d. h. die einen haben mehr flüssige, die anderen mehr erdige Bestandteile. Die meisten Körperfasern, nämlich die weichen, und das ist der entscheidende, eine Fasern-Physiologie überhaupt erst ermöglichende Gedanke, sind »im natürlichen Zustande gespant [...], denn sie ziehen sich zurück, wenn sie zerschnitten werden«122. Die harten Fasern sind nur elastisch123. Die Ansicht vom maschinellen Aufbau des menschlichen Körpers verstellt Unzer jedoch nicht den Blick für die Eigenart des Lebendigen. Der menschliche Körper ist mehr als nur ein Konglomerat oder Aggregat verschiedenartigster
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Ebd., S. 116; vgl. auch S. 120: »Eine physicalische Linie, die eine ursprüngliche Maschine in strenger Bedeutung ist, heist ein erstes einfaches Fäsgen, oder Nervenßsgen. Ich kan nemlich mit Grunde behaupten, daß alle erste Fäsgen unsers Körpers von einerlei Art sind, und also mit denen ersten Nervenfasgen übereinkommen, und zwar erstlich in Absicht der Art ihrer Zusammensetzung, die sie alle aus denen ersten Materien miteinander gemein haben [...,] hernach aber auch in Absicht ihrer Bewegungskräfte; indem alle Fäsgen in ihren Bewegungen harmonisch würcken, welches doch fur das Kennzeichen eines Nervenfasgen angenommen wird.« »Übrigens ist noch zu mercken, daß ein solches erstes Fäsgen auch durch die besten Vergrößrungsgläser nicht erreicht werden kan, indem sich immer findet, daß dasienige, so dafür gehalten wird, noch aus vielen andern Fäsgen zusammengesezt sei« (ebd., S. 121). Ebd., S. 123. Ebd., S. 120-122,141 f.
Die Philosophische Betrachtung Jes mmscbliém Körpers überhaupt (1750) 117
Maschinen — er ist ein Organismus, der aus Maschinen besteht. Die organische Qualität erhält der Körper erst mit dem Hinzukommen des Tierischen, das den Bereich des bloß Mechanischen hinter sich läßt, ihn transzendiert und in das Areal des Vitalistischen hinauffuhrt. Die tierische Natur ist an die »genaueste Gemeinschaft« von Körper und Seele gebunden124, die das Nervensystem vermittelt. »Es sind also die Nerven dieienigen Theile thierischer und menschlicher Körper, worin die ganze thierische Natur, so weit sie den Körper angehet, gegründet ist. [...] Die Struktur der Nerven macht ihre Verrichtungen möglich [...] und kan also als das Wesen eines thierischen Körpers, in sofern er blos als ein solcher betrachtet wird angesehen werden. [...] Es mus aber damit nicht die Struktur ieder einzeln Nerven allein, sondern als ganzen Nervenbaues in thierischen Körpern zugleich verstanden werden«.125 Die Bindung des Lebendigen ausschließlich an den Nerv macht Unzer zum Nervosisten. Im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit steht nicht von ungefähr der Aufbau und die Funktionsweise des Nervs. In beidem schließt er sich seinem Lehrer Krüger an: der Nerv besteht aus einer gespannten Nervenhaut und weichem, aber elastischem Nervenmark. Das Nervenmark, woraus auch das faserige Gehirn besteht, formiert Gefäße, in denen sich Feuchtigkeiten befinden, unter denen die Lebensgeister bzw. der Nervensaft die »subtilste Feuchtigkeit« ist126. Sie werden überall im Nerv, wozu auch das Gehirn zählt, aus dem Blut abgeschieden. »Eine Nervenhaut, deren Canal mit einer Menge subtilster Fäsgen und Gefasgen erfüllt ist, macht ein Ganzes aus, das ein Nerve heist. Dieses Gewebe von Fäsgen und Gefasgen, samt ihren Säften, wenn es ausser dem Nerven betrachtet wird, heist Gehirn, in dem Nerven aber betrachtet, heist es Nervenmarck. Die subtilste Feuchtigkeit in dem Nerven nennt man die Lebensgeister, oder den Nervensaß. Bei einem Nerven lassen sich also folgende Stücke von einander unterscheiden: 1. die Fäsgen der Nervenhaut, welche stets gespannt sind, 2. die Canälchen zwischen ihnen, [...] 3. das Nervenmarck, welches die Höhle des Canals ausfüllet, nebst denen zartesten Gefäsgen, worin 4. die Lebensgeister, 5. andre und gröbere Feuchtigkeiten. Ich mus hierbei, um einem Wortstreite zu begegnen, anmerken, daß der dickste Nerve unsers Köpers diesen Namen verliere, und von seinem Orte, das Kückenmank genennt werde.«127 Der Nervensaft ernährt schließlich den Muskel128. Die beiden Nervenfunktionen, die motorische und die sensorische, basieren auf zweierlei Arten »zitternder Bewegungen«: (a) einer oszillierenden Bewegung der Nervenhäute und (b) der Attraktion umlaufender Lebensgeister129.
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Ebd, S. 155. Ebd., S. 167f. Ebd., S. 127f. Ebd. Ebd., S. 129. Ebd., S. 143,150.
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Unzers neurophysiologische Begründung des vitalistischen Empfindungsbegriffs
Interessant ist der anatomisch-physiologisch begründete, Säfte- und FaserLehre vereinende Synkretismus Unzers, den man besonders gut an seiner AdernAuffassung ablesen kann. »Die Structur derer Adern ist dergestalt [eingerichtet], daß die innerste, nervigte Haut, von einer andern, musculösen, diese von einer fachrigen, und diese endlich wiederum mehrentheils von einer nervigten umgeben wird«130. — Unzer hält demnach die Adern aufgrund der ihnen einverleibten Nerven für irritabel und sensibel, eine in jener Zeit unter Medizinern weit verbreitete Ansicht. Expnssis verbis sucht Un2er Anschluß an die Krügersche Physiologie, auf die er auch in diesem Zusammenhang verweist. Prinzipiell bindet er, hier noch ganz in Krügerschen Bahnen fortschreitend, das tierische Leben an die Seele, indem er zum einen den prinzipiellen Unterschied zwischen Gehirn und Nerv ignoriert, zum anderen, hier nun an Meier anknüpfend, eine stete »harmonische» Verbindung von Körper und Seele postuliert131 — etwas, von dem er später ebenfalls radikal abrücken wird. Daß hier, wo ein nervöser Vitalismus quasi schon mit Händen zu greifen ist, der letzte konsequente Schritt hin zum nichtanimistischen Vitalismus von ihm noch nicht gegangen wird, ist wohl seinem >Liebäugeln< mit der Leibniz'schen Theorie von der prästabilierten Harmonie geschuldet. Das Metaphysische verstellt hier sozusagen noch die Einsicht ins Physische. Es ist aber wiederum auch zu sehen, was für Unzer ausschlaggebend ist, sich vom Animismus Stahlscher Prägung als auch vom Mechanismus, wie er in Halle von Friedrich Hoffmann (1666-1742) vertreten wurde, abzugrenzen. Der erste verkennt die Natur des Tierischen, wenn er die Seele als alleinige bewegende Kraft des Körpers auffaßt. Er huldige damit zwar einer vitalistischen Organismusvorstellung, sei aber ein »Organiste in böser Bedeutung«132. Der Mechanist wiederum irre, wenn er den Mechanismus allein das Tierische zu konstituieren für hinreichend halte. — Mit diesen Ansichten verfugt Unzer bereits über alle Voraussetzungen für einen konsequenten nichtanimistischen dynamischen Vitalismus: er anerkennt den Eigenwert des Lebendigen und weist diesem Phänomen ein bestimmtes Strukturelement zu, und er weiß um die Unvergleichlichkeit mechanischer und tierischer Bewegungen. Woran es ihm aber noch gebricht, ist die Annahme einer ausschließlich dem Nerv einwohnenden Kraft wie der Lebenskraft etwa oder der Nervenkraft.
Ebd., S. 127. Ebd., S. 168. 132 Ebd., S. 161. Man nannte die Stahlianer auch »Organisten«, weil sie den Körper ledigjich für ein >Organon< (griech. όργανον - Werkzeug) ansahen (vgl. auch Ε. Λ. Nicolai, Die Verbindung der Musik mit der Art^ruygelahrtheit (1745), Vorrede, [unpag.] S. 6). Auch Descartes verwendete die Instrumentenmetapher, allerdings in gegensätzlicher Interpretation: bei ihm ist das Gehirn als die für die Verteilung des zentrifugal-motorisch wirkenden Spiritus verantwortliche Maschine gleichsam die Orgel, auf der die äußeren Objekte wie die »Finger des Organisten« spielen (Descartes, Über den Menschen (1632), S. 96). Noch in der zweiten Hälfte des 18. Jh. wird Johann Nikolaus Tetens (17361807) an dieses Bild anknüpfen (Tetens, Phibsophische Versuche über die menschliche Natur und ihn Entwicktlung 2 (1777), S. 159f.). Zum Verhältnis Unzers zum Stahlianismus vgj. den Anhang. 130 131
Die Philosophisch* Betrachtung its menschlichen Körpers überhaupt (1750)
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Als »philosophischer Arzt< vereint Unzer in seiner Philosophischen Betrachtung zwei unterschiedliche Wissenschaftsstränge, den philosophischen und den medizinischen: seinen Ausgang nimmt Unzer dabei von der Krügerschen Physik und eint sie mit der Leibniz'schen Lehre von der prästabilierten Harmonie im Gewände der Meierschen Metaphysik. Später wird er ebenso verfahren, nur stützt er sich dann auf Haller und Baumgarten, wovon aber erst weiter unten zu berichten sein wird. Der methodische Vortrag der allgemeinen Physiologie133 und damit auch der Aufbau der Philosophischen Betrachtung setzt mit der Analyse des menschlichen Körpers in allen seinen Einzelheiten ein und baut aus den analytisch begriffenen Elementen schließlich den Körper wieder auf, um in der letzten großen Synthese den Menschen als Einheit, als »ganzen Menschen«134, erneut aufleben zu lassen, nun aber hinsichtlich Aufbau und Funkdonsweise als in Gänze Verstandenen. Unzers Herleitung ist überwiegend diskursiv, vor allem in den philosophischen Grundlegungen. In den eher medizinischen Parden bringt er hauptsächlich funktional-kausale Analysen in Anschlag. In der von Unzer im Jahre 1753 Friedrich Börner (1723-1761) zugesandten, hier bereits mehrfach zitierten autobiographischen Skizze betont der Verfasser, als er auf die Philosophische Betrachtung (1750) zu sprechen kommt, u. a. auch die Ausweitung des Krügerschen Empfindungsgesetzes auf »alle übrigen Facultäten der Seele«135. Damit ist zugleich eine Reformulierung des Gesetzes verbunden, denn im Gegensatz zu seinen früheren Schriften folgt Unzer in der Philosophischen Betrachtung stärker seinem philosophischen Lehrer Georg Friedrich Meier und dessen Adaption der Leibniz'schen Lehre von der prästabilierten Harmonie. Sicher muß Unzers Hinwendung zum philosophischen Harmonismus aber auch im Rahmen des vollen Sieges des Wolffianismus zu jener Zeit gesehen werden. Mit dem metaphysischen Postulat der prästabilierten Harmonie hatte sich das psychophysische Commemum-Ptoblem eigentlich erübrigt. Um so bemerkenswerter ist Unzers Festhalten am Krügerschen Gesetz. Der Grund dafür ist in dessen fortgesetzten Bestreben zu sehen, die allgemeine mit der besonderen Physiologie, die Metaphysik mit der Physik zu verknüpfen. Er stützt sich in der Behandlung des Commercium-Ptohiems auf beide, Meier und Krüger, verfährt also synkretistísch. Die aus dem Leibniz'schen monistischen Argumentationszusammenhang stammende Theorie von der prästabilierten Harmonie wird der dem Dualismus verpflichteten physikalischen Denkweise förmlich übergestülpt. Und so kann es
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Unzer, Philosophische Betrachtung (1750), S. 38: »Weil ich in gegenwärtiger Schrift die Nebenabsicht habe, auch die Lehrart in der Arzneiwissenschaft, so viel an mir ist, genauer einzurichten ...«. Ebd., S. 12. Will man einen »algemeinen und deutlichen Begrif von der besondern Natur unsers Körpers im gesunden Zustande erhalten, so müssen [...] alle seine besondern Naturen erst stückweise, und hernach zusammengenommen in seiner ganzen Natur« betrachtet werden (ebd., S. 106f.). »Wenn man von einer Sache einen deutlichen Begrif haben wil, so ist es nicht genug, über alle Theile derselben zu reflectiren, sondern man mus sie auch, nach geschehener Reflexion wieder im Ganzen betrachten« (ebd., S. 201 f.). Vgl. auch ebd., S. 26. Unzer, in: Nachrichten von den vornehmsten Lebensumständen (1753), S. 228.
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Unzers neuiophysiologische Begründung des vitalistischen Empfindungsbegriffs
dann auch nicht wundernehmen, daß Unzer einerseits an der empirisch belegten Tatsache eines Zusammenhanges bestimmter psychophysischer Phänomene festhält, die ihren nomologischen Ausdruck in dem Krügerschen Gesetz gefunden haben, andererseits aber durch den metaphysisch postulierten Allzusammenhang in Form einer prästabilierten Harmonie nunmehr gezwungen ist, jedwedem seelischen Vorgang einen körperlichen harmonisch korrespondieren zu lassen. Die reformulierte Version des Krügerschen Gesetzes liest sich nunmehr so: »Jede kleinste Empfindung erfordert eine harmonische Bewegung, und also sind die körperlichen Empfindungen allemal desto grösser, ie grösser die Empfindungen in der Sele sind, d. i. auf jede Empfindung in der Sele, erfolgt eine Empfindung im Körper, die ihr proportional ist.«136 — Das Interessante hieran ist, daß Unzer das Krügersche Gesetz damit quasi beseitigt. Statt einer (psychischen) Empfindung, die Ergebnis einer psychophysiologischen Wechselwirkung ist, kennt Unzer nunmehr zwei Empfindungen, eine körperliche und eine seelische. Mit der metaphysischen Reformulierung des ehemals psychophysischen Gesetzes hebt sich sein Erklärungs- und Beschreibungswert für den Naturwissenschaftler gleichsam in Wohlgefallen auf. Mit dem ursprünglichen Krügerschen Gesetz hat dessen parallelistische Interpretation à la Leibniz, sooft sich Unzer auch darauf beruft, nichts mehr zu tun. Er gibt die physische Kausalität preis, indem er sie durch die metaphysische Harmonie ersetzt, im Festhalten am Dualismus die »hinreichenden Gründe« verdoppelt137 und lediglich die Proportionalität beibehält. Das entscheidende und psychophysiologisch Wertvolle hat er damit fallengelassen. — Sicher, für den Kliniker selbst hat sich damit nicht viel geändert; dem Theoretiker bringt das aber die Einbuße eines großen Teils seines Erklärungspotentials ein. Die Physiologie wird, wie schon im Stahlianismus, metaphysisch überformt. Der Leibniz'sche Gedanke von der prästabilierten Harmonie, dem hier, wie bereits gesagt, kein von der Monadologie unterlegter Monismus eignet, sondern ein Dualismus von Körper und Seele, bringt neben den vielen Nachteilen allerdings auch einen Vorteil mit sich, von dem schwer zu sagen ist, ob er von Unzer intendiert war: mit Hilfe des Harmonie-Gedankens kann er eine Art physischen Vitalismus postulieren, ohne zunächst einmal auf das Seelische Rücksicht nehmen zu müssen. Das Lebens-Prinzip im Menschen ist unlösbar mit der »tietischen« Maschine, dem »tierischen« Körper verbunden. Das tierische Leben ist zwar als ein dem Körper Einwohnendes an die Gemeinschaft mit der bewegenden und belebenden, erhaltenden und regierenden Seele und ihren harmonischen Bewegungen »gebunden«138 (insofern bleibt er Psychovitalist), es »gründet« aber nicht mehr im Seelischen139, wie es auch nicht mehr im bloß Mechanischen ruht. Unzers vehementes Festhalten an der herausragenden Bedeutung des Nervösen eröffnet zumindest die Möglichkeit eines dynamischen Vitalismus in Form des Nervosismus.
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Unzer, Philosophische Betrachtung (1750), S. 175f. Ebd., S. 200. Ebd., S. 214. Ebd., S. 161.
Exkurs: Hallers Initabilitäts- und Sensibilitätslehre
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Und in der Tat wird sich die solidartheoretische Nerventheorie als vorwärtstreibende Grundidee erweisen und im Verein mit den tragenden Gedanken der beiden Göttinger Vorträge Hallers aus dem Jahre 1752 schließlich in die Konzeption der Ersten Gründe einer Physiologe (1771) einmünden. Da sich die Darstellung bislang vorwiegend der Genese der solidartheoretischen Nerventheorie widmete, wird es nun im folgenden vor allem darum gehen, den durch die jüngsten naturwissenschaftlichen Entdeckungen Hallers neu abgezirkelten interpretatorischen Rahmen auszumessen, innerhalb dessen die Zeitgenossen die Lebenserscheinungen einzuordnen hatten. Auch Unzer sah sich genötigt, seine Nerventheorie dem modernen naturwissenschaftlichen Kenntnisstand anzupassen. Eine zeidang vermochte er es, sie in den Hallerschen Interpretationshorizont einzubetten; schon kurze Zeit später aber widerstand sie diesem, bis ihr dieser schließlich zu eng wurde, ja den neu gesteckten Rahmen zu guter Letzt sprengte.
6. Exkurs: Hallers Irritabilitäts- und Sensibilitätslehre Unzer stand gedanklich kurz vor der Formulierung einer neurophysiologischen vitalistischen Konzeption. Der Grund, warum er zunächst dennoch an der psychovitalistischen Auffassung festhielt, ist dem Umstand geschuldet, daß er dem Nerv kein dynamisches Zentrum wie eine Lebens- oder Nervenkraft zuordnete. Der Hiatus zwischen Mechanismus und Animismus, dem seine Aufmerksamkeit von Beginn seiner akademischen Laufbahn an gegolten hatte, blieb für ihn weiterhin unüberbrückbar. Der Anschluß an Leibniz'sche Philosopheme hat ihm den Blick momentan mehr verstellt, als daß er ihn einer Lösung näher gebracht hätte. Hatte das Krügersche Gesetz in seiner ursprünglichen Fassung seine Aufmerksamkeit direkt auf körperliche Strukturen als Voraussetzung des Empfindungsgeschehens gelenkt, so war es jetzt, in der Leibniz'schen parallelistischen Lesart, seiner heuristischen Kraft förmlich beraubt worden. Dem innerlich paralysierten Denken konnte nur durch einen äußeren Anstoß neuer Auftrieb gegeben werden. Dieser äußere, das Unzersche Denken dynamisierende Impuls kam von Haller und seinen epochemachenden Vorträgen über die empfindlichen und reizbaren Teile des Körpers.140 Bislang ist es noch keinem gelungen, auch nur eine einzige, ausschließlich dem Organischen zukommende Eigenschaft experimentell zu erweisen. Ebensowenig hat jemand bisher wahrhaft Einsicht in die Lebensvorgänge erlangt.141 Das ändert sich erst mit den beiden Hallerschen Vorträgen vom 22. April und 6. Mai 1752, die im folgenden Jahr in den Abhandlungen der Göttingischen Gesellschaft der Wissen-
Albrecht von Haller, Von den empfindlichen und nimbaren Teilen des menschlichen Kerpen, hg. und eingeleitet Karl Sudhoff, Leipzig: Johann Ambrosius Barth 1922. Der von Sudhoff herausgegebene Text folgt der Ausgabe Sammlung kleiner Hallerischer Schriften (Bern 1772) und verzichtet bedauerlicherweise auf die Fußnoten des Originals. 14 ' Ebd., Einleitung (1922), S. 3. 140
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Unzers neurophysiologische Begründung des vitalistischen Empfindungsbegriffs
schaftenH1 einem breiten Fachpublikum bekannt gemacht werden. Mit ihnen wird Haller zum Begründer des vitalistischen Paradigmas, wenngleich er selbst konsequenter Mechanist bleibt143. Mit dem neuen Verständnis der Lebensvorgänge verändert sich schlagartig die medizinische Wissenschaftslandschaft: der seither herrschende Iatromechanismus wurde fur etwa einhundert Jahre vom Vitalismus abgelöst. Die vitalistische Wende ist eng mit der Assimilation des naturphilosophischen Wissenschaftskonzeptes Newtons in der Medizin verknüpft. Der Iatromechanismus, bereichert um die Newtonsche Physik, drängt förmlich, wie man das bereits bei Krüger spüren konnte, von innen heraus zum Vitalismus. Eine der grundlegendsten Fragen wirft das Problem der Selbstbewegung auf. Bis zu Hallers Vorträgen bleibt die Frage ungelöst, was das Herz als Motor des menschlichen Lebens überhaupt bewegt. Die Lösung erbringt nun der experimentelle Aufweis der an eine bestimmte Körperstruktur gebundenen Irritabilität. Im Mittelpunkt des ersten Hallerschen Vortrage steht die Frage, welche Körperteile sensibel sind, im zweiten geht es um die irritablen Körperteile. Hallers vivisektorische und damit anticartesische Methodik, die ihn schließlich auch zum Begründer der modernen Experimentalphysiologie werden läßt, und seine Unvoreingenommenheit gegenüber mechanistischen und animistischen Vorbehalten, ermöglichen ihm den experimentellen Nachweis, daß gewisse funktionelle Organleistungen, die Irritabilität und die Sensibilität, an bestimmte somatische Strukturen, die Muskel- und die Nervenfaser, gebunden sind. Gezielt hebt er sich damit von der bisherigen Erklärungsmethodik ab, die organischen Phänomenen wie dem der Empfindung etwa mit Analogieschlüssen beizukommen suchte. Zu solchen Erklärungen zählt ζ. B. die Krügersche Instrumenten-Analogie. Hallers Wirksamkeit ist es ebenfalls zu danken, daß das Tierexperiment eine exponierte Stellung in den biologischen Wissenschaften erringen konnte. Mit seiner Unterscheidung irritabler und sensibler Körperteile hat man zugleich ein Kriterium an die Hand bekommen, wodurch die sog. »Lebenswerkzeuge«, d. h. die tierisches Leben verbürgenden irritablen Organe von den übrigen unterschieden werden können144. Haller definiert die Phänomene Irritabilität und Sensibilität im ersten der beiden Vorträge folgendermaßen: »Denjenigen Theil des menschlichen Körpers, welcher durch ein Berühren von außen kürzer wird, nenne ich reizbar [...]. Empfindlich nenne ich einen solchen Theil des Körpers, dessen Berührung sich die Seele vorstellet; und bey Thieren, von deren Seele wir nicht so viel erkennen können, nenne ich diejenigen Theile empfindlich, bey welchen, wenn sie gereizet
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Albertus de Haller, De partibus corporis bumani sensiUbus et mitabiäbus, in: Commentarti Societatis Rtgiae Scientìarum Gottingensis Tomes Π ad Annum MDCCLIJ, Göttingen: Vandenhoeck 1753, S. 114-158 (dt.: Albrecht von Haller, von den empfindlicheη und nimbaren Tbeilen des menschlichen Kerpen, den 22 April 1752 in der Kön. Ges. derW. Göttmgen vorgelesen. Aus dem II Bande der Comm. Soc. Sc. Gotting., in: Hamburgisches Magazin 13(1754),3, S. 227-259 und 13(1754),4, S. 402-441). Toellner (1977), S. 61. Haller, Von den empfindlichen und reizbaren Theiitn des menschlichen Körper (1754), S. 430.
Exkurs: Hallers Irritabilitäts- und Sensibilitätslehre
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werden, ein Thier offenbare Zeichen eines Schmerzes oder einer Beschwerlichkeit zu erkennen giebt.«145 Umgekehrt gelte dann auch, daß all die Körperpartien unempfindlich sind, die »kein Zeichen eines Schmerzes, kein krampfichtes Zukken, keine Veränderung in der Lage des ganzen Körpers« zeigen146. — An der Hallerschen Formulierung fallt zunächst die unterschiedslose Behandlung körperlicher und seelischer Indikatoren für die Sensibilität auf. Das ist dem Umstand geschuldet, daß er schon von vornherein, per definitionem, die Empfindung an das Seelische gekoppelt hat. Es finden sich in der Abhandlung allerdings auch gegenteilige Formulierungen, wonach die Empfindung im Nerven stattfinde, also rein nervös bestimmt ist, und erst danach, als bereits >fertige< Empfindung mittels Nervenleitung in die Seele gelange.147 Etwas später heißt es, wiederum ganz im Sinne eines animistischen Empfindungsbegriffes, »das Thier empfinde, wenn sich die Seele einen äußerlichen Eindruck vorstellet«.148 Der Hallerschen Intention folgend läßt sich die »Sensibilität« zutreffender mit »Empfindbarkeit« wiedergeben, da es sich dabei um das Vermögen handelt, einen Reiz empfindbar werden zu lassen.149 Diese Unentschiedenheit zwischen nervösem und animistischem Empfindungsbegriff durchwaltet beide Vorträge und läßt eine definitive Fesdegung der Hallerschen Position auf dieser Grundlage kaum zu. Daß Äußerungen des Schmerzes, Klagegeheul und Abwehrbewegung keine sicheren Indikatoren der Sensibilität sind, haben schon Zeitgenossen herausgestellt.150 Auch bezweifelte man, mit der Schmerzempfindlichkeit bereits das ganze Feld der Empfindlichkeit ausgelotet zu haben; sollte man nicht vielmehr auch, so einige kritische Stimmen, die Berührungsempfindlichkeit mit hinzurechnen?151 Alle Empfindungen im menschlichen Körper, konstatiert Haller, rühren von den empfindlichen (Nerven-)Fasern her152, die »gleichsam die Bedienten der Seele« sind153. Besonders einläßlich wird die vielumstrittene Frage behandelt, ob die Sehnen und Bänder aus empfindlichen Fasern bestehen und daher sensibel sind. Dahinter steht unter anderem auch die Frage nach der Legitimität eines solidar begründeten Empfindungsgeschehens. Haller meint, beide, Bänder als
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Ebd., S. 230f. Ebd, S. 231. Ebd., S. 402: »so ist der Nerve, von welchem alle Empfindung zur Seele gebracht wird«. Ebd., S. 407; vgl. S. 433f.: »Eine Empfindung aber, welche nicht empfunden wird, eine Wirkung des Willens, welche ohne Bewußtseyn geschieht, und durch keine gegenseitige Macht des Willens unterbrochen werden kann, und dergleichen den Begriffen so widersprechende Ding« nehmen nun gleichwohl die Gegner an« (S. 433f.). Toellner (1967), S. 132. Zu ihnen gehören Ignaz Radniczky (?-?), Robert Whytt (1714-1766) und der spätere Leipziger Prof. für Anatomie und Chirurgie Karl Christian Krause (1716-1793). So fragt beispielsweise der Bologneser Thommaso Laghi (1709/1711-1764). - Auch der Leipziger Professor der Physiologie Ernst Platner entgegnet Haller, daß der Schmerz nicht der einzig mögliche Ausdruck einer Empfindlichkeit bzw. einer Seelenwirkung ist (Platner, Neue Anthropologie (1790), S. 93 § 260). Haller, Von den empfindlichen und nimban» TbeiUft des menschlichen Körpers (1754), S. 238. Ebd., S. 441.
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auch Sehnen, sind vollkommen unempfindlich und dürften nicht 2usammen mit den Nerven als empfindliche Teile angesehen werden.154 Der Grund, warum das häufig geschehen sei, liege in einer etymologisch bedingten Zweideutigkeit: die Ärzte bezeichneten von Alters her als νεϋρον den Nerven, zugleich aber auch die Sehne (τένων) und das Band (σύνδεσμος) 155 . Daraus resultierte schließlich die unzulässige funktionelle Gleichbehandlung. Inzwischen habe man zwar die morphologischen Unterschiede längst eingesehen, sie aber nicht auf das Funktionelle ausgedehnt, so Haller. Neben den Sehnen und Bändern hielt man auch die Hirnhaut für einen empfindlichen Körperteil. Insbesondere die Stahlianer als erbitterte Gegner der Lebensgeister-Theorie sahen die Hirnhaut (Dura matei) als sensible Körperpartie an und vertraten die Saiten-Theorie der Nerven. »Nach den Ärzten aus der stahlianischen Schule, und anderer, vornehmlich dem GohP6, denen die Lebensgeister verhaßt sind, soll sie [die Dura matei\ die Natur der Nerven so weit besitzen, daß die Hirnhäute selbst das Werkzeug der Empfindung wären, und wenn sie von den Gegenständen erschüttert würden, wie die Saiten zitterten. Diese Theorie bin ich auf mancherley Weise durchgegangen, und habe sie widerleget; und ich sehe, daß meine Beweise nicht nur dem gelehrten Hrn. Malcolm F lemming1 gefallen haben, sondern auch, daß die neuesten Vertheidiger der Meynung sind, daß die Seele den Körper regiere, die verfloßenen Geister wieder annehmen: worinnen ein neulicher Schriftsteller von der andern Secte, Robert Wbytt, selbst be[i]stimmt.«158 Haller widerlegt mit einer Vielzahl empirischer Befunde die Ansicht, wonach die Hirnund Nervenhäute für das Vermögen zu empfinden, verantwortlich zeichneten. Damit hat sich die Krügersche Saiten-Theorie überlebt. Stattdessen, so Haller, habe die Empfindung ihren Sitz im Nervenmark.159 Trotzdem geben einige seiner
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Unzer ist noch 1750 ebenfalls der Meinung gewesen, Spannadern bzw. Sehnen seien empfindlich (vgl. Unzer, Philosophische Betrachtung (1750), S. 129), eine Ansicht, die auch in dem von Frisch in seinem Wörterbuch angegebenen lateinischen Pendant nenms tractarius (Frisch, Teutsch-Lateinisches Wörter-Buch 2 (1741), S. 292) dokumentiert ist. Noch 1780 umschreibt Adelung die Bedeutung von »Spannader« mit »Nähme der Sehnen oder Nerven des menschlichen und thierischen Körpers« (Adelung, Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches 4 (1780), Sp. 539). Haller, Von den empfindlichen und reizbaren Tbeikn des menschlichen Körpers (1754), S. 239. Der Berliner Johann Daniel Göhl (1675-1731) war Schüler Stahls und einer der eifrigsten Verfechter des Animismus. Haller hat wohl Göhls postum veröffentlichte Aufrichtige Gedancken Uber den Von Vorurtheilen Krancken Verstand, Besonders in der Délicat«« Materie Von den SPIRITIBVS ANIMALIBVS,· Oder so genannten Nerven-Geistem. Zum Druck befördert Durch D. J O H . JVNCKERN (Halle: Verlag des Waysenhauses 1733) im Blick. Malcolm Flemyng, The nature of nervousfluid,or animal spirits, demonstrated with an introductory preface, London: Millar 1751. Haller, Von den empfindlichen und reizbaren Theikn des menschlichen Körpers (1754), S. 251f. »Endlich so muß wohl der Sitz der schärfsten Empfindung in dem Nerven, als der Quelle aller Empfindlichkeit seyn« (ebd., S. 258). »Der Nerve empfindet also allein, und bey dem Nerven weder das harte, noch das weiche Häutchen; sondern einzig und allein die markichte Substanz, welche aus dem Gehirne kömmt, und von dem weichen Hirnhäutchen umkleidet wird« (ebd., S. 259; vgl. auch S. 252).
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Äußerungen über die Natur der Nerven hinsichtlich ihrer Wirkungsweise Anlaß zu Mißverständnissen. So beispielsweise, wenn er schreibt, er habe gefunden, »daß das Reizen seine Wirkung besser thut, wenn der Nerve gespannt, als wenn er schlaff ist«160, und damit den Vertretern der Saiten-Theorie entgegenzukommen scheint. Wiederum das genaue Gegenteil davon kann man in dem die Abhandlung schließenden historischen Überblick zur Entwicklung der Irritabilitätslehre lesen, wo es heißt: »die stahlische Secte hätte viel von ihrem Tone geschwatzet [und] allezeit von der Anatomie nicht viel gehalten.«161 Als Haller seine Ansicht von der Unempfindlichkeit der Sehne bekannt macht, ist er sich der Tragweite der Behauptung bewußt, schreibt er doch damit gegen ein überaus altes Dogma an. Hippokrates und Galen, sein Lehrer Boerhaave und auch die gesamte Chirurgie seiner Zeit gehen von der Empfindlichkeit der Sehnen aus. Die Behauptung der Unempfindlichkeit der Sehnen fuhrt dann auch u. a. zu einem die gesamte Ärzteschaft bewegenden Streit zwischen dem bedeutenden Wiener Kliniker Anton de Haen und Albrecht von Haller, der später durch die Vermittlung eines Freundes beider, nämlich Charles Bonnet (1720-1793), schließlich friedlich beigelegt werden kann.162 Hallers mit vielerlei Mängeln behaftete Sensibilitätsauffassung leitet sich von der anatomischen Unkenntnis bestimmter Organinnervationen her. Er hat nicht erkannt, daß die Sehne, die Dura mater u. a. innerviert und deshalb keinesfalls völlig unempfindlich sind.163 Der zweite Vortrag, gehalten am 6. Mai 1752, dient dem Nachweis, »daß die Reizbarkeit nicht, wie man insgemein glaubet, von den Nerven entspringe; sondern aus der Structur des reizbaren Theils selbst folge«164. Die Nerven selbst sind weder irritabel noch wohnt ihnen die Irritabilität ein. Er, schreibt Haller, habe während seiner Versuchsreihen »niemals die geringste Spur einer Bewegung in dem Nerven« entdecken können165. Den Nerven werde also »wider alle Erfahrung eine oscellirende Kraft zugeschrieben«166. Damit korrigiert Haller aufs Neue eine sehr weit verbreitete und tief verwurzelte Ansicht, denn bislang schrieb man dem Nerv sowohl eine sensorische als auch eine motorische Funktion zu. Erst Haller
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Ebd., S. 406. Ebd., S. 437. Haller erwog in der Ρταφήο zum achten Band seiner Elementa physiologiae corporis humant pi778) die Möglichkeit, ob vielleicht die Uneinigkeit nicht daher rühre, daß vielleicht doch einige Nerven in den Sehnen innerviert sind oder auf den Gelenkkapseln und Sehnen hinlaufen und sie auf diese Art quasi bekleiden. In dem Falle könnte man den Sehnen aber allenfalls ein stumpfes Gefühl zusprechen. — Mit diesem Zugeständnis konnte de Haen dann vollauf zufrieden sein. Zum Verlauf und Gehalt des Streits vgl. Lesky (1959). Es sollte dabei gerechterweise die historisch relativierende Tatsache nicht übersehen werden, daß z. B. die Achillessehnen-Innervation beim Menschen erst 1927 durch J. J. Tschurajew endgültig aufgeklärt werden konnte. Haller, Von den empfindlichen und mearen Theilen des menschlichen Köpers (1754), S. 402. Ebd., S. 403. Ebd., S. 404.
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trennt die Irritabilität streng von der Sensibilität. Die Reizbarkeit ist nunmehr eine vom Willen und der Seele unabhängige Kraft157, die auch der Nerven nicht bedarf, mit einer Einschränkung: Die pure Irritabilität hat einen weit geringeren Betrag, als wenn die Muskelfaser von einem Nerv gereizt bzw. »erweckt« wird168, denn der Nerv vermag die Muskelkräfte nicht bloß zu »erwecken«, sondern auch zu »vermehren«.169 Der Nerv ist damit nicht mehr nur etwas Passives wie in der Saiten-Theorie und der Lebensgeister-Röhren-Theorie. — Über das Verhältnis von Muskelkraft und Nerveneinfluß wurde im Anschluß an Hallers Vorträge noch viel gestritten. Erst Anfang des 19. Jh. einigte man sich dahingehend, in den Nerven die Bedingung der Muskelreizbarkeit zu sehen, ohne damit sagen zu wollen, daß gänzlich alle Reizungen der Nerven auf die Muskeln wirken. Die Irritabilität darf nach Haller nicht mit der Elastizität vermengt werden. Elastisch sind auch ausgetrocknete Fasern, die nicht mehr irritabel sind. Auch sind doch gewöhnlich die harten Körper elastisch, wohingegen die reizbaren die allerweichesten sind170. Die Muskelfaser besteht aus Leim (Gluten) und »erdichten Grundtheilen«171. Der Leim besitzt im Gegensatz zu den trockenen Erdelementen »eine Neigung, sich zu verkürzen«, woraus mit Wahrscheinlichkeit geschlossen werden kann, daß in ihm die Irritabilität ihren Sitz hat172. Sie ist ein physikalisch verursachtes Phänomen, ähnlich der Newtonschen Attraktion, und nur eine Eigenschaft tierischer, niemals aber pflanzlicher Fasern173, über dessen physikalische Ursache sich ebensowenig wie von der Attraktion etwas sagen läßt: man muß sich damit begnügen zu sagen, daß sie »in dem innern Baue verborgen« liegt174. Die >Sensibilität< ist im Gegensatz zur >Irritabilität< fur Haller kein eigenständiges körperliches Vermögen und insofern kein seelenunabhängiges Geschehen. — Überhaupt wird von dem Mechanisten Haller die >Sensibilität< recht stiefmütterlich behandelt. Im Mittelpunkt der beiden Vorträge steht genaugenommen nur die >IrritabilitätSensibilität< wird lediglich insoweit in die Untersuchung eingebunden, als sie für die Abgrenzung zur >Irritabilität< vonnöten ist.175 Für Haller ist die Irritabilität die einzige seelenunabhängige Kraft des Körpers. Das Leben eines Körpers beruht einzig und allein auf der Muskelfaser, und zwar vor allem auf den Fasern des Herzmuskels: solange sich der Herzmuskel zusammenzieht, solange gibt es im Tierischen Leben. Eine nervöse Steuerung des Herzmus-
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Ebd., S. 409. Ebd., S. 409f. Vgl. ebd., S. 437. Ebd., S. 430f. Ebd., S. 431. Ebd. Ebd, S. 438. Ebd., S. 434. Lesky spricht in dieser Beziehung wohl ganz zutreffend von Hallm Insennbilitätslthrt (Lesky (1959), S. 38).
Exkurs: Halléis Initabilitäts- und Sensibilitätslehre
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kels schließt et allerdings aus. Den entscheidenden Schritt zum Vitalismus macht Hallet zu guter Letzt also nicht: Irritabilität und Sensibilität sind zwar vires vivae (bzw. vitaè), Kräfte des Lebens, aber keine vires vitales, keine Lebenskräfte. Sie bleiben an Körperliches, obgleich auch an Organisches, gebundene Kräfte und können nicht den planenden oder steuernden seelischen Kräften gleichgesetzt werden. Eine solche Intentionalität ist ihnen nicht eigentümlich176. Die Irritabilität nennt er zuweilen eine vis propria, vis insita bzw. innata, nie aber vis mortua (wie die Kräfte der allgemeinen Mechanik genannt werden) oder vis Vitalis (wie die Kräfte des Vitalismus). Sie ist etwas Dazwischenliegendes. Hallers Physiologie verbleibt damit im Mechanismus, wiewohl er neben die allgemeine Mechanik des Unbelebten eine besondere, die tierische Mechanik, stellt. Die Hallersche tierische Mechanik ist aber letztlich dennoch nur wieder eine >MechanikVitalität< (im Gegensatz zu Unzer, der eben vom >TierischenSensibiütät< kann zweierlei bedeuten: einmal das Vermögen »bewußten Empfindens«, die »Empfindbarkeit«, die als seelisches Erleben nicht ohne die Mitwirkung des Gehirns denkbar ist; andererseits aber auch ein unbewußtes Empfinden, da jeder reizbare Nerv über das Vermögen der Sensibilität verfügt und insofern keinesfalls an das Seelische gebunden ist. Beides aber, psychisches Erleben und physiologische Erregbarkeit, wird von Haller nicht streng voneinander geschieden, sondern gleichermaßen mit >Empfindung< (>SensibilitätIrritabilitätsIrritabilitätReizbarkeitReizempfindlichkeit< zukomme oder nur seinem Nerven. Die strikte Trennung von >Irritabiütät< und >Sensibilität< als unterschiedlichen lebendigen Strukturen zugehörenden Vermögen läßt sich nur dann aufrechterhalten, wenn unter >Kontraktilität< eben nicht >Reizbarkeit< und Reizempfindlichkeit zugleich verstanden wird. Nach den Hallerschen Untersuchungen macht sich unter den Medizinern und Philosophen das Bestreben geltend, möglichst viele Grundkräfte des Lebendigen namhaft zu machen. So bringt z. B. Friedrich Casimir Medicus (1736-1808) als
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Vgl. Toellner (1977), S. 69.
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Unzers neurophysiologische Begründung des vitalistischen Empfindungsbegriffs
erster im Jahre 1774 den Begriff >Lebenskraft< in seiner vitalistischen Bedeutung auf.177 Sie und die >Nervenkraft< werden häufig mit Newtons physikalischer Anziehungskraft (vis attrattivi) in Verbindung gebracht, von deren Wesen man nichts weiß und von der man nur die Wirkungen beobachten könne.178 Der Edinburgher Kliniker William Cullen (1710-1790) schließlich verallgemeinerte und verabsolutierte die Hallersche >Sensibilität< zu einer >Nervenkraft< (vis nervosa), die dem Nervensystem zukomme. Mit ihr wird das Nervensystem zum Sitz aller wichtigen Lebensphänomene und zum Schauplatz der (vitalistischen, nicht mehr mechanischen) lebendigen KräfteIrritabilität< abgrenzen kann. Der Nerv besitzt dann eine eigene Reizbarkeit, die, so wenig sie mit der Hallerschen Irritabilität übereinkommt, ebensowenig mit der Hallerschen >Sensibilität< identisch ist. Die Nervenerregbarkeit, er wird sie >Nervenkraft< nennen, ohne die Cullensche damit zu meinen, ist eine Art unbewußter Sensibilität und bezeichnet das Vermögen eines Nervs, unbewußt, ohne seelischen Rekurs, auf Reize zu reagieren. Neben der Frage nach der Natur des neurophysiologischen Geschehens und seiner adäquaten begrifflichen Fixierung bleibt auch die anatomisch-morphologi-
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Medicus, Von der Lebenskraft (1774). - Haller verwahrte sich vor allem deshalb gegen den Begriff »Lebenskraft«, da er etwas suggeriert, das experimentellen Befunden klar widerspricht, nämlich daß die Reizbarkeit auch nach dem Tode noch fortdauert, weswegen der vom Cambridger Francis Glisson (1597-1677) geprägte Begriff robur vitalt bzw. der Medicus'sche von der »Lebenskraft« inhaltlich nicht mit dem Phänomen zur Deckung kommen. - Haller spricht bezüglich der Irritabilität daher nur von einer »angeborenem, »wesentlichen« oder »eigenen Kraft* und greift damit auf Giorgio Baglivis (1668-1707) Terminus von der vis insita zurück. Ebenso wendet er sich gegen einen, seine experimentell gesicherten Erkenntnisse verkennenden Reduktionismus, der von der notwendigen Differenzierung zwischen Irritabilität (vis contractais) und Sensibilität {vis nervosa) absieht und beides unter einen Begriff wie z. B. eben den der »Lebenskraft« subsumiert Zu den Reduktionisten gehören Georg Prochaska (1749-1820) und Medicus wie auch der Stahlianer Platner mit seinen Quaestiomsphysiotogtae ((1794), S. 104 (vgl. Berg (1942), S. 425ff.). Illustrierend sei die entsprechende berühmte Hallersche Textpassage zitiert: »ich bin überzeugt, daß die Quelle dieser beyderley Kraft [der Irritabilität und Sensibilität] in dem innersten Baue verborgen liegt, und daß sie viel zu subtil ist, als daß man sie mit Hülfe des anatomischen Messers, oder des Vergrößerungsglases, entdecken könnte. Von dem aber, was sich nicht mit dem Messer oder dem Microscop entdecken läßt, mag ich nicht viel muthmaßen, sondern mich ganz gern enthalten, dasjenige zu lehren, was ich selbst nicht weiß. Es ist eine stolze Art der Unwissenheit, andere da führen wollen, wo man selbst nichts sieht« (Haller, von den empfindlichen und nimbaren Theilen des menschlichen Körpers (1754), S. 228f.). Vgl. Feldt (1990), S. 198: Die Nervenkraft und die ihr zugrundeliegende imponderable Materie, das Nervenfluidum, stellte man sich als eine Mischung aus Galenistischem Spiritus und Newtonschem Äther vor. Sie nahm eine mittlere Stellung zwischen Geistigem und Körperlichem ein und wurde als eine den physikalischen Kräften analoge Imponderabilie des menschlichen Organismus angesehen. Zum Unterschied zwischen >galenistisch< und >galenisch< vgl. Müller (1993), S. 17.
Unzers Refoimulieruiig des Krügerschen Empfindungsgesetzes
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sehe Frage nach dem Aufbau der Nervenfasern, ob sie denn nun massive oder hohle Organe sind, nach den Hallerschen Vorträgen virulent Und erst 1777 wird es dem Italiener Feiice Fontana (1720-1805) unter Zuhilfenahme eines Mikroskops mit 700facher Vergrößerung möglich sein, den Aufbau der Nerven adäquat zu beschreiben. Die Nervenfasern, als deren Entdecker er zu gelten hat, schreibt er, sind durchsichtige, homogene und einfache Zylinder ohne Höhlung.179 Für einen Nervensaft war von nun an ebenfalls kein Platz mehr. Aus der Nervensafttheorie wird jetzt nach und nach eine Nervenkrafttheorie, bei der die solide, eindrucksfähige Faser der Reizfortpflanzung fähig ist.
7. Unzers Reformulierung des Krügerschen Empfindungsgesetzes auf der Grundlage eines neurophysiologischen Vitalismus Unzer behält seine Anfang der fünfziger Jahre formulierten Ansichten relativ unverändert bis in die zweite Hälfte der sechziger Jahre bei. Danach deutet sich ein Umschwung an, der seinen ersten signifikanten Ausdruck in einem bereits 1767 veranstalteten Vorabdruck zweier Stücke der »neuesten Ausgabe« des Arges von 1769 findet. Der Separatdruck ist Grundriß eines Lehrgebäudes von der Sinnlichkeit der thieriseben Körper. Nebst einem Vorberichte wegen der auf Subscription %u druckenden neuen Auflage der medicinischen Wochenschrift: Der Arg (1768) betitelt. Bei den beiden hier gesondert veröffentlichten Abhandlungen handelt es sich um die Stücke 101 und 102 des Arges von 1769180. In dem die beiden Stücke einleitenden Vorbericht räumt Unzer ein, sich »selbst durch den Zwang der Überzeugung von den bisherigen Meinungen losgemacht« zu haben181. Man wird, heißt es weiter, in der neuen Auflage des Arges (1769) keinen Aufsatz mehr finden, der seinen neu gewonnenen Einsichten von der »thierischen Öconomie« widerspricht. Zugleich soll das im Arg Behandelte als Aufforderung verstanden werden, sich mit der neuen Lehre von »der Sinnlichkeit der thierischen Körper« auseinander zu setzen und sich darüber zu verständigen182.
179 Vgl. dazu das ausführliche Referat im Anhang. Unzer, 101. Stück Grundriß eines Lehrgebäudes von der Sinnlichkeit thierischer Kirper [Motto: von Heller / · Im weichen Mark der garten Ltbenssehnen / Wohnt ein geheimer Rti% [Ursprung des Übels (1734) V. 169/170]] und 102. Stück: Beschkßdes vorigen [Motto: von Haller/ Ein innerlich Gefühl liegt in uns tief verborgen], in: DerAng. Eine medieimsehe Wochenschrift, von D. Johann August Unçer. Neueste von dem Verfasser verbesserte und viel vermehrte Ausgabe. Anderer Band, Hamburg, Lüneburg und Leipzig: Gotthilf Christian Berth 1769, S. 648-667 und S. 667-677. Im Unterschied zum Separatabdruck gibt es hier verschiedentlich Ergänzungen, die in erster Linie Beispielzitationen betreffen und der neuen Theorie der Sinnlichkeit argumentativ mehr Gewicht zu geben vermögen. Hinzu kommen verweisende und ergänzende Fußnoten. 181 Unzer, Grundriß eines Lehrgebäudes von der Sinnlichkeit der thierischen Korper. Nebst einem Vorberichte wegen der auf Subscription s¡u druckenden neuen Auflage der medicinischen Wochenschrift: DerAr(t, Lüneburg und Rinteln: Gotthilf Christian Berth 1768, S. IV. 182 Ebd., S. n i f . 180
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Unzers neurophysiologische Begründung des vitalistischen Empfindungsbegriffs
In der darauffolgenden Zeit geht Unzer an die Ausarbeitung des im Grundriß Skizzierten, wobei er auch Hinweise und Kritiken berücksichtigt, die in erster Linie seiner neuen und ungewöhnlichen Terminologie gelten. Den Schlußpunkt der Ausarbeitungen bilden die Ersten Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper (1771), ein über 700seitiges Werk, das von den Zeitgenossen überaus rege diskutiert wird. Die vielfach erhebliche Verständnisschwierigkeiten evozierende ungebräuchliche Terminologie wurde Unzer im Zuge der Rezeption dieses Werkes in verschiedenen Rezensionen wiederholt vorgerückt Einer Richtigstellung seiner Ansichten und einer Replik auf kritische Stimmen dienen abschließend Unzers 1773 veröffentlichte Physiologische Untersuchungen. Diesen vier Arbeiten, dem Grundriß (1768), dem Arg (1769), den Ersten Gründen einer Physiologie (1771) und den Physiologischen Untersuchungen (1773), gelten die folgenden Ausführungen. Im Mittelpunkt werden dabei die neuen Unzerschen Ansätze stehen. Denn erst, wenn diese einsichtig geworden sind, wird auch entschieden werden können, welcher Schrift konkret die Rezension gegolten hat, der Wezel neben Lockes Essay concerning human understanding (1690) sein ganzes philosophisches System zu danken hat. Der Grundriß eines Lehrgebäudes von der Sinnlichkeit der thierischen Körper (1768) setzt mit dem Hinweis auf Hallers Göttinger Vorträge aus dem Jahre 1752 ein. Ihm sei es als erstem gelungen, mittels viviseziererischer Methoden183 »eine neue Eigenschaft der thierischen Maschine, nämlich den Rei% die angebohrene lebendige Kraft der Fleischfasern kennen zu lernen«184, die nur in der »belebten thierischen Maschine« aufgewiesen werden könne. Die andere, dem Gehirn und den Nerven einwohnende tierische Eigenschaft, die »Empfindlichkeit«185, von der inzwischen
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Schuld an der bislang noch ungenügend erforschten rierischen Natur sei die lange Zeit allein praktizierte anatomische Methode, Untersuchungen nur am toten Körper vorzunehmen, die das Lebendige nie in den Gesichtskreis der Forschung kommen ließ, obwohl man schon am Leichnam hätte beobachten können, daß die »blos physischen und blos mechanischen Kräfte« nicht hinreichten, es zu charakterisieren. »Diese blos physischen und mechanischen Kräfte der Bewegung«, heißt es in der Vorrede zu den Ersten Gründen einer Physiologie, »sind es gleichwohl nicht eigentlich, welche den lebendigen thierischen Körper im natürlichen Zustande zu bewegen pflegen; sondern es wirken alsdann in ihm noch andre Kräfte in einer bestimmten Ordnung, nach ganz andern, als den uns bekannten physicalischen und mechanischen Gesetzen, und durch sie bewerkstelliget der die natürlichen Verrichtungen, wozu ihn seine Stnictur vermögend macht« (ebd., Vorrede, S. If.). Die tierische Natur sei erst in dem Augenblick in den Gesichtskreis der Mediziner geraten, als Haller die Physiologie aufwertete und mit ihr das Lebendige in der Forschung wieder an Wertschätzung gewann. Gleiches betont Haller in der Vorrede des ersten Bandes der verdeutschten Elementa physioiogue corporis humani, in den Anfangsgiinden der Phisiohgie des menschlichen Körpers (1759): »Man muß demnach Thiere zergliedern. Es würde aber dazu keinesweges hinlänglich seyn, daß man nur todte zerlegte, sondern man mus auch lebendige öfnen. Ein todter Körper hat keine Bewegung, mithin mus man alle Bewegungen bei einem lebendigen Thiere untersuchen. [...] Es hat sehr oft ein einziger Versuch [am lebendigen Her] manch mühsame Erdichtungen, darauf man ganze Jahre verwendet gehabt, auf einmal widerlegt Diese Grausamkeit hat aber auch einer wahren und gegründeten Phisiologie mehr wirklichen Nuzzen verschaffet, als fast von allen übrigen Künsten zu erwarten ist, unter deren Beistande unsre Wissenschaft zugenommen hat« (unpag., S. 8f.).
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Unzer, Grundriß eines Lehrgebäudes (1768), S. 2. Ebd.
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Unzeis Reformulierung des Kriigerschen Empfindungsgesetzes
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schon viel ausgemacht werden konnte, sei im Gegensatz dazu noch nicht so einläßlich behandelt worden, als es nötig ist, um sie in ihrer Funktion zur Genüge einzusehen. Mit dem Gmndriß möchte er damit den Anfang machen und einige entdeckte »unumstößliche Grundsätze« dem Publikum bekannt machen. Vielleicht finde sich ja einer, so Unzer weiter, der darauf ein »Lehrgebäude [...] der thierischen Öconomie« aufbaut186. Die Empfindlichkeit bzw. das Gefühl als ein ausschließlich im Gehirn, dem Rückenmark und den Nerven einwohnendes nichtseelisches Vermögen nennt Unzer »Sinnlichkeit«. Gehirn, Rückenmark und Nerven sind der Inbegriff des Sensorium, des Nervensystems. Dazu zählt aber nur der »weiche markige Theil derselben, worin man nicht die geringste Bewegung oder Veränderung bemerken kan, wann er empfindet«187. Mit dieser weitreichenden neuroanatomischen Voraussetzung verabschiedet Unzer zwar nicht die solide Nerven-Theorie, wohl aber die iatromathematische Sicht auf das nervöse Geschehen, wie er sie vordem mit seinem Lehrer Krüger teilte. Die Sinnlichkeit kommt nur dem Sensorium zu, und alle Teile, die sinnlich sind und demzufolge Gefühl haben, haben es nur aufgrund der Nerven, die die Teile des tierischen Mechanismus beleben. Da die Sinnlichkeit ausschließlich dem Sensorium zukommt, kann es nicht auch der Seele zukommen. Somit ist die Sinnlichkeit kein psychisches, sondern ein physisches Phänomen. Nunmehr gilt es den grundsätzlichen Unterschied zwischen >Gefühl< (Sinnlichkeit) und >Empfindung< gehaltlich zu fixieren: das Gefühl der Nerven kann, muß aber nicht von der Seele empfunden werden188. In der Konsequenz bedeutet das nichts weniger als die Preisgabe der Lehre von der prästabilierten Harmonie, des psychophysischen Parallelismus und, da die Sinnlichkeit die Teile des tierischen Mechanismus belebt189, die Abkehr vom Psychovitalismus. Das bedeutet aber kein Abgleiten in einen Mechanismus; im Gegenteil, Unzer hält strikt, wie schon 1750, an dem Mehr des Vitalen gegenüber dem Mechanischen fest. Augenblicklich ist er von der Position des Psychovitalismus abgerückt; sein Standpunkt läßt sich als dynamischer Vitalismus charakterisieren, da er einem bestimmten körperlichen Strukturelement ein eigentümliches dynamisches Vermögen zuschreibt, das vitale Wirkungen zeitigt, die mit den bekannten mechanischen Gesetzen nicht beschrieben werden können190. »Man wird mich fragen, was dann das Gefühl sey, wenn es weder Vorstellung, noch Schmerz u. dgl. seyn soll. Ich kan es nicht erklären. Es ist ein Eindruck in die Nerven, den wir nicht kennen: eine verborgene Bewegung, deren Geseze wir nicht wissen; ein Leben in den Nerven, wie es der
•w Ebd, S. 3. 187 Ebd., S. 5. 188 Ebd., S. 7f. Deswegen sei es auch unzutreffend zu sagen, »das Glied verlöhre sein Gefühl«, wenn es abgebunden ist: denn die Seele »empfindet« es nui nicht (ebd., S. 12). 189 Ebd, S. 5. 190 Ebd, S. 26f.
Unzers ncurophysiologische Begründung des vitalistischen Empfindungsbegriffs
Reiz in den Muskeln ist; — was weiß ich? — ein Sinn, den wir nicht begreifen: aber gewiß keine neue qualitas occulta«.™ Vier empirisch belegte Tatsachen sprächen durch ihren unbezweifelbaren Realitätsgehalt gegen eine Diffamierung der >Sinnlichkeit< als qualitas occultar, erstens ist die Sinnlichkeit an eine real aufweisbare nervöse Struktur gebunden; zweitens kommt ihr eine differenzierte Funktion zu, die sie eindeutig von anderen Funktionen abgrenzt; drittens ist die Sinnlichkeit als tierisches Leben Voraussetzung des Tierischen schlechthin und viertens ist sie eine Grundbedingung des tierischen Lebens, da dem Tier mit ihr das Vermögen zuteil wird, »sich zu beschützen, zu erhalten, zu vertheidigen«192. Mit der Annahme eines seelenunabhängigen Gefühls läßt sich eine Vielzahl von Problemen auflösen, so z. B. die Steuerung der Herzbewegung und der Atmung. Als Movens kann nun anstelle des Seelischen problemlos das Nervöse eintreten. Das Gefühl der Nerven ist eine bewegende Kraft193 und ist neben der Hallerschen Irritabilität die zweite Quelle der tierischen Ökonomie, wenngleich die Ursache der vielen Erscheinungen in der Natur selbst dadurch nicht unbedingt einsichtiger wird, sondern ganz im Gegenteil »ein Geheimniß für uns bleibet«19". Der Grundriß des Lehrgebäudes basiert auf drei Prämissen: (1) >Empfindung< und >Gefühl< sind nicht dasselbe, da das >Gefühl< eine Eigenschaft des Sensorium ist, die >Empfindung< eine der Seele. Beide gehören getrennten Bereichen an, bewirken Unterschiedliches und können unabhängig voneinander existieren195; (2) das Gefühl der Nerven kann die Muskeln bewegen, ohne daß die Seele etwas dazu beiträgt oder auch bloß empfindet196; (3) das Gefühl ist das »vornehmste Lebensprincipium und die große bewegende Kraft der thierischen Maschine«197. Die Lehrsätze sind in der medizinischen Theorie wie auch in der klinischen Praxis mit weitreichenden Konsequenzen verknüpft. In der Theorie beispielsweise helfen sie, die mißliebige Whyttsche Konsequenz zu vermeiden, dem ganzen Körper, da er überall empfindlich ist, Seelisches einzuverleiben. Robert Whytt (17141766), der wohl scharfsinnigste Opponent Hallers198, nahm in seinem Essay of the vital and other involuntary motions of animalsm eine Allgegenwart der Seele im gesamten Körper an, weil einige Tiere (Kaltblüter) selbst nach ihrer Enthauptung als der
191 192 193 194 195 196 197 198 199
Ebd., S. 17. Ebd. Ebd., S. 31. Ebd., S. 30. Ebd., S. 7f. Ebd., S. 25. Ebd., S. 28. Neubuiger (1897), S. 160. Edinburgh 1751, S. 379: »we suppose the sou! te be extended«.
Unzers Refoimulierung des Krügerschen Empfindungsgesetzes
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klassischen Form der Entseelung eines Leibes noch zweckmäßig auf Reize reagieren. Im Gegensatz zu Unzer, der durch die Trennung v o n G e f ü h l und Empfindung eine Zweckmäßigkeit nicht mehr unbedingt an Seelisches koppeln muß, befindet sich Whytt gewissermaßen in einer systematischen Zwickmühle: seine Froschexperimente fordern förmlich eine ubiquitäre Anwesenheit der Seele 2 0 0 und münden in die fatale metaphysische Schlußfolgerung, daß die Seele nicht nur mehr Eine und unausgedehnt ist. Ebenso kann Unzer auf die seit Descartes' Diktum v o n den Tieren als bloßen Automaten 2 0 1 unter den Wissenschaftlern heftig diskutierte Frage, o b es denn nun Tiere ohne Seelen gebe oder nicht, eine überaus zufriedenstellende A n t w o r t geben. Ja, es gibt Tiere, die keine Seele haben und trotzdem noch lange keine reinen Automaten sind. D e n n die erhaltungsdienlichen und lebenserhaltenden Funktionen müssen jetzt nicht mehr in einen Zusammenhang mit dem Seelischen gebracht werden. »Ich weiß wol, daß nach der Definition ein Thier aus Leib und Seele bestehen soll. Allein ich weiß auch, daß es zu einem Thiere v o n mancher A r t hinlänglich seyn könte, wenn es Sinnlichkeit und Reiz hätte, ohne sich iemals seiner und andrer Dinge bewußt zu seyn, und daß die Thiere, deren Sinnlichkeit noch eine Seele zugegeben worden, welche sie durch Vorstellungen dirigiren kan, nur eine besondre A r t v o n der allgemeinen Gattung seyn könten.« 202 Damit rückt Unzer ein weiteres Mal in einer wichtigen Lehrmeinung v o n seinem philosophischen Mentor Georg Friedrich Meier 2 0 3 ab.
Die Whyttsche Seele ist abet im Gegensatz zu der Stahls keine ausnahmslos denkende mehr, sondern eine in erster Linie empfindende und ohne Überlegung und Bedenken handelnde. Insofern kommen bei Whytt Vernunft und Seele nicht mehr zur Deckung. 201 Descartes, Discourt de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences (1637), 5,10f. 202 Unzer, Grundriß eines Lehrgebäudes (1768), S. 47. 203 Vgl. Meier, Versuch eines neuen Lebrgbäudes von den Seelen der Thiere, Halle: Carl Herrmann Hemmerde 1749. Meier hatte darin den Tieren noch eine ans Seelische gebundene Vernunft zugesprochen, da er nur so die quasi-vemünftigen erhaltungsdienlichen Funktionen der Tiere zu erklären vermochte. Aber bereits 1760 konnte Hermann Samuel Reimarus (1694-1768) dem nicht mehr beipflichten: an die Stelle der Meierschen Tiervernunft trat jetzt die Triebnatur, der »sinnliche Mechanismus< der Tiere. - Unzer bekennt sich bereits 1766 in der Sammlung kleiner Schriften tpr speculativischen Philosophie (S. 104) zu der von Reimarus in den Allgemeinen Betrachtungen über die Triebe der Thiert (1760) niedergelegten Ansicht und erneuert seine Zustimmung nochmals im 102. Stück, modifiziert den Reimarus'schen Gedanken allerdings etwas, indem er eine »doppelte Triebfeder« fur möglich hält, eine seelisch bedingte nichtwillkürliche Triebfeder und eine seelenunabhängige (vgl. Unzer, Grundriß eines Lehrgebäudes (1768), S. 39f.). Im 102. Stück des Arges (1769), noch nicht aber im Separatdruck (1768), nimmt Unzer exprtssis verbis auf H. S. Reimarus' § 5 der Allgemeinen Betrachtungen Bezug und schreibt, daß er darin seine eigene Meinung von den tierischen Trieben voll ausgedrückt finde: »daß sie nämlich zwar durch die Vorstellungen der Seele in Wirksamkeit gesetzt werden können, daß aber die Handlungen der Triebe bey Thieren auch durch solche Reitze des Sensorii bestimmt werden können, in die sich keine Vorstellung mischt, die nicht durch den Übergang durchs Gehirn, nicht durch ein in der Seele entstandenes Bewußtseyn, noch durch einen Vorsatz derselben, sondern blos durch den thierischen Mechanismum der Sinnlichkeit, in sofern er der Seele nichts angeht, wirken« (ebd., S. 669). 200
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Unzers neurophysiologische Begründung des vitalistischen Empfindungsbegriffs
Eine dritte Schlußfolgerung aus den Lehrsätzen strahlt bereits weit vom Theoretischen ins Praktische hinein und knüpft an die seinerzeit modernsten und zukunftsweisenden Arbeiten eines Jakob Benignus Winslow (1669-1760) und eines François-Pourfour du Petit (1664-1741) zur Nervenanatomie an. »Die Herren Winslow und Petit haben behauptet, daß der große sympathetische Nerve seinen Ursprung nicht einmahl aus dem Gehirne, sondern aus gewissen Nervenknoten nehme, mithin zu seiner Wirkung den Einfluß des Gehirns nicht nöthig habe. Mir deucht, daß man dieses von allen Nerven, in Absicht ihrer blos sinnlichen Wirkungen, die nicht von Gedanken hervorgebracht werden, sicher behaupten könne.«204 Damit rückt Unzer nun auch empirische Instanzen in den Vordergrund. Vor allem die Lehre von der Funktion der Nervenknoten (Ganglien) sollte später bedeutende Umwälzungen in der Nervenphysiologie bewirken. Unzer mißt ihnen schon einen so großen Stellenwert bei, daß man in ihnen zu Recht eine neuroanatomische Säule der Ersten Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper (1771) sehen kann. Darauf wird zurückzukommen sein. Gleich Winslow, der das Ganglion als cerebra secundaria subordinata sive parva205 ansieht, faßt auch Unzer das Ganglion als ein »Hirnlein« auf, dem eine Schlüsselrolle fur die vegetativen Funktionen wie den Herzschlag zukommt. Der Nervenknoten ist ein sensomotorisch organisiertes Strukturelement, quasi ein Reflexapparat. Damit ist eine gewaltige Aufwertung des Nervösen zum Nachteil des Seelischen und Mentalen verbunden; parallel dazu erhöht sich auch der Stellenwert des autonomen bzw. vegetativen im Gegensatz zum zentralen Nervensystem. Endgültig betritt Unzer das Gebiet des Klinischen in der Besprechung der aus seinen neurophysiologischen Prämissen folgenden Konsequenzen für die Ätiologie und Therapie. Die Schlafenden, Ohnmächtigen, Nachtwanderer, Tollen und Besessenen, schreibt Unzer, — alle haben Gefühl; die Frage ist nur, ob ihre Seele Empfindungen hat. Wenn der Metaphysiker antwortet, ja, sie haben welche, aber unbewußte, dunkle, so ist das eine hypothetische Annahme, die selbst auch dem Begriff der >Empfindung< widerstreitet206. Das Gefühl im Nerv aber resultiert aus einem Eindruck in den Nerv, egal, wo er angebracht werde, woher er rühre207. Dieser Umstand droht die gesamte Ätiologie und Therapie umzukrempeln, denn wenn es mathematisch gewiß ist, und das behauptet Unzer208, daß man Seelen-
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Unzer, Grundriß eines Lehrgebäudes (1768), S. 49. Zit. nach Neuburger (1897), S. 188. Die Benennung >Ganglion< fui >Nervenknoten< geht auf den Pariser Anatomen Jean Riolan (1580-1657) zurück. Claude-Nicolas Le Cat (1700-1768) war der erste, der zu der Ansicht gelangte, »dass die Nervenknoten den Einfluss des Willens hindern« (Traité des sensations et des passions en gneral, et des sens en particulier, Paris 1766). Giovanni Maria Lancisi (1654-1720) und Jacques Benigne Winslow (1669-1760) schließlich hatten die Vermutung geäußert, »daß die Knoten [...] subsidiarische Gehirne, oder dem Gehirn in ihren Nutzen ähnlich seyn« könnten (Johnstone, Versuch über den Nullen der Nervenknoten (Stettin 1787), S. 6). Unzer, Grundriß eines Lehrgebäudes (1768), S. 32f. Eine mnempfundene Empfindung* kennt Unzer nun nicht mehr. Ebd, S. 36. Ebd, S. 37.
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Wirkungen durch physikalische Reize substituieren kann und trotzdem noch »eben denselben Tumult von Bewegungen im Körper«209 erhält, dann ist es auch durchaus möglich, daß bislang für reine Seelen- und Geisteskrankheiten gehaltene Phänomene wie der Veitstanz, der Tarantismus, die Starrsucht, die Epilepsie und viele andere ihren Ursprung irgendwo anders im Körper haben und nicht im Gehirn, vielleicht gar im Unterleib, denn letztlich bleibt es sich ja gleich, an welcher Stelle konkret der »physicalische Reiz«210 wirkt. Deshalb sollen, können und dürfen Nervenkrankheiten nicht mit solchen Medikamenten kuriert werden, die durch das Gehirn wirken. Eine bessere, weit zutreffendere Art der Medikation in solch einem Fall geschähe durch eine direkte Applikation an die betreffenden Organe211. Damit ist der Inhalt der kleinen Abhandlung in kurzem abgeschritten und in seinen Konsequenzen dargelegt worden. Sie stellt die Keimform der Ente» Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper (1771) dar und enthält bereits den größten Teil der innovativen Gedanken. Bevor jedoch das umfängliche Werk in seinem systematischen Aufriß Eingang in die Darstellung finden wird, gilt es kurz innezuhalten und Unzers kritischer Zwiesprache mit seinem inzwischen verstorbenen Lehrer Johann Gotdob Krüger beizuwohnen. Mit dem 223. Stück des Arges von 1769 vollzieht Unzer auch in der Öffentlichkeit die Abkehr von der herkömmlichen Fassung des Krügerschen Gesetzes. Das Stück steht unter dem Motto »Forscht, ob der Schluß aus klaren Gründen fließt?« und bringt drei fiktive Leserbriefe und ihre Beantwortung durch den Arzt. Der erste Leserbrief und seine Beantwortung werden von Unzer im Inhaltsverzeichnis unter dem Titel Ob aufjede Empfindung eine Bewegung erfolge ausgewiesen. Ein fiktiver Leser fragt bei dem Arzt an, wie es angesichts des Grundrisses eines Lehrgebäudes von der Sinnlichkeit der thierischen Körper (1768) nunmehr um das Krügersche Gesetz {lex Krugeriana) bestellt sei. Die Frage ergänzt ein längerer Hinweis auf Zeitgenossen, die Unzer in der begrifflichen Neufassung des Empfindungsgeschehens vorgearbeitet hätten. Im Grundriß noch konnte Unzer einzig und allein den holländischen Arzt Jan Daniel Schlichting (1703-?) als Geistesverwandten ins Feld fuhren, und das auch nur in eingeschränktem Sinne, da dieser unversehens in einen Materialismus abgeglitten sei212; jetzt kann er zudem noch zwei andere gewichtige Gewährsleute anführen: Voltaire (1694-1778) und Georges-Louis Ledere, Comte de Buffon (1707-1788). Im Falle von Voltaire bezieht sich Unzer (denn er ist auch der Verfasser der fiktiven Leserbriefe) auf eine Passage im Micromgas (1752). Dort unterhalten sich der Bewohner des Sirius' und des Saturns über die auf den heimatlichen Planeten
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Ebd. Ebd. Weiter unten heißt es dann: »Kurz, die Nervenkrankheiten haben ihren Ursprung viel öfter aus Fehlern im Unterleibe, welche die dasigen Nerven reizen, als aus Fehlern des Gehirns, -wie ich in verschiedenen Aufsäzen des Arztes ausführlich dargethan habe« (ebd., S. 50). Ebd, S. 51. Ebd, S. 54.
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Unzers neurophysiologische Begründung des vitalistischen Empfindungsbegriffs
angenommenen metaphysischen Substan2en: »Nach mehreren Fragen dieser Art erkundigte er [der Siriusbewohner] sich, wie viele verschiedene Substanzen man auf dem Saturn zähle, und er erfuhr, daß man etwa dreißig annahm: Gott, den Raum, die Materie, die ausgedehnten empfindenden Wesen, die ausgedehnten Wesen, die empfinden und denken, die unausgedehnten denkenden Wesen, die einander durchdringenden Wesen, solche die sich nicht durchdringen, und so fort.«213 Vornehmlich in den »ausgedehnten empfindenden Wesen« sieht Unzer die Unterscheidung von Gefühl und Empfindung angelegt, denn »diese ausgedehnten fühlenden, nicht denkenden Wesen sind eigentlich die Nerven«214. Noch deutlicher ausgedrückt finde sich der Gedanke allerdings schon in Buf-
fone Allgemeiner Historie der Natur215. In dem von Fleischfräßigen Thieren handelnden Kapitel heißt es unter anderem: »Lasset uns [...] die sinnliche Rührung {Sensation [...] [das Gefühl,]) von der Empfindung (Sentiment) unterscheiden.216 Die erstere ist bloß eine Erschütterung, die in den Sinnen [(Nerven, Sensorium,)] vorgeht. Die letztere aber besteht darinn, wenn jene sinnliche Rührung, mittelst ihrer Fortpflanzung in das ganze System der Sinnen [(zum Gehirne,)] angenehm oder unangenehm geworden ist: [(Es sollte heißen: vorgestellt wird; denn nur dadurch kann sie angenehm werden.)] Denn hierinn besteht das Wesen der Empfindung, [(der Seele.)]«217.
Voltaire, Sämtliche Remane und Erzählungen I (1982), S. 144; frz.: »Aprèsplusieurs questions Je cette nature, il s'informa combien Je substances essentiellement différentes on comptait Jans Saturne. Il apprit qu'on n'en comptait qu'une trentaine, comme Dieu, ¡'espace, la matière, les êtres étendus qui sentent, les êtres étenjus qui sentent et qui pensent, les êtres pensants qui n'ont point d'étendue, ceux qui se pénètrent, ceux qui ne se pénètrent pas, et le reste.« 2.4 DerArçt 5 (1769), 223. Stück, S. 189. 215 Anonymus [Georges-Louis Ledere, Comte de Buffon], Die Fleischfräßigen Thiere, in: Allgemeine Historie der Natur nach allen ihren besonJem Theilen abgehandelt; nebst einer Beschreibung der Naturalienkammer Sr. Majestät Jes Königes von Frankreich. Vierten Theils erster Band [übersetzt von Abraham Gotthelf Kästner], Hamburg und Leipzig: Grunds Wittwe und Adam Heinrich Holle 1760, S. 3-21. 216 Vgl. Unzer, Erste Gründe einer Physiologie (1771), S. 399f. § 402. - Es scheint aber, daß Unzer in den Buffonschen Text etwas hineinliest, was dessen ursprünglicher Intention widerspricht. Kästner dagegen übersetzt Buffon korrekt; der Unzersche Mißverstand ist einer Obersetzungsunbestimmtheit zuzurechnen: Im Französischen geht der Gebrauch beider Termini oft wild durcheinander; im allgemeinen ist >sentimenti sehr viel weiter, aber auch sehr viel weniger präzis gefaßt als ysensatiom. Die >sensation< bezeichnet im allgemeinen ein augenblickliches, vorübergehendes Zusammentreffen von Außenwelt und Seele, währendessen sentimenti eine anhaltende Seinsform der Seele benennt. Die längere Zeitdauer des mit dem Begriff sentimenti beschriebenen Geschehens konnotiert zumeist auch einen höheren Grad von Bewußtheit in der Stellung des Ichs zur Außenwelt im Gegensatz zu den plötzlichen Erschütterungen der >sensationsi (vgl. Sckommodau (1933), S. 36). Vgl. dazu auch die weitergehenden Ausführungen im Anhang. 217 Der Arg 5 (1769), 223. Stück, S. 189f. Das in eckige Klammern Gesetzte kennzeichnet die Unzerschen Zusätze. — Unzer hat die Histoire naturelle générale et particulière, avec la description du Cabinet du Roy in der deutschen Übersetzung gelesen. Die zitierte Passage findet sich im Kapitel: Die Fleischfräßigen Thiere, in: Allgemeine Historie der Natur nach allen ihren besondern Theilen abgehandelt, nebst einer Beschreibung der Naturalienkammer Sr. Majestät des Königes von Frankreich. Vierten Theils erster Band, Hamburg und Leipzig: Grunds Wittwe und Adam Heinrich Holle 1760, S. 7f. 2.3
Unzers Reformulierung des Krügerschen Empfindungsgesetzes
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Buffon scheint damit in der Tat den Kern der Unzerschen Überlegungen getroffen zu haben, baut allerdings im folgenden den Gedanken nicht weiter aus. Und bereits im übernächsten Satz wird er seinen Distinktionen untreu und schreibt: »Alle äußerliche Bewegung der Thiere, und alle Anwendung ihrer Kräfte, hängt von der Empfindung ab«218, und opfert das soeben erst inthronisierte Gefühl· flugs wieder der >Empfindung< auf. Dessen ungeachtet hat Buffon in der von Unzer zitierten Passage deutlich das den Nerven einwohnende Gefühl, daß die Seele denkt, indem sie es empfindet, von der Empfindung unterschieden. Er hat auch erkannt, wie wenig das Denken bzw. die Empfindung taugt, das Tier- vom Pflanzenreich abzugrenzen. Stattdessen ist es das Gefühl (frz. sensation), das den Übergang vom Vegetarischen zum Animalischen markiert. Natürlich gibt es Tiere, also fühlende Wesen, die auch denken und sich ihres Verstandes bedienen können. Solche denkenden Tiere definieren aber nicht den Tier-Begriff, sondern stellen nur eine besondere Art fühlender Wesen dar. Mit dieser Unterscheidung ist es erstmals möglich, eine angemessene Interpretation bestimmter tierischer Kunstfertigkeiten wie das Weben der Spinnen und Seidenwürmer oder die Bautätigkeit der Ameisen und Bienen zu liefern. Keinem der Insekten muß das Denken mehr zugesprochen werden, bloß weil sie absichtsvoll scheinende Tätigkeiten ausführen. — Damit trifft Unzer kurzerhand die Crux jeder teleologischen Erklärungsweise und suspendiert sie für eine Vielzahl von Phänomenen. Es sei unrichtig anzunehmen, allem, »was nach Vernunftschlüssen erklärt werden kann«219, unterliegen rational-teleologische Gesetzmäßigkeiten: nicht alles, was teleologisch erklärt werden kann, vollziehe sich auch tatsächlich so, weder bei den Tieren im allgemeinen noch bei den denkenden Tieren im besonderen. Um aber hierüber Genaueres sagen zu können, müssen zunächst die Gesetze der bloßen Sinnlichkeit erforscht werden. Analog der Kantschen Programmatik, die Grenzen der menschlichen Vernunft auszumessen, um dem Glauben Platz zu machen, formuliert Unzer ein Forschungsprogramm, in dessen Mittelpunkt das Studium der tietischen Sinnlichkeit steht, um von dieser Flanke her das Terrain der Vernunft abzustecken. Die Antwort des Arztes auf die Leserzuschrift spart, wie nicht anders zu erwarten, die Hinweise auf Voltaire und Buffon gänzlich aus und wendet sich ausschließlich dem physiologischen Grundsatz Krügers zu, dem Unzer lange Zeit hindurch die Treue gehalten hat, das ihm aber jetzt in der ursprünglichen Fassung220 nur noch »ganz unbestimmt, schwankend und wenig brauchbar« zu sein scheint221. Die grundlegende Aussage des Krügerschen Gesetzes, daß auf eine jede Empfindung eine Bewegung erfolge, ist falsch, da sie auch Fälle unter sich begreift, für die das nicht zutrifft (z. B. bei Lebensbewegungen wie den Herzschlägen etc.). Der Satz ist wahr, wenn es sich um (seelische) Empfindungen im
218
219 220 221
Unzer, Grundriß eines Lehrgebäudes (1768), S. 8. DerAnp 5 (1769), 223. Stück, S. 191. »wie ihn [den physiologischen Grundsatz] uns Herr Kriigrgegeben hat« (ebd.). Ebd.
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Unzers neurophysiologische Begründung des vitalisdschen Empfindungsbegriffs
strengen Sinne handelt. Das Gesetz Krügers könnte richtiger »Gesetz der Begehrungs-Kraft« heißen als »Empfindungs-Gesetz«. Denn in der Tat bewirkt jede Begierde und ihr Gegenteil, die Verabscheuung, eine proportionale Bewegung im Körper. — Auf diesen Fall beschränkt, d. h. in dem Falle, da die Seele auf den Körper wirkt, und nicht umgekehrt, drückt das Krügersche Gesetz zweifellos die Wechselwirkung adäquat aus. Oft wurde das Krügersche Gesetz von den Zeitgenossen auch nur so verstanden. Mitunter dehnte man es aber auch auf Phänomene aus, die das >Gefühl< betrafen, und gelangte so zu falschen Schlußfolgerungen. Krüger setzt voraus, daß alle Eindrücke in die Nerven gleichermaßen in der Seele empfunden werden und danach erst eine Bewegung seelisch gewirkt werde. Unzer hält dagegen, daß es eine Vielzahl von Eindrücken gibt, die in den Nerven ein >Gefühl< erzeugen, das in der Seele aber nicht empfunden wird, obgleich trotzdem eine Bewegung erfolgt, die nun wiederum auch nicht der Stärke des Nerveneindrucks proportional ist. Beides, das häufig vorkommende Phänomen eines nicht empfundenen Nerveneindrucks mit der darauffolgenden Bewegung im Bewegungsnerv und das nichtproportionale Verhältnis von Nerveneindruck und dessen Beantwortung im Bewegungsnerv, wird von Unzer mit empirischen Belegen untermauert. Gegen die Krügersche Annahme, daß alle Nerveneindrücke gleichermaßen von der Seele empfunden werden, spricht die Beschaffenheit des Nervs zu unterschiedlichen Zeiten, »etwas, das wir noch gar nicht verstehen«222. Hinzu kommt die Beobachtung, daß bestimmte Nerven für gewisse Reize empfänglicher sind als andere. Neben der Nervenbeschaffenheit muß deshalb der Qualität des Nerveneindrucks mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden, »denn oft macht der eine Eindruck in eben den Nerven eine Empfindung in der Seele, da es ein andrer, von dem man es eben sowol vermuthen solte, nicht thut, obgleich die Gemeinschaft mit dem Gehirne eben so ungehindert geblieben« ist223. Mit dem Hinweis auf die unterschiedlichen Qualitäten der Nerveneindrücke ist implizit eine Kritik an der vormals von Krüger und Unzer versuchten, ausschließlich quantitativen Explikation des Empfindungs- und Affektgeschehens verbunden. Die mit dem Empfindungsgeschehen verknüpften quantitativen und qualitativen Größen lassen sich mit dem Krügerschen Gesetz nicht konzis erklären; stattdessen bringen sie eine Vielzahl von Ungereimtheiten mit sich, so das Fazit. Unzer läßt es bei der bloßen Konstatierung der Sachlage nicht bewenden, sondern fragt weiter, wie es denn gekommen sei, daß Krüger das Gesetz so und nicht anders formuliert habe, und weshalb er selbst und viele andere mit ihm dem Gesetz so lange Adäquanz zugebilligt hätten. — Die Ursache, so lautet seine Antwort, liegt im mangelnden begrifflichen Instrumentarium. Mit diesem habe man das Empfindungsgeschehen nicht angemessen syllogistisch einholen können. Zwei Prämissen sind unzulässigerweise für generell wahr gehalten worden:
222 223
Ebd, S. 193. Ebd.
Unzers Refonnulierung des Kiügerschen Empfinduogsgesetzes
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(PI) Ein jeder sinnlicher Eindruck in die Nerven macht eine Empfindung, und (P2) Jede Empfindung ist eine Vorstellung in der Seele. Daraus folgt: (K) Jeder sinnliche Eindruck in den Nerven bringt eine Vorstellung in der Seele hervor. Nimmt man den allgemein anerkannten Satz hinzu, daß jede Vorstellung von Bewegungen im Körper begleitet wird, die ihr quasi vergesellschaftet sind, und nimmt man weiterhin an, daß die sie begleitenden körperlichen Bewegungen >Seelenwirkungen< sind, so kommt man schnell dahin zu behaupten, auf jeden sinnlichen Eindruck in die Nerven erfolge keine andere als eine Seelenwirkung in Form einer körperlichen Bewegung (K) — eine offenbar falsche Behauptung! Unzer ist dennoch nicht daran gelegen, den Syllogismus gänzlich zu verwerfen. Denn es gibt ja tatsächlich eine bestimmte Anzahl von Fällen, die das Gesetz zutreffend beschreibt. Falsch sei nur der dem Syllogismus zuerkannte Allgemeinheitsgrad. Statt fur alle, kann er nur für einige Fälle Geltung beanspruchen. Unzer setzt an dem Mittelbegriff der Schlußfigur Barbara, am Empfindungs-Begriff, an: Der herkömmliche Empfindungs-Begriff unterscheidet nicht zwischen solchen Vorgängen, in denen ein sinnlicher Eindruck in den Nerven bis zum Gehirn fortgeht und dort von der Seele vorgestellt wird, und solchen, die nicht von der Seele vorgestellt werden. Die bewegende Kraft für eine Muskelbewegung, das belegt eine Vielzahl empirischer Untersuchungen, liegt nicht in der Seele, sondern in der Kraft des Nervs, einen Muskel zu bewegen224. Die Kraft des Nervs heiße »Sinnlichkeit«, der Eindruck, den der Nerv in den Muskel macht, »Gefühl«225. Unter Zugrundelegung der soeben vorgenommenen begrifflichen Distinktionen formuliert Unzer jetzt ein »Gesetz der Sinnlichkeit«: »Wenn ein Nerve berührt wird, so bewegt er, nach den uns unerklärbaren Gesetzen der thierischen Natur, den Muskel, in den er sich ausbreitet, es mag nun diese Berührung eine Empfindung in der Seele veranlassen oder nicht«226. Demzufolge gibt es in jedem tierischen Körper, dem ein äußerer sinnlicher Eindruck beigebracht wird, ein >Gefiihk Das >Gefühl< gibt es auch dann noch, wenn der äußere sinnliche Eindruck bis ins Gehirn zur Seele gelangt, dort empfunden wird und Seelenwirkungen im Körper hervorruft Die Seelenwirkungen treten in solch einem Falle zum >Gefühl< hinzu, eliminieren es aber nicht In bezug auf die Konklusion des Syllogismus, wonach jeder sinnliche Eindruck in den Nerven eine Vorstellung resp. Empfin-
Ebd., S. 194. Ebd. ^ Ebd. 224
225
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Unzers neurophysiologische Begründung des vitalistischen Empfindungsbegriffs
dung in der Seele hervorbringt227, liest sich der von Unzer reformulierte Satz so: Jeder sinnliche Eindruck in die Nerven bringt ein >Gefuhl< hervor228. Das allgemeine Krügersche Gesetz wird von Unzer in den Ersten Gründen einer Physiologie (1771) dann ganz konsequent nur noch als ein besonderes behandelt, nämlich als »physiologisches Gesetz der äußern Empfindungen«, das besagt: »Auf jede äußere Empfindung, die der Seele durch einen Nerven beygebracht wird, der sich in mechanische Maschinen vertheilet, folgen, wenn keine natürliche Hindernisse da sind, im Zustande der Gesundheit, in diesen mechanischen Maschinen, durch denselben Nerven, (seine Zweige, Faden,) solche Bewegungen, deren sie vermöge ihrer Strucktur fähig sind, und sie sind desto stärker, je stärker die äußere Empfindung. Es können aber [...] eben dieselben Bewegungen«, heißt es einschränkend weiter, »auf einen äußern sinnlichen Eindruck in die Nerven, der nicht empfunden wird, als bloße Nervenwirkungen erfolgen. Auch ist dieses Gesetz nicht so zu verstehen, als ob die Bewegungen desto stärker wären, je stärker die äußere Berührung eines Nerven, nach dem Maaße physicalischer Kräfte geschätzet, sondern je stärker der äußere sinnliche Eindruck ist, den eine Berührung machet, welcher von einer geringen Berührung zuweilen sehr stark seyn kann, und umgekehrt.«229 Die Kraft des Nervs, ein Gefühl hervorzubringen, also »durchs Anrühren Muskeln in Bewegung [zu] setzen«230, darf allerdings nicht, wie oben bereits ausgeführt, mit der von Haller herausgestellten nervösen Fähigkeit der Sensibilität verwechselt werden. Unzer hält seine >Sinnüchkeit< zunächst fur eine dritte tierische bewegende Kraft neben der Hallerschen >Irritabilität< und >SensibilitätSensibilität< bzw. >Empfindlichkeit< und >Sinnlichkeit< deutlich spürbar. Dieser hatte die Empfindung nicht vom >Gefuhl< geschieden und damit den Ärzten nur die Alternative gelassen, bei bestimmten Phänomenen entweder eine mechanische oder eine seelische Ursache anzunehmen. Neben, oder vielmehr: zwischen Mechanismus und Animismus gab es bislang kein Drittes. Die Unzersche >Sensibilität< tritt jetzt auch als Garant der verstärkten Muskelbewegung ein und hilft, das motorische Dilemma zu beseitigen, auf das Haller bereits in seinen beiden Göttinger Vorträgen in der Besprechung der Unterschiede der Reizbeantwortung hingewiesen hatte, die sich bei der direkten Reizung des Muskels und der indirekten durch den Nerv zeige. Haller hatte dem Nerv damals schon eine Verstärkerfunktion zugestanden, sie aber nicht weiter verfolgt. Unzer greift den Hallerschen Gedanken auf und bildet ihn fort bis zu den Anfangen
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Ebd., S. 193. Ebd., S. 194. Unzer, Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1771, S. 203f. § 218. DerArtf 5 (1769), 223. Stück, S. 194. Ebd., S. 195.
Unzers Reformulierung des Kriigerschen Empfindungsgesetzes
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einer Reflexlehre. Von Haller hat Unzer sozusagen den neurophysiologischen, von Krüger den neuronomologisch-systematischen Impuls erhalten. 1771 veröffentlicht Unzer sein medizintheoretisches Hauptwerk, die Ersten Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Von ihm selbst auch als Zoologie bezeichnet, ist sie eine die Humanphysiologie einschließende Tierphysiologie. In theoretisch ausgereifter und zu äußerster theoretischer Kompaktheit verdichteter Form legt er hier das Ergebnis seiner Jahre währenden medizintheoretischen Überlegungen dem Fachpublikum vor. Eine 18seitige Vorrede skizziert die grundlegende Aufgabe und Problemstellung, sowie die Struktur und Methode des Werks. - Die Arbeit, der Titel läßt es bereits anklingen, hat das eigentlich Tierische, also nicht das, was man bislang dafür hielt, zum Gegenstand. Unzer kritisiert, daß man sich von den Ergebnissen der Anatomie dazu hat verleiten lassen, ausschließlich physische und mechanische Kräfte im tierischen Körper anzunehmen. Das habe zwar auf der einen Seite zu umfassenden Kenntnissen der physischen und mechanischen Gesetzmäßigkeiten geführt; allein das die tierische Natur eigentlich erst Begründende blieb außerhalb des Gesichtskreises der Forschung. So wisse man bis jetzt nicht: »nach welchen Gesetzen die Vorstellungskraft die Maschinen des thierischen Körpers bewege [...,] unter welchen Bedingungen der Nerve Empfindung in die Seele bringt [...,] nach welchen Gesetzen die Einbildungen, die Vorhersehungen, die Vorstellungen des Verstandes, die Lust, die Unlust, die Triebe, die Leidenschaften und der Wille verschiedene Theile des thierischen Körpers zu den Verrichtungen zwingen [und] welche die Absichten des Schöpfers bey der Vereinigung der Maschine mit einer denkenden Kraft waren«232. Man habe noch kaum einen Begriff von den tierischen bewegenden Kräften und wisse sich über ihre Gesetze noch keinerlei Rechenschaft abzulegen233. — All jene Fragen, die von essentieller Bedeutung für die Medizin sind, habe man, so Unzer, bislang vollkommen vernachlässigt. Besonders fühlbar werde das Defizit physiologischer Forschung gegenwärtig, wo man sich verstärkt den »Krankheiten der eigentlichen thierischen Kräfte und ihren Curen« zugewandt habe. »Was kann man wohl von einer Pathologie der Gemüths- der Nerven- und anderer Krankheiten der thierischen Natur, die uns die Abweichungen der thierischen Kräfte von ihren natürlichen Gesetzen anzeigen soll, hoffen, so lange wir von diesen ihren natürlichen Gesetzen noch keine bestimmte Begriffe haben, und sogar die thierischen Kräfte selbst, die in den Thieren wirken, nicht kennen?«234 Im Mittelpunkt der Untersuchung steht deshalb die Idee einer »Physiologie der eigentlichen thierischen Natur«: zu ihr sollen mit der vorliegenden Abhandlung die ersten Gründe gelegt werden, die es zu prüfen gilt, um später eine »Physiologie des ganzen thierischen Mechanismus«, d. h. eine neue »allgemeine Physiologie« daraus hervorgehen zu lassen, die dann neben dem Physischen und Mechani-
232 233 234
Unzer, Erste Gründe einer Physiologie (1771), Vorrede, S. IV. Ebd., Vorrede, S. IVf. Ebd., Vorrede, S. Vif. Unzer erwägt deshalb auch, der (speziellen) tierischen Physiologie eine spezielle Pathologie der eigentlichen deiischen Natur folgen zu lassen (ebd., Vorrede, S. III).
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Unzers nevuophysiologische Begründung des vitalistischen Empfindungsbegriffs
sehen auch das Tierische umfassen soll. Seine gegenwärtige Arbeit widmet er also der Grundlegung einer speziellen Physiologie, nämlich der des tierischen Körpers235. Unzer knüpft damit gewissermaßen erneut an seine Philosophische Betrachtung aus dem Jahre 1750 an. Bereits damals galt sein Augenmerk vor allem der tierischen Natur des Menschen236 und ebenso wie jetzt betonte er in dieser zwanzig Jahre zurückliegenden Schrift die Notwendigkeit, die physische, mechanische und tierische Natur zunächst gesondert zu untersuchen und sie erst dann zusammenzufassen und in einer allgemeinen Physiologie aufgehen zu lassen. — All das kommt hier erneut zum Vorschein. Unzer hält sich bei den einzelnen Naturen mit ihren spezifischen Kräften nicht lange auf. Nur kursorisch wird der Unterschied zwischen ihnen aufgewiesen. So kommen dem physischen Körper solch allgemeine Kräfte zu wie die der Schwere, Attraktion, Wärme und Elektrizität, aber auch »der so genannte Reiz, oder die todte Kraft des Herrn v. Haller, (H. P. §. 392.) [, die] blos eine Wirkung der Zähigkeit ist«237 gehöre dazu. Damit nimmt Unzer bereits auf der ersten Seite seiner Ersten Gründe einer Physiologie eine grundsätzliche Modifikation der Hallerschen und seiner noch im Grundriß (1768) vorgetragenen Lehren vor. Die Hallersche vis insita bzw. vis innata war, anders als jetzt bei Unzer, eben keine vis mortua (allerdings auch keine vis vitality, sie war etwas Dazwischenliegendes, eine vis viva 238 Die physische Natur beruht auf der Mischung seiner Bestandteile; die mechanische Natur verdankt sich der Natur und der Art der Zusammensetzung ihrer Teile, wodurch der so gestaltete Körper zur (Körper-)Maschine wird239. Zu den mechanischen Kräften werden die Kräfte des Hebels, die der Hydraulik und Pneumatik gerechnet. Hat man es nur auf die mechanische Natur eines Körpers abgesehen, so ist es durchaus legitim, von ihm mechanisch zu philosophieren. Die mechanischen Maschinen werden in »künstliche« und »natürliche« (»organische«) unterteilt und ihre Differenz noch immer analog der Leibniz'schen Lehre aufgefaßt, allerdings in der Krügerschen Modifikation. Die natürliche Maschine hat eine »organische Natur«; die Fortdauer ihrer Struktur ist das die gesamte Flora und Fauna durchwaltende (organische) Leben. Es gibt unter den natürlichen mechanischen Maschinen solche, »die noch besonderer Kräfte fähig sind, welche sich in ihrer Wirkung nicht nach den sonst durchgängigen Bewegungsgesetzen solcher Körper und Maschinen richten; sondern nur dieser Art natürlicher Maschinen, durch eine und verborgene Einrichtung derselben, allein eigen sind«240.
235 236 237 238
239 240
Ebd., Vorrede, S. VII. Unzer, Philosophische Betrachtung (1750), S. 13. Unzer, Erste Gründe mer Physiologie (1771), S. 3f. Alexander Gottlieb Baumgarten (1714-1762) kennt zwei Fälle: einen, bei dem eine bestimmte Kraft zu einer Handlung zureichend ist, und einen anderen, bei dem das nicht der Fall ist. Jene ist eine >lebendige< (vis viva), diese aber eine >tote Kraft< (vis mortua, soüuitatki) (Baumgarten, Metaphysik (1766), S. 58 § 146). Dieser Ansicht pflichtet Unzer bei. Unzer, Erste Gründe einer Physiologie (1771), S. 4. Ebd., S. 5.
Unzers Refonnulierung des Krügeischen Empfindungsgesetzes
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Diese natürlichen mechanischen oder organischen Maschinen heißen »thierische Maschinen«, ihre Kräfte »thierische Kräfte« und ihre Bewegungen »thierische Bewegungen. Der Inbegriff der thierischen Kräfte im Körper eines Thiers heißt seine thierische Natur«241. Die tierischen Kräfte sind Bewegungskräfte (vires motrices) und können mit denen der Seele »übereinstimmend« wirken, dann heißen sie »thierische Seelenkräfte« (im Unterschied zu den Seelenkräften als Vorstellungskräften). Die tierischen Kräfte können aber auch ohne Sekundanz der Seele wirken. Alsdann werden sie »Nervenkräfte« genannt. Die von den tierischen Kräften gewirkten Bewegungen heißen entsprechend ihrer Wirkkraft »Seelenwirkungen« und »Nervenwirkungen«. Die die Interaktion von Seele und Körper bewerkstelligenden Kräfte sind demzufolge ausschließlich »thierische Kräfte«242. Das Gehirn, das Rückenmark243 und die Nerven mit den Lebensgeistern bzw. dem Nervensaft (gleich Haller läßt Unzer die Frage unentschieden, ob das den Nerv Erfüllende ätherischer oder fluider Natur ist) sind die tierischen Maschinen des Körpers, der Sitz der tierischen Kräfte. Das Gehirn ist zugleich der Seelensitz, die Werkstatt der Lebensgeister und der Ursprung aller Nerven des beseelten Tieres. Durch das Gehirn und die Nerven teilen sich die tierischen Kräfte den mechanischen Maschinen mit. Zwischen Gehirn und Nerv, die beide aus Hirnmark bestehen, gibt es einen strukturellen Unterschied, so daß es nur dem Gehirn möglich ist, »materielle Ideen« hervorzubringen. In den Nerven beseelter und unbeseelter Tiere gibt es Nervenknoten (Ganglien). Sie bilden die anatomische Voraussetzung für Unzers physiologische Annahme möglicher »Umwendungen« (Reflexionen): »Also verrichten allem Ansehen nach die Nervenknoten und diese Scheidepunkte in den [Stämmen und Zweigen der] Bewegungsnerven das Amt des Gehirns.«244 Die grundlegenden neuroanatomischen Anschauungen übernimmt Unzer von Haller. Danach besteht der einzelne Nerv aus von Häuten umkleidetem Hirnmark. Der wesentlichste Teil des Nerven ist das Mark; den Häuten kommt keinerlei tierische Funktion zu. Die Nerven kommen im Organismus meistens gebündelt vor; die weniger gebündelten heißen Nerven, das große Bündel ist das Rückenmark.245 Vermutlich ist die Nervenfaser inwendig hohl246, so daß in ihr ein Fluidum auf- und abfließen kann247. Dieses »äußerst sub-
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244
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Ebd. Ebd., S. 6. Damit weitet Unzer das Rückenmark im Vergleich zu seinen Zeitgenossen gewaltig auf und wird so zusammen mit Whytt zum Begründer der Rückenmarksphysiologie (Neuburger (1897), S. 122; zu Unzer ebd., S. 183-187). Unzer, Erste Gründe einer Physiologie (1771), S. 396 § 399. Dem gleichen Gedanken kann man auch bei Charles Bonnet (1720-1793) begegnen, der in seiner Contemplation de ¡a Nature (1764) schreibt, der Nervenknoten habe beim Insekt die Funktion eines Gehirns (Bonnet, Betrachtung über die Natur (1772), S. 58). Unzer, Erste Gründe einer Physiologie (1771), S.14f. § 13. Haller, Erster Utmiß Der Geschäfte des Körperlichen Lebens, fiir Vorlesungen eingerichtet (Berlin 1770), S. 202 § 378: »Es ist also wahrscheinlich, daß die Nervenfasern, und die gleichartigen Markfasern des Gehirns hohl seyn.«
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Unzers neurophysiologische Begründung des vitalisrischen Empfindungsbegriffs
tile flüssige Wesen« ist unsichtbar und »vermittelt« alle tierischen Verrichtungen. Gewöhnlich nennt man es Lebensgeist oder Nervensaft, vermutlich ist es aber »ein flüssiger, äußerst beweglicher, geistiger Dunst«, weder wäßrig, klebrig, elastisch, ätherisch oder elektrisch.248 Die wesentlichen Unterschiede zwischen Haller und Unzer betreffen die Natur und den Stellenwert der dem Muskel und dem Nerv einwohnenden Kräfte und ihr Verhältnis zueinander. Haller zufolge verfugt die Muskelfaser über dreierlei Kräfte: (a) die Elastizität (>tote Krafix), (b) die angeborene Kraft (>Reizbarkeittote Kraft< wie die unter (a) genannten. Einzig und allein die dem Muskel vom Nerv verliehene Kraft, die Nervenkraft, ist eine lebendige Kräfte254 Insofern sie eine lebendige, dem Tierischen zukommende Kraft ist, ist sie eine tierische Nervenkraft. Die tierischen (Nerven-)Kräfte können auf dreierlei Art wirken, in Gemeinschaft mit der Vorstellungskraft oder ohne diese. Im ersten Falle spricht man von einer tierischen Seelenkraft, im zweiten bloß von der Nervenkraft; im dritten schließlich wirken tierische Seelenkräfte und reine Nervenkräfte zugleich und bilden sozusagen ein für sich bestehendes »zusammengesetztes Ganzes«255, eben eine zusammengesetzte natürliche Maschine (machina composita). Die drei Wirkungsweisen tierischer Kräfte geben die Grobeinteilung des Werkes vor: der erste Teil gilt allein den tierischen Seelenkräften, der zweite den Nervenkräften, der dritte beschreibt die aus tierischen Seelen- und Nervenkräften bestehende tierische Ökonomie im Ganzen. Der erste der drei Teile der Ersten Gründe einer Physiologie hat die tierischen Kräfte in ihrer Übereinstimmung mit der Vorstellungs- bzw. Seelenkraft zum Gegenstand und widmet sich also ausschließlich den nur beseelten Tieren zukommenden tierischen Seelenkräften. Insofern ist in diesem Teil die tierische Natur in ihrer vollkommensten Ausprägung der Gegenstand der Untersuchung256. Er gliedert sich im einzelnen wie folgt: im ersten Kapitel werden Gehirn und Nerven samt Lebensgeistern als Träger der tierischen Seelenwirkung mit ihren allgemeinen Eigenschaften vorgestellt; das zweite Kapitel behandelt die Wirkungsweise der tierischen Seelenkräfte an sich, also nur allein nach ihrer Wirkung in den tierischen Maschinen, dem Gehirn, dem Rückenmark und den Nerven; das dritte Kapitel beleuchtet die Wechselwirkung zwischen tierischer und mechanischer Maschine; zu guter Letzt, im vierten Kapitel, wird die Gemeinschaft der Seele und des Leibes im Allgemeinen thematisiert. »Die ganze Lehre von dem wechselweisen Einflüsse der Seele und des Körpers ineinander ist bisher in un-
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255 256
Unzer verabsolutiert damit die Nervenkraft zuungunsten der Hallerschen Irritabilität (vgl. Unzer, Ente Gründe einer Physiologie (1771), S. 389 § 388 und den Aufsatz Von der Reizbarkeit der Muskeln im Ar(t 2 (1769), 82. Stück, S. 396-400). - Hallers vis nervosa und Sensibi/itas sind allerdings, wie andernorts bereits ausgeführt, nicht mit Unzers >Nervenkraft< identisch. Die Hallersche vis nervosa ist eine Eigenschaft der Muskelfaser und nicht des Nervs, da sie die Kontraktion der Muskelfaser nach der Reizung des ihr zugehörigen Nervs ermöglicht (Rudolph (1964), S. 26). Und die Hallersche Sensibilität ist »das Vermögen [bestimmter Körperteile, Reizungen] so zu empfangen, daß [sie von der Seele] empfunden [werden können]«. Damit wird das Vermögen physiologischer Erregbarkeit mit dem psychischen Erleben gleichgesetzt und als eines aufgefaßt. Unzer trennt dann zwischen dem Vermögen physiologischer Erregbarkeit (sein auf der >Sinnlichkeit< beruhendes Gefühl·; später der auf der >Nervenkraft< beruhende >äußere oder innere sinnliche Eindruck) und dem psychischen Erleben (sein >EmpfindungsGefiihl< fur etwas ausschließlich Nicht-Empfundenes; diese eingeengte Verwendung widerstreite dem gängigen Sprachgebrauch. Offenbar große Schwierigkeiten hat Hensler damit, Unzers philosophische Position zu bestimmen. So heißt es ζ. B., er könne nicht genau sagen, ob Unzer »der vorherbestimmten Harmonie oder dem System gelegentlicher Ursachen das Wort reden will« (S. 279). Zu guter Letzt glaubt er Unzer als Animisten Stahlscher Prägung charakterisieren zu können, der die Nerven gleichsam als Zügel ansehe, womit »die Seele den Leib lenkt und regiert« und die mechanischen Veränderungen des Körpers empfindet (S. 279), und verkennt dessen neurodynamischen Dynamismus noch völlig. Als er nur kurze Zeit später bei Beurteilung der neuen Ausgabe des Arges (1769/70) auch auf das »System von der Sinnlichkeit« zu sprechen kommt (S. 16-20), hat er das spezifisch Neue des Unzerschen Ansatzes dann jedoch voll erfaßt. Während er noch in der Rezension des Grundrisses (1768) im 11. Band der Allgemeinen deutschen Bibliothek (1770) die ungewöhnliche Terminologie Unzers bemängelte, konzediert er jetzt, daß es in der Tat schwierig sei, eine treffendere Terminologie zu finden, nachdem die mißverständliche Hallers inzwischen eingeführt sei: »An der Benennung und dem Worte Gefühl stößt man sich lange, bis man sich dazu gewöhnt hat Wir müßten uns sehr irren, wenn H. U. die Wahl der Worte frey gewesen, er würde der Muskularfaser Regsamkeit oder sonst etwas und der Nervenfaser Rei% beygelegt haben« (S. 17f. Anm.). Unzer, Erste Gründe einer fisiologie (1771), Vorrede, S. XVII und S. 401f. § 403.
Unzers Refotmulierung des Krügerschen Empfindungsgesetzes
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zweijährigen Ausarbeitung der Enten Gründe einer Physiologe noch mancherlei an größerer Klarheit und Tiefe; vieles steht ihm nun deutlicher vor Augen. Er differenziert jetzt, anders als noch im Grundriß, zwischen zwei Arten des >Gefiihlsinneren< und dem >äußerenGefühl< im Gegensatz zum frz. sentiment mit seiner deutschen Entsprechung >Empfindung< findet im Deutschen nicht genügend Rückhalt. Wenn man im Deutschen vom >Gefühl< spricht und es den fünf äußerlichen Sinnen zuspricht, dann meint es gerade nicht das, was Unzer damit ausdrücken will. Intendiert ist von Unzer eigentlich nur ein Moment des Ganzen, das man gewöhnlich als >Gefühl< bezeichnet, nämlich das Unempfundene, eben bloß Nervöse. Das Unzersche >GefiihlGefühl< versteht Unzer in den Ersten Gründen einer Physiologie jetzt die »materielle äußere Empfindung«271. — Es ist nicht zu übersehen, in welcher Hinsicht Unzer seine Empfindungskonzeption weiter ausdifferenziert hat. Er berücksichtigt jetzt mehr als vorher die Komplexität des Empfindungsgeschehens, daß nun auch ohne Einrechnung dessen, was Unzer das nervöse >Gefühl< nennt, ein körperliches und ein seelisches Moment hat. Es ist eben die >EmpfindungGefühl< im engeren Sinne abgelöstes seelisches Geschehen. Jetzt, 1771, kann er das Empfindungsgeschehen unter Rückgriff auf die Wölfische Schulphilosophie mit dem Terminus >materielle Idee< begrifflich konsistenter fassen: zur Empfindung bedarf es neben seelischer auch tierischer Bewegungen im Gehirne, worunter die materiellen Ideen< zu verstehen sind272. Die Empfindung ist gewissermaßen ein binomischer Komplex, bestehend aus einer materiellen und einer geistigen >EmpfindungSeitenhiebe< geschehen, mit denen die Platnersche Anthropologie (1772) im Versuch über die Kenntniß des Menschen (1784/85) bedacht wird; gilt es doch einsichtig zu machen, inwieweit Wezel Platnersche Anschauungen teilt und in welchen Punkten er von ihnen abgeht, sich ihnen vielleicht sogar diametral entgegensetzt. Wezeis Auseinandersetzung mit Platner fallt in die Wintermonate 1781/82, als er gerade an der ersten Hälfte des zweiten Bandes seines Versuchs über die Kenntniß des Menschen (1785) arbeitet6. Im ersten Band des Versuchs bezieht er sich einmal expressis verbis auf die Anthropologie von 1772. Ein zweites Mal nimmt er auf die Anthropologie und die Philosophischen Aphorismen von 1776 in seiner Streitschrift Papiere von Johann Karl We^el wider D. Ernst Platnern von letztem nebst einem Vorbericht herausgegeben (1781) Bezug. Inzwischen hat sich Platners Haltung zu fundamentalen medizintheoretischen Fragen jedoch grundlegend geändert, da er den Boden des Mechanismus Hallerscher Prägung verlassen und sich der Stahlschen Lehre in modifizierter Form angenommen hat. Um also zu entscheiden, ob Wezel Platnersche Positionen bezogen, ja ob er ihn gar in einigem plagiiert hat, ist es nötig, die Entwicklung der Platnerschen medizintheoretischen Ansichten in ihren Grundzügen nachzuzeichnen. Dabei setzt die Studie mit Platners schriftstellerischem Erstling, den Briefen eines Arztes an seinen Freund über den menschlichen Körper (1770/71) ein. Nach dieser Physiologie in Briefen, die nur kurz besprochen werden wird, steht die Anthropologie für Ärsge und Weltweise (1772) im Mittelpunkt der Untersuchung, die in drei Abschnitte gegliedert ist: der erste konzentriert sich auf den Aufbau der Anthropologie (1772), der zweite wendet sich inhaltlichen Fragen zu, und der dritte Teil endlich läßt die zeitgenössische Kritik zu Wort kommen. Im Anschluß fällt ein Blick auf eine kleinere Platnersche Abhandlung, Über einige Schwierigkeiten des Hallerischen Systems (1781) betitelt, in der er das Hallersche System zu widerlegen sucht. Das Platner-Kapitel beschließt die Behandlung der Neuen Anthropologie (1790), allerdings nicht ohne ihm eine Art Exkurs beizugesellen, der einen Blick auf die zeitgenössische Diskussion über die Natur der Gedächtnisein-
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Vgl. Wundt (1945), S. 307. Wezel, Vmuch über die Kamtoißdes Maucben 2 (1785), S. 109, 302.
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drücke wirft. Zu guter Letzt werden noch kurz die philosophischen Grundlagen der Anthropologie-Kritik von Marcus Herz (1747-1803) zur Sprache kommen.
2. Die Briefe eines Arges an seinen Fremd über den menschlichen Körper. Grundlinien eines mechanistischen Physiologiekonzepts Sieht man einmal von seinen lateinischen Dissertationen ab, bilden die Briefe eines Arges an seinen Freund über den menschlichen Körper (1770/71)7 Platners Einstand in die Schriftstellerwelt. Das Johann Georg Zimmermann (1728-1795) gewidmete Werk, mit dem er 1769 auf seiner Studienreise persönlich bekannt wurde, ist ursprünglich auf vier Bände berechnet gewesen: der erste soll die anatomischen Grundlagen der Herz- und Atembewegungen entwickeln, der zweite und dritte die sog. natürlichen Verrichtungen wie Verdauung, Absonderung und Ausscheidung behandeln und der vierte und letzte Band, so Platners Plan, die Erzeugung und die sensiblen und motorischen Vorgänge erläutern8. Aber bereits der für die Michaelismesse 1771 angekündigte dritte Band bleibt aus. Nicht ganz unschuldig daran ist sicherlich Johann August Unzers Besprechung des ersten Bandes der Briefe eines Arges (1770) in der Allgemeinen deutschen Bibliothek9. Doch dazu später. Platner verfolgt mit seinen Briefen eines Arges zweierlei Absichten: zum einen möchte er damit gegen die Vorurteile der Patienten anschreiben, die mehr den ungebildeten Praktikern, und das heißt hier: den unphilosophischen Ärzten folgen und sich einer die Selbsttherapie fördernden medizinpraktischen Volksaufklärung à la Unzer anvertrauen; zum zweiten wendet sich Platner mit ihnen an die Philosophen, Juristen und Theologen, die er mit seinen Überlegungen davon überzeugen will, daß man über die menschliche Natur nicht sehr viel Zuverlässiges sagen kann, wenn man den Körper und seinen Beitrag zu allen Geschäften des menschlichen Lebens nicht oder nur ungenügend kennt. Die Briefe eines Arges richten sich also an den ungelehrten und gelehrten medizinischen Laien, dem er in Briefform die Lehren der philosophischen Medizin »stufenweise [ihren] Kenntnissen und Einsichten«10 entsprechend nahebringen will. Anders als in seiner Anthropologe fur Arge und Welttveise (1772), der Titel sagt es bereits, wendet er sich mit seinen physiologischen Briefen an ein viel breiteres Publikum und im genauen Gegensatz zu jener nicht an Mediziner. Inhaltlich sind sie eine Kampfschrift, förmlich ein Pamphlet der Hallerschen Physiologie. Bereits im den Briefen vorangestellten
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Platner, Βπφ eines Arges an seinen Freund über den menschlichen Körper (2 Bde.), Leipzig: Caspar Fritsch 1770/1771. Platner, Βπφ eines Ar^ts 2 (1771), Vorrede, S. LXVnf. Wn. [Antiqua; Rezensent: Johann August Unzer], Retention des 1. Bd. der Platnerscben Βπφ eines Arztes an seinen Freund, über den menschlichen Körper (1771), in: Allgemeine deutsche Bibliothek 14(1771), S. 81-90. Platner, Βηφ eines Anpes 1 (1770), Vorrede, S. XVII.
Die Briefe eines An¡tes an seinen Fremd über Jen menschlichen Körper
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Sendschreiben11 an Johann Georg Zimmermann macht er unmißverständlich Front gegen den Stahlschen Animismus: »Würde man wohl alle unwillkührliche Bewegungen, durch welche das mechanische Leben regiert wird, auf die Rechnung der Seele schreiben, wenn man die Reizbarkeit der festen Theile, die ohne alle Rücksicht auf die Empfindung, viel weniger auf die Seele, zu der Bewegung des Herzens, der Gefäße und aller unwillkührlichen Werkzeuge zulänglich ist, nach dem Lehrgebäude Ihres großen Lehrers [Albrecht von Haller] kennte? Würde man wohl dieienigen abgeschmackte Aristoteliker nennen, welche das mechanische Leben des Menschen von der Seele trennen, wenn man die Kräfte des Herzens und seine Entfernung von dem Willen der Seele einsähe?«12 - Alles das seien Vorurteile der Philosophen, die nur eine unzulängliche Kenntnis des menschlichen Körpers haben. Vor allem der Aufklärung dieser Vorurteile wegen sind die Briefe eines Arges geschrieben worden. Sie dienen in erster Linie der Erklärung, Verdeutlichung und Propagierung der Hallerschen Irritabilitätslehre13, nicht so sehr in Abgrenzung zum Mechanismus Boerhaaves, sondern zum Stahlschen Animismus. Platner entwickelt in seinen Briefen eines Arztes in enger Anlehnung an Haller die anatomischen und physiologischen Grundlagen der Lebensbewegungen. Der Leib hat prinzipiell eine gefaßartige Struktur: sowohl Adern als auch Nerven sind Kanäle bzw. Röhren, in denen sich Flüssigkeiten, in den Adern das Blut und in den Nerven der Nervensaft bzw. die Nervengeister, bewegen.14 Auch das Gehirn ist ein Gefäß, in ihm münden die Nerven ein, die »gleichsam Verlängerungen der markichten Röhrgen [sind], woraus der weißlichte Theil des Gehirns besteht«15. Die Lebensbewegung, das von der Seele unabhängige mechanische Leben hängt ausschließlich vom Umlauf der Flüssigkeiten ab. Damit wird das mechanische Leben, ganz und gar humoral erklärt16. Den Umlauf der Flüssigkeiten unterhält und steuert das Herz, das wiederum die aus dem Gehirn stammenden Lebensgeister beseelen17. Sie erst ermöglichen es dem Herzen, die Reize zu empfinden. »Und hierinnen liegt die Notwendigkeit des Gehirns für das Leben.«18 »Aber kann man wohl eine Herrschaft der Seele über das Herz und über
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Ebd, Vorrede, S. IV. Ebd., Vorrede, S. XIH. Platner bezieht sich hier auf Aristoteles' kardiozentnsche Vorstellung vom Seelensitz (vgl. Aristot part an. 652a-653b, 665af.; Aristot gen. an. 743b-744a). »Habe ich nicht die ächte Halleiische Theorie vorgetragen?« (Platner, Briefe eines Arges 2 (1771), Vorrede, S. XXXII). »Wenn ich Ihnen sage, der menschliche Leib ist von lauter Gefäßen zusammengesetzt, so verstehe ich da die Nerven auch mit darunter. Denn sie sind auch Kanäle [...], in denen eineflüssigeMaterie bewegt wird« (Platner, Briefe eines Arztes 1 (1770), S. 32f.). In ihnen fließt der »Nervensaft« bzw. der »Lebensgeist« (ebd., S. 33). Ebd., S. 32f. »Das Leben (ich rede von dem mechanischen Leben ohne Absicht auf die Seele) besteht in einem Umlauf der flüssigen Materie durch die Kanäle. [...] Ohne diesen Einfluß der Lebenskräfte ruhen alle Bewegungen der Maschine« (ebd., S. 49). Ebd., S. 51 f. Ebd, S. 52.
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die andern Lebensbewegungen annehmen, ohne seine eigne Empfindung zu verleugnen, und sich gegen den überzeugenden Widerspruch der Natur zu betäuben. Ich kann mich nicht genug wundern, wie Stahl, ein Mann von so großen und tiefen Einsichten, alle Bewegungen der menschlichen Maschine ohne Unterschied, von dem Willen der Seele herleiten konnte. Aber noch mehr wundere ich mich, daß diese Meynung noch in den ietzigen Zeiten, da wir von der Reizbarkeit so überzeugend belehrt sind, ihre Anhänger behält, und sich noch neue erwirbt.«19 Damit ergreift Platner unumwunden Partei für die Hallersche Physiologie und polemisiert gegen die animistischen Schulen von Edinburgh und Montpellier. Die lebendige, den Körper bewegende Kraft ist die Reizbarkeit {irritabilité). Sie ist »der Ursprung der Bewegung im Herzen und in allen Kanälen des Körpers«; von ihr hängen die Gesundheit und das Leben ab20. Entsprechend der Hallerschen Lehre kommt den Nerven die Funktion zu, die Lebhaftigkeit der Muskelirritabilität zu verstärken21. Nerven sind dem äußeren Anschein nach Fäden; empirisch sei aber erwiesen, daß sie »Bündel von vielen kleinen Kanälgen [...][sind], in denen die Lebensgeister oder der Nervensaft, fließen«22. Der Nerv wirkt also nicht als Faden, »sondern der in ihren Kanälgen fließende Nervensaft, welcher in dem Gehirn aus dem Blute zubereitet wird, ist das, was die Nerven zur Bewegung des Herzens und aller Theile unentbehrlich macht. Entfernen Sie also von der Wirksamkeit der Nerven auch hier alle Vorurtheile, welche aus einer unrichtigen Naturlehre in das gemeine Leben übergegangen sind«23. Nicht die Nervenhäute sind es demnach, die den Muskel etwa ziehen, sondern der in den Nerven befindliche Nervensaft, der ihm zur »Bewegung das Leben« verleiht24. — Das soll zur Charakterisierung der Platnerschen anatomischen und physiologischen Grundsätze genügen. Von Belang ist hier nur seine überaus unkritische Anhänglichkeit an das Hallersche System. Bemerkenswert ist weiterhin die Auffassung des menschlichen Körpers als eines bloßen Röhrchensystems und die Reduzierung der Lebens funktionen auf den Umlauf der Flüssigkeiten. Johann August Unzers zehnseitige Rezension des ersten Bandes in der Allgemeinen deutschen Bibliothek25 kommt einem Verriß gleich. Schon die Briefform hält seiner Kritik nicht stand: sie sei unangebracht, nicht, weil sie von vornherein der Materie nicht angemessen wäre, sondern weil Platner den Briefstil seiner Meinung
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Ebd., S. 125. Ebd., S. 126. * Ebd., S. 133. 22 Ebd., S. 134. 23 Ebd., S. 135. 24 Ebd.; vgl. auch Platter, Briefe eines Arktis 2 (1771), S. 294f., 251. 25 Wn. [Antiqua; Rezensent: Johann August Unzer], Rezension da 1. Bd. der Platnmcben Βήφ eats Anges an seinen Freund, über den menschlichen Körper (1771), in: Allgemeine deutsche Bibliothek 14(1771), S. 81-90. 20
Die Βriefe emes Anges on seinen Freund über den menschlichen Körper
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nach nicht in ausreichendem Maße beherrsche: »Viele seiner Briefe sind nichts als trockne dogmatische Abhandlungen, die nur der öftere Zwischensatz: mein tbeuerster Freund, auseinander rekt«26. In inhaltlicher Hinsicht beurteilt Unzer das Platnersche Werk von seiner mit den Ersten Gründen einer Physiologie (1771) neu gewonnenen Position her. Einen Stein des Anstoßes stellt dennoch Platners verunglimpfende und verfälschende Darstellung der Stahlschen Meinung dar, wonach die Seele die Herzbewegung steuere, das doch allein dem Mechanismus zu danken sei27. Unzer repliziert: »wie kann man wohl in Zweifel ziehn, daß die Seele einen Einfluß in die Bewegung des Herzens habe, ob sie gleich durch den Willen keine Herrschaft darüber hat«28? Erwartungsgemäß kritisiert Unzer auch die von Platner unkritisch übernommene Hallersche Irritabilitätslehre29. Prinzipiell erregt bei Unzer wie auch bei allen späteren Rezensenten Platnerscher Schriften die ungenaue Ausdrucksweise Anstoß. Viele seiner Beweise seien unbestimmt, flüchtig, ja unergründlich, bisweilen einseitig30. Als ein Beispiel solcher Einseitigkeiten gilt Unzer die Platnersche Behauptung, das mechanische Leben bestünde allein in einem Umlauf der Flüssigkeiten31. Insgesamt bringt Unzer ganze dreizehn, allein den Inhalt betreffende Kritikpunkte zur Sprache. Die Rezension muß Plainer wohl derart unerwartet getroffen und verletzt haben, daß er sich zu einer ermüdenden und nicht weniger kleinlichen Replik im zweiten Band seiner Briefe eines Arges (1771) veranlaßt sah. Die Lektüre der Rezension macht es offensichtlich: Unzer geht es nicht in erster Linie um die vielen Einzelheiten. In der Hauptsache liegt ihm vielmehr daran, Plainer möge die Hallersche Irritabilitätslehre in all ihren physiologischen Konsequenzen besser durchdenken. Er weist Platner auf das Hallersche Problem hin, das dann entsteht, wenn man einmal die Reizbarkeit strikt von der Sensibilität und den Nerven trennt und, wie das Haller im nachhinein auch tat, dann dennoch die Nerven als notwendiges Ingredienz der Irritabilität ansieht. »Es ist uns und vielen«, schreibt Unzer in seiner Rezension, »höchst wahrscheinlich, daß die eigentliche Reizbarkeit des Herrn von Hallers (nicht seine todte Kraft,) der Muskelfaser durch gar nichts anders eigen sey, als durch die Nerven«32. Angesichts dessen konnte es Unzer nicht anders als unangenehm berühren, wenn Platner als briefeschreibender Arzt seinen Freund fragt: »Aber sollten Sie wohl glauben, daß es noch ietzo
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Ebd., S. 83. Vgl. Plainer, Briefe eines Ar^es 1 (1770), S. 125, 322. Wn. [Antiqua; Rezensent: Johann August Unzer], Rezension des 1. Bd. der Platnencben Briefe eines Arztes an seinen Freund, über den menschlichen Körper (1771), in: AJfemeine deutsche Bibliothek 14(1771), S. 86. Ebd, S. 87. Ebd., S. 83f. Ebd, S. 86. Ebd, S. 87
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Schriftstellet giebt, welche von der Hallerischen Theorie [...] entweder nichts wissen, oder nichts erwähnen?«33
3. Plattlers mechanistischer Anthropologieentwurf von 1772 und seine zeitgenössischen Kritiker In diesem Abschnitt, der sich der Anthropologie von 1772 annimmt, wird es unter anderem darum gehen zu beobachten, ob Plainer die Kritik Unzers berücksichtigt, auf sie eingeht und, wenn ja, inwieweit er dies tut. Im Mittelpunkt stehen allerdings die Platnersche Anthropologiekonzeption und ihre physiologischen und philosophischen Anschauungen. Platners erster und einziger Band der Anthropologie für Arge und Weltweise erscheint kurz vor der Ostermesse des Jahres 1772, wahrscheinlich noch im März34. Sie ist als Grundriß für seine Vorlesungen konzipiert und gehört damit zur Gruppe der Kompendien. Er habe dafür die »aphoristische Schreibart« gewählt, in der er sich hier das erste Mal versucht, schreibt er, weil sie am geeignetsten zur Darstellung eines Entwurfes im Gegensatz zu einem System sei, in dem mehr »Fakta als Spekulationen« vorkommen und auch weniger Grundsätze und Folgen der Gedanken expliziert werden35. Der Aphorismus gewähre die Freiheit, »unbekümmert um die allgemeine Verständlichkeit«, Gedanken fest aneinander zu reihen36. Als ein Grundriß muß die Anthropologie (1772) dem Lehrling notgedrungen so lange unverständlich bleiben, bis ihn der Lehrer im akademischen Vortrage erläutert37. Die mit der aphoristischen Schreibart verbundene Dunkelheit und
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Plainer, Briefe eines Arztes 1 (1770), S. 133. Am Schluß der Vorrede, die vom 11. März 1772 dauert, berichtet Platner vom zweiten Teil der Anthropologie, der bereits fertig sei. Er sei sich allerdings nicht sicher, heißt es, ob er zur Ostermesse erscheinen wird (Platner, Anthropologie (1772), S. XXVII). Im Nachdruck der Anthropologie, den der Jenaer Professor der Anatomie und Chirurgie, Justus Christian Loder (1753-1832), 1787 in der Allgemeinen deutschen Bibliothek anzeigt, fehlen die Titelvignette mit den Bildnissen Hippokrates' und Piatons, die Bandangabe Erster Theil, die Jahreszahl, das Datum am Schluß der Vorrede und in der Vorrede (S. XXVII) eben jener Hinweis auf den zweiten Teil der Anthropologie; ebenso fehlen die Verbesserungen. Das Inhaltsverzeichnis befindet sich jetzt nicht mehr am Schluß des Bandes, sondern zwischen der Vorrede und dem Ersten Hüuptstück. Obwohl beide Ausgaben seitenzahlidentisch sind, unterscheiden sie sich doch hinsichtlich des Satzspiegels. Wenn Loder skeptisch schreibt: Ob dies [der Neudruck] »mit oder ohne Vorwissen des Verf. geschehn ist, weiß Recens, nicht anzugeben«, so ist das Problematische dieser Auflage aufs deutlichste benannt. Denn es steht in der Tat zu vermuten, daß der Verleger der Anthropologie von 1772, Johann Gottfried Dyk (17501815), diese Auflage eigenmächtig, ohne Einwilligung Platners, veranstaltete (vielleicht war es nur die Restauflage, deren Vorrede und Titelblatt er neu gestaltete). Denn Platner hätte aufgrund seines gewandelten Menschenbildes einer Neuauflage in den achtziger Jahren wohl keinesfalls zugestimmt. So bleibt die Neuauflage etwas Anachronistisches. Platner, Anthropologie (1772), Vorrede, S. XVIIIf. Ebd., Vorrede, S. XIX. Ebd., Vorrede, S. XXI.
Platners mechanistischer Anthropologieentwurf von 1772
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Lückenhaftigkeit würde zum Teil dadurch wettgemacht, daß die von den einzelnen Aphorismen geforderten Kommentare förmlich »in der Beobachtung und Erfahrung eines jeden Menschen« liegen, sich quasi empirisch selbst auslegen38. Die Anthropologie (1772) als ein »Probestück«, ähnlich dem Wezelschen Versuch über die Kenntniß des Menschen®, sei »mehr historisch als spekulativ« angelegt40 und beschäftige sich mit den »verschiedenen Verhältnissen, Empfindungen und Zuständen, welche wir täglich an uns selbst und an andern erfahren«41. Daß sie trotz des Bekenntnisses zum Empirischen nicht auf der Selbst- und Fremdbeobachtung fußt, sondern über weite Strecken spekulativ-metaphysisch verfahrt, wird im kommenden dargestellt. Hier sei nur so viel vorweggeschickt, daß Platner ganz im Gegensatz zu Wezel keinerlei empirische Belege anfuhrt. Da die Anthropologie für Λπφ und Weltweise (1772) nicht eigentlich eine Physiologie wie die Briefe eines Arges ist, sondern im Gegensatz zu jenen weit auf philosophisches Terrain ausgreift, kommen in ihr auch neue, bislang überhaupt noch nicht berührte Themen zur Sprache, die Psychologisches, vor allem aber den Gegenstand und die Methoden der neu zu begründenden Wissenschaft betreffen. Grundlegend für das anthropologische Denken der Hoch- und Spätaufklärung ist bekanntlich u. a. auch die Neubestimmung des Verhältnisses von Medizin und Philosophie. In Platners Anthropologie kulminiert dieses Denken in der Forderung einer philosophischen Bildung des Arztes. Seiner Meinung nach ist es von so fundamentaler Bedeutung fiiir den Mediziner von Profession, daß er wünscht, das Volk möge deshalb einen Arzt für gut erachten, weil er ein Philosoph ist42. Die von Platner anvisierte Synthese, die in dem Terminus philosophischer Arzt< ihren prägnanten Ausdruck findet, erhält in der Vorrede eine inhaltliche Bestimmung, der eine wissenschaftsgeschichtliche Betrachtung vorangestellt ist, die diese Synthese genetisch rechtfertigt. Das Titelblatt der Platnerschen Anthropologie von 1772 zieren die Porträts von Hippokrates (460-etwa zwischen 377 und 359 v. Chr.), dem Begründer der wissenschaftlichen Medizin, und Piaton (427-347 v. Chr.)43. Beide, der Arzt und der
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Ebd., Vorrede, S. XXIV. Muster seiner Anthropologie (1772) in Aufbau und Stil waren ihm die aphoristischen, ja »körnichten« Grundrisse Hermann Boerhaaves (1668-1738), Hieronymus Davidus Gaubius' (1705-1780) und Albrecht von Hallers (1708-1777) (ebd.). Ebd. Ebd., Vorrede, S. XXVI. Ebd. Ebd., Vorrede, S.VIII. Zu den antiken medizinischen Werken, die das Denken der Arzte bis in die Neuzeit auf das lebhafteste beschäftigten, gehört neben denen von Hippokrates, Aristoteles und Galen insbesondere Piatons Timaios mit seiner ausführlichen Krankheitsätiologie. Anders als man vielleicht vermuten könnte, finden sich darin sogar solche Maximen wie: »ohne Naturbeobachtung keine Medizin«. Noch J. G. Zimmermann schreibt im ersten Band Von der Erfahrung (1763,21786): »Plato der ein Zeitgenosse des Hypokrates gewesen, hat in seinem Timäus eine Art von System der theoretischen Arzneykunst hinterlassen« [Plat. Tim. 69a-92a] (Zimmermann, Von der Erfahrung 1 (1786), S. 80f.). - Platners Erwähnung der beiden, Hippokrates und Piaton, benennt nicht nur eine konkrete zeiträumliche und personelle Konstellation, sondern ist darüber hinaus metonymisch aufgeladen: wie
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Philosoph, lebten und wirkten im vierten und fünften vorchristlichen Jahrhundert, als noch Eintracht zwischen Philosophie und Medizin geherrscht habe. Danach entzweiten sie sich, was dem Wachstum der Medizin mehr Verlust denn Gewinn verschafft habe. Diesen Verfallsprozeß aufzuhalten und umzukehren, das hat sich Plainer mit seiner Anthropologie auf die Fahnen geschrieben. Die Mediziner nach Hippokrates hätten zunehmend den für ihre Wissenschaft grundlegenden Charakter der Philosophie als der »Wissenschaft des Menschen und anderer Körper und Geister« verkannt, die, und bereits hier kündigt sich Platners eudämonistische Grundhaltung an, für seine Natur und Glückseligkeit von grundsätzlicher Bedeutung ist44. Das Ideal eines Philosophie und Medizin in sich vereinigenden Arztes ist der philosophische Antf, der darum ein guter Arzt45 ist, weil er ein guter Philosoph ist46. Das gleiche gilt auch für einen guten Philosophen, der es nur dann ist, wenn er auch ein guter Arzt ist. Um den letzteren Fall ist Plainer nicht besorgt. Gute Philosophen, meint er ganz im Gegensatz zu Krüger, Unzer und Wezel, gebe es
in jenen Zeiten auch, sei es heute wieder nötig, daß der Arzt, Hippokrates, und der Weltweise, Piaton, ihre Bemühungen gemeinschaftlich bündeln, um die »bei aller Anstrengung der Kräfte des Hippokrates und des Plato noch immer [...] undurchdringliche Dunkelheit über die wahre Beschaffenheit der Seele und ihrer Vereinigung mit dem Leibe« aufzuhellen. Wenngleich eine »gänzliche Entwickelung dieses Chaos« einem höheren Verstand vorbehalten bleiben wird, so sei es doch nicht unrecht zu sagen, »daß Hr. P. den Weg zur Kenntnis der Seele und ihrer Wirkungen in den Leib etwas gebahnter gemacht habe« (L. [Anonymus], Rezension: Emst Plainer, Anthropologie fir Ange und Weltmeise. Erster TheiL Leipzig. 1772 (1774/75), S. 257). Vor dem Hintergrund dieser Einschätzung ist es nicht uninteressant, die von eben demselben Verfasser stammende Rezension des ersten Teiles von Wezeis Lebensgeschichte Tobias Knaufs, des Weisen, sonst der Stammler genannt (1773) durchzusehen. Darin zitiert dieser aus dem vierten Kapitel des Tobias Knauf folgenden Passus: »Vielleicht ist das medicinische Gewand, in welches ich meine Moral gehüllet habe, in unsern Tagen das schicklichste, wo unsere Weltweisen zum Theil in ihren Erklärungen von den unerklärbaren Wirkungen der Seele so medicinisch, so anatomisch geworden sind, daß wohl [nur] noch die übrigen Jahre dieses erleuchteten Jahrhunderts verfliessen müssen, um anatomische Theater für die Seelen errichtet und in den philosophischen Hörsälen Geisterskelete vorgezeigt und zergliedert zu sehen«, und merkt dazu, wenn auch Wezel dabei gänzlich mißverstehend, an: »Will der Verfasser hierdurch das Band zwischen dem Hippokrates und Plato lächerlich machen, und zerreissen, so möchte seine Bemühung sehr fruchtlos sein, weil es eine ausgemachte Wahrheit ist, daß nur die Einsicht in die Anatomie verbunden mit der Kenntniß psychologischer Wahrheiten eine angenehme und vortheilhafte Aussicht in die Natur der Seele gewähren kan« (L. [Anonymus], Rezension: Lebtnsgfschichte Tobias Knaufs des Weisen sonst Stammlers genannt. Aus Familiennacbrichten gesammkt. Erster Band bei Siegfried Lebrecht Crusius 1773 (1774/75), S. 346f.). 44 45
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Platner, Anthropolog/e (1772), Vorrede, S. III; vgl. auch ebd., Vorrede, S. VI. Das vollständig eingedeutschte griechische Lehnwort Arsf gelangte über das lat. anhuter ins Deutsche und wurde aus dem giiech. άρχιατρός — >Oberheiler< (dem Titel des antiken Hofarztes) entlehnt. Von der eigentlichen Berufsbezeichnung ιατρός ist auf dem Weg über das ahd. αΓζάΙ zum nhd. Anf nur das -t Übriggeblieben, während Dreiviertel des Wortes den Begriff >Ober-< wiedergibt (vgl. Lendle (1986), S. 22). Platner, Anthropologie (1772), Vorrede, S. VII. Mit dem Ideal vom philosophischen Arzt< knüpft Platner unmittelbar, wenn auch in modifizierter Form, an Johann Georg Zimmermanns philosophische Grundlegung der praktischen Medizin und ihrer Aufgipfelung im ärztlichen Genie an. Vgl. dazu die weiterfuhrenden Anmerkungen im Anhang.
Platners mechanistischer Anthropologieentwurf von 1772
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schon viele: »Die Moralphilosophen [wissen] mehr von dem menschlichen Körper [...], als die Ärzte von der Seele«47. Natürlich ist es nicht notwendig, daß der gute Arzt und der gute Philosoph die jeweils andere Wissenschaft in Gänze ausmessen und sich zu eigen machen. Sie sollen dies nur insoweit tun, als es für einen jeden von ihnen, für seine eigene Profession unabdingbar nötig ist: es geht nur darum einzusehen, inwieweit das jeweils andere Wissensgebiet aufgrund des Commercium mentis et corporis in das eigene hinüberspielt, es bedingt und beeinflußt48. Die Benennungen philosophischer Arzt< und >Anthropologe< sind keine Synonyme, da Platner die Wissenschaft, deren Gegenstand der Konnex von Körper und Geist ist, als ein Drittes neben Medizin und Philosophie inauguriert. Ein guter A n f ist dann derjenige, der ein >guter Medizinen und >guter Anthropologe< ist. Das Gleiche gilt für den >guten Philosophen^ der sowohl sein Fach wie auch das der Anthropologie exzellent beherrscht. Der Terminus philosophischer Arzt< ist nach der Platnerschen Begriffsbestimmung also ein polysemischer Ausdruck, der zwei unterschiedliche Bedeutungen hat, die aber durch das anthropologische Moment eng miteinander verwandt sind: er bezeichnet den >anthropologischen Arzt< ebenso wie den >anthropologischen Philosophen^9. Als Muster solcher
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Platner, Anthropologie (1772), Vorrede, S. IV. Platner schreibt einmal an anderer Stelle, als es um die Frage geht, ob der Arzt das metaphysische Problem des Wie der Interaktion von Körper und Geist einsehen müsse, er sei nur ein Arzt »und ein Philosoph nur insofern [...], in wiefern ich es als ein Mensch, als ein Arzt und als ein Lehrer meiner Meynung nach seyn muß« (ebd., Vorrede, S. XIII). Carl Christian Erhard Schmid (1761-1812), der Verfasser der überaus einflußreichen, auf Kantischen Grundsätzen aufbauenden Empirischen Psychologie, will ganz analog dazu, obwohl er den eingeschränkten Anthropologiebegriff Platners so nicht mitträgt, seine empirische Psychologie als eine »Anthropologische Psychologie« verstanden wissen (Schmid, Empirische Psychologie (1791), S. 14 § 5). Wenn dann später Jacob Friedrich Fries (1773-1843) schreibt: »Erhard Schmid bemerkte sehr früh, daß der Knoten der Kritik eigentlich in der Anthropologie gelöst werden müsse, aber das allgemeine Vorurtheil ließ ihn nicht zu Worte kommen« (Fries, Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft 1 (21828), S. 30), so hebt er auf den Unterschied zwischen logischer und metaphysischer Psychologie auf der einen Seite und psychologischer bzw. anthropologischer auf der anderen ab. Er illustriert den Unterschied folgendermaßen: der Grundsatz, jede Veränderung hat eine Ursache, sei metaphysisch; die Einsicht allerdings, daß dieser Grundsatz sich im menschlichen Verstand findet und die Art und Weise, wie er angewendet werden muß, sei eine transzendentale, psychologisch-anthropologische bzw. philosophisch-anthropologische (vgl ebd., S. 29, 31). — Die Verwendung des Terminus >Anthropologie* in der Kantischen und Nachkantischen Erkenntnistheorie zeigt deutlich, daß hier die spätaufklärerische holistische Bedeutung allenfalls noch nachhallt. Im Mittelpunkt steht nun nicht mehr das Commercium-Problem, sondern das Wechselspiel und -Verhältnis von Philosophie und Psychologie. Es ist in dieser Hinsicht äußerst aufschlußreich, einen kurzen Seitenblick auf Fries' terminologische Differenzierungen zu werfen. Drei Bedeutungen des Begriffs >Anthropologic< müßten wohl unterschieden werden: (a) die pragmatische, auf Menschen· als Weltkenntnis ausgerichtete Anthropologie, (b) die physiologische Anthropologie und (c) die vergleichende, oft irreführend >philosophische< genannte Anthropologie. Die physiologische Anthropologie läßt sich wiederum in zwei Disziplinen auffächern: (bi) die medizinische Anthropologie, die sich mit dem Äußeren des Menschen beschäftigt, und (tn) die dem Inneren des Menschen zugewandte psychische Anthropologie. Die vergleichende Anthropologie schließlich vergleicht das Äußere und Innere des Menschen und verbindet (bi) und (b2) (ebd., S. 34). Das Gebiet
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Mediziner, die zugleich >gelehrte Ärzte< sind, fuhrt Plainer Boerhaave, Haller, Tissot und J. G. Zimmermann ins Feld50. Es ist angesichts der Namen offensichtlich, daß Plainer im großen und ganzen, wie schon in den Briefen eines Arges (1770/71), die Hallerschen physiologischen Ansichten vertritt, sonst hätte er daneben sicherlich noch Stahl, Sauvages oder Whytt genannt. Platner definiert die >Philosophie< in der Anthropologe (1772) in einer von fern her an Wolffs Metaphysik51 erinnernden Weise als »Wissenschaft des Menschen und anderer Körper und Geister, welche zu seiner Natur ein Verhältnis und auf seine Glückseligkeit eine Beziehung haben«52. In den Philosophischen Aphorismen (1776) spricht Platner dann noch von einer »Philosophie im engsten Verstände«, die die Metaphysik verkörpere53. — Es ist an dieser Stelle nützlich, einen kurzen Blick auf Platners philosophisches Hauptwerk, die Philosophischen Aphorismen (1776/1782), zu werfen. Diese bestehen aus zwei gesondert publizierten Teilen: der erste, etwa Anfang 1775 gedruckte54, enthält die theoretische, der zweite die praktische Philosophie. Der erste Teil enthält vier Hauptstücke: (1) Über das Wesen der Seele; (2) Von den verschiedenen Arten der bildlichen Ideen; (3) Die Geschichte der Vernunft und (4) Die Geschichte der Ideen vom Möglichen und Notwendigen in Beziehung auf die wirkliche Welt. Die drei ersten Hauptstücke,
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der vergleichenden Anthropologie (sie allein ist das Erbe des holistischen Anthropologiebegriffs der Spätaufklärung) kann aber erst dann betreten werden, so Fries, »wenn die physiologische Theorie des menschlichen Körpers, und die anthropologische des menschlichen Geistes zu einer hinlänglichen Vollkommenheit gediehen« sind (ebd., S. 35). Vorerst müsse man sich damit begnügen, beide Gebiete der physiologischen Anthropologie, (bt) und (bî), gesondert zu erforschen. Er selbst habe sich mit seiner Neuen oder anthropologischen Kritik der Vernunft vorgenommen, im Rahmen der psychischen Anthropologie den menschlichen Geist als Gegenstand der inneren Erfahrung zu erforschen und zunächst im Rahmen der Erfahrungsseelenkunde zu beschreiben (historische Methode), um schließlich »zu einer inneren Naturlehre als einer Theorie der Vernunft« zu gelangen (philosophische Methode; ebd., S. 36). Dieser Teil der »inneren Anthropologie«, die eigentliche »philosophische Anthropologie«, die nicht mehr nur »Beschreibung der Vernunft« wie in der Erfahrungsseelenlehre, sondern »Theorie der Vernunft« ist (ebd., S. 37), ist es auch, die seinem Werk titelgebend vorsteht. Diese innere Naturlehre als das Pendant der äußeren als der Naturphilosophie (ebd., S. 36) ist es, die die »wahre Grunduntersuchung der Philosophie« (ebd., S. 37) ist; sie erst legt den »anthropologischen Gesichtspunkt« der Philosophie fest (ebd., S. 39). — Das, was die spätaufklärerische Anthropologie umhertrieb, die Vereinigung von Physik und Metaphysik, von Materiellem und Geistigem, scheint um 1800 nicht mehr im Zentrum philosophischer Fragestellungen zu stehen. Die umfassendere Frage nach der >Kenntniß des Menschern wurde eingeengt auf die >Selbst(er)kenntniß des Menschern, wie es besonders deutlich in der von Fries emphatisch vorgetragenen Programmatik zum Ausdruck kommt: »Selbsterkenntniß ist also die Forderung, Untersuchung der Vernunft, Kenntniß der innern Natur des Geistes, Anthropologie« (ebd., S. 32)1 Die Frage nach dem ganzen Menschen ist (vorübergehend) zurückgestellt. Platner, Antbmpologje (1772), Vorrede, S. VIII. Christian Wolff, Vernünftige Gedancken Von GOTT, Der Welt und der Seele des Menseben, Auch allen Dingen überhaupt ("1751). Platner, Anthropologie (1772), Vorrede, S. III. Platner, Philosophische Aphorismen 1 (1776), S. 225 § 719. Ebd., Venpchniß der angeführten Schiften [unpag.]: »Dieses Lehrbuch ist bis auf die letzten Bogen, schon länger als ein Jahr abgedruckt« (S. 9). Damit liegt die Zeit der Abfassung noch in unmittelbarer Nachbarschaft Tax AnthropologiefiirÀr^teund Weltreise (1772).
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die das traditionell der empirischen und rationalen Psychologie Zugehörige behandeln, bilden die »Logik« bzw. »pragmatische Seelengeschichte« 55 . D a s vierte Hauptstück liefert die Platnersche Metaphysik 56 . Sie setzt mit der Kosmologie als ihrer Grundlage ein und schließt mit der natürlichen Theologie als ihrem Endzweck 57 . Damit enthält die Metaphysik, wenn man sie mit der W ö l f i s c h e n vergleicht, v o n der allgemeinen Metaphysik ( m e t a p h y s t c a generali?) anscheinend nichts mehr, v o n der besonderen Metaphysik ( m e t a p h y s t c a specialis) nur noch die Gegenstände G o t t und Welt. Die Seele als dritte Hauptart des Seienden und ebenfalls Gegenstand der speziellen Metaphysik piaziert Plainer in der ihr vorangestellten Logik 58 . D e n Dingen überhaupt, die in der allgemeinen Metaphysik als Ontologie abgehandelt werden sollten, hat Plainer keinen konkreten Platz mehr in der Philosophie angewiesen, sondern sie den übrigen Untersuchungen einverleibt. Die Metaphysik in Platners Philosophischen Aphorismen v o n 1 7 7 6 hat also in ihrem formalen und inhaltlichen A u f b a u fast nichts mehr mit den alten Metaphysiken W o l f f s und Baumgartens (Ontologie, Kosmologie, empirische Psychologie, rationale Psychologie, natürliche Theologie) oder Crusius* (Ontologie, theoretische natürliche Theologie, Kosmologie, Pneumatologie) gemein. Seiner Metaphysik unterliegt ein grundsätzlicher Psychologismus, der die metaphysische Begründung v o n Leibniz erhält, inhaltlich aber v o n Meiners motiviert ist. — Die der Metaphy-
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»Die ersten drey Hauptstücke enthalten die psychologische Geschichte des menschlichen Erkenntnißvermögens [...] mit einem Worte [...], die Logik [...] [bzw.] pragmatische Seelengeschichte« (Platner, Philosophische Aphorismen 1 (1776), S. 1). »Die Metaphysik ist die Geschichte der Ideen vom Möglichen und Nothwendigen, in Beziehung auf die wirkliche Welt. Demnach ist sie ein Theil der Geschichte der menschlichen Seele, und folglich ein Hauptstück der Psychologie« (ebd., S. 226 § 721). »Die Philosophie im engsten Verstände ist die Metaphysik« (ebd., S. 226 § 719). Sie erforscht mit Hilfe der »Grundbegriffe vom Möglichen und Notwendigen, die wahre intellektuelle Welt« (ebd., S. 226 § 720). Platner trennt in Anlehnung an Leibniz strikt zwischen intelligibler und sinnlicher Welt. Die sinnliche Welt ist eine durch die Sinne vermittelte bloße »Scheinwelt« (ebd., S. 225 § 718) und Gegenstand der historischen Wissenschaften, die ihre allgemeinen Begriffe nur von relativen Ideen, d. h. Vorstellungen, abziehen können. Deshalb verharren sie stets in einer »sinnlichen und psychologischen Relativität« (ebd., S. 224 § 714). Positive Erkenntnis könne nur in der wahren intelligiblen Welt erlangt werden. Die »physischen Ideen« sind Begriffe von wirklichen bzw. scheinbaren Dingen, Eigenschaften und Relationen, die »metaphysischen« hingegen Begriffe von möglichen oder notwendigen (ebd., S. 223 § 713). - Leibniz, heißt es an anderer Stelle, habe den von Descartes gelieferten Beweis, daß die Seele nichts Ausgedehntes ist, vollendet und überzeugend nachgewiesen, »daß ausgedähnte Dinge ganz und gar nicht existiren könnten, und daß alle Ausdähnung, alle Materie nur ein Schein sey« (ebd., S. 261 § 804 Anm.). »Das vierte Hauptstück [...] enthält die Metaphysik, bey welcher ich mir die Theologie zum Endzweck gesetzt, und die Kosmologie zum Grunde gelegt habe. Die allgemeinen Begriffe, welche man unter dem Titel Ontologie insgemein vorauszusetzen pflegt, habe ich den Untersuchungen selbst eingewebt« (ebd., S. 1). Im Wolffschen Metaphysik-Begriff war die empirische Psychologie noch integraler Bestandteil Um die Mitte des 18. Jh. dann wird die empirische Psychologie mehr und mehr aus der Metaphysik verdrängt. In exemplarischer Weise läßt sich das bei Crusius beobachten, der die empirische Psychologie aus der Metaphysik mit dem Argument ausgrenzt, sie verbürge doch nur zufällige und keine notwendigen Wahrheiten (vgl. Crusius, Entwurf der nothwendigen Vernunft-Wahrheiten, wiefern sie dm qtfaUign entgegen gesetzt werden (1745), S. 821 f. § 424).
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sik votangestellte sog. Logik behandelt im Gegensatz zum metaphysisch Möglichen und Notwendigen das psychologisch Relative und zeichnet im Gegensatz zur begrifflichen die psychologische Entwicklung des menschlichen Erkenntnisvermögens nach. Dafür konnte Platner bereits in vielem auf das in der Anthropologe von 1772 Dargelegte zurückgreifen. So kann es nicht wundernehmen, wenn man in der »Logik« der Philosophischen Aphorismen (1776) häufig Gedanken der Anthropologie (1772) wiederfindet59. Die Anthropologie gehört im Platnerschen Verständnis ebenso wie die Medizin60 zur Philosophie, aber nicht zur Metaphysik. Sie betrachtet »Körper und Seele in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen«61 und greift also auf das Gebiet der Anatomie und Physiologie auf der Körperseite, auf psychologisches Terrain vom Seelischen her aus. Unter Psychologie versteht Platner, ganz im Sinne der psychologischen Revision der Philosophie (1772) Christoph Meiners, die der Metaphysik vorgeschaltete Logik. Die Anthropologie erstreckt sich also im eigentlichen Sinne nicht mehr auf metaphysisches Gebiet, ist der Metaphysik nicht zugehörig. Die philosophische Logik erhält bei Platner einen neuen Inhalt, indem er diese von den althergebrachten, in leerem und nichtssagendem aristotelischen Formalismus erstarrten Gehalten reinigt62. Ihr neuer Gehalt ist erkenntnistheoretisch-psychologischer Natur. Die Logik beschäftigt sich von nun ab nicht mit formalen, vom Subjekt völlig unabhängigen Bedeutungen und ihren Beziehungen — sie ist also keine Analytik. Sondern sie ist nunmehr die Wissenschaft von der Art und Weise, wie ein Subjekt aufgrund seiner psychophysischen Determination wahrnimmt, empfindet, denkt. — Die Logik ist insofern Denkpsychologie und Erkenntnistheorie. Der Mensch ist Platner zufolge weder Körper noch Seele allein, sondern die »Harmonie von beyden«63. Dieses Menschenbild sollte sich auch im Wissenschaftsgefüge widerspiegeln, so daß nicht mehr nur zwei, sondern drei Wissenschaften um die Erkenntnis des Menschen ringen: die Anatomie und Physiologie, die Psychologie, d. h. die Logik, Ästhetik und ein Großteil der Moralphilosophie sowie die Anthropologie. In keinem der drei Untersuchungsfelder ist der Mensch gleichermaßen Gegenstand der Untersuchung. Die Anatomie und Physiologie untersuchen die »Theile und Geschäfte der Maschine« an sich, ohne auf die Be-
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Vgl. auch die Rezensionen der Philosophischen Aphorismen (1776) in den Göttmgischen Anqeign von gelehrten Soeben (1777), S. 155 und in der Auserlesenen Bibliothek 11(1777), S. 450. Platner, Anthropologie (1772), Vorrede, S. IV. Ebd., Vorrede, S. XVII. Sonst verstand man unter Logik nur »ein Regelveizeichniß von den Erklärungen, Eintheilungen, Sätzen und Schlüssen« (Platner, Philosophische Aphorismen (1776), S. 1). Diese Gedanken gehören zum Gemeingut der Zeit; man begegnet ihnen beispielsweise im Hauptwerk des Erfurter Professorsjohann Christian Lossius (1743-1813), in den Physischen Ursachen des Wahren (1775), in denen er sich konkret auf Meiners Revision der Philosophie (1772) und Bonnets Essai de Psychologe (1755) bezieht (Lossius, Physische Ursachen des Wahren, Einleitung, S. 9f.). Platner, Anthropologie (1772), Vorrede, S. IV.
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einflussung der Körpermaschine durch die Seele und umgekehrt einzugehen64. Eine ebensolche separierende Ausrichtung charakterisiert die Psychologie 65 : auch sie thematisiert Wirkungen von und nach außen nicht, sondern widmet sich ausschließlich der Seele an sich. Die dritte Wissenschaftsdisziplin erst, die Anthropologie, betrachtet den Körper und die Seele »in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen zusammen«66. Sie ist infolgedessen nicht einfach die Summe von Anatomie, Physiologie und Psychologie; sie ist in dieser Hinsicht vielmehr weniger als diese, denn sie nimmt nur so viel aus beiden Wissenschaftsdisziplinen in sich auf, als sie »von der einen oder von der andern Seite eine Beziehung« auf das Commercium mentís et corporis haben 67 . Aus diesem Grunde ist es also unangebracht zu sagen, es handele sich bei der Anthropologie um eine Psychologie oder Physiologie und Anatomie 68 . Andererseits ist die Platnersche Anthropologie mehr als die anderen beiden Wissenschaftsdisziplinen, da sie einen Gegenstand behandelt, eben das Commercium, den die anderen per se aus ihrem Gesichtskreis verbannt haben. Die Anthropologie kann eine Grundlagenwissenschaft für die Medizin oder Psychologie sein, muß es aber nicht. Letzteres ist bei Ernst Platner der Fall. Das Verhältnis ist hier eher umgekehrt: die Psychologie bildet hier die Grundlagenwissenschaft. Er versucht auch nicht, mit seiner An-
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Ebd., Vorrede, S.XVf. Logik ist für Platner Psychologie, wobei er sich auf den Feder-Schüler und Fibernpsychologen Christoph Meiners (1747-1810) und dessen (psychologische) Revision der Philosophie (1772) bezieht (Platner, Anthropologie (1772), Vorrede, S. V). Der Einfluß der zeitgenössischen mechanischen bzw. physiologischen Psychologie Bonnetscher Provenienz wird hier besonders offenkundig. An anderer Stelle rechnet Platner neben der Logik auch die Ästhetik und Teile der Moralphilosophie zur Psychologie (Platner, Anthropologie (1772), Vorrede, S. XVI). - Im ersten Band seiner Revision der Philosophie (1772) schreibt Meiners, es sei weder möglich, Psychologie und Logik voneinander zu unterscheiden, noch die erstere auf die letztere folgen zu lassen (Meiners, Revision der Philosophie (1772), S. 164), da über Wahrheit und Irrtum nur auf empirisch-psychologischem Boden entschieden werden könne (ebd., S. 163). Meiners betrachtet Logik und Psychologie als Synonyme. Die strikte Trennung von Seinsgrund und Erkenntnisgrund wird hier, wie im Sensualismus überhaupt, beiseite geschoben. Die Psychologie allerdings unterscheidet Meiners dann doch wieder, je nachdem, in welcher Form sie auftritt: als Logik in ihrer herkömmlichen aristotelischen Form ist sie exotetische Logik, als Psychologie, die den Menschen mit seinen Empfindungen, Ideen und Kräften untersucht, ist sie »esoterische Logik« (ebd., S. 15). Als esoterische Logik verhält sie sich zur exotetischen wie die Äsopische Fabel zur angehängten Moral (ebd., S. 53f.; vgl. auch Dessoir (1964), S. 256 Anm. 1). Dieser Gedanke fand im Göttinger Kreis lebhafte Aufnahme; hier sei stellvertretend auf Michael Hißmanns (1752-1784) Psychologische Versuche ein Beitrag %ur esoterischen Logik (Frankfurt/Leipzig 1777, 21788) verwiesen. - In seinem Kursen Abriß der Psychologie (1773) gibt Meiners folgenden Grundriß der Philosophie an: Die Philosophie, von der alle mathematischen Wissenschaften und die Physik abgetrennt sind, ist »eine Wissenschaft des Menschen« (Meiners, Kurçr Abriß der Psychologe (1773), S. 6). Sie kann in einen theoretischen und einen praktischen Teil unterschieden werden (ebd.). Die theoretische Philosophie, meint Meiners, könne man Psychologie nennen (ebd., S. 7). In ihr und den aus »ihr abgeleiteten Wissenschaften ist die ganze Theorie des Menschen und der Philosophie enthalten« (ebd., S. 8). Damit kommt der Psychologie der Stellenwert einer Grundlagenwissenschaft zu. Platner, Anthropologe (1772), Vorrede, S. XVII. Ebd. Ebd.
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thropologie das gesamte empirische Wissen vom Menschen in einem Werk zu konzentrieren und den Menschen in seiner Ganzheit als einzigen Gegenstand dieser Wissenschaft zu postulieren. Platners Anthropologie konzentriert sich allein auf die Betrachtung und Erhellung des Commercium mentis et corporis, ein bis heute zentrales anthropologisches Thema. Insofern intendiert er auch nicht, eine möglichst allumfassende, Vollständigkeit heischende Enzyklopädie des Wissens vom Menschen zu erstellen. Platners restringiertem Anthropologiebegriff korrespondiert ein eingeschränkterer, nicht aufs Ganze des Menschen gerichteter anthropologischer Blick, wie er sich in der zweiten Hälfte des 18. Jh. öfter findet.69 Die Anthropologie als Wissenschaft dessen, was Körper und Geist in »ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen zusammengenommen« sind, kann und darf allerdings auch nicht als Wissenschaft vom Influxus pbysicus angesehen werden. Das will Plainer mit seiner Anthropologie nicht nur nicht leisten, sondern er kann es eigenem Eingeständnis zufolge auch nicht leisten, ja er muß es auch nicht leisten. Die Anthropologie kommt sehr gut auch ohne die Transparenz des physischen Einflusses als eines transeunten Vorganges aus. »Wenn man unter der Gemeinschaft der Seele mit dem Körper die Art und Weise versteht, wie aus den Ideen der Seele Bewegungen in der Materie entstehen, so [...] würde [es] die größte Unwissenheit verrathen, wenn man sich Hoffnung machen wollte dieses Geheimnis zu entdecken, oder gar sich einzubilden, es schon entdeckt zu haben«70. Das bedeutet freilich wiederum nicht, daß man gar nichts über das Verhältnis, in dem der Körper und die Seele zueinander stehen, beobachten könne. Die >Empfindungen< seien es, so Platner, die ihm von der Freiheit, gut oder böse zu handeln, Bescheid geben, die ihm sagen, »daß auf die Wirksamkeit gewisser Gegenstände Ideen in meiner Seele und aus Vorstellungen meiner Seele wieder Bewegungen meines Körpers erfolgen«71. Platner schließt sich damit der unisono herrschenden Auffassung an, wonach man über das Wie der Gemeinschaft von Körper und Seele, also über »die Art und Weise, wie aus Bewegungen der Materie in der Seele Ideen, und aus den Ideen der Seele Bewegungen in der Materie entstehen«, nichts herauszubringen hoffen kann72. Wohl könne man aber stattdessen die »gegenseitigen Verhältnisse der Seele und des Körpers« beobachten73. Dabei ist es dann vollkommen gleichgültig, ob das Commercium mentis et corporis mittels der vorherbestimmten Harmonie eines Leibniz, des Occasionalismus oder des reellen Influxus erklärt wird. Für das eigentliche anthropologische Anliegen ist das nicht von Interesse74, denn das Gebiet der Metaphysik wird vom Arzt nur insoweit berücksichtigt, als es für das Medizinische unbe-
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Vgl. Hartmann und Haedke (1963), S. 79. Platner, Anthropologie (1772), Vorrede, S. X. Ebd, Vorrede, S. XII. Ebd, Vorrede, S.X. Ebd, Vorrede, S. XL Ebd, Vorrede, S.XH.
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dingt nötig ist75. Deshalb könne man seine Anthropologe auch nicht als eine Psychologie ansehen, genausowenig, wie man im umgekehrten Sinne sagen könne, Locke, Condillac, Hume und Search hätten eine Anthropologie geschrieben76. An diesem Begründungsgang ist zunächst der darin herrschende binarische Schematismus augenfällig, der es erst möglich macht, zwei sich einander prinzipiell ausschließende Wissenschaften in einer dritten, neu zu begründenden Wissenschaftsdisziplin, der Anthropologie, zu vereinen77. Um über die Originalität des Gedankens ein angemessenes Urteil fallen zu können, ist es notwendig, sich die Frage vorzulegen, ob denn dieser Schematismus auch wirklich die Disziplinarität innerhalb der zeitgenössischen Wissenschaftslandschaft adäquat widerspiegelt. In Anbetracht der vielen, sich vom Empirischen strikt fernhaltenden rationalen Psychologien wird man das sicher zugeben können, nicht aber in Hinsicht auf die inzwischen ebenfalls zahlreichen empirischen Psychologien78. Gleiches kann man hinsichtlich der Physiologie konstatieren. Wird das Physiologische rein mechanisch verstanden und interpretiert, so grenzt die Physiologie fürwahr nur an die Psychologie, bleibt aber faktisch stets von ihr getrennt. Bleibt das Physiologische hingegen nicht bloß auf das Mechanische beschränkt, sondern bindet auch das Tierische mit ein, d. h. wird das Tier als ein aus Leib und Seele zusammengesetztes Wesen aufgefaßt, dann hält der Platnersche Schematismus und damit der Exklusivitäts- und Prioritätsanspruch seines Anthropologiebegriffs der Nachprüfung nicht stand. Mit anderen Worten: der Platnersche Anthropologiebegriff, der die Möglichkeit eines Vitalismus nicht einrechnet, resultiert aus einem starren antinomischen Mechanismus-Animismus-Denken. Vor dem Hintergrund der bereits gangbaren vitalistischen Theorie nimmt sich die Platnersche Anthropologiekonzeption mit ihrer starren Opposition, die ein Drittes neben Mechanismus und Animismus nicht kennt, dann zumindest etwas seltsam aus. Das erklärt unter anderem auch, wieso die Zeitgenossen das Platnersche Werk hinsichtlich seines in-
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Ebd., Vorrede, S.Xin. Ebd., Vorrede, S. XV. Platner gibt seinen Schematismus bereits in der Titelwahl zu erkennen, indem er eine Anthropologie »für Ärzte und Weltweise« verspricht. Vgl. Schubart, Deutsche Chronik. Vierte und fünfte heylage %ur Jeutscben Chronik. Band November und December 1774, S. 50£: »Da die Menscbenlebre zu Wolfs Zeiten gar nicht, oder doch bloß von den Ärzten getrieben wurde: so pries ich ihm [einem auf die zeitgenössischen Philosophen geringschätzig herabblickenden Gesprächspartner] den Anthropologen Plattner, der sich durch seine Anthropologie verdienter ums menschliche Geschlecht gemacht hat, als Stattler durch die acht schrecklichen Bände seines philosophischen Curs. Ich rühmte die einzige und beste Methode der neuern Weltweisen, die Seele in ihren Wirkungen zu überraschen, und von da auf ihr Wesen zurück zu schließen, anstatt daß man vorher in unsern Psychologien die Facultäten der Seele wie Inseln hinzeichnete, ohne den Ocean zu kennen, worauf diese Inseln schwimmen. Der Theorie der angenehmen und unangenehmen Empfindungen ist ein ganz neues Licht aufgestecket worden, und die Philosophie des Schönen ist ganz eine Erfindung unserer Zeit.« - Gemeint ist neben Platners Anthropologie (1772) die von dem Ingolstadt« Jesuiten Benedikt Stattler (1728-1797) in den Jahren 1769 bis 1772 veröffentlichte achtbändige Philosophia methodo scientiis propria explanata (Augustae Vindelicorum: Rieger 1769-1772), bestehend aus Logica, Ontologia, Cosmoioga, Psycbologia, Theologa naturalis, Pbysica generalis und zwei Bänden Physita particularis.
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novativen Moments gar nicht so positiv bewerteten, wie das heute vielfach geschieht Ein Rezensent schreibt beispielsweise: »Nur wundern wir uns, daß es der Herr Verf. ein Probestück nennet. Denn wir denken uns unter diesem Begriffe einen Versuch, der, wenigstens im Ganzen betrachtet, neu ist, und daher die Prüfung der Kenner verdienet. Wir aber müssen aufrichtig gestehen, daß wir darinnen ganz nichts Neues und Ausnehmendes, sondern durchgängig Compilation aus gewissen neuern Französischen Weltweisen, dem Bonnet, Helvet, Condollac u. a. entdecken können; fast alles Behauptungen die längst bekannt und untersucht worden sind, und welche zum Theil auch, wenigstens in dem /' Esprit des Helvetius, eine so schimpfliche als wohlverdiente Prüfung erfahren haben.«79 Und Christian Friedrich Daniel Schubart (1739-1791) spöttelte seinerzeit: »Meiner Seel! nun glaub' ichs fast, was der Anthropologe~Plattnersagt: die Seelen der Menschen stehen mit ihren Körpern im genauesten Verhältniße.«80 Konfrontiert man den Platnerschen Physiologie-Begriff beispielsweise mit dem Unzers, so wird der Unterschied besonders offenkundig. Unzer bestimmt den Unterschied der bislang üblichen Physiologie, zu der auch Platners Physiologie zu zählen ist, und der eigenen folgendermaßen: »Die gewöhnliche Physiologie betrachtet die Kräfte der thierischen Körper im natürlichen Zustande, so wie sie in ihrer Verbindung miteinander wirken, ohne die blos physischen und mechanischen von den eigentlichen thierischen abzusondern. Dieß setzt voraus, daß wir wissen, nach welchen Gesetzen jede dieser besondern Arten von Kräften für sich allein wirken? und mit den physischen und mechanischen, deren Gesetze wir kennen, hat es auch wirklich in den meisten Fällen keine Schwierigkeit. Fast unübertrefflich lehren uns die hallerischen Schriften den Mechanismum aller Theile des thierischen Körpers, in so fern ihre Verrichtungen nach den Gesetzen der Mechanick, Hydrostaück, Hydraulick, Optick, Akustick, etc. aus ihrer Strucktur folgen. Allein wissen wir wohl die Gesetze der eigentlichen thierischen Kräfte, nach welchen sie für sich, und von den physischen und mechanischen unabhänglich, die thierischen Körper regieren? Wahrhaftig! nein: wenigstens seh[r] unvollkommen. Die Gedanken und Begierden der Seele sind thierische bewegende Kräfte des thierischen Körpers. Wissen wir bis itzt wohl die Gesetze, nach welchen diese Kräfte seine Maschinen regen? oder haben wir uns bisher wohl viel darum bekümmert, sie bey jeder besondern Art der Vorstellungen oder Begierden zu beobachten?81 Mein Hauptzweck bestand darinn, es nur erst dahin zu bringen, daß man die Physiologie der eigentlichen thierischen Natur, als eine von der bisherigen allgemeinern Physiologie Jes ganzen Mechanismus des Körpers ganz abgesonderte Wissenschaft, und die Grenzen, die ich Beyden im Werke überall angewiesen, geneh-
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Anonymus, Rt^ertsion: Dr. Emst Platinen, der Arçnykunst Professori φ Leipzig, Anthropologe, fir Ârçte und Weltaeise. Erster Tbeil, Leipzig, in der Dyckischen Buchhandlung 1772, in: Kritische Sammlungen fur nettesten Geschichte der Gelehrsamkeit 2(1775),2, S. 251. Schubart, Deutsche Chronik 1(1774), S. 201f. Unzer, Physiologie (1771), Vorrede [unpag.], S. 2f.
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migen möchte.«82 Vor dem Hintergrund dieses Unzerschen Passus hebt sich deutlich der Platnersche mechanistisch geprägte Physiologie-Begriff ab, der ein dynamisch-vitalistisches Moment nicht kennt und keinesfalls mit dem Unzerschen zur Deckung kommt. Und entgegen der Platnerschen Ansicht, wonach die Physiologen bislang dem Commercium-Vtobiem keine Aufmerksamkeit geschenkt hätten, kann man bei Unzer lesen: »Die ganze Lehre von dem wechselweisen Einflüsse der Seele und des Körpers ineinander ist bisher in unsern Physiologien mangelhaft, ohne wahre Grundsätze, und theils verworren, theils irrig vorgetragen worden. Vermutlich rühret dieses daher, weil die Ärzte gemeiniglich, außer der Naturlehre, zu wenig theoretische Phylosophie und am wenigsten Psychologie wissen: gleichsam als ob die Seelenlehre zur Wissenschaft der Natur des menschlichen Körpers gar nicht vonnöthen wäre.«83 Unzer versteigt sich also keineswegs zu der Behauptung, die Physiologen hätten die wechselseitige Beeinflussung von Körper und Geist überhaupt noch nicht behandelt. Er räumt nur ein, daß das bislang sehr mangelhaft geschehen sei. Plainer kann also für sich nicht beanspruchen, eine Wissenschaft gehaltlich neu begründet und konzipiert zu haben. Allenfalls kann er für sich reklamieren, dem anthropologischen Denken mit seinem Werk einen weithin sichtbaren Ausdruck verliehen und dafür den titelgebenden Begriff Anthropologie als gangbare Münze in Umlauf gebracht zu haben. Nachdem der konzeptionelle Ansatz Platners herausgearbeitet ist, wird es nunmehr darum gehen, die Anthropologie in ihrem systematischen Aufbau zu skizzieren und auf bestimmte inhaltliche Gesichtspunkte näherhin zu befragen. Sie werden im nachstehenden in zwei Rubriken zur Sprache kommen, einmal als Skizze der neuroanatomischen und —physiologischen Anschauungen Platners und ein anderes Mal als Beschreibung von dessen Genie-Konzeption. Der erste Abschnitt ergibt sich aus den bisherigen Schwerpunktsetzungen der Arbeit, das letztere geschieht im Vorgriff auf die später zu besprechende Platner-WezelStreitigkeit. Plainer unterteilt den ersten Band der Anthropologie (1772) in sieben Hauptstükke, die wiederum in Lehren und einzelne Paragraphen aufgefächert sind. Die einzelnen Hauptstücke sind wie folgt betitelt: Erstes Hauptstück Zweites Hauptstück Drittes Hauptstück Viertes Hauptstück Fünftes Hauptstück Sechstes Hauptstück Siebentes Hauptstück
«2 Ebd., Vorrede [unpag.],S. 17. 83 Ebd, Vorrede [unpag.], S. 10.
Vorerkenntnis und Grundlehre der Anthropologie Von der Erzeugung der Ideen Von dem Gedächtnis Von der Phantasie Von der Vernunft und ihren verschiedenen Äußerungen Theorie der Krankheiten, welche aus der Anstrengung des Geistes entstehen Vom Genie
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Bereits die Kapitelüberschriften zeigen, daß es in dem ersten Anthropologe-Band (1772) vornehmlich um die sog. höheren Seelenvermögen geht. Das erste Hauptstück entfaltet zunächst das anthropologische Terrain, steckt genau ab, was es beinhaltet, wodurch es bedingt ist und was an Medizinischem und Psychologischem in einem Verhältnis zum Anthropologischen steht. Es finden sich darin also Lehrsätze aus der Anatomie, Physiologie, der empirischen und der rationalen Psychologie.84 So werden unter anderem die geläufige Auffassung von der gestuften Natur des Menschen entwickelt, seine Teilhabe an Materiellem und Geistigem aufgewiesen, das Wesen der Seele und die Gemeinschaft von Körper und Geist behandelt, ein Seelensitz behauptet und die Wirklichkeit der Seele aufgrund des Selbstgefühls konstatiert. Die Hauptstücke zwei bis fünf und sieben widmen sich der Erhellung des denkpsychologischen Prozesses. Das sechste Hauptstück fallt etwas aus dem Rahmen. In ihm stellt Platner die Gefahren und Folgen der Überanstrengung des Geistes für den Körper dar. Im Anschluß daran, im siebenten Hauptstück, wird kontrastiv zum vorhergehenden, dem Pathologischen gewidmeten Abschnitt, das Moment der positiven Außerordentlichkeit, die »ausnehmende Vollkommenheit der Erkenntniskräfte«85, unter der Rubrik »Genie« behandelt. — Soweit der formale Aufbau des ersten Teils der Anthropologie. Bevor Platners neuroanatomische und —physiologische Anschauungen zur Sprache kommen, ist es nützlich, seine psychologischen Vorstellungen kennenzulernen. Grundsätzlich wählt Platner zur Bestimmung des Menschen einen teleologischen Ansatz: will man dessen Natur kennen lernen, müsse man zuvor den Endzweck seiner Einrichtung bestimmen; erst danach könne man ihn mit anderen Geschöpfen vergleichen86. Die teleologische Bestimmung macht die gesamte erste Lehre des ersten Hauptstückes aus. Die Endabsicht des Schöpfers bei der Erschaffung des Menschen sei dessen uneingeschränkte Glückseligkeit gewesen87, weswegen er ihm die Vernunft verliehen habe. »Seine Glückseligkeit besteht«, so Platner, »in dem wahren Gebrauche der Vernunft« als der Unterscheidung von Wahrem und Falschem88. Die Seele als eine vom Körper verschiedene Substanz89 wird als etwas wirklich Existierendes aus dem Selbstgefühl bewiesen90, da sich deren Wesen nicht aus der Vernunft, sondern nur aus der Erfahrung mittels des Selbstgefühls erkennen lasse91. Sie ist vom Körper in der Hinsicht abhängig, als sie sich nur dasjenige
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Die Fragen nach dem Wesen und Sitz der Seele, ihrer Freiheit und Unsterblichkeit gehören tradidonell der rationalen Psychologie zu; das Physiologische rechnete man zur empirischen Psychologie· Platner, Anthropokgu (1772), S. 249 § 721. Ebd., S. 3 § 1. Ebd., S. 10 §§ 32f. Ebd., S. 12f. §§ 42f. Genauer gesagt versteht Platner unter >Seele< die einzig existierende Substanz (ebd., S. 24 § 88). Ebd., S. 13-16 §§ 45-60. Ebd., S. 33 §118.
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vorstellen kann, was ihr vom Körper an Sinnesdaten von der äußeren Welt zugetragen wird. Hinsichtlich dieses relativierenden erkenntnistheoretischen Perspektivismus gleichen sich Wezel und Platner. Die der Seele vom Körper zugeführten Sinnesdaten sind ihr nicht direkt zugänglich; sie sind quasi zu grob und bedürfen einer Verfeinerung durch das Gehirn. Das Gehirn stellt die Gegenstände der Welt verfeinert vor und ist sozusagen ein »Spiegel welcher die Welt der Seele nach der Lage ihres Körpers [d. h. aus einer bestimmten Perspektive] verfeinert vorstellt«92. Die Seele verfugt über zwei Grundkräfte, eine obere, die Denk- bzw. Vorstellungskraft, und eine niedere, das Wollen93. Hinsichtlich der Frage nach der Existenz eingeborener Ideen schließt er sich hier noch Lockes Leugnung derselben an. Vier Jahre später aber, im ersten Band der Philosophischen Aphorismen (1776) folgt er dann der zwischen Descartes und Locke vermittelnden Sichtweise Leibniz'. Nunmehr läßt er sich die bereits vorhandenen angeborenen Begriffe aus Anlaß der sinnlichen Vorstellungen entwickeln. Die Frage nach der Natur des Commercium mentis et corporis findet erwartungsgemäß weder in der Anthropologie (1772) noch in den Philosophischen Aphorismen (1776) eine definitive Beantwortung. Einmal sieht es so aus, als wolle er einen wechselseitigen reellen Inßuxus behaupten, ein anderes Mal hat es den Anschein, als wollte er dem Leibniz'schen Parallelismus den Vorzug geben. So schreibt er an einer Stelle beispielsweise: »Die Gemeinschaft der Seele und des Körpers ist [...] eine gegenseitige Abhängigkeit — der Seele von dem Körper in Ansehung des Denkens, und des Körpers von der Seele in Ansehung gewisser Bewegungen.«94 Schon im darauffolgenden Paragraphen heißt es aber in deutlicher Anlehnung an Crusius: »Die Seele steht [...] mit dem Körper in einen simultanen Verhältnisse. Dinge die in einen simultanen Verhältnisse miteinander stehen, sind außer einander und beysammen. Also sind Leib und Seele beysammen.«95 Daß seine Reflexionen bezüglich des Seelensitzes der Leibniz'schen Monadentheorie widerstreiten, sieht Platner deutlich. Vorbehaldos erklärt er sich dann auch gegen die Vorstellung von der Seele als einer Monade; stattdessen sei sie ein Atom96 und als
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Ebd, S. 36 § 131. »Der Ursprung aller Ideen ist [...] die sinnliche Empfindung. Die Absicht der sinnlichen Empfindung ist eine verkleinerte Vorstellung der Gegenstände der Welt und ihrer Eigenschaften« (ebd, S. 57 § 202). >Verkleinert< verwendet Platner synonym zu >verfeinert< (ebd, S. 35 § 130). Ebd, S. 31 §§ llOf. In der Neuen Anthropologie (1790) nimmt Platner dann neben dem Erkenntnisund Begehrungs- bzw. Bestrebungsvermögen auch ein Empfindungsvermögen an. - Die Ablösung der alten dichotomischen Einteilung der Seelenvermögen in Denken und Begehren setzt mit Mendelssohns Hinzunahme des ästhetischen Gefühls ein und wird erstmalig von Johann Nicolas Tetens begrifflich scharf gefaßt (Tetens, Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entvickelung 1 (1777), S. 166 und Bd. 2 (1777), S. 374; vgl. dazu auch Sommer (1892), S. 136). Platner, Anthropologe (1772), S. 37 §§ 138f. Ebd, S. 37 § 139. In den Philosophischen Aphorismen (1776) kommt er in den Paragraphen 97-105 (S. 33-36) ebenfalls auf das Problem zu sprechen. Obwohl er sich auch hier nicht in eindeutiger Weise erklärt, hat es doch den Anschein, als neige er dem Leibniz'schen Parallelismus zu. Platner, Anthropologie (1772), S. 38 § 141, S. 22 § 81.
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solches ausgedehnt, abet nicht materiell97. Die Annahme det Immaterialität und Substantiality der Seele war traditionelles Gemeingut der Zeit. Dennoch sah man sich mit der Behauptung eines Seelensitzes gezwungen, die Eigenschaft der Ausgedehntheit der Seele zu postulieren. Auch Johann Nicolaus Tetens (1736-1807) belehnt diesen Gedanken und spricht unter Rückverweis auf Andreas Rüdiger (1673-1731), Joachim Georg Daries (1714-1791), Johann Bernhard Basedow (1723-1790) und Friedrich Karl Kasimir Creutz (1724-1770) von einer »ideellen Ausdehnung«. Unverkennbar ist hier das erneute Bestreben, an die Leibniz'sche Unterscheidung vom physischen und metaphysischen Punkte anzuknüpfen. Diesen eher spekulativen Kapiteln möchte Platner allerdings keine große Bedeutung zugemessen wissen98. Weit wichtiger sind ihm seine Gedanken zum Stellenwert des Seelischen im menschlichen bzw. tierischen Haushalt. »Alle unwillkührliche Bewegungen des Körpers, oder die Bewegungen des mechanischen Lebens, entstehen wie in den Pflanzen ohne Einfluß einer Seele.«99 Damit grenzt er sich aufs neue in eindeutiger und entschiedener Weise vom Psychovitalismus ab, wie es nach den erst kürzlich erschienenen Briefeη eines Arges (1770/1771) auch nicht anders zu erwarten war.100 Der Mensch hat an verschiedenen Stufen des Lebens Anteil: mit den Tieren und Pflanzen hat er mechanisches Leben101, mit den Tieren das geistige gemein. Das geistige Leben ist folglich ein ζωικόν, die Vernunft als ein allein dem Menschen Zukommendes ein άνθρωπινόν 1 0 2 . Die Seele kann das durch eine »lebendige« Kraft, die Hallersche Irritabilität, angetriebene und unterhaltene mechanische Leben (den Umlauf der Flüssigkeiten) weder »erwecken, einschränken« noch »anstrengen«103. Die Seelenwirkungen sind fur das mechanische Leben von Mensch und Tier »weder hinreichend, noch nothwendig«104. Allein der Mechanismus zeichnet für die erhaltungsdienlichen Funktionen des pflanzlichen, tierischen und menschlichen Körpers verantwortlich105. Selbstredend kann man die Seele daher nicht als »Meisterinn des mechani-
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Ebd, S. 25-30 §§ 89-106. Ebd., Vorrede, S. XHIf. Ebd., S. 51 § 185.
100 Vgl. auch ebd., S. 165 § 501: »So gewis bisweilen in unsern Gliedern Bewegungen entstehen, welche in keiner vorhergegangenen Vorstellung, sondern bloß in dem Mechanismus gegründet sind«. >01 »Das mechanische Leben [...] ist eine regelmäßige Bewegung der flüssigen Materien in angemessenen Kanälen« (ebd., S. 4 § 4). — Mit dem Zusatz »in angemessenen Kanälen« scheint Platner Unzers Kritik berücksichtigt zu haben, daß zum Leben neben den flüssigen auch die festen Teile von Bedeutung sind. 102 Ebd., S. 3 § 2. 103 Ebd., S. 5 §§ 7-12. «» E b d , S. 5 § 8. 105 »Absicht und Folge des mechanischen Lebens in Pflanzen, Thieren und Menschen, ist Wohlstand, Vollkommenheit, Schönheit, Erhaltung der Maschine im Ganzen und in einzelnen Theilen« (ebd, S.4§5).
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sehen Lebens« bezeichnen106. Das geistige Leben als das eigentlich Tierische gibt dem Tier das für die Existenz nötige Empfindungsvermögen und ermöglicht ihm damit »zu empfinden, die Gegenstände in der Natur zu erkennen, und diejenigen, welche zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse geschickt sind, zu wählen«107. Zur Beschaffenheit des Tieres gehört demnach unwidersprechlich die Seele; auch das Tier ist ein gemischtes, aus Körper und Seele bestehendes Wesen108. Augenscheinlich hat Platner die von Unzer angemahnte bedachtsamere Übernahme Hallerscher Gedanken nicht berücksichtigt. Weder vermeidet er den Mechanismus bei der Erklärung der erhaltungsdienlichen Funktionen noch den Animismus oder vielmehr Rationalismus bei der Definition des Tierischen. Platners psychologische Erklärungen des Wahrnehmens, Empfindens und Erkennens sind unlösbar mit seinen neuroanatomischen und —physiologischen Voraussetzungen verknüpft. Ausgehend von dem Crusius'schen Satz: »Alles was existirt muß irgendwo seyn, daß heißt mit gewissen andern existirenden Dingen in einen Verhältnisse des Orts stehen«109, leitet Platner den Sitz der Seele im Körper her und lokalisiert ihn im Gehirnmark110. Wie der gesamte menschliche Körper ist das Gehirn, hierin folgt er Boerhaave111, ein »Eingeweide«, ein »System von Kanälen«112. Die Peripherie des Gehirns bilden die gröberen Kanäle der Blut- und Lymphgefäße; zum Zentrum hin verjüngen sich die Kanäle immer mehr und werden zunehmend feiner, bis sie nur noch als uniforme weiße Masse wahrgenommen werden können: das ist das Gehirnmark. Für Platner besteht das Gehirn also in deutlicher Absetzung zur zeitgenössischen Fibernphysiologie à la Bonnet nicht aus Fasern bzw. Fibern, sondern aus Kanälen, so daß es im Gehirn auch keine Oszillation von Fibern, kein Ziehen und Schwingen geben kann113. Die Seele ist ebensowenig, wie Robert Whytt (1714-1766) meint, ubiquitär im gesamten Körper verbreitet114; ihr Sitz ist weder im Blut, im Herzen, im Kleinhirn noch im Magen115. Gleich abwegig sei es, nur einen gewissen Teil des Gehirnmarks als Seelensitz zu betrachten; das Gehirnmark als Ganzes ist der Sitz der Seele116,
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Ebd, S. 5 § 12. Ebd., S. 7 § 16. Ebd., S. 7 § 17. Ebd., S. 37f. § 140. Vgl. Crusius, Entwurf der notbwendigen Vernunft-Wahrheiten, wiefern sie dm ^ufilligm entgegen gesetzt werden [^Metaphysik] (1745), S. 76f. § 48: »Die beiden Hauptbegiiffe also, die in dem Begriffe der Existenz liegen, und welche wir nunmehro zu erklären haben, sind das vbi & quando, oder der Begriff des Raums und der Zeit im weitesten Verstände. Und die beyden Hauptaxiomata aus dem Begriffe der Existenz sind eben diese, daß alles, was ist, irgendwo seyn, oder sieh in irgend einem Räume mittelbar oder unmittelbar befinden müsse. Und ferner, daß alles, was ist, irgend einmal oder φ irgend einer Zeit ist.« Platner, Anthropologie (1772), S. 38 § 143, S. 45 § 163. Vgl. Benzenhöfer (1993), S. 24. Platner, Anthropologie (1772), S. 39 § 144. Ebd., S. 40f. § 150,41 § 154. Ebd., S. 45f. § 167. Ebd., S. 46f. §§ 170-172. Ebd., S. 47 § 173.
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woraus ganz folgerichtig geschlossen werden kann, daß kein Teil des Gehirns mehr oder weniger wichtig fur die Erhaltung des Lebens ist117. Diese vielen empirisch gesicherten Erkenntnissen widersprechende These ergibt sich konsequenterweise aus Platners Nervensaft-Hypothese, wonach es gleich sei, an welcher Stelle das Kanälchensystem beschädigt und zerstört werde: entscheidend sei nur der gestörte oder beeinträchtigte Fluß des Nervensafts118. Im Gehirn wird aus dem Blut der Nervensaft bzw. der Lebensgeist als allerfeinster Teil des Blutes abgesondert und bewegt. Entsprechend der Nervensafttheorie sind die Nerven »dünne Bündel von markichten Kanälen«119. Die gegenteilige Auffassung vom Nerv als einer oszillierenden Fiber wird, wie oben bereits erwähnt, strikt abgewiesen: »Die Nerven wirken nicht als Fäden, sondern als Kanäle d. i. vermittelst der in ihnen fließenden Lebensgeister.«120 Welche Voraussetzungen müssen nunmehr erfüllt sein, damit es zu einer Vorstellung eines äußeren Gegenstandes kommt? Plainer hält vier Bedingungen für eine Apperzeption hinreichend: (1) »Eine Wirkung der Objekte in das äußere sinnliche Werkzeug.« (2) »Eine Fortpflanzung und Impression dieser Wirkung im Gehirnmark.« (3) »Eine Bewegung im Gehirnmark, welche die Aufmerksamkeit der Seele zur Empfindung der Impression reizt.« (4) »Ein gewisser Actus der Seele oder eine geistige Vorstellung des Objekts.«121 Die äußeren Objekte wirken auf die »Empfindungsnerven«, indem sie ihnen mittels »Stoß« äußere sinnliche Impressionen mitteilen (1). Die durch die Lebensgeister bis ins Gehirn vermittelte Bewegung der äußeren sinnlichen Impression bewirkt in dem weichen Gehirnmark eine »innere Impression (idea materiali's, simulacrum vestigium, imago, effigies ideae)«m. Von der inneren Impression könne vermutet werden, daß sie »in Ansehung der Form ähnlich wie ein Abdruck seinem Originale«, d. h. den »Gegenständen körperlich ähnlich« ist123; sie wird gleichsam dem »Gehirnmark eingedrückt« (2)124. Träger der vom Nervensaft ins Gehirn transportierten äußeren Eindrücke ist das Gehirn. Es übernimmt von der Seele die Funktion des Gedächtnisses125. Über die Art und Weise der Repräsentation der Gedächtnisideen im Gehirn gibt es
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Ebd., S. 48 § 174. Ebd., S. 48 § 175. Ebd., S. 41 §151. Ebd., S. 41 § 153. Platner vermeidet aber auch hier nicht in genügendem Maße eine zweideutige Ausdrucksweise. So spricht er einmal, als es um das Gedächtnis geht, von einer »Bewegung der markichten Fasern« des Gehirns und eben nicht von Röhrchen (ebd., S. 118 § 375). Ebd., S. 60 § 216; vgl. auch Platner, Philosophische Aphorismen 1 (1776), S. 41 § 119. Platner, Anthropologie (1772), S. 63f. §§ 223-225, S. 65 § 232. Ebd., S. 66 § 236. Ebd., S. 69 § 240. Ebd., S. 118f. § 376. Damit nimmt Platner unmittelbar einen genuin Bonnetschen Gedanken auf und modifiziert ihn entsprechend seiner Nervensaft-Hypothese.
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Platner zufolge zwei unterschiedliche Erklärungsansätze: einen humoralen und einen solidaren. Üblicherweise werde angenommen, es handele sich um »feine Bewegungen des Gehirnmarks«126, wobei das Gehirn und die die sinnlichen Empfindungsimpressionen ins Gehirn leitenden Empfindungsnerven als oszillierende »Fasern« aufgefaßt werden127. Die Nerven sind jedoch, wie oben bereits dargetan worden ist, keine festen Fasern, sondern bestehen als »Abkömmlinge des Gehirnmarks« aus einer weichen Substanz. Es sei also »wider die Analogie« anzunehmen, die »Fasern des Gehirnmarks« handelten »durch schwingende Bewegungen«128. Die sinnlichen Empfindungsimpressionen sind, wie auch die nur dem Grade der Lebhaftigkeit und Stärke nach davon unterschiedenen Gedächtniseindrücke, Impressionen im Gehirnmark als »die letzte Wirkung der [...] Bewegung des Nervensafts«129. »Je stärker und zugleich regelmäßiger dieser Stoß des Nervensafts ist, desto dauerhafter ist der Eindruck« im Gehirnmark130. Die Assoziation der Ideen wird durch eine Verbindung der Gedächtnisimpressionen untereinander gewährleistet. Diese »besteht überhaupt in einem mechanischen Verhältnisse der Gehirnimpressionen untereinander«131. »Mechanisch« heißt hier so viel wie: »ähnliche innere Impressionen [...] [erregen] ähnliche Bewegungen des Nervensafts«132. Die Qualität eines Gedächtnisses bemißt sich nach der Lebhaftigkeit der Lebensgeisterbewegung und der »Reizbarkeit der Gehirnfaßern« (sie!) ebenso, wie nach der »Weite oder Durchflüssigkeit der markichten Röhren« des Gehirns133. Hatte er oben allein die humorale Funktionsweise gelten lassen134, so tritt an dieser Stelle die solidare hinzu. Die festen Teile sind die Bedingung eines freien ungehemmten Laufs des Nervensafts. Damit erklärt Platner mentale, nicht psychische Prozesse durchgängig physiologisch mit Hilfe der Nervensaft-Hypothese. Er selbst bezeichnet beispielsweise seine Erklärung der Gedächtnis-Phänomene (Erinnerung) als »physische Theorie von der Erinnerung«, die »Übung des Gedächtnisses« als eine »Übung der Gehirnröhrchen«135.
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Ebd., S. 121 § 382. Ebd., S. 122 § 383. Ebd., S. 122 § 384. Ebd., S. 121 § 382. Ebd., S. 126 § 393. Ebd., S. 142 § 437. Ebd., S. 145 § 442. Ebd., S. 154 § 468. Ebd., S. 121f. §§ 382-384. Ebd., S. 157 § 480. - Das erinnert an Descartes' Vergleich der hohlen, markfadendurchzogenen Nervenfasern, sog. Gedächtnisfasern, mit kleinen dünnen Blei- oder Wachsröhrchen, die sich entsprechend des Spiritusdruckes verbiegen (Descartes, Über den Menschen (1632), S. 102). An Descartes knüpft Nicole Malebranche (1638-1715) mit einem ganz ähnlichen Bild zur Erklärung des Gedächtnisses an: »Gleich den Zweigen eines Baumes«, heißt es in der Recherche de ¡a vérité (1674), »welche, wenn sie gebogen sind, behalten sie [die Fibern], wenn die Lebensgeister und die Wirk-
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Wenn Platner, ganz im Gegensatz zu seinen oben gemachten anatomischen Ausführungen, jetzt das Gehirn nicht mehr nur aus Röhrchen, sondern auch aus Fasern bestehen läßt, die in der Lage sind, Eindrücke aufzunehmen und zu speichern, so sucht er damit unverkennbar an die zeitgenössische mechanische bzw. fibernpsychologische Gedächtnis- und Assoziationstheorie anzuknüpfen. Nur indem er die Güte des Gedächtnisses abhängig sein läßt von der Beschaffenheit einmal der festen Teile und das andere Mal von der Qualität und Quantität der Lebensgeister, modifiziert er zugleich deren mechanisch-solide Lehre durch die zusätzliche Aufnahme des Humoralen136. Mit dieser mechanischen Gedächtnislehre ist unmittelbar Platners Genie-Lehre verbunden, die im nachstehenden kurz dargestellt werden soll, bevor auf die Rezeption der Platnerschen Anthropologie von 1772 bei den Zeitgenossen eingegangen wird. Der Theorie von der Aufmerksamkeit als eines unbewußten seelischen Impulses zur Aneignung und Umgestaltung von Vorstellungen (Apperzeption) und selektiver Reizwahrnehmung kommt in einer solchen Konzeption herausragende Bedeutung zu. Sie erwächst aus der immer noch angenommenen Existenz einer selbsttätigen Seele und dem daneben vorhandenen Gehirn, das eine Vielzahl klassischer Seelenfunktionen übernommen hat. Auf ihr fußt die willkürliche Reproduktion von Vorstellungen, wodurch sie zur fundamentalen Voraussetzung jedweder Denkfähigkeit geworden ist. Die Lebensgeister im Gehirn, genauer in der grauen Substanz als dem zweiten Lebensgeisterkreislauf, haben nur die Funktion, der Seele die mentalen Repräsentationen, sprich: die materiellen Ideen gleichsam anzubieten und sie zu stimulieren, »selbsttätig« ihre Aufmerksamkeit bestimmten Eindrücken zu widmen. »Aufmerksamkeit« ist die Richtung der Erkenntniskraft auf eine gewisse Idee137. Dabei geht zunächst von dem inneren Eindruck, der materiellen Idee, ein »Reiz« aus. Die daraufhin von der Seele den Ideen geschenkte Aufmerksamkeit ist eine von ihr ungewollte, eine »unwillkührliche Aufmerksamkeit«. Daneben gibt es noch eine willkürliche Aufmerksamkeit der Seele, wozu sie sich selbst bestimmt, ohne sich um die von den materiellen Ideen ausgehenden Reizungen zu kümmern. Eine solche Aufmerksamkeit, die kurz »Reflexion« genannt werden könne, ist niemals ohne Anstrengungen138.
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samkeit anderer Körper in ihnen Eindrücke gemacht haben, eine geraume Zeit eine Leichtigkeit, sie alsdann von neuem zu empfangen. Diese Leichtigkeit aber ist das Gedächtnis, weil vir an dieselben Gegenstände denken, wenn das Gehirn dieselben Eindrücke wieder erhält« (Malebranche, Erforschung der Wahrheit 1 (1920)^,1,5 § 3). Platner, Anthropologe (1772), S. 109 § 352. Ebd., S. 203 § 599. Ebd. Unschwer läßt sich darin Descartes' Unterscheidung von admiration (spontane sinnliche Aufmerksamkeit bzw. der Anstoß dazu) und attention (willentliche Aufmerksamkeit) erkennen (Descartes, LES PASSIONS DE L'AME, §§ 70ff. (Paris 1649)). Ihr folgen u. a. Georg Friedrich Meier, Arrfangsgriinde aller schönen Wissenschaften 2 (Halle 1749), § 297, Hermann Samuel Reimarus, Die Vemunftlehrt als eine Anweisung tçtm richtigen Gebrauch der Vernunft in der Erkenntnis der Wahrheit (Hamburg 1766), S. 28 § 37: »willkürliche und unwillkürliche Beachtung«, Edward Search, Das Liebt der Natur 1/1 (Göttingen und Gotha 1771), S. 361 und 501: »willkührliche« und »mechani-
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Die Erweckung der »Aufmerksamkeit der Seele« auf bestimmte innere Impressionen im Gehirnmark wird durch den zweiten Lebensgeisterkreislauf, die Bewegung der Lebensgeister in den »markichten Kanälchen des Gehirns«, realisiert139. Die Annahme einer zweiten Nervensaftbewegung ist notwendig, da empirisch gewiß ist, daß nicht jeder äußere Eindruck gleichermaßen von der Seele wahrgenommen wird140. Damit ist die Aufmerksamkeit der Seele zwangsläufig von den inneren Bewegungen der Lebensgeister abhängig (3)141. Aus der »innren Impression« im Gehirnmark entsteht eine »geistige Idee«, aber nur dann, wenn sie »einen gewissen von der Natur bestimmten Grad der Lebhaftigkeit hat«. Diese Stärke läßt in der Seele »das Bewußtseyn und die Überzeugung von der Wirklichkeit eines außer ihr existirenden Objekts entstehen«, eben eine »geistige Idee«142. Die geistige Idee ist unter diesen Umständen kein Leiden der Seele, sondern deren Handeln, wobei über das Wie dieses Zustandekommens keinerlei Aufklärung zu erwarten sei, da es sich der menschlichen Erkenntnis vollständig entziehe (4). Statt des Leibniz'schen Systems der vorherbestimmten Harmonie und des Cartesischen der veranlassenden Ursachen vertritt Plainer hier den »reellen Einfluß des Körpers, oder des Gehirns in die Seele«143 unter Zugrundelegung einer vermittelnden Nervensaftbewegung144. Grundlage der psychophysischen Wechselwirkung bildet nunmehr die Anschauung, nach der die materiellen Elemente und die Seele beide Male einfache Substanzen seien und insofern durchaus ineinander wirken können145. Dabei handele es sich dann jedoch keineswegs um »Materialismus«, versichert Platner, denn es wird nicht behauptet, der Nervensaft »berühre« die Seele146. Die Aufmerksamkeit bildet sozusagen das Nadelöhr, durch das die sinnlichen Eindrücke hindurch müssen, um von der Seele in entsprechender Weise vergeische« Aufmerksamkeit, Johann Bernhard Basedow, Ekmentamerk. Eingeordneter Vorratb aller nöthigm Erkenntniß Unterrichte derJugend von Anfang bis ins academiscbe Alter 1 (Dessau 1774), S. 171: »unvorsetzliche« und »vorsetzliche« Aufmerksamkeit und Dietetich Tiedemann, Untmuchungm über den Menseben 1 (1777), S. 98ff.: »willküdiche« und »unwillkürliche« Aufmerksamkeit. Auch Johann Nicolas Tetens (1777) macht im Gegensatz zu Charles Bonnet diese Unterscheidung (vgl. Schubert (1909), S. 102). - Die Diskussion um das Wesen der Aufmerksamkeit hält das gesamte 18. Jh. an und reicht noch bis weit ins 19. Jh. hinein. Vor allem galt es zu ermitteln, ob sie etwas Passives oder Aktives ist. Als einen passiven Zustand hat sie Étienne Bonnot de Condillac aufgefaßt; dagegen erhob Bonnet leidenschaftlich Einspruch, dem sich auch Tetens anschloß. Die Seele ist bei Bonnet ein nur scheinbar »passiver«, keineswegs aber »gleichgültiger« Zuschauer. Indem sie sich der zerebralen Manifestationen bewußt wird und einer bestimmten unter ihnen ihre Aufmerksamkeit schenkt, sie anderen im gleichen Atemzug entzieht, handelt sie frei aus Interesse (Bonnet, Analytischer Versuch 1 (1770), S. 200 § 328; vgl. auch S. 297 § 532). 139 Platner, Anthropologie (1772), S. 70 § 242. 140 Ebd., S. 69 § 240. 141 Ebd., S. 71 § 243. 142 Ebd., S. 84 § 284. 143 Ebd., S. 91 § 301. 144 Ebd., S. 92 1 303. 145 Ebd., S. 92 § 305. 144 Ebd., S. 93 § 307.
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stígt und damit zu Empfindungen qualifiziert werden zu können. Die Seele ist nicht fáhig, alle sinnlichen Eindrücke wahrzunehmen und die wahrgenommenen in vollem Umfange aufzufassen. Insofern ist sie begrenzt. Platner nennt den Wahrnehmungsumfang der Seele ihren »Gesichtskreis« 147 . D e n »Gesichtskreis« bestimmen aber nicht nur die Fähigkeiten der Seele, sondern auch die Eigenschaften der sinnlichen Werkzeuge. Er amalgamiert auf diese Weise den objektivistischen mit dem subjektivistischen wahrnehmungsphysiologischen Ansatz. Mit der vollkommenen Herauslösung des Gedächtnisses aus dem Bezirk des Seelischen und der partiellen Einbettung der Phantasie ins Körperlich-Zerebrale werden klassische psychische Kernbereiche zu etwas rein Mechanischem, zu Funktionen der Nervensaft-Bewegung. 1 4 8 D a die Seele mit ihrer Denkkraft essentiell auf die A r t und Weise der Repräsentation der Eindrücke im Gehirn angewiesen ist, physiologisch gesprochen: auf die ordentliche und lebhafte Bewegung des Nervensaftes, so beeinträchtigen Fehler in der Bewegung des Nervensaftes zugleich die Vernunft. Das bedeutet eine prinzipielle Abhängigkeit der Seele v o m K ö r p e r , der Vernunft v o n den K o n stitutionsbedingungen des Körpers wie Klima, Alter, Temperament etc. 149 . K ö r perliche Abhängigkeit der Seele besagt anderseits aber nicht, daß sie der Körper-
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Ebd., S. 161 § 490. Auf Platners Anschluß an die Bonnetsche mechanische Psychologie wurde bereits hingewiesen. Dieser hatte dasjenige, was noch Leibniz und Wolff (letzterem zufolge entsprang die Phantasie ausnahmslos der Selbstmacht der Seele) die vornehmste Aufgabe der Seele gewesen war, nämlich Ideen zu bewahren und hervorzubringen, also Produktion, Reproduktion und Repräsentation von Ideen, allein dem Gehirn zugesprochen. Der Seele kam danach nur noch die Aufgabe zu, auf Gehirnflberbewegungen zu reagieren oder sie zu verstärken (vgl. Speck (1897), S. 517). Bei Hißmann heißt es dann ganz unmißverständlich, »daß alle[f) unsre Seelenkräfte nichts als Anspannungen und Anstrengungen gewisser Organen des Gehirns, und daß Ideen, Urtheile und Schlüsse nichts, als die Resultate aus diesen Veränderungen und Anstrengungen der inneren Organen sind« (Hißmann, Geschichte der Lehn von der Association der Ideen (1777), S. 91). Das Gedächtnis und die Phantasie werden von ihm im Gegensatz zur älteren Psychologie mit Hilfe der mechanischen Ideenassoziadon als ein Spiel der Fibern erklärt, so daß er sich ganz und gar berechtigt sah, von einem »Mechanismus der Ideen« zu sprechen. In der Assoziationspsychologie fällt so unversehens das Prärogativ des Intellektuellen im Begriff vom Menschen, da die meisten, bei manchen alle, Seelenoperationen nur noch Modi der Ideenassoziation sind. Der Mensch ist jetzt nichts mehr als »ein empfindendes Prinzipium mit dieser einzigen Eigenschaft p. e. der Ideenassoziation]« (Priesdey (1778), S. 32). Damit tendiert die Assoziationspsychologie zu einer konsequenten Naturalisierung und Historisierung geistiger und moralischer Werte. - Platner geht allerdings nicht ganz so weit, mit Bonnet die Phantasie allein zerebral zu erklären und läßt sie vom Zusammenwirken beider, des Gehirns und der Seele, abhängig sein: »Die Phantasie ist, wie die Erinnerung, aus einem Geschäfte des Gehirns und einer Handlung der Seele zusammengesetzt Jenes besteht in gewissen Bewegungen des Nervensafts, und ist die mechanische Phantasie. Dies ist die geistige Vorstellung der Seele« (Platner, Anthropologie (1772), S. 159 § 484). - Dieser »halbherzige« Anschluß an Bonnet wurde Platner denn auch von den Fibernpsychologen vorgehalten. Ein Rezensent meinte beispielsweise: »Die Abhandlung von den Sinnen, von dem Gedächtnis, von der Erinnerung, von der Phantasie wäre vielleicht noch besser ausgefallen, wenn der Verfasser den Bonnet mehr genutzet hätte« (L. [Anonymus], Rezension: Emst Plainer, Anthropologe für Ärge und Weltweise. Erster TheiL Leipzig. 1772 (1774/75), S. 262). VgL auch die weiterfuhrenden Anmerkungen im Anhang. Platner, Anthrvpologie (1772), S. 195 § 579.
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konstitution vollkommen ausgeliefert ist und nicht selbst zum Endzweck des menschlichen Daseins, dem seine Glückseligkeit allein verbürgenden »wahren Gebrauche der Vernunft« 1 5 0 , beitragen kann. Im Gegenteil, ohne Vernunft sind weder Empfindung noch Gedächtnis als Bewußtgewordenes überhaupt möglich^. V o n hier nimmt Platners Genie-Konzeption ihren Ausgang. Das Genie ist etwas Außerordentliches im positiven Sinne hinsichtlich des Geistigen — nicht immer allerdings in Rücksicht auf das Körperliche — und als solches klar v o m Psychopathologischen, nicht aber v o m Physiopathologischen verschieden. 1 5 2 Psychologisch läßt es sich als ein Vermögen beschreiben, ähnliche oder in einem anderen Verhältnis zueinander stehende Ideen äußerst geschwind zu verbinden 1 5 3 . Die Verbindung selbst ist kein ausnahmslos willkürlicher Akt. Neben der willkürlichen Neuordnung der zerebral repräsentierten materiellen Ideen bzw. Gedächt-
Ebd., S. 13 § 44. Ebd, S. 186 § 556. 152 Mitunter können sogar, so Platner, körperliche Mißbildungen wie Wirbelsäulenverkrümmungen Voraussetzungen für vorzügliches Genie sein. Bereits in den Briefen eines Arges brachte Platner das Genie mit der Deformation des Rückgrats in einen solchen Zusammenhang (Platner, Briefe eines Arges 1 (1770), S. 391f.). Carl Gottlob Küttner, der Rezensent AOriginalgenies< sich hier nicht nur auf die Stürmer und Dränger mit ihrer Genie-Ästhetik bezieht. 156 Ebd., S. 249 § 721. - Der Ausgang von Jean-Baptiste Dubos' (1670-1742) Geniedefinition ist hier besonders augenfällig. In seinen Réflexions critiqua sur la poesie et sur ¡a peinture (1719) wird Genie als die »Geschicklichkeit [definiert], die ein Mensch von Natur empfangen hat, gewisse Dinge gut und leicht zu verrichten, die von andern, auch mit vieler Mühe, nur sehr schlecht pflegen gemacht zu werden« (zit. nach Sulzer, Entoitktlung Jes Begriffs vom Genie (1773), S. 308). Dubos war es auch, der das Genie hervorragender Maler und Dichter bereits aus einer »glücklichen Anordnung ihrer Himorgane« (un arrangment heureux des organes du cerveau) sowie der besonderen Qualität ihres Blutes resultieren Heß (vgl. Allesch (1987), S. 171 und Ortland (2001), S. 682f.). 157 Platner, Anthropologe (1772), S. 282 § 812. 158 Ebd., S. 283 § 814. »Die geschwinde Verbindung ähnlicher, oder in Verhältnis stehender Ideen, ist Genie im weitesten Verstände« (ebd., S. 146 § 445). Die mechanische Verbindung bringt die Ideen in eine bestimmte Reihung, die Grundlage der Assoziationsketten (ebd., S. 146f. § 446). Physiologisch gesprochen: »die in einer Impression erregte Bewegung des Nervensafts« induziert eine ähnliche Bewegung des Nervensafts »nach einer gewissen Ordnung« (ebd., S. 148 § 451). Genie wird so zu einer primär mechanischen Eigenschaft des Nervensafts. 154 155
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schauenden Deutlichkeit der Vorstellungen und Begriffe« besteht, metaphorisch gesprochen, in einer »Erleuchtung der Seele«159. Das »allgemeine Genie«, auch »Universalgenie« genannt, gilt es angesichts der überaus umfänglichen Voraussetzungen vom »besonderen Genie« zu unterscheiden. Hat jenes in toto eine ausnehmende Vollkommenheit der Erkenntniskräfte und die Fähigkeit, diese stets vorzüglich in Anwendving zu bringen, so gilt das für das besondere Genie nur in Teilbereichen. Es weiß seine vorzüglichen Erkenntniskräfte lediglich auf einen beschränkten Gegenstandsbereich in einer gewissen Hinsicht anzuwenden160. Die besonderen Genies können nach den bei ihnen in einer außerordentlichen Weise ausgeprägten Erkenntniskräften unterschieden werden. Die jeweilige Erkenntniskraft entscheidet darüber, welche Art von Vorstellungen und Begriffen zu einer besonders anschaulichen Deutlichkeit gebracht werden. Prinzipiell sollte zwischen drei Gattungen besonderer Genies unterschieden werden: I. dem Genie in der sinnlichen Wahrnehmung (»Genie in der Beobachtung«161), Π. demjenigen in der Phantasie (»Genie in der Einbildungskraft«162) und
Ebd., S. 250 § 722. Ebd, S. 249f. § 721. 161 Ebd., S. 253-262 §§ 728-755. - Platner knüpft mit seiner Lehre vom »beobachtenden Genie« an Johann Georg Zimmermanns Von der Erfahrung (Zürich 1763/64) an (vgl. Platner, Philosophische Aphorismen 1 (1776), S. 71 § 237). — Die Platnersche Genie-Konzeption unterscheidet sich dennoch wesentlich von derjenigen Zimmermanns, obgleich sie in Einzelheiten durchaus Parallelen aufweist. So definiert Zimmermann beispielsweise »Genie« als »einen hohen Grad der Vollkommenheit aller Erkenntnisvermögen, oder einen hohen Grad von Verstand mit einem hohen Grade von Witz p. e. Einbildungskraft]« (Zimmermann, Von der Erfahrung 2 P1786), S. 337f.). Ähnliches liest man bei Platner, der dem Genie »eine ausnehmende Vollkommenheit der Erkenntniskräfte« bescheinigt, über die es mit einer »vorzüglichen Leichtigkeit« zu verfugen in der Lage ist (Platner, Anthropologie (1772), S. 249 § 721). Die Differenz beider Genie-Lehren beruht neben Platners mechanischem Psychologismus u. a. auf den unterschiedlichen vermögenspsychologischen Voraussetzungen: Zimmermann geht von einer Verstand-Einbildungskraft-Dichotomie aus, Platner hingegen von einer Trichotomie sinnlicher Wahrnehmung - Einbildungskraft — Erfindungskraft. Aus dem wechselseitigen Verhältnis von Einbildungskraft und Verstand leitet Zimmermann drei Genie-Arten ab: (a) das Genie der Dichter, bei dem die Einbildungskraft im Verhältnis zum Verstand klar überwiegt; (b) das Genie der Natudehrer und Mathematiker, bei dem das Verhältnis sich genau umgekehrt gestaltet, und (c) das Genie des Staatsmannes, Generals und Arztes, bei dem sich beide, Verstand und Einbildungskraft, in einem ausgewogenen Verhältnis auf höchstmöglichem Niveau befinden (J. G. Zimmermann, Von Jtr Erfahrung 2 ρΠβό), S. 343). Das Genie der letzten Gattung sticht damit vor den anderen noch besonders ab, ja es ist das eigentliche Genie. Als ein solches muß man »nacheinander ganze Reihen von Begriffen Stück für Stück übersehen; man muß sich diese Begriffe in der genauesten Ordnung und in der grösten Deutlichkeit vorstellen; man muß das zusammengesetzte in das einfache auflösen, das aufgelöste wieder zusammensetzen; man muß ganze Reihen Bilder übersehen, alles sich zu eigen machen, allem neue Gestalten und ein neues Leben schaffen können. Die Einbildungskraft macht diesen Weg geschwind und unsicher, der Verstand macht ihn langsam und sicher, das Genie sicher und geschwind. Also ist die Einbildungskraft in ihrer grösten Stärke und der Verstand in seiner ganzen Grösse das Genie« (ebd., S. 339). 162 Platner, Anthropologe (1772), S. 262-269 §§ 756-776. 159
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ΠΙ. dem im Denken (»Genie in der Erfindung«163). Die erste Art von Genie bringt vor allem sinnlich gegenwärtige, die zweite abwesende und die dritte abstrahierte Begriffe und Vorstellungen zu ausnehmender Deutlichkeit. Bei allen Arten des Genies ist die »Aufmerksamkeit«, im Gegensatz zu der der übrigen Menschen, weit mehr willkürlich-seelischer als unwillkürlich-körperlicher Art 1 ". Das »Genie in der Beobachtung« (I) des sinnlich Gegenwärtigen kann wiederum in dreierlei Typen auftreten: (1) als Genie der analytischen, (2) als Genie der spekulativen und (3) als Genie der praktischen Beobachtung. Die analytische Beobachtung geht förmlich in der Zergliederung des Gegenstandes und seiner nächsten Verhältnisse auf. Letzteres läßt sich vor allem für Naturforscher reklamieren. (1). Beobachtende Genies, die das Wahrgenommene sogleich in allgemeine Zusammenhänge einzubetten pflegen, können spekulative Genies in der Beobachtung genannt werden. Diese Art repräsentieren zumeist die Philosophen (2). Diejenigen aber, die ihre Beobachtungen sogleich auf praktische Anwendungsfälle beziehen, sind Genies der praktischen Beobachtung. Sie finden sich vorzüglich unter den praktischen Ärzten und Unternehmern (3)165. Als Beispiele führt Plainer u. a. Leibniz an, der nur spekulatives Genie, und Buffon sowie Aristoteles, die analytisches und spekulatives zugleich gehabt hätten. Alle drei Typen beobachtender Genies fänden sich in Boerhaave vereinigt, der damit den vollkommenen Arzt verkörpere166. Das »Genie in der Einbildungskraft« (II) zeigt sich vor allem dann, wenn es gilt, mittels der Einbildungskraft die Brücke vom sinnlich Gegenwärtigen zum vormals sinnlich Gegebenen, nun aber Abwesenden, zu schlagen, um dadurch das bloß Fragmentarische zu komplettieren. Das Moment des Brückenschlags, der Übersicht, kann struktureller, räumlicher und zeitlicher Natur sein. Daher ist es angebracht, fünf Arten von Genies in der Einbildungskraft zu unterscheiden: dasjenige Genie, das sich (1) durch die Fähigkeit der Übersicht bei makroskopischen Strukturen zeigt (Mechaniker167), (2) das Genie, das sich in räumlicher Hinsicht zeigt (Geograph, Astronom, Feldherr168), (3) das Genie in Hinsicht auf zeitlich-räumliche Ereignisse (Historiker16^) und (4) das Genie in Hinsicht auf
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Ebd., S. 269-278 §§ 777-800. Im Verlaufe seiner Ausführungen tendiert Platner dann doch dazu, das Genie nicht mehr ausschließlich an die vorzüglichen Erkenntniskräfte zu koppeln. In einer Anmerkung verweist er auf den zweiten, leider nie publizierten Teil der Anthropologe, in dem er sich zum »praktischen Genie« ebenso äußern will wie über den Anteil, den die »Empfindungen und Leidenschaften an verschiedenen Äußerungen des Genies«, z. B. dem Enthusiasmus, haben (ebd., S. 281 §811). Ebd., S. 253 § 730. Ebd., S. 254 §§ 732f. Ebd, S. 259 § 747 - ein weiteres Indiz für Platners Mechanismus. Ebd., S. 264f. § 763. Ebd., S. 265f. § 764. Ebd., S. 265 § 765.
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mikroskopische Strukturen (Chemiker, Feinmechaniker170). Wenn sich die anschauende Deutlichkeit nicht nur auf das Tatsächliche, sondern gleichermaßen auch auf das Symbolische der Vorstellungen und Begriffe ausweitet und auf diese Weise Abstraktes versinnlicht, dann hat man es (5) mit dem Genie der Redner, Dichter, Künstler und Schauspieler 2u tun171. Das »Genie in der Erfindung« (ΙΠ) vermag insbesondere, abstrakte Begriffe und Vorstellungen mit anschaulicher Deutlichkeit hervorzubringen. »Erfinden« kann dabei zweierlei bedeuten: einmal heißt es soviel wie »entdecken«, hervorziehen (1), das andere Mal »erfinden« im engeren bzw. eigentlichen Sinne (2).172 »Entdeckung« führt dabei in erster Linie das heuristische Moment mit sich, »Erfindung« mehr das kompositorisch verfahrende Kreative. Der Grund von Entdeckungen ist »verborgen und wundersam«173; die dabei vorwaltende »analogische Einsicht« des Genies in das »verborgene Ahnliche [ist] mehr ein plötzliches Gefühl und ein geheimer Zug der Seele, als eine deutliche Einsicht des Verstandes«174. Diese Art von entdeckendem Genie (1) verkörpert niemand mehr als ein Arzt, meint Platner mit Hinweis auf Johann Georg Zimmermanns Von der 'Erfahrung (1763/64), der zu Recht das Genie eines großen Arztes mit dem Genie eines Staatsmannes und Feldherrn gleichgesetzt habe175. Denn gleich einem Feldherrn, der in der Schlacht in kurzer Zeit weitreichende Entscheidungen zu fallen hat, die vielen das Leben retten oder den Tod bringen können, sieht auch ein Arzt zuweilen sein Genie herausgefordert, wenn er innerhalb einer Viertelstunde die Ursache eines Anfalls entdecken muß, um das Leben des Patienten zu retten176.
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Ebd., S. 265f. § 766. E b d , S. 268 § 776. Ursprünglich fielen im Deutschen entdecken« und >erfinden< hinsichtlich ihrer Bedeutungsgehalte zusammen. Erst im Verlauf des 18. Jh. begann man, beides strenger voneinander zu scheiden. Ebd., S. 271 § 781. Ebd., S. 270 § 781. »Ich habe die Arzneykunst mit der Staatskunst und der Kriegskunst in die gleiche Classe gesetzet, weil sie von den gleichen Fähigkeiten der Seele und von der gleichen Art Genie abhängt Ein Arzt ist in dem eigentlichsten Verstände ein eben so erhabener Geist als ein grosser General, und darum ist ein hoher Grad der Vollkommenheit in der Kunst zu heilen eben so selten, als ein hoher Grad der Vollkommenheit in der Kunst zu töden« (Zimmermann, Von der Erfahrung 2 ^Πβό), S. 347f.). Platner, Anthropologe (1772), S. 271 § 781 Anm. - Cad Gottlob Küttner (1753-1805), Rezensent der Platnerschen Anthropologie (1772) in der Neuen Bibliothek der schönen Wissensehaften und der freyen Künste, schreibt dazu: »Die Astronomen, die Hr. PI vorhin (in 1(3)] bey den Ärzten vergessen hatte, haben ihm zu danken, daß er sie nun in eine noch vornehmere Gesellschaft bringt, auch auf die Gefahr, daß ein Spötter dabey an eine bekannte Ähnlichkeit zwischen Feldherrn und Arzte denken möchte« (K.[üttner], Rezension: Emst Platners Anthropologie furÀnfe und Weltweisen. Erster Theil. Leipzig in der Dykischen Buchhandlung (1773), S. 233). Und in der Tat wird Wezel diesen Gedanken aufgreifen und während seiner Streitigkeit mit Platner im Winter 1781/82 in einem Epigramm auf Platner alias »Doktor Pumpelmus« unbarmherzig geißeln. Darin heißt es u. a.: »Dem Doktor Pumpelmus fiel einmal ein, / Den Arzt und General zusammen zu vergleichen: / Man fand die Ähnlichkeit zu weit gesucht; allein / Schränkt die Vergleichung nur auf Pumpelmusen ein, / So kan nichts ähnlicher, auf dieser Erde seyn; / Denn Beide machen Leichetm (in: Papiere von Johann Karl IVeçel vider D. Emst Platnem von letztem nebst einem Vorberitht herausgegeben, Leipzig: A. F. Böhm
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Die eigentliche Erfindung (2) besteht in der »Hervorbringung eines neuen Ganzen durch Zusammensetzung neuer Verhältnisse«177. Das neue Ganze ist dann entweder eine logisch konsistente und syllogistisch verschweißte Lehre, oder aber ein materielles bzw. geistiges Werk178. Zu den materiellen Werken sind die Gerätschaften des Handwerks, der Medizin und des Kriegswesens zu zählen, zu den geistigen gehören die Produkte der redenden, zeichnenden und bildenden Künste179. Wie bei den anderen Arten des besonderen Genies180 gibt Plainer auch hier die psychologischen und physiologischen Grundlagen des besonderen Genies an. Zu den psychologischen rechnet er eine »lebhafte« und ausgebreitete mechanische Phantasie, eine »lebhafte« Einbildungskraft und die »besondere« Fähigkeit der Seele, Ideen und deren Verhältnisse untereinander schnell zu ordnen und zu kombinieren181. Der physikalische Grund des erfinderischen Genies liege in einer »ganz sonderbaren« Beschaffenheit der Sinne und des Gehirns, die den Gehirnimpressionen eine »ganz besondere« Gestalt verleiht, in einer »besonderen« Beschaffenheit der Lebensgeister des Gehirns, die den Gehirnimpressionen gegen die Seele eine »besondere« Richtung und in der Seele eine »eigene« Gestalt geben, sowie in »besonderen« Verhältnissen der Gehirnkanälchen zueinander, die für eine »ganz eigene« Assoziation der Gehirnimpressionen sorgen182. Es ist auffällig, daß Platner, bemüht, psychologische und physiologische Gründe der Außerordentlichkeit der Erkenntniskräfte des Genies anzugeben, wiederum nur auf eine Außerordentlichkeit des Körpers und der Seele verweisen kann. Damit aber kommt er einer Erklärung des Phänomens selbst nicht näher, vielmehr verschiebt er das Problem nur. Zu guter Letzt sei noch ein kurzer Blick auf seine oben schon kurz berührte und schließlich unausgeführt gebliebene Konzeption vom Original-Genie geworfen. »Ein Genie, in dessen Werken auch die kleinsten Stücke eigene d. h. sonderbare, und nach der natürlichen Association seltene Zusammensetzungen sind, ist ein Originalgenie: man nennt es bisweilen Laune«183. Der psychologische Grund des Originalgenies, dessen Synonym >Laune< ist, liegt in einer »Neigung und Fertigkeit der Seele«, sinnliche und abstrakte Gegenstände resp. Ideen »von einer eigenen Seite zu betrachten, von welcher sie die Menschen sonst am wenigsten zu betrachten pflegen«184. >Laune< wird hier also nicht so sehr als psychologische Ei-
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[1781], S. 15). - >Pumpelmus< ist wohl eine Kompositumbildung aus >der Pumpek und >das MusPumpel< bezeichnete seinerzeit in Leipzig einen unbeholfenen, langsam agierenden Menschen, ähnlich dem >Dusselmetaphysischen Besen< über den empirischen Unterschied von lebendiger und toter K r a f t rigide hinweg. 244 Zu guter
Ebd., S. 383. Ebd., S. 383f. Hier hebt Platner auf die gängige Unterscheidung zwischen dem seelischen Vermögen (animus), das besser mit dem Terminus >Gemüt< wiedergegeben wird, und der seelischen Substanz (anima) als der eigentlichen sog. >Seele< ab. Dieselbe Differenzierung untedegt dann 1796 Kant seiner als Anhang der Soemmerringschen Abhandlung Über das Organ der Seele beigedruckten Replik. In einer Fußnote heißt es da u. a.: »Unter Gemiith versteht man nur das die gegebenen Vorstellungen zusammensetzende und die Einheit der empirischen Apperception bewirkende Vermögen (animus), noch nicht die Substanz (¡mima), nach ihrer von der Materie ganz unterschiedenen Natur, von der man alsdann abstrahirt« (Soemmerting, Über das Organ der Seele (1796), S. 83; auch Kant AA XII, S. 32). 241 Darauf deuten u. a. auch solche Redeweisen wie die von dem durch >Nervenkraft< (Platner, Über einige Schwierigkeiten (1781), S. 384) verursachten >Gefiihl< in der (Empfindungs-)Seele (anima sensitiva) hin (ebd., S. 383). Natürlich bedeutet das keinen grundsätzlichen Anschluß an einen wie auch immer gearteten dynamischen Vitalismus. Platner bleibt in dieser Phase bei all seinen unterschiedlichen Anleihen konsequenter Psychovitalist. 242 Ebd., S. 385. 243 Ebd. 244 Der darin zum Ausdruck kommende metaphysisch motivierte Reduktionismus ist im ausgehenden 18. Jh. beileibe keine singulare Erscheinung. Ahnliches kann man in Johann Christian Starks (1753-1811) Anmerkungen zur deutschen Übersetzung von Jadelots Physica hominis sani: seu txpticatio functionum corporis humani (1778) lesen, eben jener Schrift, die Platner ab dem Sommersemester 1781 seinen Physiologie-Vorlesungen zugrunde legte. Stark korrigiert Haller dahingehend, daß er >tote Kraft< und >Irtitabilität< im Begriff >Reizbarkeit< vereint: »Denn das ganze Zusammenziehen und Nachgeben ist im Leben, ist nach dem Tode bey leblosen Körpern noch immer relativ« (Jadelot, Physica hominis sani (1783), S. 27 § 15 Anm. (u)). Der Jenaer außerordentliche Medizinprofessor Stark pariert damit Jean Nicolas Jadelots (1738-1807) Ansinnen, die Hallersche Irritabilität und 239 240
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Letzt sind beide, sowohl Muskel- als auch Nervenfaser, irritabel, wenngleich die Reizbarkeit nur bei der ersten beobachtbar sei. D e r »äußerliche Einfluß« 245 , der das Irritabilitätsphänomen in der Muskelfaser hervorbringt, ist dem Nervengeist als einem in den Nerven vorhandenen, oder, im Falle v o n unterbundenen Teilen, noch vorhandenen »Nervenwesen« zuzuschreiben 246 . A u f diese Weise hat Platner die Nervengeist-Abhängigkeit aber gleichfalls nur postuliert. D e r springende Punkt der gesamten Argumentation ist die Gewichtung der Sichtbarkeit. Mit ihrer Abwertung transzendiert Platner zugleich das Reich der Erfahrung und verliert sich in metaphysische Spekulationen. A m Ende der Abhandlung ist v o n der Hallerschen Irritabilität schließlich nichts mehr übrig. Sie wird zur »bloße [n] Täuschung« erklärt, die die »spitzfindigsten, anatomischen und mikroskopischen Beobachter beschäftigt hat« 247 . Damit, meint Platner, habe er gleichfalls die »Nich-
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Sensibilität durch die Annahme einer »tonischen« und einer »organischen Kraft« ohne Notwendigkeit zu vermehren (ebd., S. 24f. §§ 14f.). — Es gab allerdings auch gegenteilige Meinungen. So kann man etwa in Johann Samuel Iths (1747-1813) Versuch einer Anthropologie (1794/95) lesen: »Nach allem demjenigen, was seit vierzig Jahren über den Unterschied zwischen Irritabilität und Elasticität gesagt und geschrieben worden ist, wundere ich mich, wie zum Beyspiel folgende Stelle der Feder PLATNER'S entfallen konnte:« [es folgt ein Zitat aus den Qvaatiomsphysiologicae (1794), S. 104, das auf die Gleichsetzung von beidem abhebt] (Ith, Versuch einer Anthropologe 1 (1794), S. 160f.; vgl. auch S. 241 f., 304f.). »Es ist mir zwar nicht unwahrscheinlich, dass die Reizbarkeit einen gewissen Grad von Elasticität voraussetzt, dass sie aber darum mit ihr einerley seyn sollte, scheint mir ein sehr unphilosophischer Schluss« (ebd., S. 170). Ebensowenig stimmt der Schweizer, vormalige Göttinger und Berliner Student Ith mit Platner darin überein, Irritabilität und Sensibilität seien ein und dasselbe (ebd., S. 171f., 174f.). Platner, Über einige Schmierig/keifen (1781), S. 385. Ebd., S. 387. - Implizit wird hier bereits von Platner gegen Unzer argumentiert. Letzterer hatte, wie oben ausführlich gezeigt, aufgrund der bei enthaupteten Heren augenscheinlich noch vorkommenden erhaltungsdienlichen Handlungen geschlossen, daß solche nicht im Seelischen, sondern im Körperlichen, genauer im Nervösen, begründet sind. Gleicherweise gestaltet sich der Einwand Dieterich Tiedemanns (1748-1803), Professor am Kasseler Carolinum seit 1776, eines Göttinger Studien- und späteren Lehrerkollegen von Christoph Meiners, der ausnahmslos allen Tieren, wenn auch von den Menschen unterschiedene Seelen zuspricht, die die erhaltungsdienlichen Handlungen steuern (Wachler (1804), S. Xlf.). So räumt er den Unzerschen Beweisführungen zwar ein, »daß die thierischen Verrichtungen ohne Seele und Empfindung zwar noch fortdauern«, sie würden aber zu sehr in ihrer Beweiskraft strapaziert werden, wollte man aus ihnen auch abnehmen, tierische Verrichtungen kämen ganz ohne seelisches Wirken zustande. »Der Mechanismus des Körpers kann so eingerichtet seyn, daß vermittelst der subtilen sich nach der Trennung der Seele noch erhaltenden bewegten Materie, die Verrichtungen noch einige Zeit fortwähren; und dies ist der Analogie der Natur vollkommen gemäß«, heißt es mit einem Seitenblick auf das erste Newtonsche Axiom, das Trägheitsgesetz: »Denn kein einziger bewegter Körper geht in einem Augenblicke von der Bewegung zur vollkommenen Ruhe über, auch die mechanischen Bewegungen der Thiere [...] nach der Trennung der Seele nicht« (Tiedemann, Untersuchungen über Jen Menseben 1 (1777), S. 322). - Die Schwäche dieser Argumentation fällt natürlich sogleich ins Auge, denn Tiedemanns Verweis auf das Trägheitsgesetz läßt außer acht, daß es sich bei den erhaltungsdienlichen Handlungen schlechterdings nicht um lediglich verzögerte, vorher von der Seele sozusagen dirigierte Bewegungsabläufe handeln kann, da doch die afferenten Reizungen erst post mortem geschehen. Platner, Ober einig Schmierig/ketten (1781), S. 387.
Platners Aufsatz Über einigt Schwierigkeiten des Halleriscben System (1781)
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tigkeit des Begrifs der Muskelfaser«248 als einer bestimmten Körperstruktur erwiesen. Beides, die spezifische Eigenschaft der Irritabilität und die mit ihr verknüpfte Körperstruktur als genuin empirische Befunde, wird von ihm metaphysisch überformt. Das hat weitreichende Konsequenzen: es werden Problemstellungen, die zugestandenermaßen die zeitgenössische Wissenschaft in Atem halten, philosophisch einfach wegretuschiert. Plainer widerlegt also nicht eigentlich mit metaphysischen Argumenten die Hallersche Lehre, sondern behauptet einfach einen anderen, viel weniger empirisch zu verifizierenden Sachverhalt und verficht einen modifizierten Animismus. Seine in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre beginnende Abkehr von Hallerschen Positionen ist nunmehr vollendet, ohne aber das Feld vom Mechanismus über den dynamischen Vitalismus hin zum Stahlschen Animismus überhaupt ausgemessen zu haben. Sein Wandel stellt sich viel radikaler, abrupter dar, da er die mittlere Position, den dynamischen Vitalismus, regelrecht übersprungen hat. Daß auch diese Abhandlung Platners nicht unwidersprochen hingenommen wurde, scheint angesichts der Tragweite der unterbreiteten Gedanken nur zu verständlich. Der Rezensent der Besprechung in der Allgemeinen deutschen Bibliothek?·**, Heinrich Matthias Marcard (1747-1817), widmet dem Aufsatz zwar nur eine knappe Seite, auf der er aber Platners Gedanken kurz referiert und in zwei, drei Nebenbemerkungen seine Zweifel anklingen läßt. Unter anderem weist er Platner auf den kaum hinwegzudisputierenden Unterschied von mechanischer Elastizität und Irritabilität hin, macht ihn auf die Fragwürdigkeit der Rede von einem »dunklen Gefühl der Seele« aufmerksam und plädiert schließlich aufgrund des heuristischen Wertes einer Unterscheidung von Irritabilität und Sensibilität für deren Beibehaltung: »Gesezt, es wird einmal ausgemacht, daß der Grund der Irritabilität in den Nerven ist, wie darinn der Grund der Sensibilität liegt, so werden wir doch beyde Namen behalten, weil die beyden Dinge, obgleich aus einer Quelle fließend, auf unterschiedene Weise in die Sinne fallen, verschiedene Würkungen haben u. s. w., eben so gut, als wir immer Magnetkraft und Elasticität sagen werden, obgleich auch einmal erwiesen würde, daß beyde nichts anders seyen, als die modificirte Schwere.«250 Alle von Marcard besprochenen Punkte treffen ins Mark der Platnerschen Argumentation, jeder einzelne von ihnen vermag sie fragwürdig erscheinen zu lassen, und keiner von ihnen stellt einen spezifisch metaphysischen Einwand dar. Marcard bricht seine Rezension mit einem Gedankenstrich ab und schließt, sicher nicht in der rücksichts- und achtungsvollsten Art und Weise, mit den dennoch überaus treffenden Worten: »Doch was
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Ebd. Nf. [Fraktur, Heimich Matthias Marcard (1747-1817)], Resfnsion: Anton von Hain, Heilungmetbode. Aus dem Lateinischen. ΙΠ. band, enthält den seásten und siebenten TbeiL Mit einigen Aufsätzen begleitet von Herrn D. Ernst Piatner (m2), S. 163-166. Ebd., S. 164.
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kann einem speculatìven Kopfe nicht auf seiner Stube träumen, wenn er auch kein schlechter Kopf wäre.«251
5. Die Neue Anthropologie für Arge und Weltweise (1790) - ein psychovitalisüscher Anthropologieentwurf Im Jahre 1790 publiziert Plainer zum zweiten und letzten Mal eine Anthropologie. Um sie deutlich von der älteren abzugrenzen, nennt er sie schon im Titel Neue Anthropologie fur Àryte und Weltmeise. Auch der Nachsatz im Titel, Mit besonderer Rücksicht auf Physiologie, Pathologe, Moralphilosophie und Ästhetik, gibt von der weit umfänglicheren Bearbeitung der neuen Anthropologie Nachricht. Hätte er seine Anthropologie wirklich in diesem Umfang ausgearbeitet, wäre sie in der Tat einzigartig im deutschen Sprachraum gewesen.252 Trotz aller guten Vorsätze bleibt jedoch auch diese Anthropologie unvollendet. Ursprünglich auf fünf Bücher berechnet, legt der Verfasser nicht mehr als die ersten beiden in einem Band vereint vor: Das erste Buch enthält die »Grundlehren der Anthropologie«, das zweite, weit umfänglichere, behandelt »die Wirkungen der menschlichen Seele«, von denen auch noch im folgenden dritten Buch die Rede sein sollte253. In ihm,
251 Ebd., S. 166. 252 In der Rezension in der Allgemeinen Literatur-Zeitung heißt es: »Noch kein Buch eines deutschen Philosophen hat das Ganze der anthropol. Wissenschaft so weit und vollständig umfasst, als das gegenwärtige, nach dem ausführlich vorgelegten Entwürfe« (Allgemeine Literatur-Zeitung 7(1791), Sp. 474). Die Wertschätzung eines solch weitausgreifenden Planes teilt auch Friedrich August Carus (1770-1807), der Verfasser der Revision der Bearbeitung der Empirischen Psychologie in den letzten dry Quinquennien des achtzehnten Jahrhunderts in der Allgemeinen Literatur-Zeitung. Auf fast durchgängige Kritik stößt allerdings die Umsetzung des Vorhabens. »Wirklich ermangelt schon das Ganze eines zum Grunde liegenden festbestimmten, und dann überall festgehaltenen Begriffs, einer sorgfältigen und scharfen Gränzbezeichnung des wahren Umfangs und Gebiets dieser Wissenschaft, eines strenger systematischen Entwurfs und eines leicht übersehbaren Planes« (Carus, Revision der Bearbeitung der Empirischen Psychologie (1802), Sp. 107). 253 In der Vorrede verspricht Platner, den zweiten Band, »der bis auf die letzte Durchsicht ausgearbeitet ist«, zur Ostermesse erscheinen zu lassen (Platner, Neue Anthropologie (1790), Vorrede [unpag.], S. 2). Statt des angekündigten zweiten Bandes erscheint, wahrscheinlich im Leipziger Verlag Vogel, der auf dem Titelblatt selbst nicht genannt wird, 1791 ein Raubdruck des ersten Bandes, dessen Satzspiegel im Vergleich zur Originalausgabe gelegentlich geringfügig variiert Auf der letzten Seite (S. 664) wurde anstelle des Impressums: »Leipzig, gedruckt bey Christian Friedrich Solbrig< eine Vignette eingerückt. — Platner arbeitet dennoch an der weiteren Ausgestaltung der Anthropologie; seine diesbezüglichen Überlegungen macht er in verschiedenen lateinischen Abhandlungen (Qvaestimm physiologicarvm libri dw, 1794) und Programmen {Anridicvtvmsit animi sedem inqvimr, 1795/96) bekannt. Regen Zuspruch finden vor allem die Qvaestionesphysiolog/caer, sie enthalten den zündenden Gedanken für Soemmerrings Traktat Über das Organ der Seele (1796). In seiner Einleitung schreibt Soemmerring rückblickend: »Als ich im Sommer 1793 nach einer mühsamen, eine ununterbrochene Anstrengung von mehreren Tagen erfordernden, Untersuchung über das menschliche Hirn, zur Erhohlung in Platner's Quaestionibus physiologicis den Abschnitt De Natura animi quantum ad Physiologyam las, und auf die neben mir liegenden Zeichnungen, das endliche Resultat jener Nachspürungen, zufällig blickte; kam mir plötzlich der Gedanke: >Daß, wenn die dort so elegant vorgetragenen Sät-
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dem dritten Buch, sollten ebenfalls die bleibenden Folgen, die sog. Fertigkeiten, die Vorstellungen und ihre Wirkungen in das Erkenntnis-, Empfindungs- und Begehrungsvermögen Aufnahme finden. Von einigen der zufalligen Bestimmungen der menschlichen Natur wie Temperament, Geschlecht und Lebensalter wollte er im vierten Buch berichten und im fünften und letzten Buch schließlich von einigen besonders merkwürdigen Eigenschaften, Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten physiologische Charakterisierungen liefern. In der dem ersten Band vorangestellten Vorrede kommt Plainer auch auf die frühere Anthropologie von 1772 zu sprechen. Ihren Beifall, heißt es darin, habe sie nicht so sehr ihrem Inhalt als ihrem Charakter zu danken gehabt. Schriften solcher Art seien Anfang der siebziger Jahre noch eine »Seltenheit« und die Anthropologie ein »Versuch« gewesen, »einen minder bearbeiteten und doch für wichtig angesehenen Gegenstand« zu behandeln254. Des dem Werke zuteil gewordenen Beifalls ungeachtet sei es, »ein paar erträgliche Lehrstücke und vielleicht einige neue Ideen ausgenommen, ein sehr fehlerhaftes Buch. [...] Zum Glück habe ich«, schreibt Platner, »diese Jugendsünde noch zeitig genug erkannt, um sie nicht durch die Herausgabe eines andern Theils zu verdoppeln«255. In Anbetracht dessen sei es auch das Beste, »daß von dem kleinen Bande gar nicht mehr gesprochen werde«256. Die hier vorgelegte neue Anthropologie ist nicht nur nicht eine veränderte oder erweiterte Ausgabe der älteren, sondern »ein davon ganz unterschiedenes, ganz unabhängiges Buch«, dem die ältere noch nicht einmal zugrundegelegt wurde257. Auffällig an der auf verschiedene Bücher konzipierten Grobdisposition des Werkes ist die wiederholte Ausrichtung auf das Seelische und dessen Wirkungen in den Körper. Darin ähnelt sie zunächst der Anthropologie von 1772. Auch die Begrenzung des eigentlich Anthropologischen auf das Moment der Wechselwirkung von Körperlichem und Geistigem übernimmt Platner aus seiner früheren Anthropologie. Sie unterscheidet sich aber u. a. hinsichtlich der Behandlung des Commercium mentis et corporis und der Positionierung zum Mechanismus-Vitalismus-Animismus-Problem grundsätzlich von der alten Anthropologie. Platners nunmehriger Psychovitalismus findet seine theoretische Begründung in dem oben schon skizzierten modifizierten Stahlianismus. Ja es ist sicher nicht
ze ihre Richtigkeit hätten, nach dem zu urtheilen, was mich so eben jene [Platners] Untersuchungen gelehrt hatten, das πρώτον αϊσθητήριον in der Feuchtigkeit der Hirnhöhlen bestehen, oder in selbiger enthalten seyn müßtei « (Soemmerring, Über das Oigan der Seek (1796), S. 1 § 1). Jenen
Anstoß, das sensorium commune als »das wahre vereinigende Mittelding« (Medium uniens) (ebd., S. 58 § 54) nicht mehr im Soliden des Gehirns zu suchen, sondern in der Feuchtigkeit der Hirnhöhlen
{Aqua Ventrimkrum Cerebri) (ebd., S. 32 §§ 28f.), da diese im Gegensatz zu jenem etwas Einfaches
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sei (ebd., S. 63 § 57), erhielt Soemmerring vermutlich aber durch eine Passage (S. 57) des zweiten, nicht des ersten Kapitels der Platnerschen Qvaestionesphysiohgicae (vgl. ebd., S. 67 $ 62). Platner, Neue Anthropologie (1790), Vorrede [unpag.], S. 1. Ebd. Ebd, Vorrede [unpag.], S. 2. Ebd.
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übertrieben zu sagen, daß die Neue Anthropologie von 1790 in ihren medizintheoretischen Grundlagen auf den Aufsatz Über einige Schwierigkeiten mit dem Hallerschen System von 1781 zurückgeht.258 Über weite Strecken lesen sich die Paragraphen wie eine Kommentierung des damaligen Aufsatzes. So hält Platner wie ehedem die Rede vom »Muskel« als eines bestimmten strukturellen Körperbausteins für irreführend. Vielmehr könne man nur so weit gehen, heißt es, ihn als eine »Verflechtung thierischer Fibern mit Nerven, Gefäßen und Zellgewebe« anzusehen, die einen »Faden« formierten; mehrere dieser Fäden bildeten dann »im Ganzen große fleischigte Bänder«259. Hinsichtlich der inneren Struktur der Fäden lasse sich nichts weiter ausmachen, so daß die Trennung zwischen Muskel und Nerv nicht aufrecht erhalten werden könne260. Es sei deshalb angebrachter, statt von Muskulär- und Nervenfibern ganz allgemein von »thierischen Fibern« zu sprechen. Die Hallersche Bindung von Irritabilität und Sensibilität an bestimmte körperliche Strukturen wird damit endgültig über Bord geworfen. Das ist der Ausgangspunkt, von dem her Platner die solcherart veränderte physiologische Hallersche Irritabilitätslehre mit der metaphysischen Monadenlehre Leibniz', insbesondere deren Dynamismus, verknüpft. Die Hallersche Lehre überformt Platner metaphysisch, den Leibniz'schen Intellektualismus bzw. Rationalismus hingegen empiristisch. Konkret gestaltet sich das folgendermaßen: Er substituiert die den einfachen Substanzen einwohnende Leibniz'sche >Vorstellkraft< durch >ReizbarkeitReizbarkeit< hingegen sei »das geschickteste [Wort], um jene allen einfachen Substanzen der Materie wesentliche Kraft zu bezeichnen«261. Termini wie >LebendigkeitEmpfindsamkeitReizbarkeit< und >Vorstellkraft< seien sämtlich »gleichdeutige Wörter«262, die nicht mehr ausdrücken sollen, als »die Fähigkeit der einfachen Substanzen sich in Thätigkeit zu setzen, auf Veranlassung eines empfangenen Eindrucks oder Anreizes«263. Als es dann darum geht zu entscheiden, welchen Teilen bzw. Strukturen das Vermö-
So kann auch der Verfasser der Rezension der Ntutri Anthropologie (1790) in den Gottingischen Anzeigen von gelehrten Sachen, Johann Georg Heinrich Feder, schreiben, daß Platner »in den Lehren von der Empfindlichkeit und Reizbarkeit und den unwillkürlichen Bewegungen, [...] wie sonst schon bekannt ist, von Boerhaave und Haller abweichet, und dem Stahlischen System sich sehr nähert« (Anonymus [Johann Georg Heinrich Feder], Rezension: Emst Platner, Neue Anthropologe firÄrge und Weltweise (1790), S. 1579). 259 Platner, Neue Anthropologie (1790), S. 27 § 72. 260 »Da aber natürlicher Weise mit den reinen thierischen Fibern, welche bey der Organisazion der Muskeln zum Grunde liegen mögen, durchaus und innigst Nerven und Gefäßchen verflochten sind: so ist es fast unmöglich, sie rein von diesem Zusatz ihrer Organisazion darzustellen. Demnach ist es wahrscheinlich, daß das, was verschiedene Beobachter für reine Muskelfibern angenommen haben, noch immer kleine mit Nerven, Gefäßchen und Zellgewebe vermengte Fäden waren. Ja, vielleicht liegen bey der Organisazion der Muskeln besondere rein thierische Fibern gar nicht zum Grunde: so wäre auch die kleinste Muskelfiber aus Nerven, Gefaßchen und Zellgewebe zusammengesezt« (ebd., S. 28 § 73; vgl. auch S. 103-106 § 283). 241 Ebd., S. 110 § 294. 262 Ebd., S. 109f. § 293. 263 Ebd., S. 110 § 294. 259
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gen der (metaphysischen) >Irritabilität< zugesprochen werden kann und welchen nicht, wendet er sich gegen Haller. Jener knüpfte das irritable Vermögen bekanntlich an die Muskelfaser; Platner dagegen legt es gleichermaßen der Nervenfaser bei. Aber nicht nur ihr: es ist eine »allen einfachen Substan2en dieser materiellen [und geistigen] Welt zukommende Kraft und Thätigkeit«264, gleichsam die Urkraft der Welt. >LebendigkeitEmpfindsamkeitReizbarkeit< und >Vorstellkraft< sind nur Synonyme einer einzigen Kraft, die man am angemessensten mit dem Terminus >Reizbarkeit< bezeichnet265. Platner unterscheidet, wie schon in seinem Aufsatz von 1781, >physische< und >metaphysische Reizbarkeife. Die >physische Reizbarkeife, Hallers >Irritabilitäfe, ist lediglich eine Erscheinungsweise der allgemeinen >metaphysischen Reizbarkeife266. Wenn Haller beispielsweise an der Nervenfaser keine Kontraktion feststellen konnte, so läge das nur darin begründet, schreibt Platner, daß die >metaphysische Reizbarkeife nicht sinnlich geworden sei. Ebensowenig könne man auch sagen, die >Elastizität< als eine >tote Kraft< sei grundsätzlich von der Hallerschen >Irritabilitäfe als einer >lebendigen< unterschieden. Denn auch diese ist nichts anderes als eine Erscheinungsweise der >metaphysischen Reizbarkeife267. Auf diese Weise gibt Platner die überaus nützliche Unterscheidung von >toten< und Jebendigen Kräften< preis — eine Unterscheidung, die es Haller ermöglicht hatte, sich mit einem neuen Verständnis von Physiologie dem Phänomen des Lebendigen auf nicht-mechanistische Weise anzunehmen. Das Empirische wird bei Platner erneut metaphysisch überformt, die von Krüger und Unzer immer wieder angemahnte Balance von Erfahrung und Vernunft, von Medizin und Philosophie außer acht gelassen und zugunsten letzterer aus dem Gleichgewicht gebracht (nicht ganz unzutreffend spricht er einmal von »spekulativer Physiologie und Seelenlehre«268). Doch Platner geht es nicht schlechthin um die Widerlegung der Hallerschen vitalistischen Ansätze und des Boerhaaveschen Mechanismus; vielmehr sieht er darin die notwendige Voraussetzung für eine schlüssige Begründung seines modifizierten Stahlianismus269. Dazu ist es allerdings nicht nur erforderlich, wie er nunmehr einsieht, die nervöse Determination des Irritabilitätsphänomens darzutun. Nunmehr akzeptiert Platner auch, daß er als nächsten Schritt das Nervöse als ausschließlich seelisch Bedingtes aufzuweisen genötigt ist. D. h. der Widerlegung des Mechanismus muß eine Entkräftung des dynamischen Vitalismus zur Seite gesetzt werden. In seinem Aufsatz von 1781 wechselt er per saltum einfach die Fronten: nunmehr holt er die Widerlegung des
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Ebd, S. 109 § 292. Ebd., S. 110 ξ 294. Ebd., S. 110 § 296,111 § 300. Erscheinungsformen der »physischen, d. h. sichtbaren« »Reizbarkeit« sind beispielsweise die Schnellkraft fester Teile, das Aufbrausen, Gären und Gerinnen flüssiger Stoffe (ebd., S. llOf. § 296). Damit fallen bei Platner Physikalisches, Vitales und Chemisches endgültig zusammen. Ebd., S. 96 § 269,112 § 303. Platner, Einige Betrachtungen über die Hypochondrie (1786), S. 304. Platner, Neue Antbropologit (1790), S. 98 § 272.
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dynamischen Vitalismus nach. Unausweichlich fuhrt ihn seine Argumentationsstrategie damit zu Unzer. In der dem Kapitel 11: Beweis, daß auch die Verrichtungen des thierischen Körpers mit unmittelbarer Tbeilnehmung der Seele geschehen; gegen Boerhaavens und Hallers Systemm, im Inhaltsverzeichnis beigedruckten Synopsis heißt es: »Hier wird (1) gezeigt, daß die Hallersche Reizbarkeit in dem lebendigen Körper nichts anders als Empfindung ist; (2) Unzers Hypothese, von Nervenrührungen ohne Fortpflanzung nach dem Gehirn und ohne Theilnehmung der Seele, widerlegt.« Unzers Lehre von der >Nervenkraft< stützt sich, wie bereits an anderer Stelle ausführlich dargetan worden ist, in erster Linie auf neuroanatomische Annahmen, vor allem auf die Nervenverzweigungen und die Nervenknoten. Es wird also von ausnehmendem Interesse sein, im Gegensatz dazu Platners diesbezügliche Ansichten kennenzulernen. Zunächst ist bemerkenswert, daß er die wichtigen neuroanatomischen Entdekkungen Felice Fontanas (1720-1809) nicht zu kennen scheint. Verwunderlich ist das vor allem deshalb, weil sein ehemaliger Respondent und als außerordentlicher Professor der Medizin nunmehriger Kollege, Ernst Benjamin Gottlieb Hebenstreit (1753-1803), Feiice Fontanas Ricerchefilosofichesopra la fisica animale (Florenz 1775) ins Deutsche übersetzt271 und ihr einen Auszug aus dem Werk über das Viperngift, Traité sur le venin de la vipere (Florenz 1781), angefügt hatte, wenngleich eingeräumt werden muß, daß die bahnbrechenden neuroanatomischen Entdekkungen Fontanas darin unberücksichtigt geblieben sind.272 Platner schließt sich also, wohl in Unkenntnis, noch Giovanni Maria Della Torres (1713-1782) und Georg Prochaskas (1749-1820) Kügelchentheorie an273. Im Gegensatz zur Anthropologie von 1772 haben die Nerven keine Röhrchenstruktur mehr274, in der der Nervengeist analog dem Blutumlauf auf- und abfließen konnte, obgleich er nach wie vor bewegend wirkt275. Die Nerven sind weich und nicht elastisch; auch sind sie im Hallerschen (physischen) Sinne nicht reizbar, sondern empfindlich276. Daß Platner, sobald es nicht mehr um medizintheoretische Grundlegungsfragen allein geht, oft gezwungen ist, in Widerspruch zu seinen soeben noch vorgenommenen metaphysischen Interpretationen allgemein aner-
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Ebd., S. 91-109 §§ 253-291. Felice Fontana, Beobachtungen und Versuche über die Natur der tbierischen Körper. Aus dem ltaliänischen nebst einem Auszug aus dessenfranzösischenWerke über das Vipemgijt und einigen eigenen physiologischen Asrfsätign von D. E. B. G. Hebenstreit, Leipzig: Weygandsche Buchhandlung 1785. - Hebenstreit selbst hat Fontanas neue Nerventheorie nicht adaptiert, wie aus einem Passus seines Aufsatzes Über die Bestimmung unsrtr Begrifft von der Lebenskraft durch die Erfahrung (1786, S. 248) klar hervorgeht. Bemerkenswert an diesem Aufsatz ist, daß Hebenstreit sich darin eindeutig als Anhänger der Unzerschen Lehre zu erkennen gibt (vgl. ebd., S. 264f., 279f., 284,289-291,299). Platner kannte vermutlich nur Hebenstreits Übersetzung (vgj. Platner, Neue Anthropologe (1790), S. 109 § 291). Ebd., S. 37 § 105,33f. § 90. Ebd., S. 43 § 124. Ebd., S. 50 § 148, 51 § 153. Ebd., S. 40 § 118f.
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kannte anatomische Sichtweisen anzuerkennen, sei hier, w o er im Gegensatz zu der obigen Behauptung, zwischen Nerv und Muskel könne kein struktureller Unterschied festgestellt werden, dennoch einen annimmt, nur nebenher angemerkt. Das Ganglion als ein grundlegendes Strukturelement des Nervensystems hat Platner zufolge drei Funktionen: (1) die Festigkeit der Nerven zu unterstützen (statische Funktion), (2) Gabelungen in neue Äste zu ermöglichen (Verzweigungsfunktion) und (3) v o r allem aber die Absonderung des Nervengeistes zu unterstützen (Sezernierungsfunktion) 277 . A l s »Seelenorgan«, und das ist ebenfalls etwas Neues gegenüber der Anthropologie v o n 1772, wird v o n Platner der Nervensaft bzw. der Lebensgeist aufgefaßt Es ist das »Mittelwerkzeug« 278 zwischen K ö r p e r und Seele. U m das Vegetative v o n der Vernunft gebührend zu scheiden, nimmt er ein »zwiefaches Seelenorgan« an: ein geistiges und ein tierisches 279 . Das geistige als das höhere grenzt an das Seelische und ist fast ebenso unveränderlich und unzerstörbar wie die Seele selbst 280 , es ist etwas Quasi-Seelisches und als solches das
Ebd., S. 39 § 116. Ebd., S. 59 § 177. 279 Ebd., S. 71 § 208. 280 Ebd., S. 75 § 219. Erstmalig fuhrt Platner die Zweiteilung des Seelenorgans in seiner Abhandlung DE PRINCIPIO VITALI SENTENTIA (1777) durch. Im zweiten Teil der Philosophischen Aphorismen von 1782 redet er noch recht unspezifiziert vom »ersten« und »anderen Seelenorgan«. Das >erste Seelenorgan« ist jener Nervengeist, der in den Gesichts-, Gehör- und gemeinen Gefühlsnerven und dem Werkzeug der Phantasie enthalten ist, insofern er sich auf diese Sinne bezieht und die dazugehörigen materiellen Ideen enthält. Das sog. »andere Seelenorgan« enthalten die Geruchs·, Geschmacks- und Gefüihlsnerven und die Werkzeuge der Phantasie, wiederum allerdings nur insoweit, als es sich auf diese bezieht und von ihnen herrührende materielle Ideen enthält. Das >erste< ist gegenüber dem >anderen Seelenorgan< höherwertig: es ist das edlere, wesentlichere, da es dem Geistigen, jenes aber nur dem Tierischen zuarbeitet (Platner, Philosophische Aphorismen 2 (1782), S. 240-243 §§ 560-567). In der Neuen Anthropologie (1790) spricht er dann vom »geistigen« und »thierischen Seelenorgan«, die inhaltliche Bestimmung ist aber gleich geblieben. Platner begründet die Notwendigkeit einer solchen Differenzierung mit dem Vorhandensein eines »unleugbaren Unterschieds unter geistigen und thierischen Organen unserer Vorstellkraft«, der seinen innersten Grund im Nervengeist »als dem wahren, unmittelbaren Seelenorgan« habe (Platner, Neue Anthropologie (1790), S. 72f. § 212 Anm.). Die allenthalben übliche Unterscheidung von zweierlei Nervenarten oder Gehirnfibern müsse deshalb durch die Annahme von »zweyerley Arten des Nervengeistes« substituiert werden (ebd., S. 73). Er verweist dabei auf die Anmerkung zum § 569 der Philosophischen Aphorismen 2 (1782), in der er sich wahrscheinlich nicht deutlich genug ausgedrückt habe, so daß Metzger in seinem Aufsatz Von den Temperamenten (1784), S. 347 annehmen konnte, diese Unterscheidung werde sich unter den Fachkollegen nicht durchsetzen, womit er schließlich auch Recht behalten sollte (vgl. z. B. Schmid, Empirische Psychologie (1791), S. 448 § 43). Auch Marcus Herz, einer der schärfsten Kritiker Platners, verwarf die Rede vom Nervensaft als geistigem Organ der Seele und diskreditierte sie als »mechanischsubtile Schwärmerei« (Herz, Über den Schwindel (1791), S. 251). Die Konzeption seines dichotomisch strukturierten Seelenorgans ist zugleich auch die Voraussetzung der Platnerschen Temperamentenlehre, wovon weiter unten noch zu sprechen sein wird. Platners »Machtspruch«, das zweifache Seelenorgan sei »keine Hypothese, sondern eine eben so erweisliche als begreifliche Wahrheit«, löst bei dem Rezensenten in der Allgemeinen Literatur-Zeitung heftigen Widerspruch aus: »Die Verweisung auf seine Philos. Aphor. II. Th. §. 563. ff. lässt nichts geringere erwarten, als dass diese erweisliche Wahrheit daselbst wirklich bewiesen worden sey, allein dort wird die Notwendigkeit wesentlich verschiedener Werkzeuge für die 277
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Wesentlichste des Körpers281. Die Versorgung der Nerven mit Nervengeist stellen die den Nerven einverleibten Adern sicher, »welche aus der weichen Haut eindringen und sich in ihre Substanz verlieren«282. Der ubiquitär vorhandene Nervengeist wird vom Menschen mit den Nahrungsmitteln, durch die Haut und die Atmung aufgenommen283 und im Gehirnmark, in den Ganglien und in den Nervenarterien abgesondert.284 Er ist seiner Natur nach nichts anderes als »der allgemeine Lebensgeist der materiellen Natur«285, eine »höchst wirksame Kraft, oder Substanz [...], welche alles durchdringt, und in sich enthält die Quelle aller thierischen Empfindung und Bewegung, und den gemeinschaftlichen Stoff des Lebens aller organisirten Geschöpfe«286. Platner läßt die Entscheidung der Frage, ob es sich bei der sog. »elektrischen Materie« um ein besonderes Prinzip oder nur um eine Erscheinung des Lebens- resp. Nervengeistes handelt, offen287. Damit sind die neuroanatomischen Grundlagen der Neuen Anthropologie (1790) kursorisch referiert. Von Interesse ist es jetzt, auf welche Art und Weise Platner seine anatomischen Grundlehren physiologisch ausmünzt. Und es stellt sich heraus, daß er dabei weitgehend enttäuscht. Ein Autoritätsbeweis und sein Gutdünken sind ihm Grund genug, Stahl beizupflichten und Hallers wie auch Unzers Lehren abrupt und kategorisch von sich zu weisen.288 Die Struktur der Platner-
eigentlich geistigen und für die thierischen Zwecke der Seele eben so, wie hier, nur als erwiesen angnommen und angewendet, übrigens auf des Vf. Abh. de principio vitati verwiesen, wo aber eben so wenig auch nur die kleinste Spur von einem Beweise zu entdecken war.« Und das sei um so schlimmer, als Platner doch selbst das zweifache Seelenorgan zu seinen Hauptideen rechnet, das dann doch nichts weiter sei als eine »unerwiesene Behauptung« (Anonymus, Rezension: Emst Piatners neue Anthropologe firÂrqte und Weltweise (1791), Sp. 477). Überhaupt machte die »Menge von Hypothesen, die zum Theil als ausgemachte Wahrheiten darinn vorgestellt werden [beim Leser der Anthropologie eine] Behutsamkeit doppelt nötig« (ebd., Sp. 474). Mit dieser Einschätzung weiß sich auch der Verfasser der Revision der Bearbeitung der Empirischen Psychologie in den letzten drey Quinquennien des achtzehnten Jahrhunderts in dei Allgemeinen Literatur-Zeitung, Friedrich August Cams (1770-1807), einig (ebd., Sp. 107; vgl. auch dessen Geschichte der Psychologie (1808), S. 666f.). 281 Platner, Neue Anthropologie (1790), S. 64 § 190. Vgl. hierzu auch die Ausführungen im Anhang. 282 Platner, Neue Anthropologie (1790), S. 36 § 103. 283 Ebd, S. 45 §§ 131f. 284 Ebd., S. 43-45 §§ 126-130. 285 Ebd., S. 48 § 141. 286 Ebd., S. 47 § 139. — An der eigentümlichen, ja manieristischen Syntax in der Neuen Anthropologie (1790) findet nicht nur der heutige Leser keinen Gefallen. Auch bei Dieterich Tiedemann (17481803) erregt sie Anstoß: »Unbemerkt aber können wir nicht lassen, daß wir nicht wissen, warum der Verf. fast durchgängig in jeder Periode das Verbum gleich voransetzt. So heißt es z. B. in der alten Ausgabe: in allen wirklichen Dingen, in welchen eine Größe gedenkbar ist, muß eine Vielheit wirkender Ursachen vorhanden seyn; in der neuen: in allen wirklichen Dingen, in welchen gedenkbar ist eine Größe, muß vorhanden seyn eine Vielheit wirkender Ursachen. Diese Abweichung von der gewöhnlichen Schreibart ist doch, wenigstens nach des Ree. Gefühl, nicht wohlklingend, und veranlaßt häufig Dunkelheiten« (Anonymus (Dieterich Tiedemann], Rezension: Ernst Piatners philosophische Aphorismen (1789), S. 445-449). 287 Platner, Neue Anthropologie (1790), S. 48 § 143. 288 Insofern ist es auch verständlich, wenn Feder leise Bedenken am Stahlianismus Piatners anmeldet: »Aber ob nicht die Wahrheit mehr noch, als wo das System des Verf. sie annimmt, zwischen den
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sehen Argumentation ist in etwa folgende: Jeder irritable Muskel muß mit einem reizbaren Nerv in Verbindung stehen; die conditio sine qua non von Reizbarkeit ist Nervensensibilität. Damit ist der Hallersche Standpunkt negiert. Nun gilt es noch, das Verhältnis zwischen Nerv und Seele und damit das des dynamischen Vitalismus zum Psychovitalismus zu klären: Der Nerv ist aber nur dann reizbar, wenn er Nervengeist in sich enthält, der nun wiederum als Seelenorgan stets mit der Seele verbunden ist, so daß »jeder Nervenreiz in der Seele eine Veränderung, einen Eindruck, ein Gefühl hervorbringen und dem empfangenen Eindrucke gemäß, abwärts durch die Nerven, eine Thätigkeit erregen« wird289. Daraus folge, daß man die Muskelkontraktionen nicht als eine »unmittelbare und alleinige Folge des ihnen für sich beygebrachten Reizes« betrachten kann; sie sind vielmehr Erscheinungen »einer durch das Nervengefuhl erregten Thätigkeit der Seelenkraft«290. Zu den von Unzer ins Spiel gebrachten Nervenknoten erklärt sich Platner kurzerhand so: »Daß die in den thierischen Werkzeugen so häufigen Nervenknoten die Bestimmung haben, die Fortpflanzung der Nervenreize nach dem Sitz der Seele abzuhalten, und die thierischen Bewegungen dem Einfluß ihrer Kraft zu entziehen, ist eine bloß willkührlich angenommene Hypothese.«291
beyden Extremen in der Mitte seyn möchte; ob nicht materielle Ideen (hier zeigt sich, im Gegensitz zu Unzer, Feders Anhänglichkeit an die mechanische Psychologie] oder überhaupt einmal vorhandene Nervenmodificationen, ohne alle Mitwirkung der Seele, bisweilen eben solche Wirkungen hervorbringen können, wie in andern Fällen durch die Seele entstehen; welches der Verf., namentlich gegen Unqer, ausdrücklich läugnet? Ob nicht aus der Physiologe der Pflanzen für die antistahlianische Physiologie der thierischen Natur noch erhebliche Gründe sich hernehmen ließen? Dies sind ein Paar derjenigen Zweifel, die dem Ree. hiebey geblieben sind« (Anonymus [Johann Georg Heinrich Feder], pension: Emst Plainer, Neue Anthropologie JürÄnJe und Weltweise (1790), S. 1580f.). 28» Platner, Neue Anthropologie (1790), S. 101 § 277; vgl. auch S. 113 § 305,114 § 308. 290 Ebd., S. 102 § 280. 291 Ebd., S. 95 § 263. In der dem Paragraphen beigefügten Anmerkung weist Platner darauf hin, daß auch Tissot dieser Hypothese beipflichte. Sie entstamme, schreibt er wider besseres Wissen, allein James Johnstones (1730-1802) Essay on the use of the ganglions of the nerves (Shrewsbury 1771; dt. Versuch über den Nutzen der Nervenknoten. Aus dem Englischen übersetzt [von Christian Friedrich Michaelis (1754-1814), dem Sohn des Göttinger Orientalisten Johann David Michaelis (1717-1791)] (Stettin 1787)). Johnstone stimmt Hallers Schlußfolgerung, wonach die Irritabilität strikt von der Sensibilität zu trennen sei, nicht zu. Im Gegenteil, die Muskelreizbarkeit verdanke sich der Nerventätigkeit in jedem Falle (Johnstone, Versuch (1787), S. llf.). Darauf aufbauend versucht Johnstone nachzuweisen, daß die Lebensbewegungen vom zentralen Nervensystem unabhängig und folglich unwillkürlich sind. Das ist der Zweck seiner Abhandlung. Zentral dafür ist folgende Erwägung: »Können wir also nicht vernünftigerweise den Schluß machen, daß die Knoten, diejenigen Werkzeuge sind, durch welche die Bewegungen des Herzens und der Gedärme, von den frühesten bis zu den spätesten Zeitpunkten des thierischen Lebens emßrmig unwillkürlich gemacht werden, und daß dies ihr Nutzen sey? - den sie leisten durch einen Bau, der uns in Wahrheit unbekannt ist, (jedoch augenscheinlich verschieden von dem, der gewöhnlich in den Nerven statt findet) eben so wie der, des Gehirns, ob es gleich nicht unwahr scheinet, daß ersterer mit dem letzterem, einige Ähnlichkeit haben mag« (ebd., S. 21f.). Den Ganglien kommt demnach als »subordinirte[n] Gehirne[n]« (ebd., S. 76) die Funktion zu, »die Kräfte des Willens zu hindern [und] einzuschränken« (ebd., S. 27). Aufgrund dessen kann davon ausgegangen werden, daß selbst nach einer Dekapitation die Ganglien den Lebensorganen noch über einen gewissen Zeitraum hinweg gesteuert Nervenkraft zukommen lassen können, was das Phänomen eines fortdauernden Herzschlags bei einem ent-
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Diese Auffassung bedeutet einen wissenschaftlichen Rückschritt: indem Platner den dynamischen Vitalismus zugunsten eines modifizierten Psychovitalismus Stahlscher Prägung292 verwirft, gibt er zugleich eine Vielzahl sich aus dem dynamischen Vitalismus ergebender Erklärungspotentiale preis. So erhält bei ihm der Tier-Begriff erneut einen animistischen Inhalt: unbeseelte Tiere gibt es nicht; Tiere ohne Nerven, Seelenorgan und Seele seien keine Tiere, sondern »Pflanzen in thierischer Gestalt«. Zu ihnen müsse man ζ. B. die Polypen rechnen.293 Dem jenen gewidmeten Paragraphen läßt Platner eine zweieinhalbseitige Anmerkung folgen, die sich ausschließlich mit Unzer und dessen Ersten Gründen einer Physiologie (1771), vor allem mit den Paragraphen 380ff., beschäftigt. Der Haupteinwand zielt auf die Unzersche Behauptung, wonach im Tier neben und unabhängig von der Seele tierische Wirkungen angenommen werden könnten. »Daß aber, auch während dem Leben etwas der Art, ohne Theilnehmung der Seele möglich sey, will mir durchaus nicht einleuchten; weil ich in Ansehung der innigen Verbindung der Seele mit der Nervenkraft nicht begreife, wie Nervenreize erregt werden können, ohne daß davon in dem Gehirn und endlich in der Seele selbst ein Eindruck erfolge. Das Reflektiren, oder die Ableitung der äußern sinnlichen Eindrücke, wovon dieser scharfsinnige Schriftsteller [Johann August Unzer] so viel redet, um zu erklären, wie die Entstehung innerer Eindrücke verhindert werde, ist doch bloß Hypothese.«294 Neben einem Verweis auf Aristoteles' De anima (434a-435a), einem bloßen Autoritätsbeweis, beruft er sich zur Stützung seiner animistischen Position auf den zeitgenössischen neuroanatomischen Wissensstand: bislang habe man noch nicht dargestellt, daß die Nerven mit der Seele »keine Verhältnisse
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haupteten Tiere erklären würde (ebd., S. 76). »Die Knoten schränken, mit einem Worte, die Ausübung der Macht der Seele, in der thierischen Ökonomie, ein und setzen es ausser unserer Gewalt, durch ein bloßes Wollen die Bewegungen unsers Herzens zu hemmen und in einem Anfall von übler Laune unser Leben unwiderbringlich zu endigen« (ebd., S. 87). — Da Unzer Johnstones Arbeit in seinen Ersten Grünjen (1771) nicht erwähnt, kann man davon ausgehen, daß er diese zum Zeitpunkt der Abfassung noch nicht gekannt hat Platner, Neue Anthropologie (1790), S. 98 § 272,102 § 279. Antony van Leeuwenhoek (1632-1723) beschrieb und illustrierte 1704 als erster einen Polypen in den Philosophical Transactions der Royal Society. Als eigentlicher Entdecker gilt allerdings der Genfer Abraham Trembley (1710-1784). Den Polypen wurde vor allem ihrer überaus großen Regenerationsfahigkeit und ihrer asexuellen (vegetativen) Fortpflanzung wegen großes Interesse zuteil. Ihren Namen >Polyp< erhielten diese Tiere 1741 von René-Antoine Ferchault de Réaumur (1683-1757); Linné verlieh der Gattung in seinem Sjstema Naturae (1758) dann in Rücksicht auf ihre schier unversiegbare Regenerationsfahigkeit die Bezeichnung Hydra, in Anlehnung an die neunköpfige Hydra der griechischen Mythologie, und ordnete sie den Zoophyta, den Tierpflanzen, zu. Vor allem das bei der Hydra neben der sexuellen Fortpflanzung weit gewichtigere Phänomen der asexuellen (vegetativen) Vermehrung bewog die Zeitgenossen, ihr eine Mittlerstellung zwischen Tier- und Pflanzenreich zuzuerkennen. Welche Schlüsselrolle man der Erforschung der Polypen im 18. Jh. beimaß, spiegelt sich in überaus eindrucksvoller und repräsentativer Weise in einer Abhandlung Claude Nicolas le Cats (1700-1768) wider, die mit der Sentenz anhebt: »Zwo Entdeckungen werden vornehmlich unser Jahrhundert den zukünftigen merkwürdig machen: die Electricität und die Polypen des süßen Wassers« (Le Cat, Abhandlung von den Polypen des süßen Wassers (1754),3, S. 1). Platner, Neue Anthropologie (1790), S. 105 § 283; vgl. auch S. 603 § 1328.
Die Neue Anthropologe fiirÄrtft und Weltweite (1790)
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haben«295. Auf die einer großen Anzahl von Versuchen entstammenden neuroanatomischen und -physiologischen Belege geht Platner mit keinem Wort ein. Und das muß als ein allgemeines Kennzeichen seines Denkens angesehen werden, das immer mehr dem Spekulativen als dem Empirischen zugewandt bleibt. Eines darf dabei allerdings nicht vergessen werden: Platners Frontstellung gegen Unzers Nervosismus ist nicht zuletzt auch, wenn nicht vielleicht sogar in erster Linie, moralphilosophischen Erwägungen geschuldet. So schreibt er einmal an etwas entlegener Stelle: »Wollten wir hier [bei der Erklärung der Hypochondrie] blos auf die Nerven Rücksicht nehmen, so müßten wir am Ende die Aushaltsamkeit und Standhaftígkeit bey Erduldung körperlicher Schmerzen, gar nicht mehr für sittliche Tugenden halten, sondern bloß aus einer mindern Feinheit der Nerven erklären.«296 — Nichts weniger also als die überkommene Ethik steht zur Disposition — und sie droht der Philosophie gänzlich zu entgleiten, so Platners Befürchtung. So unbefriedigend Platners physiologische Anschauungen schon sind, so unergiebig fallen auch seine metaphysischen Versuche aus, dem Problem der Vermittlung von Leib und Seele mit Hilfe der Annahme eines zweifachen Seelenorgans beizukommen. Von dem dichotomischen Seelenorgan, bestehend aus einem tierischen und einem geistigen, sei es vermutlich das letztere, das mit der Seele in Ewigkeit verbunden bleibt und gleichsam ein Verbindungsmodul darstellt, das es der Seele jederzeit ermöglicht, sich aufs neue mit einem Körper zu verbinden297. — In der Neuen Anthropologie (1790) zeigt sich bei der Behandlung und gedanklichen Durchdringung des Konstrukts >Seelenorgan< allenthalben eine Zwiespältigkeit und Unentschiedenheit, die oft ins Widersprüchliche abgleitet. Zwei miteinander konfligierende Umstände sind dafür ursächlich verantwortlich zu machen: einmal die angenommene metaphysische Körper-Geist-Dichotomie und das andere Mal das damit auf irgendeine Art und Weise zu vereinende Lebensprinzip298. Besonders gut sichtbar wird dieses Lavieren bei der Behandlung der Frage des Seelen-
Ebd., S. 106 § 283. Diese Fragen, merkt Platner schließlich noch an, habe er bereits in zwei gesonderten Schriften eingehender behandelt: es sind dies einmal DE PRINCIPIO VITALI SENTENZA (Leipzig 177η und das andere Mal RΕΡΕΊΤΠΟ BREVIS ET ASSEKTIO DOCTRINAE STAHUANAE DE MOTV VITALI (Leipzig 1781). 296 Platner, Einige Betrachtungen über die Hypochondrie (1786), S. 317. 297 Platner, Neue Anthropologe (1790), S. 85 § 245. 2 , 8 Vgl. Schöndorf (1985), S. 84. - Die Kritik an der Annahme von Mittelursachen zur Erklärung des Commercium mentis et corporis ist wohl so alt wie das Problem selbst, fur das es die Lösung bringen soll. Gegen die Annahme solcher Mittelursachen sprechen sich beispielsweise Johann Georg Zimmermann (1728-1795), der überhaupt wenig auf Nerven und Lebensgeister Bezug nimmt, und Johann August Unzer (1727-1799) aus. Letzterer merkt kritisch an, das mit einer solchen Hilfskonstruktion das Problem doch nur verschoben, nicht aber einer Erklärung näher gebracht wird. In satirischer Einkleidung liest es sich dann so: »Indessen gab es doch Leute, die vermittelst dieses Geistes besser zu begreifen meynten, wie Leib und Seele in einander wirkten. Sie urtheilen nach dem Grundsatze, daß zwey Augen zusammen gehörten, zwischen welchen man eine Nase findet; und hierwider werden die wenigsten Menschen etwas einzuwenden haben« (Unzer, Von der Gemeinschaft des Leibes und der Seele, in: DerArtf 2 (1759), S. 314). 295
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sitzes und der damit in unmittelbarem Zusammenhang stehenden und stets aufs neue variierten Konzeption vom Seelenorgan. In der Anthropologie von 1772 hieß es: »Derjenige Theil im menschlichen Körper muß der Sitz der Seele seyn, in welchem die Abhängigkeit der Seele vom Körper in Ansehung der Empfindungen am unmittelbarsten ist, und in welchen der Wille der Seele bey den willkührlichen Bewegungen zunächst wirkt«299 Dieser Körperteil kann kein anderer sein als das Gehirnmark, und zwar in seiner Gesamtheit300. Mit ihm, als Ganzem und in allen seinen Teilen, steht die Seele in gleichen Verhältnissen301. Dieser Auffassung huldigt Plainer noch in den Philosophischen Aphorismen von 1776302. Im zweiten Teil der Philosophischen Aphorismen von 1782 jedoch identifiziert Platner Seelensitz und Seelenorgan mit dem Nervengeist303. Damit ist nunmehr der gesamte Körper Seelenorgan und Seelensitz und die Seele folglich zu einer ausgedehnten geworden. Im ersten Band der zweiten Auflage der Philosophischen Aphorismen (1784) nimmt Platner die Identifikation von Seelenorgan und Seelensitz wieder zurück; nunmehr heißt es: »Das wesentliche Seelenorgan, oder der Sitz der Seele, ist derjenige Theil des Körpers, in welchem alle Sinneneindrücke sich endigen, alle Bewegungen des Körpers sich anfangen, und alle Seelenwirkungen überhaupt zunächst sich äußern.«304 Das Seelenorgan ist erneut, wie schon 1772, das sensorium commune, wofür das Gehirnmark erkannt wird305. Im Gegensatz dazu wird dann in der Neuen Anthropologie von 1790 das gesamte Gehirn pauschal zum (unmittelbaren) Sitz der Seele erklärt306. Wird aber der Umstand eingerechnet, daß das Seelenorgan mit dem im ganzen Körper verbreiteten Nervengeist identisch ist, so folgt daraus gleichermaßen, daß der (mittelbare) Sitz der Seele der gesamte Körper ist.307 — Die sich stets aufs neue wandelnden Ansichten zeigen Platners ungenügende Berücksichtigung der notwendigen Unterscheidung zwischen Seelensitz und Seelenorgan, vor allem in den Philosophischen Aphorismen von 1782308. Diese Wankelmütigkeit fußt auf der generellen Schwierigkeit, zwei Phänomene miteinander in gedankliche Übereinstimmung zu bringen: einmal, daß die Seele im Gehirn gewissermaßen das Nervensystem steuert, anderseits aber, daß die
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Platner, Anthropologie (1772), S. 44 § 159. Ebd., S. 45 § 163,47 §173. Ebd., S. 49 § 178. Platner, Philosophische Aphorismen (1776), S. 48-50 §§ 153, 157. Bedauerlicherweise läßt Schöndorf (1985) die Philosophischen Aphorismen von 1776 in seiner Untersuchung unberücksichtigt. Platner, Philosophische Aphorismen 2 (1782), S. 240 § 561: »Das Seelenorgan ist das unsichtbare, in den Nerven und Gehinifibern wirksame, selbstthädge Principium der Empfindung und Bewegung. Man nennt es Nervengeist, Lebenskraft u. s. w.« Platner, Philosophische Aphorismen 1 (1784), S. 49f. § 143. Ebd, S. 50 § 144. Platner, Neue Anthropologe (1790), S. 78 § 225. Ebd, S. 62 § 187. Bekanntlich war das auch der Vorwurf Kants gegenüber Soemmenings Annahme eines Seelenorgans (vgl. Hagner (1993), S. 7).
Hetz contra Platner
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Seelenwirkungen im Körper nicht auf das Gehirn beschränkt bleiben309; oder anders formuliert: (1) alle seelischen Funktionen werden vom Gehirn als Ganzem zwar realisiert, und dennoch ist (2) die Seele nicht im Gehirn lokalisierbar. Aufs Ganze gesehen ist die Platnersche Konzeption vom Seelenorgan der Versuch, die aus der animistischen Positionierung resultierenden physiologischen Erklärungsdefizite abzugleichen, ohne dabei einem dynamischen Vitalismus das Wort zu reden und ohne traditionelle metaphysische Begrifflichkeiten preiszugeben, wie das Robert Whytt (1714-1766) und Dieterich Tiedemann (1748-1803) mit ihrer Annahme einer ausgedehnten Seele im Sinne einer Äquipotenztheorie getan haben. Letztlich gelingt es Platner jedoch auch mit der Annahme eines zweigeteilten Seelenorgans nicht, das Commmercium mentis et corporis widerspruchsfrei zu erklären. Statt einer befriedigenden Synthese von Leib und Seele verschiebt er lediglich den Dualismus, von dem er sich dann schließlich auch nicht abzulösen vermag. Er denkt den Menschen, wie schon in der Anthropologie von 1772, primär von seiner Geistigkeit her und unterlegt seiner Anthropologie eine teleologische Struktur. Der Leib ist nur Mittel zum Zweck, notwendig für einen Kontakt mit der körperlichen Welt. »Der Mensch ist sofern die Seele allein, wiefern die Seele allein fähig ist des geistigen Lebens und Bewußtseyns, und der Körper ihr bloß dient zum Werkzeuge ihrer leidentlichen, und selbstthätigen Wirkungen«310, so das Credo seiner Neuen Anthropologie (1790). Darin liegt auch die grundsätzlich negative Bestimmung der Sinnlichkeit überhaupt, nicht nur der Affekte, beschlossen311. Beide Anthropologie-Entwürfe thematisieren vornehmlich statt der Körperabhängigkeit des Seelischen das umgekehrte Verhältnis, die Seelenabhängigkeit des Körperlichen. Von daher ist es durchaus gerechtfertigt, sie beide in erster Linie als Versuche einer teleologischen >BestimmungKenntnis< des Menschen zu bezeichnen.
6. Herz contra Platner: Der Streit um das Wesen der Gedächtniseindrücke Abschließend soll auf ein spezifisches Problem der Platnerschen Lehre vom Commercium mentis et corporis etwas ausführlicher eingegangen werden. Es handelt sich um seine Vorstellungen hinsichtlich des Wesens der Gedächtniseindrücke lind ihre Diskussion im zeitgenössischen Schrifttum, die erneut zu seinem Anthro/>o¿2>K-Rezensenten Marcus Herz und auch zu Johann Karl Wezel hinführen. Bevor jedoch die genuin Platnerschen Vorstellungen einläßliche Behandlung finden können, gilt es zunächst den Hintergrund zu skizzieren, vor dem sich in den siebziger und achtziger Jahren des 18. Jh. der Widerstreit psychologischer
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Schöndorf (1985), S. 86. Platner, Nim Anthropologe (1790), S. 58 § 175. Ebd, S. 75 § 218.
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Meinungen abspielt. Dabei ist es unumgänglich, eine synchrone und eine, wenn auch zugegebenermaßen sehr verkürzte, diachrone Ebene einzuziehen. Denn die Diskussion der materiellen Ideen< betrifft ein Herzstück der in den siebziger Jahren allgemein herrschenden mechanischen Psychologie. So wird zunächst mit Johann Nicolaus Tetens (1736-1807) der wohl prominenteste Gegner der Bonnetschen Psychologie zur Sprache kommen. In seinem Hauptwerk, den Philosophischen Versuchen über die menschliche Natur und ihre Tintwickelung (1777)312, findet die antimechanische Psychologie jener Zeit ihre höchste und wirkungsmächtigste Aufgipfelung und mit ihr zugleich diese ihre argumentativ durchschlagendste Widerlegung. Natürlich gab es bereits vor der Bonnetschen Psychologie den Terminus >materielle Ideemateriellen Idee< ausmacht, und den weit größeren Stellenwert, der ihr in der mechanischen Psychologie nunmehr zukommt, annähernd adäquat ermessen zu können, wird ein Aufsatz aus dem Jahre 1761 zur Sprache kommen, der augenscheinlich noch völlig frei von Einflüssen der mechanischen Psychologie ist. Zudem zeigt sich an ihm, daß selbst in wahrnehmungsphysiologischen Belangen Albrecht von Haller die maßgebliche Autorität jener Zeit war, an der man sich orientierte, der man folgte — was hier der Fall ist — oder von der man sich kritisch absetzte. Daran schließt sich eine weitere Abhandlung an, die knapp zwanzig Jahre später als der vorstehende Aufsatz verfaßt worden ist und nunmehr ganz konkret die Auseinandersetzung mit der inzwischen zu einer einflußreichen zeitgenössischen Strömung gewordenen mechanischen Psychologie sucht. Sie ist es dann auch, die die Hallerschen wahrnehmungsphysiologischen Ansichten problematisiert und einer dem zeitgenössischen physiologischen und psychologischen Kenntnisstand adäquaten Ausdrucksweise vorarbeitet. Daß diese Studie schließlich in ihrer Zeit von einigem Gewicht war, zeigen die fast stereotyp zu nennenden Bezugnahmen im psychologischen und philosophischen Schrifttum jener Zeit. — Erst jetzt, nachdem das Feld sowohl synchron wie diachron aufbereitet ist, werden die Entwicklung der Platnerschen Gedanken hinsichtlich der Natur der materiellen Ideen< beleuchtet und die an ihnen geübte Kritik thematisiert. Doch zunächst zu Tetens. Johann Nicolaus Tetens beginnt seine Philosophischen Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung (1777) mit einer ganz und gar programmatischen Differenzierung, indem er der empirisch-beobachtenden die analytisch-anthropologische bzw. metaphysisch-analytische Methode gegenüberstellt und beide eingehend charakterisiert. Erstere sei es, der sich Locke in seinen Untersuchungen über den menschlichen Verstand und die Psychologen in der »Erfahrungs-Seelenlehre« bedienten. Diese auf der Erfahrung beruhende »psychologische Analysis der Seele«313 registriert mittels des Selbstgefühls die Modifikationen der Seele, wiederholt diese
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Tetens, Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung (2 Bde.), Leipzig: 1777. Tetens, Philosophische Versuche 1 (1777), Vorrede, S. IV.
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unter gezielter Veränderung der Umstände und hat dabei auf ihre Entstehungsarten und die Wirkungsgesetze der Seelenkräfte acht. Danach werden die verschiedensten Beobachtungsergebnisse miteinander verglichen und die psychologischen Phänomene nach und nach in ihre Konstituenten aufgefächert, bis man schließlich auf »die einfachsten Vermögen und Wirkungsarten und deren Beziehung auf einander« kommt. 3 1 4 Die metaphysisch-analytische Methode sieht im Gegensatz dazu ganz gezielt auf das körperliche Substrat, das Gehirn als dem »innern Organ der Seele«, und versucht die Modifikationen der Seele als Gehirnbeschaffenheiten und -Veränderungen zu beschreiben und zu erklären 315 . Dabei kann es sein, daß der nach einer solchen Methode verfahrende Psychologe alle oder aber nur bestimmte körperliche Veränderungen aus der Mechanik des Gehirns erklärt. Werden alle Veränderungen auf zerebrale Prozesse zurückgeführt, ist die Annahme eines Seelischen überflüssig; ein solcher Psychologe wird dann zutreffenderweise ein Materialist zu nennen sein. Insofern kann die Konzeption der >materiellen Idee< füglich als erster Schritt hin zu einem philosophischen Monismus, zum Materialismus nämlich, gedeutet werden. Die meisten mechanischen Psychologen allerdings gehen in ihrem Reduktionismus nicht so weit, das Seelische gänzlich zu leugnen 316 , indem sie dennoch zwischen Seelenwirkungen und zerebralen Prozes-
Ebd. Ebd. 316 Diesen Schritt vollzog bekanntlich Julien Offray de La Mettrie (1709-1751) mit seinem Werk L'homme machine (1747, vordatiert auf 1748). Er setzte dem Cartesischen Substanzendualismus einen Monismus entgegen, postulierte die materielle Einheit des Menschen (l'Unité materielle de l'Homme-, La Mettrie, L'homme machine (1747), S. 106f.) und führte alle tierischen und seelischen Funktionen auf ein einziges mechanisches Bewegungsprinzip (principe de mouvement, principe moteur, ebd., S. 96f., lOOf.) zurück, das den Fasern als den kleinsten organisierten tierischen Körperteilen angeboren ist (fora innée, ebd., S. lOOf.): die Muskelirritabilität (vgl. ebd., S. 96-101). Die nur sekundäre, vermittelst des Gehirns wirkende, wenngleich nervenunabhängige Muskelirritabilität (ebd., S. lOOf.) wird durch das in jenem in seiner feinsten und wunderbarsten Ausformung wirkende Prinzip belebt. Das Gehirn, genauen der Nervenursprung ist somit die Quelle aller Gefühle, Leidenschaften und Gedanken und hat, wie das Bein zum Laufen, >Muskeln< zum Denken (car te cerveau a ses muscks pour penser, comme ¡esjambes pour marcher (ebd., S. 102f.)). Obgleich La Mettrie einmal behauptet, daß die Natur der Hirnmuskelbewegung so unbekannt ist wie die der Materie (ebd., S. 118f.), so spricht er doch an anderer Stelle auch ganz konkret von Schwingungen (ία oscillation, ebd., S. llOf.) und vom Schwingungsprinzip organisierter Körper (leprincipe d'osrillation des corps organisir, ebd., S. 114f.). Mit der Reduktion aller seelischen Funktionen auf ein rein mechanisches Bewegungsprinzip und die damit einhergehende Materialisierung des Denkens wird die Seele zu einem leeren Begriff (un vain termi), der allenfalls noch dazu taugt, denjenigen Teil zu bezeichnen, der im Menschen denkt (ebd., S. 96f.). Die Seele ist nurmehr ein Bewegungsprinzip bzw. ein empfindlicher materieller Teil des Gehirns (L'Ame n'est qu'un principe de mouvement, ou une Partit matérielle sensible du Cerveau-, ebd., S. llOf.). Die Reduktion geht aber nicht so weit, daß auch der qualitative Unterschied des Bewußtseins vom übrigen Körper verkannt wird. Gleich Haller hält La Mettrie den Ursprung des Seelischen selbst, das mechanische Bewegungsprinzip, fur unerforschlich. Insofern ist man auch nur berechtigt, seinen Materialismus als einen nicht-reduktiven Materialismus zu bezeichnen. - Unter den Assoziationspsychologen ragt der Hartley-Schüler Joseph Priestley (17331804) seines konsequenten Materialismus wegen heraus. In einem seiner den Hardeyschen Observations on man vorangestellten Introductory Essays heißt es: »Es wird einige befremden, daß beym Geschäfte des Denkens so sehr vieles blos von der Materie abhangen sollte, als die Lehre von den 314
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sen wohl zu unterscheiden wissen: »aber es geht doch bey ihren Analysen eben sowohl, als bey den Erklärungen der erstem [der Materialisten] alles dahin, zu zeigen, wie weit Fühlen, Vorstellen, Bewußtseyn, Denken, Lust, Unlust, Wollen, Thun, nicht nur v o n der Organisation des Gehirns abhängen, sondern selbst in Veränderungen und Beschaffenheiten desselben bestehen. U n d was nun in dem körperlichen Organ seinen Sitz nicht haben kann, das hat ihn denn in der immateriellen Seele bey denen, die eine solche annehmen«. 317 D a s Gehirn wird v o n den mechanischen Psychologen also als eine v o n der Seele bewegte >Maschine< aufgefaßt. Unter Zugrundelegung dieser Voraussetzung muß dann nur noch darauf gesehen werden, welche Veränderungen sich in der Gehirn-Maschine abspielen, und man hat Einblick in den Mechanismus des Denkens gewonnen, den man unter diesen Umständen auch ganz zutreffend »Mechanismus der Ideen« 318 nennen kann. Diese Methode könne deshalb auch eine metaphysische genannt werden, so Tetens, weil sie sich »ganz außer den Gränzen der Beobachtung« 3 1 9 be-
Schwingungen voraussetzt. Denn in der That läßt diese Theorie, das einzige Perçeptionsvermôgen ausgenommen, keinem andern Prinzipium das mindeste Geschäfte übrig; so daß, wenn der Materie diese Eigenschaft beygelegt weiden könnte, die Immaterialität, so fern sie nemlich beym Menschen angenommen wird, schlechterdings ganz aufgegeben werden müßte« (Priesdey (1778), S. 25). Und er selbst ist dieser Meinung: »Ich glaube [...], der Mensch sey aus einformigfn Theiltn ^zusammengesetzt, und ich halte sowol die Perception, als auch alle die übrigen Kräfte, die man Seelenkräfte zu nennen pflegt, für das Resultat [...] einer solchen organischen Struktur, wie das Gehirn ist« (ebd., S. 27). Damit ist das Fundament für den assoziationspsychologischen Reduktionismus gelegt: »alle Phänomene des Denkens [können] aus dem einzigen Prinzipium der Assoziation hergeleitet werden« (ebd., S. 29). Sein anthropologischer Materialismus hindert ihn bemerkenswerterweise aber nicht daran, an einen Gott zu glauben. 317 Tetens, Philosophische Versuche 1 (1777), Vorrede, S. V. 318 Ebd., Vorrede, S. VI. 3 1 ' Ebd., Vorrede, S. V. Es ist in diesem Zusammenhang nicht uninteressant, das Urteil Michael Hißmanns (1752-1784) dagegen zu halten. Dieser schreibt einmal: »Die mechanische Psychologie, die Malebranche nach dem Aristoteles vielleicht zuerst vorzutragen wagte, die Hartley weidäuftiger auseinander setzte, wurde vom vortreflichen Verfasser Jes Essai Je Psychologe ohne Zurükhalt gepredigt. Man muß sich wundern, wie dieser Verfasser, da er laut genug sprach, dennoch fast ganz überhört, und da er eine neue, und noch dazu die einzige wahre Art zu philosophiren hatte, indem er die Erfahrung zu Hülfe nahm, und die auf der Studierstube gesponnenen Systeme, denen die Erfahrungen alle Augenblick widersprachen, wegwarf, dennoch sein Zeitalter so wenig auf sich aufmerksam machen konnte« (Hißmann, Geschichte der Lehrt von der Association der Ideen (1777), S. 63f.). Beide Parteien nehmen demnach für sich in Anspruch, empirisch vorzugehen, und werfen einander vor, sich in metaphysische Spekulationen zu versteigen. Hierzu ist festzuhalten, daß Bonnets mechanische Psychologie im Gegensatz zur älteren ein weit größeres, empirisch gerechtfertigtes Erklärungspotential mit sich führt. Er überstrapaziert allerdings die Balance von Empirischem und Spekulativem in dem Moment, als er das Zerebrale gegenüber dem Psychischen verabsolutiert und behauptet, individuelle psychische Differenzen ließen sich allein aus der Verschiedenheit des Gehirns herleiten, so daß das Psychische nicht allein im Fibernphysiologischen analogisch erkannt, sondern sogar durch jenes ersetzt werden könne. Der nur konsequent zu nennende Versuch Bonnets, die Seelenkräfte aus den verschiedensten zerebralen Fiberbewegungen abzunehmen, wie er dies im Essai analytique sur les facultés de l'âme (1760) auch tatsächlich demonstriert, konnte einer Vielzahl von Psychologen als nichts anderes als eine empirieferne, sich ins Metaphysische versteigende Spekulation vorkommen. Und hier setzt dann Tetens' empirisch ausgerichteter Versuch ein, der die Eigengesetzlichkeit des Psychischen betont und auf die durch das Selbstgefühl
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wegt, insofern man über die Physik des Gehirns nichts Zuverlässiges weiß und beobachten kann, sondern alles reine Hypothesen sind. Tendenziell bedingt diese Methodik eine Reduktion des Seelischen auf das Zerebrale, und das, obwohl man sich im klaren darüber ist, daß hinter den körperlichen Prozessen eine immaterielle Substanz als bewegende Kraft steht. Dabei wird gewissermaßen der Weg der Erkenntnis richtungsverkehrt beschritten: Die psychologische Auflösung habe deshalb, will man nicht in denselben Fehler verfallen, der metaphysischen vorherzugehen. »Ist diese einmal beschaffet, so ist die metaphysische auf eine Auflösung einiger weniger Grundvermögen und Wirkungsarten zurückgebracht, und ist alsdenn, wofern sie sonst nur auf zuverlässigen Gründen beruhet, in der Kürze so weit zu bringen, als sie überhaupt gebracht werden kann«.320 Der die mechanische Psychologie kennzeichnende Reduktionismus konzentriert sich also in erster Linie auf das körperliche Substrat des Denkens, auf die sog. >materiellen IdeenSpiegelbildlichkeit< liegt dann der Keim spekulativen Abdriftens beschlossen. Tetens, Philosophische Versuche 1 (1777), Vorrede, S. XIV. Unter »materiellen Ideen« versteht Tetens »alle Gehimsbeschaffenheiten, die unsere Seelenveränderungen begleiten«, und nicht nur diejenigen, die den Vorstellungen und Ideen korrespondieren (Tetens, Philosophische Versuche 2 (1777), S. 160). Tetens, Philosophische Versuche 1 (1777), Vorrede, S. VII. Ebd. Ebd., Voirede, S. X.
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konzipierten Psychologie. Der Sitz der Idee ist seiner Meinung nach nicht identisch mit der materiellen IdeeAufmerksamkeit< kommt in den mechanischen Psychologien, wie oben bereits angedeutet, nicht mehr die Aufgabe zu, die in der Seele liegenden Vorstellungen zur Klarheit und Deutlichkeit zu erheben, woraus sich ihr Sitz zwischen dem unteren und oberen Erkenntnisvermögen herleitete. Vielmehr hat sie nun die Funktion, den Hiatus zwischen seelischem Subjekt und wahrzunehmendem körperlichem Objekt in Form der materiellen Ideen< zu überwinden, indem sie deren Träger, die Fibern oder ihre Bewegungen, in einem solchen Maße verstärkt, daß die Seele diese klar und deutlich vor sich gestellt sieht, sie dieser iwstellt.328 Die Aufmerksamkeit »zeigt« der Seele, um im vorherigen Brückengleichnis zu bleiben, die jeweilige »wahrnehmungsphysiologische Brücke«, die >materielle IdeeSeelensitzes< nur noch Überbleibsel bereits vergangener populärwissenschaftlicher Zeiten sah.329 Zunächst aber, Mitte des Jahrhunderts, waren diese Fragen noch auf der Tagesordnung. Um einen Begriff von den Problemlagen und Lösungsansätzen zu bekommen, werden nunmehr, wie bereits angekündigt, in gebotener Kürze zwei Aufsätze, einer aus dem Jahre 1761 und einer von 1780, zur Sprache kommen. Der erste erschien in zwei Folgen im Hamburgischen Maganti mit dem Titel Betrachtungen über die Eindrücke, welche durch die Sinnen verursacht werdetf330 und hat den Naturwissenschaftler und späteren Staatsbeamten und Professor in Warschau, Johann Michael Hube (1737-1807), zum Verfasser. Der andere, sich daran anschließende Aufsatz entstammt der Feder Johann Albert Heinrich Reimarus' (1729-1814). Die Abhandlung Hubes setzt prospektiv mit dem für die hier zu besprechende Thematik zentralen Paragraphen 558 der Hallerschen Primae lineae phystologtae ein. Hube geht danach ohne Umschweife von dem »Daseyn gewisser Bilder im Gehirne«331 aus und verlegt, wie später auch die mechanischen Psychologen, das »Gedächtniß« ins Gehirn. Die Lokalisation des Gedächtnisses begründet er mit folgender Erfahrungstatsache: »Wäre er [der Eindruck] bloß in der Seele gewesen, so würde keine Pest, kein Fieber, Krankheiten, durch welche die Seele nicht getroffen werden kann, ihr denselben rauben können.«332 Es sei sogar angesichts weiterer empirischer Befunde, wonach schwere partielle Hirnläsionen keinerlei Beeinträchtigungen des Gedächtnisses nach sich gezogen hätten, wahrscheinlich, daß diese Bilder nicht nur einmal im Gehirn »abgedrückt« werden, sondern mehrmals in verschiedenen Hirnpartien, zumindest aber zweimal, so daß »das
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Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesummten Wusenschajtslehrt, als Handschrift fir seine Zuhörer (1794), in: Fichtes Werke. Band 1: Zur theoretischen Philosophie, hg. Immanuel Hermann Fichte, Berlin: Walter de Gruyter & Co 1971, S. 244f. Als Beispiel einer an Kantischen Prinzipien geschulten Wahrnehmungspsychologje sei hier ein Passus aus Carl Christian Erhard Schmids Empirischer Psychologie (1791) zitiert. Dort ist ein »Eindruck« dann nur noch die »Würkung eines Gegenstandes (durch das sinnliche Werkzeug) auf das Gemiith, wodurch dasselbe verändert wird, d. i. der Eindruck (materielle Vorstellung oder gar Idee) ist nicht der innere Stoff der Vorstellung selbst in dem Gemüthe, sondern allenfalls eine äussere Bedingung dieses Stoffes, welcher als Stoff einer Vorstellung nur in der Vorstellung selbst und mit der ihr eigenthümlichen Form vorkommen kann. [...] Die Vorstellung ist also kein eigentliches Bild vom Gegenstand, wenn man unter einem Bilde nicht überhaupt etwas einem Original entsprechendes, sondern auch etwas einem Original ähnliches - versteht« (Schmid, Empirische Psychologe (1791), S. 187f. §§ 15£). Eindrücke sind auch nicht ohne die die Anschauung strukturierende Tätigkeit des erkennenden Subjekts denkbar, also nie nur so etwas wie »eingegossene Vorstellungen, d. h. solche, von denen kein Bestimmungsgrund in einer Thätigkeit des Gemüthes läge« (ebd., S. 186 § 12). Hube, Betrachtungen über die Eindrückt, weicht durch die Sinnen verursacht werden, in: Hamburgisches Magazin, oder gesammlett Schriften, Aus der Naturfonchung und den angenehmen Wissenschaften überhaupt 25(1761),4, S. 353-370 (1. Stück) und 25(1761),2, S. 184-198 (2. Stück). Ebd., S. 355; vgl. ebd., S. 356. Ebd., S. 356.
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Gedächtniß keinen Abbruch [leidet], so lange nur die eine Hälfte des Gehirns unversehrt bleibt«333. Ganz im Gegensatz zu Tetens macht sich bei Hube also eine räumliche Konzeption der Repräsentanz materieller Ideen< geltend. Die Gedächtniseindrücke werden einmal denjenigen Partien des Gehirns beigebracht, denen die unterschiedlichen Sinnesnerven entspringen. Ein anderes Mal werden sie in dem alle Sinne vereinigenden Punkt, im sog. sensorium commune, versammelt334. Da aber die Nerven selbst eines einzigen Sinnes verschiedenen Gehirnarealen entspringen, ist es unumgänglich anzunehmen, daß dem Gehirn durch jede Sinnesimpression nicht nur ein Eindruck, sondern mehrere Eindrücke beigebracht werden335. Die zerebral vervielfachten Eindrücke nur jeweils einer Wahrnehmung erfahren eine zusätzliche Vermehrung deshalb, weil in den wenigsten Fällen ein Phänomen nur durch einen einzigen Sinn wahrgenommen wird; im Normalfall sind daran immer mehrere Sinne beteiligt. — Um einen Gegenstand dann wieder in seiner ursprünglichen Einheit im Bewußtsein entstehen zu lassen, müssen notwendigerweise die separaten Wahrnehmungsfragmente zerebral aufs innigste verbunden werden, und zwar so, daß sie möglichst nahe beieinander liegen: sie bedürfen einer strukturellen, physisch realisierten Synthese. »Sobald ein neues Bild im Gehirne entsteht, erfolget in diesen gleichfalls eine Bewegung, die sich bis zu dem innern Sinne fortpflanzet, und daselbst ein völlig ähnliches Bild auf eben die Art hervorbringt, wie die Fasern des Sehnerven einen der Abbildung im Auge ähnlichen Abdruck im Gehirne verursachen.«336 Diese Funktion übernimmt im Gehirn das sog. sensorium commune bzw. der Sensus internus (innerer Sinn). In ihm werden »alle durch die einzelnen Sinne erhaltenen Bilder aufs neue« abgedrückt337. Erst als körperlich synthetisierte Eindrücke können sie ein Bewußtsein ihrer selbst in der Seele erwecken. Die Bewußtheit eines sinnlichen Eindrucks ist also nicht an irgendeinen, an einem beliebigen Ort im Gehirn vorhandenen Eindruck gekoppelt, sondern setzt einen solchen notwendigerweise stets auch im inneren Sinn {sensorium commune) voraus338. Die Beantwortung der Frage nach der Beschaffenheit der Eindrücke ist, wie oben bereits angedeutet, untrennbar mit den jeweiligen neuroanatomischen und -physiologischen Vorstellungen verbunden. Hube schließt sich diesbezüglich Haller ebenso an wie später Platner und betrachtet den Nerv als eine nervensaft-
Ebd., S. 356. Ebd., S. 358. Der Gedanke von einem das Zentrum der Sinneswahrnehmung bildenden sensorium commune läßt sich bis in die Antike zurückverfolgen. Man begegnet ihm bereits bei Aristoteles in den Parva naturatia. Dort wird von einem Körperteil berichtet, einem Werkzeug der besonderen Sinne, das zahlenmäßig ein und dasselbe ist und in dem sich die wirklichen Wahrnehmungen begegnen. Diese Funktion erfordert eine zentrale Lage des Körperteils, das in der Mitte liegt »zwischen dem, was man vorn und hinten nennt [...], und [...] oben und unten« (Aristot Von Jugend und Alter, Leben und Tod; 467b). Bei Aristoteles ist es das Herz, bei Descartes die Zirbeldrüse. 335 Hube, Befrachtungen über die Eindrücke (1761), S. 184. 336 Ebd., S. 188. 337 Ebd. 338 Ebd., S. 190. 333
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erfüllte Röhre339. Die Fortpflanzung des peripheren Sinneseindrucks vollzieht sich analog der Eulerschen Auffassung340 von der wellenartigen Ausbreitung des lichtes (im Gegensatz zu Newtons korpuskulartheoretischer Auffassung), indem dem Nervensaft eine seiner Spannung entsprechende Oszillation beigebracht wird341. Auf den Augensinn bezogen heißt das: »Fällt also ein Farbenstrahl auf einen solchen Punct [der Netzhaut], so werden diejenigen Theile desselben eine schwingende Bewegung annehmen, und durch den Nervensaft weiter fortpflanzen, deren Farbe mit der Spannung übereinkömmt; die übrigen hingegen gar nicht bewegt werden.«342 Die schwingende Bewegung wird dann in den nervensaftgefüllten Nerven bis zu deren Ursprung fortgepflanzt, wo mittels eines Unduladonsstoßes die Markteilchen des Nervs etwas »fortgerückt« und der Nerv dadurch »etwas verlängert [wird]. Da nun dieses in jedem Nerven auf gleiche Art geschieht, so werden die eingedruckten Puñete zusammen die Figur eines, dem im Auge [auf der Netzhaut] gemalten, ähnlichen Vierecks machen«.343 Auf diese Art wird das Bild des äußeren Gegenstandes dem Gehirn förmlich eingestanzt bzw. eingeprägt. Was hier für den Augensinn dargetan worden ist, gelte gleichermaßen für das Gehör344. Der optische und der akustische Sinn unterscheiden sich von den übrigen aber durch die mittelbare Einwirkung auf die Nerven, was die mechanische Erklärung des wahrnehmungsphysiologischen Vorgangs im Gegensatz zu den anderen Sinnen zusätzlich erschwert. »Bey den übrigen Sinnen, in welche die äußerlichen Körper unmittelbar wirken, beruhet der Unterschied der Empfindungen hauptsächlich auf der Figur, der kleinsten Theilchen, aus denen die Körper zusammengesetzt sind. Von diesen Theilchen entstehen Abbildungen im Gehirne.«345 Diese selbst sind aufgrund ihrer materiellen Substantialität veränderlich und gleichen wie die akustisch und visuell verursachten Eindrücke nie vollkommen ihrem Original, sondern sind diesem stets nur ähnlich346. — Das sind in Kürze die Grundlinien in Hubes Aufsatz. Bemerkenswert an seinen Ausführungen ist zunächst einmal der vorbehaldose Anschluß an Hallers wahrnehmungsphysiologische Anschauungen. Nächstdem läßt die Vervielfachung zerebraler Repräsentanz sinnlicher Eindrücke aufhorchen, stellt sie doch die Zeitgenossen vor enorme Probleme hinsichtlich der ohnehin schon überbordenden Menge zu speichernder materieller Ideenmateriellen Idee< als eines Eindrucks gar nicht mehr so sehr zu seinen Ungunsten ausfallen will. Dennoch widerfahrt den darin niedergelegten Anschauungen, vor allem vor dem Hintergrund der dann in den 70er Jahren aufblühenden Fibernpsychologie, vielfaltige Einrede. Stellvertretend sei hier auf den seinerzeit überaus wirkungsmächtigen Aufsatz des praktischen Arztes und vielseitigen Gelehrten Johann Albert Heinrich Reimarus (1729-1814), dem Sohn des Philosophen und Religionskritikers Hermann Samuel Reimarus (1694-1768), eingegangen — einer schlagkräftigen Widerlegung der gängigen Variationen der Bildertheorie: der Spuren- und Dispositionstheorie gleichermaßen. In erster Linie richtet sich Reimarus' Aufsatz gegen Helvetius' und Priestleys Behauptung, die Denkvorgänge seien primär oder gänzlich körperlicher Natur und die Annahme eines »wahrnehmenden und wollenden Ichs« als eines »besondere[n] einfache[n] Wesen[s]« (d. h. einer Seele) deshalb überflüssig347. Die Abhandlung verfolgt in spiegelbildlicher Entsprechung zum Unzerschen Ansatz in erster Linie das Ziel, »dasjenige was der Körper zu unsern Vorstellungen beiträgt von der eigenen Vorstellungskraft zu unterscheiden«348. Die Vorstellung von den bildlichen Sinneseindrücken ist bekanntlich antiken Ursprungs: namentlich auf Epikur ist in diesem Zusammenhang zu verweisen, der sich den sinnesphysiologischen Vorgang derart vorstellte, »als ob kleine Bilder davon [von den Gegenständen] umher flögen und durch unsere Sinneswerkzeuge in den Kopf kämen«349. Zwar erfuhr diese Meinung in der Folgezeit allenthalben entschiedene Einrede, die schließlich zur gänzlichen Suspendierung der materialistischen Erklärungsweise führte; allein die Termini >Bild< und >Eindruck< verführten immer wieder dazu, ihre metaphorische Verwendungsweise zu vergessen. Selbst die Zuflucht zu anderen Ausdrucksweisen wie >Veränderung< hat dem nicht genugsam vorzubauen vermocht, da sich mit ihnen trotzdem immer auch zugleich der Gedanke eines scharf Umgrenzten und vom konkreten Gegenstand deutlich Konturierten verband, so beispielsweise, wenn man von >Veränderungen< sprach, die im Gehirn bloße >SpurenBilder< oder >Eindrücke< hinterließen351. Exemplarisch ist das soeben geschilderte Phänomen terminologischen Abdriftens und letztendlichen Abgleitens in den Schriften eines der herausragendsten deutschen Universalgelehrten und
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Reimarus, Betrachtung der Unmöglichkeit körperlicher Gedächtniß-Eindrücke und eines materiellen VorsteüungsVermögens, in: Göttingisches Magasin der Wissenschaften und Litteratur 1(1780),4, S. 27; vgl. auch S. 30 und ders., Fortsetzung der Betrachtung über die Unmöglichkeit körperlicher Gedächtniß-Eindrücke und eines materiellen Vorstellungs-Vermögens, in: ebd. (1780),6, S. 351-386. Reimarus, Betrachtung der Unmöglichkeit körperlicher Gedächtniß-Eindrücke (1780), S. 28f. Ebd, S. 30; vgl. Lucr. 4,30f.; 4,63f.; 4,216-229; 4,726-780. »dauerhafte Spuren (gleichsam Fußstapfen) [...], und zwar umgrenzte, abgesonderte Spuren, welche sich auf jede besondere Empfindung beziehen« (Reimarus, Betrachtung der Unmöglichkeit körperlicher Gedächtniß-Eindrücke (1780), S. 34f.). Ebd., S. 31 f.
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Multiplikators physiologischen Wissens in der zweiten Hälfte des 18. Jh., bei Albrecht von Haller (1708-1777), beobachtbar, der selbst natürlich alles andere als ein Materialist war. Gleich Hube (1761) zitiert Reimarus eine Passage352 aus dem Paragraphen 558 der Primae lineaephystologiae, wo es heißt: »Eas mutationes in sensorio consérvalas, ideas multi, nos vestigia rerum vocabimus, quae non in mente, sed in ipso corpore, et in medulla quidem cerebri, ineffabili modo, incredibiliter minutis notis et copia innata inscriptae sunt.«. — »Diese im Empfindungssitz außewahrten Veränderungen werden von verschiedenen Schriftstellern Begriffe (ideae, notiones) genannt Wir werden aber besser thun, wenn wir sie, der Deutlichkeit halber, Eindrücke {vestigia) nennen, (weil sie das sind), indem sie sich nicht in die Seele, sondern in den Körper selbst, und zwar ins Gehirnmark, auf eine übrigens unerklärbare Art, mit unendlich kleinen Merkmahlen, und in unzähliger Menge, eingraben.«353 Positiv setzen sich gegen solche, ins Materialistische abgleitende, sprachliche Unscharfen Charles Bonnet (1720-1793) und vor allem Johann August Unzer (1727-1799) ab. Ersterer hat seine Theorie zumindest nicht auf Eindrücke, sondern auf Bewegungen und Dispositionen zu Bewegungen gegründet, schreibt Reimarus, letzterer aber geht lobenswerterweise das Problem ganz direkt an, indem er betont, von >materiellen Ideen< nur im Sinn von bloßen »Bewegungen« zu sprechen, die keinesfalls als »hieroglyphische Figuren« oder »bleibende Eindrücke« angesehen werden dürften354. Trotzdem hat sich die Unzersche Meinung unter den deutschen Gelehrten nicht festsetzen können, so daß nach wie vor »die Vorstellung von solchen Gehirnbildern noch bisher die herrschende« ist355. J. A. H. Reimarus lehnt eine einläßliche Untersuchung der gröberen Bildtheorie von vornherein ab. Denn die dem Visuellen abgeborgte Erklärung mittels sog. »Wanderbildchen« sei für sich schon unzureichend, da sie »doch nur Vorstellungen von Grösse, Figur und Farbe« gebe, nicht aber einsichtig machen könnte, wie Gehör, Geruch und Geschmack repräsendert würden356. Hinzu kommt, daß diese Variante der Bildtheorie ebenfalls die Repräsentation von Vorgängen und Relationen nicht oder nur unzureichend erkläre. Denn es gibt nie nur einen Eindruck, sondern immer nur eine Vielzahl von Folgen bzw. ganze Komplexe von Eindrücken, die durch unterschiedliche perspektivische Wahrnehmungen individuell verschieden ausfal-
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Ebd., S. 32. Haller, Primae Untat phyüologiae (1765), S. 256 § 558 (dt Haller, Grundriß der Physiologie für Vorlesungen (1781), S. 353 § 558). Unzer, Erste Gründe einer Physiologie (1771), S. 40-42 § 25 und die dazugehörige Anm. Reimarus, Betrachtung der Unmöglichkeit körperlicher Gedächtniß-Eindrücke (1780), S. 34. Ebd., S. 36. Die Eindrucks-Metaphorik nahm eingestandenermaßen ihren Ausgang vom Visuellen. »Den Anlaß gab der Sprachgebrauch. Alle unsere Benennungen von Seelenkräften und Würkungen sind nämlich nur nach und nach in den Sprachen aufgenommen, und allenthalben metaphorisch nach den körperlichen bezeichnet worden. So sagen wir - rühren, fassen, begreiffen, einsehen, u. s. w. und so sagte man auch — Bild oder Eindruck von der Empfindung oder dem Gedächtnisse, um diese Bestimmung unserer Seele anzuzeigen. Es ist also eigentlich Tropus, Metapher und diese hat man bey Erklärung der Sache zur Würklichkeit gemacht, ja auf eine unbegreifliche Weise auch auf die andern Sinne, wo sie gar nicht paßte, ausgedehnt« (ebd., S. 36f.).
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len. »Nun stelle man sich einen Buchdrucker vor, der einen mit Farbe bestochenen Buchstaben auf weissem Papier abdrucken wollte: er führe aber mit demselben immer hin und her, auf und nieder, kehrte ihn bald so, bald so herum, setzte auch eine Folge von kleinern und grössern Kegeln über einander: wird da jemahls das Bild des Buchstaben nachbleiben? wird nicht jeder Zug verwischt werden, und am Ende alles überschmiert seyn?«357 Aber nicht nur um die >Wahrnehmung< selbst, sondern auch ihre die >Erinnerung< daran stärkende Wiederholung der gleichen Wahrnehmungen sind auf diese Art und Weise nicht erklärbar, da diese »nicht mit einerley Stempel« gemacht und ebenfalls »nicht wieder auf dieselbe Stelle« im Gehirn aufgebracht werden358. Der eigentliche >neuralgische< Punkt einer rein spekulativen mechanischen Repräsentation sinnlicher Wahrnehmung ist aber in erster Linie die Bestimmung im Sinne einer >Spezifizierung< des materiellen Substrats und nicht so sehr die Frage nach der Natur des materiellen Trägers selbst: egal, ob die »Geschmeidigkeit der Fibern« (Bonnet), die »Bewegungen der Nervenflüssigkeit« (Platner (1790)), ganz gleichgültig, ob >Spuren< (Haller) oder >Bilder< (Platner (1772)); entscheidend ist, ob die ihnen inhärenten Bestimmungen überhaupt als körperlich-distinkt realisierte erklärt werden können, ohne in metaphysische Spekulationen abzugleiten, wie dies in der mechanischen Psychologie der Fall ist. Ist es möglich, und wenn ja, auf welche Weise, daß die aus äußeren Gegenständen resultierenden sinnlichen »Rührungen« dauerhafte, umgrenzte, abgesonderte und sich auf ganz konkrete Empfindungen beziehende zerebrale »Spuren« hinterlassen, und in welchem Umfang359? Denn je umfassender und mannigfaltiger die materiellen Ideen die Bestimmungen ihres Denotats repräsentieren, desto überflüssiger wird das Seelische für die Erklärung psychologischer Phänomene, da auf deren Korrekturen und Ergänzungen in zunehmendem Maße Verzicht geleistet werden kann; von daher erklärt sich auch der stete Hang zur gröberen Einprägetheorie unter den mechanischen Psychologen. Auf die Empfindung als ein immer schon komplexes Phänomen bezogen heißt das: Kann Verschiedenes als Einheit eines Mannigfaltigen >repräsentiert< werden oder nicht, und wenn ja, wie?360 Alles läuft schließlich auf die Frage hinaus, ob ein körperliches Gedächtnis überhaupt intensionale Gegenstände oder, in Reimarus' Sprachgebrauch, >Bestimmungen< extensional repräsentieren kann — eine nach wie vor offene und vieldiskutierte Frage! — Nachdem nunmehr die grundsätzliche Fragestellung entwickelt worden ist, auf die eine geeignete Wahrnehmungsphysiologie antworten muß, diskutiert Reimarus die verschiedenen Vorstellungsarten eines materiellen Gedächtnisses, vor allem die
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Ebd., S. 39. Ebd., S. 41. Dieses Argument zielt erneut auf Hallers Paragraphen 558 der Primat Untat pbysiologiae (1765), wo es heißt: »Nouas species certum est iterum ad tarn cerebri partem perfeni, in qua aliai tarum similes memantur.v - »Es ist gewiß, daß die neuen Bilder wieder zu dem Theil des Gehirn hingebracht werden wo andere ihnen ähnliche aufbewart sind« (lat. (1765), S. 255; dt. (1770), S. 302). Reimarus, Betrachtung der Unmöglichkeit körperlicher Gedäcbtniß-Eindrücke (1780), S. 34f. Ebd., S. 44.
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soliden und humoralen in ihren verschiedenen Ausprägungen, und fuhrt sie, jede fur sich, ad absurdum. Anstelle »im Gehirn überbleibender optischer Bilder, oder sogar dadurch verursachter Petschaft-Eindrücke, oder irgend einer bestimmten nachbleibenden Spur« bleibt endlich nichts weiter übrig als eine bloße ephemere Erschütterung361, womit Reimarus wieder an die Wolffsche motus-Lchse anknüpft. Der Erörterung der materiellen Gedächtniseindrücke und der materiellen Theorie des Wiedererkennens schließt sich in J. Α. H. Reimarus' Aufsatz die Diskussion der mechanischen Assoziationspsychologie an. Reimarus setzt mit einer hirnanatomischen Betrachtung und der Problematisierung dessen ein, was gemeinhin als sensorium commune bezeichnet wird, und das anzunehmen, wie oben bereits angekündigt, jede mechanische Psychologie gezwungen ist. Diese metaphysische Erdichtung sei bereits durch die Forschungen der Anatomen hinreichend bestritten, die statt eines Punktes im Gehirn, in dem alle Nervenenden zusammenträfen, festgestellt hätten, »daß die Nerven jedes Sinnes, von ihrem Anfange aus dem Gehirnmarke, an sehr deutlich unterschiedenen und entlegenen Stellen entspringen«362. Das bedeutet zunächst nichts weniger, als daß ein körperlicher Vereinigungspunkt in Form eines sensorium commune anatomisch zumindest nicht belegbar ist. Die Annahme eines zentralen Vereinigungspunktes muß daher nun einer räumlichen Vernetzung gänzlich Platz machen, das sensorium commune als ein Quasi- oder Präseelisches einem wahrhaft einfachen vereinigenden Wesen, der Seele, weichen. Hube, der ein Seelisches noch kannte, vereinigte beides: die zerebrale Vereinigung im sensorium commune und die zerebrale Vernetzung. Wenn aber das sensorium commune durch eine zerebrale Vernetzung gänzlich substituiert wird, kommt eine neue Frage auf die Tagesordnung: »Wie müsten also endlich die Poststrassen im Gehirne aussehen, welche von jedem Tone nach allen Seiten vorund rückwärts gingen und doch richtig führten?«363 Das heißt: was verbindet die miteinander vernetzten Partien des Gehirns sinnvoll? Die mechanische Assoziation, das steht fest, vermag das nicht. Natürlich, und das sollte keinesfalls außer acht gelassen werden, konnte diese Frage von der zeitgenössischen hirnanatomischen Wissenschaft empirisch nicht beantwortet werden, genausowenig, wie man
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Ebd., S. 50. Gleich Unzer schlägt er deshalb vor »Ich möchte also dieses was das Gehirn hier beiträgt auch nicht eine materielle Jdee benennen, weil der Ausdruck schon verfuhrt, etwas Vorhandenes und Nachbleibendes, jeden Gegenstand besonders bezeichnendes, oder wohl sogar das Bewußtseyn mit begreiffendes, sich einzubilden. Besser, dünkt mich, würde man dafür sagen — das Materielle was bey einer Idee vorgeht - oder - das was bey einer Vorstellung im Gehirne vorgebet - Dieses also muß, wie gesagt, in einer Art von Bewegung bestehen: eine Bewegung aber geht vorüber« (ebd., S. 358f.), wobei es sich hier um Bewegungen in festen, nicht, wie bei Platner, in flüssigen Teilen handelt. »Die Spur jener vergangenen Regungen konnte nirgends im Körper übiig bleiben, und was auch immer fur ein Merkzeichen da wäre, so muß doch noch das Wesen da seyn, in welchem die Kraft der Erinnerung, so wie der ersten Wahrnehmung, lieget« (ebd., S. 371). Ebenso unbefriedigend sei die mechanische Auffassung der Phantasie (ebd., S. 380ff.). Ebd., S. 57. - Die Annahme eines sensorium commune war dennoch weitverbreitet; auch Tetens, der schärfste Kritiker der mechanischen Psychologie, steht nicht an, ein solches anzunehmen (Tetens, Philosophische Versuche 2 (1777), S. 159). Reimarus, Betrachtung der Unmöglichkeit körperlicher Gedäcbtniß-Eindrücise (1780), S. 66.
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heute dazu in der Lage ist. Das ließ ihr Entwicklungsstand einfach noch nicht zu. Reimarus beharrt dann auch nicht auf einer Antwort, sondern geht noch einen Schritt weiter. Er gesteht trotz aller Erklärungslücken zunächst einmal die Möglichkeit körperlicher Repräsentationen prinzipiell zu: Sind denn, fragt er dann, die Phänomene der Willkür, der Imputabilität, die synthetisierenden und seiegierenden Tätigkeiten korpuskular und unter völligem Absehen von seelischen Wirkungen überhaupt erklärbar? Diese Frage verneint er schließlich: korpuskulare Theorien vermögen nicht den Graben zwischen Wahrgenommenem und seiner Repräsentation zum Denken und zielgerichteten Handeln hin zu überbrücken, also zu klären, wie »ein einziges empfindendes Ich« aus den mannigfaltigen körperlichen Teilen entsteht364. »Das Daseyn dieses einfachen, dauerhaften, sich seiner selbst bewußt seyenden, das Endegene, Vergangene, Zukünftige begreifenden, vergleichenden Wesens, wird also von den Wahrheitsforschern die von dessen Verbindung mit den körperlichen Organen und dem wechselseitigen Einflüsse reden*), nicht etwa nur zum Scheine angenommen, und ist keine grundlose Voraussetzung; [...] und daher wird dieses mit eigener Kraft begabte Wesen, oder diese selbstständige Kraft, auch mit Recht durch die eigene Benennung Geist oder Seele von den vielfachen sichtbaren oder fühlbaren Gegenständen unterschieden«365 — so die Quintessenz. — Die Ergebnisse von J. Α. H. Reimarus' Abhandlung können in fünf Punkten zusammengefaßt werden: zuerst wird der Nachweis erbracht, daß die Bildtheorie als das Herzstück einer jedweden mechanischen Psychologie in sich nicht schlüssig ist; zweitens zeigt sich, daß die Bildertheorie dasjenige, was sich die mechanischen Psychologen von ihr versprechen, nicht zu halten imstande ist; deshalb wird drittens jede Art von Bildertheorie verworfen; viertens führt er samt und sonders die die Redundanz des Seelischen postulierende materialistische Psychologie ad absurdum und wirft fünftens spekulative hirnanatomische und -physiologische Voraussetzungen wie die eines die materielle Einheit des Bewußtseins stiftenden sensorium commune über Bord. Im Ergebnis kommt er schließlich mit Tetens überein: eine Psychologie als mechanische Psychologie ist in sich widersprechend und nicht geeignet, die traditionellen seelischen Funktionen auch nur annähernd adäquat zu beschreiben und zu erklären. — Damit ist das Tableau der zeitgenössischen Diskussion grob konturiert. Im folgenden wird es darum gehen zu zeigen, wie sich die Platnerschen Ansichten hinsichtlich der Natur der Gedächtniseindrücke in den wissenschaftlichen Diskurs einfügen. Platner knüpft hinsichtlich der Frage nach dem Wesen der Eindrücke und den ihnen im Gehirn korrespondierenden Prozessen zunächst an die traditionelle
Ebd., S. 354. *> »Ich sage Würkung oderEinfluß [...]. - Was die Beziehung sey, dadurch ein Wesen auf das andere würkit, kann ich fieilich nicht einsehen, auch bey Körpern unter einander nicht, ζ. Β. vie die Ansehung viirket, oder mie die Beengung des einen in den andtm übergeht; aber der beständige, sonst nicht ¡p erklärende, und nun zusammenstimmende Erfolg ¡¡eigt mir die Ursache klargenug am (ebd., S. 384). - Damit wird von Reimarus eine weitere grundsätzliche Frage aufgeworfen, auf die die zeitgenössische Wahmehmungsphysiologie eine Antwort finden mußte: die Vervielfachung des Commenium-'PioiAems. 365 Ebd., S. 384f. 364
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Wahrnehmungs- bzw. Speziestheorie an. Mit Hilfe sog. wandernder BilderchenWanderbildchenWanderbildchenGedächtniseindrücke< durchzieht die ersten Auflagen der Platnerschen Anthropologe und Philosophischen Aphorismen. Immer wieder und von verschiedenen Seiten hält man Platner die sinnliche Konzeption der »materiellen Ideen< vor. Zu den Kritikern zählen Marcus Herz, Johann Georg Heinrich Feder und nicht zuletzt auch Johann Karl Wezel. — Platner kommt auf die Einwände aber erst in seinen Philosophischen Aphorismen von 1793 ausführlich zu sprechen. Wieder und wieder betont er dort, die Rede vom >Eindruck< sei eine metaphorische und meine keinesfalls ein Bild, sondern vielmehr, nun ganz Wolffisch, eine bloße Bewegung: die >Gedächtniseindrücke< sind ebensowenig »Gepräge«, »Bilder« oder »Spuhren«, sondern im »Seelenorgan zurückbleibende Bewegfertigkeiten«371. In der Anmerkung zu dem in Rede stehenden Paragraphen skizziert er die Geschichte dieser Idee und verfolgt sie bis zu ihren antiken Ursprüngen zurück. Die Rede vom >Bild< oder >Eindruck< sei zunächst ausgesprochen metaphorisch gewesen372; erst später hätte man die figürliche in die wörtliche Bedeutung zurückgebogen. René Descartes (1596-1650) schließlich sei »der erste Urheber des anstößigen Ausdrucks materielle Idee« gewesen373; ihm folgten
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Crusius, Entwurf der nothwendigen Vernunft- Wahrheiten, nñefem sit den zufälligen entgegen gesetzt werden, Leipzig: Johann Friedrich Gleditsch 1745, S. 846 § 436. Hube, Retrachtungen über die Eindrücke (1761), S. 364. Platner, Neue Anthropologie (1790), S. 152f. § 387 Anm. Ebd., S. 142 § 373 Anm. Platner, Philosophische Aphorismen (1793), S. 124 § 240. Platner verweist in diesem Zusammenhang auf Piaton (Plat. Tht. 191c-e, Phil. 39) und Aristoteles (Aristot. de mem. I), fur die es eine bloß bildliche Redeweise war, wenn sie den Gedächtniseindruck einem wächsernen Siegelabdruck verglichen. Erst die Stoiker vergröberten diese Auffassung, und zwar derart, daß sie die Gedächtniseindrücke fur wirkliche Bilder hielten. Einen Widerschein des gewandelten Verständnisses stellt die auch von Platner angeführte Meinungsverschiedenheit der Stoiker Kleanthes (331/30-232/31 o. 228 v. Chr.) und Chrysippos (281/77-208/04 v. Chr.) dar (vgj. Diog. Laert. 7,49-52; 7,45f.), die darüber uneins waren, ob denn nun der Seele im Sinne der älteren »Einprägelehre« (έντύπωσις-Lehre) ordentliche Abdrücke beigebracht werden (τύπωσίς èv ψυχή) oder ob sie nur durch das ήγεμονικόν als dem leitenden Seelenprinzip (die Vernunft) modifiziert wird (έτεροίωσις έ ν ή γ ε μ ο ν ι κ ώ ) (ebd., S. 124f. § 240 Anm.; vgl. auch Eucken (1879), S. 179). Dieser hatte in seinem Traiti de l'homme die Entstehimg von Engrammen im Gehirn mit Hilfe des
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Charles Bonnet (1720-1793), David Hartley (1705-1757), Joseph Priestley (17331804) und Edward Search alias Abraham Tucker (1705-1774) mit ihren Fibernsystemen nach, die »nichts von ihrer Lächerlichkeit verloren« hätten374. Als Marcus Herz (1747-1803) noch in der neuen Auflage seines Versuchs über den SchwindeFs — bereits in der ersten Auflage monierte Herz die Platnersche Sichtweise376 — auf Platner und seine immer noch »allzugrobe Darstellung der sogenannten materiellen Ideen« zu sprechen kommt, sieht sich dieser zu einer mehrseitigen Anmerkung veranlaßt, in der er auf den Wandel seiner Anschauungen über die Natur der materiellen Ideen zu sprechen kommt. Darin räumt er zunächst einmal ein, sich tatsächlich in seinen Disputationen De vi corporis in memoria (1767) 377 und in der Anthropologe (1772) solch »grobe[r] physische[r] Ausdrücke« bedient zu haben. Bald aber, nach der Anthropologe von 1772, hätten sich seine Ansichten darüber schrittweise geändert, was seinen Niederschlag bereits in der ersten Auflage der Aphorismen von 1776 gefunden habe. Vollkommen habe sich sein Verständnis von der Natur der materiellen Ideen aber in dem Moment gewandelt, als er »die scharfe Kritik des Bonnetschen Fibernsystems, (welches weit ausschweifender ist, als je das meinige war)« im zweiten Band von Johann Nikolaus Tetens' (1736-1807)
Philosophischen Versuchen über die menschliche Natur und ihre Entwicklung (Leipzig 1777)
gelesen hatte378. Die nähere Bestimmung der Hypothese der Gedächtniseindrücke als Bewegfertigkeiten wiederum verdanke er Johann Albert Heinrich Reimarus'
(1729-1814) Betrachtung der Unmöglichkeit körperlicher Gedächtniß-Eindräcke und eines
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Vorstellungs-Vermögens
(1780) 379 . Bereits 1784, im ersten Teil der neuen
Bildes einer nadeldurchstochenen Leinwand erklärt, in der die Löcher oder zumindest Spuren zuriickblieben, nachdem man die Nadel herausgezogen habe (Descartes, Über den Menschen (1632), S. lllf.). Ideen konnten dann auch ganz allgemein als Eindrücke tituliert werden (»genera/iter sub nomine idea volo comprthendere omnes impressione!«; ebd., S. 109). Platner, Philosophische Aphorismen (1793), S. 125 § 240. Herz, Versuch über Jen Schwindel, Bedin: Voß 21791, S. 229. Herz, Versuch über den Schwindel, Bedin: Voß 1786, S. 237. Bei den Disputationen handelt es sich um folgende: (a) De vi corporis in memoria specimen primum cerebri in apprthtndendis et retinendis ¡deis officium sistens, Lipsiae: Breitkopf (16. Mai) 1767 (die Dissertation wurde mit Johann Siegfried Kahler (1743-1813/1820?) gemeinsam verteidigt) und (b) Platners medizinische Inauguraldissertation De vi corporis in memoria specimen secundum pathobpam ad cognoscendas memoriae ñcissitudines necessariam sistens, Lipsiae: Breitkopf (4. September) 1767. Zu der strikteren Hinwendung zum Stahlianismus mag auch Tetens' Kritik der mechanischen Psychologie Bonnets und dessen Eintreten für den Eigenwert und die Eigengesetzlichkeit des Seelischen beigetragen haben, vor allem der 13. Versuch Über das Seelenwesen im Menschen (Tctens, Philosophische Versuche 2 (1777), S. 149-367). - Tetens, das sei hier kurz angemerkt, hebt zwar hervor, daß Unzer dietierischeNatur des Menschen wie kein zweiter untersucht hat, folgt ihm aber nicht in der Annahme, daß es seelenlose Tiere gibt (ebd., S. 149f.). Gleichwohl adaptiert er Unzers Reflexionsmodell und folgt ihm in der neurophysiologischen Deutung des Nervenknotens als eines »Konduktors, durch welchen die Reihe von Eindrücken und Bewegungen fortgepflanzet werden« (ebd., S. 307,310f.). Reimarus, Betrachtung der Unmöglichheit körperlicher Gedächtniß-Eindrücke und eines materiellen VorsteüungsVermögens (1780) und Fortsetzung der Betrachtung über die Unmöglichkeit körperlicher Gedäehtniß-Eindrüc/u und eines materiellen VorsteUungs-Vemtögns (1780). Auf den Reimarus-Artikel in Lichtenbergs Magazin bezieht sich auch Marcus Herz (vgL Herz, Schwindel S. 154; ders, Schwindel (?\79l), S. 224).
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Ausgabe der Philosophischen Aphorismen (1784), distanziert sich Plainer von den in den beiden Specimina vom Gedächtnis (De vi corporis in memoria (1767)) und den in der Anthropologie (1772) vertretenen Ansichten über die Natur der Gedächtniseindrücke380. Noch in der Vorrede zur Neuen Anthropologie (1790) betont er ausdrücklich, wie oben bereits ausgeführt, die Fehlerhaftigkeit der ersten Ausgabe, die eine »Jugendsünde« gewesen sei. »Das beste ist, daß von dem kleinen Bande gar nicht mehr gesprochen werde.«381 Angesichts dessen ist es nur zu verständlich, daß er über die neuerlichen Vorhaltungen Herz' ungehalten ist. Dennoch wird man Herz in einigem doch Recht geben müssen: oft lesen sich diesbezügliche Partien in den Platnerschen Schriften weithin so, als verstünde er unter den Eindrücken nach wie vor »kleine Bilderchen«. — Gerade diese Platnersche Fußnote ist es nun, in der auf Wezel und dessen Versuch über die Kenntniß des Menschen (1784) eingegangen wird. Platner schreibt darin, wie sehr es ihn angesichts der öffentlichen Distanzierung von seinen beiden lateinischen Disputationen (1767) und der alten Anthropologie (1772) wundere, daß Marcus Herz »aus der alten Anthr., ja sogar aus jenen vor fünf und zwanzig Jahren von mir gemachten Schulexerzizien, lange Stellen abschreibt, in denen ich mir selbst — wie vielmehr dem Publikum lächerlich erscheinen muß: vgl. Vers, über die Kenntn. des Menschen (v. Wessel)·, I Th. S. 184.«382 Platners weitgehendes Eingeständnis, er habe mit seiner allzugroben Darstellung der sogenannten materiellen Ideen< dem Publikum und dann auch sich selbst lächerlich vorkommen müssen, begleitet also der Hinweis auf die Schrift, in der er mit dieser Anschauungsweise der Lächerlichkeit öffentlich preisgegeben worden ist — eben jenen Wezelschen Versuch über die Kenntniß des Menschen (1784/85). Dort heißt es in extenso: »Noch neuerlich hat Jemand**) [**) In einer teutschen Anthropologie.] auf eine abentheuerliche Art den Lebensgeistern oder, wie Er es nennt, dem Nervensafte eine große Rolle bey dem Denken zugetheilt: er läßt ihn links und rechts, auf und nieder durch die Gehirnkanälchen marschiren, und schreibt sogar den Bucklichen deswegen mehr Genie zu als den geraden Menschen, weil durch den Berg auf dem Rücken den Lebensgeistern der Weg abgeschnitten wird: sie können nicht aus dem Gehirne herablaufen, wenn sie gleich Lust hätten, und machen sich folglich desto mehr im Kopfe lustig, weil sie so eingesperrt sind. Ohne eine tiefe Kenntniß der Anatomie, die man von einem Arzte mehr fodern kann als von einem Philosophen, findet man schon Gründe gnug, dem Nervensafte seine Rolle bey dem Denken wieder abzunehmen: zur Empfindung ist er unentbehrlich, aber er mag in dem Kopfe herumlaufen so viel er will, wir werden darum keine Ideen haben.«383 Wezeis Kritik an Platner beschränkt sich ganz offenkundig nicht nur auf die Frage nach der Natur der materiellen Ideenmateriellen Ideen< lenken sollen. In den Abhandlungen vom Gedächtnis aus dem Jahre 1767, De vi corporis in memoria betitelt, hatte Platner der Wolffschen Auffassung, wonach die simulacra der äußeren Dinge im Gehirn in Bewegungen (motus) bestünden, noch vehement widersprochen. Statt ihrer müßten vielmehr Bilder, Abbilder der äußeren Objekte im Gehirnmark angenommen werden384. Schon weit vorsichtiger drückt er sich in der Anthropologe von 1772 aus, wenngleich auch hier keinerlei Zweifel an der Bildlichkeit der >materiellen Ideen< aufkommen. In der Anthropologie von 1790 schließlich läßt er verlauten, er distanziere sich strikt und vorbehaltlos von seiner bisherigen Ansicht: »Daß die materiellen Ideen des Gedächtnisses etwas anders, als Bewegfertigkeiten der Gehirnfibern, daß sie Figuren, Bilder, Eindrücke in der Substanz des Gehirnmarks seyn sollten, ist physisch unmöglich.«385 In der dazugehörigen Anmerkung heißt es dann noch nachdrücklicher, die »Vorstellungen die man sich seit Cartesens Zeiten, von diesen materiellen Ideen erlaubt hat, sind wirklich zum Theil lächerlich«386. Man kann in der Neuen Anthropologie (1790) all dieser Verlautbarungen zum Trotz dennoch Belege für die gegenteilige, die Bildhaftigkeit der materiellen Ideen< weiterhin behauptende Auffassung finden. So schreibt Platner einmal: »Wollte man die materiellen Ideen in jedem Verstände, so wohl in Ansehung der Sinnen, als auch in Ansehung des Gedächtnisses, verwerfen, und das Bildliche bey den Vorstellungen ganz allein der Seele selbst zuschreiben: so würde man den Einfluß des Gehirns und überhaupt des Körpers in das Vorstellungsvermögen, entweder völlig leugnen, oder aus ganz unnatürlichen Hypothesen erklären müssen.«387 Den Ausdruck >materielle Ideen< selbst erachte er aber als »sehr unschicklich« und sähe es lieber, wenn man sie stattdessen »Ideenbilder« nennte388. Die Langwierigkeit der Platner-Herz'schen Auseinandersetzung und ihre indirekte Relevanz für die Charakterisierung der Wezelschen Anthropologie lassen es geraten sein, die Herz'schen medizintheoretischen und philosophischen Prämissen und Implikationen abschließend noch kursorisch zu besprechen. Besonderes Augenmerk verdienen vier Abhandlungen:
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Platner, Neue Anthropologie (1790), S. 35, 46. - Der gleichen Meinung war auch Christoph Meiners, der in seinem Kursen Abriß der Psychologie (1773) schreibt, die äußeren Eindrücke, beispielsweise im Gesichtssinn, seien »Bilder, genaue Abdrücke« des Äußeren (ebd., S. 26). Platner, Neue Anthropologie (1790), S. 153 § 389. Ebd., S. 153f. § 389. Ebd., S. 152 § 387. Ebd., S. 153 § 387. Gänzlich verwerfen, wie Christian August Crusius (IVeg qtr Gewißheit und Zmerläßigkeit der menschlichen Erkenntniß, Leipzig: J. F. Gleditsch 1747, §§ 80f.), will er die materiellen Ideen< doch nicht, da er glaubt, sonst wie dieser Gefahr zu laufen, den reellen Inßuxus materialistisch erklären zu müssen. Crusius nahm an, die Seelensubstanz werde — im Wortsinne — vom Körper bewegt (vgl. Platner, Neue Anthropologe (1790), S. 152f. § 387 Anm.).
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(1) der Grundriß aller mediciniscben Wissenschaften (1782)389; (2) der fünfte, an den Herrn Leibarzt Zimmermann in Hannover adressierte, der Briefe an Απφ (1784)390; (3) die erste Auflage des Versuchs über den Schwindel (1786)391 und schließlich noch (4) die zweite Auflage des Versuchs über den Schwindel (1791)392. Auf den Grundriß aller medicinischen Wissenschaften braucht hier nur knapp eingegangen werden. Er sollte aber trotzdem zur Sprache kommen, weil er zum einen einen gegenüber der Platnerschen Anthropologiekonzeption von 1772 modifizierten Standpunkt verrät, zum zweiten den Entwurf einer neuartigen Empfindungstheorie verspricht und drittens ganz im Gegensatz zum Plainer jener Zeit an der Hallerschen Irritabilitätslehre unbeirrt festhält. Zunächst seien Herz' Ansichten zu den medizinischen Grundlegungsfragen in Kürze wiedergegeben: die Medizin beschäftigt sich mit der Seele ebenso wie mit dem Körper. Die Einheit von beidem macht erst ihren Gegenstand aus393. Der der Physiologie gewidmete Abschnitt des Grundrisses394 setzt ganz traditionell mit der Stufung des menschlichen Organismus ein: »Der menschliche Körper ist (a) Körper, (b) Maschine und (c) thierische Maschine,«395 »Es kommen ihm also physische, mechanische und thierische Kräfte zu. [...] Vorausgesetzt seine physische Natur, beschäftigt sich die Physiologie entweder mit dessen mechanischen und thierischen Natur und ihrer wechselseitigen Verbindung; oder hat bloß die mechanische Natur zum Gegenstande, und untersucht die thierische nur in so fem sie zu nächst an jene gränzt. Die erste ist die Physiologie des Weltweisen, die Lehre vom Menschen, die empirische Anthropologer, die letzte, die Physiologie des Args.« 396 Auf den ersten Blick folgt Herz scheinbar der Platnerschen Anthropologiekonzeption. Bei näherem Hinsehen entpuppt sie sich im Gegensatz dazu jedoch als eine authentische Ärzte-Anthropologie, die weder das Commercium mentis et corporis zum ausschließlichen Gegenstand macht noch in so weitausgreifender Weise auf die rationale Psychologie Bezug nimmt, wie das bei Plainer der Fall ist. Ebenso sticht er mit seiner Ablehnung eines mechanistischen Physiologie-Begriffs vom Platner des
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Heiz, Grundriß aller mtdicinischm Wissenschaften, Berlin: Christian Friedrich Voß und Sohn 1782. Heiz, Fünfter Brief: An den Herrn Leibantf Zimmermann in Hannover, in: ders., Briefe an Án¡te. Zweyte Sammlung, Beilin: Christian Friedrich Voß und Sohn 1784, S. 215-298. Heiz, Versuch über den Schwindel, Berlin: Christian Friedrich Voß und Sohn 1786. Heiz, Versuch über den Schwindel. Zweyte umgeänderte und vermehrte Auflage, Berlin: Vossische Buchhandlung 1791. Herz, Grundriß aller meditmischen Wissenschaften (1782), S. 3 § 7. Ebd, S. 83-216 SS 1-281. Ebd, S. 83 § 2. Hinsichtlich der den Muskelfasern innewohnenden Kräfte folgt Marcus Heiz wohl in tato Haller es gibt zunächst einmal eine >tote Kraft< des Muskels (ebd, S. 97 S 34), daneben eine nervenunabhängige >lebendigeNervenkraftBilder< oder ähnliches mehr sind, die die Aufmerksamkeit der Seele erregen, sondern spezifische Hindernisse. Es muß ihm aber zugestanden werden, daß seine Konzeption eher als diejenige Platners geeignet ist, die Trennung von Seelischem und Körperlichem theoretisch stringenter und konziser zu fassen und der Seele ein Gutstück ihrer metaphysisch zugestandenen Wesensmerkmale zu sichern, allerdings, und das sollte dabei nicht unvermerkt bleiben, nur unter noch größerer Empirieferne, als das bei Platner der Fall gewesen ist. Insofern ist es sicher nicht unrecht, Herz' Anliegen als maßgeblich seelenmetaphysisches zu etikettieren. Herz fragt, ob die Nerven bloße Bedingung (conditio sine qua non) des realen Einflusses sind oder wirkende Ursache403. Dabei zielt die Frage auf die Zulässigkeit der Annahme von »körperlichen Zwischenursachen«, z. B. des Nervensafts oder Seelenorgans. Könnte es nicht sein, daß eine »Vorstellung unmittelbar in einen Muskel Bewegung und ein Eindruck in gewissen Theilen unmittelbar Vorstellungen erregtκ404? Die Ansicht, die Seele bedürfe für ihre Wirkungen im Körper der Vermittlung durch irgendein Organ, hält Herz für grundfalsch. Denn zunächst einmal ist die Seele etwas Einfaches, Raum- und Ordoses, zum anderen sind auch ihre Vorstellungen wesentlich verschieden von Bewegungen: »Vorstellung und Bewegung bleiben immer völlig heterogäne Erscheinungen, die Gegenstände, die sie wechselweise in einander hervorbringen, mögen dichte an einander oder noch so weit aus einander sich befinden«405. Es bleibt in dieser Hinsicht vollkommen
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Herz, Grundriß aller medicinischen Wissenschaften (1782), S. 93 § 25. Herz steht damit in einer Vorstellungstradition, die die Seele als etwas bloß Aktives und daher Affektionsloses ansieht. Prononciert kommt diese Haltung im Neuplatonismus zum Ausdruck: So schreibt Plotin von der Unaffizierbarkeit (απάθεια) des Unköiperlichen und der Spontaneität der Seele (vgl. Plot. 3,6: Περι α π ά θ ε ι α ς τ ω ν α σ ω μ ά τ ω ν - dt. Über die Affektionrfreiheit des Unköiperlichen), die sie allein die sinnlichen Hindrücke aktiv wahrnehmen läßL Einen affektionslosen Geist behauptet schon Aristoteles (Aristot. an. 429al5); auch bei Anaxagoras findet er sich (DielsVorsokr £rg. 12 und 13). Herz, Briefe an Arge 2 (1784), S. 217. Ebd., S. 221. Ebd., S. 225. Ebd., S. 228. Marcus Herz verweist in diesem Zusammenhang auf Kants Kritik der reinen Vemunß (1781). — Kant polemisiert darin u. a. gegen den Leibniz-Wolffschen transzendenten Raum-Begriff und dessen Beziehung auf die Dinge an sich. Wolff hatte den »Raum für die Ordnung derer Dinge« angesehen, »die zugleich sind« (Wolff, Vemiinfftige Gedancken Von GOTT, Der Welt und der Seek des Menschen, Audi allen Dingen überhaupt ("1751), S. 24 § 46), und Feder verstand unter Raum dasje-
Herz contra Platner
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gleichgültig, o b eine mittelbare oder unmittelbare Einwirkung angenommen wird. Damit wird die Diskussion eines Seelensitzes und eines wie auch immer gearteten Seelenorgans hinfallig 406 , genauso wie die Annahme eines sensorium commune als Nervenursprung im Gehirn 4 0 7 . Die Präsenz der Seele als einer einfachen Substanz ist keine räumliche, sondern eine wirkende. Und nur in dieser Hinsicht könne ihr Sitz, ihre Gegenwart bestimmt werden. Demnach befindet sich die Seele überall da im Körper, w o sie tätig ist, »in der äußersten Fingerspitze nicht minder als im Gehirne« 408 . Die Annahme eines sensorium commune im Gehirn als dem Nervenursprung, wodurch die Seele ausschließlich in den K ö r p e r zu wirken vermag, ist v o n diesem seelenmetaphysischen Standpunkt aus unhaltbar. Damit verliert eine der fundamentalsten Stützen des Platnerschen Systems der Anthropologe v o n 1 7 7 2 ihre Rechtfertigung — und das nicht mehr aufgrund physiologischer Erörterungen,
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nige, »wo Dinge außer- und nebeneinander sind oder sein können« (Feder, Logik und Metaphysik (1769)). Beide Auffassungen eint, daß sie das Charakteristikum des Räumlichen selbst immer schon in ihren Definitionen des Raum-Begriffs voraussetzen, was diese schließlich zirkulär werden läßt. Dagegen argumentiert Kant, daß der Raum nichts anderes sei, »als nur die Form aller Erscheinungen äußerer Sinne, d. i. die subjective Bedingung der Sinnlichkeit, unter der allein uns äußere Anschauung möglich ist« (Kant, KrV A 26). »Der Satz: Alle Dinge sind neben einander im Raum, gilt nur unter der Einschränkung, wenn diese Dinge als Gegenstände unserer sinnlichen Anschauung genommen werden« (ebd., A 26). Mit der transzendentalphilosophischen Raumauffassung wird die Frage nach dem Seelensitz an sich obsolet, da danach nicht mehr sinnvoll gefragt werden kann. »Wir behaupten also die empirische Realität des Raumes (in Ansehung aller möglichen äußeren Erfahrung)«, schreibt Kant weiter, »obzwar zugleich die transcendentale Idealität desselben, d. i. daß er Nichts sei, so bald wir die Bedingung der Möglichkeit aller Erfahrung weglassen und ihn als etwas, was den Dingen an sich selbst zum Grunde liegt, annehmen« (ebd., A 28). Obwohl sich Platner bereits in der zweiten Auflage der Philosophischen Aphorismen (1784) von Leibniz, Wolff und Feder in dieser Frage absetzt, gelangt er doch noch nicht dazu, den Raum nicht als transzendente Kategorie zu gebrauchen (vgl. Platner, Philosophische Aphorismen 1 (1784), S. 304-306 § 911 Anm.). - Herz' Kritik an der Annahme eines Seelensitzes ist bereits in Gänze in der von ihm verteidigten Dissertation pro loco Kants aus dem Jahre 1770, De mundi sensibilis atque intelliffbilis forma et principiis, enthalten. In der Anmerkung zum Paragraphen 30 heißt es: »Anima enim non propterea cum corpore est in commento, quia in certo ipsius loco detinetur, sed trihuitur ipsi locus in universo determinatus ideo, quia cum corpore quodam est in mutuo commercio, quo soluto ornnis ipsius in spatio positus tolUtur. Localitas ¡taque iUius est derivativa et contingenter ipsi conciliata, non primitiva atque existentiae ipsius adhaerens condicio necessaria, propterea quod quaecunque per se sensuum extemomm (quales sunt homini) obietta esse non possunt, i. e. immaterialia, a condicione universali externe sensibilium, nempe spatio, piane eximuntur. Hmc animae localitas absoluta et immediata denegati et tamen hypothetica et mediata tribui potest.« — »Die Seele ist nicht deshalb mit dem Körper im Verkehr, weil sie an eine bestimmte Stelle desselben gefesselt ist, sondern es ist ihr eine bestimmte Stelle im Weltall zugeteilt, weil sie mit dem Körper in einer Art gegenseitigen Verkehr steht; hört dieser auf, so wird ihre ganze Stelle im Räume aufgehoben. Deshalb ist ihre örtlichkeit eine abgeleitete, die sie nur zufällig erworben hat, keine ursprüngliche und ihrem Dasein notwendig anhängende Bedingung; weil alles, was an sich kein Gegenstand der äußeren Sinne (wie sie der Mensch besitzt) werden kann, d. h. das Vnkörperiichi, von der allgemeinen Bedingung des äußerlich Wahrnehmbaren, nämlich vom Räume, gänzlich losgelöst ist. Deshalb kann man der Seele die unbedingte und unmittelbare Örtlichkeit ab- und ihr doch eine bedingte und mittelbare zusprechen.« Herz, Briefe anÄntfe 2 (1784), S. 231. Ebd., S. 232. Ebd., S. 231.
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Vom mechanistischen zum animistischen Menschenbild
sondern konziser metaphysischer Beweisführungen wegen. Daß man dennoch im allgemeinen dieser Meinung zuneigt, schreibt Herz, sei in der analogischen Erklärungsart der Vernunft gegründet. Insofern sei diese auch statthaft, da die Analogie erlaube, mit möglichst wenigen hypothetischen Annahmen und relativ einfach einen Sachverhalt zu erklären: Aber »außer dießem Naturgesetze der Sparsamkeit oder der Vereinfachung hat die Vernunft keinen Grund die Seele nicht als die unmittelbare Ursache aller so genannten Nervenveränderungen anzusehen, die unmittelbar in jedem Muskel durch Vorstellung, Zusammenziehung und Erschlappung erregt, und von jedem gereitzten Nerven Vorstellungen empfangt«409. Es ist offenkundig, daß Herz' Erklärungen nicht dazu dienen, dem CommeniumProblem im Einklang mit den neuesten neuroanatomischen und -physiologischen Forschungen Aufklärung zu verschaffen. Vielmehr gibt er, hier Platner weit übertrumpfend, ebenfalls bereits empirisch gewonnenes Terrain traditioneller seelenmetaphysischer Sätze wegen, wenn auch weit konsequenter und letztlich theoretisch konziser als Platner, preis. Die Simplizität seiner, in systemtheoretischer Hinsicht an Robert Whytt (17141766) erinnernden Ansichten macht ihm die Nervenschwingungstheorie, »nach welcher bald die Seele ihre Vorstellungen nach entfernten Theilen, bald die äußern Gegenstände ihre Eindrücke nach dem Vereinigungspunkte der Nerven hin oscillirt, äußerst suspekt und im höchsten Grade ungereimt«410. Dies, die Einfachheit und das Analoge, veranlaßt Herz, die Saitentheorie, wenn auch nicht die neuroanatomischen und -physiologischen Befunde, abzulehnen. Die von Haller und Tissot vorgebrachten anatomischen und physiologischen Gründe seien zwar äußerst wichtig, ihm aber »dient das Unanalogische dieses Systems zur wichtigsten Widerlegung desselben«411. Zunächst hat es den Anschein, als wolle Marcus Herz die Transmitter-Funktion der Nerven gänzlich leugnen. Das ist aber keineswegs der Fall. Herz tritt nur der Meinung entgegen, wonach sich die Tätigkeit der Seele ausnahmslos auf das sensorium commune beschränke. Ganz im Gegensatz zu einer solchen Annahme sei die Seele im Sinne einer, wenn auch neurophysiologisch beschnittenen Äquipotenztheorie ubiquitär im Körper tätig und nicht nur im Nervenursprung, aber — unter Zuhilfenahme der Nervenleitung. Die ins Gehirn von der Seele gewirkten Bewegungen »fließen« in die entfernteren Teile des Körpers »hin«, und zwar verlustlos412. — An dieser Stelle wird die Herz'sche Inkonsequenz spürbar: denn eigentlich benötigt er die Nerven für seine Seelenwirkungskonzeption ja überhaupt nicht, zugleich kann er aber auch den empirischen Befund der Nervenleitung nicht einfach übergehen. Prononciert gesprochen: der afferente Abschnitt des Empfindungsgeschehens ist von der Nervenleitung mittels des Nervensaftes insofern unabhängig, als der Nervensaft keine äußeren Wirkungen zur Seele
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Ebd., S. 234f. Ebd, S. 235. Ebd, S. 236. Ebd, S. 250.
Herz contra Plainer
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transportiert; hinsichtlich der efferenten Nervenleitung dagegen kommt Herz mit Platners kinästhetischer Modellvorstellung überein. Für Herz sind die Nerven nicht nur für die Muskelbewegung und die Empfindung vonnöten, sondern auch für die Ernährung, das Wachstum, die Absonderungen und die Verbesserung der Säfte413. Das Gehirn ist als gemeinsamer Ursprung ausnahmslos jedes Nervs gewissermaßen »das Herz des Nervensystems«414; es ist »das gemeinschaftliche Triebwerk aller dieser Bewegungen«415. Ebenso beruhen sämtliche Lebensbewegungen auf der Nervensaftbewegung des Gehirns. Zugleich ist es der »unmittelbare Gegenstand, auf welchen die Seele wirkt, und wodurch dessen eigene Thätigkeit verändert wird, d. i. die Kraft, mit welcher es den Nervensaft fortstößt, vergrößert oder vermindert, beschleunigt oder verzögert wird«416. Dem Gehirn wird auf diese Weise eine lebenserhaltende Funktion zugeschrieben und hierfür eine permanent wirkende lebendige Kraft< mitgegeben, die sog. vis vitatis bzw. das (Boerhaavesche) lmpetum faciens. Mittels der Vergrößerung oder Verkleinerung der Kraft werden im Körper verschiedene Zustände ausgelöst: so treten beispielsweise bei der Verkleinerung ihres Maßes Zuckungen und Lähmungen auf, bei Vergrößerungen kommt es zu Muskularreizungen. Die Vergrößerungen und Verkleinerungen der lebendigen Kraft< steuern Reize, mechanische, z. B. vermittels des Blutes, gleichermaßen wie Vorstellungen als geistige417. Die Herz'sche Neufassung des Empfindungsgeschehens basiert also auf einer andersgearteten, modifizierten Nervensafttheorie. In beidem, der anders konzipierten Empfindungstheorie und der Nervensafttheorie, unterscheiden sich Herz und Platner derart, daß es nicht sonderlich überrascht, davon nicht nur direkt, sondern auch indirekt abhängige Theoreme betroffen zu sehen. Es wird im folgenden vor allem darauf ankommen, die Herz'sche Kritik an Platners Vorstellungen vom Wesen der materiellen Idee< von seinem theoretischen Neuansatz her verständlich werden zu lassen. Bei Platner sind die Eindrücke gewissermaßen etwas Positives, die der Seele gleichsam »«gestellt werden; bei Herz hingegen, der einen permanenten Nervensaftumlauf annimmt418, werden die äußeren Eindrücke dagegen als etwas Negatives, den Umlauf des Nervensaftes beeinträchtigende Faktoren aufgefaßt. Die Seele nimmt dann eigentlich nicht die Eindrücke wahr, sondern die veränderten Nervensaftverläufe als Ausdruck variierender Lebenskraft. >Fortgepflanzt< bzw. registriert wird nicht ein >Eindruck< oder eine >materielle IdeeWer< hat unter welchen >Umständen< welches >ProblemMethoden< ist ihm beizukommen; auf welche Art kann das Ergebnis >überprüft< werden und welchem >Zweck< dient das Ganze. Im Kern liegt hier der Grundriß des Wezelschen Versuchs vor. »Jeder Mensch« — bereits mit dem ersten Wort des Versuchs signalisiert der Autor den empirischen, auf das Individuelle ausgerichteten Gestus der gesamten Abhandlung. Denn im Gegensatz zu dem Indefinitpronomen >alle< betont >jeder< nicht die ausnahmslose Gesamtheit aller Einzelnen,
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Wezel, Versuch 1 (1784), S. 3f.
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Johann Karl Wezeis experimentelle Anthropologiekonzeption
sondern legt den Akzent auf das Individuum der Gattung Mensch. Zudem hebt das >jeder< auch auf einen die gesamte Anthropologie motivierenden Aspekt ab, ja es kann, zugespitzt formuliert, insofern der anthropologische Nukleus genannt werden, als es die Aufgabe der Aufklärung schlechthin mit sich im Schlepptau führt. Denn es legt nicht nur das Augenmerk auf das Individuum, sondern läßt zugleich auch schon ein mit ihm verknüpftes Konditional erahnen: »Jeder Mensch, den die Natur nicht nur zur Vegetation und zur Sinnlichkeit bestimmte, fühlt in gewissen Jahren einen Trieb, über die Natur der Dinge [...] und über seine eigene nachzudenken«2. Dieser erste einleitende Satz umfaßt in sich nicht nur Aufgabe und Programm des Versuchs. Mindestens ebenso scharf schließt er eine Provokation in sich. Denn nicht anders als provozierend muß es von einem zeitgenössischen Leser aufgefaßt werden, für ein im vegetativen und sinnlichen Stadium verbliebenen Menschen, also als ein Tier angesehen zu werden, der sich seines eigenen Verstandes nicht zu bedienen vermag und, nunmehr im Zugzwange, förmlich genötigt ist, den Versuch zu studieren, um sich über sich und die Welt Gewißheit zu verschaffen. Besonderes Interesse verdient die anthropologische Motivierung zur Abfassung der Abhandlung: ein >Trieb< sei es, den jeder vernünftige Mensch irgendwann einmal in sich rege >fuhltMensch< und über die >Welt< nachdenken läßt. Der dem Menschen gleichsam mit der Vernunft eingeborene Trieb führt ihn auf die Frage nach der Sinn- und Zweckhaftigkeit seines Seins. Und es ist die Vernunft als ein Anthropinon, das den Trieb in ihm rege macht und zugleich auch die Möglichkeit gibt, ihm nachzufolgen. Dem Menschen als homo duplex ist so im Gegensatz zu allen anderen Wesen immer schon die Sinnund Zweckfrage mitgegeben — der Anthropos als Vernunftwesen schließt allemal den Anthropologen mit ein.3 Jeder, der Anspruch auf das Menschsein macht, muß sich zwangsläufig darüber Rechenschaft abzulegen versuchen, was es heißt, Mensch zu sein. Er schafft sich ein Bild des Menschen und damit erst eigentlich sich selbst, indem er sich in einen selbstgeschaffenen Sinn- und Zweckzusammenhang stellt und in ihm deutet. Beide, Selbstschöpfung und Selbstdeutung, sind prinzipiell offen, deshalb aber noch keineswegs unabhängig von Determinanten. Diesen Problemkreis förmlich umfassen zu können, darum geht es der Anthropologie im allgemeinen und der Wezelschen im besonderen. Anthropologie ist hier nicht nur und erst professionalisierte oder institutionalisierte Wissenschaft, sondern benennt jedes vernunftgeborene und —verpflichtete Denken des Menschen über sich selbst. Dieses weite Verständnis von Anthropologie kennzeichnet den Wezelschen Anthropologiebegriff und bildet den Ausgangspunkt seines Versuchs. Und er bewegt sich dann auch in der Tat zwischen diesen beiden Polen: der Selbstschöpfung und der Selbstinterpretation und gehört deshalb, wie der Autor es nennt, zur Gruppe der »selbstgedachten Sisteme«4. Wezel ist es, der
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Ebd., S. 3. Landmann (51982), S. 10. Wezel, Versuch 1 (1784), S. 4.
Einleitung
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den Menschen und damit auch sich selbst sozusagen noch einmal erschafft: er »zerlegt« den Menschen und »setzt« ihn wieder »zusammen« - im wörtlichen wie im sachlichen Sinne ist der Versuch eine >Aus(einander)legungEinñüsse< können aber nicht davon entbinden, sie auch einmal direkt
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Johann Karl Wezeis experimentelle Anthropologiekonzeprion
im Versuch nachzuweisen und zu rechtfertigen, zumal die suggestive Griffigkeit bestimmter Zuschreibungen z. B. von Julien Offray de La Mettries (1709-1751) L'homme machine (1748) für die Wezelforschung von derart großer Anziehungskraft ist9, daß sie bis dato eine philosophiehistorische Einbettung des Wezelschen Werks verhindert haben. Wezeis Versuch ist sicher kein Ergebnis systematischen Sichtens wissenschaftlicher Fachliteratur seiner Zeit. Vielmehr hat es den Anschein, als habe Wezel ein vorgefertigtes Theorien-Gerüst gehabt, das er nur noch mit empirischen Belegen auszufüllen bestrebt war. Insofern unterliegt der eklektischen — nicht synkretistischen - Bezugnahme auf die Fachliteratur über weite Strecken weniger eine heuristische, als vielmehr eine bloß Bestätigung heischende und weit ausgebreitete Erfahrungswissenschaftlichkeit vortäuschende Intention. Das bedeutet aber nicht, und das verdient insonderheit betont zu werden, daß er nicht einen originären Theorieentwurf vorgelegt hätte. Woraus sich sein Theoriengerüst speist, darüber gibt Wezel einmal selbst Auskunft, als er bei Gelegenheit einer Rezension auf wichtige biographische Details seiner Leipziger Studienzeit zu sprechen kommt. Wezel, der gebürtige Sondershäuser und Sohn des in Diensten des Fürsten Heinrich I. von Schwarzburg-Sondershausen (1689-1758) stehenden Reisemundkochs Johann Christoph Wezel (1717-1758), inskribierte sich zum Sommersemester 1765 an der Leipziger Universität unter dem Rektorat des Professors für Pathologie Anton Wilhelm Plaz (1708-1784), um Theologie zu studieren10, und bezog im Hause des Schriftstel-
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Man lasse dagegen nur einmal den Protagonisten Selmann aus dem Tobias Knaul zu Wort kommen. Dieser toleriert beispielsweise La Mettries Ansicht, wonach die Seele materiell sei und die ganze Welt ein bloßer Erdenkloß, als eine durchaus mögliche subjektive Meinung. Vermutlich habe La Mettrie, heißt es weiter, zufällig nur solche Erscheinungen der Seele gesehen, die ihn zu einer solchen Meinung überredeten. Eine andere, auch nur subjektive Meinung sei diejenige, die an der Immaterialität der Seele festhalte. Er selbst, Selmann, schließe sich der letzten Meinung an; er begründet seine Parteinahme bemerkenswerterweise mit den »heilsamem und fruchtbareren Folgen«, die die Annahme einer immateriellen Seele für »die ganze Welt« habe (Wezel, Tobias Knaut (1990), S. 329). Der Matrikeleintrag lautet: »Wezel, loh. Car. Sondershusa Thür. M. i 8.V. 1765«, wobei >M.< das Kürzel für die Meißner Nation benennt und >< i . für inscription steht (vgl. Diejüngere Matrikel der Universität Leipzig (1909), S. 456). Die 1409 gestiftete Universität Leipzig hatte, im Gegensatz zu der bereits 1392 gegründeten Erfurter Universität, noch eine ausgesprochen mittelalterliche Organisationsstruktur. In Anlehnung an die Prager Statuten, die wiederum auf denen von Paris und Bologna fußten, gab sie sich eine Nationalitäten- und keine Fakultätenverfassung. Man schrieb sich demzufolge als Student nicht in irgendeine Fakultät ein, sondern wurde entsprechend seiner Herkunft einer der vier Nationen, der sächsischen, meißnischen, bayerischen oder polnischen, zugeordnet (Blanckmeister (1909), S. 4f.), wobei die Meißnische Nation die Meißner und Thüringer umfaßte, eine zeitlang auch die Lausitzer, die ab dem Sommer 1520 von Herzog Georg dem Bärtigen dann den Polen zugerechnet wurden; in der Sächsischen Nation fanden die Niederdeutschen, Niederländer, Skandinavier und Engländer zusammen; in der Bayrischen Nation die Süddeutschen, die Italiener, Spanier und Franzosen; die Polnische Nation vereinigte die Slawen, Magyaren und die Ostdeutschen von Mähren bis an die Ostsee (Kroker (o. J.), S. 27f.). Natürlich setzte sich von Anfang an auch eine Sonderung entsprechend der vier Fakultäten durch, die Papst Alexander V. der Universität in seiner Bestätigungsurkunde ebenfalls zugestanden hatte. Damit war die
Die Genese der philosophisch-anthropologischen Anschauungen Wezeis
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lers, Aufklärers, Moralisten, Theologen 1 1 und extraordinären Philosophieprofessors Christian Fürchtegott Geliert ( 1 7 1 5 - 1 7 6 9 ) Logis. 12 Neben den theologischen Vorlesungen belegte Wezel auch die geforderten propädeutischen Lehrveranstaltungen der Philosophischen Fakultät. Er hörte dort u. a. bei Christian Fürchtegott Geliert, Johann August Dathe ( 1 7 3 1 - 1 7 9 1 ) 1 3 und v o r allem bei J o h a n n August Ernesti (1707-1781) 1 4 . Die philosophische Lehre an der Leipziger Universität beherrschten damals noch die W o l f f s c h e und die Crusius'sche Philosophie: »Ich hatte«, schreibt Wezel im Rückblick auf seinen philosophischen Werdegang, »als ich auf der Universität war, die Wahl, ein Crusianer oder Wolfianer zu werden 1 5 :
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Leipziger Universität in zweierlei Hinsicht gegliedert: als eine lehrende und als eine staatliche Körperschaft mit je vier Gliedern. In theologischer Hinsicht stand Geliert seinem supranaturalistischen Kollegen Christian August Crusius (1715-1775) nahe, wenngleich es ihm nach eigenem Eingeständnis nicht gelungen sei, jenem in seiner tiefen Frömmigkeit zu gleichen: »Ich beeifere mich sehr, sagte einmal Geliert zu seinen Schülern, fromm zu sein; aber so weit in der Frömmigkeit habe ich es noch nicht bringen können, wie unser Dr. Crusius« (Delitzsch (1845), S. 20). Zu den Hausgenossen Wezeis zählte seit 1766 u. a. Christian Garve (1742-1798), dem 1768 an der Philosophischen Fakultät eine außerordentliche Professur zuerkannt worden war. Dathe, ein Schüler des Rationalisten Johann August Ernesti, hatte von 1762-1791 die theologische Professur für die hebräische Sprache inne. Unter seinen Arbeiten sind besonders die Übersetzungen des Alten Testaments hervorzuheben. Ganz den Grundsätzen Ernestis folgend zwingt er darin »die alten Propheten, Ciceronianisch zu reden und opfert nicht selten die Treue dem falschen und erfolglosen Streben nach Eleganz« (Diestel (1869), S. 646). Seine, diesen Übersetzungen beigefügten Anmerkungen verweilen dann auch zumeist im »philologisch-antiquarisch-grammatischen Gebiete« (ebd., S. 641). - Wezel, der in Dathe einen »sehr leutseligen Mann« fand, hörte bei ihm während des Studiums »ein hebräisches Collegium« (Thüringisches Stadtarchiv Rudolstadt, Slg. Ζ 475 fol. I'). Thüringisches Stadtarchiv Rudolstadt, Slg. Ζ 475 fol. l v und 18". Christian August Crusius (1715-1775) war der seinerzeit erfolgreichste und entschiedenste Gegner Wolffs. 1744 wurde er in Leipzig ordentlicher Professor der Philosophie und wechselte 1750 auf eine Nominalprofessor in die Theologische Fakultät. Aber auch noch nach seinem Übertritt in die Theologische Fakultät engagierte er sich in der Philosophischen Fakultät, indem er dort weiterhin las, oft auch vertretungsweise tätig wurde (vgl. Festschrift 1 (1909), S. 165). Aufsehen erregte er mit seiner 1743 gegen den Satz vom zureichenden Grunde (principiarti rationis suffiäentis) gerichteten Dissertatili de usu et limitibus principii rationis determinanti* vulgo sujpaentis (dt. Aurführliche Abhandlung von dem rechten Gebrauche und dir Einschränkung des Satzes vom ¡¡(reichenden, oder besser determinirenden Grunde, übers, von Chr. Fr. Krause und einem Vorbericht von Christian Friedrich Pezold, Leipzig 21766). Vor allem seiner theologischen Grundeinstellung ist es zuzuschreiben, daß er sich gegen den Leibniz'schen und Wolffschen Rationalismus wandte und zum erbitterten Gegner der rationalistischen Theologie à la Ernesti wurde. Crusius wirft der Wolffschen Schule in erster Linie ein falsches Verständnis des Satzes vom zureichenden Grunde (nihil est sine ratione) von Kausal- bzw. Wirk- und Finalprinzip, d. h. die Aristotelische causa ejficiens und die causa finolis würden in ihr unzulässigerweise miteinander vermengt. Davon ausgehend kämen diese zu einem falschen Verständnis des Ursache-Begriffs, der schließlich zur Aufhebung der menschlichen Freiheit und so zum Fatalismus und Determinismus führe, eben zur Leibniz'schen Konzeption von der prästabilierten Harmonie und, unter Einschluß des Prinzips des Besten (principium melioris), zur >bestmöglichen WeltBibel des SkeptizismusSchuldNeuen Bibliothek« auf den Seiten 277-79« Platz gefunden haben soll (Adel (1968), S. 140). Das eine wie das andere aber ist unrichtig: denn einmal handelt es sich bei der »Unzerschen Physiologie« ganz unzweifelhaft um dessen Ente Gründe einer Physiologie der eigentlich thierischen Natur thierischer Körper (1771), und zum zweiten befindet sich die von Adel gemeinte Rezension nicht in der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der frtyen Künste, sondern in der Allgemeinen deutschen Bibliothek 11(1770), S. 277-279. Während Adel sich später dahingehend korrigiert, daß es sich bei der Rezension um die in die Allgemeine deutsche Bibliothek eingerückte des Grundrisses (1768) handele (Adel (1997), S. 10), hält Bärnighausen weiterhin an der Rezension in der Neuen Bibliothek fest (Bärnighausen (1997), S. 38). Erstaunen muß das vor allem deshalb, weil Wezel definitiv nicht von der Neuen Bibliothek, sondern ausdrücklich von der Allgemeinen deutschen Bibliothek und zweitens eben auch nicht vom Grundriß (1768), sondern von der Physiologie spricht. Und vollends verwirrt sich die Sache in dem Moment, in dem man feststellen muß, daß weder im elften Band noch irgendwo in der Neuen Bibliothek eine Rezension Unzerscher Schriften überhaupt zu finden ist, was angesichts des Profils der Zeitschrift dann wiederum nicht sonderlich verwundem kann. Mindestens ebenso sonderbar ist Hennings Meinung ((1980), S. 260 und (1984), S. 19), es handele sich um eine Rezension der Wochenschrift Der Arg (1759ff.), eine Vermutung, die wohl das erste Mal von Holzhey-Pfenniger ((1976), S. 37) geäußert worden ist. Es könnte dieser Ansicht durchaus ein rationaler Kern zugestanden werden, wenn man bedenkt, daß es sich bei dem Grundriß von 1768 um den Vorabdruck der Stücke 101 und 102 des Arges von 1769 handelt (vgl. Unzer, Der Arg 2(1769), S. 648-677). Doch das scheint keinem näherhin aufgefallen zu sein. Kosenina ((1989), S. 63) endedigt sich der Identifikadon schließlich von vornherein, indem er einfach behauptet, eine solche Interpretationsbemühung führe nur dazu, eine einzige Textstelle völlig überzubewerten. Allein Steiner ((1980), S. 828) und Dietze ((1972), S. 172) nehmen Wezel beim Wort und erkennen in der besagten Recension von Unters Physiologie die von Philipp Gabriel Hensler verfaßte Rezension der Ersten Gründe der Physiologie der eigentlich thierischen Natur thierischer Körper, entworfen von D.Joh. Aug. Uns¡er. Leipzig, Weidm. Erben und Reich, 1771. 2 Alph. 4 Bogen gr. S auf den Seiten 502 bis 513 im 16. Band der Allgemeinen deutschen Bibliothek von 1772. — Allen Identifikationsbemühungen ist allerdings eines gemein: es wird nie der Versuch unternommen, die Wahl des einen oder anderen inhaltüch-argumentadv zu stützen. - Ob Wezel von Geliert auf die Unzerschen Werke hingewiesen worden ist, kann nur gemutmaßt werden. Jedenfalls empfahl dieser seinen Studenten die Lektüre des Unzerschen Arztes ausdrücklich (vgl. Geliert, Moralische Vorlesungen 1 (1770), S. 246,248).
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Johann Kail Wezeis experimentelle Anthropologiekonzeption
verdankt er sein »ganzes philosophisches System«. Nicht so allerdings, als wären beide Systeme auf irgendeine Art und Weise zusammengeführt worden, so daß bereits Anfang der siebziger Jahre Wezeis gedankliche Entwicklung weitgehend abgeschlossen gewesen wäre — nein: »beide [Locke und Unzer] stießen meine Speculation auf den Weg, den sie seitdem betrat«27. Die von Wezel im Jahre 1782 fur sich reklamierte Hauptrevolution der Denkungsart Mitte der sechziger, Anfang der siebziger Jahre ist indessen keine bloß in der Rückschau postulierte, sondern macht sich schon in unmittelbarer Weise in seinem ersten großen Werk, dem Tobias Knaut, einem in deutlicher Nachfolge des Sterneschen Tristram Shandy stehenden philosophischen Romans, geltend, wenngleich im Roman selbst der Name Unzer an keiner Stelle fallt und Locke nur ganz allgemein Erwähnung findet. Ein anderes, für die philosophische Entwicklung Wezeis in den siebziger Jahren weit aufschlußreicheres Bild bieten da zeitgenössische Briefzeugnisse, in erster Linie der Herder-Hamann-Briefwechsel. Vor allem überrascht darin die geäußerte Vermutung Johann Georg Hamanns (1730-1788), der Verfasser des Tobias Knaut sei vielleicht niemand anderes als sein Freund Johann Gottfried Herder (1744-1803)28, ein Verdacht, der sich auch anderen aufdrängte29, so dem Rezensenten des Tobias Knaut in den Königsbetgischen Gelehrten Antigen, Christian Friedrich Jensch (P-1802), der felsenfest davon überzeugt ist, Herder sei der Verfasser30. »Ich habe«, schreibt Hamann kurze Zeit später an Herder, »nicht das Herz gehabt Sie als den Verf. des Knaut nennen-, desto dreister war die Hiesige Club, doch nicht der Director, welcher einem jungen Pfifferling, den ich noch nicht übersehen kann, und JäniscP1 heißt die Recension überlies«. — Woran lag es denn aber, daß viele Zeitgenossen glaubten, im Tobias Knaut Herdersche Psychologeme erblicken zu können? Hamann liefert die Antwort gleich
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Wezel, Anmerkungen (1782), S. 210. Johann Georg Hamann an Johann Gottfried Herder (Königsberg, den 2. (3.) April 1774): »Sagen Sie mir doch ums Himmels willen, haben Sie Antheil an Knaut. So viel innere Merkmale, und kein äußers Ihres verwünschten rothdeutschen Styls [Hamann bemängelte an Herders Stil das sog. Rotwelsche, vgl. Haym, (1885) S. 388]. Ich möchte im Herzen darauf schwören und habe noch bisher kein Herz gehabt es mit dem Munde zu bekennen; aber hier sagen es alle gute Freunde so laut und zuversichtlich, daß ich [mich] meiner sceptischen Epoche schäme. Wenn Sie mir aufrichtig beichten so will ich allem Gerüchte laut wiedersprechen. [...] [den 3. April] Beruhigen Sie mich doch in Ansehung des Knaut, wenn Sie den Verf. davon wißen - und ersetzen Sie Ihr bisheriges Stillschweigen durch einen so langen Brief als ich willens war Ihnen liebster Herder zu schreiben ohne Ruhe und Kräfte dazu zu haben« (Hamann, Briefwechsel 5 (1957), S. 74-76). Johann Gotthelf Lindner (1729-1776; Prof. der Poesie in Königsberg) an Johann George Scheffner (1736-1820; preußischer Beamter) (Königsberg, den 9. März 1774): »Thomas Knauth«, »eine Erscheinung im Geschmack des Shandy hat im inneren die Herderische Psychologie, und seinen schlichten Menschenverstand. Vielleicht ist er der Autor selbst, der sein Äusserl. in seinem Stil versteckt hat« (Briefe an und von Johann George Scheffherl (1926), S. 353). Vgl. Hamann an Herder (Königsberg, den 30. (31.) Mai 1774), in: Hamann, Briefwechsel 3 (1957), S. 98f. Gemeint ist der spätere Kriminalrat und Assessor des Königsberger Stadt- und Waisengerichts Christian Friedrich Jensch (p-1802), der um 1775 als Referendar am Königlichen Hofgericht in Königsberg tätig war.
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mit: »Die Praedilection gewißer physiologischer Begriffe, in die Sie auch mehr als ich verliebt sind ζ. E. Hartley u Unzer schin mir im Knaut merklich zu seyn.«32 Eine Vorliebe für physiologische, nicht psychologische Terminologien, wie sie Unzer und Hartley verwandten, war es, die den Ausschlag dazu gab. Mit Johann August Unzer (1727-1799) und David Hartley (1705-1757) werden zugleich zwei Säulen benannt, die den Versuch über die Kenntniß des Menschen, zumindest im allgemeinen, flankieren, da Wezel wohl weniger eine konkrete Kenntnis von Hartleys Observations on man, his frame, his duty and his expectations (London 1749) gehabt haben dürfte.33 Es gibt allerdings im Tobias Ktiaut eine Vielzahl von Belegen, die zeigen, daß Wezel bereits in der ersten Hälfte der siebziger Jahre sehr genau vertraut war mit der in Deutschland gerade zu dieser Zeit auflebenden Assoziationspsychologie, wie sie von Charles Bonnet (1720-1793) propagiert worden war. Aber nicht nur das läßt sich aus der Briefpassage abnehmen. Nächstdem lenkt sie den Blick auf die Wezeis Denken eigentümliche Verbindung von Physiologischem und Psychologischem in seiner Tätigkeit als Romancier und Satiriker. In seinem Œuvre zeigt sich schon Mitte der siebziger Jahre Poetisches, Pädagogisches, Anthropologisches und Philosophisches aufs engste miteinander verschränkt.
3. Anthropologische Gehalte im belletristischen, literarkritischen und pädagogischen Schrifttum Wezeis in den siebziger Jahren Da der Versuch im Fragmentarischen stecken geblieben ist und die in der Vorrede und Einleitung des Werkes gemachten allgemeinen Aussagen zu Inhalt und Ausformung der Anthropologie nicht hinreichend sind, das Wezelsche Welt- und Menschenbild in seinen wichtigsten Umrissen erkennbar werden zu lassen, wird
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Hamann an Herder (Königsberg, den 30. (31.) Mai 1774), in: Hamann, Briefwechsel 3 (1957), S. 98. David Hartley (1705-1757) ist mit seinen Observations on man, his from, his duty, and his expectations (London 1749) neben und unabhängig von David Hume (1711-1776) einer der Begründer der Assoziationspsychologie. Genauso wie jener kennt auch er nur eine Quelle der menschlichen Erkenntnis, die sinnliche Erfahrung. In seinen Observations on Man verschmilzt er einen sensualistisch radikalisierten Lockeschen Empirismus mit der Newtonschen Vibrationstheorie. Isaac Newton (1642-1727) hatte im letzten Paragraphen der Principia Philosophise (1687) und in den Queries der Opticus (1704) seine Lehre von den Vibrationen bezüglich der Augenwahrnehmung vorgetragen. Danach bestünden die Veränderungen auf der Netzhaut in Schwingungen, die durch die Nerven ins Gehirn fortgepflanzt werden und dort Empfindungen auslösen. Hartley greift diesen Gedanken auf und generalisiert ihn, indem er den wahrnehmungsphysiologischen Ansatz auf alle übrigen Sinne ausdehnt Allen sinnlich evozierten Schwingungen entsprechen dann die jeweiligen Empfindungen. Hartleys Bedeutsamkeit wurde in Deutschland jedoch durch Charles Bonnet (1720-1793) weit übertroffen. Er hatte hier nicht den Einfluß wie vergleichsweise in England, vermutlich, weil dessen Werk erst im Jahre 1772/73 aus dem Englischen ins Deutsche übertragen worden ist. Zudem wurde vom Übersetzer lediglich der zweite, den theologischen Ausdeutungen gewidmete Teil vollständig übersetzt, vom ersten aber, der vom Mechanismus der Seele handelt, nur ein AbriB verfertigt
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es nützlich sein, seine belletristischen, kritischen und pädagogischen Schriften daraufhin zu konsultieren. Danach erst wird sich die Untersuchung dem Versuch im einzelnen widmen. Psychologische Demaskierung und schließliche Naturalisierung der hochaufklärerischen intellektualistischen Tugendideale - so könnte Wezeis anthropologische Strategie, vor allem in seinen Romanen, summarisch auf den Punkt gebracht werden. Das, was im Zuge der allgemein verbreiteten Tugendbegeisterung und -Sentimentalität im 18. Jh. gemeinhin >Tugend< genannt wird, sei doch nichts weiter als Eigennutz und Selbstliebe {intérêt et amour-propre-, La Rochefoucauld). Einer solchen Demaskierung und Naturalisierung arbeitet der kausale Blick, das wissenschaftliche Denken der empirischen Psychologie und Physiologie, vor und >entwertet< gewissermaßen die Tugend der moralisierenden Sentimentalität als sittliche Forderung und Maßstab. Die Maßstäblichkeit wird durch die psychische vind physische Bedingtheit eingeholt und relativiert. Vorausgesetzt, es sei möglich, die Menschen durch moralische Schriften zu weisen, vernünftigen und vielleicht auch tugendhaften Individuen zu bilden, so müßten sie doch zunächst einmal selbst über »alle ihre Fehler und Gebrechen« aufgeklärt werden.34 Zweierlei anthropologisch gewichtige Aspekte habe die bisherige Moralphilosophie weitgehend verkannt: (1) den Selbstbetrug, mechanische Bewegungen einer Leidenschaft für Tugenden zu halten, die mitunter sogar eher aus dem >Magen< kommen als aus der >Seele< und alles andere sind als freiwillige, d. h. willkürliche, sondern notwendige Handlungen.35 Unversehens reklamiert Wezel für einige, traditionell der Seele zugehörige Areale logischer Intelligenz etwas Körperlich-Mechanisches, das in etwa >sensomotorische< Intelligenz genannt werden könnte, wie sie Unzers Nervenkrafttheorie im allgemeinen postuliert und dessen Erklärung von Phänomenen der Magen-Hirn-Sympathie illustriert.36 (2) Aber nicht nur Unzers neuro-
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Wezel, Tobias Knaut (1990), S. 6f. Im gleichen Roman heißt es, man solle »nicht auf Tugenden stolz sein, die man nicht getan«, sondern allein »Maschinenwerk« sind (Wezel, Tobias Knaut (1990), S. 150,485). Ebd., S. 149f. Diese sympathetische Abhängigkeit kommt im Tobias Knaut wiederholt zur Sprache. So begegnet man beispielsweise Passagen, in denen davon die Rede ist, der Magen und Kopf seien »geschworne Freunde«: was einer tut, »äfft der andre nach« (ebd., S. 292); wieder an anderer Stelle liest man: der »Magen und [die] Seele sind die entschlossensten Feinde der Dissonanzen« (ebd., S. 367); oder »aus einem úberladnen Magen steigen böse Dünste auf und machen die Atmosphäre im Kopfe so düster, so schwer, als die Seite der Welt - quod mbulae matusqm / Jupiter urgeh [Hör. c. 1,22,19f.] (ebd., S. 27; vgl. auch S. 122). In der Wilhelmine Arend (1782) wird das Verhältnis von Verdauung und Denken soritisch beschrieben. Die Verdauung ist der »Brunnquell alles Guten auf der Welt« und »Mutter alles unsers Denkens und Thuns: wer gut vegetirt, ist gesund, wer gesund ist, denkt und empfindet auch gesund; wer gesund denkt und empfindet, handelt auch gesund: das hängt alles zusammen, wie ein Pater noster. Folglich also [...] beruht unsere Glückseligkeit auf diesen zwey Stücken - richtiges Anfüllen und richtiges Ausleeren« (Wezel, Wilhelmine Artnd 1 (1782), S. 122f.). Allerdings bezweifelt Wezel die Möglichkeit, die konsensuellen Beziehungen zwischen Magen und Geist könnten gezielt beeinflußt werden. An sich selbst habe er nur beobachten können, daß beim Fasten, währenddessen der Geist normalerweise völlig ungestört seinen Verrichtungen nachgehen können müßte, ein gutes Nachdenken fast unmöglich war, da der »Strom der Ideen« viel zu rei-
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physiologische Konzeption wird für die Naturalisierung des konventionellen Tugendideals in den Romanen bemüht. Gleichermaßen beleiht Wezel auch V o r stellungen der zeitgenössischen Assoziationspsychologie und deren Depotenzierung des Seelischen zugunsten des Zerebralen. Greifbar wird das v o r allem an signifikanten Wortfügungen, ζ. B. dann, wenn er v o n »Assoziationen der Ideen« spricht oder miteinander »vergesellschafteten Vorstellungen« 3 7 . Allein in der Ideenassoziation selbst liegt noch nicht das Neue, da man ihr u. a. schon in den Schriften Aristoteles' oder J o h n Lockes begegnen konnte. In dem Moment aber, als er v o n »unwillkürlichen Zusammensetzungen der Einbildungskraft« als v o n »Spielen des Gehirns« spricht und eine »Assoziation der Ideen und der Empfindungen« 38 annimmt, wird klar, daß er sich die grundlegenden Ansichten der zeitgenössischen mechanischen Psychologie zu eigen gemacht hat, wenngleich er sich über die zu weit gespannten Erwartungen dieser Richtung vollkommen bewußt ist. 39
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Bend und die Ideen viel zu »flüchtig« und »lebhaft« gewesen seien, so daß er »sie nicht gehörig zusammenhalten« konnte und diese sich daraufhin »zerstreuten«, (Wezel, Versuch 2 (1785), S. 96). Die schon von alters her bekannten konsensuellen Beziehungen zwischen Hirn und Verdauung führten zu einer auch sprachlich tief verwurzelten Kontamination, indem man das Gehirn zu einem zweiten Verdauungsolgan machte. Anlaß bot dazu neben der Vorstellung einer >Läuterung< des Wahrgenommenen im Denken die Morphologie des Gehirns. Bereits in der Renaissance kann man bildlichen Darstellungen begegnen, auf denen die Gehirnwindungen als Dünndaimschlingen dargestellt werden (Claike/Dewhurst (1973), S. 15, 85, 95). Diese enteroide Vorstellung schreibt sich wohl von Erasistratos (310-250 v. Chr.) her und läßt sich bis mindestens Anfang des 19. Jh. belegen, ja noch heute muß man manchmal eine schlechte Nachricht >verdauenVolkspoesieVolkspoesiemotiviertNeid< und die >Vorzugssucht< (>RuhmsuchtMideid< im Zuge des zwischen ihnen immerwährenden Kampfes fast gänzlich zu verdrängen drohen und wie die Entwicklungsgeschichte der Menschheit sich einem moralisierenden Betrachter als eine bloße Aufeinanderfolge dieser Auseinandersetzung darstellen kann. - Darin unterscheidet sich Wezel ganz wesentlich von Claude Adrien Helvétius (1715-1771), der als anthropologischen Grundtrieb das Verlangen nach Macht annahm, der, wenigstens innerlich, jeden Menschen zum Despoten mache (vgl. Helvétius, De l'homme (1773),6,12). Wezel, Pädagogische Schriften (1996), S. 120,124. In seiner Ankündigung einer Privatanstalt (1780) nennt er >Mißvergnügen< und >Schaden< auch »Vedust des Vergnügens« und »des Nutzens« (ebd., S. 77). Wezel, Pädagogische Schriften (1996), S 124f.; vgl. auch S. 121. »Leiden und thuti. das sind die zwey großen Geschäfte der Menschheit, die ganze Anwendung unsrer Kräfte« (ebd., S. 120: »Leiden müßt ihr von Dingen, von Menschen und von euch selbst« — >An sich selbst leiden< meint die »Langeweile« und die »üble Laune« bzw. die Leiden der Einbildung; unter >Leiden von Menschen versteht Wezel die einem von den Mitmenschen zugefügten Kränkungen. Die größte Beschwerlichkeit aber sei die »Civilbestimmung«, die, egal, welche es sei, den Menschen in polizierten gesellschaftlichen Verhältnissen zu »anhaltender Arbeit des Geistes und anhaltender Ruhe des Körpers« zwinge (Wezel, Ankündigung einer Privatanstalt (1780), S. 18, 21 f.). An die »Civilbestimmung« muß die Erziehung den Menschen gewöhnen, zum Erleiden von Kränkungen ist ihm die Politesse hilfreich, das Bezwingen aller Arten übler Einbildung ermöglichen ihm Fröhlichkeit und heiterer Mut (ebd., S. 22-29). Wezel, Pädagogische Schriften (1996), S. 127. Zu solchen tätig-antreibenden heftigen Empfindungen rechnet Wezel später dann, im Versuch, den Mut, die Unerschrockenheit, die trotzige Verachtung des Todes und der Gefahr sowie die Verwegenheit; zu den ihnen entgegenstehenden zählt er die sympathetischen Gefühle des Mitleids und der Menschenliebe wie Furcht, Scham und Ekel (Wezel, Versuch 2 (1785), S. 250,274).
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nicht gleichermaßen auf Tätigkeit und Ruhe ausgelegt. In erster Linie ist er ein aktives, selbstsüchtiges Wesen. Die den Bewegungsgründen inhärente egoistische Tendenz findet, darin erinnern die Ansichten Wezeis an Shaftesbury, ihr altruistisches, sie beschränkendes Komplement in den Verabscheuungsgründen. Sie erst ermöglichen es, den Menschen als integralen Bestandteil einer sozialen Ganzheit zu begreifen. Das Überwiegen des Egoistischen allerdings hat in der menschlichen Gesellschaft einen immerwährenden Streit, einen »ewigen Krieg«48 zur Folge. Dieses Widerspiel erfordert eine ausgemittelte Balance.49 Die im Sozialen aufeinanderprallenden, nur durch schwächere altruistische Bestrebungen gemäßigten egoistischen Kräfte können verschiedener Intensität sein, mal stärker, mal schwächer. Sie konstituieren unterschiedliche Gleichgewichte, die vor allem kulturell determiniert sind und deren charakteristische Differenzen mit dem Terminus »Politesse«50 benannt werden. Dem >Polieren< kommt hierbei eine eminent sozialisierende Funktion zu. Es vermag zwar nicht das in unterschiedlichste Parteiungen und Fraktionen zerfallene und in beständigem Streit lebende Menschengeschlecht auszusöhnen und zu einigen, denn der individuelle und soziale Egoismus sind nun einmal Determinanten menschlichen Zusammenlebens, die es verhindern, daß die Menschen einander angenähert oder »durch Ein gemeinschaftliches Band mit einander vereinigt« werden51. Es vermag aber auf die Form der Auseinandersetzung einen mäßigenden, die spannungserzeugenden Kräfte herabmildernden Einfluß auszuüben und ihnen eine bestimmte Richtung zu geben, kurz: den Widerstreit zu kultivieren. Im Zuge der allgemeinen Kultivierung avanciert die >Politesse< als ein Verlangen, sich wechselseitig gefallen zu wollen, allmählich zu einem herrschenden Grundsatz.52 Man schont die Vorurteile und Leidenschaften des anderen, hält seine eigenen zurück, vermeidet Beleidigungen und nimmt eine Vielzahl gesellschaftlicher Verpflichtungen auf sich, und zwar weder aus Güte des Herzens noch aus moralischen Gründen, sondern einfach aus purer Eitelkeit, sich eben dieser Politesse rühmen zu können.53 Im Laufe der Zeit gewöhnt man sich
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Wezel, Ankündigung einer Privatanstalt (1780), S. 26. »Ebendieselbe Kraft, die in der Bewegung der körperlichen Welt ein gewisses Gleichgewicht erhält, muß auch die moralische und politische Vollkommenheit des Ganzen in einer gewissen Temperatur erhalten, daß alle Zeiten und alle Orte im Besitz und Mangel sich die Wage halten« (Wezel, Be/pAegor (1776), S. 287). Zur Definition des Begriffs siehe Wezel, Ankündigung einer Privatanstalt (1780), S. 28f. Wezel, Pädagogische Schriften (1996), S. 186,188. Ebd., S. 184. Wezel nimmt drei Faktoren an, die den Streit unter den Menschen herabzumildern vermögen: (1) das sog. gute Her^ worunter er nichts anderes als die »Stimmung des Temperaments« versteht, die der gezielten Einflußnahme durch den Menschen selbst immer entzogen bleiben wird, da sie »sich auf die [körperliche] Organisation und die Mischung der Säfte [gründet und] von Nahrung und Lebensart [abhängt]. Wir müssen uns also hierinne dem Zufalle überlassen« (Wezel, Ankündigung einer Privatamtalt (1780), S. 26f.); (2) die »Tugend«, die zwar, da sie in erster Linie eine Sache des Verstandes und der Urteilskraft ist, gelehrt werden könne, anderseits aber keineswegs ein ausnahmslos selbstgenügendes rationales Phänomen ist, bedarf zudem »jener glücklichen Disposition der Natur, die wir gutes Herz nennen«, um in Tätigkeit versetzt zu werden (ebd., S. 27). Nun fehlt
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an die polierten Sitten derart, daß sie zu guten Gesinnungen verinnerlicht werden, gelegentlich sich gar zu Tugenden ausprägen. In drei Sphären des Sozialen ist der Mensch vorzüglich tätig: im Religiösen, im Moralischen und im Politischen. In ihnen modifizieren sich die natürlichen egoistischen Zwecke >VergnügenNutzen< und >Ehre< zu abgeleiteten: zur >Religionmoralischen Gefiihk54 und zum >PatriotismusUniversalreligionphilanthropinische Erziehung< und >WeltbürgertumKosmopolitismus< genannt, gegenüber55. Die drei geselligen Zwecke, >KosmopolitismusPhilanthropie< und >Universalreligiongute HerzPolitur< als der Geschmackskultur einstellt (Wezel, Über Sprache, Wissenschaften und Geschmack der Teutschen (1781), S. 209f., 216). Die Rede vom »moralischen Gefühl« sei erst seit kurzem »gangbare Münze« und von Anthony Ashley Cooper, Graf von Shaftesbury, (1671-1713) in die Diskussion eingebracht worden, der es als »angeborenen sechsten Sinn« bezeichnete. Das moralische Gefühl ist jedoch eine »erworbene Fertigkeit, moralische Handlungen nach ihren Folgen für die Gesellschaft zu beurtheilen, oder an den guten Folgen derselben ein Vergnügen zu finden, und sie wegen dieses Vergnügens zu wollen« (Wezel, Pädagogische Schriften (1996), S. 141). Es ist demzufolge eine Modifikation des Ehrtriebes und des Vergnügens und nicht selbst eine Triebfeder wie Nutzen, Vergnügen, Ehre. Ebd., S. 185. Wezel, Rezension: Deutsches Museum, 1777. Erster Band Fortsetzung der Recension im vorigen Stück (1780), S. 59f.; vgl. Wezel, Versuch 2 (1785), S. 232 und 234. Wezel, Rezension: Deutsches Museum. Erster Band Jänner bis Junius. 1776 (1778), S. 84.
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die in der Menschheitsgeschichte waltende Vorsehung auf ein »allgemeineres Wohlwollen« der Menschen untereinander hin.58 Diese Ansichten über die soziale Natur des Menschen gipfeln schließlich in einem allgemeinen Ideal der menschlichen Natur. Hierfür muß er ausnahmsweise ein metaphysisches Postulat bemühen: »Jedes Ding ist am vollkommensten, wenn es alle Kräfte seiner Art in vollem Maße besitzt.«59 Demzufolge ist dann der der vollkommenste Mensch, schlußfolgert Wezel, der alle menschlichen Kräfte, sowohl körperliche als auch geistige, d. h. physikalische Kräfte, Leidenschaften, Wünsche etc. in sich vereint, und zwar in »vollem Maaße«. In dem Begriff des Maßes steckt das Moment des Gleichmaßes, der Ausgewogenheit, also eines Gleichgewichtes, das alle Kräfte derart ausmittelt, »daß eine jede [Kraft] für sich ihren vollen Effekt hervor brächte, und doch keine so überwiegend stark sei, daß sie die Wirkung einer andern hinderte.«60 Der »wohl temperirte Mensch«, sowohl was das Verhältnis der Verstandes- und Vernunftkräfte zu denen der Phantasie betrifft61 als auch das der egoistischen zu den altruistischen Zwecken angeht, umschreibt die ideale (klassische) Norm, die Wezeis ästhetische und pädagogische Ansichten prägen. So entgegnet Wezel gelegentlich der manieriert-emphatischen Exklamation Friedrich Leopold Graf von Stolbergs: »Gottlob!!! daß der Mensch nicht ganz Verstand ist!« in einer Rezension aus dem Jahre 1778: »und ich sage, Gottlob mit sechshundert Ausrufungszeichen, daß der Mensch nicht ganz Herz ist! [...] warum ist es denn nicht besser, wie es die Natur haben will, die Verstand und Herz machte, daß sie die menschliche Maschine im Gleichgewicht erhalten sollen?«62 Auf den selben anthropologischen Grundsätzen fußt auch Wezeis Theaterkritik: »es kömmt hier [bei der Beurteilung von Theaterstücken, im konkreten Fall: bei den Shakespeareschen] bloß darauf an, ob er für den bessern Theil unter uns, das heißt, für wohl temperirte Menschen, bey welchen Verstand und Einbildungskraft sich die Wage halten, die zu einem hohen Grade der moralischen Aus-
Wezel, Pädagogische Schriften (1996), S. 188. >Wohhwollen< benennt hier ein moralisches Wollen, das sich in Zuneigung, Gunst und Gewogenheit offenbart. Es ist die deutsche Entsprechung des lat. benevolentia und das genaue Gegenteil von Haß, Feindschaft, Widerwille und Abneigung (lat. odium). 59 Ebd., S. 91. » Ebd. 61 »Oberhaupt hat der Verf. die Ketzerey, daß er den raschen, von Sanftheit temperirten Ton in der Menschheit liebt und die butterweichen Seelen, die fast gar keine Konsistenz haben, schlechterdings entweder belachen oder verachten muß« (Wezel, Herrmann und Ulrike (1997), S. 12; vgl. desgleichen Wezel, Robinson Krusoe (1779), S. XII). - Auch das Verhältnis von Vernunft und Phantasie steht unter der oben benannten prinzipiellen anthropologischen Dichotomie von »Leiden und Tun«. Mit »Vernunft« allein vermag der Mensch nichts. Sie ist notwendig, aber sie »begeistert nicht zur Tätigkeit: Das ist das Geschäfte der Phantasie« (Wezel, Tobias Knauf (1990), S. 379; vgl. dazu ebenfalls Wezel, Versuch 2 (1785), S. 160). In der Wilhelmine Arend (1782) heißt es ganz ähnlich: »die Menschen werden entweder von Empfindungen, oder von Vorurtheil und Gewohnheit, oder vom Verstände geleitet: eins allein von diesen dreyen mag ich nicht zum Fühler haben. Drum ists am besten, von allen etwas! Eine gleich starke Dosis Verstand und Empfindung, und weil es dann nicht anders seyn kan, halb so viel Vorurtheil als beides zusammengenommen - das ist das beste Rezept zu einem Menschen« (Wezel, Wilhelmine Artndl (1782), S. 319f.). 58
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Wezel, Rezension: Deutsches Museum. Erster Band Jänner bis Junius 1776 (1778), S. 74.
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bildung gelangt sind, ob er für diese vortreflich ist«63. Noch deutlicher tritt dieser Ansatz in seinen pädagogischen Schriften zutage, vor allem dort, wo es um die vieldiskutierte Frage geht, ob es Menschen gebe, die von Natur aus gut oder böse sind, um endlich auf fundamentale pädagogische Perspeküvierungen auszugreifen. Der Mensch als ein von Grund auf auch egoistisches Wesen ist, unter ethischen Gesichtspunkten betrachtet, in seiner Naturgegebenheit zunächst moralisch indifferent: weder ist der Mensch prinzipiell böse noch ist er gut. Apodiktisch behauptet Wezel: »Die Natur zeugte nie einen Bösewicht: wer es ist, wurde es durch die Erziehung.«64 Die Umstände sind es, die ihn auf eine solche Art handeln lassen, dabei stets auf der Suche, seine egoistischen Zwecke zu verfolgen. »Die Menschen sind gewiß nicht böse, wenn sie nicht Umstände dazu machen«65; »böse ist gewiß niemand, als wenn er Nutzen davon hat«.66 »Der Mensch lernt durch Übung und Gewohnheit das Böse; auf dem nämlichen Wege[, dem der Politur,] muß er auch das Gute lernen, und wer nicht allmählich hierdurch dazu gleichsam unvermerkt gezwungen wird, den zwingt kein Gesetz dazu. Die Erziehung muß Gesetze entbehrlich machen — soweit dies angeht.«67 So bringt man zwar »keinen Engel, aber doch gewiß einen Menschen hervor, der in das Ganze [der Natur] paßt«68. Das Böse hat für Wezel einen ausgesprochen geschichtlichsozialen Ursprung; einen metaphysisch-theologischen, wie ihn Leibniz annahm, kennt er nicht mehr. Demzufolge sei es äußerst problematisch, jemanden einen Tugendhaften zu nennen, nur weil er anderen Gutes tut. Denn erstens handelt der Mensch stets entsprechend seiner egoistischen Natur: Bloß deshalb, weil jemand augenscheinlich nur den >NutzenVergnügen< oder die >Ehre des Gemeinwesens< im Auge zu haben scheint, dürfe dieser noch nicht automatisch höher geschätzt werden als jemand, der nur in eher offensichtlicher Weise seine eigenen Zwecke verfolge. Doch der Mensch gehorcht nicht nur seiner egoistischen Natur. Tugendhafte Handlungen können genausogut aus dem Temperament wie aus Grundsätzen entspringen. >Gut< können Menschen aus verschiedenen Ursachen sein: die einen aus Temperament, viele aus Eigennutz, Ehrbegierde oder Notwendigkeit, manche vielleicht aus Grundsätzen. Kein Mensch ist aber zu allen Zeiten, in allen Fällen und zu Jedermann gut69. Das, was man oft als etwas Tugendhaftes ansieht, ist dann zumeist sogar nichts weiter als ein körperlicher Defekt. So kann zum Beispiel die zur Tugend stilisierte Frömmigkeit statt eines verinnerlichten Gefühls auch die Folge eines Sturzes auf den Kopf sein, der zu Unverdaulichkeiten führte und durch eine »glücklich wiederhergestellte Öffnung
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Wezel, Rezension: Deutsches Museum, 1777. Erster Band {MT)), S. 234. Wezel, Pädagogische Schifteη (1996), S. 89. Wezel, Tobies Kmrnt (1990), S. 459. Ebd., S. 479. Wezel, Erziehung derMoahi (1983), S. 103. Wezel, Pädagogische Schriften (1996), S. 90. Ebd., S. 121.
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des Leibes« wieder zum Abklingen gebracht werden kann.70 Nicht alles also, dem man leichthin moralische Intentionen unterstellt, verdankt sich solchen: »Die Menschen sind nicht alle böse, nicht einmal meistentheils: man muß nur nicht alles für Bosheit halten, wodurch sie uns Schaden thun. Oft ist es Mangel am Verstände, oft Zufall, oft unvermeidliche Folge ihrer Natur.«71 Häufig haben die menschlichen Torheiten ihren näheren Grund auch nicht im zerrütteten Verstand oder in schlechten moralischen Grundsätzen, sondern in Unvollkommenheiten und Gebrechlichkeiten der körperlichen Natur72. Gleichwohl ist Wezel weit davon entfernt, diesen ethischen Naturalismus in einem Amoralismus aufgehen zu lassen. Menschliches Denken und Handeln hält er für prinzipiell gestaltbar. Die menschlichen Tugenden sind zwar nicht a priori oder per se vorhanden. Man kann und muß sie aber ausbilden und entwickeln, hegen und pflegen.73 In dieser Voraussetzung wurzelt seine aufklärerische Haltung, seine »Politur«-Konzeption. Er bemüht sich allerdings um eine realistische Position, die es erlaubt, menschliche Handlungsweisen in ihrer Natürlichkeit bloßzulegen, das sich darin ausdrückende Wesen des Menschen zu akzeptieren und nicht durch eine moralisierende Sicht zu verstellen. Eine Wissenschaft vom Moralischen hat stets den ganzen Menschen in Rechnung zu stellen. Andernfalls verkennt sie Ursächliches und verliert sich in bloßen Mutmaßungen und in Wunschdenken. Vier Aspekte kennzeichnen die Wezelsche Position im allgemeinen: (1) Moralische Geltungsansprüche müssen stets auf anthropologische und soziale Gegebenheiten bezogen bleiben. (2) Die sich darin aussprechende naturalistische Ethik führt zwangsläufig den Skeptizismus- und den damit verschwisterten Toleranzgedanken mit sich, da es prinzipiell problematisch ist, präskriptive und generalisierende ethische Aussagen zu formulieren und zu verteidigen.74 (3) Unmittelbar damit verbunden sind die Fragen nach einem Tugend-, Menschen- und Erziehungsideal: nicht ein metaphysisch deduziertes Tugendideal, sondern nur ein aus der Natur analytisch gewonnenes könne mit einem gerechtfertigten Geltungsanspruch aufwarten: »Ihr Herren Moralisten fangt von hintenzu an; ihr stopft euch eine Puppe mit allen möglichen Tugenden aus, deren ihr nur habhaft werden könnt, stellt sie hin und ruft: Dieser muß man gleichen! — Wozu nützt das?«75 Stattdessen sollte man »von vorn anfangen [und] den Menschen durchstudieren«76. »Unsre Begriffe vom Guten und Bösen, vom Begehrungswerten und Verabscheuungswürdigen«, heißt es weiter, dabei einen Sensualismus zumindest erahnen lassend, »wachsen allmählich aus der Reihe von Eindrücken empor, die der Körper und äußerliche Veranlassungen auf
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Wezel, Tobias Knaut (1990), S. 8f. Wezel, Pädagogische Schriften (1996), S. 121. Wezel, Tobias Knaut (1990), S. 8. Ebd., S. 8f. Wezel, Silvans Bibliothek (1983), S. 61 und 63. Vgl. auch Wezel, Rezension: Deutsches Museum. Zweyter BanJ. Julius bis December (1776), S. 62. Wezel, Silvans Bibliothek (1983), S. 62. Ebd., S. 63.
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uns machen.«77 (4) Zu guter Letzt führt die skeptische Grundhaltung zu einer auch kritisch-zurückhaltenden Einstellung gegenüber anthropologischen Progressions· und Degenerationsvorstellungen hinsichtlich der Menschheitsentwicklung. Diese gründeten nicht in einer objektiven Sicht auf Entwicklungsprozesse, sondern seien lediglich individuellen Vorurteilen geschuldet.78 Wie wirken sich nun diese vier, das Denken Wezeis im allgemeinen kennzeichnenden Aspekte auf seine pädagogischen Vorstellungen aus? Da die Natur den Menschen zur Tätigkeit bestimmt hat, sollte die Erziehung vor allem darauf sehen, diese »zu entwickeln, zu stärken und zu dem Grade der Anspannung zu fuhren, den ihr Natur und Schicksal« bestimmt haben79. Man dürfe sich freilich nicht der Illusion hingeben, man könne mit Hilfe pädagogischer Einflußnahme den Menschen von Grund auf umgestalten, seine Gemütsverfassung ins Gegenteil verkehren und in ihm Neigungen erzeugen oder Triebe beseitigen, die er von der Natur nun einmal vorenthalten oder mitbekommen hat.80 Allemal hat man von den naturgegebenen Anlagen auszugehen: diese gilt es zu entwickeln oder einzuschränken. Neben den natürlichen Veranlagungen müssen vom Pädagogen auch die sozialen Verhältnisse, in denen der zu Erziehende steht, gebührend berücksichtigt werden. Denn ein den äußerlichen Stand hintanstellendes Erziehungsziel wird dem Menschen möglicherweise aus dem ihm vom Schicksal (>GeburtPolitesseNutzenEhre< oder
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Ebd., S. 61. »Wozu also die ewigen Klagen über Verderbnis und Sitten? Sie heißen doch weiter nichts als: Gegenwärtig haben nicht alle Menschen meine Denkungsart, meinen Charakter, meine Sitten, was ich herzlich bedaure« (ebd., S. 64). Wezel, Pädagogische Schriften (1996), S. 124. In der Ankündigung einer Privatanstalt aus dem Jahre 1780 fordert e r »Die Erziehung muß [...] zuerst den Jüngling gewöhnen, unvermeidliche Leiden aller Art standhaft zu ertragen, und ihn zur Thätigkeit erwecken, ihm Geist, Leben, Regsamkeit mittheilen, so viel seine Natur zuläßt« (ebd., S. 18). »Wir glauben, durch unsern Unterricht Wunder zu tun, die Gemüter ganz umzukehren, Neigungen einzupflanzen, Begierden auszurotten, alles Illusion« (Wezel, Silvans Bibliothek, S. 60)! Wezel, Pädagogische Schriften (1996), S. 142; vgl. auch die Formulierung des Erziehungszieles in Wezeis Ankündigung einer Privatanstalt (1780), S. 30f. Wezel, Pädagogische Schriften (1996), S. 185.
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>Vergnügen< — einen dieser drei »Hauptantriebe der menschlichen Natur« entwickle man in einem Menschen zur herrschenden Leidenschaft, wenn möglich die >EhreBestimmung< anmeldet. Die teleologische Betrachtungsweise könne zwar Aufschluß über den Menschen an sich, und das heißt hier vor allem als ein die tierische Organisation kontrollierendes Geistwesen, geben. Mit ihr geht der Mensch aber auch seiner konkret-historischen und natürlich-somatischen Sphäre verlustig; er wird entzeitlicht und seiner körperlichen Determination gänzlich beraubt. Das daraus resultierende Menschenbild verliert alle Tauglichkeit, eine historisch verankerte Perspektive zu liefern. Die Rede von der »Kenntniß« hingegen bleibt zunächst fast positivistisch offen und bringt so schon in der Begrifflichkeit die Programmatik von der Erfassung möglichst des ganzen Menschen zum Ausdruck. Da die die Phänomene verursachenden ersten Ursachen der menschlichen Wißbarkeit auf immer entzogen bleiben werden, ist verständlich, daß das Programm einer solchen, den ganzen Menschen in den
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Wezel, Tobias Knaut (1990), S. 118f. Und an anderer Stelle heißt es ganz ähnlich: »Nein! der Mensch [und nicht die Natur] ist der Schöpfer seiner Torheiten! Er will die Erde zum Garten und sich zum Engel umschaffen; ir will die Sterne messen, «rwill die Geheimnisse des Schicksales enträtseln und ist sich selbst ein unauflösliches Rätsel; er will die Grenze von Wahrheit und Irrtum bestimmen und weiß nicht, was Wahrheit ist; er dreht sich in einem Kreise von Meinungen herum, daß ihm schwindelt, und am Ende hat er Schwindel im Kopfe und Staub in den Augen - [...] Die Menschen können nicht anders sein, als sie [von Natur aus] sind« (ebd., S. 356).
Wezeis Diskussion des teleologischen und kausalanalytischen Anthropologiebegriffs
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Blick nehmenden Wissenschaft nicht im Sinne einer kausalen Totalerkenntnis, sondern einer phänomenalen Totaierfassung verstanden werden muß. Aus der Komplexität der von Wezel angenommenen Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge und deren permanenter Veränderlichkeit erwächst schließlich ein überaus dynamisch konzipiertes Menschenbild. Die beiden anthropologischen Paradigmen, wie sie in der Rede von der »Bestimmung« auf der einen Seite, von der »Kenntniß« auf der anderen aufs Signifikanteste zum Ausdruck kommen, finden ihren Ausdruck unter anderem auch in der zeitgenössischen Auseinandersetzung, ob der Mensch mehr zur Glückseligkeit (Eudämonismus) oder mehr zur Tugend (Moralismus) bestimmt sei. Während letzteres die Abwertung des Sinnlichen fast zwangsläufig einschließt, muß das bei dem ersten Glied der Alternative nicht unbedingt der Fall sein.103 Die alleinige Fixierung auf den Menschen als Geistwesen wird von Wezel jedenfalls zugunsten einer holistischen Perspektive aufgegeben. Für den homo duplex als ein auch sinnliches Wesen sind eben beide Komponenten konstitutiv. Damit gerät die Natur der Sinnlichkeit allmählich immer mehr in das Zentrum des Interesses. Wurde vormals die Sinnlichkeit meist vorab schon als minderwertig diskreditiert, so war man nunmehr gesonnen, sich ihr ohne moralisierende Präferenzen anzunähern. Die »Bestimmung des Menschen« muß sich aus der »Kenntniß des Menschen« ergeben, so Wezel. Nicht die >Bestimmung< an sich wird verworfen, denn darum geht es Wezel auch, sie muß sich aber aus der »Kenntniß« ergeben und sie nicht zu verhindern und zu verdecken suchen, indem sie mit der Rede von der »Bestimmung des Menschen« gleichsam eine Zeitlosigkeit des Wissens um sein Ziel suggeriert, das theologisch längst gesichert scheint. Als »Kenntniß des Menschen« wird das Wissen vom Menschen als etwas Zeitliches und Subjektives, stets aufs neue zu Erwerbendes verstanden. Der Erwerb selbst ist an Methoden geknüpft, die ebenfalls nur relativ und an einen bestimmten allgemeinen Kenntnisstand der Erkenntnissubjekte gebunden sind. Im Falle von Wezeis Versuch über die Kenntniß des Menschen heißt das: das Wesen des Menschen als homo duplex erschließt sich nicht durch ausschließlich diskursiv-deduktive Methoden, sondern macht in starkem Maße auch empirisch-induktive Untersuchungen erforderlich, ja setzt diese gewissermaßen voraus. Die den Versuch über die Kenntniß des Menschen charakterisierende introspektive, ausschließlich auf Erfahrung fußende kausalanalytische anthropologische Methode läßt sich ebenfalls schon in den Erstlingswerken nachweisen. Bereits im Tobias Knaut werden die Selbstbeobachtung104 ebenso wie die Notwendigkeit, in der Untersuchung psychischer Phänomene auf die physischen und physiologischen Voraussetzungen gleichermaßen zu sehen, herausgestellt. Im Vordergrund steht
103 104
Vgl. hierzu Wezeis Epistel an du tmtseim Dichter (1775). »[...] so schließe ich, daß ich [der auktoriale Erzähler] von solchen gelesen werde, die zuweilen in sich selbst schauen, über sich selbst nachdenken — gewiß, keine geringe Freude (tir einen Schriftsteller, der Selbstkenntnis für das Wichtigste unter Sonne und Mond hält« (Wezel, Tobias Knaut (1990), S. 309).
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dabei, wie später auch, der Einfluß des Körperlichen auf das Geistige.105 Das Vermögen, seinen eigenen Seelenzustand zergliedern zu können, ist nicht mit dem allgemeinen Vermögen, über äußere Dinge und philosophische Gegenstände außer sich nachzudenken, identisch. Im ersten Falle versagten Newton, Locke und Leibniz, im zweiten waren sie zu »vortreffliche Männer«. Um seinen Seelenzustand zergliedern zu können, bedarf es des Bewußtseins, genauer des inneren Sinns bzw. der Empfindung dessen, »was in uns selbst vorgeht«. Diese Fähigkeit variiert von Mensch zu Mensch und ist von der jeweiligen körperlichen Organisation abhängig. So kann es kommen, daß jemand intellektuelle Höchstleistungen zu vollbringen in der Lage ist, die sich auf alles außer ihn beziehen. Sobald es aber um Phänomene in ihm selbst geht, versagt sein analytisches Vermögen. An der erfolgreichen Untersuchung seines Herzens und seiner Empfindungen wird er zwangsläufig stets scheitern, denn die Schärfe seines äußeren ist weit größer als die »seines innern Gesichts«. Jene haben gleichsam Fernrohre als Augen wie z. B. Leibniz und Newton, andere wiederum Mikroskope, mit denen sie »den kleinsten Trieb« der Seele belauschen und jede Empfindung bis auf den Grund verfolgen können, wie beispielsweise Edward Search. Der mikroskopische Blick der Selbsterkenntnis bedarf einer besonderen Seelenkraft und einer eigenen »Stimmung der [Seelen-] Organen«. Das Talent dazu muß durch Übung und Fleiß geschult und trainiert werden. — Mit seinen körperlich-zerebralen und seelischen Ursprüngen, die zugleich den Zusammenhang von Anthropologie und Literatur stiften, gerät das Vermögen der philosophischen Selbsterkenntnis in unmittelbare Nachbarschaft zum Dichtungsvermögen.106 — Ausdruck dieser anthropologischen Differenz ist Wezeis satirische Mikroskopie, die vor allem im Tobias Knaut strukturbestimmendes Prinzip ist. Ganz anders sieht es dann etwa im Belphegor und im Robinson Krusoe aus: hier steht die Fernrohr-Perspektive bzw. die Teleskopie im Vordergrund.107 Mit der unterschiedlichen Perspektivierung verbindet sich auch eine an-
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»Inzwischen ist der Einfluß dieser körperlichen Ursachen auf unsre moralische und intellectuelle Vollkommenheit so gewiß, so mächtig, so allgemein, daß ich fest überzeugt bin, die Psychologie müsse bey diesem Einflüsse anfangen, und könne nur alsdann erst gedeihen, wenn unsre Kenntniß desselben genauer und vollständiger ist« (Wezel, Pädagogische Schriften (1996), S. 98). Wezel, Tobias Knaut (1990), S. 309-311. Im Belphegor wird gerade auch durch die Protagonisten auf die das Werk als Gestaltungsprinzip durchwaltende Teleskopie und die ihr innewohnenden Gefahrenmomente hingewiesen: »[Fromal]: Die Glückseligkeit [d. h. Abwesenheit wirklicher Leiden] unsers Planetens scheint in die gemäßigte Zone der Glückseligkeit des Ganzen zu gehören, eine mitdere laue Temperatur, nicht befeuernd und auch nicht ganz kalt. Gewohnheit und Unwissenheit sind ihre beiden Endpunkte. Wer die Erde zum Garten, zur Heimath der Glückseligkeit macht, ist ein Schwärmer oder ein Unwissender, wer sie als eine Wüste, ein Jammerthal schildert, ist ein Milzsüchtiger oder ein Bösewicht. Sie ist ein Mittel zwischen beiden, ein what d'ye call it~ Belph. Das aber doch bisweilen mehr der letztern Schilderung gleicht. From. Ja, es scheint, besonders wenn man den Lauf der vergangnen Begebenheiten im Ganzen überschaut: aber merke auch, daß die Geschichte derselben ein gedrungnes voll grappirtes Gemälde ist, dessen Theile sich in der Natur nicht so nahe berührten, wo zwischen den armseligen Spitzbübereyen und Mördereyen etwas heitre Intervalle waren« (Wezel, Belphegor (1966), S. 309f.). Vgl. hierzu auch die Ausführungen im Anhang.
Methoden, zu einer Kenntniß des Menschen zu gelangen
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dersartige anthropologische Akzentsetzung: während im Tobias Knaut der Mensch als bio-psychisches Wesen im Zentrum steht, also gleichsam als eine mikrokosmische Einheit, geht es im Belphegor und im Robinson Krusoe mehr um die soziale Komponente des Menschseins, was eine makrokosmisch-teleskopische Sichtweise verlangt. Natürlich bedingen beide Perspektiven einander und sind keinesfalls nur ästhetisch, sondern auch und in erster Linie anthropologisch motiviert. Wie der Mensch eben nicht nur über äußere Sinne, genausowenig verfugt er über bloß einen inneren Sinn. Zusammengenommen erst ermöglichen sie es, den Menschen ganz in den Blick zu bekommen. Dabei widerstehen die Wezelschen Perspektiven wie auch anthropologischen Prämissen weitgehend traditionellen Lesererwartungen, was sich unter anderem mit an den bis heute andauernden, überaus widersprüchlichen Rezeptionsweisen Wezelscher Werke ablesen läßt. All jene Faktoren, der Perspektivismus als Gestaltungsprinzip für subjektiven Weltzugriff, die Relativität der Erklärungs- und Geltungsansprüche und des damit einhergehenden Skeptizismus, ein sehr weit, fast ins Extrem getriebener Toleranzgedanke und nicht zuletzt das naturalisierte, Freiheit und Moral gefährdende anthropologische Fundament, führten unter den Zeitgenossen zu einer anthropologischen Beunruhigung, ja Beängstigung und zuweilen auch, wie im Falle Wielands, zu Empörung und unverhohlener Ablehnung.
5. Methoden, zu einer Kenntniß des Menschen zu gelangen Die Beobachtung seiner selbst unterscheidet sich prinzipiell von der Beobachtung anderer (Fremdbeobachtung): Während die »Beobachtung anderer [...] meistentheils ein Geschäft des Witzes pst], eine Vergleichung unsrer innern Erfahrungen [mit] [...] den Phänomenen, die wir an andern wahrnehmen«, also ein rein intellektuelles Vermögen anspricht, setzt die Selbstbeobachtung viel mehr voraus.108 Hierzu ist »ein eignes Talent [erforderlich], eine besondre Schärfe des innern Sinnes, des Bewußtseyns, ein Vermögen, unsre Empfindungen, Triebe, Leidenschaften zu belauschen, gleichsam zwey Personen auszumachen, wovon die eine zuschaut, die andre handelt; jene nach jeder Revolution in uns sogleich reflektirt, was und wie von dieser bewirkt seyn kann«.109 Die Selbstbeobachtung fußt einmal auf dem Reflexionsvermögen, andererseits auf einer ausgezeichneten
108 Wezel, Pädagogische Schriften (1996), S. 99. Witz (lat juäcium) ist neben dem Gedächtnis (Iat. memoria) und der Erfindung (lat ingenium) eine der drei klassischen Verstandesoperationen (lat. operatioms mentir, Thomasius, Von der Kunst Vernünftig und Tugendhaft sp Heben (1692), S. 175-177, 204). Es ist das dt Komplement zu giiech. ε υ φ υ ΐ α (vgl. Aristot. poet. 1459a) bzw. lat ingenium, es benennt den Aspekt des »Vermögens der Seele, Ähnlichkeiten, und besonders verborgene Ähnlichkeiten, zu entdecken« (Adelung, Versuch eines vollständigen grammatischen Wörterbuches 5 (1786), Sp. 266; vgl. hierzu auch Gabriel (1999)). Vor allem dank dieses Vermögens ist der Dichter in der Lage, Metaphern zu bilden. 109
Wezel, Pädagogische Schriften (1996), S. 99.
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körperlichen Konstitution, insbesondere einer außerordentlich entwickelten Sensibilität. Gegenüber der Fremdbeobachtung ist die Selbstbeobachtung für die Menschenkenntnis höherwertig, da sie den psychischen und physischen Phänomenen räumlich gewissermaßen näher benachbart ist. Die Beobachtung anderer wiederum setzt die Selbstbeobachtung voraus, indem sie diese stets zum Vergleich mit dem aus der Fremdbeobachtung Gewonnenen heranziehen muß. Dessen ungeachtet vermag auch die Selbstbeobachtung nicht die Kluft zwischen Phänomen und Wesen zu überschreiten. Sie kann nicht die Oberfläche durchdringen und sozusagen das zugrunde liegende Getriebe freilegen. Alles bleibt Vermutung, »Präsumtion ähnlicher Ursachen bey ähnlichen Wirkungen«.110 Die Beobachtung selbst ist jedoch nichts weniger als voraussetzungslos, im Gegenteil: »Zur Beobachtung muß man schlechterdings einige allgemeine psychologische Kenntnisse mitbringen — Psychologie (Seelenkenntniß) in der Ausdehnung genommen, wie ich mir sie denke - von dem Einflüsse körperlicher Ursachen auf die Seele, auf ihr Denken, Empfinden und Wollen, von der Wirkung der Ideen oder der vorstellenden Seelenkräfte auf die wirkenden [Seelenkräfte], von dem entgegengesetzten Einflüsse der letztern auf die erstem, und also vorzüglich von dem ruhigen und leidenschaftlichen Gange der Ideen und seiner Äußerung durch den Ausdruck der Rede, der Geberden, Minen und Handlungen, von der Angewöhnving durch Nachahmung, durch Sympathie, durch zufallige Umstände des körperlichen oder geistigen Mechanismus — wenigstens so weit muß man eine kleine Dosis Kenntniß der Seele und des Menschen von sich, von andern, aus wahrer und erdichteter Geschichte, und aus dogmatischen Büchern abstrahirt, gelernt, gefunden haben.«111 Wenngleich Wezel hier, ganz im Gegensatz zu seinen sonstigen Darlegungen, der Seele selbst noch das Denken, Empfinden und Wollen zuweist und ihr ganz traditionell die Vorstellungs- und Willenskraft einwohnen läßt, so sollte das doch nicht überbewertet werden. Es scheint etwas lax dahingesagt zu sein und mag vor dem Hintergrund seiner davor und danach geäußerten anderweitigen konzisen Ansichten unberücksichtigt bleiben. Unbedingt
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111
Ebd. Im Robinson Krusoe heißt es ganz ähnlich und bereits auf das dem Vernich über die Kmntniß des Menschen (1784/1785) vorstehende Hallersche Motto vorausweisend: »die Philosophen versprechen sich, daß sie mit geschärftem Blick in das innere Wesen der Dinge dringen und alles sehen werden, wie es ist, und nicht, wie es unsern äußern und innern Sinnen erscheint« (Wezel, Robinson Krusoe pl990), S. 248). Die auch antileibniz'sche Stoßrichtung verdeutlicht ein Blick in die Theodi%ee. Dort heißt es in der Vorrede: »Ich habe, wie mir scheint, das Mittel gefunden, in aufklärender Weise das Gegenteil zu beweisen [, daß nämlich nicht alles von einer blinden und völlig geometrischen Notwendigkeit beherrscht wird, wie Spinoza behauptet, und zwar] derart, daß man zugleich in das innere Wesen der Dinge eindringt« (Leibniz, Theodi^t! (1968), S. 26). Wezel, Pädag>gische Schriften (1996), S. 103. Es mag auf den ersten Blick etwas befremden, wenn Wezel hier neben die »Kenntniß des Menschen« noch die »Kenntniß der Seele« (Psychologie) stellt, wo er doch späterhin seinen Versuch über die Kenntniß des Menschen (1784/85) eine Psychologie nennt. Das Mißverständliche der Ausdrucksweise verschwindet aber sogleich, wenn man berücksichtigt, daß »Kenntniß des Menschen« hier das Physiologische im Gegensatz zum Psychologischen meint, in seinem philosophischen Versuch dann aber den Inbegriff des Menschen in seiner holistischen Fassung zum Inhalt hat.
Anlaß, Inhalt und Aufbau des Wezelschen
Versuchs
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ernst sollte man allerdings seinen wissenschaftsmethodischen Zugriff auf physiologisch determinierte psychologische Phänomene nehmen, denn sie messen bereits das Terrain aus, auf dem er sich mit seinem Versuch über die Kenntniß des Menschen bewegen wird. Zu den Quellen rechnet er neben eigentlichen Fachtexten auch solche, die gemeinhin der Belletristik und Historiographie zuzurechnen sind. Denn auch die Geschichte müsse mit unter die »Hülfsmittel zur Menschenkenntniß« gerechnet werden.112 Das stellt selbstredend höhere Anforderungen an einen solchermaßen operierenden Psychologen, denn er muß peinlich genau darauf achten, »sich von allen religiösen, politischen und moralischen Partialbegriffen los[zu]machen, und dann [erst] Welt und Menschen in Rücksicht auf Zeit, Ort und Zustand [zu] beschauen«.113 Damit mag der Überblick über Anthropologisches im literarischen, pädagogischen und literarkridschen Werk beschlossen werden, denn es konnten all die vom Revisor der Allgemeinen Literatur-Zeitung, Friedrich August Carus (1770-1807), als vorbildlich hervorgehobenen Aspekte des Wezelschen Versuchs bereits in dessen belletristischen Schrifttum namhaft gemacht werden. Ebenso konnte das Welt- und Menschenbild Wezeis hinsichtlich seiner sozialen Domäne konturiert werden. Und schließlich ließen sich im belletristischen und pädagogischen Werk Wezeis auch schon weitgehende, den Versuch präludierende Reflexionen hinsichtlich der Anthropologiekonzeption und der mit ihr verknüpften Methodik aufweisen. Mit den kommenden Abschnitten steht nunmehr der Versuch als geronnenes theoretisches Produkt jahrelanger Überlegungen Wezeis zu Fragen der Anthropologie im Zentrum der Aufmerksamkeit.
6. Anlaß, Inhalt und Aufbau des Wezelschen Versuchs über die Kenntniß des Menschen Wezeis anthropologische Grundsätze wurzeln, wie eben dargetan, in einer bereits in der Leipziger Studienzeit einsetzenden Beschäftigung mit philosophischen Fragen. Bis in diese Zeit hinein können all die Leitvorstellungen, die dem Versuch von 1784/85 sein eigenartiges Gepräge geben — sie mögen das Gehaltliche oder Methodische betreffen - im Wezelschen Œuvre aufgewiesen werden. Von einer philosophischen Entwicklung, einem Bruch im Denken gar, finden sich in Wezeis Schriften keinerlei Anhaltspunkte. Es scheint ganz so, als habe er in seinem Versuch all jene Erfahrungen und Beobachtungen verarbeitet, die er seit Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre gemacht hat, indem er diesen eine systematische Form unterlegt. Dafür spricht auch der unmittelbare Anlaß der Abfassung des Versuchs. Er steht, anders als man vielleicht vermuten könnte, in keinem un-
1,2 113
Wezel, Rtension: Deutsches Museum. Enter Band. Jänner bis Junius 1776 (1778), S. 78. Ebd., S. 80f.
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Johann Karl Wezeis experimentelle Anthropologiekonzeprion
mittelbaren Zusammenhang mit der Platner-Wezel-Streitigkeit 1781/82114, wenngleich diese im Versuch hier und da ihre Spuren hinterlassen hat. Ursprünglich ist er von Wezel als ein Lehrbuch für den philosophischen Unterricht im Rahmen der von ihm im Jahre 1780 projektierten Einrichtung einer Privatanstalt ßr den Unterricht und die Erhebung junger Leute syrischen dem zwölften und achtzehnten Jahre konzipiert worden.115 In seiner im Januar 1780 separat publizierten 93seitigen Ankündigung und Beschreibung der Unternehmung skizziert er u. a. auch den Umriß des von ihm selbst durchzuführenden philosophischen Unterrichts116, der in gedrängter Form genau das wiedergibt, was er dann in der Einleitung (S. 24-69) seines Versuchs dem Leser wiederholt unterbreiten wird. Der Wichtigkeit dieses Umstandes wegen sei die Passage an dieser Stelle in Gänze wiedergegeben: Der Philosophieunterricht hat nicht zum Ziele, heißt es da, aus dem Schüler einen »unbärtigen Philosophen« zu machen, sondern soll lediglich eine »Erzählung« sein »von den geistigen Wirkungen, die wir an dem Menschen wahrnehmen (Empfindung, Vorstellung, Thun) von ihren wahrscheinlichen Ursachen (äußerliche Gegenstände, körperliche Organe, Seele) von den allgemeinsten Regeln, nach welchen sie geschehen, (Verknüpfung zwischen Empfindungen und Empfindungen, zwischen Ideen und Ideen, zwischen Ideen und Empfindungen u. a.) von den allgemeinen Eigenschaften der Dinge; von der Verknüpfung aller geistigen und körperlichen Wirkungen zu Einem Ganzen, das wir Welt nennen; von der ersten und immer fortdauernden Ursache aller dieser Wirkungen, Gott; wie gesittete Völker von entwickelter Moralität sich ihn vorstellen. Darauf folgt eine Erzählung der möglichen Weisen, wie von den angegebenen Ursachen die specificirten Wirkungen entstehen können; z. B. die vornehmsten philosophischen Vorstellungsarten von der Schöpfung, das heißt, wie die erste Ursache den Faden der Wirkun-
114 Vgl. die weitergehenden Ausführungen im Anhang. 115
1,6
Wie er in einem an den Hannoveraner Stabssekretär und Mitherausgeber des Deutschen Museums Heinrich Christian Boie (1744-1806) adressierten Brief (Leipzig, den 3. Februar 1780) schreibt, hoffte er für seine Anstalt Jugendliche aus »reichen adelichen oder bürgerlichen Häusern« zu gewinnen. Boie sollte deshalb vor allem versuchen, das Projekt in Livland, Kurland, in einigen reichen Handelsstädten, in der Schweiz und anderen Ländern bekannt zu machen. Daneben beabsichtigte Wezel, den Schülern seiner Privatanstalt selbst auch »Übung im teutschen Styl, Unterricht in der alten und neuern Litteratur, in der Theorie der schönen Wissenschaften und Künste, Archäologie, Philosophie, Encyklopädie, Übungen in Deklamation und Aktion« zu erteilen. Den übrigen Unterricht wollte er Dozenten der Leipziger Universität überlassen, »die gegen billiges Honorar den nöthigen zweckmäßigen Unterricht [...] ertheilen wollen« (Wezel, Ankündigung einer Privatanstalt (1780), S. 72). - Neben dem Versuch über die Kenntniß des Menschen plante Wezel später auch die Publikation einer Enzyklopädie als einer Übersicht aller Wissenschaften im Zusammenhang, die dem den Universalunterricht abschließenden und sich auf die Universität begebenden Schüler eine »allgemeine Karte von der Wissenschaft« an die Hand geben sollte (ebd., S. 50, 61; vgl. den Brief Johann Karl Wezeis an das Philanthropin in Dessau (Leipzig, 1. Januar 1783): »allein ein paar Lehrbücher arbeit ich vielleicht aus, weil ich ohnehin eine Enzyklopädie zu schreiben gesonnen bin, um die menschliche Erkenntnis ein wenig zu befördern«). Vermutlich gehört auch Wezeis Replik auf Friedrich II. De ¡a littérature allemande (1780), seine Abhandlung Über Sprache, Wissenschaften und Geschmack der Teutschen (1781), zu den ursprünglich in diesem Zusammenhang konzipierten Schriften.
Anlaß, Inhalt und Aufbau des Wezelschen Verrucht
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gen, die diese Welt ausmachen, angesponnen hat und noch zu ihnen beyträgt; wie man sich die Entstehung der körperlichen Wirkungen aus angenommenen Kräften (vis centripeta, centrifuga etc) gedacht hat; die Möglichkeit, wie die geistigen Wirkungen [Empfindung, Vorstellung, Thun] durch ihre drey Hauptursachen [äußerliche Gegenstände, körperliche Organe, Seele] veranlaßt werden (Fibernsystem, System der Lebensgeister u. s. f.). [Danach] geht man zu dem praktischen Theile der Philosophie über, welcher nichts als eine Anweisung seyn soll, wie und durch welche Hülfsmittel der Mensch in jedem Verhältnisse vollkommen denkt, empfindet und handelt. [...] Es soll eine Geschichte der allgemeinen Wirkungen in der Welt, und ein Katechismus des menschlichen Denkens, Empfinden und Thuns seyn, deutlich, anschaulich, unterhaltend.«117 Ubersieht man den Plan der »Geschichte der allgemeinen Wirkungen in der Welt« und sieht von dem praktischen Teil ab, so hat man die ursprüngliche Konzeption des Versuchs als einer spekulativen bzw. theoretischen Philosophie vor sich. Auch von seinem Vorhaben, hiervon »vielleicht einen besondern Entwurf« bekannt zu machen, spricht er schon in diesem Zusammenhang.118 Im unmittelbaren Anschluß daran wird Wezel wohl mit seinen Ausarbeitungen begonnen haben. Bald aber, noch während der Abfassung der ersten beiden Bände, wurden bei ihm, der Ausführbarkeit eines solchen zeitraubenden und immer mehr ausufernden Unternehmens wegen, Zweifel rege.119 Kurzerhand entschloß er sich, den geplanten Umriß des Ganzen auf die Abhandlung vom Menschen zu beschränken. Dennoch ist der Versuch aber nur richtig zu verstehen, wenn er in diesem viel weidäufigeren Rahmen eingebettet bleibt. Daß Wezel auch daran lag, wird allein schon am Aufbau des Versuches kenntlich. Beiden Teilen ist jeweils eine unbetitelt gebliebene Vorrede vorangestellt. Im Unterschied zum ersten Band, wo er nur mit dem Kürzel »Wzl.« paraphiert hat, ist die des zweiten Bandes mit »Leipzig, 1785« datiert und mit vollem Autorennamen unterzeichnet. Die Vorrede (S. 3-18) des ersten Bandes wurde nach Fertigstellung der ersten beiden Bände verfaßt und gibt Rechenschaft über die geänderte, vormals weit umfänglichere Konzeption, wie sie dem Leser noch in der nachgestellten »Einleitung« (S. 24-69) entgegentritt. Zwischen Vorrede und »Einleitung« piazierte der Autor zwei Inhaltsverzeichnisse, wovon das erste mit »Inhalt des ersten Theils«120 überschrieben ist und den Aufriß der der gesamten ursprünglich geplanten Metaphysik vorangestellten »Einleitung« enthält. Das sich daran anschließende Inhaltsver-
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120
Wezel, Ankündigung einer Privatamtalt (1780), S. 57-59. Ebd., S. 59. Im Herbst 1781 waren der erste Band bereits gänzlich und vom zweiten die erste Hälfte fertiggestellt. Wohl im Zuge der Streitigkeit mit Platner zum Jahreswechsel 1781/82 erkrankte Wezel sehr stark, wovon seine letzten beiden Wortmeldungen im Platner-Wezel-Streit, die Gedichte Mein leger Wille (1781) und Meine Auferstehung (1782), Zeugnis ablegen. Er konnte aber den zweiten Band trotz einer anschließenden Gesundheitsreise noch im Jahre 1782 fertigstellen (Wezel, Versuch 1 (1784), S. 6; Wezel, Versuch 2 (1785), S. 109, 320). Wezel, Versuch 1 (1784), S. 19f.
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zeichnis, »Der Mensch. Grundriß der menschlichen Maschine« betitelt121, stellt den Beginn einer weit differenzierteren Auffacherung der Rubrik »Mensch« innerhalb des die umfassendere Metaphysikkonzeption skizzierenden Aufrisses dar122. An das zweite Inhaltsverzeichnis knüpft unmittelbar das dem zweiten Band vorausgeschickte an. Obwohl die drei Inhaltsverzeichnisse beide Bände grundlegend strukturieren, ermöglichen sie es dem Leser doch nicht, diese zu erschließen, denn man verzichtete auf die dafür notwendigen Seitenzahlen. Sie haben demzufolge keine Verweisungs-, sondern nur eine rein synoptische Funktion. Der Vorrede des ersten Bandes zufolge sollte der Versuch über die Kenntniß des Menschen fünf Teile haben, die sich gleichmäßig auf ebenso viele Bände verteilen sollten. Der erste Teil galt demnach dem Mechanismus des Menschen, insofern er auf die Seelenwirkungen Einfluß hat, der zweite den Empfindungen, der dritte hatte sich den Ideen zuzuwenden. Der vierte Teil sollte das Wollen und Tun des Menschen auseinandersetzen und eine Übersicht des ganzen menschlichen Triebwerks bieten; am Schluß des Bandes versprach man u. a. Betrachtungen über einige anomalische Zustände wie Träume, Narrheit, Schwärmerei anzustellen. Der fünfte und letzte Teil endlich war problematischen Untersuchungen über Gegenstände der menschlichen Natur, die sich dem Wissen entziehen, vorbehalten, die ein historischer Abriß anthropologischer Vorstellungen ergänzen sollte.123 Während der Ausarbeitung zeigte sich dann aber, daß auch dieser Plan nicht umzusetzen ist. Schon die Vorrede des zweiten Teils unterrichtet den Leser von der Unmöglichkeit, den zweiten Teil, der den Empfindungen gewidmet ist, auf einen Band zu beschränken: den die Empfindungen abschließenden Teil müsse der Leser im dritten der Bände, der ursprünglich allein den Ideen vorbehalten bleiben sollte, nachschlagen.124 Allem Anschein nach war der dritte Teil zum Zeitpunkt des Erscheinens des zweiten noch nicht vollendet, denn in einem Brief Wezeis an den Berliner Literaten, Kritiker und Verleger Friedrich Nicolai (17331811) vom 8. September 1787 schreibt er, der Versuch werde nunmehr, da auch der dritte fertiggestellt ist, sechs Bände umfassen, »da der Artikel von den Empfindungen, dem ich nun [nachdem er die umfängliche Metaphysikkonzeption habe fallengelassen] den zweiten Theil bestimmt hatte, auch diesen ganzen dritten angefüllt hat«. Von diesem dritten Band, der letztlich unpubliziert blieb125, weiß sein Biograph Günther von Ziegeler in der Zeitungfiir die elegante Welt zu berichten,
Ebd., S. 21 ff. Ebd., S. 20. 123 Ebd., S. 6. Vielleicht ist Wezeis Aufbau des Versuchs hinsichtlich der in einem extra Kapitel zusammengefaßten Fragen, die dem Erkennen der Menschen bislang verborgen oder auf immer verborgen bleiben müssen, von Platner abgeschaut. Dieser hatte bereits 1776 seinen Philosophischen Aphorismen ein gesondertes Kapitel, Skeptische Fragen betitelt, einvedeibt. Der Rezensent des Werks in Act Auserlesenen Bibliothek der neuesten deutschen Utteratur lobte ausdrücklich Platners Vorgehen: »So muß jeder Philosoph lehren, wenn er seine Kräfte kent« (Anonymus, Rezension: Emst Platners philosophische Aphorismen. Leipzig, 1776 (1777), S. 458). 124 Wezel, Versuch 2 (1785), S. 1. 125 Vgl. die weiterfuhrenden Anmerkungen im Anhang. 121
122
Anlaß, Inhalt und Aufbau des Wezelschen Versuchs
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daß er sich noch 1811 unter Wezeis Manuskripten befunden habe126. Weiter als bis zum dritten Band allerdings scheint das Unternehmen des Versuchs nicht gediehen zu sein. Die Einleitung des Versuchs setzt damit ein, den Zweck und die Gegenstände der spekulativen Philosophie mit dem Menschen, der Seele, der Welt und Gott zu benennen127. Signifikant ist im Gegensatz zu dieser Viererstruktur die dem Versuch schließlich unterlegte Dreierstruktur Mensch, Welt und Gott. D. h. Wezeis Metaphysik kennt eine Anthropologie (»Kenntniß des Menschen«), eine Kosmologie (»Kenntniß der Welt«) und eine (natürliche) Theologie (»Kenntniß Gottes«), aber scheinbar keine Psychologie (»Kenntniß der Seele«) als eigenständige metaphysial specialis. Das wäre aber vorschnell geschlossen: vielmehr ist im Viererschema mit dem Menschen das physische Pendant des Psychischen, eben der Seele, benannt. Das Dreierschema bietet dann nur die Synthese beider Gegenstandsbereiche als folgerichtiges Resultat der von Wezel angestrebten interdisziplinären und integrativen Ausrichtung der Wissenschaft vom Menschen. Vergleicht man die von Wezel benannten Gegenstände der spekulativen Philosophie mit denen der Wölfischen Metaphysik etwa, so fallt auf, daß zu ihrem Gegenstandsbereich nur noch die sog. speziellen Gegenstände der Philosophie zählen; das Ding an sich als Gegenstand, wie ihn die Ontologie bislang untersuchte, kennt auch Wezeis Metaphysik nicht mehr. — Die spekulative Philosophie verfolgt zweierlei Zwecke: sie beginnt damit, die Phänomene der Dinge zu beobachten, Daten zu sammeln und zu klassifizieren, um endlich ihre Ursachen und Gesetze aufzusuchen. Dieser Teil ist rein faktisch. Hieran schließt sich der zweite, rein hypothetische Schritt an, bei dem die Beschaffenheit und Wirkungsart der Dinge gemutmaßt und Theorien ausgesonnen werden. Sie könne sich dabei auf vier Methoden stützen: (a) Erfahrungen und Beobachtungen128, (b) allgemeine Grundsätze, (c) Schlußfolgerungen aus Erfahrungen, Beobachtungen und allgemeinen Grundsätzen und (d) Schlußfolgerungen aus der Analogie. Die systematische Unterteilung spekulativen Philosophierens in Faktisches und Hypothetisches ergänzt Wezel im Kapitel vom Menschen noch durch einen dritten, historischen Abschnitt. In ihm sollen die »Vorstellungsarten der vorzüglichsten philosophischen Köpfe von dem Menschen, der Seele, ihrer Beschaffenheit und Wirkungsart, seit den ersten Zeiten der Philosophie bis auf unsere« angeführt werden. In der Kosmologie und Theologie war eine ähnliche Gliederung geplant. - Damit ist der systematische Aufriß der Einleitung vollständig entfaltet. Im kommenden geht es darum, ihre Gehalte herauszustellen. Die Einleitung arbeitet zunächst den Unterschied zwischen den Volks- bzw. theologischen Systemen und der spekulativen Philosophie heraus129; anschließend
Ziegeler, Etwas über denjetzigen Zustand Weyçls (1812), Sp. 276f. Wezel, Versuch 1 (1784), S. 24. 128 Die Unterscheidung zwischen observatio und experiment, d. h. zwischen Beobachtung« und >Versuch< nahm bereits Wolff im Anschluß an Leibniz und Newton vor (vgl. Poser (1984), Sp. 1072-1081). 12» Wezel, Versuch 1 (1784), S. 24-45. 126 127
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werden, wie bereits erwähnt, die Gegenstände der spekulativen Philosophie und die Methode ihrer Erkenntnis benannt (Mensch I, 47-51; Welt I, 51-54; Gott I, 54f.). Die Diskussion des Unterschieds zwischen sog. Volks- und philosophischen Systemen gibt ihm die Gelegenheit, Dogmen der Offenbarungsreligionen genetisch zu erklären und in den Erklärungshorizont der natürlichen Theologie hineinzublenden. Dabei werden Ansätze einer vergleichenden Religionsgeschichte sichtbar, beispielsweise beim Vergleich verschiedener Vorstellungsarten wie der unbefleckten Empfängnis oder der Höllen- und Gottesvorstellungen in den unterschiedlichen Religionen. Die Unterschiede in den Religionen fuhrt er dann einzig und allein auf äußere Umstände wie Klima etc. zurück; ihre Gemeinsamkeiten dagegen auf die durchgehende Gleichheit des Menschengeschlechts.130 - Mit der Säkularisierung der Religionsgeschichte nimmt Wezel wiederholt frühaufklärerisches Gedankengut auf, wie es wohl erstmals Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657-1757) in De l'orione desfables vorgetragen hat. Darin wies dieser nach, daß die Gottesvorstellungen den jeweiligen Entwicklungszustand eines Volkes widerspiegeln, so daß die Offenbarungsreligionen ein geschichtlich notwendiges Komplement des jeweiligen Entwicklungsstandes der Völker darstellen. Diesen Gedanken greift Wezel auf und versucht davon ausgehend deutlich zu machen, wie sehr Theologisches im Anthropologischen wurzelt und inwieweit man also auch umgekehrt aus überlieferten theologischen Ansichten Aufschlüsse über anthropologische Vorstellungen gewinnen kann. Dogmengeschichtlich tradierte und begründete Religionsstreitigkeiten werden auf diese Weise naturalisiert und insofern die Möglichkeit eröffnet, sie vor das Tribunal der Vernunft zu bringen. Das Ziel ist dann aber, streng genommen, keine natürliche Religion mehr, sondern eine religionsauflösende philosophische Weltsicht, die Gott nur noch als einen, zugegeben notwendigen, metaphysischen >Anker< anerkennt, der den Anfang der Kausalketten bildet und die Erhaltung des Kräftegleichgewichts in der Welt sichert.131 Themen wie Gottesbeweise und die Behandlung seiner Eigenschaften wie Unsterblichkeit u. ä. waren aufgrund dessen wohl im Versuch nicht vorgesehen. Insofern ist es durchaus gerechtfertigt, den Wezelschen Gott des Versuchs als >Gott des Philosophen< zu bezeichnen. An die parallele Behandlung der Gegenstände und Methoden schließen sich ausfuhrlichere Darlegungen über die anthropologischen Methoden an: sie rechtfertigen zunächst das experimentelle Vorgehen in der Anthropologie132, schreiten im Anschluß daran zur auch illustrierenden Darstellung und Differenzierung dreier Arten von Versuchen133. Hierauf folgen wissenschaftstheoretische Erörterungen über die induktive Erkenntnismethode: die Möglichkeit, empirisch gewonnene Befunde zu verallgemeinern und in Gesetzesform zu bringen. Sie umreißen als Faktisches das Gebiet des Wahrscheinlichen. Wezel vertritt damit in
130 131 132 133
Ebd., S. 41. Ebd., S. 54. Ebd., S. 55. Ebd., S. 55-60.
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Fragen der Wissenschaft eine seinem von Skepsis geprägten Weltbild durchaus adäquate und damals ganz und gar übliche probabilistische Position. Die zweite, schwächere Stufe der -wissenschaftlichen Gewißheit verkörpern die sog. »problematischen Fragen«. Das sind solche Fragen, die über das dem Menschen Wißbare hinausreichen und von ihm nicht beantwortet werden können. Für und gegen diese die »Beschaffenheit und Wirkungsart der Dinge« betreffenden Fragen dürfe der Philosoph nur Gründe anfuhren, müsse dabei jedoch eine unbedingte Unentschiedenheit wahren.134 Zu solch problematischen Fragen seien die nach dem Wesen der Seele, nach der Freiheit des Menschen, seiner Handlungsdeterminiertheit und seinem postmortalen Zustand zu rechnen. Hält der Philosoph an dieser Stelle allerdings nicht inne und maßt sich eine Entscheidung hinsichtlich der Beschaffenheit oder Wirkungsart der Dinge an, dann überschreitet er die Grenzen des Wißbaren und begibt sich auf das Feld der »philosophischen Träumerey« und des »Unsinns«135. Dem dabei auftretenden Problem, daß eine jede wissenschaftlich verfahrende Begründung von bestimmten, nicht weiter zu begründenden Ausgangsvoraussetzungen auszugehen hat, also von lediglich hypothetischen Annahmen, die nicht nur dem Gewißheitsstatus problematischer Fragen entsprechen, sondern als entschiedene dem Felde der »philosophischen Träumerey« zuzurechnen sind, versucht Wezel folgendermaßen Herr zu werden: er unterscheidet zwei Arten von philosophischen Hypothesen, deren eine er für gangbar, deren andere er aber für »entbehrlich und schädlich« hält136. Bei den letzteren handelt es sich um »Hypothesen über die Wirkungsart«, bei den ersteren um solche über die Beschaffenheit. — Hypothesen über die Wirkungsart verstellen in den allermeisten Fällen den Blick auf »die wahren, für uns erkennbaren Ursachen«137, indem sie ein bestimmtes Kausalitätsraster von vornherein zugrunde legen und so den sowieso nur funktionalanalytisch zugänglichen Erkenntnisbezirk regelrecht verstellen. So besteht bei einer solchen Hypothese immer die »Gefahr, alles in dem Lichte anzusehn, das von [der] Hypothese auf die Gegenstände fallt«. Als Beispiel führt er diejenigen Philosophen an (wobei er unzweifelhaft Ernst Platner im Blick hat), »die den Nervensaft zu sehr lieben, alle Phänomene der menschlichen Seele aus dem Laufe dieser unbekannten Flüssigkeit und [...] tausend Bewegungen, die er bald dahin, bald dorthin, bald links, bald rechts machen soll[, erdichten]«.138 Anders verhält es sich mit Hypothesen, die das Wesen einer Sache betreffen. Ohne solche zur Ausgangsvoraussetzung zu machen, kann man unmöglich über
Ebd., S. 62. »5 Ebd., S. 63f. 136 Ebd., S. 64. 137 Ebd. 138 Ebd. Ganz ähnlich betonte Unzer in der Vorrede zu seinen Ersten Gründen einer Physiologie (1771), daß es ihm gelungen sei, die unterschiedlichen Funktionen der Nervenkraft, einmal als Nervenwirkungen und ein anderes Mal als Seelenwirkungen, aufzuweisen, ohne sein System auf »die Hypothese von einem Antriebe der Lebensgeister« zu gründen. 134
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einen Gegenstand philosophieren. Und es liegt noch nicht einmal in der Gewalt des Menschen, sich dergleichen Voraussetzungen überhaupt enthalten zu können. Ganz eigenmächtig und ohne, daß er es weiß, setzt die Seele »eine blos denkbare Sache mit einer sinnlichen, eine geistige mit einer materiellen, eine unbekannte materielle mit einer bekannten materiellen in Vergleichung, und je lebhafter, deutlicher, bestimmter man sich das sinnliche Bild neben der abstrakten Idee denkt, desto heller, deutlicher, anschaulicher ist unser Begriff davon« 1 3 9 . Es ist dies ein Grundgesetz des Denkens und jedem noch so abstrakten Reflexionsvorgang wesenseigen. Die derart sensualistisch motivierte Ansicht sinnlicher Determiniertheit allen Denkens ist nur dahingehend steuerbar, als sich der Mensch darüber Rechenschaft zu geben vermag, ob seine Beschaffenheits- bzw. Wesenshypothese konsekutive oder koexistentiale Bezugssysteme formiert, d. h. ob er sich einen eher sublimen oder einen vielmehr »groben sinnlichen Begriff« v o n der Beschaffenheit einer Sache macht 1 4 0 . - Wezel anerkennt demnach prinzipiell den heuristischen Wert 1 4 1 beider Arten v o n Beschaffenheitshypothesen, will aber die letztere mit äußerstem Vorbehalt verwendet wissen. Beispiele solch mißglückter
» 9 Wezel, Versuch 1 (1784), S. 65. 140 Ebd. 141 Nach Newtons Vorgang, der die Hypothesen aus der Wissenschaft scheinbar zu verdrängen suchte, kam es in der ersten Hälfte des 18. Jh. zu einer immer stärker anschwellenden Diskussion über den wissenschaftlichen Stellenwert von Hypothesen. Vielfach sprach man über sie ein Verdammungsurteil. Dem trat Mitte des Jahrhunderts dann Haller entschieden entgegen und setzte sich für die Rehabilitierung der Hypothesen in der Wissenschaft ein, wenn es darum ging, sie als ein heuristisches Instrument unter anderen zu nutzen. Seine Vomde zum ersten Teil der Buffonschen Naturgeschichte ist nichts anderes als eine »Schutzrede für die Hypothesen« (Haller, Vomde (1750), S. XIX). Wollte jemand alle Hypothesen verdammen, schreibt er, wie beispielsweise der Wiener Boerhaave-Schüler Gerard van Swieten (1700-1772), der das sogar in den Statuten der dortigen Medizinischen Fakultät verankern ließ und in seiner 1759 gehaltenen Rede oratio de mediana simpliä vera (Viennae, o. J , S. 26) dazu aufrief: Exulant hypotheses/, oder wie Newton mit seinem berühmten Ausspruch: Hypotheses non fingo!, so hieße das, sich einem platten Phänomenalismus zu ergeben. Zugleich bedeutete dies, an die Naturwissenschaften einen viel zu strengen Gewißheitsparameter anzulegen. »Man stelle sich nun eine Zeit vor, wo aus ganz Europa alle willkührliche Meynungen, alle Hypothesen gänzlich, nach dem Wunsche vieler neuern Weisen verbannet sind. Man nehme die Sätze dieser des menschlichen Herzens nicht recht kundigen Geometren an, daß der Mensch die innere Natur der Dinge zu kennen unvermögend sey, daß wir nichts zu hoffen haben, als die Wahrnehmungen einiger Erscheinungen, und daß die Wahrheit in einem Abgrunde liege, zu welchem wir keine Brücke haben« (Haller, Vomde (1750), S. ΧΠ). Der Nutzen der Hypothesen, die auch als ganze Systeme auftreten können, besteht in ihrer heuristischen Funktion: »sie sind zwar noch die Wahrheit nicht, aber sie führen dazu [...]. Sie sind der Leitfaden, der zum Neuen und zum Wahren führt« (ebd., S. XIV). Hypothesen verbürgen der Arbeit des Forschers Ziel und System, Zweck und Ordnung. Ebenso haben sie eine problemerschließende Funktion: »Sie werfen nämlich Fragen auf, deren Beantwortung von der Erfahrung gefordert wird, und die ohne eine Hypothese uns nicht eingefallen wären« (ebd., S. XVII). Daneben ermöglichen sie eine öffentliche Diskussion der Probleme, auf die man füglich verzichtete, wenn sich alles in selbstbescheidender und -beschneidender Konstatierung des bloß Offensichtlichen erschöpfte (vgl. auch Bonnet, Betrachtung über die Natur (1772), S. XXXVIIf.). - Dieser Ansicht pflichtet auch Wezel bei, was nicht heißt, daß er die Newtonsche Konzeption einer Erfahrungswissenschaft (philosophia experimentalis) fallen läßt. So heißt es an einer Stelle seines Versuchs einmal ganz programmatisch: »Ich erzähle nur Thatsachen« (Wezel, Versuch 1 (1784), S. 43; vgl. auch Wezel, Versuch 2 (1785), S. 289).
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Hypothesenbildungen sind die tradierten >groben< topologischen Vorstelhingsarten von der Seele, bei der viele Philosophen so sprächen, »als wenn sie sich Gedächtniß, Einbildungskraft, Verstand, wie Theile neben einander, dächten, oder als wenn sie sich die Ideen, wie Bilder auf der Leinwand, vorstellten«142 - wiederum ein Seitenhieb auf Platners Anthropologie. Besser sei es, die den topologischen unterliegenden statischen Vorstellungen von den Seelenvermögen und -Operationen fallen zu lassen und stattdessen »alles im Menschen und der Seele« als »vorübergehende Wirkungen« zu denken143. Weit vorteilhafter nehmen sich also dynamisch-konsekutive Hypothesen aus, wie beispielsweise die Oszillationstheorie in ihren beiden Ausprägungen, der Saiten- und der Schallwellentheorie144 (wobei die Saite fiir die transversale, der Schall für die longitudinale Wellenausbreitung steht), da sie ungleich mehr Phänomene und Ursachen befriedigend zu erklären vermögen als die staösch-topologischen. Diese Distinktionen eröffnen Wezel die Möglichkeit, dezidiert auf das CommeraiMW-Problem und den Innatismus à la Descartes einzugehen145. Die beiden Möglichkeiten, Beschaffenheiten zu charakterisieren, die statisch-topologische bzw. — koexistendale ebenso wie die dynamisch-konsekutive, bieten den Anknüpfungspunkt, mit dem Commercium mentis et corporis anzuschließen und en passant die Frage der »eingeborenen Ideen« zu behandeln. Wezeis antileibnizianische, überhaupt antirationalistische Position findet hierin ihren beredten Ausdruck. Hypothesen über die Wirkungsweise des Commercium mentis et corporis waren von vornherein ausgeschlossen. Nun galt es nur noch zu wählen, ob man einen repräsentationalistischen Erklärungsansatz wählt, und wenn ja, ob einen repräsentationalistischstatischen oder einen dynamischen. Der dynamische wiederum kann auf seinen Geltungsbereich befragt werden, d. h. ob er auf das Seelische beschränkt bleibt, oder ob er sich auch, worum es Wezel ja in erster Linie ging, auf die Interaktion
142 Wezel, Versuch 1 (1784), S. 65,63. Den Rezensenten des ersten Teils des Versuchs in der Allgemeinen deutschen Bibliothek 65(1786) überzeugt die Bevorzugung der dynamisch-konsekutiven vor den statisch-koexistenualen Hypothesen nicht, vor allem da nicht, wo Wezel auf die Seele in ihrem Zusammenhang mit dem Körper zu sprechen kommt. Denn, so argumentiert er, die dynamischkonsekutive Hypothese kann ebensowenig oder nur genausoviel an Gewißheit fur sich beanspruchen, wie eine statisch-koexistentiale. Beide sind hypothetisch und sollten deshalb erst in dem von Wezel dafür vorgesehenen Abschnitt erörtert werden. »Es giebt folglich der letzten Meynung gar keinen Vorzug, daß sie die Verbindung zwischen Seele und Körper im Causalzusammenhange, hingegen die erste nur im Coexistentialzusammenhange, vorstellt« (Sg. [Antiqua: Hermann Andreas Pistorius], Rezension: Versuch über die Ktnntniß des Menschen. Erster Thei/, Leipzig 1784 (1786), S. 155). Der Rezensent hat es dabei weniger auf eine Verteidigung der Leibniz'schen Lehre von der prästabilierten Harmonie abgesehen, wie man vielleicht vermuten könnte, sondern auf die eingeborenen Ideen, die sozusagen bereits präformiert in der Seele liegen und nur noch ihrer Auswikkelung bedürfen. Dieser zeigt sich hierin ganz an Leibniz geschult, der Descartes vor Lockes naiver Interpretation der angeborenen Ideen (idea innata) in Schutz nahm. Leibniz faßte die eingeborenen Ideen als ein besonderes begriffliches Raster auf, die im Prozeß klarer und deutlicher Anschauung förmlich »ausgewickelt« werden. 143 144 145
Wezel, Versuch 1 (1784), S. 66. Ebd. Ebd., S. 67.
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von Körper und Seele erstreckt. Prinzipiell hat man demnach die Möglichkeit, zwischen zweierlei Hypothesen zu wählen: entweder >liegen< alle Ideen >in< der Seele (sie können dann entweder durch die Seele als mit dem Körper und den äußeren Gegenständen übereinstimmend gedacht werden (repräsentationalistischstatischer Ansatz) oder aber ohne eine Mitwirkung durch den Körper und die äußeren Gegenstände >entwickelt< bzw. >herausgewickelt< werden (repräsentationalistisch-dynamischer, aufs Seelische begrenzter Ansatz). Oder aber die Seele erlangt erst die Ideen, indem die Seele von den äußeren Gegenständen und dem Körper durch die Sinne Wirkungen empfangt und sie beiden auch mitteilt (repräsentationalistisch-dynamisch-konsekutiver und substanzeninteragierender Ansatz). Wezel entscheidet sich unumwunden für den jeglichen Apriorismus ablehnenden Empirismus in seiner forcierten Option, den Sensualismus, wie er in der letzten Variante zum Ausdruck kommt, und lehnt den Cartesischen Innatismus ebenso wie die Leibniz'sche prästabiüerte Harmonie ab. Stattdessen favorisiert er einen wechselseitigen Einfluß von Körper und Seele146, der den Vorteil bietet, alle physischen, psychischen und psychophysischen Prozesse im Lichte des Kausalprinzips (nihil fit sine causa) als der physikalischen Interpretation des Satzes vom zureichenden Grunde {nihil est sine ratione) zu betrachten, obgleich er auch in dem Falle die faktische Kausalität zur hypothetischen >dynamischen Konsekution< herabmildert. Nichts, auch keine Idee, ist ohne Grund. Das stellt eine eindeutige Absage an die rationalistische Vorstellung von den eingeborenen Ideen dar. Zusammenfassend kann geisagt werden, daß Wezel mit der alleinigen Zulässigkeit von Hypothesen über die Beschaffenheit im Gegensatz zu solchen über die Funktionsweise wohl zunächst auf eine prinzipielle Offenheit wissenschaftlicher bzw. philosophischer Forschung zielt, nicht aber auf den in der Untersuchung schon häufig benannten Unterschied von Substanz- und Funktionsontologischem. Zudem hat es Wezel mit der Wahl von Hypothesen über die Beschaffenheit auf einen genuin anthropologischen Aspekt abgesehen: denn solche nur böten die Möglichkeit, den Menschen als homo duplex zu thematisieren. Zugleich aber gewährt sie die Möglichkeit, das zeitgenössische Maschinenmodell gebührend in Anschlag zu bringen. Der Mensch ist also keine seelenlose Maschine, kann aber maschinal erforscht und beschrieben werden. Diese, von der Mehrzahl der Zeitgenossen geteilten Ansichten stützen die hypothetischen Annahmen äußerst zweifelhaften Gewißheitsstatus' bezüglich der Seele und ihrer Interaktion mit dem Körper dann schon wieder derart, daß sie fast unbemerkt das Feld der philosophischen Träumerei zu verlassen und ins Areal des Problematischen hinüberzuwechseln scheinen, ja fast den Status des Wahrscheinlichen für sich beanspruchen. Der Betrachtung vom Menschen< steht damit die grundlegende funktionale Hypothese von der dynamisch-konsekutiven Verbindung und Interaktion des Körpers und der äußeren Gegenstände mit der Seele vor, wie sie soeben dargestellt worden ist.
146
Ebd., S. 66f.
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Übersieht man den Inhalt der Einleitung mit seinen nicht scharf abgegrenzten Kapiteln, dem >historischen Abriß der Philosophie< und dem >MethodenkapitelVersuche< anstellen könne, was doch bis dahin eine ausschließliche Domäne der Naturforscher gewesen sei153. Drei Arten von philosophischen Versuchen können unterschieden werden; zwei davon sind Selbstversuche, die dritte betrifft Versuche mit Fremden. Die erste Art von Selbstversuchen läßt sich auf folgende Weise beschreiben: (1) man nimmt an sich ein Phänomen wahr, mutmaßt dessen äußere Ursachen (Umstände), versetzt sich ganz gezielt noch einigemal in die gleichen äußeren Umstände und vergleicht die nunmehr dabei auftretenden Wirkungen.154 Von Interesse bei dieser Art von Selbstversuchen ist nicht so sehr die Einflußnahme äußerer Umstände auf den Körper des Menschen. Darüber herrscht unter den Gelehrten fast durchgängig Einigkeit (zumal es sich dabei um eine exklusive Domäne der Naturwissenschaft handelt). Vielmehr hat man hier auf »den Zusammenhang der körperlichen Gefühle mit den Ideen und [...] die möglichen Verknüpfungen zwischen beiden« zu sehen, also auf das genuin anthropologische Distrikt.155
•M Ebd., S. 55. Ebd, S. 55-58. 155 Ebd, S. 58. 154
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(2) Eine zweite Art von Selbstversuchen sind solche, bei denen nicht äußere Ursachen den Ausgangspunkt bilden, sondern innere. Der Philosoph veranlaßt »in sich« Veränderungen und beobachtet die Wirkungen. Die Veränderungen können sowohl körperlicher als auch geistiger Art sein: so könne man z. B. eine Sache mit der größten Lebhaftigkeit »denken« (geistige Ursache) und beobachtet dabei die daraus entstehenden Empfindungen (körperliche Wirkungen); oder aber man versetzt sich zielgerichtet in einen Affekt (körperliche Ursache) und achtet auf die daraus entstehenden Ideen (geistige Wirkungen). Allgemeine Voraussetzungen derartiger Selbstversuche sind: (a) große Reizbarkeit und Empfindlichkeit der Organe, (b) treues Gedächtnis, da die Auswertung des Versuches immer erst nach dem Selbstversuch vorgenommen werden kann, (c) lebhafte Imagination bis hin zur dichterischen Anschaulichkeit und d) Schnelligkeit des Geistes156. (3) Eine dritte Art von Versuchen sind solche, die mit Probanten vorgenommen werden. Allerdings treten dabei eine Vielzahl von Schwierigkeiten auf, die besondere Geschicklichkeit und große Behutsamkeit erfordern. Wezel selbst hielt wohl die geplante und organisiert durchgeführte Beobachtung anderer für derartig neu, diffizil und schwer durchführbar, daß er diesen Gedanken nur in seiner konjunktivischen Form vortrug.157 Obgleich es in solchen philosophischen Versuchen in erster Linie um den »gesunden, gut organisirten [...] vollständigen Menschen« geht, so sollen diese doch nicht auf ihn beschränkt bleiben158. Ebenso wichtig sind Versuche an Kranken, deren Gebrechen auf Denken und Empfinden einen »merklichen« Einfluß haben.159 Damit könnten vor allem die Ärzte den Psychologen zu wichtigen Einsichten verhelfen. Die mittels Beobachtung und Versuch gemachten Erfahrungen, Wezel nennt sie auch »Phänomene« und »allgemeine Sätze«160, bilden die Voraussetzungen für Schlußfolgerungen mittels des Kausalgesetzes: gleiche Ursachen haben gleiche Wirkungen, bei Wezel: »wir muthmaßen daher bey gleichen oder ähnlichen Wirkungen gleiche oder ähnliche Ursachen, bey einerley Ursachen einerley Folge«161. Es stellt eine Verallgemeinerung des Kausalprinzips als der physikalischen Interpretation des Satzes vom zureichenden Grunde dar, wonach nichts ohne Ursache geschieht, und hebt auf die gesetzmäßige Verknüpfung bestimmter Ursachen mit
156 157
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Ebd., S. 59. Genaugenommen ist es schwer zu sagen, was im Wezelschen Versuch Ergebnis von Beobachtung oder Versuch ist. Denn über serielle Aspekte unterrichtet der Autor den Leser nie. So ist es wohl angemessener, von Selbst- und Fremdbeobachtungen als von Versuchen zu sprechen. Einzig der von ihm gezielt durchgeführte Selbstversuch, bei dem die verschiedenen äußeren Sinne mit Zitronensäure gereizt und der jeweilige Reizerfolg verbucht werden, kann eindeutig als solcher Geltung beanspruchen (Wezel, Versuch 2 (1785), S. 57). Ebd., S. 88. Wezel, Versuch 1 (1784), S. 60. Ebd., S. 61. Ebd.
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bestimmten Wirkungen ab162. Letztlich geht es auch Wezel, wie schon Krüger und Unzer, um nomologische Fixierungen von Phänomenen des Commercium mentis et corporis. Wezel glaubt damit offensichtlich, seine philosophische Prinzipienlehre nun bis zu dem Punkt geführt zu haben, von dem er sich jetzt der Erkundung des Menschen methodisch gesichert nähern kann, und zwar mittelst eines technomorphen Gedankenexperiments, wie »bey einem physikalischen Versuche«163. Die Korrespondenz von Form und Funktion, von Bau und Eigenschaft, die die medizinische und anthropologische Forschung des ganzen 18. Jh. inspirierte, indem gerade sie es ermöglichte, die von den meisten als fruchtlos anerkannten Spekulationen über das Leib-Seele-Verhältnis beiseite zu lassen und die empirische Forschung und damit das Wissen vom Menschen weiter voranzutreiben, bildet auch für Wezel den grundlegenden methodisch unterfütterten Interpretationsrahmen. Dabei handelt es sich sowohl um ein sog. Forschungsexperiment als auch um so etwas wie ein Demonstrationsexperiment. Beide gehören aber zwei unterschiedlichen Ebenen an: die eine Schicht verkörpern die vom Autor als Versuch über die Kenntniß des Menschen schriftlich niedergelegten experimentell erworbenen und erfahrenen Einsichten, die selbst in sich strukturiert am Schluß der Abhandlung den Wezelschen Menschen in seiner funktionalen Ganzheit als schriftlich fixiertes Gedankenkonstrukt ergeben sollen. Davon unterschieden ist eine zweite experimentelle Ebene, nämlich diejenige, die an den Leser die Reproduktion des Wezelschen Versuchs im mentalen Nachvollzug desselben heranträgt. Erst mit der zweiten Stufe erfüllt sich das Wezelsche Anliegen vollkommen: die Aufklärung durch einen anderen wird durch die tätige Selbstaufklärung über das eigene Selbst zur praktizierten riickhaldosen Aufklärung im Sinne einer Selbstschöpfung auf Grundlage selbstaufklärender Interpretation. Wezel strukturiert den Erfahrungsbereich auf diese Art also zielgerichtet vor und führt den Leser dann gewissermaßen durch die Versuchsanordnung, den Versuch selbst. D. h. er verknüpft Forschungs- und Demonstrationsexperiment. Dieser Synthese gilt es jetzt nachzugehen, denn diese ist es, die den Versuch zu einer experimentell-introspektiven Anthropologie werden läßt. Der Autor als Leiter des Experiments beginnt seinen, die »Einleitung« beschließenden Methodik-Passus mit dem Autoren-Plural {pluralis auctoritatis), dem ein stark kohortatives Moment eignet und der mit dem subjektbezogenen Modaladverb >wollen< zur fast zwingenden Aufforderung wird: »Wir wollen uns also ganz in unsere Vorstellung zurückziehn, selbst den Körper als eine Sache außer uns betrachten, alle mechanische und thierische Veränderungen in ihm, alle Gedanken, Empfindungen, Entschlüsse, Handlungen als vorübergehende Wirkungen ansehn [...] und uns nichts in uns als Dinge neben, über, unter, bey einander vorstellen: von der äußersten Zehe [...] bis zu dem Punkte, wo Gedanken und
Die »erhöhten Empfindungen« Werthers beispielsweise sind solche, die stärker als ihre Ursachen sind und insofern dem Kausalgesetz und damit der Natürlichkeit widersprechen, i « Ebd., S. 68. 162
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Empfindungen zu Entschlüssen und Handlungen werden, wollen wir eine Maschine seyn«164. Eine Grundvoraussetzung für das Gelingen des philosophischen Experiments ist zweifellos die Suggestibilität des Lesers im Sinne seiner Beeinflußbarkeit durch den Autor als Leiter des Experiments. Dabei handelt es sich gleichsam um ein Experiment des Menschen mit sich selbst. Der Versuch fordert vom Leser-Probanden, sich rein kontemplativ als vollkommenen Automaten zu betrachten. »Je mehr es dem Leser gelingt«, so Wezeis Lektüre- resp. Experimentieranweisung, denn der Versuch über die Kenntniß des Menschen ist eben keine bloß naive Verdeutschung von Essay, zumindest der erste Teil nicht, sondern in der Tat ein Experiment, ein Versuch, also: »Je mehr es dem Leser gelingt, sie [die Wirkungen] in sich selbst so zu betrachten, wie die Phänomene bey einem physikalischen Versuche, oder die Bewegungen in einem Uhrwerke; je mehr er sich einbilden kann, als wenn er bey Sehen, Hören, Fühlen, Denken, Empfinden und selbst bey Wollen und Thun nichts thäte, sondern von allen diesen blos die Vorstellung empfinge, indem sie geschehn, desto leichter werden wir uns auf Einem Wege beysammen erhalten.«165 Allerdings werde der in sich zurückgezogene und zur Passivität verurteilte Leser zur gegebenen Zeit wieder von diesem bloß leidenden Zustand erlöst: »er soll darum nicht willenlose Maschine bleiben, sondern zu seiner Zeit wieder ein thätiges Wesen werden, so sehr er es nach der Erfahrung ist«166. Der Mensch ist in diesem Versuchsstadium also in Gänze ein Automat, der aus Teilen besteht, die aufgrund ihrer Stellung zueinander (Struktur) und in ihnen wirkenden Kräften zu Bewegungen fähig ist. Die in dieser Handlungsanweisung zum Ausdruck kommende Experimentalstrategie wird dann aber nur halbherzig verfolgt; das auf Offenlegung von Denk- und Handlungsstrukturen ausgerichtete operationale Tun weicht schließlich doch wieder einer konventionellen argumentativ-kommunikativen Strategie, ganz so, wie sie zu dieser Zeit in den traditionellen popularphilosophischen Essays üblich ist. Vom Experiment ist im zweiten Teil überhaupt keine Rede mehr. Es hat ganz den Anschein, daß Wezel bei der Behandlung der den Sensationen möglichen Vollkommenheitsgrade im zweiten Band seines Versuchs167 die Balance von Faktenerzählung und deren Einordnung in den systematischen Aufriß zunehmend mehr aus den Augen verloren hat. Das empirische Material wird dem Leser in einer solch verwirrenden Vielfalt vorgelegt, daß dieser mit dem systematischen Gehalt des Versuchs kaum noch Tuchfühlung halten kann. Die die einzelnen inneren Empfindungen behandelnden Kapitel verlieren sich dann über weite Strecken in eine nur noch deskriptive Psychologie.168
164 165 166
167 168
Ebd, S. 67f. Ebd., S. 68; vgl. auch S. 84f. Ebd, S. 68. Denn zum »ganzen Triebwerk des Menschen« gehören neben dem Mechanismus und den Empfindungen auch die Ideen und das Wollen und Tun (Wezel, Versuch 2 (1785), S. 88). Ebd, S. 62ff. Adel zeiht Wezel darum im zweiten Teil einer »gewissen Geschwätzigkeit«, was dem Autor und der Sache nicht gerecht wird (Adel (1968), S. 163). Denn es ist nichts weniger als die Folge konse-
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Wezeis philosophisches, auf Introspektion abgestelltes Experiment zielt unter Zuhilfenahme des Analogiemodells auf eine vor allem die Kausalität betonende Mensch-Maschinen-Isomorphie, oder besser: Mensch-Maschinen-Isofunktionalität. Das gewährleistet, so Wezeis Ansinnen, die Extrapolation von psychophysischen Funktionsverläufen. Es handelt sich demzufolge um eine heuristische und nicht um eine ontologische Fiktion. Will man diese Art methodischen Sprechens in die großen wissenschaftlichen Traditionslinien einordnen, so kann man zunächst soviel ausmachen, daß er sich mit seinem Modell dem aristotelischtheoretischen und nicht dem platonisch-ontologischen Analogiebegriff verbunden fühlt. Nur hat, und das muß einschränkend hinzugefugt werden, Wezel seinen operativen Ansatz nicht konsequent verfolgt und umgesetzt. Gegenüber Etienne Bonnot de Condillacs (1714-1780), Charles Bonnets (1720-1793) und Denis Diderots (1713-1784) Gedankenexperiment, der anatomie métaphysique als einer Fortsetzving des Lockeschen »Modells der sukzessiven sinnlichen Aneignung der Welt eines zunächst aller Sinne entkleideten Körpers«169, fällt er mit seinem Versuch deutlich ab. Wezel verlangt vom Leser seines Versuchs eine aufs höchste gesteigerte introvertierte Aufmerksamkeit, eine virtuose Selbstbeschauung und —belauschung. Der Leser ist Prüfender und Versuchsperson in einem. Ja manchmal glaubt man fast, der Verfasser des Versuchs sei neurasthenisch veranlagt, so genau weiß er von seinen Blutumläufen, Hirnbewegungen und seinen ganze dramatische Szenen formierenden inneren Stimmen Rechenschaft zu geben. Die dem Leser zur Überprüfung der Wezelschen Selbstwahrnehmungen abverlangten attentionalen Kräfte überschreiten mitunter den Rahmen des Möglichen bei weitem.170 Der an der Naturwissenschaft orientierte philosophische Versuch kann deshalb aber nicht als Ausweis eines irgendwie gearteten Materialismus Wezeis gewertet werden. Es handelt sich bei dem hier geforderten >mechanistischen Blick< lediglich um einen methodischen Mechanismus. Der Mensch soll in seinem Sein nicht mechanisch simuliert, sondern sub specie machinae erfaßt werden. Allenfalls könnte
169 170
quenter Umsetzung empirischer Methoden. Man schaue sich nur einmal das Verhältnis der im zweiten Band enthaltenen Beobachtungen im Vergleich zu denen im ersten Band an. Selbstbeobachtungen kann man im ersten Band auf den Seiten 145f., 150-154, 169f., 107-118, 119f. finden; dieser Anzahl steht im zweiten Band eine ungleich größere gegenüber S. 16f., 20f., 47-50, 52ff., 67, 70, %f., 109,200f., 202, 206, 255, 291, 310, 318f., 319f., 320. Auch enthält der zweite Band die einzigen Fremdbeobachtungen des Versuchs (S. 45f., 104). Vgl. Gessinger (1989), S. 361f., 384. Er steht damit allerdings in seiner Zeit nicht allein, wie beispielsweise ein Brief Gottfried August Bürgers (1747-1794) an Heinrich Christian Boie (1744-1806) vom März 1778 zeigt, worin ersterer seinem Freund versichert: »Ich fühle [...], wenn ich im scharfen Denken bin, wie das, was mir vorn in der Stirn sizt [d. s. »alle hohen Kräfte meiner Sele«], sich bestrebt, die Vorderwand aus zu dehnen« (Briefe von und an Gottfried August Bürger! (1874), S. 259). Ähnlichem, wenngleich ins Idealistische gewendet, kann man in Johann Gottlieb Fichtes (1762-1814) Schriften begegnen, so z. B. in den Eingangspassagen zur Ersten und Zweiten Einleitung sowie dem Ersten Kapitel der Wissenschaftslthrt im Rahmen des Fragment gebliebenen Versuchs einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797) und im Enten Vortrag der Wissenschaftslehre (1804).
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Johann Karl Wezeis experimentelle Anthropologiekonzeption
man hier von einer methodischen »Denaturierung« sprechen, wobei nicht außer acht gelassen werden kann, daß das Moment des Maschinellen im Verständnis des 18. Jh. nicht per se etwas Naturfernes oder gar Unnatürliches bezeichnet, was ja auch im Terminus natürliche Maschine< signifikant zum Ausdruck kommt.
8. Literarische Ausdrucks- und Gestaltungsweisen der experimentellen Anthropologie Wezeis Versuch ist dennoch ein in seiner Zeit durchaus einzigartiges originelles anthropologisches Experiment, das so weder Condillac noch Bonnet intendiert noch durchgeführt hatten. Der Grund für seine Einzigartigkeit scheint auf der Hand zu liegen: die schriftliche Fixierung verlangte nach einer bestimmten, so bislang noch nicht erprobten Form. Keiner der traditionellen popularphilosophischen Traktate konnte hier den Weg weisen. Wezel mußte Neuland betreten. In seinen belletristischen Werken handhabt Wezel die unterschiedlichsten Stilmittel meisterhaft: er ironisiert, persifliert, parodiert, karikiert, idealisiert, romantisiert, er schimpft, beherrscht die Rhetorik und Dialektik ebenso, wie er mit Sophismen und pathetischen Formeln umzugehen weiß. Vor allem im Komischen, in der Satire und in der Groteske ist er zu Hause. Seine Dialoge, die im Versuch vor allem dann Eingang finden, wenn es um die Diskussion von problematischen, letztlich unentscheidbaren Fragen geht171, lobten die Zeitgenossen ob ihrer Lebendigkeit und Kurzweiligkeit. Die Prosa kennzeichnen Ausgeglichenheit und Klarheit. Es kann angesichts dessen nicht überraschen, daß sich der der Wezelschen Belletristik eigentümliche Stil mitunter auch im Versuch Bahn bricht, noch dazu, wo er den von ihm als Kompendienstil verfemten zeitgenössischen fachwissenschaftlichen Schreibduktus durch eine der Belletristik abgespiegelten Schreibart zu ersetzen beabsichtigte. Sein auf Gemeinverständlichkeit und Popularität, im ersten Teil vor allen Dingen auch persuativ-manipulatorisch ausgerichteter Duktus widersteht weitestgehend der syntaktischen Verkürzung und Verknappung. Flüssig und dennoch argumentativ ausgewogen reihen sich Erläuterungen, Beispiele, Erfahrungsberichte, Beschreibungen, Beobachtungen und Erklärungen aneinander, stets bestrebt, die Behauptungen empirisch zu stützen, ihren Sinn durch Beispiele zu entfalten. Wezel vermeidet ganz bewußt eine distanzierende, auf Objektivität zielende Ausdrucksweise; er tritt dem Leser von Beginn an als Ich-Erzähler gegenüber, der ihm den Stoff souverän aufbereitet und unterbreitet. Dabei hält er sich weniger mit einzelnen Problemen auf; vielmehr durcheilt er seinen Stoff. Manchmal möchte es scheinen, als sei er darauf bedacht, sich nicht in eine die Oberfläche durchdringende Behandlung einzelner Sujets einzulassen. Das Tempo bremsen die wenigen, nicht wirklich mit wissenschaftlicher Intention der Abhandlung
171
Z. B. Wezel, Versuch 2 (1785), S. 58-61.
Literarische Ausdrucks- und Gestaltungsweisen der experimentellen Anthropologie
301
mitgegebenen Fußnoten kaum. Erst mit dem den inneren Empfindungen gewidmeten Abschnitt des zweiten Bandes wird Wezeis Stil merklich breiter und langsamer, die Beschreibungen psychischer Zustände weidäufiger; das Interesse am Nomologischen tritt merklich in den Hintergrund. Der Versuch hinterläßt so beim Leser zunächst den Eindruck einer, verglichen mit anderen popularphilosophischen Traktaten, recht flüchtig hingeworfenen Arbeit, die der tiefgründig durchdachten Analyse ermangelt. Daneben kennzeichnet den Versuch auch ein überaus selbstsicherer, ja bisweilen überheblich wirkender, den Leser leicht brüskierender Schreibduktus; so begegnen einem solche Auslassungen wie: »Viele Menschen vor mir und meinen Zeitgenossen hatten schon Erfahrungen, machten Beobachtungen, mancher vielleicht mehr als ich«172 oder: »Wenn man meinen philosophischen Versuch beurtheilt, so vergesse man bey aller Strenge nicht, daß ich, so viel mir bekannt ist, der erste bin, der ihn wagt«.173 Gewiß, diesen etwas hybrid anmutenden Passagen stehen auch solche gegenüber, die die eigene Begrenztheit und Fehlbarkeit gleichermaßen im Bewußtsein des Lesers wachzuhalten geeignet sind. Allein, sie sind wohl eher rhetorischen Charakters, indem sie auf das Schwierige des so überhaupt noch nicht Unternommenen und zugleich auf das Ungenügende der Vorarbeiten verweisen.174 Nur einmal findet sich das Eingeständnis einer minder großen Belesenheit, und zwar auf dem Gebiete der Krankheitslehre und der vergleichenden Anatomie.175 Bereits äußerlich ist der Unterschied des popularphilosophischen Versuchs gegenüber der zeitgenössischen schulphilosophischen Kompendienliteratur augenfällig. Während Plainer seinen beiden Anthropologieentwürfen ein Paragraphenraster unterlegt, verzichtet Wezel auf ein solches schulphilosophisches Arrangement. Jenem scheint die rationalistische Paragraphenstruktur allein geeignet, seinen Aphorismen eine geschlossene architektonische Form und dem damit unter ihnen gestifteten Zusammenhang einen stringenten, kohärenten und Konsistenz verbürgenden Charakter zu verleihen.176 Wezeis Verzicht auf dieses jahrhundertelang die Fachprosa kennzeichnende Mittel verlangt selbstredend nach Kompensation. Er setzt dem Paragraphenstil mit seinem viel aufgelockerteren, prinzipiell offenen und an die Essayistik erinnernden Aufbau eine genuin popularphilosophische Struktur und Schreibart entgegen, in deren Zentrum die Umsetzung sensualistischer Psychologeme in ein erzählerisches Medium steht. Die scheinbar Objektivität verbürgende Paragraphistik ersetzt nunmehr ein subjektiven Weltzugriff, Relativität, Skeptizismus und Toleranz sichernder, konsequenter psychologischer Perspektivismus als fundamentales Gestaltungsprinzip. Es kann ange-
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Wezel, Versuch 1 (1784), S. 60. Ebd., S. 18. Ebd., S. 13ff. Ebd., S. 17f. Bereits 1780 hatte sich Wezel in einer Rezension ganz dezidiert gegen »die aphoristische Manier« ausgesprochen, die er für »die unbequemste und nachtheiligste unter allen« hielt (Wezel, Refusion: Deutsches Museum, 1777. Erster Band Fortsetzung (1780), S. 30).
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sichts dessen kaum überraschen, auch im Versuch der schon im belletristischen Werk häufig anzutreffenden Mikro- und Makroskopie zu begegnen. Daß im Rahmen eines sensualistisch ausgerichteten popularphilosophischen Traktats das Anekdotische einen ganz anderen Stellenwert als in vergleichbaren rationalistischen Arbeiten erhalten wird, leuchtet sofort ein, wenn man sich vor Augen fuhrt, daß die Anekdote gewissermaßen diejenige sensualistische Diskursform ist, die als einzige auf ganz konsequente Weise Induktivität und folglich Wahrheit zu verbürgen in der Lage ist. Die dem Versuch stark subjektive Züge verleihende Ich-Form signalisiert dem Leser einen Verzicht auf Allwissenheit. Damit ist allerdings der Wert des Versuchs als eines mit wissenschaftlichem Anspruch auftretenden Werkes generell gefährdet. Statt zu gesichertem Wissen zu fuhren, scheint sich alles zur bloßen Meinung zu verflüchtigen und in relevanzlose Beliebigkeit zu verlieren. Wezel steuert dieser, seiner skeptischen Grundhaltung entspringenden Gefahrdung mit ganz bestimmten literarischen Strategien gegen: die die subjektive Welt- und Menschensicht betonende und der induktiv-empirischen Methodik korrelierende Schreibweise des >IchWirWir< zurückstrebt, sich hinter einer fiktiven Menge »verbirgt« und sich auf seinen als gewiß verbürgten Wissensbestand zurückzieht, oder um den diplomatisch vermittelnden Bescheidenheitsplural (pluralis modestiaè). Daneben nutzt Wezel die >WirIch< sublimiert und anschließend in der Autoreninterpretation ans >Wir< zurückgebunden: »Aus den Erfahrungen, oder wie ich es gewöhnlich nenne, aus den Phänomenen und allgemeinen Sätzen werden Schlüsse gezogen: wir muthmaßen daher bey gleichen oder ähnlichen Wirkungen gleiche oder ähnliche Ursachen.«179 - Kommt Wezel auf einen
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Wezel, Versuch 1 (1784), S. 62f. Ebd., S. 63. Ebd., S. 61.
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Umstand zu sprechen, von dem er überzeugt ist, daß er seine Argumentation unberührt läßt, so daß er die Distanz zwischen ihm und dem Leser, der möglicherweise anderer Meinung ist, gleichmütig hinnehmen kann, bedient er sich gern des Indefinitpronomens >manGenerationswechsel< innerhalb der Physiologiekompendien gegeben hat. Anfang der achtziger Jahre war Johann Gottlob Krüger beispielsweise so gut wie vergessen. Johann Daniel Metzger (1739-1805) betont in einem seinem Grundriß der Physio/ogie i 2 ! 783) vorangestellten
187
Ebd., S. 66f.
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Sendschreiben die Dynamik der modernen physiologischen Forschungen, die kein Lehrbuch länger als fünf oder sechs Jahre in ihrem ursprünglichen Wert erhalte188, was sich auch an der Viehahl von Neuausgaben und Bearbeitungen beispielsweise der Hallerschen PRIMAE LINEAE PHYSIOLOGL4E ablesen läßt. Wrisbergs189, Udens190, Ploucquets191, Eberhards'92, Herz'193 und Jadelots Werke194 versuchten, die neuen Erkenntnisse ihren Werken systematisch einzuverleiben, um mit der Entwicklung Schritt zu halten und den Bedürfnissen der Zeit gerecht zu werden. Sie waren es schließlich, die »Krügers, Lösekens195 u. d. gl. Physiologien [verdrängten], über welche meines Wissens kein aufgeklärter Lehrer mehr liest«196. Von den hier genannten, die physiologische Diskussion in den siebziger Jahren bestimmenden Schriften findet man in Wezeis Versuch gerade einmal die Wrisbergsche lateinische Ausgabe der Hallerschen Primae Ldneae197 und die hier nicht genannten Unzerschen Ersten Gründe einer Physiologie (1771). Das entscheidet nun nicht gleich über die Qualität des Wezelschen Versuchs, zumal die physiologischen Schriften Hallers bis zu Johannes Müllers Handbuch der Physiologie des Menschen (1833-1840) einzigartig in ihrer, eine Gesamtschau ermöglichenden Umfanglichkeit waren. Aber es zeigt zumindest an, daß er nur einen ausgesucht kleinen Teil der gängigen physiologischen Kompendien zur Kenntnis genommen hat. Einen fast spiegelbildlichen Befund erhält man, wenn man das von Wezel für seinen Versuch konsultierte psychologische Schrifttum durchsieht. Zeitgenössi-
Metzger, Grundriß der Physiologie (1783), S. 6. ALBERTI ν. HALLER PRIMAE LINEAE PHYSIOLOGIAE IN USUM PRAELECTIONUM ACADEMICARUM NUNC QUARTO CONSCRIPTAE EMENDATAE ET PLURIBUS ANIMADVERSIONIBUS AUCTAE AB HENRICO AUGUSTO WRISBERG, GOETTINGAE, APUD VIDUAM ABR. VANDENHOECK. MDCCLXXX. 190 Albrecbts von Hatttr Grundriß der Physiologie ßr Vorlesungen. Nach der vierten lateinischen mit den Verbesserungen und Zusätzen des Htrm Prof. Wrisberg in Göttingen, vermehrten Ausgabe aufs neue übersetzt, und mit Anmerkungen und dreifachem Verzgichniß versehen von Konrad Friederich Uden. Zween Theile, Berlin: Haude und Spener 1781. 191 Wilhelm Gottfried Ploucquet, Ski^e der Lehre von der menschlichen Natur. Zum Gebrauch akademischer Vorlesungen, Tübingen: Heerbrand 1782. 192 Herman Boerhaave, Phisiologie. Überseht und mit Zusätzen vermehrt Von Johann Peter Eberhard, Halle im Magdeburgischen: Renger 1754,21780. 193 Marcus Herz, Grundriss aller medicinischen Wissenschaften, Berlin: Voß 1782. 194 Jean-Nicolas Jadelot, Physica hominis sani sine expkmatio functionum corporis humant, Straßburg 177S (dt.: Lehre von der Natur des gesunden menschlichen Körpers mit Anmerkungen und Vorrede von Johann Christian Starke. Aus den Lateinischen übersetzt von Johann Friedrich Christian Pan^erbieter, Jena: C. H. Cuno's Erben 1783). — Dieses Werk legte Platner seinen Vorlesungen in den siebziger Jahren zugrunde. 195 Johann Ludwig Leberecht Loeseke, Physiologie oder Lehre vom gesunden Zustande des menschlichen Körpers (2 Bde.), Dresden und Warschau 1762,1767,21782. 196 Metzger, Grundriß der Physiologie (1783), S. 7. 197 Heinrich August Wrisberg (1739-1808), mittelbarer Nachfolger Hallers als Anatom in Göttingen, besorgte die vierte und letzte lateinische Ausgabe von Hallers sog. Kleiner Physiologie. - Die Behauptung Bextes, Wezel habe sich durch Hallers achtbändige lateinische Elementa physiotogiae corporis humani (1757-1766) hindurchgearbeitet, kann sich auf nur einen Verweis im Versuch stützen und muß wohl ebenso dem Bereich der Legendenbildung zugeschlagen werden wie dessen Behauptung, neben Haller wäre La Mettrie fur den Versuch wichtig gewesen (Bexte (1997), S. 99). 188 189
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sehe, dem empirischen Sensualismus zuzurechnende Psychologien wie Tetens' Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung (Leipzig 1777), Tiedemanns Untersuchungen über den Menschen (Leipzig 1777/78), Meiners Revision der Philosophie (1772), dessen Abriß der Psychologie (1773), Hißmanns Psychologische Versuche (Frankfurt und Leipzig 1777), dessen Geschichte der Lehre von der Association der Ideen (Göttingen 1777) und Briefe über Gegenstände der Philosophie (Gotha 1778) sowie das Magazin fir die Philosophie und ihre Geschichte (Göttingen und Lemgo 17781783), Irwings Erfahrungen und Untersuchungen über den Menschen (Berlin 1772, 2 1777), Lossius' Unterricht der gesunden Vernunft (Gotha 1776/77), Lamberts Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrtum und Scheine (Leipzig 1764) und Sulzers Abhandlung Über die Unsterblichkeit der Seele (1781) bleiben im Wezelschen Versuch gänzlich unberücksichtigt. Allein Feders Untersuchungen über den menschlichen Willen (1779-86) kann man darin finden, aber auch die nur an untergeordneter Stelle. Man sollte diesen Aspekt vielleicht nicht überbewerten, denn Wezel hat ja mit dem zweiten, den Empfindungen gewidmeten Teil des Versuches lediglich einen ersten Schritt ins Psychologische getan; das Gros stand ja noch aus. Dennoch wirft es ein Licht auf Wezeis Kenntnis der zeitgenössischen physiologischen und psychologischen Literatur. Er war keinesfalls auch nur durchschnittlich in diesen Disziplinen belesen.198 Ein ähnliches, dem Versuch abträgliches Bild bietet sich dem Betrachter von Wezeis Quellenkritik. (2) Was auf den ersten Blick vielleicht wie eine Quisquilienjagd anmuten mag, dient einzig und allein dem Zwecke herauszufinden, ob Wezel seine Beispiele wahllos gesammelt hat, die Zitate bloße Lesefrüchte sind, und ob er sich ihnen als Philologe und Wissenschafder genähert hat und welchen Beitrag sie für den systematischen Gehalt seines Versuchs geleistet haben. Es ist bereits betont worden, welch starkes Gewicht Wezel einem subjektivempirischen und antitraditionellen Wissenschaftsverständnis beimaß, wie alles und jedes sich seinem subjektiven Plausibilitätskriterium zu unterwerfen hatte. Diesen Befund bestätigt auch sein Umgang mit den Quellen. Weit entfernt, sich ihnen wissenschaftlich zu nähern, sind sie bei ihm zumeist illustrierenden und explikativen Charakters. Keine einzige Bezugnahme allerdings verfolgt den Zweck, Systembausteine anderer Theoriengebäude für die eigene Systematik heranzuziehen, selbst im Falle der Unzerschen Ersten Gründe einer Physiologie (1771)
198
Man vergleiche im Gegensatz dazu die von Platner in der Anthropologie von 1772 angeführte Phalanx von Philosophen, Physiologen und Naturwissenschaftlern: Aristoteles, Alexander Gottlieb Baumgarten (1714-1762), Hermann Boerhaave (1668-1738), George Louis Leclerc de Buffon (1707-1788), Etienne Bonnet de Condillac (1715-1780), René Descartes (1596-1650), Hieronymus David Gaub (1704-1780), Albrecht von Haller (1708-1777), Hippokrates, Henry Home (16961782), Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), John Locke (1632-1704), Antony van Leeuwenhoek (1632-1723), Pierre Lyonnet (1707-1789), Christoph Meiners (1747-1810), Piaton, Edward Search alias Abraham Tucker (1705-1774), Gerard van Swieten (1700-1772), Simon-AugusteAndré-David Tissot (1728-1797), Christian Wolff (1679-1754) und Johann Georg Zimmermann (1728-1795).
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spielt das eine weit nachgeordnetere Rolle, als man hätte vielleicht vermuten können. In der überwiegenden Mehrzahl handelt es sich bei den Exempelzitationen, sie mögen nun als solche ausgewiesen sein oder nicht, um Kollektaneen aus Eberhard August Wilhelm von Zimmermanns (1743-1815) Geographischer Geschichte des Menschen und der allgemein verbreiteten vierftißigen Thiert199, Johann Georg Zimmermanns (1728-1795) Von der Erfahrung (1762/63)200, Samuel-Auguste-AndréDavid Tissots Traité des nerfs et de leurs maladies (1778-80)201, Charles Bonnets Considérations sur les corps organisés (1762) und der Contemplation de la nature (1764), Johann Georg Heinrich Feders (1740-1821) Untersuchungen über den menschlichen Willen (1779-86), William Falconers (1744-1824) Bemerkungen über den Einfluß des Himmelsstrichs etc. (1782) und Johann Friedrich Blumenbachs (1752-1840) de generis humani varietate (1776). Dabei ist er häufig sehr ungenau verfahren. Einige Beispiele mögen das illustrieren. Im zweiten Band des Versuchs kann man folgendes lesen: »Karneades, der Stoiker, versprach sich so viel davon [von der Mäßigung als ein Mittel, ein denkender Kopf zu werden], daß er sich Leib und Seele mit Nießwurz recht rein purgirte, als er einen philosophischen Wettstreit mit dem Chrysippus antreten wollte«202. Diese Anekdote, bezeugt von Diogenes Laertios (Diog. Laert. 4,62), von Wezel aber aus Johann Georg Zimmermanns zweitem Bande Von der Erfahrung03 geschöpft, ist hier mit einigen Mängeln behaftet wiedergegeben worden. Denn der Peripatetiker Karneades von Kyrene (214/213-129/128 v. Chr.), Begründer der neuen bzw. dritten Akademie, ist Skeptiker und nicht Stoiker, was auch die Vorlage Wezeis korrekt wiedergibt: »Carneades wünschte so sehr den Stoiker Chrysippus in einem gelehrten Wettstreit zu überwinden, daß er mit Nießwurz sich purgirte, damit sein Geist freyer sey und das Feuer seiner Einbildungskraft mit mehrerm Nachdruck wider diesen Stoiker wirke.« Derlei Fehler sind beileibe kein Einzelfall. Sehr viele Zitationen sind mit Mängeln sachlicher oder formaler Art behaftet. Ein anderes Beispiel mag das unterstreichen. Im ersten Band des Versuches wird von einem »Befehlshaber Hastings bei den Bengalen« berichtet, der von diesen mit vielen seiner Getreuen in ein Gefängnis, die sog. »schwarze Hole«, eingesperrt worden sei. Eine weitläufige Erzählung der
In E. A. W. Zimmermanns Geographischer Geschichte etc. bilden die Seiten 3 bis 30 die Einleitung und die Seiten 31 bis 255 den ersten Teil, Überall verbreitete Thiere nebst ihren Ausartungen überschrieben. Der erste Abschnitt (S. 31-129) ist Der Mensch betitelt und handelt hauptsächlich vom Einfluß des Klimas auf die Hautfarbe und die Größe der Menschen, an denen sich insbesondere deren Ausartung festmachen läßt 200 Auffallig ist, daß Wezel nur aus dem zweiten Teil zitiert; die methodischen Überlegungen des ersten Teils scheinen für ihn weniger bedeutsam gewesen zu sein. 201 Wezel hat wohl nur die ersten beiden Bände gelesen. Der dritte scheint für ihn nicht von sonderlichem Interesse gewesen zu sein. Diese Vermutung stützt sich auf seine Zitationen und auf inhaltliche Entsprechungen. Auffallend an Wezeis von Tissot entlehnten Beispielen ist, daß sie ganz deutlich zeigen, daß ihn keine bloß physiologischen und keine bloß psychologischen Vorgänge interessierten; immer wurden solche ausgewählt, die eine Wechselwirkung von Physischem und Psychischem betreffen. 202 Wezel, Versuch 2 (1785), S. 95. 203 Zimmermann, Von der Erfahrung 2 (21786), S. 538. 199
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Umstände, die dazu geführt haben, könne man Zimmermanns Von der Erfahrung entnehmen, so Wezel. Dort wird man aber finden, daß der Mann Hollwell bzw. Holwell204 heißt, und nicht Hastings205, und der Bericht dem Annual Register for the Year 1758. pag. 27S entnommen ist.206 Beide Male waren die Angaben in der Primärquelle korrekt und sind von Wezel fehlerhaft verbucht worden. So scheint es fast schon müßig zu fragen, ob er denn überlieferte Erfahrungsberichte selbst verifiziert hat. Dennoch soll auch jener, wenngleich negative Befund hier verzeichnet werden, um deutlich zu machen, daß Wezel die Möglichkeiten gehabt hätte, manche seiner Quellen kritischer zu sichten. An einer Stelle im zweiten Band des Versuchs wird von der »Nichte des Herrn von Leibniz [berichtet], die vor Freude starb, als sie unter dem Bette ihres verstorbenen Onkels 6000 Dukaten fand«207. Wezel hat diese Anekdote, gleich den anderen auf dieser Seite, ebenfalls aus Johann Georg Zimmermanns zweitem Teil Von der Erfahrung entnommen, nur daß dort von »sechzig tausend Dukaten« die Rede ist208. Sie entstammt
John Zephaniah Holwell (1711-1798) war 1759/60 Gouverneur von Indien. Seiner Feder entstammt die Abhandlung Interessting historical events relative to the Provinces of Bengal and the Empire oflndoStan (2 Bde., London 1765) - dt: Holwells merkwürdige historische Nachrichten von Hindostán und Bengalen nebst einer Beschreibung der Religionslehrm, der Mythologie, ¡Cosmogonie, Fasten und Festtag der Gentoos und einer Abhandlung über die Metempsychose. Aus dem Englischen. Mit Anmerkungfn, und einer Abhandlung über die Religion und Philosophie der Indier begleitet von J. F. KJtucker, Leipzig: Weygandsche Buchhandlung 1778. 205 Warren Hastings (1732-1818) war britischer Kolonialpolitiker, 1756 wurde er bei den Kriegshandlungen zwischen Bengalen und den Engländern zeitweise inhaftiert; eroberte zusammen mit Lord Clive für England Ostindien und vertrat dort von 1772 bis 1785 (seit 1774 als Generalgouverneur) die Angelegenheiten der East India Company. 206 Unter der Rubrik Extraordinary Adventures in The Annua! Register, or a view of the History, Politicks, and Literature, Of the Year 1758 (London: R. und J. Dodsley 31762, »1791) ist ein Brief von J. Ζ. Holwell an William Davis abgedruckt: A gnuine narrative of the sufferings of the persons who were confined in the prison called the Black Hole, in Fort William at Calcutta, in the kingdom of Bengal, after the surrender of that place to the Indians in June 1756, from a letter of /.[ohn] Z.[ephaniah] Holwell, Esq.[ue] to William Davis, Esq. [ire] φ ρ . 278-287). - Am 18. Juni 1756 wurde Calcutta mit dem Hauptstützpunkt der East India Company von den Bengalen unter Führung ihres Nabob (Nawäb, Statthalter von Bengalen) Serajah Dowla (Siräj-ud-daulah) angegriffen und besetzt und erst Anfang 1757 wieder von den Engländern zurückerobert Die 156 Überlebenden wurden dabei eine Nacht in einer kleinen Kammer, der sog. >Black Holeich denke, also bin ich' (lat. cogito ergo sunr, frz. je pense, doncje suis), bei dem die logische Gewißheit ontische Existenz impliziert, d. h. der Denk- sogleich ein Existenzbeweis ist, so daß gewisses Denken notwendig gewisses Sein einschließt (Selbstdenken), setzt Wezel das Selbstgefühl, bei dem gewisses Fühlen, nämlich Selbstfühlen, den Schluß auf das Selbstsein zuläßt Descartes verstand den Menschen als ein animal rationale, bei dem das Denken nicht bloß akzidentelle Möglichkeit, die seine Wirklichkeit gewissermaßen nur ergänzt, sondern notwendige Wirklichkeit ist. Denken ist dann, vom Wesen des Menschen her gesehen, seinsermöglichend, ja eigentlich exklusiv seinsermöglichend (Baruzzi (1973), S. 24f.). Ins Sensualistische gekehrt und den Menschen als animai sensitiva aufgefaßt, wird statt des Denkens das Gefühl, mithin die Empfindung seinsermöglichend. Damit ergibt sich eine den Verstandeskategorien vorgeschaltete und evidentere Erfahrungsweise. Denn Gefühl als nervöses Geschehen ist die conditio sine qua non des Denkens, führt aber nicht in jedem Falle notwendig dazu. Wezel kommt auf diese Weise der rationalen Inbesitznahme von Welt mit der Empfindung als Selbstgefühl zuvor. Daraus ergeben sich in der Konsequenz andere Evidenzkriterien. Mußte bei Descartes klar und deutlich (clare et distinctement) gedacht werden, so ist jetzt das (dunkle Gefühl· hinreichend. Die reformulierte Version des Cartesischen Grundsatzes: >ich fühle, also bin ich« (frz.je sens; doncj'existe-,je touche, doncje suis·, je sens que je suis, β sens, ainsije suis) stammt ursprünglich von Franz Hemsterhuis (1721-1791) und setzt anstelle der Cartesischen reflexiven Ich-Konstituierung ein präreflexiv vermitteltes empirisches Selbstgefühl. Der Cartesische Akt der Selbstvergewisserung des Denkens als Gewißheit des cogito me cogitare wird zum Akt der Selbstvergewisserung des Fühlens als Gewißheit
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Wezel glaubt etwa, im Denkprozeß genau fühlen zu können, wie die Seele in ihm »Theile innerhalb des Kopfs in Bewegung sezt, sie zusammenzieht und nach dem Wirbel hinaufdrückt [...], die oft einen kleinen schmerzhaften Stich oben auf dem Kopfe verursacht«.304 Sie nimmt von den Organen des Gehirns die Vorstellungen ebenso an wie die von den äußeren Gegenständen. Zuweilen greift sie auch dirigierend in den Lauf der Ideen ein, verändert deren Richtung und Geschwindigkeit, wählt mitunter einige unter ihnen aus und verändert ihre Abfolge, kurz: sie verhält sich »leidend und thuend«305. Sie kann zwar willkürlich den Beginn einer Ideenreihe veranlassen, nicht jedoch die Qualität der Ideenreihe bestimmen, zumindest nur mit äußerster Beschränkung. Die Qualität der Ideen- bzw. Vorstellungsreihe hängt vielmehr erneut vom Mechanismus ab. Wenn ζ. B. im Mechanismus eine »kleine Unordnung herrscht« oder die »Organe stocken«, so entzieht sich die Ideenreihe weitgehend seelischer Einflußnahme. Die mentalen Prozesse werden von Wezel dann auch ganz analog als Ideentheater versinnbildlicht. Das Theaterstück wird im Zustand der Bewußtheit vom Seelen-Regisseur im buchstäblichen Sinne inszeniert. Die Seele »mustert« [mittels ihrer Aufmerksamkeit] die »in der Vertiefung des Theaters in unserm Gehirne306 wiederkommenden Ideen, beurtheilt sie und beschließt, welche in den Plan aufgenommen und welche verworfen werden sollen«.307 Im Schlaf jedoch regiert anstelle der Seele die zerebrale Phantasie und fuhrt mitunter im »Gehirne eine Farce auf, die lustig und possierlich aus den aufgesammelten Bildern des Tags zusammen gesetzt und mit neuen schnurrichten Erfindungen verziert« wird.308 Mit der Bindung mentaler Prozesse an theatralische Strukturen und audio-visuelle Qualitäten, wodurch das Denken und die Phantasie gleichsam zu einer Bühne werden, öffnet sich das Anatomisch-Physiologische dem Psychologischen. Dieser Aspekt wird dann in dem den Empfindungen gewidmeten Abschnitt weiterverfolgt werden. Hier ging es zunächst einmal nur darum zu zeigen, welche anatomisch-physiologischen Annahmen dem Versuch zugrunde liegen, die jetzt an das modelltheoretische Paradigma von der >menschlichen Maschine< zurückgebunden werden müssen.
304 305
des saisie me sentire, zu einer sinnlichen Ich-Konstituierung. Empirische Wißbarkeit beruht demnach auf Fühlbarkeit. Der Grund aller ratio ist nun das Gefühl und insofern das Denken eine nur akzidentielle Eigenschaft. Wesentlich ist der Mensch jetzt ein empfindendes Wesen. Mit dieser Auffassung steht Wezel in der Tradition der Rehabilitierung der Sinnlichkeit, wie sie insbesondere in der Rede vom >Selbstgefühl< zum Ausdruck kommt. Als philosophischer Terminus ist Selbstgefühl· bezeichnenderweise erst in der zweiten Hälfte des 18. Jh. aufgekommen. Wezel, Versuch 1 (1784), S. 117. Ebd., S. 111.
306
Wezel, Tobias Knaui (1990), S. 528.
307
Wezel, Versuch 1 (1784), S. 112. - Ganz Ähnliches konnte man in Albrecht von Hallers (17081777) Freigeisterbritfm (1778) lesen: »Die Seele ist überhaupt ein Zuschauer bei dem Schauspiele der Sinne und des Gedächtnisses: sie sieht den Vorstellungen dieser Kräfte zu, die ihre Bilder vor der Seele auftreten lassen, sie nimmt einen mehreren oder minderen Anteil an dem Schauspiele, sie beurteilt, vergleicht, und bringt die ihr vorgelegten Bilder in Ordnung« (zitiert nach Toellner (1971), S. 92).
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Wezel, Tobias Knaut(m0), S. 552.
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D. h. Wezel geht jetzt daran, nachdem er im »Grundriß der menschlichen Maschine« seine anatomischen und physiologischen Anschauungen niedergelegt hat, diese als das konkrete Substrat in die abstrakte maschinale Struktur einzubetten: »wir wollen uns den Menschen als ein Ganzes, als eine Maschine denken, die aus einer bestimmten Summe von Kräften und Organen besteht, und worin eine Reihe von Wirkungen vorgeht«309. Im Menschen werden demnach, wie in jeder anderen Maschine auch, aufgrund gewisser, durch bestimmte Strukturen modifizierte Kräfte diskrete Wirkungen hervorgebracht. Diese beobachtbaren Wirkungen bzw. Phänomene lassen sich, wie bereits bei der Behandlung der ursprünglich geplanten Anlage des Versuchs angeklungen war, in vier verschiedene Phänomenbereiche bzw. Wirkungsklassen bringen: (1) automatische Wirkungen (, die zuweilen auch >mechanische< genannt werden), (2) sinnliche Wirkungen (Empfindungen), (3) ideelle Wirkungen (, die gelegentlich auch Vorstellungen genannt werden) und (4) seelisches Wollen und Tun. In der Klassifikation der Phänomenbereiche spiegelt sich die Unzersche Unterscheidung, die Wezel ja kennt, wie oben bei der Angabe der Modi gezeigt werden konnte, nicht wider. Das Verhältnis von Willkür und Bewußtheit innerhalb der vier Wirkungsklassen erläutert Wezel folgendermaßen: Automatische bzw. mechanische Wirkungen verlaufen unbewußt und unwillkürlich, ja oft wider Willen; zur Charakterisierung der zweiten Klasse, die sinnlichen Wirkungen bzw. Empfindungen, werden von Wezel die Gegensatzpaare bewußt/unbewußt und willkürlich/unwillkürlich noch nicht explizit herangezogen (das geschieht erst im zweiten Band); die in der dritten Klasse von Wirkungen zusammengefaßten Vorstellungen bzw. Ideen sind bewußt und können willkürlich wie unwillkürlich hervorgerufen werden. Wie die Empfindungen (2) können auch die Vorstellungen bzw. Ideen und Ideale (3) körperliche Wirkungen (1) zeitigen, allerdings unwillkürlich, oftmals noch gegen den Willen.310 Die Wirkungen der vierten Rubrik, das »Wollen und Thun« (4), sind dann nur noch die Wahl zwischen einer von der Empfindung oder vom Denken vorgestellten Möglichkeit und ihre willkürliche und bewußte praktische Umsetzung.311 Sie sind allesamt Wirkungen verschiedener, anatomisch-strukturell modifizierter körpereigener und fremder Kräfte und folgen demnach jeweils andersgearte-
305 310 3,1
Wezel, Vernich 1 (1784), S. 85. Ebd., S. 90. Ebd., S. 91. Obgleich der Rezensent des Wezelschen Versuchs in der Allgmcinen deutschen Bibliothek mit dem Werk prinzipiell zufrieden ist - mit der Klassifizierung ist er es nicht, denn sie sei nicht -wissenschaftlich begründet (Sg. [Antiqua: Hermann Andreas Pistorius], Rezension: Versuch über die Kenntniß des Menseben. Enter Tbeil, Leipzig 1784 (1786), S. 151). Damit trifft die Kritik in der Tat einen neuralgischen Punkt, wie sich noch zeigen wird.
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ten Gesetzmäßigkeiten, die mehr oder weniger willentlicher Beeinflussung zugänglich sind. Auf diesen Aspekt kam Wezel bereits in seinem Kapitel vom »Grundriß der menschlichen Maschine« en passant zu sprechen, hatte ihn dort aber noch nicht systematisch entwickeln können. Dafür bedarf es weiterer Voraussetzungen als der bloßen Annahme bestimmter Strukturen. Da die anatomischen Strukturen letztlich unerkennbar bleiben, muß der systematische Zugriff regressiv-analytisch erfolgen: ausgehend von den Wirkungen sind deren allgemeine und besondere Ursachen (äußerliche Dinge, Spiel des Mechanismus, Seele) festzustellen und die strukturbestimmten allgemeinen und besonderen Gesetzmäßigkeiten des Ursache-Wirkungs-Geflechtes zu bestimmen.312 Allgemeinstes anthropologisches Gesetz, das alle vier Phänomenbereiche des Menschen durchwaltet, sei das üblicherweise unter der Bezeichnung »Gesetz der Erinnerung« bekannte Assoziationsgesetz der Koexistenz313 und Sukzession.314 Dieses selbst ist längst bekannt, wie Wezel betont, und von Bonnet im Essai analytique als liaison des idées eingehend behandelt worden. Es besagt: »die Vorstellungen, die ich oft beysammen und hinter einander dachte, gerathen in eine solche Verbindung, daß die eine allemal wiederkommt, wenn mir die andere mit oder ohne meinen Vorsatz gegenwärtig wird, und daß alle verwandte so lange folgen, bis mein Wille oder eine ganz unähnliche Idee den Lauf unterbricht«315. Es ist im Grunde genommen eine phänomenologische Lesart des Kausalgesetzes; mit der Einschränkung allerdings, daß damit nicht behauptet werden soll, >wie< etwas, sondern nur >daß etwas< geschieht. Denn es wird hier wie andernorts in Wezeis Werk, wenn von Ursachen die Rede ist, ausschließlich von /veranlassenden^ nie aber von >wirkenden< gesprochen316. Die Bonnetsche assoziationspsychologische Interpretation des Kausalgesetzes, wonach die durch Gewohnheit und Zufall bedingte Benachbarung in Raum und Zeit, die eine Stetigkeit des Gedankenverlaufs zur Folge hat, ein allgemeines Prinzip des Denkens sei, wird noch konsequenter als durch Bonnet von Wezel auf das Physiologische ausgedehnt — das ist wiederum etwas Neues, bislang nicht Dagewesenes. Während dieser die Assoziation auf das Zerebrale, die Hirnfasern als Träger von Ideen beschränkte, weitet Wezel den Geltungsbereich des Gesetzes auf alle vier Phänomenklassen aus: »Das nämliche findet sich bey [und zwischen] allen vier Klassen von Wirkungen, die wir im Menschen wahrnehmen.«317 Das bietet die Möglichkeit, die Unzerschen
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»Allgemeine bedeutet, daß es alle Phänomenklassen betrifft; >besonders< ist etwas dann, wenn es nicht allgemein ist, d. h. nur einen oder mehrere Teile betrifft. Wezel, Vernich 1 (1784), S. 124. Ebd., S. 127. Ebd., S. 120. »Eben so wenig wird behauptet, daß eine gewisse Bewegung des Blutes, wenn sie durch starkes Gehen oder andre mechanische Ursachen erregt wird, die damit verknüpften Empfindungen, Ideen und Handlungen btrwriningt, ich habe schon einmal fur allemal gesagt, daß ich blos die veran¡assetukn, aber nicht die mrkenáen Ursachen kenne und niemals weis, wie etwas im Menschen geschieht, sondern nur bemerke und erzähle, vas in ihm geschieht« (ebd., S. 128f.). Ebd., S. 120.
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neurophysiologischen Modi nunmehr mit den psychologischen Assoziationsgesetzen der mechanischen Psychologie zu verknüpfen, womit der Weg frei wird für eine panassoziationistische Auffassung vom Menschen.318 Die Assoziation wird für Wezel die nomologische Grundlage des Versuchs schlechthin. Mit der assoziativen Deutung des ganzen Menschen wird auch der Begriff vom Menschen ein grundlegend anderer. Der durch Moralität und die Vorstellung von seiner Bestimmung (lat. destinatiti) gebundene, ja festgelegte rationalistische und religiöse Mensch wird geradewegs durch den Panassoziationismus auf ganz radikale Weise entgrenzt: er ist nunmehr mit der intellektuellen und moralischen Selbstbestimmung und damit Zurechnungsfähigkeit in vielerlei Hinsicht überhaupt nicht mehr einholbar. Daß sich das mit den traditionellen Vorstellungen von der Soziabilität ganz und gar nicht verträgt, leuchtet ein. - Natürlich koppelt Wezel mit der Hineinverlegung des Gedächtnisses und der Imagination ins Gehirn die damit verbundenen Vorgänge zunächst einmal partiell vom Bewußtsein ab, insofern es nun auch so etwas wie unbewußte Erinnerungen und Imaginationen gibt; ihre Bewußtheit aber bleibt dessen ungeachtet immer ans Seelische gebunden. Es heißt dann, diese »feinen Veränderungen« in den Gehirnorganen seien nur »fühlbar, aber nicht bemerkbar«319. Indem Wezel das Nervöse und Zerebral-Unbewußte und -Unwillkürliche zu den automatischen bzw. mechanischen Wirkungen rechnet320, wird es ihm möglich, ohne auf den strittigen Punkt zwischen Haller und Unzer bezüglich der Priorität von Irritabilität und Sensibilität eingehen und sich positionieren zu müssen, >nichtpsychische< Assoziationsverknüpfungen anzunehmen. Er läßt damit den qualitativen Unterschied zwischen Nerv und Gehirn weitgehend außer acht und ignoriert damit gewissermaßen die zeitgenössische Auseinandersetzung zwischen Mechanismus, Vitalismus und Animismus. Sie fallt gleichsam durch sein begriffliches Raster321, denn, man erinnere sich, Unzer hatte ja die Unterscheidung zwischen mechanischen Wirkungen und Nervenwirkungen eingeführt, um sich des vitalistischen Aspektes überhaupt erst vergewissern zu können. Grundlegend für Wezeis panassoziative Anthropologie ist die Ansicht, wonach alles im Menschen mit allem zusammen hängt. Systemstiftend ist in erster Linie
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Erasmus Darwin (1731-1802) dehnte später in seiner Zoonomie or the Law of organic Life (London 1794/96) in einer Wezel ganz analogen Weise die Assoziation als psychisches Hauptgesetz auf das Physische aus und setzte es mit dem Lebensprinzip in eins, womit auch er die psychologische Gesetzmäßigkeit zu einer zoonomischen machte. Nicht nur Empfindungen, Vorstellungen, Willenshandlungen, Bewegungen, Leidenschaften, Selbstbewußtsein und Ideen fuhrt er darauf zurück, sondern auch die Instinkte. Wezel, Versuch 1 (1784), S. 128. Ebd., S. 86f. In der Fußnote zur Rechtfertigung der gleichbedeutend gebrauchten Termini »mechanisch« und »automatisch«, insbesondere in dem mit der Konzessivkonjunktion »obgleich« eingeleiteten Nachsatz, deutet Wezel an, daß er um die grundsätzliche Bedeutung der Auseinandersetzung zwischen Mechanismus und Vitalismus weiß und läßt erkennen, daß er dem vitalistischen Standpunkt zuneigt (ebd., S. 87).
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der »Zusammenhang der Nerven« im gesamten Körper, und nicht nur der der zerebralen Strukturen wie in der zeitgenössischen mechanischen Psychologie322. Insofern ist es sinnvoll, hier von einer Assoziationsphysopsychologie zu sprechen, die auf der Ähnlichkeit körperlicher und geistiger Reize als kinästhetischer Impulse beruht. Das von Bonnet beliehene, ausschließlich zerebralen Manifestationen vorbehaltene und zum allumfassenden anthropologischen Verknüpfungsgesetz avancierte Erinnerungsgesetz ist zunächst einmal nichts weiter als das von den Assoziationspsychologen der ersten Hälfte des 18. Jh. angenommene Gesetz der simultanen und sukzessiven Kontiguität. Man kann es bei beiden Begründern der Assoziationspsychologie finden, bei David Hume (1711-1776)323 ebenso wie bei David Hardey (1705-1757). Es gibt, so Wezel, den allgemeinen Verknüpfungscharakter des ganzen Menschen, appliziert auf alle vier Phänomenbereiche, adäquat wieder. Ausgehend von den vier grundlegenden Wirkungsarten im Menschen (mechanische, sinnliche, ideelle, seelische) können automatische Wirkungen mit Empfindungen, automatische Wirkungen mit Empfindungen und Ideen und schließlich automatische Wirkungen, Empfindungen, Ideen und Wollen bzw. Tun verknüpft sein. Sie bilden gleichsam eine »Stufenleiter« der Wirkungen324. Auch innerhalb der einzelnen Wirkungsbereiche selbst können sich Wirkungen einer Klasse unmittelbar veranlassen, so in der Sphäre der Ideen und in der der mechanischen Veränderungen. Ausgenommen davon sind lediglich die Empfindungen, was ihren besonderen Stellenwert in der zeitgenössischen Anthropologie aufs neue sinnfällig macht: ihre mit der Mitderfunktion gegebene dichotomische Struktur, ihre Teilhabe am Somatischen und Psychischen, lassen sie stets nur mittelbar mit Wirkungen der eigenen Klasse verknüpft sein: »eine Empfindung kann die andere nur durch die Dazwischenkunft der Ideen [oder »automatischer Veränderungen«] erwecken«325. Da die Empfindung des Zorns beispielsweise eine genaue Folge eines gegenwärtigen, sinnlich bestimmten oder vergangenen oder imaginierten Eindrucks ist (Krügersches Gesetz), so muß erst eine andere Vorstellung hinzugezogen werden, der die Empfindung, die Rache etwa, korreliert326. Gleichgelagert ist der Fall, wenn die Empfindung des Mideids die Empfindung der Liebe veranlassen soll: das Mideid muß dann »entweder venerische Reize [automatische Veränderung] oder die Vorstellung einer Vollkommenheit [Idee] erwecken, wenn wir eine Person lieben sollen, die wir bemideiden«327. Da das Wollen und Tun als vierte Phänomenklasse im Menschen im Gegensatz zu den übrigen permanenten körperlichen Verrichtungen eher punktuell-tem-
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Ebd., S. 121. David Hume, A Treatise of Human Nature (1739/40) - dt.: Ein Traktat über die menschliche Natur. Erster Band Über den Verstand (1989), S. 21. Wezel, Versuch 1 (1784), S. 133. Ebd., S. 135f. Ebd., S. 135. Ebd., S. 136.
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porären Charakters ist und sich zudem unmittelbar Ideen verdankt, fallt deren Stellenwert zu den übrigen drei Phänomenbereichen zunächst etwas ab. Von diesen wiederum sind es die mechanischen Veränderungen und die Ideen, die als energetische Zentren der menschlichen Maschine zu gelten haben: sie »sind gleichsam die beiden Perpendikel, die unsre ganze Maschine in Bewegung erhalten«328. Aber ohne Einschaltung eines Vermittlungsgliedes kommt es zu Verknüpfungen nur innerhalb der beiden Phänomenklassen; sie könnten sich dann nicht gegenseitig beeinflussen, und ein Rückgriff auf Leibniz' prästabilierte Harmonie wäre unumgänglich. Einen Ausweg weisen hier die Empfindungen: »soll in der Reihe unsrer Ideen eine auf die Reihe der mechanischen Wirkungen Einfluß haben, sie unterbrechen und eine veranlassen, die außerdem izt nicht erfolgt wäre, so geschieht es nur durch eine Empfindung, und eben so auch umgekehrt«329. Grundlegend für das menschliche Leben sind folglich die sog. mechanischen Wirkungen und die Ideen. So lange menschliches Leben andauert, vollziehen sich im menschlichen Körper unablässig mechanische Wirkungen und dauern Ideenströme ununterbrochen an. Der Empfindung als Dazwischenliegendem und zwischen beiden Wirkungsklassen Vermittelndem kommt die Funktion zu, die mechanische und ideale Stetigkeit zu unterbrechen. — Diesem Umstand trägt die Unterscheidung der Verknüpfungen in mittelbare und unmittelbare Rechnung: unmittelbar miteinander verknüpft sind demnach die mechanischen mit den Empfindtingen, die Empfindungen mit den Ideen, die Ideen mit dem Wollen und Tun. Alle anderen Verknüpfungen innerhalb der »Stufenleiter«330 der Wirkungen sind mittelbar, z. B. automatische Wirkungen mit den Ideen. Verknüpfungen zwischen den Wirkungen können auch natürlichen oder zufälligen Ursprungs sein. Als natürlich gegründete (angeborene) Verknüpfungen sind alle diejenigen anzusehen, die sich der natürlichen Beschaffenheit der Organe und Kräfte verdanken. Sie sind die sog. Anlagen, »und es ist äußerst schwer, in manchen Fällen ganz unmöglich, sie zu vertilgen«331. Zufallige Verknüpfungen sind das Ergebnis der physischen und moralischen Beeinflussung von Geburt an. Hierzu zählen die Erziehung, der Unterricht und der Umgang, die Nachahmung und Angewöhnung. Auf die natürlichen Verknüpfungen als den allgemeinen konzentriert sich der Philosoph, auf die zufälligen als den besonderen richtet der Dichter sein Augenmerk. Beide Verknüpfungsarten zusammengenommen, die zufalligen wie die natürlichen, begründen erst recht eigentlich die Individualität eines Menschen. »Was ist aber der physische Grund von diesen Verknüpfungen?«332 - vor dieser Frage kapituliert Wezel. Es sei allenfalls möglich, die Bedingungen der Möglichkeit dieser Verknüpfungen anzugeben, also strukturelle und semantische Voraussetzungen zu explizieren. Fünf solcher Bedingungen, Wezel
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nennt sie einmal auch »Hauptquellen«333, die alle Phänomenbereiche gleichermaßen durchwalten, werden im folgenden namhaft gemacht. I. Die erste Bedingung ist »die Sympathie der Nerven und der Organe«334, was heißt (1) Sympathie zwischen den Nerven, (2) Sympathie zwischen den Nerven und den nichtzerebralen Körperorganen, (3) Sympathie zwischen den Nerven, den nichtzerebralen Körperorganen und den Seelenorganen, (4) Sympathie der Seelenorgane untereinander und (5) Sympathie zwischen den Seelenorganen und der Seele335. Die Nervensympathie (1) entsteht aus der unendlichen Vernetzung der achtzig, dem Gehirn und dem Rückgrad entstammenden Nervenstämme. Dadurch kommen ursprünglich getrennte Nervenstämme in ihren Wirkungen zusammen, ja verschmelzen vielerorts sogar miteinander. »So theilt sich der Schmerz des Zahnes dem Backen und dem Auge, einer am Halse den Nerven des Ohrs mit«336, indem die Nervenbewegung aus einem Nerv in einen oder mehrere andere übergeht (2)337. Auf der Sympathie der Nerven beruhen die automatischen Wirkungen und teilweise auch Empfindungen. Mittelpunkt der Sympathie der Nerven und der nichtzerebralen Organe (1+2) untereinander ist der Magen, da sich in ihm besonders viele miteinander vernetzte Nerven konzentrieren. Es gibt neben der Sympathie der Nerven und der nichtzerebralen Körperorgane untereinander auch eine zwischen den Nerven und den »Organen unsrer Ideen«, womit die Seelenorgane wie zum Beispiel die Organe der Imagination und des Gedächtnisses gemeint sind (3)338. Die meiste Sympathie mit den Seelenorganen haben neben dem Gehör- und Gesichtssinn die »Lebenstheile und die Schamglieder«339. Eine vierte Art von Sympathie gibt es zwischen den Seelenorganen (»Organe unsrer Ideen«) selbst (4)340. Bei den Seelenorgansympathien kann ebenfalls, wie schon bei den Nerven- und Körperorgansympathien mit dem Magen als Zentrum, eine Stufung angenommen werden. Im Mittelpunkt steht hier die Imagination; sie durchstrahlt förmlich alle übrigen Seelenorgane. Nächst ihr hat die Empfindung, nach ihr das Gedächtnis, den größten Einfluß auf die übrigen341. So kann Wezel selbst an sich schon »bey dem niedrigsten Grade der Überspannung« feststellen, wie Imagination und Gedächtnis miteinander sympathisieren (»sich so-
Ebd, S. 161. In der Tîssot-Verdeutschung »Mitleidungen«, in Unzers Enten Gründen einer Physiologie »Mitleidenheit« [consensus nervonmή (Wezel, Versuch 1 (1784), S. 138). 335 Ebd., S. 146. 3 * Ebd., S. 139. 337 Sympathie ist »eine große Leichtigkeit, womit zwey oder mehr Nerven und Organe auf einander wirken und sich wechselweise ihre Zustände mittheilen« (ebd., S. 148). 338 Ebd, S. 140. 339 Ebd, S. 142. 340 Ebd, S. 144. Bereits Michael Hißmann (1752-1784) stellte in seiner Geschichte der Lehn der Association der Ideen (1777), S. 86 ein Gesetz der physischen Verbindung der inneren zerebralen Organe auf und benennt mit Nicole Malebranche (1638-1715) einen seiner Vorläufer (vgl. Malebranche, De la recherche dt k viriti (1674/75), 2,1,5). 341 Wezel, Versuch 1 (1784), S. 144. 333
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gleich vermischen« und verwirren342) — ein Grund, weshalb gerade den Dichter mit seiner lebhaften Imagination das Gedächtnis so oft betrügt. Die Imagination bildet das Zentrum, mit dem die übrigen Seelenorgane wie Empfindungsorgane, Gedächtnisorgane und Verstandesorgane in sympathetischen Verhältnissen stehen, wobei die Reihenfolge ihrer Aufzählung zugleich den abnehmenden Grad der Sympathiestärke repräsentiert. Als Sympathiezentrum der Seelenorgane fungiert die Imagination zugleich auch als Verbindungs- und Verstärkungsglied zwischen ihnen: um eine Empfindung bzw. deren Seelenorgane sympathetisch zu erregen, muß der Verstand mit seinen abstrakten Ideen seinen Weg immer über die Imagination mit ihren sinnlichen Ideen nehmen, die seine ansonsten zu schwache sympathetische Energie verstärkt, indem sie Abstraktes versinnlicht. Eine fünfte Art von Sympathien ist die zwischen der Seele und den Seelenorganen (5). Sie ist es in erster Linie, die das Genie konstituiert: »Nur daher läßt es sich begreifen, warum manche Menschen von ihren ersten Jahren an Dichter, Maler, Komponisten sind, und warum sie eben so sehr zu allem andern keine Lust und Fähigkeit haben, als sie zu diesem einzigen Geschicklichkeit besitzen.«343 Zwar seien beim Menschen die unterschiedlichen Sinne genaugenommen mit verschieden guten Nerven ausgestattet, so daß beispielsweise bei einem Musiker das Gehör überaus fein, die übrigen Sinne aber nur durchschnittlich oder gar stumpf sind. Jedoch seien sie im Ganzen betrachtet doch »aus einerley Nerven gewebt, und so wenig ein Mensch zweyerley Blut in seinen Adern hat, eben so wenig kann er zweyerley Lebensgeister in den Nerven haben« — wiederum ein Seitenhieb auf Platners doppelten Lebensgeisterkreislauf344. Mit diesen fünf Sympathieklassen hat Wezel ein konnektives Pendant zu den vier Wirkungsklassen aufgestellt: die Sympathie als eine Assoziationsstruktur, die die »große Leichtigkeit, womit zwey oder mehr Nerven und Organe auf einander wirken und sich wechselweise ihre Zustände mittheilen«345, als funktionale Voraussetzung benennt, verbindet auf neuroanatomischer Grundlage im weitesten Sinne den mechanischen bzw. automatischen, den zerebralen und den seelischen Bereich unter- und miteinander. Die Sympathie bildet sozusagen die dynamische Syntax aller im Menschen ablaufenden Vorgänge ab (im Gegensatz zum Nervensystem als Abbild der starischen Syntax). Π. Dem strukturellen Faktor korrespondiert ein inhaltlicher, der die Semantik körperlicher Vorgänge erklärt, also warum »wir bey traurigen Vorstellungen weinen, bey komischen oder angenehmen lachen, bey fürchterlichen erschrecken, bey der Scham erröthen müssen« und nicht das Umgekehrte tun wie beispielsweise bei traurigen Vorstellungen lachen346. - Diesen Sachverhalt weiß Wezel aber nicht weiter aufzuklären; er postuliert also als zweite Verknüpfungs-Bedingung
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Ebd., S. 145. Ebd., S. 147. Ebd. Ebd., S. 148. Ebd.
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die »natürliche Verwandtschaft« bestimmter Ursachen und Wirkungen: »jede Ursache und ihre Wirkung sind so genau verwandt, daß wir keins ohne das andere denken können«347. III. Die strukturelle und die semantische Verknüpfungsbedingung geben Verhältnisse wieder, die gewissermaßen natürlich-notwendigen Charakters sind und in der ursprünglichen Organisation gründen; daneben gibt es aber auch zufallige Verknüpfungen. Diese werden mit der Kontingenz-Bedingung von Assoziationen erfaßt. Der Zufall fugt es zuweilen, daß »zwey oder mehr Wirkungen [...] einigemal zusammen oder hinter einander geschehn, oft ist es zureichend, daß sie nur ein einzigesmal sich beysammen finden, um in eine lange dauernde Verbindung zu gerathen«348. Solche im Zufall wurzelnden gewohnheitsmäßigen Verknüpfungen konzentrieren sich vor allem auf den Bereich des Zerebral-Seelischen und offenbaren sich dem Anthropologen in mitunter »höchstsonderbaren Verbindungen«349, in dem, was man im 18. Jh. oft auch als >Steckenpferd< bezeichnete. Der Kontingenz-Bedingung räumt Wezel einen großen Stellenwert ein; ja er meint einmal, »der Gang unsrer ganzen Maschine« beruhe darauf350. Die zufalligen Verknüpfungen verdanken sich vor allem momentanen Zuständen des Körpers (Dispositionen), insbesondere der »Reizbarkeit und Beweglichkeit« der Nerven und Organe351. Die psychische Entsprechung eines solch spezifischen Zustandes der Nerven und Seelenorgane ist die »Laune«352. IV. Eine vierte Verknüpfungsbedingung ist mit der Gleichheit und Ähnlichkeit der in den verschiedenen Phänomenbereichen scheinbar parallelen Bewegungsabläufe gegeben.353 Was hier von Wezel als Ahnlichkeitsassoziation aufgefaßt wird, ist im Grunde genommen so etwas wie eine Kausalassoziation, deren instantaner Charakter sie wie eine simultane Ahnlichkeitsassoziation aussehen läßt. Der Begriff der Bewegung schließlich ist es, der die quasi-synchron in unterschiedlichen Phänomenbereichen verlaufenden Bewegungen miteinander verknüpft. Bislang hatte Wezel nur Prozesse bedacht, die strukturell, inhaltlich und durch den Zufall begründet sind. Nun geht es darum, quasi-synchrone kausale Prozesse im Körper zu erklären, die weder rein zufallig noch notwendig, sondern nur in gewissen Grenzen fakultativer Art sind, nämlich formal, nicht aber inhaltlich begründet erscheinen: »welche Ähnlichkeit findet zwischen zwey Dingen ganz verschiedener Art Statt, wie zwischen Tönen und Bewegungen der Füße? Daß Ideen mit Ideen, Empfindungen mit Empfindungen Ähnlichkeit haben, das ist begreiflich; aber wie ist eine zwischen Ideen und Empfindungen, oder zwischen Empfindungen und Bewegungen der Muskeln möglich?« Die Gleichheit zwischen den Phänome-
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Ebd. Ebd., S. 149. Ebd., S. 150. Ebd. Ebd., S. 154. Ebd, S. 152. Ebd., S. 154.
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nen innerhalb ein und desselben Phänomenbereiches ist evident, nicht jedoch die zwischen denen unterschiedlicher Phänomenbereiche. Hier nun rekurriert Wezel auf das allen gemeinsame Moment des Kinästhedschen — ein von ihm eingestandenermaßen metaphysischer Schachzug: alle Phänomene des Körpers gleichen einander darin, daß sie Bewegungen sind, wenn auch unterschiedlicher Art354. Das Ahnliche aber ist von Fall zu Fall unterschieden: im Falle des Tanzens, wo der Musikempfindung eine quasi-synchrone Fußbewegung entspricht, liegt die Ähnlichkeit im Zeitmaß begründet355. In anderen Fällen können andere Ähnlichkeiten vermutet werden, heißt es, den Gedankengang damit abbrechend. V. Als fünfte Verknüpfungsbedingung führt Wezel »Verschiedenheit und Gegensatz« an — eine etwas unglückliche Formulierung. In Anlehnung an die vierte Bedingung sollte sie besser (a) »Verschiedenheit und Gleichheit« (Verschiedenheitsassoziation) und (b) »Gegensatz und Gleichheit« (Kontrastassoziation) heißen. Etwas mißverständlich fallt dann auch das erläuternde Beispiel für den Fall (a) aus: »Empfindungen des Auges und Ohres, oder mit andern Worten, Töne und Bilder gehören unter Eine Klasse: beide sind äußere Empfindungen, beide haben etwas ähnliches [gleiches], in so fem sie von einem Gegenstande außer uns erregt werden; aber sie sind auch sehr von einander unterschieden«356. Im zweiten Falle drückt er sich klarer aus, seine Beispiele für diese Art der Kontrastassoziation sind sprechender. So verweist er (b) auf das Phänomen, das manche, meist Kinder, aber auch Frauen, unversehens vom Weinen ins Lachen geraten. Das Moment des Gleichen dabei sieht er in der Zwerchfellbewegung, so »daß sehr wenig dazu gehört, wenn aus dem einen das andre werden soll, vornehmlich bey einem sehr reizbaren Zustande der Nerven«357. Insbesondere für die Dichtkunst und die schönen Künste, betont Wezel, ist gerade jene Kontrastassoziation überaus hilfreich und den Genies von Natur aus eigen.358 Damit sind die konstitutiven Strukturbausteine, die sie durchwaltenden Kräfte sowie ihre energetischen Zentren, die konnektive Basis der Phänomenbereiche und nicht zuletzt auch die Verknüpfungsbedingungen resp. Assoziationsgesetze im allgemeinen bestimmt, kurz: die »Federn und Räder der menschlichen Maschi-
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Ebd., S. 155f. Ebd., S. 157. Ebd., S. 159. Ebd., S. 160. Ebd., S. 160. Wenn Wezel hier eine Kontrastassoziation seinem Verknüpfungsmodell implantiert, so ist das ein bedeutsamer Schritt, der ihn über die klassische Assoziationspsychologie hinausfuhrt. Denn es war ein neuralgischer Punkt der mechanischen Assoziationspsychologic, daß sie nur Assoziationen der Konsekution, Simultaneität und Ähnlichkeit kannte, die aber ebenfalls vorkommenden Kontrastassoziationen, die schon Aristoteles (384-322 v. Chr.), Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) und James Beattie (1735-1803) beschrieben hatten, ausschlossen (Offner (1893), S. 53). - Platner spricht sich in seinen Philosophischen Aphorismen ebenfalls gegen die Annahme einer Kontrastassoziation aus, leugnet sie aber nicht schlechtweg, sondern sieht sie bereits in den drei klassischen Gesetzen mit ausgedrückt (Platner, Philosophische Aphorismen 1 (1793), S. 142f. § 270).
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ne« im groben identifiziert, kenntlich gemacht und beschrieben.359 Nunmehr legt sich Wezel die Aufgabe vor, in jedem einzelnen der Phänomenbereiche, im Automatischen (1), im Sinnlichen (2), im Ideellen (3) und im Seelischen (4), die ihnen wesenseigenen Wirkungen namhaft zu machen, ihre Ursachen aufzusuchen und die diesen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang adäquat ausdrückenden besonderen Gesetzmäßigkeiten zu fixieren. Man wird im folgenden also immer die bereits herausgearbeitete allgemeine anthropologische Charakteristik wiederfinden, nur eben konkretisiert auf das Besondere des jeweiligen Phänomenbereichs. Begonnen wird mit dem Automatischen. Allerdings sieht sich Wezel der Verpflichtung überhoben, gänzlich alle oder zumindest die meisten der automatischen Wirkungen namhaft zu machen; stattdessen gibt er nur die wichtigsten an, acht an der Zahl: die Absonderungs- und Ausleerungsbewegungen, die Atemund die Herz- resp. Blutbewegungen, die Sezernierungsprozesse der Lebensgeister, die afferenten und efferenten Nervenbewegungen und die Bewegungen der Seelenorgane. Der Nachweis gerade auch der vier letzten Bewegungen bereitet Wezel keine große Schwierigkeit: ihre Annahme rechtfertige unser Selbstgefühl360. So meint er ja, worauf oben schon hingewiesen worden ist, fühlen zu können, wie »bey Arbeiten der Imagination und des Nachdenkens und bey jedem Nachsinnen etwas im Kopfe willkührlich in Bewegung« gesetzt werde361, nämlich das betreffende Seelenorgan. In der Sphäre des Automatischen sind, wie in jeder anderen Sphäre, die automatischen Wirkungen Ergebnis von Modifikationen allgemeiner Ursachen. Als Modifikatoren kommen auch im Automatischen das Temperament (stofflicher Faktor), die Organisation (funktionaler Faktor) und die Disposition (temporalfunktionaler Faktor) in Betracht Und genauso sind auch hier die Ursachen von dreierlei Art: (a) die äußerlichen Dinge, (b) das zufallige Spiel des Mechanismus362 und (c) die Seele. Damit sind Wirkungen, Modifikationsstrukturen und Ursachen benannt. Jetzt gilt es, die diesem Ursache-Wirkungs-Geflecht eigentümlichen Gesetzmäßigkeiten anzugeben. Wezel beabsichtigt wiederum nicht, alle assoziativen Verknüpfungen zwischen den automatischen Wirkungen und ihre besonderen Gesetzmäßigkeiten aufzuzeigen, da diese ihn nur insoweit interessieren, als sie in irgendeinem Zusammenhang mit dem Denken, Empfinden, Wollen und Tun stehen. Das bedeutet aber, daß es in erster Linie auf den Konnex mechanischer Veränderungen mit
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Wezel, Versuch 1 (1784), S. 136. Ebd., S. 168. Ebd., S. 168f. Das »zufallige Spiel des Mechanismus« ist eine uns unerforschliche »innere Wirkung unser festen und flüssigen Theile auf einander« (ebd., S. 233). >Zufällig< werden sie deshalb genannt, weil keine Ursache erkennbar ist, die diese Wirkungen notwendig werden lassen (ebd., S. 233f.). Zu solchen inneren Wirkungen wird eine Anzahl verschiedener körperlicher Revolutionen gerechnet wie Zeugung, Schwangerschaft, Geburt (Übergang vom Pflanzen- zum Tierleben), das Zahnen (auch der Weisheitszähne), die Geschlechts- und die sittliche Reife(, bei der der bislang herrschende Mechanismus, die Sinnlichkeit, die Herrschaft an die Vernunft abgibt).
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den Gehirnorganen ankommt, »worunter die Verbindung der Nerven zwischen einander und mit den Werkzeugen der Vorstellung das wichtigste ist«363. Wezel bewegt sich jetzt ausschließlich auf dem Sektor der Reizkausalität, für die er fünf Gesetze angibt. Das erste dem Automatischen eigentümliche Gesetz stellt die Verallgemeinerung des folgenden Phänomens dar: »Die Vorstellung einer schreckhaften Sache und die damit verbundene Empfindung des Schreckens verursachen eine Erschütterung in den Armen und der Brust; man lasse diese nämliche Erschütterung durch einen äußern Reiz entstehn, z. B. durch die Wirkung scharfer Säfte auf Nerven, die mit den Muskeln der Arme und der Brust zusammenhängen, so erfolgt darauf die Empfindung des Schreckens und schreckhafte Vorstellungen.«364 Die Gesetzesfassung ist kurz und prägnant: »Wird eine gewisse Nervenbewegung durch einen äußern Reiz veranlaßt, so erfolgen darauf die nämlichen Empfindungen und Vorstellungen, die jene Nervenbewegung durch einen innern Reiz verursachen.«365 Man könnte es das Kommutativgesetz nennen. Das zweite besondere Gesetz konstatiert die Äquivalenz von Art und Intensität der Bewegungen in den Seelenorganen auf der einen Seite und ihrer Wirkung in Nerv und Blut auf der anderen. In Wezeis Formulierung liest es sich folgendermaßen: »Wie die Art und der Grad der Bewegung in den Seelenorganen ist, so ist auch die Art und der Grad der daraus entstehenden Veränderung in den Nerven, die an ihren innern Enden dadurch gereizt werden; so ist auch die Art und der Grad der Veränderung in den Blutgefäßen.«366 Eine dritte Gesetzmäßigkeit stellt das Faktum heraus, daß die Verknüpfungen der Seelenorgane mit dem Körpermechanismus stets individueller Natur sind, so daß bei gleichen seelischen und zerebralen Reizungen die efferenten Reizverläufe bei verschiedenen Personen jeweils verschieden sind bzw. sein können. So bewirkt starke Furcht bei dem einen Diarrhö, anderen werden die Knie >weich< und einem dritten >bleibt< die Sprache >wegBewußtsein ohne Gegenstand< zum >Gewahrnehmen des BewußtseinsgegenstandesVorstellungSensationen< (exterorezeptive Empfindungen), die übrigen, durch Organreizungen evozierten äußeren Empfindungen aber >Gefühle< (interorezeptive Empfindungen) zu nennen387. Die mit >Gefuhl< (frz. sentimen [sie!]) Benannten sind aber deswegen nicht weniger reale äußere Empfindungen als es die fünf traditionellen äußeren Sinne sind. Im Gegenteil, sie »sind wirkliche Empfindungen, die aus mechanischen Veränderungen im Körper ohne sichtbare Mitwirkung einer äußerlichen Ursache entstehen«388. Will man dem umgangssprachlich üblichen, hier jedoch mißverständlichen Terminus »Gefühle des Herzens«, der auf die »inneren Empfindungen« abzielt, ein den äußeren gemäßes Äquivalent an die
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Unzer, Physiologie (1771), S. 53 § 34 Anm. Wezel, Venucb 2 (1785), S. 12. Ebd., S. 13f. Ebd., S. 14.
Der Empfindungsbegriff und der binäre Empfindungs-Vorstellungs-Komplex
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Seite stellen, so Wezel, könne man diese ja »körperliche« oder »mechanische Gefühle« nennen.389 Äußere und innere Empfindungen sind sich zuweilen zum Verwechseln ähnlich. In solch einem Fall wird durch eine Vorstellung eine innere Empfindung quasi-äußeren Charakters erzeugt, beispielsweise, »wenn auf starkes Nachdenken die Sensation eines Blitzes im Auge entsteht«.390 Andererseits können auch äußere Empfindungen wie Krämpfe und Blähungen quasi-innere hervorrufen, die bisweilen gar affektive Intensitäten zu erreichen vermögen.391 »Hypochondristen, die sich selbst beobachten können, werden mir hier beystimmen.«392 Bei diesen entsteht die äußere Empfindung, genauer: das von Krämpfen und Blähungen im Unterleib entstehende Gefühl, das allein aus dem körperlichen Mechanismus resultiert, vor der mit einer inneren Empfindung verknüpften Idee, die jener dann erst die den Außenstehenden so sonderbar vorkommende Affektation, d. h. innere Empfindung, beigesellt. Man glaubt in solch einem Falle, einen an mißlichen Vorstellungen Leidenden erkennen zu können, obwohl diese doch das Resultat körperlicher Leiden sind. Eine gelinde Purganz, d. h. die nachhaltige Veränderung äußerer Nervenreize nur kann einen solchen, von wilden Leidenschaften Geplagten heilen, ja ihn nachgerade zum Stoiker machen: »auch Weinstein, Salpeter, Limonade und ähnliche Gründe aus der Apotheke verschaffen Milderung«393. — Obschon die Fälle, in denen einerseits innere Empfindungen nur quasi-innere sind und nicht aus Vorstellungen entstehen und andererseits äußere nicht von körperexternen Reizungen herrühren, nicht gerade selten sind, sollten sie doch als Anomalien betrachtet werden und das aus der Erfahrung Abstrahierte, wonach »innere Empfindungen allemal aus Vorstellungen entstehen, und äußere allemal Vorstellungen hervorbringen«394, als Hauptregel in Geltung belassen werden. Begrifflich ließe sich der jeweilige Fall, wenn es denn wichtig ist, bequem sprachlich induzieren, indem man zwischen »unregelmäßigen« und »regelmäßigen Reizen« unterscheide395. (b) Neben die den genetischen Aspekt herauskehrende Unterscheidung von äußeren und inneren Empfindungen kann auch eine Distinktion hinsichtlich der strukturellen Merkmale vorgenommen werden. Hierzu greift Wezel, wie schon beim Temperament, auf quasi-korpuskulare Vorstellungen zurück und appliziert sie auf Mentales: einfache Empfindungen sind demnach qualitativ gleiche, nur ihrer Intension, ihrem »Tone«396 nach unterschiedene Bestandteilkomplexe; gemischte solche Empfindungskomplexe, die auch qualitativ unterschiedene Ingre-
389 390 391
393 394 395 396
Ebd. Ebd., S. 19. Ebd., S. 20. Ebd. Ebd, S. 21 f. Ebd, S. 22. Ebd. Ebd, S. 27.
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dienzien in verschiedenem Mischungsgrad (Extension) in sich vereinen.397 Zu den einfachen Empfindungen rechnet er das Gefühl des Hungers und Durstes sowie des körperlichen Schmerzes; eine gemischte Empfindung nennt er beispielsweise das Gefühl der Müdigkeit: in ihm vereinen sich das »wehthuende Gefühl der Erschöpfung« und die »Empfindung der Ruhe«. — Neben den einfachen und gemischten Empfindungen, deren Qualitäten analytisch leicht kennbar sind, gibt es eine dritte Art, die zusammengesetzten Empfindungen, die sich einer solchen Einsicht weitgehend entziehen. Wohl glaubt man sie, wie die gemischten Empfindungen auch, aus einer Vielzahl einfacher Empfindungen zusammengesetzt, allein: »man weis nicht einmal, was es ist, und gleichwohl werden wir doch von seiner Realität mehr als zu sehr überzeugt, so bald es uns fehlt«398. Zu ihnen gehören das Gefühl der Gesundheit und Krankheit, die Laune als Gemütszustand, bei dem eine Empfindung unter den anderen den >Ton< angibt, die Empfindung des Daseins, der Identität, kurz das Selbstgefühl.399 (c) Mit dem Kriterium der Intensität wird das dritte und letzte Charakteristikum von Empfindungen benannt. Der >Ton< bzw. die >Intensität< sagt etwas aus über die Stärke oder Schwäche einer Empfindung. Zumeist unterscheidet man drei Intensitätsstufen: die Empfindung, den Affekt und schließlich und endlich die Leidenschaft. Eine Empfindung wird dann zu einem Affekt, wenn sie stark gesteigert ist, einen hohen >Ton< hat.400 Wird der Affekt zur Gewohnheit, so daß schon der geringste Anlaß genügt, ihn auszulösen, nennt man ihn eine Leidenschaft.401 Kein vernünftiger Grund vermag dann noch etwas dagegen aufzubringen. Damit schließt der einleitende Teil des Empfindungskapitels, der den Empfindungsbegriff begrifflich fixieren und das terminologische Instrumentarium entwickeln sollte, so daß nunmehr die verschiedenen Empfindungen näher in Augenschein genommen werden können.
Ebd., S. 23. Ebd, S. 25. 399 Das Selbstgefühl·, also das Gefühl »der Seelenktaft, des eigenen Werths, der Personalität, der Identität, des Daseyns« (ebd., S. 15), ist als körperliches Gefühl eine äußere Empfindung und so die Folge eines durch Organreizungen veranlaßten Eindrucks auf ein äußeres Nervenende. Damit bilden die körperlichen Strukturen, das Gehirn mit eingeschlossen, die conditio sine qua non jeder weiteren Empfindung, sei sie nun eine äußere oder innere Empfindung (ebd., S. 10). Von hier aus, vom Gefühl als einer Art äußerer Empfindung, nimmt die anthropologische Aufgabe zur Selbstvergewisserung, wie sie im Eingang des Versuchs dargestellt wurde, ihren Ausgang. •wo Ebd., S. 25ff. 401 Ebd., S. 26. 397
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(2) Die Begründung des binären Empfindungs-Vorstellungs-Komplexes und der Bildcharakter von Vorstellungen überhaupt Wezel unterlegt seinem Empfindungskapitel die genetisch motivierte Klassifizierung der Empfindungen und behandelt zunächst die äußeren Empfindungen, macht hierin mit den Sensationen den Anfang, schließt mit den körperlichen Gefühlen an und geht sodann zu den inneren Empfindungen über. Wenn man sich die interne Gliederung des Bandes vor Augen führt und sie ins Verhältnis setzt zu dem den einzelnen Rubriken zugestandenen Raum, bestätigt sich aufs neue Wezeis primär psychologische Ausrichtung: der etwa 30seitigen Einleitung mit der allgemeinen Charakterisierung des Empfindungsgeschehens und den Empfindungsklassifikationen folgt mit etwa 100 Seiten das den äußeren Empfindungen gewidmete Kapitel; den übrigen Teil des Bandes mit rund 200 Seiten beanspruchen die inneren Empfindungen, wobei nicht außer acht gelassen werden darf, daß den inneren Empfindungen auch im folgenden dritten Band noch Raum gegeben werden sollte. Allein dieser Umstand vermag den Eindruck bestätigen, daß es Wezel in erster Linie um Mentales ging.402 Diese Einschätzung wird sich im kommenden zu bestätigen haben, wo es hauptsächlich darum gehen wird, wie es Wezel gelingt, die jeweiligen Empfindungen in die Gesamtheit mentaler Prozesse einzubetten und den ihnen vorab schon zuerkannten Status als »Unterhändler« zwischen Körperlichem und Geistigem theoretisch zu begründen. Die Sicherung einer prinzipiellen Durchlässigkeit der Grenze zwischen Empfindung und Vorstellung mittels Relativierung des Verhältnisses von Bewußtsein und Unterbewußtsein war nur die erste, noch recht unbestimmte Maßregel. Jetzt gilt es, diese Vorstellungen theoretisch distinkt zu formulieren und die Korrelation von Empfindung und Vorstellung zu begründen. Darzustellen ist nicht nur, daß etwas vormals Unbewußtes stufenweise zu etwas Bewußtem, sondern auch, wie gewissermaßen Intuitives zu Diskursivem verflößt wird. Es geht um den Nachweis der Substituierbarkeit der Empfindungen durch Ideen. Und Wezel weiß um
402
Ganz dezidiert bringt er es am Eingang des den inneren Empfindungen gewidmeten Abschnitts zum Ausdruck. Dort schreibt er »Die innern Empfindungen [...] sind der Gegenstand des Philosophen, des Dichters, Malers und Bildhauers, des Redners. Der Philosoph betrachtet sie im allgemeinen, beobachtet, zergliedert, klassificirt, vergleicht sie, erforscht ihre Wirkungen auf das Denken, Wollen und Thun des Menschen und auf die Werkzeuge der Bewegung, des Lebens und der Vegetation, und sucht ihre Verknüpfungen und Vermischungen mit einander auf. Der Dichter stellt sie dar, wie sie sich bey einem bestimmten Charakter in Gedanken, Worten und Handlungen äußern, und wie ein solcher Charakter von ihnen afficirt wird. [...] Alle müssen vom Philosophen lernen, oder sich selbst durch eigene Beobachtung eine philosophische Kenntniß von diesem Theile des Menschen erwerben, wenn sie etwas vorzügliches leisten wollen. Der erzählende und dramatische Dichter hat immer die doppelte Absicht vor Augen, Charakter und Leidenschaften, der Natur gemäß, stark, schön und mit Geschmack darzustellen, und zu gleicher Zeit seine Gemälde so zu ordnen, daß sie das Interesse des Lesers nie ermüden lassen: das erste kann er gar nicht ohne philosophische, physiologische und anatomische Kenntniß des Menschen und das andere eben so wenig, wenn ihm der Gang der menschlichen Empfindungen, ihre Verknüpfungen, ihre Verwandtschaft, ihre Vermischungen unbekannt sind« (ebd., S. 136ff.).
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den zentralen Stellenwert dieser Frage: Denn sie berührt unmittelbar seine ästhetische und Aufklärungskonzeption und ihren Nukleus: die Versinnlichung der Ideen. Diesem Problem versucht Wezel mit der Konzeption eines binären Empfindungs-Vorstellungs-Komplexes beizukommen. Den Anfang macht er mit den füinf äußeren Sinnen, den Sensationen Geschmack, Geruch, Gefühl, Gesicht und Gehör. Diese lassen sich in zwei Gruppen bringen: den ersten drei Sensationen stehen die letzten beiden gegenüber. Ausschlaggebend für eine solche Rubrizierung sind Differenzen zwischen ihnen in dreierlei Hinsicht: erstens gelangen die Eindrücke von Geschmack, Geruch und Gefühl unmittelbar zum Bewußtsein, die des Gesichts und Gehörs nur mittelbar über Gehörknöchelchen und Augenfeuchtigkeit — sie erfahren also eine stärkere Bewegungssublimierung; zweitens vermischen sich bei den drei ersten Sinnen die Sensationen so sehr mit den sie begleitenden Vorstellungen, »daß wir sie nie unterscheiden, sondern die erste [Sensation] ganz allein zu empfinden scheinen«403 — das Gegenteil ist beim Gesicht und Gehör der Fall; dieser enge Konnex von Sensation und Vorstellung beim Geschmack, Geruch und Gefühl steht drittens einer möglichen Reproduzierbarkeit der den Sensationen entsprechenden Ideen im Wege, denn: »Ist bey diesen drey Sinnen die Sensation vorbey, so erlischt auch die Idee davon«404. Anders verhält es sich beim Gehör und beim Gesicht. Selbst wenn die äußeren Eindrücke nicht präsent sind, kann man sie sich »eben so deutlich, bestimmt und lebhaft im Gehirn wiederholen«405. Nur diese können — innerhalb idealsprachlicher Verhältnisse (!) — vollständig diskursiv eingeholt werden und sind demnach substituierbar. Jeder Sensation entspricht folglich eine Idee (bereits hier wird der binäre Empfindungs-Vorstellungs-Komplex greifbar). Auch wenn es vielen sonderbar scheinen mag, so Wezel, daß man etwa eine Idee vom Geschmack haben solle, während man eine Auster esse, so ist es doch deshalb nichts weniger als richtig, wie es dann im Kapitel von den Ideen noch in extenso ausgeführt werden wird. Der allgemein verbreitete Irrtum, den Geschmacks-, Gefühls- und Geruchsempfindungen keine Ideen entsprechen zu lassen, zeigt sich auch im Sprachlichen: denn »in allen Sprachen [hat man], besonders bey Geschmack und Geruch, wenige Sensationen mit Worten bezeichnet«406. Mit den vom Geschmacks-, Gefuhlsoder Geruchssinn herrührenden Empfindungen sind zwar stets Vorstellungen, aber keine bestimmten und deutlichen verbunden407, so daß das Gedächtnis auch keine von ihnen aufbehalten kann. In bezug auf den Geruchssinn heißt es einmal ganz prononciert: »meine Nase hat gar kein Gedächtniß«408. Denn sie ermangeln
403 404 405 406 407 408
Ebd., S. 34. Ebd., S. 35. Ebd., S. 34f. Ebd., S. 36. Ebd., S. 37. Ebd., S. 38.
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gänzlich einer bildhaften Qualität. Erst eine solche Qualität gewährt den Empfindungen Einlaß ins Gedächtnis und eröffnet die Möglichkeit, sie zu erinnern. Denn Erinnerung und Gedächtnis sind immer an Vorstellungen geknüpft.409 Beim Erinnern steigt bei allen Menschen, zumindest solchen, die über einen normal ausgebildeten Gesichtssinn verfugen, im Gedächtnis ein >Bild< des Gegenstandes auf.410 Dieser Umstand sichert dem Gesichtssinn für Sprache und Denken größte Priorität, da alle Ideen bzw. Vorstellungen und die daraus fließenden Begriffsbildungen zunächst genuin bildlicher Natur sind, ganz so, wie es der ursprüngliche Sinn der Worte >Idee< und >Vorstellung< ausdrückte: »die Sprache der Sehenden nimmt alle Ausdrücke vom Gesichte her«, sie ist voll von »vom Gesicht entlehnten Redensarten«411, die bestimmten »Gesichtsideen« entsprechen412. Der Vorrang, den Wezel damit dem Visuellen einräumt, fuhrt gelegentlich zu ganz unangenehmen und ungewollten Schlußfolgerungen. So beispielsweise, wenn er darauf beharrt, eine Empfindung könne entsprechend den im ersten Teil
409
Auch Wezeis Denken bewegt sich noch ganz in der antiken Vorstellung vom »äußeren« und ärmeren Auge«. Man kann bei ihm beispielsweise von einem >Auge der Einbildung« lesen: »ihr Auge und ihre Imagination (gewöhnten sich] an den Anblick«, und zwar so sehr, »daß sie [die Sache] keinen Eindruck« mehr auf sie machte (ebd., S. 233) - eine Redensart, wie sie uns heute noch geläufig ist. - Auf die Kluft zwischen Urbild und Abbild weist die Rede vom »figürlichen Sprechen« hin. Während zunächst im Bildbegriff das Äußerliche einer Sache im Vordergrund stand, trat dieser Aspekt nach und nach in den Hintergrund, wich sozusagen der gegenläufigen, aufs Innerliche gerichteten Tendenz. Dieser Vorgang läßt sich auf exemplarische Weise an der Begriffsgeschichte des Terminus >Bildung< aufzeigen. Zunächst auf das Äußere, die hervorgebrachte Form abgestellt (lat. forma, speda, imago), wächst der Begriff zunehmend in eine innerliche Sphäre hinein und kulminiert schließlich in der Humanität (lat. humanitas) als dem cullus animi. — Diese semantische Weite des Bildbegriffs gab wohl, bewußt oder unbewußt, auch bei Wezel mit den Ausschlag, das Visuelle derart hochzuschätzen. Im Bildbegriff stand ursprünglich nicht das Moment des Gestaltlichen, sondern das des Produzierten im Vordergrund; es ist etwas einem Urbilde Nacherschaffenes, Nachgeformtes. Eng damit verbunden ist dann der des Musterhaften, Vorbildlichen (lat. exemplurì) hier knüpft die pädagogische Verwendung des Begriffs an. Man denke beispielsweise an solche Begriffe wie Bildung, bildsam (nicht im Sinne von lat. formabüis, sondern von lat. docili]), g¡bildet (lat dodus, eruditos, humanas, cultos, urianas). Ein gebildeter Mensch ist in erster Linie also nicht einer voller Ideen-Bilder, ein Erudit, sondern ein einem Muster entsprechend geformter Mensch. Auf das dem Visuellen verpflichtete Gestaltliche im Bildbegriff, eben die Figur, hebt vor allem dann wieder die psychologische Terminologie ab, wie gerade in Wezeis Versuch. Beide Sphären des Bildbegriffs, die des Pädagogischen und die des Psychologischen, verschmelzen dann in solchen Begriffsbildungen wie der von der »Idealvorstellung«.
4,0
Ebd., S. 40. Ebd., S. 42f. Ebd., S. 44. Der erkenntnistheoretischen Frage, inwieweit den sinnlichen Wahrnehmungen bzw. ihren mentalen Repräsentationen Abbildcharakter zukommt, wich Wezel in der Einleitung noch aus, indem er sie in der Kosmologie zu beantworten versprach. Nur soviel ließ er dort verlauten, daß er es für wahrscheinlich hält, »daß die Wirklichkeit der Dinge außer unserer Vorstellung, und eine Obereinstimmung zwischen beiden bis zu einem gewissen Grade bestätigt wird«. Selbst wenn sie nicht in Gänze mit ihren »Vorbildern« übereinstimmen, heißt es weiter, »so bleiben sie doch, im Ganzen genommen, sich selbst so getreu, daß ich sie als übereinstimmend betrachten kann« (Wezel, Versuch 1 (1784), S. 51 f.). In dieser Hinsicht gibt es durchaus Parallelen mit Platners frühen Ansichten. - Die Überschätzung des Gesichtssinns hat sich tief in die Sprache eingeprägt. Noch heute spricht man normalerweise von »Anschauung« statt von »Anfühlung« oder »Anhörung«.
411 412
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herausgearbeiteten Verknüpfungsarten zwischen den Phänomenbereichen nur durch die Dazwischenkunft einer Idee eine andere Empfindung hervorrufen, also stets nur mittelbar eine andere bewirken. Denn er muß sich dann fragen lassen, wie diese Gesetze sich bei Blindgeborenen anbringen lassen: »Ich weiß hier keinen andern Ausweg, als daß bey ihm [auf eine Empfindung] alsdann unmittelbar, ohne Dazwischenkunft einer Idee, eine analogische Empfindung entsteht«413. Wezel spricht in diesem Fall von einer »ähnlichen inneren Empfindung«414. Doch das Problem besteht weiter. Er kann nämlich ebensowenig erklären, wie ein Blindgeborener Gefühls-, Geschmacks- und Geruchsideen ohne einen ideellen Träger, und das sind nun einmal im strengen Wortsinne visuell wahrnehmbare >GebildeTon< wird ein großer Einfluß auf die jedesmalige Erinnerung und Imagination bzw. Einbildung zugestanden werden müssen. Das Seelenorgan allein reicht in diesem Falle nicht aus. Wichtig ist hier nicht, daß eine innere Empfindung als Quasi-Sensation erzeugt wird — das ist konform mit den oben gemachten Voraussetzungen. Wezel handelt sich aber in dem Moment große Probleme ein, als er die Erinnerung von Empfindungen nicht nur an das entsprechende Seelenorgan bindet, sondern darüber hinaus auf die Unabdingbarkeit der nervösen Struktur für die visuelle Darstellving des Empfindungsinhaltes abhebt. Denn Blind- und Taubgeborenen würde er jedwedes Gedächtnis resp. Denken in den betreffenden Hinsichten absprechen müssen; daß sie auch aus der von Wezel im ersten Band herausgearbeiteten konnektiven Struktur herausfallen, braucht wohl nicht noch einmal betont zu werden. - Wie Wezel schließlich mit diesen Problemen fertig zu werden gedachte, darüber kann man nur spekulieren. Letztlich ist das hier auch nicht sonderlich von Belang. Wichtig war an dieser Stelle, den exponierten Stellenwert des Visuellen herauszuarbeiten. Denn erst dann wird man begreifen, weshalb Wezel in seinen belletristischen Werken so überaus häufig zu Allegorisierungen greift, wenn die Psyche der Protagonisten in den Blick genommen wird. Das Visuelle im Empfindungs-Vorstellungs-Komplex eröffnet die Möglichkeit nicht nur der allegorischen Darstellung, sondern zugleich auch der Dynamisierung mentaler Zustände und Prozesse, indem diese als Komplexe einander begünstigender, widerstreitender oder paralleler Vorgänge begriffen werden - kurz:
417 41 » 419 420
Vgl. ebd., S. 55. Ebd, S. 47. Ebd, S. 50. Ebd.
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Wezel vermochte damit die anthropologische Rechtfertigung für die introspektive Verdoppelung der Welt, ihre Abspiegelung im Kleinen zu erbringen. Und was mindestens genauso wichtig ist: der binäre Empfindungs-Vorstellungs-Komplex bildet den anthropologischen Unterbau allen Schreibens. Abstrakte Ideen, also solche, die wohl der Visualität nicht gänzlich abhold sind, sich auf der anderen Seite aber durch eine große Empfindungsferne auszeichnen, können einem durchschnittlichen Leser nur schwer etwas zu denken geben. Denn der Zugang zum Gelesenen vollzieht sich immer über die Empfindungsqualität, nicht über die Idee. Möchte ein Schriftsteller also auf seine Zeitgenossen wirken, dann muß er seine abstrakten Verstandesideen durch Verbildlichung versinnlichen, damit der Leser ihnen ein Empfindungssubstrat zuordnen, d. h. im so gebildeten binären Empfindungs-Vorstellungs-Komplex das Diskursive mit dem Intuitiven adäquat vereinen kann. - Doch zurück zu den beiden Voraussetzungen: (a) Ideen sind mehr oder weniger stets figürlich, und (b) Empfindungen bilden für gewöhnlich mit der Idee einen Komplex, was am sinnfälligsten bei den sog. höheren Sensationen der Fall ist, da sich bei ihnen die intuitive Empfindungsqualität gewissermaßen automatisch mit der bildlichen Vorstellungsqualität verbindet. Läßt man aber einmal die bloß theoretisch-abstrakte Distinktion der separat behandelten fünf äußeren Sinne außer acht und öffnet sich dem Empfindungs-VorstellungsPhänomen in seiner instantan-konnektiven Verwobenheit mehrerer Sinne und Vorstellungen, dann hat man den Ausgangspunkt der nächsten Wezelschen Reflexion erfaßt. Ausgehend von der Beobachtung, daß jede Empfindung, welcher Art sie auch sein mag, mit einem der Temperaturgefühle, dem der Wärme oder dem der Kälte, verschwistert ist, kommt Wezel zur Formulierung einer weiteren, äußerst folgenschweren Hypothese, die sich in sehr starkem Maße vor allem in seinem dichterischen Schaffen niedergeschlagen hat. Er vermutet einen nur indirekten Zusammenhang zwischen einer Vorstellung und der daraus resultierenden Empfindung, wenn es darum geht, daß die Empfindung bewußt wahrgenommen wird. Von einem Empfindungs-Vorstellungs-Knäuel werden nur bestimmte Empfindungen bewußt wahrgenommen, die anderen verschwinden dahinter. Die hervorstechendsten Empfindungen sind stets die der Temperatur. D. h. der Mensch empfindet nie die Wirkung einer Vorstellung auf ein inneres Nervenende hin zu einem anderen Körperteil, sondern immer nur die vom Blut an den Fühlwarzen induzierte Sensation der Hitze oder Kälte. Zur Verdeutlichung seines Anliegens bezieht sich Wezel auf die Genese sexueller Lust aufgrund einer rein visuellen Erscheinung: Die Vorstellung wirkt auf bestimmte innere Nervenenden im Gehirn, die nicht zum vor Lust erigierenden Glied hinfuhren, sondern zum Herzen. Dort bewirken sie mittels erhöhter Herzfrequenz einen größeren Blutzufluß ins Glied und dessen Anschwellen. Die bewußte Empfindung sexueller Lust vermittelt sich nunmehr über die Blutwärme, die die Anhäufung einer Vielzahl von
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»wannen Bluttheilen«421 bewirke, die dann wiederum vermittelst der Fühlwarzen als äußeren Nervenenden einen Temperaturimpuls in Richtung Gehirn senden, der dort die »Empfindung der Hitze«422 hervorruft. — Von dem gesamten Empfindungsprozeß bleibt der ganze erste Teil unempfunden; erst die Wärmeempfindung wird bewußt wahrgenommen. Eine bewußte Empfindung, ein bewußter Affekt ist dann zunächst einmal, physiologisch gesehen, nichts weiter »als der [unbewußte] Stoß einer Idee auf etliche oder alle innere Nervenenden im Gehirne«423, wodurch der Blutumlauf und damit der Wärmehaushalt in bestimmten Körperpartien modifiziert wird, die dann bewußt wahrgenommen werden. So wird die Temperaturempfindung zum physiologischen Pendant psychischer Phänomene und kann zur Beschreibung innerer Vorgänge legitimerweise herangezogen werden. Damit ist eine jede bewußte Empfindung an die Herztätigkeit gebunden, das dabei als Quasi-Regulierungseinheit, gewissermaßen als Relais, fungiert. Gerade diesen Aspekt findet man in Wezeis belletristischen Werken allenthalben bedacht. Da entbrennen die Personen in Liebe, kochen vor Wut usw. — all das sind demzufolge keine metaphorischen Redeweisen, wie man vielleicht annehmen könnte; vielmehr sind es entmetaphorisierte Ausdrücke, eingebettet in ganz konkrete anthropologische Vorstellungen. Ausgemünzt wird die Annahme der binären Empfindungs-VorstellungsStruktur von Wezel dann in dem die inneren Empfindungen betreffenden Abschnitt. Hier erst zeigt sich die schon öfter angedeutete Reichweite dieses Theorems. Es offenbart sich als das Fundament, auf dem die Zusammenfuhrung rationalistischer und sensualistischer Ästhetik stattfinden wird. Ausgangspunkt bildet zunächst die seit der Sophistik bezeugte Rubrizierung der Empfindungen in angenehme und unangenehme. Daß etwas als angenehm oder unangenehm empfunden wird, hängt von den individuellen Gegebenheiten ab. Was dem einen gefallt, mißfallt dem anderen. Damit sind sie einer generalisierenden Behandlung im Rahmen wissenschaftlicher Betrachtungen entzogen. Es ist aber möglich, vom »gut organisirten Menschen« auszugehen und vorauszusetzen, daß jeder über annähernd das gleiche >Nervenkostüm< verfugt. Dann wird man feststellen können, daß bestimmte Dinge »beinahe gleichen Eindruck machen«, d. h. gleich empfunden werden, aber nur bei solchen Personen, »die ähnliche Gewohnheiten und ähnliche Verknüpfungen zwischen Ideen und Empfindungen haben«424. Insofern ist die Einteilung in angenehme und unangenehme immer noch »eine sehr schlechte«425, da die Fähigkeit, etwas als angenehm oder unangenehm zu empfinden, eine »äußerst relatife Eigenschaft« ist426. Denn nicht die Empfindun-
Ebd., S. 122. Ebd., S. 123. 423 Ebd., S. 124. 424 Ebd., S. 257. 425 Ebd. 426 Ebd., S. 258. 421
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gen selbst werden als angenehm oder unangenehm empfunden, sondern ihre Wirkungen vermittelst der Vorstellungen auf die Seele und Seelenorgane. Empfindungen sind genaugenommen bloße Modifikationen der Empfindungswerkzeuge. Diese nur bieten das objektive Substrat der Einteilung in Angenehmes und Unangenehmes, denn die Wirkung der Modifikation auf die Seele und die Seelenorgane beruht schon auf den individuell verschiedenen Empfindungs-Vorstellungs-Verknüpfungen und ist 2utiefst subjektiv und somit relativ427. Uns gefallt eben nicht, wie es die Sprache suggeriert, die Blume oder das Haus, wenn wir sagen: Die Blume oder das Haus gefallt uns, sondern: Meine Vorstellung von der Blume oder von dem Haus gefallt mir 428 , d. h. die mit einer bestimmten Nervenmodifikation verknüpfte Vorstellung gefallt, nicht diese selbst. Der binäre Empfindungs-Vorstellungs-Komplex bietet die Möglichkeit, die subjektiven Vorstellungsverknüpfungen gewissermaßen ins Objektive der Empfindungen als Nervenmodifikationen zu überfuhren, jedenfalls in begrenztem Umfange. Was gefallt oder mißfallt, darüber entscheiden nicht mehr nur die Vorstellung oder das Ding allein, sondern die mit der Vorstellung oder dem Ding selbst verknüpfte Empfindung, also die relativ objektive Nervenmodifikation. Das Angenehme und Unangenehme bzw. das Gefallen und Mißfallen gründen demzufolge in der assoziativ hergestellten binären Struktur des Empfindungs-Vorstellungs-Komplexes, wodurch das eher Relative, die Vorstellung, an das mehr Absolut-Objektive, die Nervenmodifikation, gebunden wird und nunmehr einer objektiv-wissenschaftlichen Behandlungsweise offensteht. Dabei gefällt bzw. mißfallt nicht jeder einzelne Empfindungs-Vorstellungs-Komplex an sich, sondern nur der »mit Unterscheidung« empfundene. Z u m Gefallen oder Mißfallen gehört immer auch eine verstandesmäßige bewußte Durchdringung. E s ist nun äußerst aufschlußreich, auf welche Art Wezel Rationalistisches mit Sensualistischem zu verknüpfen vermag. Eine Empfindung, das wurde oben schon zur Genüge herausgestellt, erhält dann zerebral fixierte Dauer, wird also ins Gedächtnis aufgenommen, wenn sie aus dem zunächst nur intuitiven Status in den bildlichen überführt wird. Das bedeutet aber nicht einfach, daß dem Intuitiven ad hoc irgendeine Struktur beigesellt wird und beide zusammen einen Komplex bildeten. Die Struktur muß vielmehr vom Intuitiven abgenommen, aus dem Empfindungsinhalt abstrahiert werden und zugleich das Intuitive gewahrt bleiben, denn das Gefallende ist allemal nur zeitlich und räumlich konkret. Wezel illustriert diese Problematik mit der Vorstellung eines Hauses. Das mit einer angenehmen Empfindung verknüpfte Vorstellungsbild eines Hauses muß, will es nicht in kürzester Zeit nicht mehr gefallen, analytisch übersehen, seine Teile nebeneinander· und zusammengehalten werden. Dadurch wird das zunächst bloß flüchtig-kurzzeitige Gefallen in ein duratives überführt: denn das vollkommene Schöne besteht in der Einheit und Vielfalt des Einen in Raum und Zeit 429 .
427 428 429
Ebd., S. 257f. Ebd., S. 258f. Vgl. auch ebd., S. 262f.
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Derjenige -wird dann ein Mann von Geschmack heißen können, der am besten und geschwindesten die Vorstellungskomplexe in ihre einzelnen Komponenten zu zergliedern und sich auf diese Weise ihre damit verknüpften Empfindungen des Angenehmen zu erschließen vermag. Geschwindes vergleichen, bemerken, d. h. »mit Unterscheidung zu empfinden wissen« — all das sind die Kennzeichen des Genies, wie sie bereits bei Ernst Platner (1744-1818) und Johann Georg Sulzer (1720-1797) begegneten. Wezel jedoch arbeitet damit einer Verknüpfung von rationaler und Geschmacksästhetik vor, die auf der anthropologisch hergeleiteten Vergesellschaftung der Empfindung mit der Vorstellung im Kontext des gesamten »Sistem[s] von Ideen und Empfindungen«430 beruht. Insofern existiert für den Menschen auch wirklich nichts, wovon er keine Vorstellung hat. Denn die ist ebenso nötig wie die Empfindung, sie möge aus einer äußeren oder einer inneren herfließen. Deshalb auch können mit inneren Empfindungen verknüpfte Vorstellungen als sog. sinnliche Ideen, die nur das Produkt der Einbildungskraft sind, unter Umständen einen ebensolchen Realitätsgrad haben wie solche, die der äußeren Empfindung entstammen. Die Empfindung erst verleiht den Vorstellungen ihre »Lebhaftigkeit«431, sie sei eine wirkliche äußere oder eine innere quasi-äußere Empfindung (»als wenn es Sensationen wären«)432. Wenn er anderseits von der Nichtexistenz der nicht mit einer Vorstellung verknüpften Empfindung schreibt, dann hebt er vielmehr auf deren Geltungsanspruch und eben nicht auf deren ontologischen Status ab. Die Sache existiert nicht für uns< heißt in dem Falle immer so viel wie: die Empfindung ist mit keiner Idee verknüpft, so daß sie auch nicht gefallen oder mißfallen kann. Genaugenommen ist demnach auch das objektivierende Sprechen über das Gefallen oder Mißfallen einer Sache falsch, denn exakterweise werden nur Empfindungen goutìert, nicht aber Vorstellungen. Das nötige aber keineswegs, »die gewöhnliche Sprache« zu verlassen und nicht mehr zu sagen, ein Haus oder Baum gefällt. Das sei genausowenig angezeigt, wie eine andere Ausdrucksweise als der >griine Tisch< nach Newtons Optik nötig geworden sei.433 Denn hier wie da gibt es einen Konnex, der das Subjektiv-Relative an das Objektiv-Absolute koppelt. An die Binarität von Empfindung und Vorstellung knüpft unmittelbar die Wezelsche Differenzierung unterschiedlicher Rezipientengruppen an434. Bereits in
Ebd., S. 259,261. Ebd., S. 261. « 2 Ebd. 433 Ebd., S. 263. 434 »Nicht alle Menschen haben einerley Art der Ideen, und nicht bey Allen hat sich die angenehme Empfindung mit einerley Art von Dingen verbunden« (ebd., S. 298). »Nicht alle Menschen haben von Natur eine gleiche Lebhaftigkeit der Imagination und Empfindung nicht alle einen gleichen Grad von Geistesstärke, den sinnlichen Eindrücken zu widerstehen; nicht einen gleich großen Vorrath von Grundsätzen der Moral, der Religion, der Ehre, der Klugheit, die den sinnlichen Antrieben das Gleichgewicht halten; nicht alle eine gleich große Beurtheilung und gleiche Fertigkeit, ihre Grundsätze auf jeden Fall anzuwenden; nicht alle einen gleich weiten Blick des Geistes, um jede Sache mit allen ihren Folgen und Nebenumständen zu übersehen« (ebd., S. 298f.). 430
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seiner Abhandlung Über Sprache, Wissenschaften und Geschmack der Teutschen (1781), einer Replik auf De la littérature allemande (1780) von Friedrich Π., begründete Wezel die Ablehnung einer vorwiegend dramatisch konzipierten Aufklärung im Rahmen eines Deutschen Nationaltheaters und die sie substituierende Vorstellung einer Aufklärung, in deren Zentrum die Entfaltung einer äußerst vielgestaltigen Lesekultur steht, mit anthropologisch festgelegten unterschiedlichen Publikumsschichten. Auf diese Weise zeichnet Anthropologisches die Bahnen seiner ästhetischen Aufklärungskonzeption vor. Grundlegend dafür ist die jeweilige Anzahl von Empfindungen (Nervenmodifikationen) und Vorstellungen (quantitativer Aspekt), über die ein Mensch verfügt, und ihre Verknüpfungen (quantitativer und qualitativer Aspekt). Der quantitative und qualitative Aspekt hinsichtlich der organisch manifestierten Ideen und Empfindungen sowie ihre Verknüpfungen bilden gewissermaßen das objektive >Substratobjektive< Kriterium her, was als >guter< und >schlechter Geschmack< anzusehen ist. Je vielfaltiger der Ideenhaushalt und je komplexer die Verknüpfungsstrukturen sind, desto ausgebildeter ist der Geschmack. Natürlich darf ein solcher nicht ein bloß einseitiger sein436, genausowenig, wie er nicht zu langsam agieren darf: »alle die feinen Verhältnisse zwischen den Gedanken, die witzigen launigen Kontraste, Ähnlichkeiten, Gegensätze, die komischen, raschen, sanften Wendungen der Gedanken und des Ausdrucks, die komischen oder rührenden Anspielungen und Beziehungen auf entfernte, entge-
« 5 Ebd., S. 263f. 436 Bei ihnen gibt der qualitative Aspekt den Ausschlag, indem sie nur an einer Art von Gegenständen Gefallen finden, so daß »ihnen nur eine Art der Ideen und Empfindungen geläufig ist« (ebd., S. 286).
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gengesetzte oder ähnliche Dinge bemerkt ein Leser desto weniger, je weniger Kopf [hier metonymisch für >IdeenverkörpernSelbstliebe< zusammengefaßten Vorstellungen erlauben. So kommt es, daß im Ästhetischen das Moment des Leidens weitgehend zurücktritt, da es ja jedem Rezipienten frei steht, seinem Leiden, etwa an einem schlechten oder vermeintlich schlechten Musikstück, ein Ende zu machen, indem er der Aufführung einfach nicht mehr länger beiwohnt. Der pragmatische Aspekt hingegen gewinnt absolute Dominanz und verlangt vom Rezipienten eine eminent produktive Aneignung, die sowohl ästhetische Mikroskopie (um die Teile des Kunstwerks und ihre Verhältnisse zu erken-
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Ebd., S. 270. Ebd., S. 271. Eine Rezension bot Wezel einmal die Gelegenheit, seine diesbezüglichen Gedanken etwas weiter auszuführen. Schönheit, heißt es darin ganz ähnlich, sei nicht etwas in den Gegenständen liegendes. Und selbst wenn es so wäre, sei es vergeblich, ihm nachforschen zu wollen. Es übersriege den Erkenntniskreis der Menschen und würde dem gleichen, erklären zu wollen, »was Ausdehnung, Figur, Farbe und andre Eigenschaften dieser Art an und für sich selbst sind« (Wezel, Rezension: Deutsches Museum. Zweyter Band. Julius bis December (1776), S. 78). »Unsre Definitionen von allen äußern Dingen können nichts als Erzählung des Gleichartigen in ihren Effekten auf unsre Sinne seyn. Diese Effekte werden bey den Grundeigenschaften und den abgeleiteten [d. h. primären und sekundären Qualitäten], wie man sie bisher βη der empkistischen Erkenntnistheorie] unterschieden hat, durch zween Umstände bestimmt, 1) durch das Verhältniß des Dinges, das z. B. das Bild der Figur in unserm Auge, oder die Empfindung der Kälte in unsern Gefuhlnerven hervorbringt, 2) durch die Beschaffenheit des [Seelen-JOrgans, das die Perception einer solchen Eigenschaft in der Seele erweckt Sie hängt 3) von der Verbindung mit gewissen individuellen Vorurtheilen, Meynungen, Begriffen und Leidenschaften ab« (ebd., S. 78). Hierin gründeten die individuell unterschiedlichen Ansichten davon, was als schön empfunden wird. Und dennoch müsse in den »verschiedenen Bestimmungen der Schönheit etwas Gleichartiges seyn, Eine Regel, Ein Gesetz, das den Kamtschadalen und Chineser, den Italiäner und Amerikaner leitet, wenn er etwas schön findet: die Aufsuchung dieses Gleichartigen in den verschiedenen Urtheilen über Schönheit, würde ihren allgemeinen Begriff geben, welcher, wie jeder allgemeine Begriff, nichts enthielt, als die Bedingung«, unter welchen den Menschen überhaupt etwas als schön erschtintv, (ebd., S. 79).
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nen) als auch Makroskopie (um es mit einem Blick ganz zu übersehen), gepaart mit Polyperspektivismus erfordert.449 12.Probleme der terminologischen Fixierung und literarischen Darstellung von Empfindungen auf der Grundlage sensualistischer Anthropologie Neben sachlichen, methodischen und formalen Fragen beschäftigen Wezel im Versuch über weite Strecken auch terminologische Schwierigkeiten, denen sich eine sensualistische Anthropologiekonzeption gegenübergestellt sieht. Virulent wurden diese Probleme, als es darum ging, spezifische Empfindungsphänomene kommunikabel zu machen. Im Deutschen sei für diesen anthropologischen Bereich nur sehr mangelhaft gesorgt. »Unser Selbstgefühl macht uns mit tausend Empfindungen bekannt, wofür die Sprache keine Namen hat: die Grade der Stärke unterscheiden wir selten durch eigene Wörter, und die Grade der Mischung fast niemals.«450 Ebenso wischt sie im Bereich der Empfindungen mit vielen Homonymen über wesentliche Differenzen des Bezeichneten hinweg: beispielsweise verwendet man im Deutschen den Begriff des Schmerzes für die Sensation, das Gefühl und für die innere Empfindung gleichermaßen, ohne noch eigens auf die Unterschiede hinzuweisen: »der Schmerz, wenn wir uns in den Finger schneiden, ist eine Sensation [=äußere exterorezeptive Empfindung); besteht er in einem Brennen und Fressen der Haut, so gehört er in die Klasse der Gefühle [=äußere interorezeptive Empfindung — Körpergefühl]; den höchsten Grad der Betrübniß nennen wir auch Schmerz, und dann ist er eine innere Empfindung: alle drey sind höchstverschieden, und doch heißen sie alle Schmerz«451. Ebenso fatal ist das Fehlen gleichumfänglicher Komplementärbegriffe: so hat das Deutsche zwar den Begriff des Schmerzes; ein Pendant, wie es die Griechen mit ihrer der άλγημα (Schmerz) entgegengesetzten ηδονή (Wollust) oder die Lateiner mit ihrer dem dolor (Schmerz) korrelierenden voluptas (Wollust) haben, läßt die deutsche Sprache hingegen vermissen. Sie hatte zwar einmal ein solches mit dem Begriff der >WollustLüsteWollustBegierde< betreffen und nun fehlen, erschwert eine begrifflich präzise, genau akzentuierte Beschreibung von Empfindungsphänomenen ebenfalls ungemein453. Da das Deutsche zur Bezeichnung psychischer Phänomene offensichtlich in nur ganz ungenügendem Maße sprachliche Mittel zur Verfügung stellte, mußte sich Wezel nach anderen Möglichkeiten umtun, diese kommunikabel zu machen. Die sprachliche Inbesitznahme der Empfindungen kann grundsätzlich nur mittelbar erfolgen, da diese selbst als etwas eminent Intuitives uneinholbar bleiben. Mittelbaren Zugriff hat man von selten des Ideellen wie von selten des Automatischen. Im ersten Fall kann auf die mit der Empfindung verknüpfte Idee und die oben benannte Substituierbarkeit (binärer Empfindungs-Vorstellungs-Komplex) verwiesen werden. Das würde aber voraussetzen, daß die Empfindung schon diskursiv verfügbar ist. In einem solchen Falle besteht aber auch das Problem nicht mehr. Das hier in Rede Stehende beschäftigt sich gerade aber mit dem Sachverhalt, daß bestimmten Empfindungen noch keine diskursiven Vorstellungen zugeordnet sind, die es allein möglich machen würden, die jenen entsprechenden sprachlichen Repräsentanten hervorzusuchen. Denn wüßte man einer Empfindung die adäquate Vorstellung zuzuordnen, hätte man sich ja des Phänomens bereits kognitiv und vor allem auch sprachlich in Gänze versichert. Der Weg über die Vorstellung ist daher nicht gangbar. Nun könnte eingewandt werden, daß dabei vollkommen ausgespart bleibt, wie sich Wezel denn eine Begriffsbildung überhaupt vorstellt, wenn nicht so. Nun, diesen erkenntnistheoretischen Zugriff wird man an dieser Stelle bei Wezel vergeblich suchen. Denn ihm geht es hier um Kommunizierbarkeit, nicht um Begriffsbildung. Er legt sich in dieser Passage allein die Frage vor, welcher Referenzmittel er sich bedienen kann, wenn das traditionelle Bezeichnungsinstrumentarium der Muttersprache versagt »Wie soll ich also mit dem Leser sprechen, da ich keine Zeichen habe, ihm meine Gedanken mitzutheilen? Soll ich meine Zuflucht zu Beschreibungen nehmen? Unglücklicher Weise sind es Dinge, die sich schlechterdings nicht beschreiben lassen.«454 Eine zweite und letzte Zugangsweise eröffnet sich dem Psychologen über das Automatische, wovon man allerdings nur indirekt, figürlich sprechen kann: »denn da uns die eigenthümlichen Ausdrücke dafür fehlen, so könnte man nur durch Vergleichung mit einer bekannten Sache davon sprechen«455. In nächster Nachbarschaft zu den Empfindungen als sinnlichen Wirkungen befinden sich seitens des Automatischen die Nerven: »allein was in der ganzen bekannten Natur läßt sich mit einer Veränderung in unsern Nerven vergleichen? Es ist außer uns nichts ähnliches«456. Damit ist ihm der Weg zu den Empfindungen über die sprachlich-psychische Sphäre zu großen Teilen ebenso verwehrt wie der über das
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Ebd., S. 32. Ebd., S. 28. Ebd. Ebd.
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Neurophysiologische und die damit zu Gebote stehenden metaphorischen Ausdrucksmöglichkeiten. Dieses Faktum, so Wezel, ist prinzipiell nicht hintergehbar. Allenfalls kann die physiologische Analyse der Nervenmodifikationen der sprachanalytischen Untersuchung zur Seite stehen und sie nach Möglichkeit ergänzen. Denn wie fürs Psychische hat die Sprache auch für das Neurophysiologische «chlecht gesorgtSchönheits-< und >Wahrheitsgefühl< zu anthropologisch weitreichenden semasiologischen Verschiebungen, da es sich dabei nicht nur um einfache, aus koordinierten Konstituenten bestehende Komposita handelt, sondern um Determinativkomposita, deren Konstituenten in einem Subordinationsverhältnis zueinander stehen, bei dem das Grundwort >Gefühl< durch die Bestimmungswörter >Schönheit< und >Wahrheit< semantisch determiniert wird. Im Wezelschen Kategorienraster heißt das: in der rationalistischen Perspektive verschwimmen die Grenzen zwischen Empfindung und Vorstellung, man hatte die Empfindungen gewissermaßen durch die Vorstellungen >eingefärbtWahrheit< und >Schönheit< Vorstellungen bzw. Ideen, Gefühle aber äußere interorezeptive Empfindungen. Obwohl Vorstellungen mit Empfindungen gewöhnlich einen binären Komplex bildeten, sei es nicht gerechtfertigt, wie es die Derivativkomposita suggerieren, die Vorstellungs-Empfindungs-Komplexe als eine besondere Art von Empfindungen anzunehmen463. Anderes, wie Triebe, verabsolutierte man zu etwas Eigenständigem, obwohl es sich lediglich um etwas Zusammengesetztes aus Empfindungen und Ideen handelt.464 All diese Schwierigkeiten betreffen die Ausdrückbarkeit, d. h. das Verhältnis von Auszudrückendem und Ausdrückendem, und verweisen auf die Notwendigkeit der Entwicklung einer anthropologietauglichen fachsprachlichen und belletristischen Terminologie. Dazu gehört in erster Linie die Rehabilitierung des Sinnlichen, die Vermeidung von Zweideutigkeiten, die Suche nach geeigneten Neologismen und die Schärfung sprachanalytischer Bewußtheit im Umgang mit überkommenem Wortmaterial, dem die rationalistische Befrachtung noch zu deutlich anhaftet. Das lenkt den Blick auf Wezeis umfängliche und intensive sprachkritische sowie sprachtheoretische Bemühungen, die zu behandeln den auch thematischen Rahmen der Untersuchung aber bei weitem sprengen würden und einer gesonderten Abhandlung vorbehalten bleiben müssen. Eine einzige Textpassage, dem Tobias Knaut, Wezeis erstem großem Erfolg, entnommen, mag das soeben Behandelte stellvertretend und vorerst abschließend in den Fokus von Anthropologie und Literatur rücken. In ihr treten auf ganz sinnfällige und exemplarische Weise die von ihm herausgearbeiteten Möglichkeiten und Grenzen anthropologischen Schreibens zutage, wie er sie zehn Jahre später im Versuch über die Kenntniß des Menschen dann über weite Strecken theoretisch konzis bestimmte. Darin wird von der Mutter Knaut berichtet, wie sie ihren Mann Christian, der noch mit den Nachwirkungen einer durchzechten Nacht zu kämpfen hat, mit ihrem Sohn Tobias im Lehmhaufen spielen sieht. Das veranlaßt sie zu der bestürzt-zornigen Frage: »Ist dein Vater nicht gescheut?« — Nunmehr tritt der auktoriale Erzähler auf den Plan, um eine anthropologische, Psychologisches und Physiologisches gleichermaßen berücksichtigende Herleitung dieser Frage zu liefern, also »eine Erzählung von den dabei vorkommenden Umständen, ihrer Veranlassung und ihren Folgen, eine kursç, kursçe Betrachtung darüber und eine damit zusammenhängende lange, lange Erzählung«465. Bereits auf den ersten Blick ist die schon bekannte erkenntnistheoretische Folie sichtbar: es geht um die veranlassenden Ursachen, die Modifikatoren und die resultierenden Wirkungen — ganz so, wie es das Maschinenparadigma verlangt. Zu den »dabei vorkommenden Umständen« zählt der Autor die Stimme der Mutter und ihre Mimik, die Rückschlüsse auf ihr Inneres erlauben: Die Frage " " Ebd. 444 Ebd., S. 31 f. « 5 Wezel, Tobias Knaut (1990), S. 56.
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stellt Frau Knaut »mit einem Tone, mit einem so epischen Tone, daß er sich in Prose gar nicht beschreiben läßt«466 und den Rückgriff auf Ilias-Verse nötig macht467. Einen Absatz später wird der durch die Verse unterbrochene Satz fortgesetzt und als zweiter, die Frage charakterisierender Umstand die Mimik ins Spiel gebracht — »und mit einer Miene«!468 Reichte zur Charakterisierung der Stimme episches Vokabular noch hin, so versagt es hier: »Diese war zu original und vielleicht seit der Schöpfung der Welt niemals in einem menschlichen Gesichte gewesen«, also von noch keinem Dichter geschildert oder besungen worden, der nachgeahmt werden könnte. Bereits hier läßt die Sprache den Anthropologen im Stich. Zwei Möglichkeiten bleiben ihm: die physiologische und die psychologische Charakterisierung. Er setzt zunächst mit einer allgemeinen physiologischen Betrachtung ein, die die Beziehung von Innerem und Äußerem stiften und die Grundlage eines Gleichnisses abgeben soll: »Also — jeder Ausdruck eines Affekts im Gesichte besteht in gewissen und jeder Empfindung eignen Zusammenziehungen oder Ausdehnungen der äußern Haut, die durch besondre Bewegungen der Muskeln hervorgebracht werden, folglich ist das Gesicht nichts anders als eine papierne Laterne, durch welche die Empfindungen hell oder düster durchschimmern, nachdem das Papier ausgedehnt oder stark zusammengefaltet ist. Nun — ja, da sitz ich! weiter geht's nicht.«469 Die physiologische Deskription, so die Quintessenz der Passage, führt in eine Sackgasse. Da setzt der auktoriale Erzähler noch einmal neu ein, nun aber nicht mehr mit einem lehrhaften allgemeinen physiologischen Satz, sondern mit einem Bilde. Man stelle sich das Gesicht der Mutter Knaut vor wie ein »Gebäude mit drei Stockwerken«: das untere reiche vom Kinn bis zur Oberlippe, das zweite Geschoß schließe dort an und ende an der Öffnung der Nasenlöcher, das dritte Stockwerk umfasse die restliche Partie des Gesichts. »In jedem wohnt eine besondre Empfindung, und sieht — sozusagen! — zum Fenster heraus. Aus dem untersten Stockwerke guckt die Verwundrung, aber nur mit dem halben Kopfe
Ebd., S. 57. Horn. II. 5,860f.; 3,3-7; 2,459-463. Der Versuch, den »epischen Tonfall« der Frage: »Ist dein Vater nicht gescheut?« mit Hilfe der durch die Epentradition bereitgestellten Bilder einzuholen, wird selbstredend satirisch unterlaufen, indem Wezel den drei //¿«-Passagen ein gereimtes jambisches, drei- bzw. vierhebiges Hexastichon anschließt und darin die Homerischen Vergleiche von Menschen· und Tierstimmen gekonnt parodiert. Aber nicht nur inhaltlich konterkariert die Strophe die Homerische Epik in ihrer bildlichen Darstellung. Auch, und daraufkam es bei der Gattungswahl ja besonders an, in der Aussageweise wird der epische Grundton nicht mehr getroffen, obgleich die alternative Koppelung der Verspartien eine auch innere Zusammengehörigkeit zu suggerieren scheint. Der Wechsel vom Daktylischen zum Jambischen bezeichnet entgegen dem adjunktiven (nicht disjunktiven bzw. anschließenden) >oder< eine Zäsur, so daß der Leser den die Exemplakette beschließenden Sechszeiler als Quasi-Konklusion lesen muß. Den getragenen epischen Grundton löst so eine spöttisch, schwungvoll-lebendige Tonlage ab. Letztlich scheint der Rückgriff auf die lang bewährte Epentradition bereits hier ins Leere zu laufen. 468 Wezel, Tobias Knaut (1990), S. 58. « » Ebd. 466 467
Probleme der terminologischen Fixierung und literarischen Darstellung
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und lauschend hinter der Freude, die sie wegdrängt, um sich bis an die Brust herauszulegen.«470 Während die Empfindung der Freude »ein wildes, tückisches Mädchen, mit zerstreuten Haaren und einer frechen, schadenfrohen Miene«471 darstellt, ist die Verwunderung »ein altes, runzlichtes Mütterchen mit stieren Augen und halbgeöffnetem Munde, der zwei Reihen Brandstellen von verwüsteten Zähnen sehen läßt«472. Im Zwischengeschoß zeigt sich, halb versteckt und eine Hälfte des Gesichts mit dem Vorhang verdeckend, ein überaus »schüchternes Mädchen«, die Scham. Über ihr, die Fensterflügel sind weit geöffnet, lehnt der Zorn, »den Kopf auf die eine Hand gestützt; die andre schlägt er geballt an die knirschenden Zähne: ein finstrer, glühender, schrecklicher Riese, mit emporstrebenden Haaren und aufgeblasenen Nasenlöchern«473. Die Allegorie der gemischten Empfindung vervollständigend müsse man sich das Haus als ein modernes Gebäude gotischen Zuschnitts vorstellen: »unregelmäßig, mit etlichen schönen Zieraten, die der unschickliche Ort und die Gesellschaft von mehrern schlechten zu Häßlichkeiten macht«.474 — So solle man sich die Miene der Frau Knaut beim Äußern der Frage: »Ist dein Vater nicht gescheut?«475 vorstellen. — Nunmehr, das Bild ist fertig >gemaltEmpfindung< zu bezeichnen und die Unterschiede adjektivisch zu beschreiben. Dieses Verfahren kranke aber an Unscharfe und Umständlichkeit des Ausdrucks. »Das beste Mittel wird also seyn [...], für Sentiment ein eigenes Wort zu prägen. Die französischen Worte kommen von einerley Stamme und zeigen nur in den Endungen die Verschiedenheit der Begriffe an: und diß ist eine trefliche Eigenschaft an diesen Ausdrücken. Wir wollen sie den unsrigen, ohne Verletzung der Grundgesetze der Sprache ebenfalls zu geben trachten. Empfindung mag für Sensation gelten, und fur Sentiment [das] Empfindnißt (S. 115). Die von Abbt vorgeschlagene Neuprägung eines Terminus rechtfertige sich aus dem Bedürfnis heraus, Sachverhalte genauer zu bezeichnen, und sei deshalb zulässig. Abbt grenzt beides folgendermaßen voneinander ab: »Die Empfindung beziehet lebhaft, aber verworren eine Sache auf uns, vermittelst der Sinne, das Empfindniß beziehet sie auf ähnliche Art vermittelst der Einbildung. Im erstem Falle beschäftiget uns die Sache wie gegenwärtig, im andern Falle, wenn sie auch gegenwärtig seyn sollte, thut es mehr ihr Bild«. (S. 116; vgl. hierzu auch Sauder (1974), S. 107,178; zur Diskussion zwischen Abbt, Friedrich Nicolai und einem namentlich nicht bekannten Dritten über die Zulässigkeit des Terminus Empfindniß vgl. Lecke (1967), S. 14f.). — Auf eben diese Passage bezieht sich auch der Übersetzer des Bonnetschen Analytischen Versuchs (1770), Christian Gottfried Schütz (1747-1832), in einer Fußnote (S. 84). Dieser übersetzt dort unter ausdrücklichem Verweis auf Abbt frz. ¡sentimenti mit »Empfindniß« und frz. tsensatiom mit »Empfindung«, wobei >sentimenti den »Zustand der Seele« benennt. >Empfindung< im Abbtschen und Schütz'schen Sinne resp. der Bonnet-Übersetzung ist daher nicht das Unzersche und Buffonsche >Gefuhlsensatiom (>Empfindungsensatiom seelische Wahrnehmungen, die nicht abgekoppelt von der Seele existieren können. >sentimenh (»Empfindniß«) bezeichnet mit anderen Worten die Gesamtempfindung, die den Zustand der Seele zu einem bestimmten Zeitpunkt ausmacht; >sensation< (>EmpfindungGefühl< und >Empfindung< bei Michael Hißmann, wie Bonnet ebenfalls ein mechanischer Psychologe. Obwohl er dem gängigen Sprachgebrauch, der »allen unsem Nerven das Vermögen zu empfinden« zuschreibt, Konzessionen machen muß, unterscheidet er doch grundsätzlich zwischen beiden: »Sensationen« sind alle angenehmen, unangenehmen und gleichgültigen Eindrücke äußerer Gegenstände in die »drey gröberen Sinne« (Getast, Geschmack, Geruch); »Empfindungen« (frz. >sentimenti) werden die angenehmen und unangenehmen Eindrücke in die »beyden feinern« bzw. »edleren äusseren Sinne« (Gesicht und Gehör) genannt; mitunter können die edleren Sinne auch »innere Empfindungen« hervorrufen. Die angenehmen und unangenehmen Veränderungen der Organe des »inneren Sinns« heißen »innere Empfindung«, die gleichgültigen desselben »innere Gefühle« (Hißmann, Anhang über den Unterschied assoeiirter und zusammengesetzter Begriffe, und der Ideenreyben (1777), S. 95f. Anm.). Die Hißmannschen Distinktionen sind offensichtlich weniger am Commercium-Vroblem ausgerichtet, sondern tragen eher der traditionellen Wertigkeit der verschiedenen Sinne Rechnung.
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(zu S. 174) J. G. Zimmermann entwickelt die Genie-Konzeption in seinem wohl eigenständigsten und wirkungsmächtigsten Werk von der Erfahrung in der Anpeykunst (1763/64,21786). Im Arzt als Genie kulminiert sein Hauptanliegen, die Meditina practica als angewandte Mediana thtoretica auf derart feste Grundlagen zu stellen und mit einer solchen Gewißheit der Erkenntnis und Sicherheit des Handelns auszustatten, daß sie einer jeden auf Erfahrung und Vernunft gegründeten Wissenschaft ebenbürtig ist (Toellner (1979), S. 18; vgl. dazu auch Lesky (1954)). Ausgangspunkt hierfür ist die Psychologie des Erkenntnisprozesses im allgemeinen und die Erfahrungspsychologie im besonderen. Für die »wahre Erfahrung«, auch des Arztes, sind drei epistemische Vermögen konstitutiv: die Gelehrsamkeit (Erinnerung, Gedächtnis, Wissen von dem, »was möglich ist«), der Beobachtungsgeist (vorurteilsfreie Erfassung des Gegebenen, dessen, »was ist«) und das Genie (Kontamination von Gelehrsamkeit und Beobachtungsgeist im Schluß von der Wirkung auf die Ursache mittels des iudicium und ingenium als Urteils- und Vergleichungskraft). »Aus der richtigen Erkenntnis dessen, was ist (Befund), folgt die richtige Erkenntnis der Ursachen (Diagnose), aus der richtigen Erkenntnis der Ursachen folgt die richtige Erkenntnis dessen, was zu tun ist (Therapie) und was sein wird (Prognose). Dies ist das äußerst verknappte Grundschema des Zimmermannschen Begriffes von der Erfahrung in der Arzneykunst« (Toellner (1979), S. 19). >Erfahrung< setzt sich demnach aus drei Komponenten zusammen: aus historischer Kenntnis, Beobachtung und Erkenntnis mittels Analogie- und Induktionsschlüssen. Dieses erkenntnistheoretisch bestimmte Erfahrungskonzept psychologisiert Zimmermann, indem er den jeweiligen Komponenten von Erfahrung bestimmte psychische Vermögen zuordnet: die historische Kenntnis der Gelehrsamkeit, die Beobachtung dem Beobachtungsgeist und die Erkenntnis mit ihren beiden Schlußverfahren dem Genie. Der zunächst rein methodologische Ansatz des Erfahrungskonzeptes mündet damit in einer vermögenspsychologischen Konturierung des Typus »philosophischer Arzt«. Das Originelle an dieser Konzeption ist die Aufnahme des Genie-Gedankens (heute würde man zutreffender von Intuition sprechen). Anders als man vielleicht vermuten könnte, arbeitet J. G. Zimmermann keine grundlegende, metaphysisch verankerte Theorie der Erfahrung aus. Geradezu das Gegenteil ist der Fall: er vermeidet strikt weitläufige philosophische Erörterungen. Ihm liegt mehr an einer grundsätzlichen wissenschaftlichen Verfahrensweise eines Arztes, also »wahrer Erfahrung«, und nicht so sehr an der Konturierung einer Philosophie der Medizin. >Erfahrung< ist hier demzufolge weniger Wissensbestand als eine Fertigkeit, über die nur der von ihm exponierte neue Typus von Arzt, der philosophische Arztt, verfügt (Temkin (1928), S. 1216), und zwar eine angeborene und keine erlernte (Toellner (1985), S. 213). Später löste sich Zimmermann wieder von seiner Arzt und Genie verschmelzenden Konzeption. Im Manuskript des dritten Teils seines Fragment geblichenen Werkes Von der Erfahrung in der Arzneykunst heißt es dann angesichts der Sturm-und-Drang-Bewegung: »Genie, dieses pompreiche, von mir vormals so oft gebrauchte Wort, lasse ich hier ganz weg. Mir ekelt vor diesem Wort, weil es seit einigen Jahren das Losungswort einer wilden Rotte junger Leute in Deutschland ist, und weil jeder Knabe, sobald er ein Kanibale von Geschmack, Denkungsart und Sitte ist, sich itzt ein Genie nennet« (zitiert nach Toellner (1985), S. 215). Dennoch ist es gerade das Zimmermannsche Werk gewesen, daß dem Geniegedanken, insbesondere in seiner ausgedehnteren Bedeutung, in Deutschland zu seiner enormen Popularität verholfen hat. Goethe schreibt rückblickend: »Niemand gesteht gern andern einen Vorzug ein, solang er ihn nur einigermaßen leugnen kann; Naturvorzüge aller Art sind am wenigsten zu leugnen, und doch gestand der gemeine Redegebrauch damaliger Zeit nur dem Dichter Genie zu. Nun aber schien auf einmal eine andere Welt aufzugehn, man verlangte Genie vom Arzt, vom Feldherrn, vom Staatsmann und bald von allen Menschen, die sich theoretisch oder praktisch hervorzutun dachten. Zimmermann vorzüglich hatte diese Forderungen zur Sprache gebracht [...] das Wort Genie ward eine allgemeine Losung« (Goethe HA 10, S. 160). Aber auch schon vor dem Erscheinen des Zimmermannschen Werkes war der weite Geniebegriff durchaus gebräuchlich (vgl. ζ. B. Sulzer, Entmckelung des Begriffs vom Genie {1773), S. 308). Natürlich ist Zimmermanns Bild vom Arzt als Genie, ebenso wie bei Platner, auch nobilitierender Selbstentwurf. Er unterscheidet sich aber in bestimmten Hinsichten wesentlich von der Platnerschen Konzeption des philosophischen ArztesPhilosophisch< heißt hier soviel wie >gegen Vorurteil und Aberglauben ankämpfend*, nicht aber unetaphysisch-spekulativ verfahrend«, und zielt auf eine generelle Offenheit
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im Denken und Handeln aus Vernunft, ganz so wie beispielsweise die »aufgeklärten Arzte« [les Medians éclairés) Julien Of&ay de La Mettries (L'homme machine (1747, vordatiert auf 1748), S. 122f.) oder Der philosophische Arg Melchior Adam Weikards (1742-1803) im ersten Stück, der »etwas zur Geschichte der Menschheit, zur Aufklärung des Menschenverstandes, und zur Ruhe und Zufriedenheit der Menschenherzen« beitragen will (Weikard, Einleitung 1(1775), [unpag.] S. VII). Andere Bezeichnungen für den aufgeklärten Arzt sind der >Neuearzt< (C. L. N. D. (1754)) und der >Arzt< schlechthin im Gegensatz zum >Afterarzt< (Bücking (1783)). Im Gegensatz zu dem heute überwiegend nur noch szientistisch gebrauchten Wort »philosophisch« stand es im 17. und 18. Jh. noch in dem weit umfänglicheren Begriffsfeld von Wissenschaft - Weisheit - Gelehrtheit (vgl. Schneiders (1985), S. 60). - So kann es auch nicht überraschen, daß J. G. Zimmermann neben »philosophischen Ärzten« auch von kongenialen »philosophischen Politikern« und »philosophischen Feldherren« berichtet Dieser Wortgebrauch stand in jener Zeit nicht vereinzelt da. Das zeitgenössische Epitheton »philosophisch« wurde zur emphatischen Bezeichnung für die Angehörigen der meisten Stände herangezogen; hier sei als Beispiel nur auf Hans Caspar Hirzeis (1725-1803) Wirtschaft eines philosophischen Bauers (Zürich 1761,21774) hingewiesen. Es war auch in solchen Wendungen wie »philosophischer Dichter«, »philosophischer Beobachter«, »philosophisches Genie«, »philosophischer Componisi«, »philosophischer Spieler« gebräuchlich (vgj. Weikard, Vom philosophischen Genie (1777), S. 10, 12f.). Selbst von »philosophischen Völkern« sprach man (vgl. Isaac Iselin, Ober die Geschichte der Menschheit 2 (Ήόβ), S. 234). Ein anderes Mal wird der Begriff »philosophischer Arzt« als synonymer Ausdruck für den therapeutisch tätigen Psychologen verwendet. Ein solcher »moralischer Arzt« läßt sich nicht wie der »phisikalische« die körperlichen, sondern die »Krankheiten der Seele« angelegen sein. Zum Ahnherrn erkor sich diese Richtung Sokrates (Kail Philipp Moritz, Vorschlag einem Magazin einer Erfarungsseelenkunde (1782), S. 486f.; ders., Grundlinien einem ohngeßhren Entwurf in Rücksicht auf die Seelenkrankheitskunde (1783), S. 37). Auch diese Sichtweise ist nicht neu. Schon bei Epikur konnte man lesen: »Leer ist die Rede jenes Philosophen, durch die keine menschliche Leidenschaft geheilt wird. Wie nämlich die Medizin nichts nützt, wenn sie nicht die Krankheiten aus dem Körper vertreibt, so nützt auch die Philosophie nichts, wenn sie nicht die Leidenschaft aus der Seele vertreibt« (Frg. 221 Us.). Zu den Krankheiten der vom Philosophen zu heilenden Seele rechnet er die unbegrenzten und nichtigen Begierden nach Reichtum, Ruhm, Herrschaft und ausschweifenden Vergnügungen sowie Kummer, Beschwerden und Traurigkeiten, die allesamt den Geist aufzehren und ihn schließlich vernichten. In Christoph Meiners Revision der Philosophie ist eine weitere, nunmehr wieder ins Metaphorische zurückgewendete Begriffsnuanderung belege diese hebt auf die heilende Funktion ab, wenn vom »philosophischen Arzt« und dessen Vermögen, den erkrankten Körper der Philosophie wieder gesunden zu lassen, gesprochen wird (Meiners, Revision der Philosophie (1772), Vorrede, S. 4f.). — Im Gegensatz zu Platner, der die Deszendenztheotie der medizinischen Wissenschaften in der zunehmend isoliert-autonom verlaufenden Entwicklung von Medizin und Philosophie begründet findet und ihr das Wissenschaftssynthetisierende Modell eines »philosophischen Arztes« entgegensetzt, sieht J. G. Zimmermann die Ursächlichkeit des schlechten Zustandes der Medizin in einer innermedizinischen Konstellation gegeben: dem Widerstreit von Klinikern und Medizintheoretikern, von Empirie und Spekulation. Diese Sachlage sieht er in der Opposition des mehr dem Empirischen zuneigenden Hippokrates auf der einen Seite und dem eher spekulativ verfahrenden Galen auf der anderen sinnfällig verkörpert (Zimmermann, Von der Erfahrung 1 (1786), S. 82). Vor allem auf drei Schriften des hippokratischen Corpus scheint sich Zimmermann dabei zu beziehen: περί τέχνης (dt. Über die (ärztliche) Kunst), περί άρχαίης ϊητρικής (dt. Über die alte Medium) und περί εύσχημοσύνης (dt Über das (angliche) Wohlverhalten). Es finden sich bei Zimmermann aber auch schon Ansätze, die auf die Konzeption der Platnerschen Anthropologie unter Bezugnahme auf Hippokrates hindeuten. So heißt es einmal: »Die Lehre von den Ursachen der Krankheiten ist die philosophische Kenntnis der Krankheiten, und der Arzt der diese Kenntnis hat, ein Philosoph. Hippocrates hat darum vortreflich gesagt, man müsse die Weltweisheit auf die Arzneykunst anwenden, und die Arzneykunst mit der Weltweisheit verbinden« (Zimmermann, Von der Erfahrung 2 (1786), S. 378; vgl. auch S. 434). Und an anderer Stelle schreibt er »Obschon Hippokrates der Stifter der Arzneykunst nicht gewesen ist, so ward er doch durch die Ausübung dieser Grundsätze und der Kraft des Lichtes seiner Zeiten ihr Vater, indem er die Philosophie der Arzneykunst und die Arzneykunst der Philosophie nützlich gemacht, und durch seine Thaten seinen Ausspruch erwiesen, daß ein philosophischer Arzt Göttern ähnlich sey«
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(ebd., S. 69ff.). Zimmermann hat hier die ins 2. Jh. n. Chr. gehörende pseudo-hippokratische Schrift Über das (ärmliche) Wohlverhalten (περί εύσχημοσυνης) im Blick, wo es u. a. heißt: »Deshalb muß man das philosophische Wissen in die Heilkunde und die Heilkunde in die Wissenschaft der Philosophen einfuhren. Denn ein Arzt, der das philosophische Wissen hat, ist einem Gott gleich« (ed. Kühn, p. 69/70; vgl. Kerényi pi956), S. 69f.). - Der systematische Gedanke vom »philosophischen Arzt< kann zumindest bis auf eine Galenische Schrift mit dem programmatischen Titel ότι ό άριστος ιατρός και φιλόσοφος (dt Daß der vorzügliche Arg Philosoph sein muß) zurückverfolgt werden. In ihr findet die antike Vorstellung von einem philosophischen Arzt< wohl ihren beredtesten Ausdruck. Nach Galen umfaßt das Studium und der Beruf eines Arztes neben den eigentlichen medizinischen Fächern auch Logik, Physik und Ethik, also alle Disziplinen der stoischen Philosophie: »was fehlt dann dem Arzt noch von dem, was ihm obliegt, im Hinblick darauf, daß er Philosoph sein soll, wenn er sich den Hippokrates zum Muster nimmt und hinsichtlich des Könnens seiner Methode gleichzukommen sucht? Denn, da er ja, um die Natur des Körpers und die Arten der Krankheiten und den durch sie gegebenen Hinweis auf das (jeweilige) Heilmittel kennenzulernen, sich selbst zur Pflicht gemacht hat, sich in der Wissenschaft der Logik auszubilden, und [...] zu Grundlagen des Studiums dieser Dinge zu machen: so steht dem nichts im Wege, daß er alle Teile der Philosophie so weit in sich aufnehmen wird, daß ihm auch zufallen wird der logische Teil von ihr und der naturwissenschaftliche Teil und der ethische Teil« (Galen (1965), S. 23/25). Und nicht ohne Stolz berichtet Galen ein anderes Mal, daß Kaiser Marc Aurel, dessen Hofarzt er war, ihn den ersten unter den Ärzten und den einzigen unter den »philosophischen Ärzten< genannt habe (Gal. dt praenotione ai Epigenem 11; zit. nach Der Arg im Altertum ^1986), S. 59). Galen sieht im »philosophischen Arzt< einen der bekannten εγκύκλιος π α ι δ ε ί α verpflichteten aufgeklärten Arzt, der sich dadurch sowohl von den Kurpfuschern und Quacksalbern als auch von den nur das Geld, nicht aber auch das Ethische berücksichtigenden Ärzten (man denke hierbei insbesondere an das im Hippokratischen Eid proklamierte Berufsethos; vgl. Wenkebach (1933), S. 161) unterscheidet. Der »philosophische Arzt< Galens ist ein fachwissenschaftlich Gebildeter, dessen Wissen stets vom Gewissen begleitet wird. Galen und Hippokrates eint die platonische Haltung eines βίος θεωρητικός, der sein Leben der Erforschung der Wahrheit weiht. Die spezifisch anthropologische Ausrichtung im Verständnis des 18. Jh. steht bei ihm allerdings nicht im Vordergrund, genausowenig wie das bei Johann Georg Zimmermann der Fall ist. Appliziert man diesen Galenischen Gedanken auf das 18. Jh., so zielt er auf eine Stärkung des philosophischen Propädeudkums in der Medizinerausbildung. Von dorther erhoffte man sich eine Erneuerung der wissenschaftlichen Medizin, zumal gerade aus den dort angesiedelten Disziplinen die grundlegenden zeitgenössischen Interpretationsmuster stammten, ζ. B. das Maschinenmodell. - Die Rede vom »philosophischen Arzt< überdauerte mit den Schriften Galens die Zeiten und war so auch schon zu Beginn des 18. Jh. gebräuchlich. So ist beispielsweise für den Mechanisten Friedrich Hoffmann (1660-1742) jeder Arzt ein »philosophischer Arzt< (Physüus philosophur, Pott (1992), S. 378; vg). auch Leibniz' Brief an de l'Hospital von 1696, in: Ltibehpns mathematische Schriften (1850), S. 312). Sie zieht sich durch das gesamte 18. Jh. hindurch, so daß man ihr in Weikards gleichnamiger popularphilosophischer Zeitschrift Der philosophische Arg (Weikard, Avertissement (1775), [unpag.] S. Hf.; ders., Einleitung qim qveytcn Stücke (1775), [unpag.] S. ΧΙ-ΧΠΙ; ders., Von dem philosophischen Geiste (1775), S. 239f.) und selbst in Carl Christian Erhard Schmids (1761-1812) Empirischer Psychologe Kantischen Zuschnitts begegnet. Von einem »philosophischen Arzt< könne dann die Rede sein, heißt es da, »wenn sich der Psycholog und der Arzt öfter in Einer und derselben Person vereinigt weiden antreffen lassen« (Schmid, Empirische Psychologe (1791), S. 65 § 13). 148
(zu S. 192) Die vollständige Ersetzung des Seelischen durch das Zerebrale wird zuerst von Bonnet diskutiert (sieht man einmal von Pierre Bayle, Artikel: Rorarius (101744), S. 82 und La Mettrie, L'homme machine (1747), S. 132-135 ab). So heißt es einmal in seiner aufsehenerregenden experimentellen Psychologie, dem Essai analytique sur les facultés de l'ime (1760), »Ohne Zweifel ist das Gehirn des Hottentotten eben so gut organisirt, als das Gehirn des Engelländers; aber welcher Unterschied in dem Gebrauche der Fibern« (Bonnet, Analytischer Versuch über Se Seelenkräfte 2 (1771), S. 169 § 850)1 Und an anderer Stelle, als es um die Begründung der natürlichen Gleichheit aller Menschen geht, diskutiert er die Seelenvertauschung zwischen einem Huronen und Montesquieu, in deren Folge dann der
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Huione Montesquieus Fähigkeiten hätte (ebd., S. 131, §. 771 u. ö.). Dieser Gedanke wurde von den Zeitgenossen überaus rege diskutiert (vgl. beispielsweise Edward Search, Das Licht der Natur 1/1 (1771), S. 421f. und Melchior Adam Weikard, Oer philosophische Arg. Einleitung %um qveyten Stücke (1775), [unpag.] S. VEU). Noch in den 80er Jahren findet sich ein satirischer Reflex darauf in Wezeis Kakerlak (1784). Darin überlegt die Hexe Schabernack einmal: »Der Körper eines massigen Philosophen und die Seele eines Trunkenbolds sind zwei Dinge, aus deren Zusammensetzung der vollkommenste Mensch entstehen kan: der Körper hält die Seele zurück, wenn sie mit ihren Begierden die Gränzen überschreiten will, und die Seele treibt den Körper an, wenn er in der Mässigkeit zu weit geht. Ein solcher Mensch wird sich also beständig im glücklichsten Gleichgewichte befinden, nie zu viel und nie zu wenig begehren, und folglich von keinem Vergnügen so viel kosten, dass er Überladung, Sättigung und Überdruss befürchten darf« (Wezel, Kakerlak (1984), S. 92). Davon abzugrenzen ist der Physiognomiediskurs, in dessen Verlauf auch Überlegungen angestellt werden, ob es denn mit Blick auf Newton und Leibniz möglich sei, »daß der eine von ihnen im Schädel eines Lappen die Theodicee erdacht, und der andere im Kopfe eines Labradoriers, der weiter nicht, als auf sechse zählen kann, und was drüber geht, unzählbar nennt, die Planeten gewogen und den Lichts trai gespaltet« haben könnte 0ohann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente [...]. Erster Versuch. Siebentes Fragment (1775), S. 46). Denn hierbei geht es nicht um das Verhältnis von Gehirn und Seele, sondern um die Korrelation seelischer Eigenschaften und körperlichen Ausdrucks, um die Beziehung von Innerem und Äußerem, von Sichtbarem und Unsichtbarem schlechthin (ebd., S. 44-46, 51; vgl. auch ders., Physiognomische Fragmente [...]. Vierter Versuch. Erstes Fragment (1778), S. 8f., 12; zur Auseinandersetzung zwischen Lavater und dem körperlich »mißgestalteten< Göttinger Professor für Physik, Mathematik und Astronomie Lichtenberg vgl. Schöne (31993), S. 7ff.). 186
(zu S. 199) Auch Johann Georg Sulzer (1720-1779) bezieht sich auf die von Jean-Baptiste Dubos (1670-1742) gegebene Geniedefinition. Er knüpft daneben auch noch unmittelbar an Leibniz an und versteht unter Genie die Gesamtheit der »intellektuellen Fähigkeiten der Seele ohne Ausnahme« (Sulzer, Entwickelung des Begriffs vom Genie (1773), S. 308). Zu diesen gehören insbesondere die Aufmerksamkeit, Reflexion und Einbildungskraft, der Witz, das Gedächtnis und das Urteilsvermögen. Genie ist dann das Vermögen, sich »aller intellektuellen Fähigkeiten der Seele mit Geschicklichkeit und Leichtigkeit zu bedienen« (ebd., S. 309). Man nennt es gemeinhin »Lebhaftigkeit des Geistes« (ebd., S. 310). Der Komplementärbegriff zum rationalistisch verstandenen >Genie< ist dann ganz zwangsläufig der der >DummheitGenie< und nngenium. Letzteres ist nicht das Genie selbst, sondern dessen Folge: es drückt die Begierde nach Gegenständen aus, die dem jeweiligen Genie entsprechen. Insofern kann der Begriff >Genie< nicht durch den des »ngeniumst substituiert werden. Das Verhältnis beider zueinander wird technomorph verstanden und läßt sich folgendermaßen charakterisieren: das Genie ist weder Neigung noch Leidenschaft; vielmehr gehört es der seelischen Struktur, dem »Temperament der Seele< zu. In Rücksicht auf die Erkenntniskräfte ist es eben das, was das Temperament bzw. der Humor in Beziehung auf das Begehrungsvermögen ist. Der moralische Charakter eines Menschen wird durch das Temperament, der intellektuelle durch das Genie bestimmt. Die durch die seelischen Strukturen Temperament und Genie modifizierten Kräfte bzw. Bewegungen sind die Begierden und Neigungen, also das, was Sulzer mit dem Begriff ungeniumi bezeichnet (ebd., S. 308-311). Ausdruck des mgenium. sind dann die einzelnen, oben schon benannten intellektuellen Fähigkeiten wie Aufmerksamkeit und Einbildungskraft etwa. - Es kann beim Menschen aber auch zu mehr oder weniger großen Diskrepanzen zwischen Struktur und Kraft der Seele kommen, beispielsweise dann, wenn die taugen seelischen Kräfte über alle Maßen stark sind, die strukturellen seelischen Voraussetzungen aber zu wünschen übrig lassen. »Solche Genies treibt ihr unglücklicher und unüberwindlicher Geschmack [...] zu Arbeiten, die über ihre Kräfte gehen« [richtigen »über ihr Genie gehen«] (ebd., S. 312). Woran ist dann aber ein ausgewogenes Verhältnis von Seelenkraft und -struktur ablesbar? Hierfür müssen die Seelenfähigkeiten als die Resultate der strukturmodifizierten Seelenkräfte in den Blick genommen werden: Aus ihrer Güte lassen sich Rückschlüsse auf das Verhältnis von Genie und Ingenium
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machen. Im allgemeinen lassen sich zumindest vier, die Güte des Genies determinierende Faktoren angeben: (1) der Witz bzw. Scharfsinn: er setzt sich aus zwei Komponenten zusammen, der Reflexion und der Einbildungskraft. Das Reflexionsvermögen gewährleistet die klare und deutliche Ideenentwicklung, die Einbildungskraft aber erinnert das Ahnliche und Unähnliche und die Verhältnisse der Dinge; (2) die Gründlichkeit des Urteils, um verglichene Sachen hinsichtlich ihrer verhältnismäßigen Ähnlichkeit angemessen gewichten zu können. Es ist die Voraussetzung {tir das (stilsichere) Maß von Einzelnem und Ganzem und ihrem Verhältnis zueinander, (3) die Gegenwart des Geistes (contenuti»). Sie verhilft zur nötigen Distanz, mäßigt, wenn nötig, die zu feurige Einbildungskraft und sichert der Aufmerksamkeit, eine dem frei agierenden Geist notwendige Beweglichkeit. Ihr verdankt das Genie insbesondere den Weitblick und damit die Zusammenschau des Ganzen; (4) die Stärke der Seele und des Körpers, die es dem Genie ermöglicht, die lang andauernden und mühseligen intellektuellen Strapazen durchzustehen und auszuhalten (ebd., S. 313-318). Besonders hervorhebenswert ist der Rückgriff auf die Maschinenmetapher zur Beantwortung der Frage, ob Genie etwas nur Naturgegebenes ist oder auch durch Erziehung und Bildung beeinflußt werden kann. »Zuerst ist es klar«, schreibt Sulzer, »daß der innere Grad der thätigen Kraft der Seele, der dem Genie zur Grundlage dient, einzig und allein ein Geschenk der Natur ist, das durchaus durch keine Übung erlangt werden kann: und wahrscheinlicher Weise hängt er größtentheils von der Beschaffenheit des Körpers ab. Es verhält sich mit der Kraft der Seele, wie mit den Kräften der Körper. Die Philosophen schreiben jedem Körper eine Bewegungskraft zu; diese ist aber nach der Stärke des Stoßes, den ein Körper bekommen hat, verschieden. Eben so empfindet und handelt auch die Seele nur nach Proportion der Eindrücke, die sie durch den Körper erhält; sind die Sinne stumpf, so ist auch ihre Wirkung nur schwach. Der lebhafteste Mensch kann in einen Zustand der Dummheit verfallen, wenn seine Sinne von irgend einer Ursache betäubt und benebelt werden« (ebd., S. 319). Die Passage ist vor allem auch deshalb aufschlußreich, weil sie zeigt, daß das Maschinenmodell die Möglichkeit bot, den genuin rationalistischen Geniebegriff empirisch zu modifizieren und ihn so historisch zu dimensionieren. 281
(zu S. 218) Platners Vorstellung vom Seelenoigan als eines ätherischen Organs, dessen geistiger Teil quasi der körperliche Leib der Seele ist und mit ihr als etwas Unzerstörbares in Ewigkeit verbunden bleibt, ist antiken Ursprungs. Man begegnet ihr bei Aristoteles (Aristot gen. an. 737a7), auch die Epikureer und Stoiker kennen eine solche; deutlicher ausgeprägt ist die Ansicht einer mit einem präexistierenden Lichdeib ausgestatteten Seele bei den Neuplatonikern (Plotin, Poiphyrios, Jamblichus, Syrian, Proklos). Auch Stahl, Bonnet und Leibniz, die philosophischen Präzeptoren Platners, knüpften daran an. Ausgehend von der Überzeugung, daß die menschliche Seele unsterblich ist und im wesentlichen auch beim Wechsel ihres Körpers immer ihre geistigen Fähigkeiten behält, machte sich die Notwendigkeit geltend, der Seele so etwas wie ein Gedächtnis beizulegen. Da ein solches nicht geistiger Natur sein konnte, mußte der Seele so etwas wie ein »Leib« beigesellt werden, der, wenn auch äußerst fein (äther-, licht- oder feuerähnlich), stofflich sein mußte (Bonnet, Analytischer Versuch 2 (1770), S. 115 § 738, S. 120 § 747). Dieser ist, Bonnet nennt ihn trotz seiner Stofflichkeit »geistlicher Leib«, dem »thierischen« entgegengesetzt (ebd., S. 120 § 747). In ihm befinden sich, so die metaphysische Annahme, ebensolche Spuren wie im Gehirn: »die Fibern in dem Sitze der Seele, welche mit den Empfindungsfibern im Zusammenhange stehn, [bekommen] gewisse Bestimmungen, in welchen der physicalische Grund des Gedächtnisses oder der Erinnerung liegt« (ebd., S. 117 § 740). Die Seele behält so die »Persönlichkeit«, das »Ich« des Menschen auch nach dem Tode (ebd., S. 117 § 742). Dieser Ätherleib dient Bonnet in der Patingenesie zugleich als Ausgangspunkt seiner Präformationstheorie. Der die Bestimmungen tragende Ätherleib wird so zum »organischen Punkt« (point organique) bzw. zum »Wiederherstellungskeim« {germe de restitution). Ganz analog zu dieser Vorstellung nennt er seine Zeugungs- und Vererbungslehre »System der Keime« {système des gemei). - Unter den Zeitgenossen wurde die Annahme eines oder mehrerer Seelenorgane und die Frage nach ihrem Wesen rege diskutiert >Seelenorgan< konnte dabei zumindest zweierlei heißen: einmal verstand man darunter, ganz aristotelisch, den gesamten Körper als Organismus (vgl. Michael Wagner, Vorrede (1794), S. XV; Johann Samuel Ith, Versuch einer Anthropologie 2 (1795), S. 129f., 177) bzw. in etwas eingeengter Verwendung die verschiedenen Sinne bzw. Sin-
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neswerkzeuge, die als Organe der Seele fungieren (insofern anerkannte man allgemein so etwas wie >SeelenorganeSeelenorgan< auch etwas Gemeinsames, das die Sinnesdaten zu bündeln in der Lage ist, sozusagen ein den besonderen Seelenoiganen übergeordnetes allgemeines Seelenorgan, ein sensorium communi (oft lokalisierte man es im Gehirn, »weil es als Organ des Denkens zu einem Vorzug der Art sich am besten qualifizirte« und weil durch dieses »Empfindung und willkürliche Bewegung möglich sind«, insofern es durch die Nerven mit den übrigen besonderen Seelenorganen in Verbindung steht (in: Anonymus, Über das Gehirn als Seeknorgan (1798), S. 105)). Obwohl sich viele dem empirischen Faktum der Assoziarion von Empfindungen und der suggestiven Schlüssigkeit ihrer philosophischen Ausdeutung beugten und rein spekulativ ein solches sensorium commune annahmen, beharrten anderseits viele auf dem Standpunkt, es handele sich dabei um nichts als eine Hypothese, die empirisch nicht zu rechtfertigen sei und keinesfalls Ausgangspunkt weiterer Spekulationen sein dürfe. Zu den letzteren ist auch Carl Christian Erhard Schmid (1761-1812) zu rechnen, der in einer Anmerkung zu dem soeben zitierten Aufsatz bemerkt, daß es sich bei dem »allgemeinen Seelenorgan« um etwas nur Erdichtetes, Hypothetisches handele: »Wo ist in der körperlichen Natur auch nur ein einziger analoger Fall von diesem, da nemlich gleichzeitige, durch verschiedene Ursachen bestimmte Bewegungen, sich in Zukunft associirten, sobald durch irgend eine Ursache eine dieser Bewegung ähnliche Bewegung erregt wurde? Wo in aller Körperweit ist ein solcher Mechanismus« (ebd., S. llOf.)? - Hinsichtlich der Beschaffenheit eines solchen »allgemeinen Seelenorgans< gab es vier zeitgenössische Vorstellungsarten: (1) das Seelenorgan ist prinzipiell in Ruhe, so daß die ihm beigebrachten äußeren Eindrücke in ihm als Spuren (»materielle Ideen1764], Ith, Johann Samuel, Versuch einer Anthropologie oder Philosophie des Menschen nach seinen körperlichen Anlagen [Sechs Bücher in zwei Teilen]. Erster/Zweyter Theil. Tendre à la perfection, sans jamais y prétendre. MALEBRANCHE, Bern: Emanuel Haller 1794/1795. Jadelot, Jean Nicolas, Physica hominis sani: seu explicado functionum corporis humani, Nanceii 1778 (dt.: Nikolaus Jadelot's Lehre von der Natur des gesunden menschlichen Körpers mit Anmerkungen und Vorrede von Johann Christian Starke. Aus den Lateinischen übersetzt von Johann Friedrich Christian Panzerbieter, Jena: C. H. Cuno's Erben 1783). Jaeger, Werner, Paideia Band 2, Berlin: Walter de Gruyter & Co. 1944. Jahnke, Jürgen, Psychologie im 18. Jahrhundert Literaturbericht 1980-1989, in: Die Aufklärung und ihr Körper. Beiträge zur Leibesgeschichte im 18. Jahrhundert, hg. Carsten Zelle, Marburg: Dr. Wolfram Hitzeroth-Verlag 1990, S. 253-278 (=Das achtzehnte Jahrhundert; 14). Jakob, Karlheinz, Maschine, Mentales Modell, Metapher. Studien zur Semantik und Geschichte der Techniksprache, Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1991 (=Reihe Germanistische Linguistik; 123). Jansen, Wolfgang, Das Groteske in der deutschen Literatur der Spätaufklärung. Ein Versuch über das Erzähhverk Johann Carl Wezeis, Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann 1980 (=Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik; 96). Jeschonnek, Rolf, Einleitung, in: Friedrich August Carus, Geschichte der Psychologie, Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften 1990, S. 11-45 (=Psychologie-Reprint). Jewanski, Jörg, Farbe-Ton-Beziehung, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, begründet von Friedrich Blume. Sachteil 3, hg. Ludwig Fischer, Kassel/London/New York/Prag: Bärenreiter-Verlag und Stuttgart/Weimar Metzler 21995, Sp. 354f. Joerger, TMo, Deutsche Lustspiele? - Wezel lesenl, in: Warum Wezel? Zum 250. Geburtstag eines Aufklärers, hg. Irene Boose, Heidelberg: Mattes Verlag 1997, S. 43-52. Joerger, Thilo, „Agathon, vier Fuß drey Zoll hoch, in der Gestalt eines Pagoden.", in: Schriften der Johann-Kad-Wezel Gesellschaft in Sondershausen e.V. Band 1, hg. Johann-Karl-Wezel Ge-
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