258 69 7MB
German Pages 215 [216] Year 2017
Ikonische Formprozesse
3 Image Wo rd Action
Imag0 Sermo Actio
Bild Wort Aktion
Editors Horst Bredekamp, David Freedberg, Marion Lauschke, Sabine Marienberg, and Jürgen Trabant
Ikonische Formprozesse Zur Philosophie des Unbestimmten in Bildern Herausgegeben von Marion Lauschke, Johanna Schiffler und Franz Engel
Publiziert mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Exzellenzclusters „Bild Wissen Gestaltung. Ein Interdisziplinäres Labor“ der Humboldt-Universität zu Berlin.
ISBN 978-3-11-053103-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-053327-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-053108-4 ISSN 2566-5138 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter De Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Hans Leinberger: Lukas Madonna, um 1515−1520, Bronze, Detail, © Barbara Herrenkind Schriftleitung: Marion Lauschke Reihengestaltung: Petra Florath, Berlin Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH Co. KG, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem Papier. Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt
VII
Marion Lauschke, Johanna Schiffler, Franz Engel
Ikonische Formprozesse – Einleitung
1 John Michael Krois
Philosophy and Iconology
29
Eva Schürmann
Embodied Perception Revisited On Merleau-Ponty, Kentridge and Turrell
45
Marion Lauschke
Ikonische Formprozesse und Affordanzen John Dewey und Paul Klee
63 Gottfried Boehm
Der Haushalt der Gefühle Form und Emotion
85
Kerstin Thomas
Das bestimmte Unbestimmte Formen der Emotion im Bild
101
Wolfgang Prinz
Fremde Bilder
123 Horst Bredekamp
Die Prägnanz der Form Hans Leinbergers Berliner Muttergottes als Philosophem
143
Claudia Blümle
Rhythmus im Bildraum
John Dewey, Henri Maldiney und Gilles Deleuze
163
Viola Nordsieck
Rhythmus als Form der Dauer Zu Form und Formbildung im Denken Henri Bergsons
185
Oswald Schwemmer
Form als Prozess Whiteheads Konzept einer prozesstheoretischen Metaphysik
197 Bildnachweise
Marion Lauschke, Johanna Schiffler, Franz Engel
Ikonische Formprozesse – Einleitung
Eine dem Bildhauer und Architekten Gian Lorenzo Bernini (1598–1680) zugeschriebene Zeichnung des Berliner Kupferstichkabinetts zeigt eine mediterrane Küstenlandschaft bei Sonnenaufgang (Bild 1). Von rechts her zieht eine Wolkenmasse auf, hinter der im linken Bereich des Hintergrunds Sonnenstrahlen hindurchbrechen.
Bild 1 Gian Lorenzo Bernini: Meeresküste mit Sonnenaufgang, vor 1638, Feder und Pinsel in Braun, laviert, 30 × 28 cm, Berlin, Kupferstichkabinett, KdZ 15200.
VIII
Marion Lauschke, Johanna Schiffler, Franz Engel
Nah am Ufer stehend, sieht der Betrachter rechts und links steile Felsen ins Meer stürzen und den Abglanz der Sonnenstrahlen auf der Wasserfläche auf sich zulaufen. Es wird schnell deutlich, dass die Inhaltsangabe dem komplexen Formgeschehen dieses mit Feder und Pinsel in brauner Tinte gestalteten Blattes kaum auf die Spur zu kommen vermag. Man vermutete, dass es sich bei dem Blatt um das Modell für die Szenographie der von Bernini verfassten Komödie La Marina handeln könnte.1 Zum ersten Mal in der Theatergeschichte sollte mittels komplizierter Bühnenmechanik ein Sonnenaufgang simuliert werden.2 Aber auch diese Erklärung wird der Kraft, die die Zeichnung ausstrahlt, nicht gerecht. Seien es wie auf diesem Blatt diaphan porös oder satt nass lavierte Partien, Federzüge, die als Kontur ihrer Darstellungspflicht nur teilweise nachkommen oder als Schraffur Verschattungen suggerieren: Jede Zeichnung hat mit dem Paradox zu kämpfen, dass die Erzeugung von Licht nur unter der Bedingung der Verdunklung des ursprünglich lichten Blattgrundes zu erreichen ist. In einem geradezu metaphysischen Akt erklärt Bernini dieses Grundparadox zum Gegenstand der Zeichnung, indem er dem Zeichnungsgrund nicht nur Mitspracherecht, sondern Verfügungsgewalt über das Darstellungsgeschehen erteilt. Der formlose weiße Grund wird zum immerwährenden Glühen der Sonne. So wie sich die Erde als notwendig verdunkelnde und damit Leben ermöglichende Größe zwischen den Menschen und die alles erleuchtende Sonne schiebt, so tränkt und trübt sich dieses Blatt mit gleichsam welterzeugender Aquarellfarbe. Allerdings gilt die Gleichung von Zeichnungsgrund und dem Leuchten der Sonne nicht uneingeschränkt. Der Grund ist auch der Reflex der Sonnenstrahlen auf dem Wasser und den Felssteinen. Aber gerade dort, wo sich die Modalität des Grundes entscheiden und durch eine klare Trennlinie Himmel und Fels gegeneinander abgegrenzt werden sollte, vermischen sich durchscheinende Strahlen mit abstrahlenden Reflexen, die Felsen entmaterialisieren sich, erleichtern sich in ornamentalem Spiel in die Fläche und werden einvernehmlich vom lichten Grund durchglüht. Selbst die Horizontlinie als Garant maritimer Tiefenwirkung entweicht in die Fläche des Grundes, wenn Wasser und Luft in der Mitte des Blattes sich vermischen, die Horizontlinie, dergestalt dem materiellen Transformationsprozess überantwortet, diffundiert und dem Betrachter entgegendampft. Ein Blatt wie dieses lässt sich vermutlich niemals durch kunstgeschichtliche Deutungen stillstellen. Vielmehr vermittelt es im dynamischen Farbauftrag, der die 1
2
Heinrich Brauer/Rudolf Wittkower: Die Zeichnungen des Gianlorenzo Bernini, 2 Bde., Berlin 1931, Bd. 1, S. 33f., Abb. Bd. 2, Taf. 15; Das Berliner Kupferstichkabinett. Ein Handbuch zur Sammlung, hg. v. Alexander Dückers, Berlin 1994, S. 280, Kat.-Nr. V.41 (Heinrich Schulze Altcappenberg). Leila Zammar: Gian Lorenzo Bernini: A Hypothesis About His Machine of the Rising Sun, in: Erica Facciolo (Hg): La dimensione del tragico nella cultura moderna e contemporanea, Rom 2014, S. 233–252.
IX
Ikonische Formprozesse – Einleitung
Übergänge zwischen Figur und Grund als Zonen des Unbestimmten charakterisiert, eine Erfahrung des Lichts als eine durchdringende Qualität. Der gestaltete setzt einen die Erfahrung gestaltenden Formprozess in Gang. Dieser lässt sich mit dem Bild der Meeresbrandung beschreiben, die abhängig ist von den Gegebenheiten der Umwelt, gleichzeitig aber ihrerseits die Umwelt formt. Mit dem in diesem Band geprägten relationalen Begriff der „ikonischen Formprozesse“ sei die sinnliche Erfahrung von Bildern bezeichnet, in der die unbestimmte stoffliche Fülle mit der auch den Prozess der Wahrnehmung einschließenden Aufmerksamkeit des Betrachters konvergiert. Aus ihr kann eine Figuration hervorgehen, die wiederum in jene Erfahrung des Unbestimmten umschlagen kann. Sie bietet dem sprachlichen Zugriff einen unauflöslichen und zugleich produktiven Widerstand.
2. Der vorliegende Band geht auf eine Tagung des von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Forschungsprojektes „Ikonische Formprozesse. Ein ‚missing link‘ zwischen Natur- und Kulturtheorie“ zurück, die im Februar 2015 an der Humboldt-Universität zu Berlin veranstaltet wurde. Der Titel dieser Tagung lautete „Rückgang ins Unbestimmte. Zur Kontinuität ikonischer Formprozesse“. Er war einer Übersetzung von John Deweys Art as Experience entnommen, einer 1934 erschienenen Vorlesung des amerikanischen Philosophen: Bei jedem bestimmten und zentrierten Objekt gibt es einen Rückgang ins Unbestimmte, der nicht rational begriffen wird. Beim Nachdenken nennen wir es schimmernd und vage. Doch in ursprünglicher Erfahrung wird es nicht als etwas Vages ausgemacht. Es ist eine Funktion der ganzen Situation, nicht ein einzelnes Element in ihr, als was es aber gelten müßte, wenn es als ein Vages gefaßt werden soll. In der Dämmerung ist das Halbdunkel eine wunderbare Qualität der ganzen Welt.3
3
John Dewey: Kunst als Erfahrung, übers. v. Christa Velten, Gerhard vom Hofe, Dieter Sulzer, Frankfurt/M. 1988, S. 225; engl. The Later Works, 1925–1953, Volume 10: 1934, Art as Experience, hg. v. Jo Ann Boydston, Carbondale/Edwardsville 1989, S. 198: „About every explicit and focal object there is a recession into the implicit which is not intellectually grasped. In reflection we call it dim and vague. But in the original experience it is not identified as the vague. It is a function of the whole situation, and not an element in it, as it would have to be in order to be apprehended as vague. At twilight, dusk is a delightful quality of the whole world.“
X
Marion Lauschke, Johanna Schiffler, Franz Engel
In dieser Passage wird deutlich, dass der „Rückgang ins Unbestimmte“ nicht zu nebulösen Feldern philosophischen Raunens führt. Er ist im Gegenteil als ein Appell zu verstehen, den Blick unter der Bedingung einer Entfokussierung für das Ganze zu schärfen. In nuce finden sich hier die Stichworte aufgeführt, die für die Frage, was unter „ikonischen Formprozessen“ zu verstehen ist, von Bedeutung sind. Für Dewey galt es als ausgemacht, dass, wann immer von Form die Rede ist, eine mit dieser verknüpften Vorstellung eines starren, nach außen hin gestalthaft abgegrenzten Gegenstandes ein unzureichendes Bild dessen ergibt, wie Form erfahren wird und wie sie sich in der Erfahrung überhaupt erst ereignet. Nur so konnte „[d]urch eine jener ironischen Verkehrungen, die im Gange der Geschehnisse des öfteren in Erscheinung treten, […] die Existenz der Kunstwerke, von der die Bildung einer ästhetischen Theorie abhängig ist, zur Behinderung einer Theorie über sie“ werden.4 Die in prozesstheoretischer Sicht ebenso anfechtbare wie eingängige Unterscheidung zwischen Kunstobjekten als den materiellen Substraten, die als Farbe auf Leinwand oder gekneteter Ton den Kunstwerken, die erst in der Erfahrung ihre Werktätigkeit verrichten, inhärent sind, war für Dewey die Voraussetzung, die Unzulänglichkeit des substanziellen Formbegriffs gegenüber dem relationalen unter Beweis zu stellen. Kunst ist Dewey zufolge eine im Intensitätsgrad gesteigerte Form alltäglicher Erfahrung. Das Ganze einer ikonischen Situation, die in den Blick genommen werden muss, will man Kunstwerke im Sinne Deweys relational verstehen, ist nicht allein die Summe der Elemente Rezipient, Kunstobjekt und der raumzeitlichen Bedingungen, unter denen beide zusammenfinden. In der zitierten Passage spielt Dewey mit dem Bild des Halbdunkels als einer wunderbaren Qualität der ganzen Welt auf eine Begrifflichkeit an, die er an anderer Stelle als die „alles durchdringende Qualität“ bezeichnet.5 Kunstobjekte oder auch Objekte sprachlicher Aussagen mögen Entitäten suggerieren, welche selbst einen vollständigen intellektuellen Gehalt hätten, sie sind aber nur Elemente im komplexen Ganzen einer Situation. Die Situation wird in den wenigsten Analysen explizit gemacht, obgleich durch sie die Termini des Denkens bestimmt werden. Mit dem Mittel der Intensitätssteigerung vermögen Künstler kraft ihrer Werke zu zeigen, dass nichts gegeben ist, das nicht durchdrungen ist von einer durchgängigen Qualität. Mit „Unbestimmtheit“ ist in diesem Sinne keine logische Mangelerscheinung bezeichnet. „Unbestimmtheit“ ist das Kennzeichen eines prozessualen Denkens, in dem der Wechsel von Bestimmungsversuchen und der Einsicht in die Unerschöpflichkeit des Gegenstandes aktiv wird. Der vorliegende Band versammelt Beiträge unterschiedlicher Disziplinen zur Frage nach dem Wirken bildnerischer Gestaltung in der Erfahrung. Er widmet sich 4 5
Dewey: Kunst als Erfahrung (wie Anm. 3), S. 9. Vgl. John Dewey: Qualitatives Denken [1930], in: ders.: Philosophie und Zivilisation, übers. v. Martin Suhr, Frankfurt/M. 2003, S. 94–116, S. 96f.
XI
Ikonische Formprozesse – Einleitung
damit einem Thema, dessen Aktualität auch durch die Überlegungen weiterer Forschungsverbünde von Kunst- und Bildgeschichte mit Ästhetik, Bildtheorie und Philo sophie belegt ist, die einen prozessualen Begriff ikonischer Formen verfolgen.6 Die aktuelle theoretische Reflexion hat historische Wurzeln, auf die die Beiträge dieses Bandes etwa mit John Dewey, Henri Bergson, Henri Maldiney, Maurice MerleauPonty und Alfred North Whitehead nur exemplarisch verweisen können. Der Schwierigkeit, „ikonischen Formprozessen“ methodisch auf die Spur zu kommen, sucht dieser Band in der formanalytischen Beschreibung konkreter Kunstwerke wie jener von Paul Klee, Hans Leinberger oder Peter Paul Rubens zu begegnen. Eine Erfahrung kann als Erfahrung – als unmittelbarer Umweltbezug – nicht zugänglich gemacht, sondern nur in ihren Vermittlungsformen adressiert werden. Somit wird auf die kulturelle und historische Prägung dieser pluralen Konzeptionen verwiesen, die jedes dynamische, relationale und prozessuale Verständnis der Form voraussetzt. Die hiermit angeregte Reflexion ikonischer Formprozesse kann zu einem umfassenden Verständnis bildnerischer Werke nur im Kontakt mit ihrer historischen Erforschung in der Kunst- und Bildgeschichte beitragen. Die hier erreichten Differenzierungen dürfen nicht außer Acht gelassen werden.7 Dennoch unternimmt der vorliegende Band den Versuch, die aufgeworfenen Fragen im Sinne einer „Philosophie des Unbestimmten in Bildern“ nochmals ins Unbestimmte zurückzulenken als jener Qualität,8 die einer sprachlichen Reduktion widersteht und das Verstehen in einen Prozess mit offenem Ende verwandelt. Wie kann also das Unbestimmte in Bildern erfasst werden, ohne wiederum den anschaulichen Gehalt des Bildes mittels einer sprachlichen Übersetzung zu reduzieren und es einem allgemeinen Logozentrismus zu unterwerfen? Und welche 6
7
8
Etwa das Forschungsprojekt zur „Visuellen Zeitgestaltung“ oder jenes zu „Bildakt und Körperwissen“ im „Interdisziplinären Labor Bild Wissen Gestaltung“ des Hermann von HelmholtzZentrum für Kulturtechnik der Humboldt-Universität zu Berlin oder das Forschungsprojekt an der Universität Bielefeld „Bildzeit und Bildrhythmen“. Eine kunstwissenschaftliche Denkfigur und ihre rezeptionsästhetischen Implikationen, im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms „Ästhetische Eigenzeiten. Zeit und Darstellung in der polychronen Moderne“. Auch die Forschungen von „eikones“, Universität Basel, beschäftigen sich mit Fragen der Formbildung: So erscheint aktuell der Band: Markus Klammer/Malika Maskarinec/Ralph Ubl/Rahel Villinger (Hg.): Formbildung und Formbegriff. Das Formdenken der Moderne, München 2017. So widmet sich die jüngere Kunst- und Bildgeschichte verstärkt der Materialität, dem interkulturellen Austausch, der historischen Prägung von Praktiken der Produktion und Rezeption sowie den medienspezifischen Strategien im Sinne einer bildnerischen Rhetorik und unterläuft in verschiedenerlei Weise die Dichotomien von Form und Gehalt, Ästhetik und Geschichte. Gottfried Boehm: Unbestimmtheit. Zur Logik des Bildes, in: ders.: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007; Gerhard Gamm/Eva Schürmann (Hg.): Das unendliche Kunstwerk. Von der Bestimmtheit des Unbestimmten in der ästhetischen Erfahrung, Berlin 2007.
XII
Marion Lauschke, Johanna Schiffler, Franz Engel
Konzeptionen des Formwerdens in der Erfahrung können zu einem Bildverständnis beitragen, das sich aus der sinnlichen Situation vor Bildern entwickelt? Die in diesem Band versammelten Zugänge reichen von der Analyse der spezifischen Körperlichkeit und Situiertheit der Erfahrung (Krois, Lauschke, Schürmann) über die affektive Wirkung (Thomas, Boehm) zur produktiven Störung (Bredekamp, Prinz) und zur Untersuchung von Zeitlichkeit, Rhythmus und Prozess (Blümle, Nordsieck, Schwemmer). Mit den Beiträgen aus Kunstgeschichte, Philosophie und Wahrnehmungspsychologie verbinden sich ganz unterschiedliche Perspektiven auf Bilder, die jedoch gemeinsam eine Bestimmung der sinnlichen Situation als „ikonischen Formprozess“, als ein Werden der Form in der zeitlich und räumlich erstreckten Erfahrung verfolgen.
3. In dem nachgelassenen Text „Philosophy and Iconology“ von ca. 2005, der den Band eröffnet, entwirft John Michael Krois (1943–2010) die Grundzüge einer philosophischen Ikonologie. Auf diesen Versuch, die Ikonizität des Denkens herauszustellen, geht das Projekt „Ikonische Formprozesse. Ein ‚missing link‘ zwischen Natur- und Kulturtheorie zurück.“ Krois grenzt seinen Entwurf einer philosophischen Ikonologie von der überlie ferten Ikonologie als kunsthistorischer Methode zur Interpretation von Bildern ab und bestimmt die ikonische Form als eine Form der Wahrnehmung. Er stellt in diesem programmatischen Text Denker vor, in deren Theorien ikonische Formen des Denkens, wenngleich nicht unbedingt in dieser Bezeichnung, eine besondere Bedeutung haben: Panofsky hat dem Präikonographischen als vitaler Schicht der Erfahrung eine Bedeutung für die Interpretation von Kunstwerken eingeräumt. Cassirer konzipiert mit der Ausdrucksfunktion der Wahrnehmung einen Aspekt der Wahrnehmung, in dem sich Bedeutungen verkörpern, ohne in die Bestimmung von Gegenständen zu münden. Unter Bezugnahme auf Gottfried Boehm und Paul Klee wendet Krois sich gegen die überkommene Ansicht, Bilder würden Abbilder der Wirklichkeit bereitstellen. Mit John Kennedy entkoppelt er Bildlichkeit von dem Gesichtssinn, um das Ikonische als eine Form des Denkens zu gewinnen, die er an das durch das Körperschema vermittelte implizite Wissen um die Lage des eigenen Körpers im Raum zurückbindet. Durch die Fähigkeit, Bilder zu verstehen, die auf basale Orientierungsprozesse zurückgeht, unterscheidet sich menschliche Intelligenz von artifizieller Intelligenz, und aus diesem Grund ist es Krois zufolge notwendig, Philosophie und Ikonologie engzuführen. Doch dies ist nicht die einzige Motivation zur Entwicklung einer philosophischen Ikonologie. Bilder haben kulturelle Funktionen, deren Analyse Krois sich
XIII
Ikonische Formprozesse – Einleitung
widmet. Durch ihre Vagheit können Bilder – er bezieht sich hierin auf Whiteheads Konzeption von „social imagery“ – handlungsorientierende Funktionen übernehmen. Von zentraler Bedeutung für diesen Band sind die Charakteristika ikonischer Formen, die Krois vorstellt: Ikonische Formen folgen keiner binären Logik, sondern sind kontinuierlich. Ihre Bedeutung lässt sich nicht aus semantischen Untereinheiten zusammensetzen. Besonders deutlich wird dies an der Expressivität ikonischer Formen, wie Krois am Beispiel der Linie zeigt: „In order to describe the expressive aspects of lines it is necessary to regard an object in temporal terms, tracing its shape, and feeling the effects of its color, over time, no matter how brief.“9 Die Wahrnehmung ikonischer Formen ist prozessual. Mit dem Beitrag von Eva Schürmann wird einem Autor Gehör verschafft, dessen Denken in den Kern ikonischer Formprozesse zielt: Maurice Merleau-Ponty. Als ein früher Verfechter verkörperten Denkens hat Merleau-Ponty deutlich gemacht, dass jegliche Sinnstiftung mit einer Verschränkung von Subjekt und Objekt, dem Berühren und zugleich Berührtwerden einhergeht. Ikonischer Sinn generiert und transformiert sich nicht nach Maßgabe eines diskreten Gegenstandes; seine Formwerdung leitet sich vielmehr aus dem Zusammenwirken verschiedener Quellen her. Die sich ständig wandelnde und bei jedem Individuum unterschiedliche Leiblichkeit sowie die spezifische Situiertheit von Wahrnehmenden und Wahrgenommenen machen aus dem Formgeschehen eine fragile, kaum fixierbare Angelegenheit. Das Ausdrucksgeschehen in Kunstwerken, das Schürmann anhand ausgewählter Beispiele von William Kentridge und James Turrell analysiert, kann als Selbstreferenz auf die ikonische Sinnspezifizität gelten. Marion Lauschke versucht in ihrem Beitrag die Spezifika ikonischer Formprozesse mithilfe von John Deweys Konzeption des „qualitativem Denkens“ zu fassen. Das qualitative Denken Deweys ist eine noch unartikulierte Form des Denkens, der eine sinnlich wahrnehmbare Gesamtqualität eignet. Bilder sind, so Lauschkes These, „in besonderem Maße geeignet, die Verbindung mit dem qualitativen Entstehungsgrund sichtbar werden zu lassen“.10 Das Ikonische erweist sich als eine „semantische Übergangsform, welche die Dichotomie von Bestimmtheit und Unbestimmtheit infrage stellt“.11 Durch die Betrachtung des Bildes „Bedrohung und Flucht“ von Paul Klee wird die Begriffsbestimmung des „ikonischen Formprozesses“ konkretisiert. Dabei wird deutlich, dass dieser von dem in der Strukturierung des Papiers sichtbaren Herstellungsprozess der materiellen Grundlage des Bildes bis zu den Wahrnehmungsprozessen des Betrachters reicht. Der Begriff, so fasst Lauschke zusammen, „bezeichnet 9 10 11
Siehe in diesem Band, S. 23. Siehe in diesem Band, S. 47. Siehe in diesem Band, S. 49.
XIV
Marion Lauschke, Johanna Schiffler, Franz Engel
die dynamische Verlaufsform, in der Bilder durch Interaktion mit dem Betrachter emergieren und ihren spezifischen ausgedehnten performativen Sinn erhalten“.12 Im letzten Schritt des Textes wird die Verbindung der Argumentation mit dem Enaktivismus deutlich. Dafür prägt Lauschke den Begriff „ikonischer Affordanz“, mit dem sich der relationale Charakter des ikonischen Formprozesses markieren lässt. Gottfried Boehm fragt nach der emotionalen Wirksamkeit von Kunstwerken und bindet die Diskussion der Affekterzeugung an die antike Rhetorik, mit der die leibhafte Emotionalität des Ausdrucks als gestische Bewegung des Körpers verstanden wird. Während Warburg mit den Pathosformeln insbesondere extreme Affektdarstellungen, die an den körperlichen Ausdruck ihrer Protagonisten gebunden sind, thematisiert, widmet sich Boehm jenen gleitenden Übergängen des Emotionalen, die in „winzigen Nuancen an der Grenze der Sichtbarkeit“ ihre Wirkung entfalten. Diesen schreibt er eine spezifische Leibhaftigkeit zu, die er im Anschluss an Husserl als Bewegung auffasst, in der jeder Bezug zur Umwelt erst hergestellt wird und in der sich Objekt und Subjekt verschränken. Befindlichkeit (Heidegger), Stimmung oder Atmosphäre sind Begriffe, mit denen jener situative, d. h. körperliche und affektive Bezug zur Welt aufgerufen wird. Mit Bezug auf Bilder, wie die stimmungsvollen Landschaften Jan von Goyens und Rubens Aktporträt seiner Frau Hélène Fourment, richtet Boehm den Blick auf das ganze System der Darstellung und fragt dabei nach jenem Substrat, aus dem sich Form, Emotion und Sinn zugleich entfalten lassen. Schließlich beschreibt er die Form des Lichtes als Kontrastphänomen in Bildern, aus dem Darstellung und Dargestelltes gleichermaßen hervorgehen. Diese Form des Lichtes „erscheint als Bedingung und als Bedingtes, als das was ins Licht stellt und zugleich als das andere, das im Licht steht“.13 In der Feinkörnigkeit, Stimmung oder Diffusion des Lichts, das eine Dynamik zwischen Formwerdung und Formentzug entfaltet, konvergiert es mit der Emotion. In ihrem Versuch einer Bestimmung des Verhältnisses von Form und Emotion in Bildern kritisiert Kerstin Thomas ein zu stark an eine personale Autorschaft gebundenes Verständnis von Emotion, mit der eine Fixierung auf eine bestimmte, vom Künstler intendierte Bedeutung einhergehe. Stattdessen müsse der oftmals vieldeutige emotionale Ausdruck eines Kunstwerks als kommunikatives Ausdrucksgeschehen gefasst werden. Dabei folgt Thomas Meyer Schapiros Bildanalysen von Van Goghs Gemälde eines Stuhls. Schapiro versteht mit Gabriel Tarde das Gefühl als sowohl psychisches als auch körperliches Ereignis zwischen Subjekt und Objekt. Dem Kunstwerk wird in diesem Modell ein prozessualer und relationaler Charakter zugestanden, denn auch der Betrachter habe „als aktiver Faktor des affektiven Regimes der
12 13
Siehe in diesem Band, S. 53. Siehe in diesem Band, S. 81.
XV
Ikonische Formprozesse – Einleitung
Bilder“14 zu gelten. Jedoch nicht unmittelbar, sondern im Sinne eines Ausdrucksgeschehens, im prozessualen Zusammenhang von Imagination und affektiver Be rührung. Der emotionale Ausdruck liegt demnach nicht in einem reflexhaften und historisch konstanten Verhältnis von Form und Betrachter, wie es die Empathietheorie vorschlägt, sondern im Akt der Rezeption, in den die Imagination hineinwirkt. Er ist also weder intentional noch als Projektion zu verstehen. Die Intensität der emotionalen Wirkung von Bildern erklärt sich daher in der unbestimmten Offenheit der Form, welche die Imaginationen des Betrachters auslöst und als Zeichen einer „unendlichen Unabgeschlossenheit der vielfältigen Beziehungen zwischen Objekten, Material, Künstler, Bild und Betrachter“15 zu gelten hat. Wolfgang Prinz blickt auf ikonische Formprozesse aus der Perspektive der biologisch und psychologisch grundierten Wahrnehmungstheorie und fragt nach dem Unterschied zwischen der Wahrnehmung von Bildern und der Wahrnehmung von Dingen und Ereignissen, die keine Bilder sind. Prinz zufolge ist es vor allem die Fähigkeit der Beobachter, durch Interaktion mit der Umwelt zu bestimmen, was sie zu sehen bekommen. Dadurch kommt es zu einer Überlagerung der Eigendynamik des Beobachters, deren Einfluss auf die Wahrnehmung dem Beobachter in der Regel nicht bekannt ist, und der Dynamik des Beobachteten. Dass unsere Wahrnehmung uns dennoch adäquate Informationen über die Außenwelt liefert, liege an der distalen Fokussierung der Wahrnehmung, welche die Eigendynamik auszublenden hilft. Bei der Wahrnehmung von in Bildern dargestellten Szenen liegt der Fall Prinz zufolge anders, denn hier werden die Möglichkeiten des Beobachters, in Interaktion zu treten und das Beobachtete zu beeinflussen, stark reduziert. „Sobald [...] eine Beobachterin auf ein Bild blickt, sind Enteignung und Verfremdung für das, was sie zu sehen bekommt, unausweichlich.“16 Horst Bredekamps Analyse der ebenso eindrucksvollen wie verstörenden bronzenen Berliner Muttergottes von Hans Leinberger, die seit 1882 im Bode-Museum aufbewahrt wird, aber auch schon in den Jahrhunderten zuvor öffentlich ausgestellt war, hat in vielerlei Hinsicht exemplarischen Charakter, vor allem als Versuch einer Begriffsbestimmung in Gegenwart eines hoch komplexen Formgeschehens. Bredekamp verfolgt in seiner Beschreibung den von John Michael Krois begründeten An spruch an die philosophische Ikonologie, nicht bereits vor der Formanalyse entwickelte Philosopheme auf die Kunstwerke zu applizieren (und sie dadurch zu austauschbaren Exempla philosophischer Bestimmungen zu machen), sondern durch die Formanalyse überhaupt erst zu gewinnen. Als Fehlguss hätte die Bronzeskulptur die Zeiten eigentlich nicht überdauern dürfen. Doch waren es gerade die 14 15 16
Siehe in diesem Band, S. 97. Siehe in diesem Band, S. 100. Siehe in diesem Band, S. 118.
XVI
Marion Lauschke, Johanna Schiffler, Franz Engel
durch den Zufall herbeigeführten Störungen, Fehlstellen, Risse und Unebenheiten der Oberfläche, die zu einer Steigerung der Formprägnanz führte und als Movens für die uneingeschränkte Würdigung durch die Nachwelt wirkte. Claudia Blümle erweitert die Diskussion über ikonische Formprozesse um die Dimension des Rhythmus und stellt mit Dewey, Maldiney und Deleuze drei verschiedene Fassungen eines ästhetischen Rhythmus vor, deren Bezüge untereinander sie nachzeichnet. Im Rhythmus, so legt es die Referenz zu diesen Autoren nahe, erhält die ikonische Form eine raumzeitliche Struktur, die einen ästhetischen Bezug zur Welt erst ermöglicht. Dewey versteht Blümle zufolge den Rhythmus als allgemeines Daseinsschema, das aus der Interaktion von Körper und Umwelt hervorgeht. Blümle zeigt, dass Dewey sein Verständnis vom Rhythmus – als Bedingung der Form in der Erfah rung – im Studium der Kunstwerke und Alltagsgegenstände aus der Sammlung von Alfred Barnes und mit Bezug zu Erkenntnissen der Gestaltpsychologie entwickelt. So entdeckt Dewey im Vergleich der Malereien Renoirs und Whistlers relationale Gefüge sowohl im Detail der Faktur als auch in der Gesamtkomposition des Bildes. Diese dynamischen Kontrastverhältnisse konstituieren den ästhetischen Rhythmus im Bereich der Kunst, aber auch in der alltäglichen Erfahrung. Henry Maldiney entwickelt seine „Ästhetik der Rhythmen“ in Bezug auf die bildende Kunst und richtet seinen Blick dabei auf die generische Dimension der künstlerischen Form. Die rhythmische Organisation der sinnlichen Mannigfaltigkeit tritt in ihr als Akt des Form-Werdens in Erscheinung. Die Bewegung zwischen Erscheinen und Verschwinden, zwischen Chaos und Ordnung stellt hier den Rhythmus dar. Deleuze wiederum fasst das instabile Verhältnis von Form und chaotischen Farbflecken als Rhythmus. Im Gemälde zeigt sich eine doppelte Bewegung zwischen Figur und deren Auflösung, aus der jener Rhythmus hervorgeht. Viola Nordsieck bestimmt die sinnliche Wahrnehmung mit Henri Bergson als ein „Kontinuum der Formbildung“17 und profiliert Bergson als einen Denker des Konkreten, dessen Reflexion „nicht in der zweiwertigen Logik von Setzung und Negation, von Sein und Nichts verbleibt“.18 Den „ikonischen Formprozessen“, in diesem Fall: dem Denken des Konkreten, nähert sich Nordsieck über den Bergson’schen Versuch, die Übergänge des Bestimmten aus dem Unbestimmten zu denken. Dem Begriff des Rhythmus kommt in den Überlegungen Nordsiecks eine zentrale Rolle zu, denn durch Rhythmus entstehe im Formlosen eine prozessuale Ordnung, bei der die Rhythmen des wahrnehmenden Bewusstseins auf die Rhythmen des Wahrgenommenen treffen und in einen Rhythmus des Denkens münden. Eine Gegenüberstellung eines aktiven Subjekts und eines passiven Objekts findet 17 18
Siehe in diesem Band, S. 174. Siehe in diesem Band, S. 165.
XVII Ikonische Formprozesse – Einleitung
dabei nicht statt, sondern eine Einfühlung bzw. entrainment. „Durch das Nacherleben von Rhythmen“, schließt die Autorin, „ermöglicht die Intuition letztlich das Denken“.19 Den Abschluss des Bandes bildet Oswalt Schwemmers Versuch, Alfred North Whiteheads Entwurf einer prozesstheoretischen Metaphysik in einer knappen Darstellung zu erfassen. Whitehead entwickelt ein holistisches Modell, das die Einheit von Kausal- und Sinnverhältnissen voraussetzt, und behauptet, dass in ihm kein strenger Determinismus herrscht, da es andernfalls keinen Raum für kreative Prozesse gebe. Die Wirklichkeit beschreibt Whitehead als ein sich selbst verknüpfendes Ensemble von Geschehnissen, die nicht das Produkt einzelner Kausalketten sind, sondern Ausdruck eines Teil-Ganzen-Verhältnisses des Hier und Jetzt zur Gesamtheit der vergangenen Prozesse. Für die Konzeption ikonischer Formprozesse wird Whiteheads Ansatz dort interessant, wo er sich der Frage des Schöpferischen im Erleben widmet. Denn für Whitehead spielt die reine Erkenntnis gegenüber dem emotional und in der Begegnung von Körpern sich einstellenden Erleben eine vergleichsweise untergeordnete Rolle. Das Schöpferische dieser Welt ergibt sich aus Emotionsschwingungen von Geschehnissen, die affektiver, im Extremfall abstrakter Natur sein können. Dieses Schwingen zwischen Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit gilt in besonderem Maße für ikonische Formprozesse.
4. Die Herausgeber bedanken sich bei Hanna Fiegenbaum, Amelie Ochs, Patrizia Unger, Frederik Wellmann und Friederike Wode für die Hilfe bei der Korrektur der Texte und der Bildbeschaffung. Bei Sascha Freyberg und Viola Nordsieck für die Mitwirkung bei der Fertigstellung des Textes von Oswald Schwemmer. Bei Sascha Freyberg darüber hinaus für die Erstellung der ersten Fassung des hier erstmals aus dem Nachlass edierten Textes von John Michael Krois. Bei Barbara Herrenkind für die Bereitstellung der Fotografien der Berliner Muttergottes von Hans Leinberger, deren Knie das Cover ziert. Bei Petra Florath für die wie immer wundervoll gelungene Gestaltung des Bandes sowie bei Anja Weisenseel und Katja Richter vom De Gruyter Verlag. Für die Förderung des Projektes „Ikonische Formprozesse“ sei der Fritz Thyssen Stiftung und für die finanzielle Unterstützung bei der Drucklegung des Bandes dem Exzellenzcluster „Bild Wissen Gestaltung“ der Humboldt-Universität zu Berlin gedankt.
19
Siehe in diesem Band, S. 182.
John Michael Krois
Philosophy and Iconology
1. Theoretical Conceptions of Iconology What have Philosophy and Iconology to do with one another? This question can be regarded historically or theoretically. Taken historically, the question is: In what ways have philosophers worked in conjunction with those who sought to develop and apply iconology? Here “iconology” refers to an existing discipline: a method employed by art historians for the purpose of explicating the general meanings of pictorial art. Iconology treats pictures as visual symbols whose general historical significance can be “read” or brought to light by the art historian familiar with the political and cultural history of the time when a picture was made. Erwin Panofsky is most often mentioned as the representative practicioner of this method. Regarded theoretically, the question “What have Philosophy and Iconology to do with one another?” is not limited to existing programs either of philosophy or of iconology, the point being rather to determine how the two could bear on one another. Under this interpretation, we are not compelled to limit our attention to images in the field of art or to art history.1 Why raise such a theoretical question? Here we might borrow the title of Ian Hacking’s 1975 book Why Does Language Matter to Philosophy? and ask: “Why does Imagery Matter to Philosophy?”2 First, a terminological comment: In the following, the words “image” and “icon” are used synonymously in the widest possible sense to refer to manufactured “pictures” and other visual displays as well as to socalled mental and perceptual “images.” Imagery is taken to be a cultural and a natural
1 2
The founder of modern iconology, Aby Warburg, did not limit it to art, but called his field of study “image history” in contrast to “art history.” Ian Hacking: Why Does Language Matter to Philosophy, Cambridge, MA 1975.
2
John Michael Krois
phenomenon.3 The dividing line between the lifeworld of perceptual images and cultural productions is only a matter of degree.4 Imagery matters to philosophy because our perceptual awareness and a great deal of our theoretical understanding of the world is iconic in form. Hacking took up the topic of imagery and scientific knowledge a few years later in his book Representing and Intervening (1983), devoting particular attention to the development of microscopes, the images they are capable of producing, and their use in science.5 He concluded that it isn’t language, but instruments and “epistemological things”6 we observe – think of the bacteria cultures in petri dishes – that provide the conditions of scientific knowledge. Hacking was reacting in this book to Thomas Kuhn’s influential claim that there is no unitary or neutral observation language that can mediate between the way language is used in different theoretical conceptions. For Kuhn, a chemical solution is only a mixture until one has the theory of electron exchange of electrons, which permits you to see it as a true combination. Translations are not possible between these viewpoints; they are “incommensurable.” The most quoted passage from Hacking’s book is his remembrance of hearing a scientist talk about altering the charge on a niobium ball by spraying it with positrons. Whether positrons exist or not is, of course, a matter of debate. Hacking writes: “From that day forth I’ve been a scientific realist. So far as I’m concerned, if you can spray them then they are real.”7 As a result, Hacking concludes, “whatever be the interest in the philosophy of language, it has very little value for understanding Sience.”8 Observation is the core of science, not language.
3
4
5 6
7 8
I do not assume that an image must be a likeness or a copy of something. This Platonic view is still upheld by some philosophers, e.g. by Reinhard Brandt: Die Wirklichkeit des Bildes. Vom Spiegel zum Kunstbild, München 1999. Göran Sonesson relates pictorial images and the lifeworld in his book Pictorial Concepts: Inquiries into the Semiotic Heritage and Its Relevance to the Analysis of the Visual World, Lund 1989, and Ernst Gombrich deals with perception in light of pictorial representation. Ernst H. Gombrich: Art and Illusion: A Study in the Psychology of Pictorial Representation (first edition 1960), Princeton/Oxford 112000. Ian Hacking: Representing and Intervening. Introductory Topics in the Philosophy of Natural Science, Cambridge, MA 1983, esp. the chapter on microscopes, pp. 186–209. The term “epistemological thing” is from Hans-Jörg Rheinberger, but it characterizes part of Hacking’s approach, although he never uses it. Hans-Jörg Rheinberger: Experiment, Differenz, Schrift: Zur Geschichte epistemischer Dinge, Marburg an der Lahn 1992; id.: Toward a History of Epistemic Things: Synthesizing Proteins in the Test Tube, Stanford 1997; id.: Experimentalsysteme und epistemische Dinge: Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001. Hacking: Representing and Intervening (as fn. 5), p. 23 [emphasis in original]. Niobium’s symbol is Nb and its atomic number is 41. Ibid., p. 45.
3
Philosophy and Iconology
Fig. 1 Percival Lowell: Venus drawings, November 21–26, 1899, record book 10A, Flagstaff, Arizona, Lowell Observatory Archive, call no. 1899.24.10A.026A
I agree with Hacking’s pragmatic emphasis, but by shifting the terrain from language to the use of imagery certain problems remain. Even if images are obtained from precision instruments, they still require – and receive – interpretation. The famous case of Percival Lowell’s drawings of the spokes of Venus is enough to make that point. Lowell made them deligently, sketching what he saw in the telescope. But nobody else was able to see these spokes. Changes on the lens of Lowell’s telescope to improve image visibility, it was discovered, also created a reflection, so that what Lowell took to be spokes on Venus were actually the capillaries in his own retina, which he also saw when he looked through his telescope’s eyepiece (Fig. 1).9 “Seeing is believing” the proverb says, but shifting attention from language to images won’t help philosophers to avoid the problem of meaning and interpretation. Hacking 9
See William Sheehan/Tom Dobbins: The Spokes of Venus: An Illusion Explained, in: Journal for the History of Astronomy 34/114 (2003), pp. 53–63.
4
John Michael Krois
turned to the study of imagery as a way to circumvent the problem of meaning in language, but iconology in art history grew from the opposite intention: to raise awareness of the problem of meaning in images. In this regard, philosophy and iconology are similar undertakings, and their possible interaction ought to be a topic in philosophy. To return to art history: Panofsky distinguished three levels of meaning in imagery. The primary or “pre-iconographical” level is concerned with the recognition of shapes as objects, which Panofsky says is based on vital or “practical experience.”10 This is followed by the “iconographical” level, the identification of a picture’s conventional significance, which is based on learning. For example, we recognize this figure (Fig. 2), first, to be a person and to be floating in space (pre-iconographic knowledge) and, second, to be a depiction of Christ rising from the grave (iconographic knowledge). Needless to say, these are both very complex cognitive feats which need further explication, but I will ignore this for the moment. For Panofsky, iconography was not the end, but only the beginning of what he called “iconology.” This was directed to the discovery and interpretation of general “symbolical values,” such as styles, religious attitudes, political convictions, and other historical meanings in pictures.11 Unlike iconographical meanings, these symbolic values may not have been consciously introduced by the artist, but reflect generally held beliefs the painter was unaware of revealing. For iconology, it was no longer the picture as a work of art that mattered, but the work as a cultural document in a wide context of possible meanings. It was no longer a matter of establishing that in a painting a piece of fruit symbolized a particular virtue, but what having that sort of symbolism betrays or reflects about the “world view” of the times. For Ernst Gombrich, to talk about Weltanschauung “conditioning” art might have sounded like an implicit philosophy of history, or at least an attitude that expected to derive empirical developments from some “law of history.”12 I agree fully with Gombrich’s critical attitude towards such conceptions, but a closer look at Panofsky’s conception of symbolism will show that it does not involve any such “historicism.”
10
11 12
Erwin Panofsky: Iconography and Iconology: An Introduction to the Study of Renaissance Art [1939], in: Meaning in the Visual Arts: Papers in and on Art History by Erwin Panofsky, Garden City 1957, pp. 26−54, esp. pp. 26f., 33, 35, and 41f. (chart). Ibid., p. 31. Cf. Gombrich: Art and Illusion (as fn. 4), pp. 20f.
5
Philosophy and Iconology
Fig. 2 Matthias Grünewald: Resurrection, Isenheim Altarpiece, 1512–1516, oil on wood, 269 × 307 cm, Colmar, Museum Unterlinden.
Panofsky gave his first systematic presentation of his iconology at a meeting of the Kant-Gesellschaft in 1931, i.e., at Germany’s premiere philosophical society. He published it the next year in the philosophy journal Logos.13 From the start, Panofsky’s 13
Erwin Panofsky: Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der Bildenden Kunst, in: Logos 21 (1932), pp. 103−119; reprint in id.: Deutschsprachige Aufsätze, 2 vols., ed. by Karen Michels/Martin Warnke, Berlin 1998, vol. 2, pp. 1064–1077.
6
John Michael Krois
iconology stood literally in a philosophical context. He developed it in the mid1920s while he was in close contact in Hamburg with his colleague, the philosopher Ernst Cassirer, when the two men regularly attended one another’s lecture courses.14 Panofsky explicated his conception of iconology by reference to what he called “‘symbols’ in Ernst Cassirer’s sense” calling special attention to Cassirer’s term “symbolic values” to explain what he meant by this.15 Panofsky wrote: “The discovery and interpretation of these ‘symbolical’ values (which are often unknown to the artist himself and may even emphatically differ from what he consciously intended to express) is the object of what we may call ‘iconology’ as opposed to ‘iconography.’”16 Panofsky must have borrowed the term “symbolical values” from personal conversations with Cassirer, for the latter never published any discussion concerning this concept.17 However, a number of texts dealing with the topic of “symbolic value” (Symbolwert) are found among Cassirer’s unpublished manscripts.18 Cassirer uses 14
15
16 17
18
See the epilogue by John Michael Krois, in: Ernst Cassirer: Eidos und Eidolon: Das Problem des Schönen in der Kunst in Platons Dialogen; Erwin Panofsky: Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie, ed. by id., Hamburg 2008, pp. 302–314, p. 304. Panofsky: Iconography and Iconology (as fn. 10), p. 39: “This means what may be called a history of cultural symptoms – or ‘symbols’ in Ernst Cassirer’s sense – in general.” In his essay Perspective as Symbolic Form [1927], transl. by Christopher Wood, New York 1991, p. 41 (Perspektive als symbolische Form, in: id.: Deutschsprachige Aufsätze [as fn. 13], vol. 2, pp. 664– 757, p. 689), Panofsky appealed to “Ernst Cassirer’s felicitous term,” of “‘symbolic forms’ in which ‘spiritual meaning is attached to a concrete, material sign and intrinsically given to this sign.’” The quote is taken from Ernst Cassirer: Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften [1923], in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, ed. by Birgit Recki, Hamburg 1998–2009 [ECW], vol. 16, pp. 75–104, p. 79. Panofsky: Iconography and Iconology (as fn. 10), p. 31. This helps to explain why commentators have long puzzled over Panofsky’s discussions of “symbols in the Cassirerian sense.” Göran Hermerén: Representation and Meaning in the Visual Arts: A Study in the Methodology of Iconography and Iconology, Lund 1969, p. 173, n. 18, says that “the writings of Cassirer are hardly enough well known (nor clear enough) to make the label ‘symbol in the Cassirerian sense’ very helpful.” Evidently, the important concept of “symbolic value” was supposed to have been discussed in Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, 3 vols., Berlin 1923−1929. It is mentioned one time in the chapter “Symbolische Prägnanz” in ECW vol. 13: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil. Phänomenologie der Erkenntnis, pp. 218–233, pp. 219f., as if it had already been thoroughly explained: “Was wir in den vorangehenden Betrachtungen als den ‘Symbolwert’ der Wahrnehmung bezeichnet haben, das ist, gemäß der sensualistischen Auffassung, nichts anderes als ein rein ökonomischer Wert.” There are no such “vorangehende Betrachtungen” in the book. The term “Symbolwert” occurs otherwise only one time in Philosophie der symbo lischen Formen. Erster Teil. Die Sprache, in: ECW 11, p. 140, without any explanation, where it appears without commentary in the phrase “Symbolwert bestimmter Laute.” For some reason, Cassirer left out the lengthy discussions of the “Symbolwert sinnlicher Wahrnehmung“ found among his unpublished papers; see Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte [ECN], vol. 4: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und
7
Philosophy and Iconology
the term “symbolic value” in a way analagous to that of the “value” of mathematical variables, but in reference to sensory perception. The symbolic value of sense perception consists of the kind of meaning it represents, which Cassirer calls its symbolische Prägnanz (“symbolic pregnance”), borrowing and extending a conception from gestalt psychology.19 A perception is not “symbolically pregnant” by virture of its ‘qualities,’ but by virtue of the kind of meaning content (Bedeutungsgehalt) that qualities exhibit. Gestalt psychology’s law of pregnance (Prägnanz) states: “Psychological organization will always be as ‘good’ as the prevailing conditions allow.”20 “Good” here means that a perceptual form exhibits simplicity, takes shape before a ground, is closed, rounded off, symmetrical, etc. This phenomenon is familiar through numerous classic illustrations. The idea of ‘symbolic’ pregnance regards this phenomenon to depend upon the fact that sensory phenomena exhibit different kinds of meanings – different kinds of pregnance – depending on the symbolic values of sensation: purely expressive, representational, or significative. To use Cassirer’s example: a particular drawn line can appear “beautiful,” or it can represent – say the developmental pattern of a population growth, or it can stand for or signify something ideal such as a kind of geometrical form. Its symbolic value depends upon its type of “symbolic pregnance”: expressive, representational or significative. This is not a theory of “interpretation,” but a phenomenological doctrine. According to Cassirer, perception always already embodies various symbolic meanings simultaneously, and the majority are not the result of intentional acts of interpretation. (This thought clearly struck a responsive chord in Panofsky, who emphasizes the unintentional character of symbolical values.) Phenomenological description makes a strict distinction between the sphere of meaning and the sphere of causal explanation. Hence, the symbolic values in a work of art can be described in terms of such concepts as a style or an epoch, but phenomenology does not give causal explanations that say why such a style or epoch came about. Hence, the art historian who identifies symbolic values claims only that they “characterize” the particulars that fall under them, but not that they
19
20
‘Wiener Kreis’, ed. by Christian Möckel, Hamburg 2011, pp. 3–50; see also John Michael Krois: Cassirer’s ‘Symbolic Values’ and Philosophical Iconology, in: Giulio Raio (ed.): Philosophy and Iconology, Neapel 2009 (Cassirer Studies 1), pp. 101–117. In one of Cassirer’s manuscripts on “symbolic value” (ECN 4, p. 51) he states: “Wir führen, um den Symbolwert der sinnl[ichen] Wahrn[ehmung] zu bezeichnen[,] den Terminus der ‘Praegnanz’ ein. Eine Wahrnehmung ist praegnant nicht schlechthin durch ihre ‘Qualitäten’, sondern durch den Bedeutungsgehalt, den sie in sich schliesst.” Kurt Koffka: The Principles of Gestalt Psychology, London 1935, p. 110. The doctrine of Prägnanz remained central in Gestalt theory; cf. James R. Pomerantz/Michael Kubovy: Perceptual Organization: An Overview, in: id. (eds.): Perceptual Organization, Hillsdale 198l, pp. 436–449.
8
John Michael Krois
“determine” them in any causal sense.21 By distinguishing between the phenomenological level of symbolic pregnance and causal explanation, iconology does not have to assume that laws of history are responsible for the history of style changes. It was unfortunate that Panofsky based his explication of the intrinsic meaning of “symbolical values” in iconology upon a doctrine of Cassirer’s that was never published. This accounts for much of the confusion surrounding the topic. However, Cassirer only used the term symbolic value to explicate the more fundamental doctrine of symbolic pregnance, and this was presented in the chapter of the same name (“Symbolic Pregnance”) in the Philosophy of Symbolic Forms.22 That text contains the most important statement of his conception of symbolic meaning. Nonetheless, neither that chapter nor the concept of symbolic pregnance are ever mentioned in any treatment of Cassirer by Panofsky known to me. Rather than deal further here with the vicissitudes of historical research, this brief historical sketch can suffice to show that iconology has a long standing association with philosophy. But what should philosophy and iconology have to do with one another? In his 1994 anthology Was ist ein Bild? Gottfried Boehm – an art historian who wrote his doctorate in philosophy with Gadamer – called for an “iconic turn” in philosophy, alluding to Richard Rorty’s 1967 reader The Linguistic Turn in Philosophy.23 But whereas Rorty summed up a development that had already taken place in philosophy, Boehm was speaking prescriptively. Boehm had good reasons, however, for making such a plea. The ancient conception of images as imitations, which has dominated in philosophy since the time of Plato had stood in need of revision at least since the time of the two earlier revolutionary changes in imagery – the invention of photography and the rise of Modern Art. Photography called the unreliability of images into question. Modern Art overturned the very idea that images copy anything. In the meantime, moreover, new kinds of imagery have been developed that were at least as reliable as photographs but did not need cameras or a lens. Digital imagery never “copies,” for even lifelike digital “simulations” are really the result of highly complex computer calculations. Optics does not need to figure in such imagery. Whereas X-ray technology captured hidden tangible objects such as a growth in a lung, making them visible on a photographic plate, digital imaging technology makes the intangible visible, such as the constantly changing, invisible electronic field surrounding the heart, transforming this activity into a moving 21
22 23
Ernst Cassirer: The Logic of the Cultural Sciences, transl. by S. G. Lofts, New Haven 2000, pp. 72f.; id.: Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien [1942], in: ECW 24, p. 431: “Derartige Begriffe charakterisieren zwar, aber sie determinieren nicht.” “Symbolische Prägnanz”, in: ECW 13, pp. 218–233; cf. also “Praegnanz, symbolische Ideation”, in: ECN 4, pp. 51–84. Gottfried Boehm (ed.): Was ist ein Bild?, München 1994; Richard Rorty (ed.): The Linguistic Turn: Recent Essays in Philosophical Method, Chicago 1967.
9
Philosophy and Iconology
image via computer mapping.24 Digital imaging creates the most reliable and the most illusory images. Medical practicianers now call imaging technology the “most important of all methods for precise and accurate diagnoses,”25 but it is also not possible to tell whether a “photograph” in the newspaper or in an advertisement is genuine, or if it was even produced using a camera at all. Clearly, images are not a “natural kind,” for there is no natural law linking perceptual and mental images with cult imagery, maps, film, graphic flow charts, and abstract impressionism, let alone digital imagery. Gottfried Boehm’s question “What is an image?” was not merely rhetorical. Perhaps Paul Klee’s famous remark that art does not imitate but “makes visible” is true of all imagery: it makes very different kinds of things visible.26 This, however, is not true, because the process of depiction can function without the sense of sight. The psychologist John M. Kennedy has demonstrated that picturing the world does not depend upon seeing it.27 In his studies of drawings made by the congentially blind, he could show that this capacity actually depended upon proprioception and other senses rather than vision, so that the blind were able to make
Fig. 3 Blind adult: Table, 1993, New Haven.
drawings, even in perspective (Fig. 3), of things in their world without ever having seen them. These drawings utilize raised lines made with a stylus on special wax tablets. The drawings are touched but never seen by the artists who make them. Kennedy’s findings are important because they prove that pictorial order and vision 24 25
26
27
See the website of the Center for Integrative Biomedical Computing, Universtiy of Utah: www.sci.utah.edu/cibc (March 31, 2017). Alexander Margulis: Einfluß des technologischen Fortschritts auf die radiologische Praxis, in: Josef Lissner (ed.): Moderne Bildgebung: Stand der Technik, Internationales Symposium, Wien/Berlin 1988, pp. 236–241, p. 236. Paul Klee: Beitrag für den Sammelband ‘Schöpferische Konfession’ [1920], in: Schriften, Rezensionen und Aufsätze, ed. by Christian Geelhaar, Köln 1976, pp. 118–122, p. 118: “Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.” John M. Kennedy: Drawing and the Blind: Pictures to Touch, New Haven 1993.
10
John Michael Krois
Fig. 4 Scene identified correctly by the Songe (Papa New Guinea), 1993, New Haven.
are not the same thing. The logic of imagery and depiction is not based upon sight, but on something far more primitive, akin to touch. Kennedy has also demonstrated that pictorial imagery does not rely upon conventions like language, for he has empirically verified that people who have never seen drawings before nonetheless recognize what they depict, including depth relationships (Fig. 4). In 2001, the art historian Hans Belting published a book entitled Bild-Anthropologie, “Anthropology of Images,” in which he treats imagery as the defining characteristic of human experience.28 Belting, who is best known for his work on early cult and religious imagery – A History of the Image Before the Era of Art29 as he calls it – refers to the corporeal organism as the “Locus of Images.”30 The study of imagery, Belting thinks, should begin with the body, with our own “body image” and our sense of the distribution of our bodies in space. Usually, the defining feature of human beings is taken to be the use of language, and not images. Language permits us to “slice up” the visual world, but from the point of view of image-anthropology, some kind of relationship between imagery and the body makes it possible for humans to first structure their world prior to language. Philosophers working on the philosophy of mind have focussed their attention during the last decades upon the relationship between the brain and computers. 28
29
30
Hans Belting: Bild-Anthropologie: Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001; English: An Anthropology of Images: Picture, Medium, Body, transl. by Thomas Dunlap, Princeton 2011. Id.: Bild und Kult: Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990; English: Likeness and Presence: A History of the Image Before the Era of Art, transl. by Edmund Jephcott, Chicago 1994. Cf. Hans Belting: Der Ort der Bilder II: Ein anthropologischer Versuch, in: id.: Bild-Anthro pologie (as fn. 28), pp. 57–86; English: The Locus of Images: The Living Body, in: id.: An Anthropology of Images, pp. 37–61.
11
Philosophy and Iconology
They usually take language as the basis of comparison. By shifting attention to imagery perhaps more can be learned. Of course, this contrast between “language” and “imagery” is not actually correct, because for a digital computer, both are fundamentally numbers; images, texts, and formulas are ultimately all the same bits and bytes. For the computer they are the same, but for human beings they are not. This tells us something about the difference between human beings and computers that I want to look at more closely. When the IBM computer ʻDeep Blueʼ beat world chess champion Garry Kas parov in 1997, this seemed for many to show that computers are indeed able to think and to be better at it than humans. But for most philosophers the best model of the mind is not a game of chess, but language-use. The correct and meaningful use of language involves far more than the rules of a game like chess. The view that language is what defined human nature stood behind Alan Turing’s famous idea for a test of artificial intelligence.31 Turing asked: “If a computer could think, how could we tell?” His answer was that if the computer’s responses were indistinguishable from that of a human, then the computer could be said to be thinking. By “response” Turing meant a linguistic response, not chess moves. Turing tests are usually carried out by having a test person sit at a computer terminal and “interact” with two unseen subjects: another person and a computer, and then try to determine which is which. This is accomplished by questions and answers, which appear on the test person’s monitor. As Turing wrote: “The question and answer method seems to be suitable for introducing almost any one of the fields of human endeavour that we wish to include.”32 Naturally, it would also have been possible to construct the test differently, such as checking for mathematical intelligence. If a test subject were to give a person and a computer the same mathematical problems to solve, it would be possible rather quickly to determine which is a computer. The calculating capacities of a computer would give it away immediately unless it was programmed to make errors and to function very slowly. In practice, the test seeks to portray computers as chatterboxes joking away like people. At a recent test the most successful program achieved 10% credibility; a perfect score would have been 50%, meaning that the computer was indistinguishable from a human.33 Philosophers, such as John Searle, who claim that computers do not have minds, seek to establish that while they can seem to think, they do not understand.
31 32 33
Alan M Turing: Computing Machinery and Intelligence, in: Mind 59/236 (1950), pp. 433–460. Ibid., p. 435. See “Turing Test transcripts: Is it bot or not?”, www.salon.com/1999/02/22/log_26/ (March 31, 2017).
12
John Michael Krois
Fig. 5 Image recognition CAPTCHA.
His famous thought experiment of the “Chinese room” essentially just provided an illustration for the view that intelligence amounts to the ability to understand language and not just the capacity to manipulate it.34 Searle asks us to imagine an English speaker who does not read Chinese sitting in a room alone. Chinese messages are given to the person through an aperture who then gives correct answers to them through an output aperture, these correct responses being also written in Chinese. The trick is: the person has been provided with a set of rules, in English, that permits the correct manipulation of the incoming materials for his responses. Computers act this way; they follow rules but they understand nothing. That is Searle’s image of artificial intelligence. In the business world this problem poses itself with more serious consequences. Companies offering free e-mail are subject to costly and harmful exploitation by so-called spammers who use robot programs to crawl the web looking for e-mail addresses from which to send masses of advertising. Similar programs apply automatically for these free addresses. To stop such automatic infiltration, it is necessary to find out whether a potential “customer” is a human being or a computer program. Carnegie Mellon University programmers developed a test to determine whether a computer or a person is on the other end of the line. They named the test “Captcha” (short for: Completely Automatic Public Turing Test to Tell Computers and
34
See John Searle: Minds, brains, and programs, in: Behavioral and Brain Sciences 3 (1980), pp. 417–424, p. 419: “As far as the Chinese is concerned, I simply behave like a computer; I perform computational operations on formally specified elements. For the purposes of Chinese, I am simply an instantiation of the computer program.”
13
Philosophy and Iconology
Fig. 6 Photograph of part of Stone 14, ca. 3500 B.C.E., Loughcrew, Ireland.
Humans Apart).35 Any child can pass it; but at present computers cannot. In other words, this is a Turing test that separates humans from computers. Here is an example (Fig. 5). What is this? To pass, you just have to be able to understand pictures. The difference between the intelligence typical of humans and of computers is this: humans understand pictures, and computers do not. To repeat Turing’s question: “If a computer could think, how could we tell?” The answer is: it would need to be able to understand pictures. St. Augustine’s comment that he knew what “time” was, if nobody asked him, but that if he wished to explain it to whoever asked, he did not, also characterizes our knowledge about what images are. We use the words “image” or “picture” all the time, but if we try to explain what they are, we get into difficulties. We probably would begin by saying that images are not writing and use this difference as our starting point. We think that we can distinguish between pictures and writing with no trouble. Before archeologists deciphered Linear B, it was sometimes considered to just be decoration on vases and shards. After decades of false starts, Linear B was finally discovered to be an early alphabetization of Greek, older than the Greek alphabet, using a pictogram form of writing. As researchers examine more closely 35
See www.captcha.net (March 31, 2017).
14
John Michael Krois
the history of writing and of drawing, the difference between them becomes more and more difficult to understand. In his book The Domain of Images James Elkins demonstrates how insufficient the terms “image” and “writing” are for attempts to come to grips with the actual historical complexity of cultural imagery.36 It is uncertain whether the Irish inscription shown in Fig. 6 is a picture or a kind of writing. It is not even certain what it is: are these verticle columns or horizontal lines? Art historians call this “ekphrasis”: the description of imagery in words or, to be more accurate, the transformation of imagery into words. Description does not so much state what we see as to force it into a particular order. Moreover, our individual habits of interpretation are different because they are deeply embedded in our life histories. What deeply effects one person is not even noticed by the next. Henry James, a master at storytelling via description, lets a simple house number in The Bostonians speak volumes, for the fact that it contained several digits placed the person on the depths of the social scale, putting her far beyond the range of the fashionable inner city, and her simply mentioning such a number gives a whole episode its character.37 James’s late novels were not so much narratives as verbal depictions, requiring the reader to practice a heightened awareness of details. James’s technique employed literary “imagery” in an unusual sense. Instead of causing something to stand out by using special language, such as metaphor or other tropes, it was trivial details and passing aspects that carried weight. James’s late novels demand a reader who is a good observer. But what does it mean to be an observer here, when we are dealing with a detail such as a house number mentioned in a written text? Instead of focusing on the different symbolic forms of words, pictures, or numbers it helps to consider what it means to be attentive to details. Ernst Gombrich claimed that “[i]mages can function as signs as soon as they are recognized.”38 But what does it mean to say that an image is “recognized”? Peirce, the founder of modern semeiotics, once stated that “the idea of manifestation is the idea of a sign.”39 That is, to be recognized – to be a recognizable phenomenon – is to be a sign. This amounts to saying that perception is never immediate intuition. Intuition would amount to feeling or knowing something not determined by anything else, or, logically speaking, it would be the same as being “a premiss not itself a conclusion.” Instead, Peirce argues that even sense perception involved unconscious hypothetical
36 37 38 39
James Elkins: The Domain of Images, New York 1999. Henry James: The Bostonians, London/New York, 1886; id.: Novels 1881–1886: Washington Square, The Portrait of a Lady, The Bostonians, ed. by William T. Stafford, New York 1985. Gombrich: Preface to the 2000 Edition, in: id.: Art and Illusion (as fn. 4), p. xxxi. Charles S. Peirce: Section taken from the Lowell Lectures [1903], in: Collected Papers, ed. by Charles Hartshorne/Paul Weiss, Cambridge, MA 1931, vol. 1, § 346.
15
Philosophy and Iconology
reasoning, which we only notice when we make an erroneous perceptual judgement. Peirce’s semiotic theory of perception, like Cassirer’s doctrine of symbolic pregnance, united the theory of signs with a phenomenology of perception. This meant that for them imagery and language are not metaphysically different realms but culturally developed varieties of basic semiotic processes already present in sense perception.
2. Practical Conceptions of Iconology In 1986 the American cultural theorist W.J.T. Mitchell published a now classic book entitled Iconology with the subtitle Image, Text, Ideology. For Mitchell, “iconology” is the name for the practice of social and cultural criticism by means of the study of imagery.40 The ultima ratio for the study of imagery is to identify in visual products of culture hidden political and other social forms of power and expose them to criticism. Mitchell’s version of iconology is closely related in its aims to those of the Birmingham school of cultural studies, but emphasizes image theory to a far greater extent.41 The visual culture conception of iconology42 is in part a response to the quantitative increase in imagery due to electronic media – the so-called “flood” of images that people are exposed to on a global scale.43 This cultural developement depends upon the technological changes mentioned before – the process of digitalization which has made it possible to create and distribute images with hitherto unknown ease. Panofsky could not have forseen this, yet in his late study on the medium of the movies, he recognized that film was not simply another way of presenting the same content as before in media like painting, because film was able to use “physical reality as such” to create images. He could not have forseen, however, what digital
40
41
42 43
The semiotic theory of iconology has been challenged, but I cannot discuss this matter here. See Mieke Bal/Norman Bryson: Semiotics and Art History, in: The Art Bulletin 73/2 (1991), pp. 174–208. The Cambridge historian Peter Burke, has published a summary of such research: Eyewitnessing: The Use of Images as Historical Evidence, London 2001; see also Francis Haskell: History and Its Images: Art and the Interpretation of the Past, Yale 1993; Peter Paret: Art as History, Princeton 1949. For a positive example, see Janne Seppänen/Esa Väliverronen: Visualizing Biodiversity. The Role of Photographs in Environmental Discourse, in: Science as Culture 12/1 (2003), pp. 59–85. Hotel elevators with LCD screens enable passengers to follow the latest news on the way from floor to floor.
16
John Michael Krois
films can present.44 The crucifixion is one of the best-known iconographic subjects in Western art, depicted in countless paintings and the subject of passion plays. But when Mel Gibson’s film THE PASSION (USA 2004) was shown to a private preview audience after being criticized (prior to release) for being antisemitic, viewers who shared Gibson’s religious beliefs criticized the film for being true to its title. This film, produced in the age of digital imagery, seemed unbearably violent by several measures to the audience. The director had followed an article from the Journal of the American Medical Association “On the Physical Death of Jesus Christ” for the visual screenplay (Fig. 7).45 Unlike live actors or paintings, the medium of digital film depicts what no actor could endure in a way that all but obliterates the distinction between sign and object for the viewer, creating an almost visceral experience by means of imagery. Media observers claim that the more such horrific imagery spreads, the less attention people pay to it.46 Electronic images are not enduring and are usually replaced the next day with different ones, but the habit of ignoring them remains constant. Nonetheless, as the philosopher Jonathan Friday from the University of Aberdeen argued, at least those who professionally seek out and create such images – he was referring to news media, not the film industry – adopt what he calls “demonic curiosity”: a compulsive urge to seek out, witness, and record extreme human suffering.47 In the past this was a personal inclination, but now it is a shared characteristic of an occupational group. This group of image-makers and distributors is then in a position to guide opinion by directing attention to or away from particular people’s suffering. In addition to its socially disruptive character, imagery, according to the philosopher Alfred North Whitehead, is the necessary basis for social stability. In his book Symbolism, Whitehead distinguishes “our vast system of inherited imagery” from the particular, concrete images that make up current events, claiming that this inherited imagery provides enduring symbols that are necessary for political direction.48 The art of politics consists in preserving this symbolic, largely pictorial, layer of social life while at the time reinterpreting it in the service of enlightened govern-
44 45 46 47 48
Erwin Panofsky: Style and Medium in the Motion Pictures [1947], in: id.: Three Essays on Style, ed. by Irving Lavin, Cambridge, MA/London 1995, p. 122. William D. Edwards/Wesley J. Gabel/Floyd E. Hosmer: On the Physical Death of Jesus Christ, in: Journal of the American Medical Association 255 (1986), pp. 1455–1463. Most notably: Susan Sontag: On Photography, New York 1977, and id.: Regarding the Pain of Others, New York 2003. Jonathan Friday: Demonic Curiosity and the Aesthetics of Documentary Photography, in: British Journal of Aesthetics 40/3 (2000), pp. 356–375. Alfred North Whitehead: Symbolism: Its Meaning and Effect, New York, 1927, p. 73.
17
Philosophy and Iconology
Fig. 7 Still from The Passion of the Christ, Mel Gibson, USA 2004.
ment. In Whitehead’s philosophy that means government that realizes the importance of change.49 The symbolic sphere that Whitehead thinks is essential to the preservation of society consists largely of a series of images which evoke loyalties to – he says – vaguely conceived notions.50 Some of these symbolical images may be relatively concrete and appeal more to certain individuals than to others, such as the regular rituals that might be held at retirement ceremonies for members of the military, but the larger complex of symbolic images forms a loosely conjoined complex symbolic system that, although vague, elicits dedication. This complex includes the trivial and the great (national dishes or architecture), even the land itself. The great social task for Whitehead is to combine reverence for these symbols with freedom of revision. Today, this topic goes under such headings as “cultural identity“ or “social memory,“ and its importance has become almost universally recognized. Followers of Habermas’s recent publications will be surprised to see how his dedication to enlightened government has been revised to include recognition of the need for such non-linguistic symbolic forms in a rational society.51
49 50 51
Ibid., p. 88. Ibid., p. 74. Jürgen Habermas: Symbolischer Ausdruck und rituelles Verhalten: Ein Rückblick auf Ernst Cassirer und Arnold Gehlen, in: id.: Kleine politische Schriften, vol. 9: Zeit der Übergänge, Frankfurt/M. 2001, pp. 63–82.
18
John Michael Krois
What interests me here is Whitehead’s description of the meanings of such symbolic images, which he calls “vague yet insistent” in directing individuals to specific actions and organizing a crowd into a community by evoking loyalties to “vaguely conceived notions,”52 which symbolize society’s common task. The important term here is “vagueness.” Whitehead does not tell us how vague symbolic images elicit emotions, he only says that they do. Hume once claimed that because the calm sentiments or passions – such as the love of life, one’s country, or social peace – remain in the background (unlike violent emotions relating to immediate objects), their guiding effects are usually mistakenly attributed to reason, which on Hume’s account is purely instrumental and calculative.53 In his conception of symbolic imagery Whitehead was a follower of Hume. But how does imagery acquire expressive symbolic value? One of the most influential recent treatments of the expressive character of images was Nelson Goodman’s explication in his 1976 book Languages of Art. Although he concentrates on art images, Goodman’s analysis applies equally to the social imagery Whitehead mentions. According to Goodman, the expressive character of images is quasi-linguistic: “pictorial expression is a particular system of metaphorical exemplification.”54 Seeing a grey picture as sad is the metaphorical exemplification of the “non-verbal label” of sadness. Goodman converts emotional feeling into the linguistic phenomenon of labelling: the picture, metaphorically exemplifies in a non-verbal way the label “sad.” Looking at pictures is looking at labels, albeit non-verbal ones, which metaphorically exemplify feelings. By focussing attention on labelling, Goodman subtly shifts attention away from the perception of expression to thing perception. The question whether the body and person of the viewer plays any role in expressive meaning has no place in such a conception and is never broached. Art objects nowadays inhabit the cosmopolitan world of the art scene, and they may not relate to somebody personally, but the social and political (cultural) imagery that Whitehead or Habermas refer to most certainly does effect people personally. Goodman’s conception of expression is more plausible as a theory of expression for the impersonal art scene than as a theory of the inherited social imagery that people take personally. According to the neurologist Antonio Damasio, emotion can only be understood in reference to the body. Unlike phenomenologists such as Scheler or MerleauPonty or the psychologist William James, all of whom focused on the body’s place in emotion, Damasio does not think that emotion or feeling is immediate or direct. For
52 53 54
Whitehead: Symbolism (as fn. 48), pp. 73f. David Hume: A Treatise of Human Nature 2,3,3. Nelson Goodman: Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols, Indianapolis/ Cambridge, MA 1968, p. 236.
19
Philosophy and Iconology
him and other neurologists who have adopted the “feeling brain” approach in neurology, emotions and feelings emerge from a process in the brain. They are not givens existing somehow in the background. Damasio writes: “the essential content of feelings is the mapping of a particular body state; the substrate of feelings is the set of neural patterns that map the body state and from which a mental image of the body state can emerge. […] A feeling is an idea of a certain aspect of the body, its interior, in certain circumstances.”55 This kind of mediated bodily approach to emotion can better serve the attempt to construct what Belting called an image-anthropology than Goodman’s linguistic approach.
3. Iconology: Anthropology and Logic Whether we consider imagery theoretically or practically, we are brought back to its anthropological reality. In order to investigate imagery in an anthropological sense (and not the patterns recognized by computer programs), we must take cognizance of the biological nature of human beings. Since ancient times, rhetoric has studied pathos as well as logos, for the good speaker must address the emotions as well as the intellect of the audience. So too a philosophical iconology must consider both aspects of imagery. In his description of the “pre-iconographic” level of images, Panofsky distinguished between (1) the recognition of things and (2) the perception of expression.56 Seeing a figure as a person and seeing a suffering person are fundamentally different phenomena. Panofsky’s colleague Cassirer, as we saw, interpreted feelings and emotional experience as a particular kind of symbolic function which he called the “Ausdrucksfunktion.”57 When he first published this theory in the 1920s he was criticized for mixing the spheres of nature and culture. Symbolic forms such as art, his critics pointed out, were cultural phenomena, 55 56
57
Antonio Damasio: Looking for Spinoza: Joy, Sorrow, and the Feeling Brain, Orlando 2003, p. 88. Cf. Panofsky: Iconography and Iconology (as fn. 10), p. 28. This is the fundamental division in Cassirer’s phenomenology of perception; see Ernst Cassirer: The Perception of Things and the Perception of Expression, in: The Logic of the Cultural Science (as fn. 21), pp. 34–55; German: id.: Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung, in: Zur Logik der Kulturwissenschaften (as fn. 21), pp. 391–413. To this extent, he is in full agreement with Goodman: Languages of Art (as fn. 54), p. 52, when he says “expression, like representation, is a mode of symbolization.” Goodman does not refer to Cassirer though. See also Ernst Cassirer: Die Ausdrucksfunktion und das LeibSeele-Problem, in: ECW 13, pp. 104–117; id.: Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion, in: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941, in: ECN 5, pp. 105–200; cf. John Michael Krois: Cassirer’s “Prototype and Model” of Symbolism: Its Sources and Significance [1999], in: id.: Bildkörper und Körperschema, ed. by Horst Bredekamp/Marion Lauschke, Berlin 2011 (Actus et Imago 2), pp. 44–62.
20
John Michael Krois
whereas bodily feelings are natural occurrences. From today’s perspective, the fact that Cassirer ignored this boundary seems more like a stroke of genius. Cassirer utilized the concept of “symbolic pregnance” to develop an alternative to Husserl’s Cartesianism and to Heidegger’s purely existential conception of the body58 by construing the body-soul relationship as the prototype and model of a symbolic relationship. Expressive qualities are usually taken to be the most subjective kind of experience, while symbolism is not private. Cassirer contended that the same natural symbolic function permits us to see expression in drawings and in other people and to have definite feelings of our own. A painting of a person appears to smile because expressive symbolism does not “depict,” the brain interprets what is seen as a lived feeling.59 Cassirer offered a negative proof for his thesis by reference to neurological pathology. He pointed to cases in which persons suffering from aphasia (due to brain injury) were able to see correctly with their fully functional sense organs, but were not able to recognize facial or other expressions. He quotes one of Kurt Goldstein’s patients who could not distinguish human beings from objects. Asked how he could tell cars apart from people, the patient explained: “People are all alike: narrow and tall, automobiles are wide: you see that right away, much thicker.”60 Clearly, this person could see, but he could not perceive the smiles or frowns or countless other ways in which we perceive expression. Perceiving expression was therefore not a matter of direct sensory awareness, but the expressive “symbolic value” of sensory perception. The perception of expression – say a smile – seems to be direct and intuitive because we take it to be instantaneous. One of Mona Hatoum’s works exhibited at the Uppsala Art Museum is a “dinner table” consisting of an actual table and chair with a table cloth and place setting including plate, knife and fork, and – on the plate – lifelike kinetic endoscopic imagery in brilliant color showing an endless journey downward through an intestine (Fig. 8).61 It makes the viewer cringe. The reaction is automatic, but it is not instantaneous, for its shock value comes about as we
58 59
60
61
This point has come to be accepted by virtually all Cassirer researchers. Cf. Krois: Cassirer’s “Prototype and Model” of Symbolism (as fn. 57), p. 56, fn. 50. Cassirer: Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion (as fn. 57), pp. 108f., insisted upon what he called the “Objektivität der Ausdrucksfunktion des Symbols” (“objectivity of the expressive function of symbolism”). Protokoll of Kurt Goldstein and A. Gelb, quoted by Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil. Phänomenologie der Erkenntnis, ECW 13, p. 278, note: “Menschen sind alle gleich: schmal und lang, Wagen sind breit: das fällt sofort auf, viel dicker.” Mona Hatoum’s work from 1996 is entitled Deep Throat; the imagery begins in the mouth and seems to continue all the way to the intestine.
21
Philosophy and Iconology
approach this everyday scene, which, when we are close enough, then gradually takes an unexpected turn. Instead of taking the emotional content in the perception of expression as an immediate feeling, so that our emotion or feeling lies wholly within us and overlays an image, a philosophical iconology would seek to understand how iconic form leads to the perception of expression – even in our own feelings. What is iconic form? The most striking logical feature of imagery is that it is not binary. Language is often called a system of differences, but images employ continuous forms. Language (speech or writing) possess a “double articulation”: sentences can be broken down into minimal meaningful units (words), but this cannot be done with a picture. A piece taken from a picture is another image, not a semantic unit like a word. On the other hand, pictures are worth infinitely more than a thousand words, because no amount of text can ever fully describe what a picture or photograph can show. Of course, we introduce binary oppositions into images, such as top and bottom or foreground and background, and Wölfflin’s formalist method of art history was based upon binary distinctions such as painterly and linear.62 But
Fig. 8 Mona Hatoum: Deep Throat, 1996, table, chair, television set, glass plate, fork, knife, water glass, laser disc, laser disc player, 74,5 × 85 × 85 cm, Uppsala, Konstmuseum. 62
Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe: Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, München 1915; English: Principles of Art History: The Problem of the Development of Style in Early Modern Art, ed. by Evonne Levy/Tristan Weddigen, transl. by Jonathan Blower, Los Angeles 2015.
22
John Michael Krois
Fig. 9 Australian space divisions in burial rituals.
no matter whether a painting is classified as painterly or as linear, its character as a picture does not depend upon this style difference. Contrasts such as light and dark form a continuous scale. Colors can be grouped together using color names, but the Munsell color system distinguishes over 16 million colors in the visible spectrum, which the eye can differentiate.63 This anthropologist’s drawing of the way space was organized in an Australien community illustrates the qualitative organization of space (Fig. 9). Unlike the binary oppositions of our compass points – North and South, or East and West – these directions are based upon landmarks identified with different tribes.64 They mark out the directions in which the dead of these tribes are to be buried. This space does not use binary opposites.
63
64
Recent research has shown that language can influence a person’s awareness of color differences, but the variety of color names is by no means equal to the number of perceivable colors. The Australian Aborigines distinguish among totem classes such as “people of the sun,” of the “white Kakadus,” of the “hot winds,” etc. An anthropologist fixed these directions in a diagramm with the help of a compass, while the natives explained their space to him. But for these natives these spaces were continuous rather than exactly differentiated, hence directions such as “Wartwut but also partly Moiwiluk” (Nos. 6 and 7). Cf. Ernst Cassirer: Die
23
Philosophy and Iconology
To return to the question, What is iconic form?, let us consider a line. We can identify three formal characteristics of lines: continuity, discontinuity, and quality. Continuity is the fundamental form of linearity. Kant recognized this in the Critique of Pure Reason in his transcendental aesthetics, when he claimed that two types of order were constitutive of any sensory experience: time and space – the orders of occuring “one after another” (“nach einander”) and “next to one another” (“neben einander”).65 Both exemplify continuity. Secondly, lines exemplify continuity differently: they are erratically or gradually irregular. Irregularity or regularity are distinguishable in a gradual way, they are varying degrees of discontinuity. Finally, lines can be described in terms of their qualitative features, the most obvious one being color. But these three phenomenological categories do not seem to permit us to describe the expressive significance of lines. Continuity, discontinuity, and color are all features of the perception of objects or things. In order to describe the expressive aspects of lines it is necessary to regard an object in temporal terms, tracing its shape, and feeling the effects of its color, over time, no matter how brief. Just as Mona Hatoum’s installation must be seen by walking up to it and looking at the moving pattern on the plate, so too a spatial regularity or irregularity must be traced in time by the eye. Then they become a rhythm. Physiologists tell us that the eye is always in motion; in order to “look” even at a static image the eye scans it. So too, emotions are always temporal. They begin, reach an apex, and taper off. Even the most immediate feelings, such as the sense of touch is impossible without temporality. Tactile qualities such as hard, cold, or smooth cannot be limited to a single moment, or they could not be discerned as data. They arise through motion and the fact that these sensations exhibit particular kinds of expressive symbolic pregnance (temperature, texture, and the like).66 So phenomenologically speaking, the expressive character of a line involves the apparent movement of an iconic form. According to the basic principle of gestalt psychology, all sensory forms exhibit a tendency to be perceived as wholes. This does not seem to hold for the perception of expression. Chiaroscuro in painting is expressive but it hides things rather than defining their shapes. The most basic form of iconicity does not assume
65 66
Begriffsform im mythischen Denken [1922], in: Aufsätze und kleine Schriften 1922–26, in: ECW 16, pp. 3–73, p. 62. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft B 38–40/B 46–48. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, in: ECW 13, p. 202: “[D]ie Bewegung und damit die Zeit ist einer der gestaltenden Faktoren der Tastphänomene selbst. […] [D]ie grundlegenden Qualitäten des Tastsinnes – Qualitäten wie ‘hart’ und ‘weich’, ‘rauh’ und ‘glatt’ – [entstehen] erst kraft der Bewegung, so daß sie, wenn wir die Tastempfindung auf einen einzelnen Augenblick beschränkt sein lassen, innerhalb dieses Augenblickes als Data gar nicht mehr aufgefunden werden können.”
24
John Michael Krois
Fig. 10 Edward Steichen: Self portrait, 1901, gum bichromate print, 21,6 × 16,5 cm, Los Angeles, Getty Museum.
a shape, but provides the basis for shapes. Normally, we do not experience vague sensory perceptions – in fact, that is what the gestalt law of pregnance states – perceptions are wholes; they involve figures standing out from a ground, etc. The most elementary iconic form, however, is simply continuous. Let me explain this using an example from the neurologist Terrence Deacon.67 Deacon claims that we experience 67
In his book The Symbolic Species. The Co-evolution of Language and the Brain, New York 1997, p. 345, the neurologist Terrence Deacon sought to show that the human capacity for using or understanding signs “is the principal source of natural selection in the development of our bodies and brains,” hence the book’s subtitle. Symbol systems do not exist “in the mind” or even “in the brain,” but also in the objective social world, hence their evolution effects that of the brain. For biosemiotics, the distinction between the natural (biological) and cultural (symbolic systems), is no longer valid, or at least of no help in the study of this biosemiotic process.
25
Philosophy and Iconology
iconicity by not making distinctions.68 He illustrates this with the example of a moth’s camouflage, its natural protective coloration. A moth on the bark of a tree has wings that blend with the graininess and color of the bark. A bird that does not recognize the moth but takes it for the bark of the tree has in this case perceived it anyway, and done so iconically. As Deacon puts it: “What the bird was doing was actively scanning bark, its brain seeing only more of the same (bark, bark, bark …). […] This established the iconic relationship between moth and bark. Iconic reference
Fig. 11 Mark Tobey: Sagittarius Red, 1963, oil, ink and oil pastels on canvas, 213 × 388,5 cm, Basel, Kunstmuseum, inv. no. G 1963.40.
is the default.”69 We might just call this a mistake, but it depends upon the meaningful connection of the sensory manifold, to use Kant’s language. Vague iconic forms have a characteristic feature: they are expressive, for what they lack in definite recognizable content they can make up for by presenting feelings or moods. To illustrate: early photographers were bothered by what they thought was the unartistic character of the sharp resolution in photographs. Edward Steichen coated the lens of his camera with an opaque film in order to better create a mood in many of his well-known images (Fig. 10). Among the different movements in Modern Art, abstract expressionism in particular explored the phenomenon of vagueness. Images such as Mark Tobey’s Saggittarious Red lack gestalt pregnance 68 69
Ibid., p. 77. Ibid., p. 78.
26
John Michael Krois
Fig. 12 Yves Klein: IKB 98, 1957, blue pigment on canvas, 78 × 55,5 cm, Krefeld, Kaiser Wilhelm Museum.
(Fig. 11). The eye wanders in search of something closed and complete, it looks for foreground and background, or something otherwise meaningful. Herbert Read pointed out this aspect of abstract expressionism long ago, suggesting that this art movement specialized in the use of forms that violated gestalt psychlogy’s law of pregnance.70 But although such vague images are not pregnant in gestalt psychology’s sense, they are symbolically pregnant in Cassirer’s sense, for they exhibit the symbolic value of expressivity.
70
Herbert Read: Icon and Idea: The Function of Art in the Development of Human Consciousness. The Charles Eliot Norton Lectures at Harvard University (1953), New York 1972, pp. 121f.
27
Philosophy and Iconology
Logicians studying the phenomenon of vagueness in language treat it as a deficiancy, whereas the feelings which arise from it offer us a new kind of meaning. Logically speaking, vagueness involves undecidedness, which is felt as vascillation: moving back and forth without coming to rest. We cannot take in vague iconic forms without such movement. We feel vascillation when there is no way for us to fix our attention. Vague forms lead us to feel unsettled, or if they are well-known – like sunsets – they appear expressive of a mood. This is what Steichen wanted to achieve. Vagueness is a feature of outline and degree of recognizability, but definite things, such as a monochrome expanse of color, can also be expressive. We speak of a “friendly yellow,” a “hot pink” or a “dull grey.”71 These may be very saturated and definite. Monochrome painting normally inhabits the pre-iconographic level of pictorial imagery. It comes close to being an example of pure iconicity, but it is not pure visuality. Monochrome painting, like Yves Klein’s is expressive (Fig. 12). Asked about its appearance, people call this a cold blue (not a hot blue). What would pure visuality without any expressive significance consist of? Not seeing this as cold blue would at least require seeing this color as continuous – “this is an expanse” (like “this is bark”), otherwise it would not be sensed at all – or perhaps not as something visual.72 But for a human being (not suffering from aphasia) as a biological organism even a blue field is a temporal experience related to its own history and the history of the species. The perception of a certain blueness as “cold” includes wetness and the temperature of water. Perception is often vaguely synesthetic (warm colors, soft sounds, high notes, biting odors), because it is an organic process. Pattern recognition by computers may qualify as artificial intelligence, but computer programs have no bodies and so no bodily history. Their hardware and its “evolution” are not part of the program. This is not so with human beings, and so a blue monochrome painting expresses the coldness and wetness of water for us, even though the painting shows neither. In a Turing test a computer at the other end of the line may computationally recognize patterns, but without its own felt body image, it can never relate to images the way humans do. This is the image-anthropological basis for a philosophical iconology. The text is part of a book project which could not be accomplished because of the unexpected death of the author in 2010. Footnotes and minor corrections within the text were tacitly added by the editors.
71 72
Art critics frequently call monochrome painting “sublime.” A monochrome painting seems static, unlike a movie projected on a screen of that size, say Derek Jarman’s film BLUE (U.K. 1993). Derek Jarman’s film, dedicated to Yves Klein, had sound and the image appeared to pulsate.
Eva Schürmann
Embodied Perception Revisited On Merleau-Ponty, Kentridge and Turrell
1. Forgetfulness of the Body as Forgetfulness of Mediation French phenomenologist Maurice Merleau-Ponty’s critique of the forgetfulness of the body in the Western intellectual tradition leads into his investigation of the aisthetic as the sphere of the sensory disclosure of the world. Whereas language is widely accepted as the decisive medium of dealing with the world, perception is often still regarded as a physiologically determined reaction to a perceivable object. Merleau-Ponty by contrast, conceives of our perceptual capacity as the crucial and inevitable condition of personal and meaningful relations between self and world. Being bound to the body, perception can be more fundamental than the linguistic self-world-relation. Hence thinking is grounded in perceiving as an embodied being-in-the-world.1 As a mode of being bodily affected, the activity of perception cannot elevate itself over its other, the perceived world, since it finds itself surrounded and pervaded by its other. More than most other 20th century philosophers Merleau-Ponty sought to investigate perception as an achievement of consciousness that undermines the subject-object opposition as it is traditionally thought: we want “to show,” he writes in his last work The Visible and the Invisible, “that the being-object and the beingsubject conceived by opposition to it and relative to it do not form the alternative, that the perceived world is beneath or beyond this antinomy, that the failure of
1
For the relation between both see Eva Schürmann: Transitions from Seeing to Thinking: On the Relation of Perception, Worldview and World-disclosure, in: Klaus Sachs-Hombach/ Rainer Totzke (eds.): Bilder, Sehen, Denken, Köln 2011, pp. 93–105; published online at http:// proceedings.eurosa.org/volume-2-2010/ (09.11.2016).
30
Eva Schürmann
‘objective’ psychology is – conjointly with the failure of the ‘objectivist’ physics – to be understood [… ] as a call for the revision of our ontology.”2 In opening two fronts against both a materialistic reductionism and an idealistic rationalism, Merleau-Ponty’s conception gains a ground in which it can show the relation between consciousness and world not as a disjoint opposition of subject and object but as their deep intertwinement. Consciousness as an embodied phenomenon, bound to the body that is itself part of the world, is always already in the midst of that which it apprehends. At the same time, the perceived phenomena have their own peculiar sense that calls for a responsive perception. Before the world can be conceptually ordered and made instrumentally manageable, we encounter it in the mode of an essentially bodily experience. Even if the body is self-reflexively and socio-culturally mediated, prior to this it represents the level where mind and thinking are rooted. The philosophical conception of consciousness forgets all too readily how consciousness is conditioned by its lived bodily existence, thereby forgetting all that situates thinking, conditions it, specifies it and embeds it in the lifeworld. In the middle of the last century Merleau-Ponty had already made explicit everything that today’s philosophy of mind explains under the headings ‘embodied,’ ‘embedded’ und ‘enacted.’ The body is the transcendental condition of all being-towards-the-world. And as such it can never be entirely objectified. The world of physics and chemistry is not the world of the phenomenal consciousness bound to its body. Hence what we call mind can never be described and explained solely in the physicalist’s vocabulary. With the help of these insights Merleau-Ponty situates perceptual processes in an intermediate zone between construction and responsiveness. Perceptual attention for Merleau-Ponty does not work like the light of a searchlight that always illuminates the objects in the same way. Rather, it is “an efficient cause of the ideas which this act arouses.”3 It is not an efficient cause of the thing itself for sure – since it is after all the peculiar meaning of the thing that is to be rescued – but of a perspective that it offers of itself: “The only way for a thing to act on a mind is to offer it a meaning, to manifest itself to it,”4 he writes early in The Structure of Behavior, and
2 3 4
Maurice Merleau-Ponty: Le visible et l’invisible, Paris 1964. English: The Visible and the Invisible, trans. by Alphonso Lingis, Evanston, IL 1968, pp. 22f. Id.: Phénoménologie de la perception, Paris 1945. English: Phenomenology of Perception, trans. by Colin Smith, London 1962, p. 26. See id.: La structure du comportement, Paris 1942. English: The Structure of Behavior, trans. by Alden Fisher, Boston, MA 1963, p. 199.
31
Embodied Perception Revisited
he specifies this thought in Phenomenology of Perception: “The sensible gives back to me what I lent to it, but this is only what I took from it in the first place.”5 The phenomenologist knows very well that no self-world-relation can be free of perspectival dressing. Yet he insists just as emphatically that it is the thing itself that presents a perspective on itself. “The effective, present, ultimate and primary being, the thing itself, are in principle apprehended in transparency through their perspectives.”6 The perspectivization proceeds from the thing just as much as from consciousness: “Perspective does not appear to me to be a subjective deformation of things but, on the contrary, to be one of their properties, perhaps their essential property.”7 Throughout all perspectives the thing shows itself to us as “to someone who wishes not to have them but to see them” and is ready “to let them be.”8 “[R]atio nality is to say that perspectives blend, perceptions confirm each other, a meaning emerges.“9 The negative movement of Merleau-Ponty’s thought consists in this zigzag course it navigates between the Scylla of a subjectivist constructivism and the Charybdis of a realism forgetful of mediation. He sees the simultaneity of receptive acceptance and spontaneous generation as a negative neither-nor. For instance, this becomes apparent when he writes that the empirical sense data are neither delivered to a receptive consciousness nor is there any ‘empty’ experience that has to be reflexively structured after the fact. Something is ‘given’ to experience and yet ‘constituted’ through the concept. It gets perspectivized reflexively and yet this perspectivization is occasioned by the specific way it is given. Hence the reality is neither found purely in the so-called object nor in the so-called subject. The essential relations at issue here, as I hope to have shown in this brief description, are those between mind and world, between the mental and the physical, experience and the experienced, thinking and being. Media such as language and images stand between consciousness and reality as symbolic and embodied forms of mediation. While the concepts of sign and symbol sometimes sound like deficient models of conventional representation, the embodiment theory10 draws our attention to the fact that mediation takes on the status of immediacy, or of the unmediated. In other 5 6 7 8 9 10
Id.: Phénoménologie de la perception, Paris 1945. English: Phenomenology of Perception, trans. by Colin Smith, London 2002, p. 249. Merleau-Ponty: The Visible and the Invisible (as fn. 2), p. 101. Merleau-Ponty: The Structure of Behavior (as fn. 4), p. 186. Merleau-Ponty: The Visible and the Invisible (as fn. 2), p. 101. Merleau-Ponty: Phenomenology of Perception (as fn. 3), p. xxii. For a general overview see Markus Wild et al. (eds.): Philosophie der Verkörperung, Berlin 2013, as well as Emmanuel Alloa et al. (eds.): Leiblichkeit: Begriff, Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Stuttgart 2012.
32
Eva Schürmann
words, the mediality between consciousness and world displays a sui generis quality. Plessner’s concept of “mediated immediacy”11 is another formulation from the history of theory that we could draw on. The perspectival disclosure of the world already represents the first stage of mediality between consciousness and world, just as between materiality and mind. For as uncontroversial as it may be that perception would not happen without neuro biological activity, it is equally certain that it cannot be reduced to determined stimulus responses. Further degrees of mediality come into play when perceptions and impressions are expressed in images and language. Ideas and conceptions are externalized in verbal, performative or iconic representations and expressive achievements, and thereby become intersubjectively operative and shape cultural practice. Mediation as it occurs between consciousness, world, and (re-)presentations of the world in semantic processes and symbolic formational activities consists in embodiments and realizations that continually augment one another. What makes Merleau-Ponty repeatedly turn to the arts is the question of whether the artist and the artwork present us with an exemplary case that can reveal something about this constellation of mediation between consciousness and world and about the resulting emergence of meaning in expression. Within this constellation Merleau-Ponty assigns a key role and bridging function to perception in general and to visual perception in particular as the motif of an interweaving of self and world. The intuition here is that the genesis of any meaning is due to an interweaving of something that exists in its own intractable form while at the same time it gets configured through perception and language. Language precedes experience and molds it, perception structures the perceived in accordance with the felt condition of the body and practical contexts, while an object of experience at the same time offers a specific perceptibility in 11
Helmuth Plessner could also be mentioned as one of the chief proponents of this idea of embodied intelligibility. His early work Einheit der Sinne [The Unity of the Senses] described his “Aesthesiology of the mind” as the “science of the sensualization of mental contents and their grounds,” where he emphasizes that “certain sensual materials are needed for certain constructions of meaning and […] others are not possible.” Helmuth Plessner: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes, in: id.: Gesammelte Schriften, vol. 3: Anthropologie der Sinne [1923], Frankfurt/M. 1980, pp. 7–315, p. 278. In his later anthropology of the senses Plessner revised his approach, but still maintained the irreducibility of intermodal, sensorimotor and proprioceptive embodiment of meaning: “The eye guides the hand, the hand confirms the eye. In the modes that our bodily organization has put at our disposal, in the manners of handling, perceiving and feeling, a corresponding physiognomy of the world builds itself up: that looks, feels, sounds. Every sense has its objective ground in what it and only it can bring out. […] all together bring us the multiplicity of the whole.” Ibid., p. 371.
33
Embodied Perception Revisited
appearing as this particular object and no other. Under these predispositions a meaning forms and transforms itself, which is however not given in the manner of a discrete object. The becoming of this meaning derives from the interaction of various sources and represents a fragile and hardly determinable affair. Within such a paradoxical arrangement of conditions, expression is no longer to be understood as a referential relation to an object, as if there first were something that then gets expressed in a second step. Rather, expression consists in the equiprimordiality of an object and its constitution by the media of world-disclosure; for instance, in a chiastic intertwinement of imitation and creation, discovery and invention. The meaning of the expressive achievement of an artwork lies for MerleauPonty among other things in allowing this intertwinement to become clear; and thus, in putting consciousness in a position to become a little more transparent to itself in its relation to the world. This sensible emergence of sense and meaning in the expressive activity of art, bound to concrete formations and formulations, to materials and situations, reflects the emergence of sense and meaning in existential and life-world contexts, namely, as incorporated in the sensible and mediated in interpersonal practice. The visual arts and painting in particular, are given such an extensive role in his philosophy of art that in his later work on a “philosophy of vision – its iconography”12 they serve as the paradigm of sensory relations to the world. One can only paint with the body, not with the mind, as Merleau-Ponty says following Paul Valéry. Hence it is exemplary of the bodily nature of seeing, a seeing that binds itself to the seen rather than panoramically soaring over it or scientifically objectifying it. He conceives of seeing as of the “inherence of the see-er in the seen.”13 In using the concept of “the visible” as that which is present to visual perception, Merleau-Ponty makes plausible how much an object given in experience is at the same time both constitutive and constituted. The visible is not just a blatant given circumstance that is equally available to everyone, but rather an expansive dimension of possibility for seeing: it is both more and less than that which is seen, because it maintains an uninterrupted relation to the invisible in the sense of the sensually absent. The invisible is a form of negativity that belongs to the positivity of the visible like silence belongs to speech. “Meaning is invisible, but the invisible
12
13
Maurice Merleau-Ponty: L’œil et l’esprit, Paris 1964. English: id.: Eye and Mind, in: The Merleau-Ponty Aesthetics Reader: Philosophy and Painting, ed. by Galen Johnson/Michael Smith, Evanston, IL 1993, pp. 121–149, p. 129. German: id.: Das Auge und der Geist: Philosophische Essays, trans. by Hans Werner Arndt et al., Hamburg 2003, p. 287: “ikonographische[n] Philosophie des Sehens.” Merleau-Ponty: Eye and Mind (as fn. 12), p. 124.
34
Eva Schürmann
is not the contradictory of the visible: the visible itself has an invisible inner framework (membrure), and the in-visible is the secret counterpart of the visible, it appears only within it.”14 Both sides mesh with each other in the manner of figure-ground constellations. The invisible owes its existence partly to seeing, which focusses or overlooks, fades out or supplements; and partly to the phenomenon itself, which distorts or eclipses something else. Within this structure the visible functions like a dispositive that occasions a perception and makes it possible, but does not determine the perception, although it does put it in perspective. For Merleau-Ponty the visual arts have a quite particular ability to bring the visibility of the visible into view; for instance, in the way that something visible is given as a dispositive interacting with the invisible. Works of art show how the visible can be seen, that is, in which way or with what kind of look.15 I would like to illuminate this thought by turning now to two contemporary artists. I have to be succinct about the contexts of the works, which I hope is justified by my systematic interest in clarification. In what follows, I discuss two pieces from the work of contemporary artists William Kentridge and James Turrell as exemplary contributions to the project that Merleau-Ponty spelled out as a revision of our understanding of subject and object.
2. The Visible and the Invisible in the Art of William Kentridge South African artist William Kentridge (born 1955) is renowned for having developed a very specific technique of image production: his works emerge from the interaction of various representational techniques and media as he photographs charcoal drawings in various stages and edits them together to produce animations. This enables him to make the genesis of the depicted forms visible and at the same time to depict their production process. The following work from the year 2013 is entitled Listening to the Image and refers to Schubert’s Winterreise (Fig. 1).16 Kentridge’s attempt in this work to fathom
14 15
16
Merleau-Ponty: The Visible and the Invisible (as fn. 2), p. 215. Here we could also feel reminded of Wittgenstein’s notion of aspect-seeing: a certain figure can be seen as a rabbit or as a duck depending on the different ways we look at it, such that this thing can disclose another aspect of itself. See Kentridge’s lecture: Listening to the Image – Neubauer Collegium Inaugural Lecture at the University Chicago at http://neubauercollegium.uchicago.edu/events/uc/kentridge/ (09.11.2016).
35
Embodied Perception Revisited
the relation between time, sound and image represents a consistent further development within his oeuvre.17 The work certainly is not illustration of the song cycle. On the contrary, there are to some extent excerpts from earlier works by Kentridge that pursue completely different themes.18 But his search is still a search for the possible correspondences between movement, rhythm, sound and form. “I think part of the images of drawing backwards in time has to do with trying to capture a different way of seeing,”19 he says about his artwork. What Kentridge himself calls “Stone-Age filmmaking”, because he only uses 25 frames per second and does not produce a new drawing for every shot but rather alters the drawings, is particularly suited to depicting within the work itself the becoming of the images and the way it is shaped by acts of depiction. Progressions of appearing and disappearing figures and images that suggest diverse interpretations transfer time into moving images. Many individual snap-shots and stages of motion are linked to each other such that the animate nature of the visible world is so to speak reenacted in the recipients’ participation in the film. A world of associative and transitory images and narrations, a world that is never entirely identical and never stands still, passes into and out of existence again and again and opens surpluses of polysemous possibilities of seeing the visible.20 Deletion, erasure, blurring, and drawing over take on particular significance. The medium of charcoal drawing allows Kentridge to take back what he has drawn again and again, to modify it, wipe it away. But traces and edges remain visible. Some parts of the erased contours remain as something incompletely obliterated. It is not entirely gone, but it remains present as a line that is never entirely undone.
17
18
19
20
For earlier works of Kentridge see my papers: Das Unsichtbare im Sichtbaren: Über den Zusammenhang von Einsicht und Blindheit, in: Gerhard Gamm/Eva Schürmann (eds.): Das unendliche Kunstwerk, Berlin 2007, pp. 179–208, as well as: Das Ungedachte denken: Vom Philosophischwerden der Kunst, in: Andreas Beyer/Danièle Cohn (eds.): Die Kunst denken: Zu Ästhetik und Kunstgeschichte, Berlin 2012, pp. 57–64. Kentridge explains this purely pragmatically: “For a new animated film I need six to nine months. Making 24 films would be almost a 20-year project. So it’s a mix. Six are entirely new, 12 have gotten new parts added and I was able to take over six without changing them at all. Every film is three to five minutes long.” This can be found at http://www.vienna.at/ william-kentridge-inszeniert-schuberts-winterreise-bei-den-wiener-festwochen/3989474 (09.11.2016). Kentridge in an interview with Lilian Tone on February 22, 1999 – on the occasion of his exhibition at The Museum of Modern Art, New York, held from April 15 to June 8, 1999. The interview can be found at: http://artarchives.net/artarchives/liliantone/tonekentridge.html (15.11.2016). For more on this see Barbara Scheuermann’s dissertation: Erzählstrategien in der zeitgenössischen Kunst: Narrativität in Werken von William Kentridge und Tracey Emin, Cologne 2006.
36
Eva Schürmann
Pictorial levels are layered on top of one another in the manner of a palimpsest, and in becoming visible themselves they make what was shown before invisible. In this way, something that has become invisible persists as something not entirely absent (Fig. 2).
37
Embodied Perception Revisited
Much of Merleau-Ponty’s conception of the visible and the invisible and the spaces of possibility that this opens is made overt in these artworks. We can distinguish between various forms of invisibility. The invisibility made palpable through the performance of the presentation is essentially an invisibility conditioned by the temporality of the perceived and perceivable world.
Fig. 1 William Kentridge: Picture Series from the Lecture Listening to the Image at Neubauer Collegium for Culture and Society at Mandel Hall, October 2013, University of Chicago.
38
Eva Schürmann
For in his oeuvre the level of representation is as thematically present as the represented. The drawn films and filmed drawings enable him to represent the otherwise invisible production process as a dimension of the representation, such as when a line that was previously the outline of a figure is transformed into a background contour or a trace of itself to be erased. The movements of the drawing hand, the erasing and rubbing and the formations that emerge before our eyes leave visible traces of themselves in the representation, they form that which is represented and themselves at the same time. The transitory nature of the processes of emergence and perception are woven into the representation to such an extent that something of the dynamism and mutability of being visible and being seen becomes visible itself. The animated medium enables Kentridge to make visible, for someone who sees, the mutability of a world enmeshed in becoming. The genesis and transformation of the visual world contain an accompanying consciousness of a temporal no-longer and not-yet, of the absent, the once-present and the expected, which are invisibilities in the midst of the visible. Kentridge can keep these invisibilities present as persisting traces in the depictional process by not just showing objects but showing how these became what they are and how they ceased being what they were. As mentioned, this refers to the various dimensions of invisibility. The invisibility of the temporality and potentiality of the visible world is different than the way vision recalls the remembered or imagined, i.e. the invisibly present. The activity of seeing is always accompanied by a partial blindness, as it is interwoven with a selective fading out or imaginative augmenting. Just as pointing is based on covering, seeing rests on a partial invisibilization, whether this takes the form of overlooking or of a figurative interpretation. Here as well we can distinguish between different forms of blindness: there is the blindness that consists in not being able to see something that is covered, while one knows very well that one cannot see it, since it is behind a curtain for example; this is essentially different from the blindness that consists in not seeing at all that one is not seeing. An ascribed meaning differs from that which is too small or too far away for the human eye, the unnoticed is different from that which is temporarily obstructed from view. In all these cases however the invisible is the horizon against which the visible first appears and can be seen. Kentridge turns his attention to another dimension of invisibility when he tries to transfer the invisibility of sound into an image, as he does in this work from 2013. He can, of course, not make the invisible ‘itself’ visible, not any more than anyone else. But he can make visible that there is the invisible, not as an objective correlate, but rather as a structural moment of the exchange between the seeing and
39
Embodied Perception Revisited
Fig. 2 James Turrell: Afrum Catso Blue, 1967, Santa Fe, Collection of Lannan Foundation.
the visible. Such an identification of the invisible cannot positively demonstrate anything, but it can clearly identify the space that enables the constellations of the visible and the invisible. While Merleau-Ponty writes: “The joy of art lies in its showing how something takes on meaning – not by referring to already established and acquired ideas but by the temporal or spatial arrangement of elements,”21 Kentridge’s project is to produce precisely such figurative arrangements that allow the otherwise invisible 21
Maurice Merleau-Ponty: Le cinéma et la nouvelle psychologie, in: Sens et non-sens, Paris 1948. English: The Film and the New Psychology, in: Sense and Non-Sense, trans. by Hubert Dreyfus/Patricia Allen Dreyfus (trans.), Evanston, IL 1964, pp. 48–59, p. 57f.
40
Eva Schürmann
process of production to make an appearance through the performative interaction of drawing, photography and film. The performativity of the representation imports itself into that which is represented, rather than making itself transparent for what is shown and covering itself. The artist retains the erased or deleted as a trace of the invisible within the representational expression, as a remembrance of the once-present and as an interpretive possibility of surpluses of the visible that can always be seen differently. Showing the otherwise invisible process of production, making the produced nature of the representation, its genesis and the development of its form as much a the matic focus as that which is represented, are the peculiar qualities of this art.
3. Perception as Milieu in the Art of James Turrell My second key witness for an ‘iconographic philosophyʼ of aisthetic worlddisclosure based on Merleau-Ponty is the American artist James Turrell (born 1943). Turrell has created an oeuvre out of light installations that explores the appearance and perception of non-objectual light phenomena. In his work the aisthetic becomes a field for bringing to self-consciousness the perceptions that are not exhausted in the identification of something, but that fulfill themselves in maintaining their own presence as an end in itself.22 The apex of his life-work is a large-scale observatory for light phenomena in the desert of Arizona that the artist has worked on since the 70s and that has since taken on spectacular dimensions, even as it still remains unfinished. With the aid of light that has been liberated from its usual function – an instrument that can be switched on and off to make something else visible – and instead serves to make lightness and color themselves visible, the space itself becomes perceivable in an unusual manner. Lightness and color can be experienced as aisthetic dimensions of a certain milieu, namely as that wherein the beholder finds herself and through which she moves. Space and light surround the spectator as situative arrangements that affect how the body as a whole feels. This bodily aesthetic experience determines a relation of the observer to the artwork that differs
22
A thorough and systematic examination of Turrell’s oeuvre in terms of its applicability to the perceptual philosophy of Merleau-Ponty can be found in my book: Eva Schürmann: Erscheinen und Wahrnehmen: Eine vergleichende Studie zur Kunst von James Turrell und der Philosophie Merleau-Pontys, Munich 2000. At the time of this book the Roden Crater was still in preparation.
41
Embodied Perception Revisited
Fig. 3 James Turrell: Celestial Vault in Kijkduin, 1996, reclining bench, The Hague, Permanent collection of Stroom Den Haag, The Hague’s Center for Visual Art.
from the traditionally conceived subject-object relation in that the work surrounds the observer rather than being present before her as an object. “I hope,” Turrell says, “that the observer sees their own seeing and that this act of self-reflection, this seeing oneself seeing, tells us more about the observer’s seeing.”23 Turrell’s earliest works are called Projection Pieces (Fig. 3). This group of works includes the Single Wall Projections as well as the Cross Corner Projections, which show geometric surfaces of bright light. In the case of the diagonal projections the viewer’s perception fluctuates between spatial and planar impressions. From a distance the figure is perceived as a volume, that is, a form extended in space, a body of light that seems to be holding itself against the wall. Coming closer, one sees a field of light on the wall having no extensions. The projection emerges from out of a
23
Turrell quoted from a conversation with Ziva Freiman, in: Peter Noever (ed.): Positionen zur Kunst: MAK-Round-Table, Vienna 1994, p. 11.
42
Eva Schürmann
vague presence to take on the clear contours of a pyramid against the wall, only to again disappear into the two-dimensionality of a triangle. With those qualities his works offer experiences that go right to the heart of our relation to reality. Each reality exists as appearance and has to be experienced as perception. Without perception, there is no world for us. Therefore the aesthetic event becomes a visceral elucidation of questions that are philosophically very complex: Where does the difference between a merely apparent object and a perceived object come from? What allows for the distinction between a perception and an illusion? The truth of perception depends on the one hand on the phenomenon that necessarily appears in a certain light, and on the other hand on the beholder who necessarily perceives from a certain point of view. We cannot exactly distinguish between what something is and how it appears, sometimes not even between what appears and how it does so. In the works of the group named Sensing Spaces the perceptual impression of spatiality can switch in a similar manner from spatiality to flatness because the work flips from one manner of appearing to another. The artwork’s ability to appear different ways at different times places it in the openness of continually new realities of appearance that never arrive at any final state. Since there is no real thing that appears, one might come to the justified opinion that one is confronted here with the strangeness of appearing appearing: we see the appearing itself, the temporal process, without a thing that appears. Confronting Merleau-Ponty’s philosophy with Turrell’s art is fruitful in showing how those thoughts that are theoretically aporetic become a sort of objectlesson in the aesthetic experience. They become vivid reality. The observer steps into the work in order to become conscious of her own perception. A focusing or identifying gaze does not achieve anything at all in the nebulous light fields; but the observer who instead looks at how the phenomenal qualities of the colors and forms change and evolve will experience the aisthetic as a being-open for something that appears, the appearing of which is produced as much as it is experienced by the observer. For the artistic phenomenon can only show itself and little by little start to unfold the various ways it appears when it is realized by someone perceiving it. It is perception that offers access to the work’s various possibilities of being, as a body of light in front of the wall, as spatial depth behind it or as surface. The work is not present to us as something factually given, but is a perceptual (f-)act that surrounds us as a spatial and temporal situation. It is only the activity of perception – the movements closer or further away in space, the time needed for the observer’s retinas to adjust, the observer’s felt bodily state, etc. – that develops the aisthetic phenomena in their mutability. The perspectival essence of perception is capable of realizing the shifting modes of the works’ appearance. One learns that seeing and perceiving do not mean decoding a clear constellation
43
Embodied Perception Revisited
between sign and signification, but a specific way of grasping the sense of the sensual. Since 1977 James Turrell has been working on his largest and most ambitious project, a volcanic crater in the Arizona desert that is to become a modern observatory based on Newgrange’s prehistorical model – a quite complex station to observe the plural forms of aesthetic light events as well as the beauty of the landscape and the light of the sky. Even if the project would remain incomplete, the spaces that have already been realized present very unusual perceptual options. Various rooms make daylight and nightlight visible in different sections of the inside of the crater, the glowing stars, the light of the sky reflected in the obsidian floor, and the sunrise and moonrise, which are enhanced by Turrell’s directorial interventions. There are encounters with cold blue tones from northern openings to the space and with warm red tones from the eastern or western openings. In circular rooms with curved openings the sky can be experienced as a dome. The blue that allows the breadth of the sky to resound opens up the possibility of color perception as an objectless perceptual experience of a luminous fog. The space appears as the site of intensive effects of light and color in which the colorful mist seems to float. Though the intangible, impalpable phenomenon is not any kind of object, nonetheless the colored appearance has a quality that can be physically felt. The works have a day side and a night side and make time as the transitory nature of the moment an aesthetic experience. While we can look forward to seeing how the project will continue to develop, we can say that this work presents the mediality of space, time, light and perception in an unparalleled and unique manner. A type of a skyspace on a smaller scale can be visited in the Netherlands in Kjikduin (Fig. 4). Seen systematically in terms of an emphatic conception of the body, this work brings to experience precisely what Merleau-Ponty called for with his revision of the subject-object ontology, namely the intercrossing, based on the felt condition of the body, of a touched and touching exchange with sensually incarnated meaning. A sensually incorporated sense means an actually given presence, which eventually enables us to come to knowledge by aquaintance. This type of knowledge lies in the experience of perception as the principle of our way of dealing with reality. Getting an experience of the sense of sensuality means understanding a general principle through a particular. This is relevant to knowledge because it tells us something about the access to the world not only in the context of art, but also in daily life. The aesthetic experience of appearing appearances and perceived perceptions offers a notion of the relation between self and world. This notion is no longer the traditional concept of subject and object.
Marion Lauschke
Ikonische Formprozesse und Affordanzen John Dewey und Paul Klee
1. Einleitung The only thing that is unqualifiedly given is the total pervasive quality; and the objection to calling it ,given‘ is that the word suggests something to which it is given, mind or thought or consciousness or whatever, as well possibly as something that gives. In truth ,given‘ in this connection signifies only that the quality immediately exists, or is brutely there. In this capacity, it forms that to which all objects of thought refer, although, as we have noticed, it is never part of the manifest subject-matter of thought. In itself, it is the big, buzzing, blooming confusion of which James wrote. This expresses not only the state of a baby’s experience but the first stage and background of all thinking on any subject. There is, however, no inarticulate quality which is merely buzzing and blooming. It buzzes to some effect; it blooms toward some fruitage. That is, the quality, although dumb, has as a part of its complex quality a movement or transition in some direction. It can, therefore, be intellectually symbolized and converted into an object of thought.1 In dieser Passage des Aufsatzes „Qualitative Thought“ fasst John Dewey dicht gedrängt die Charakteristika qualitativen Denkens zusammen, das am Beginn jeder Denktätigkeit steht. In der Betonung der Prozessualität der Artikulation, der Indifferenz von Subjekt und Objekt und nicht zuletzt in der Beschreibung der begrifflich nicht zu fassenden komplexen Form des Qualitativen ist die Passage geeignet, in das Denken in und mit Bildern einzuführen, das als „ikonischer Formprozess“ bezeichnet
1
John Dewey: Qualitative Thought, in: The Later Works. 1925–1963, vol. 5: 1929–1930, hg. v. Jo Ann Boydston, Carbondale, IL 2008, S. 243–262, S. 254.
46
Marion Lauschke
werden soll. Die Bestimmung und Kontextualiserung „ikonischer Formprozesse“ steht im Zentrum dieses Textes. In einem ersten Schritt soll mithilfe der Konzeption des qualitativen Denkens John Deweys die Kontinuität ikonischer Formprozesse erläutert werden. Im zweiten Schritt wird dies durch eine Betrachtung des Bildes „Bedrohung und Flucht“ von Paul Klee konkretisiert. In einem dritten Schritt wird die Begriffsbestimmung ikonischer Formprozesse um eine relationale und eine interaktive Komponente erweitert, die über den Begriff der Affordanz gewonnen werden. Als „Affordanz“ wird innerhalb der ökologischen Psychologie der „Angebotscharakter“ eines Gegenstandes verstanden. Ikonische Affordanzen, dies sei vorweggeschickt, sind als das Potential von Bildern zu begreifen, aus dem in der Interaktion mit dem Betrachter ikonische Formprozesse emergieren.
2. Die Kontinuität von Deweys qualitativem Denken „Subjekt“ und „Objekt“ sind im qualitativen Denken John Deweys nicht ge trennt, sondern durch Indifferenz gekennzeichnet. Weder ist das Objekt dem Subjekt als ein solches gegeben, noch erfährt sich dieses selbst als ein von einem Objekt Unterschiedenes. Das Denken hat seinen Gegenstand nicht als eine Vor-Stellung, sondern es ist von ihm durchdrungen. „Pervasive“ ist Deweys Bezeichnung dafür. Das qualitative Denken ist nicht mit dem „Haben“ eines Gefühls zu verwechseln, denn es bezeichnet eine Situation, die sich in der Interaktion von Subjekt und Objekt entfaltet. Nur in Abgrenzung gegenüber einem Verständnis, welches das Qualitative als einen Gegenstand des Denkens begreift, lässt Dewey die Interpretation zu, „that the situation as qualitative whole is sensed or felt“.2 Auch die Form des qualitativen Denkens ist durch Kontinuität gekennzeichnet. Es ist „unqualified“ und durch „confusion“ gekennzeichnet. Es ist somit unartikuliert und es mangelt ihm, in der Leibniz-Baumgarten’schen Unterscheidung des Klaren, aber Konfusen, von Distinktem – mithin der Unterscheidung ästhetischer Formen von begrifflich artikulierten – an Binnendifferenzierung. Klaren, aber konfusen Formen eignet jedoch eine sinnlich wahrnehmbare Gesamtqualität. Kontinuierlich ist das qualitative Denken auch in seiner Transformation. Auf dem Weg der Bestimmung durch Artikulation transformiert es sich, bleibt aber als Hintergrund präsent, als Ziel leitend und als psychosomatische Tönung des Gedankens bestehen. Würde es dieser entbehren, wäre es Dewey zufolge kein Gedanke 2
John Dewey: The Later Works. 1925–1953, vol. 12: 1938. Logic: The Theory of Inquiry, hg. v. Jo Ann Boydston, Carbondale, IL 2008, S. 73.
47
Ikonische Formprozesse und Affordanzen
mehr: „Whenever an idea loses its immediate felt quality, it ceases to be an idea and becomes, like an algebraic symbol, a mere stimulus to execute an operation without the need of thinking.“3 Möglich wird die Transformation des Qualitativen durch den vektoriellen Charakter, der ihm eigen ist. Dewey zufolge gibt es kein qualitatives Denken, das nicht bereits auf dem Weg der Artikulation ist. Artikulation erfolgt in verschiedenen symbolischen Formen, vor allem in der Sprache und in Bildern. Dabei sind Bilder in besonderem Maße geeignet, die Verbindung mit dem qualitativen Entstehungsgrund sichtbar werden zu lassen.
3. Ikonische Formprozesse Der integrativen Anthropologie Matthias Jungs kommt das Verdienst zu, das sich symbolisch artikulierende menschliche Denken sowohl gegen seine Sterilisierung durch sprachidealistische Ansätze als auch gegen seine Versimplifizierung und Vernützlichung durch übereifrige reduktionistische Naturalisten zu verteidigen. Das qualitative Denken, insbesondere dasjenige John Deweys, nimmt darin eine besonders prominente Stellung ein.4 Jungs Konzeption semantischer Typen, die durch unterschiedliche Verhältnisse von Qualitativem und Semantischem bestimmt werden, wird hier zur deutlicheren Konturierung des Begriffs ikonischer Formprozesse herangezogen. 3 4
John Dewey: The Later Works. 1925–1953, vol. 10: 1934. Art as Experience, hg. v. Jo Ann Boydston, Carbondale, IL 2008, S. 125. Vgl. Matthias Jung: Der bewusste Ausdruck: Anthropologie der Artikulation, Berlin 2009, insbes. S. 210–221 und 470–480; ders.: Qualitative Erfahrung in Alltag, Kunst und Religion, in: Gert Mattenklott (Hg.): Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste: Epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich, Hamburg, 2004 (Sonderheft der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft), S. 31–53; ders.: „Making us Explicit“ – Artikulation als Organisationsprinzip von Erfahrung, in: Magnus Schlette/Matthias Jung (Hg.): Anthropologie der Artikulation, Würzburg 2005, S. 103– 142; ders.: Qualitatives Erleben und artikulierter Sinn, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 3 (2005). Wiederabdruck in: Wilhelm Gräb/Jörg Herrmann/Lars Kulbarsch u.a. (Hg.): Ästhetik und Religion: Interdisziplinäre Beiträge zur Identität und Differenz von ästhetischer und religiöser Erfahrung, Frankfurt/M. 2007, S. 238–256; ders.: Handlung, Erleben, Mitteilung – Bewusstseins als Interaktionsphase, in: ders./Jan-Christoph Heilinger (Hg.): Funktionen des Erlebens: Neue Perspektiven des qualitativen Bewusstseins, Berlin 2009, S. 217–251; ders.: ,Leaving it implicit‘: Zur anthropologischen Prägnanz von Unbestimmtheit, in: Ingolf Dalferth/Philipp Stoellger/Andreas Hunziger (Hg.): Unmöglichkeiten: Zur Phänomenologie und Hermeneutik eines modalen Grenzbegriffs, Tübingen 2009, S. 185–198; ders.: Hintergrunderleben und semiotische Generalisierung, in: Joerg Fingerhut/Sabine Marienberg (Hg.): Feelings of Being Alive, Berlin 2012, S. 293–310.
48
Marion Lauschke
Unbestimmtheit, die in Jungs Typologie in drei Formen vertreten ist, charakterisiert er als „qualitative Präsenz eines Möglichkeitshorizontes der Bestimmung“.5 „Präsemantische Unbestimmtheit“ ist der Typus des „unthematischen Hintergrunds des Lebensvollzuges“,6 der den Beginn des Artikulationsprozesses markiert. „Unbestimmte Bestimmtheit“ ist dessen misslungener, wenngleich zuweilen auch in vernebelnder Absicht erfolgter Bestimmungsversuch. „Postsemantische Unbestimmtheit“ ist eine Form „semantischer Selbstaufhebung“,7 durch die mit Bestimmtheit ausgesagt wird, dass etwas nicht aussagbar ist, und die Jung mit Religion und Kunst in Verbindung bringt. In der Kunst wie in der Religion werde „mit semantischen Mitteln das Überschießende des qualitativen Erlebens, allgemeiner der Wirklichkeit in ihrer erfahrbaren Komplexität […] bestimmt, also der Symbolprozess selbst zum prägnanten Ausdruck des Ungenügens gegenüber intensiv erlebter Unbestimmtheit“.8 Jung schränkt ein, dass sich seine Konzeption postsemantischer Unbestimmtheit auf sprachlich verfasste Kunstwerke, nicht auf Bilder bezieht, und sie kann sich, so die hier vertretene These, auch nur auf Sprachliches beziehen, da die Entgegensetzung von „bestimmt“ und „unbestimmt“, wie im Folgenden gezeigt wird, bei ikonischen Formprozessen nicht greift. Er denkt Artikulation vor allem im Medium einer an Syntax, Sequenzialität und Diskretheit orientierten Sprachlichkeit9 und berücksichtigt daher weder die prosodischen Qualitäten gesprochener Sprache noch die Möglichkeiten der Poesie, der Sequenzialität der Sprache entgegenzuwirken, durch welche sich auch Sprache als ikonisch erweist. Bilder10 sind in besonderem Maße geeignet, die Kontinuität des Qualitativen als einen ikonischen Formprozess in Szene zu setzen, indem sie, wie Gottfried Boehm beschreibt, die „Latenz des Grundes“11 erfahrbar machen. Die Spannung oder Vektorialität, die der Latenz eignet und die der Betrachter in der Wahrnehmung realisiert, entsteht aus der „ikonischen Differenz“, d.h. dem Gefälle zwischen der Kontinuität des Grundes und dem entstehenden Distinkten. Die Bildern eigene Latenz des Grundes stellt dabei keine Ambiguität im Sinne von Unentschiedenheit zwischen distinkten Möglichkeiten dar, sondern ist eine spezifisch ikonische Weise der Gestaltung von Spannung und Dynamik. Der Grund ist kein solider Anfang oder 5 6 7 8 9 10 11
Jung: Der bewusste Ausdruck (wie Anm. 4), S. 473. Ebd. Ebd., S. 477. Ebd., S. 475. Vgl. Matthias Jung: Stages of Embodied Articulation, in: Gregor Etzelmüller/Christian Tewes (Hg.): Embodiment in Evolution and Culture, Tübingen 2016. Mit „Bildern“ sind hier in erster Linie Werke der Bildenden Kunst gemeint. Gottfried Boehm: Der Grund: Über das ikonische Kontinuum, in: ders./Matteo Burioni (Hg.): Der Grund: Das Feld des Sichtbaren, München 2012, S. 28–92, S. 74.
49
Ikonische Formprozesse und Affordanzen
Fundament, auf dem eine Figur ruht, sondern erweist sich als Beziehungs- und Konturierungsgeschehen, das seinen Gang nimmt, sobald es einen Betrachter in den Bann zieht. Der „Grund“ der Sprache, vor dem sich sprachliche Artikulation vollzieht, ist – sieht man von der kontinuierlichen Lautgestaltung und emotionalen Tönung der gesprochenen Sprache ab – das wimmelnde Meer differenter Wörter.12 Der Grund der Bilder ist eine Kontinuität, die bereits durch Kontraste und nicht erst durch distinkte Gestaltung wie Figuren in ihrer Virulenz inszeniert wird. Bilder zeichnen sich des Weiteren, wie Boehm mit dem Begriff der „ikonischen Differenz“ prägnant gefasst hat, durch die gleichzeitige Anwesenheit und den dadurch möglichen Fokuswechsel von Bestimmtem und Unbestimmtem aus. Jungs Typologie des Unbestimmten schöpft die Möglichkeiten, die die Konzeption des Qualitativen bietet, nicht aus. Das Ikonische ist eine semantische Übergangsform, welche die Dichotomie von Bestimmtheit und Unbestimmtheit infrage stellt. In Deweys qualitativem Denken kommt nicht nur eine erlebnisnahe Form der Erfahrung zum Ausdruck, sondern wird zugleich Ontologie als eine schlechte Ge wohnheit betrachtet, welche das Wesen der Dinge aus ihrem Kontext löst und in einem An-Sich festschreibt: „Things, objects, are only focal points of a here and now in a whole that stretches out indefinitely.“13 Eine Ontologie, die Kontinuitäten denken kann, fordert jedoch auch eine Epistemologie, die sich vom Zwang zur Propositionalität befreit. Doch es sind nicht nur die Objekte, die in Deweys qualitativem Denken entgrenzt werden. Auch das Subjekt verliert den herausgehobenen Status einer Bestimmungsfunktion und wird in einen Prozess der wechselseitigen Bestimmung – der Transaktion – überführt, welcher sich nur situativ fassen lässt. Eine „Postsemantik der Bilder“ würde sowohl den prozessualen Charakter des Ikonischen verkennen, der in der spezifischen zeitlichen Verlaufsform sinnlicher Wahrnehmung sein Korrelat hat und durch den Verweisungszusammenhang der Selbstreferentialität nicht erfasst werden kann, als auch den körperlichen Interak tionszusammenhang mit Bildern, der nicht nur, wie Jung schreibt, der Expressivität „ermöglichend vorausliegt“,14 sondern indem sich der ikonische Formprozess realisiert. Während ein statischer Formbegriff, gegen den der Begriff des „ikonischen Formprozesses“ gerichtet ist, von einem tragenden Grund und einem sich darüber erhebenden Vordergrund ausgeht, löst die prozessuale Form die vermeintliche Solidität
12 13 14
Vgl. den Beitrag von Oswald Schwemmer in diesem Band, S. 191. Dewey: Art as Experience (wie Anm. 3), S. 197. Jung: Der bewusste Ausdruck (wie Anm. 4), S. 480. In seinem Aufsatz Stages of Embodied Articulation (wie Anm. 9) strebt Jung eine organischere Integration des verkörperten Zeichengebrauchs und eines symbolischen Transzendierens an, indem der die Kopplung des Artikulationsprozesses an gefühlte körperliche Qualitäten hervorhebt.
50
Marion Lauschke
des Grundes in ein Relationsgefüge auf. Mit der Thematisierung von Formprozessen, die durch qualitative Übergänge gekennzeichnet sind, wird die „harte Grenze symbolischer Transparenz“ entgegen der Einschätzung Jungs sowohl „symbolisch ,verflüssigt‘“15 als auch getrübt und dynamisiert.16 Nur wer die Materialität der Symbolkörper außer acht lässt, kann Symbolizität mit Transparenz engführen. „Embodiment“ – nicht nur der Symbolverwender, sondern auch der Symbole – „makes thought logically vague, but it also makes thought possible.“17 Körperlichkeit geht der Symbolizität nicht nur ermöglichend voraus, sondern schafft durch Vagheit Möglichkeitsräume der Expressivität, die einer an der Dialektik von Bestimmtheit und Unbestimmtheit orientierten Artikulation verschlossen bleiben.
4. Zirkuläre Formprozesse in Paul Klees Bedrohung und Flucht Dass man, wenn man einen ikonischen Formprozess thematisieren möchte, von einer Kontinuität ausgehen muss, die, streng genommen, keinen Beginn und kein Ende hat, lässt sich an Paul Klees Bedrohung und Flucht von 1927 zeigen (Bild 1). Klee, demzufolge „Bewegung das Gegebene“ und Ruhe „als materielle Hemmung der gegebenen Bewegung“18 zu betrachten sei, führt Formen auf Formprozesse der Gestaltung und Wahrnehmung zurück. Bedrohung und Flucht von 1927 macht solche Formprozesse in ausgezeichneter Weise erfahrbar. Im mittleren Teil des Bildes Bedrohung und Flucht aus dem Jahr 1927 kontrastiert ein unscharf konturiertes dunkles Farbgewölk ein durch weniger dichten Farbauftrag erzeugtes helles und konkurriert mit diesem kontinuierlich um den Vordergrund. So entsteht im Zentrum eine starke, nicht stillzustellende Gegenbewegung von Lichtung und Verdunklung, während an den kontrastärmeren Rändern Verläufe dominieren. Die aus dem Herstellungsprozess resultierende Strukturierung des 15 16
17
18
Jung: Der bewusste Ausdruck (wie Anm. 4), S. 480. In seinem Aufsatz Qualitative Erfahrung in Alltag, Kunst und Religion (Anm. 4), S. 48, weist Jung zwar auf die „interne Durchdringung von Verlaufsform und Inhalt, von physischem Medium und semantischem Sinn“ hin, nimmt diese Einsicht jedoch später nicht wieder auf. Vgl. zu diesem Thema den Aufsatz von Marion Lauschke: Zur Transparenz und Opazität von Bildern und Bildakten, in: Ulrike Feist/Markus Rath (Hg.): Et in imagine ego: Facetten von Bildakt und Verkörperung, Berlin 2012, S. 27–40. John M. Krois hat den Zusammenhang von Embodiment und Vagheit erläutert in: Image Science and Embodiment. Or: Peirce as Image Scientist, in: ders.: Bildkörper und Körperschema: Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, hg. v. Horst Bredekamp/Marion Lauschke, Berlin 2011, S. 194–209, S. 207. Paul Klee: Beiträge zur bildnerischen Formenlehre, Vorlesung vom 27.02.1922, Klee Archiv Bern, Inv., Nr.: BF/98.
51
Ikonische Formprozesse und Affordanzen
Bild 1: Paul Klee: Bedrohung und Flucht, 1927, Feder und Aquarell auf Papier und Karton, 48 × 31 cm, Bern, Zentrum Paul Klee.
52
Marion Lauschke
g roben Büttenpapiers, das durch Trocknung eines wässrigen Faserbreis auf einem Sieb gewonnen wird, dynamisiert den Bildgrund und weist auf den Transformationsprozess der materiellen Grundlage des Bildes. Gerade noch oder bereits zu sehen sind in der unteren Bildhälfte labyrinthisch verschachtelte Bahnungen, kristalline Strukturen oder gespannte Bänder, die sich in schwarzer Tinte auf heller Fläche zart abzeichnen. Sie sind durch offene Enden mit ihrem Entstehungsgrund verbunden und enden dort, wo sie von einer anderen Struktur begrenzt werden, als Sackgasse. Auffällig ist im Zentrum des Bildes eine Zone, die durch den Übergang zweier Zustände – zwischen amorph und strukturiert – gekennzeichnet ist. Die im spitzen Winkel aufeinander zu laufenden Bahnungen konvergieren in eine nach links unten ausgerichtete Struktur. Diese gewinnt in ihrer keilförmige Gestalt an gerichteter Dynamik, welche sich von einem durch verschieden gerichtete Linienverläufe geprägten Umfeld und zwischen zwei durch kreisförmige Anordnung der Bahnen rotierenden Strukturen abhebt. Zu erahnen sind in dieser keilförmigen Gestalt die Steuerfedern und der Schaft eines Pfeils, dessen Spitze wiederum als in der leicht bekleksten hellen Fläche verschwindend imaginiert werden kann. Links neben der beschriebenen Struktur ist scharf konturiert und mit der Solidität eines gefüllten Farbkörpers abermals ein Pfeil zu sehen. Wohin weist er? Auf die Entstehung und Auflösung einer Struktur, in der ein Pfeil ausgemacht werden kann. Die Klarheit des Symbols der logischen Schlussfolgerung und mit ihm die Logik der Prämissen und Konklusionen wird ikonisch ad absurdum geführt, denn der Pfeil verweist auf den Prozess seiner Entstehung und seiner Auflösung, mithin auf einen ikonischen Formprozess. Der Bildwitz des Pfeils besteht darin, dass er auf nichts anderes als auf sich selbst verweist. „Bedrohung“ und „Flucht“ sind in Klees Bild nicht konsekutiv, sondern als endloser Kreislauf inszeniert. Die Bewegungen des Heraufziehens und Zurücktretens des dunklen Farbgewölks lassen sich nicht stillstellen, die gezeichneten Bahnen verlaufen in Sackgassen, im Kreis oder verlieren sich in der „Latenz des Grundes“. Aus dem ikonischen Formprozess dieses Bildes, der sich auch als kontrastive Dynamik diffuser Farbflächen und Linien beschreiben lässt, gibt es keinen Ausweg. Der Körper des Betrachters, der im Beschreiten der gezeichneten Sackgassen ermüdet und auf den hin erst von einem Heraufziehen und Zurücktreten des wolkigen Dunkels gesprochen werden kann, ist, mit Maurice Merleau-Ponty, „das beständig mitanwesende Dritte in der Struktur Figur-Hintergrund“.19 Der Bildraum, in dem dieses Geschehen stattfindet, ist eine „Situationsräumlichkeit“,20 die Figur, Grund und Betrachter umgreift und nur in ihrer Interaktion zu fassen ist.
19 20
Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 61974, S. 126. Ebd., S. 125.
53
Ikonische Formprozesse und Affordanzen
In dieser Performanz des Bildes, an welcher der Betrachter durch Blickbewegungen und Änderungen des Fokus mitwirkt, und nicht in der bestimmten Verweisung auf Unbestimmtes, liegt die Bedeutung dieses Bildes. Der Begriff des „ikonischen Formprozesses“, so lässt sich zusammenfassen, bezeichnet die dynamische Verlaufsform, in der Bilder durch Interaktion mit dem Betrachter emergieren und ihren spezifischen zeitlich ausgedehnten performativen Sinn erhalten.
5. Dewey, Affordanzen und der Enaktivismus Wenngleich der Begriff der „Affordanz“ in der Werkzeugkiste Deweys nicht zu finden ist, kann seine pragmatistische Konzeption der Wahrnehmung und Erfahrung als grundlegend für die ökologische Psychologie, die den Begriff der „Affordanz“ geprägt hat, gelten.21 Als wichtige Quelle des Enaktivismus, in dessen Zentrum neben den Begriffen des „Sense-making“ und der „Emergenz“ der Begriff der „Affordanz“ steht, ist John Dewey inzwischen anerkannt.22 Dass es möglich ist, mit Dewey erste Schritte in Richtung einer Erweiterung des bislang weitgehend auf natürliche Umwelten reduzierten Enaktivismus zu skizzieren, soll im Folgenden im Hinblick auf „ikonische Affordanzen“ gezeigt werden. Durch die Konzeption „ikonischer Affordanzen“ wird die interaktive, relationale Komponente ikonischer Formprozesse und ihre Verbindung zum Enaktivismus deutlich. Der Enaktivismus ist eine auf Francisco Varela und Humberto Maturana zurückgehende Kognitionstheorie autonomer und zugleich adaptiver Lebewesen, die sich aufgrund ihrer sensomotorischen Fähigkeiten selbsterhaltend in ihrer Umwelt bewegen.23 In seiner Ursprungsform ist der Enaktivismus vor allem auf Erfordernisse der Lebenserhaltung wie Probleme der Nahrungssuche, die der Mensch mit 21 22
23
Vgl. Svend Brinkmann: John Dewey: Science for a Changing World, New Brunswick 2013, S. 58. Vgl. Shaun Gallagher: Philosophical Antecedents of Situated Cognition, in: Philip Robbins/ Murat Aydede (Hg.): Cambridge Handbook of Situated Cognition, Cambridge, MA 2009, S. 35–52, der neben Merleau-Ponty, Heidegger und Wittgenstein Dewey als wichtigste Quelle unter den Philosophen des 20. Jahrhunderts bestimmt; Matthias Jung: Verkörperte Intentionalität. Zur Anthropologie des Handelns, in: Bettina Hollstein/Matthias Jung/Wolfgang Knöbl (Hg.): Handlung und Erfahrung: Das Erbe von Historismus und Pragmatismus, und die Zukunft der Sozialtheorie, Frankfurt/M./New York 2011, S. 25–50, S. 32, der den Enaktivismus als „Fortsetzung von Deweys Reflexbogenaufsatz auf dem Stand des heutigen wahrnehmungsphysiologischen Wissens“ liest, sowie Joerg Fingerhut/Rebekka Hufendiek/Markus Wild (Hg.): Philosophie der Verkörperung, Berlin 2013. Humberto Maturana/Francisco Varela: The Tree of Knowledge: The Biological Roots of Human Understanding, Boston 1987; Francisco Varela/Evan Thompson/Eleanor Rosch: The Embodied Mind: Cognitive Science and Human Experience, Cambridge, MA 1991.
54
Marion Lauschke
anderen autonomen Lebewesen teilt, zugeschnitten. Gemäß seiner naturalistischen Konfession versucht der Enaktivismus die von der philosophischen Anthropologie bislang durch Reflexivität gekennzeichnete Grenze zwischen Mensch und Tierreich einzuebnen und das menschliche Denken in einer Kontinuität mit nichtmenschlichen Formen „sinnvollen“ Verhaltens zu denken. Dies geschieht über den Begriff der „Kognition“, der neben propositionalem Wissen auch implizites, prozedurales Wissen und ganz allgemein niedrigschwelliges intelligentes Verhalten umfasst. Der Enaktivismus teilt mit Deweys Pragmatismus den Primat der praktischen Problemlösung und der Handlung oder Bewegung als Ausgang und Voraussetzung kognitiver Prozesse. Beiden Ansätzen gemeinsam ist ein systemischer Ansatz, der die Verbundenheit von Organismus und Umgebung voraussetzt. Im Enaktivismus wird diese Verbundenheit als „coupling“ bezeichnet, bei Dewey „fortlaufende Koordination“ oder „Interaktion“, in seinem Spätwerk auch „transaction“.24 Wie schon Dewey wendet sich auch der Enaktivismus gegen eine konstruktivistische Erkenntnistheorie. Für die Frage, „how one sort of existence, purely mental, temporal but not spatial, immaterial, made up of sublimated gaseous consciousness, can get beyond itself and have valid reference to a totally different kind of existence – spatial and extended; and how it can receive impressions from the latter“,25 hat Dewey nur Spott übrig – er bezeichnet eine solche Epistemologie als „confirmed intellectual lock jaw“.26 Wie im Enaktivismus bilden auch bei Dewey der autonome Organismus und seine Umwelt nicht getrennte Ausgangspunkte, sondern es ist die Situation, aus der beide emergieren bzw. „ko-emergieren“. Für das Verständnis von Qualität im Sinne Deweys und auch von ikonischen Formprozessen ist diese primäre Indifferenz von Subjekt und Objekt essentiell, denn sie beginnen als Affektionen, die zugleich propriozeptiv und exterozeptiv wahrgenommen werden können. „Only by analysis and selective abstraction can we differentiate the actual occurence into two factors one called organism and the other, environment.“27 Qualitäten sind Kennzeichen einer Situation, die Organismus und Umwelt umfasst. Wenn Dewey gelegentlich von Qualitäten als Gefühlen spricht, sie also auf der Subjektseite verortet, gibt er zumeist rasch zu erkennen, dass dies in uneigentlicher Rede erfolgt. Die Definition des „ikonischen Formprozesses“ als „Interaktionszusammenhang“ versucht diese Komplexität zum Ausdruck zu bringen.
24 25
26 27
John Dewey/Arthur Bentley: Knowing and the Known, Boston 1949. John Dewey: Does Reality Possess Practical Character, in: ders.: The Essential Dewey, vol. 1. Pragmatism, Education, Democracy, hg. v. Larry A. Hickman/Thomas M. Alexander, Bloomington/Indianapolis, IN 1998, S. 124–133, S. 133, Anm. 6. Ebd. John Dewey: Conduct and Experience, in: ders., The Later Works 1925–1963, vol. 5: 1929–1930, hg. v. Jo Ann Boydston, Carbondale, IL 2008, S. 218–235, S. 220.
55
Ikonische Formprozesse und Affordanzen
Um einen Dualismus in der Konzeption von Körper und Geist sowie Organismus und Umwelt zu überwinden und beide als Teile eines Systems zu denken, die bereits auf präreflexiver Ebene miteinander interagieren, woraus bewusste Wahrnehmungen erst emergieren, setzt Dewey auf der untersten Ebene der Erfahrung an: d.h. bei dem, was er „Elementareinheit des Verhaltens“ nennt. Mit dieser Elementareinheit will er das Stückwerk des sogenannten „Reflexbogens“, eines physiologischen Modells der empiristischen Psychologie, in dem Reiz, Interpretation und Reaktion als sukzessiv gedacht werden, überwinden. Denn das Reiz-Reaktionsmodell unterstellt zum einen einen passiven von der Umwelt getrennten Organismus, der erst eines Reizes bedarf, um (re-)aktiv zu werden. Zum anderen fallen Sensorik und Motorik auseinander und ihre Kopplung ist kontingent. Dewey zufolge sind Organismus und Umwelt aber nie getrennt und der Organismus ist nie passiv. Beide sind ständig in Bewegung, in Veränderungsprozessen begriffen und miteinander koordiniert. Selbst wenn wir nicht aufhorchen, hören wir, selbst wenn unser Auge nichts fokussiert, sehen wir, selbst wenn wir nicht balancieren, ist unser gesamter Körper durch das Körperschema permanent damit beschäftigt, die Balance zu halten und unsere Bewegungen mit der Umgebung zu koordinieren. Jede spezifische Wahrnehmung, jedes Geräusch oder jeder Anblick, taucht, wie Dewey sagt, als Reiz aus dem Kontinuum dieser Koordination auf,28 die als ihr Grund betrachtet werden kann. Das gesamte Kontinuum der Geschichte der Koordination wirkt als Matrix auf die Interpretation und Reaktion auf den sogenannten Reiz ein. Aus diesem Grund schreibt Dewey in dem besagten Aufsatz zur Elementareinheit des Verhaltens: „[T]he so-called response is not merely to the stimulus; it is into it.“29 Eine Erläuterung dieser prägnanten Formel findet sich in dem Aufsatz „Conduct and Experience“ von 1930: „Something, not yet a stimulus, breaks in upon an activity already going on and becomes a stimulus in virtue of the relations it sustains to what is going on in this continuing activity.“30 Aufgrund der kontinuierlichen Interaktion des Organismus mit der Umwelt – der Enaktivist würde an dieser Stelle „Kopplung“ sagen – emergieren sowohl Reiz als auch Reaktion. In diesem Sinne lassen sich auch die Reize, die Bilder bieten, nicht unabhängig von der Betrachtung darstellen. Das, was als Bild wahrgenommen wird, ist bereits das Ergebnis einer Interaktion.
28
29 30
Vgl. John Dewey: The Reflex Arc Concept in Psychology, in: The Early Works of John Dewey. 1882–1898, vol. 5: 1895–1898. Early Essays, hg. v. Jo Ann Boydston, Carbondale, IL 1972, S. 96–110, S. 100. Ebd., S. 98. Dewey: Conduct and Experience (wie Anm. 27), S. 223.
56
Marion Lauschke
6. Affordanzen Das Konzept der „Affordanz“, mithilfe dessen im Folgenden ikonische Strukturen als Wahrnehmungsangebote erläutert werden, die in ikonischen Formprozessen realisiert werden, geht auf Theoretiker der Gestaltpsychologie wie Kurt Koffka, Wolfgang Köhler und Kurt Lewin zurück,31 hat jedoch über die Verwendung in James Gibsons ökologischer Psychologie32 Aufnahme in den Enaktivismus gefunden. Mit ihm wird der Angebotscharakter der Umgebung für einen Organismus bezeichnet, der sowohl negativ als auch positiv sein kann: „The affordances of the environment are what it offers the animal, what it provides or furnishes, either for good or for ill.“33 Affordanzen sind Interaktionsmöglichkeiten des Organismus mit der Umwelt. Kennzeichnend für Affordanzen ist, dass mit ihnen eine Perspektive eingenommen wird, die Subjekt und Objekt verbindet. Affordanzen wie die „Sitzbarkeit“ eines Stuhls für einen Menschen oder die „Kletterbarkeit“ eines Baumes für eine Katze weisen auf die Passung eines Organismus in seine Umwelt hin. Ein weiteres Kennzeichen von Affordanzen in der Konzeption Gibsons ist, dass sie direkt oder unmittelbar wahrgenommen werden. Damit meint Gibson, dass man, um zu begreifen, dass man sich auf einen Stuhl setzen kann, seine Bedeutung nicht kennen muss. „To perceive an affordance is not to classify an object“.34 Auf einer präreflexiven Ebene der Aufmerksamkeit35 nehmen wir die Dinge unserer Umgebung als Aufforderungen, mit ihnen zu interagieren, wahr. Zwar hat Gibson auch auf Affordanzen der kulturellen Umgebung des Menschen hingewiesen,36 aber seine Reduzierung des Konzepts auf physikalische Eigenschaften der Umwelt und sein radikaler Antirepräsentationalismus37 haben die Anwendung des Begriffs auf symbolische Formen erschwert. Denn obwohl die kulturellen Kommunikationsmedien und Artefakte stets auch unmittelbar in ihrem
31
32 33 34 35 36
37
Vgl. zu den Differenzen der Konzeptionen Simone Morgagni: Affordances as Possible Actions: Elements for a Semiotic Approach, in: Proceedings of the 10th World Congress of the International Association for Semiotic Studies (IASS/AIS), Universidade da Coruña (España/Spain), 2012. S. 867−878. James J. Gibson: The Ecological Approach to Visual Perception, Boston 1979. Ebd., S. 127. Ebd. Vgl. Harry Heft: Affordances, Dynamic Experience, and the Challenge of Reification, in: Ecological Psychology 15/2 (2003), S. 149–180, S. 151. Gibson: The Ecological Approach (wie Anm. 32), S. 137: „At the highest level, when vocalization becomes speech and manufactured displays become images, pictures, and writing, the affordances of human behavior are staggering. No more of that will be considered at this stage except to point out that speech, pictures, and writing still have to be perceived.“ Vgl. Andrea Scarantino: Affordances Explained, in: Philosophy of Science 70 (2003), S. 949−961.
57
Ikonische Formprozesse und Affordanzen
Aufforderungscharakter wahrnehmbar sind, ist es ein besonderes Kennzeichen der Kultur, Medien der Konservierung und Distanzierung unmittelbarer Eindrücke anzubieten und dadurch die Reflexion komplexerer Zusammenhänge zu ermöglichen.
7. Kulturelle Affordanzen Trotz der Spannung, die zwischen der Gibson’schen Begriffsprägung und der Konzeption kultureller Affordanzen entsteht, ist eine Anwendung des Begriffs auf die sozio-kulturelle Umwelt des Menschen lohnend, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Da die sozio-kulturelle Umwelt des Menschen nicht nur physikalische Materialeigenschaften hat, sondern es vor allem Formqualitäten sind, die eine spezifische Anziehungskraft ausüben, wird der Begriff in der Übertragung transformiert, entfaltet aber erst hier sein Potential. Tibor Solimosy verwendet den Begriff der kulturellen Affordanz als Alternative zu dem der „Repräsentation“, weil dieser den Vorteil bietet, beispielsweise Musik und Literatur als Ergebnisse von Interaktionen und als Gelegenheiten für zukünftige Interaktionen zu denken: „Any human artifact or by-product of human activity that becomes a means of affording humans new opportunities for action is a cultural affordance.“38 Dadurch erweitert Solimosy den Affordanz-Begriff um eine zeitliche Komponente. Kulturelle Affordanzen öffnen den Raum der Tradition, und sie erfordern kulturelles Lernen, denn sie sind nur denjenigen Akteuren zugänglich, die die Interaktion in der sozio-kulturellen Umgebung erlernt haben. Der spezifische Kontext der menschlichen Lebensform ist durch die Geschichte vorgängiger Interaktionen geprägt39 und hält, wie Mark Reybrouck formuliert, “environmental supports for an organism’s intentional activities” bereit.40 Auch Erik Rietveld und Julian Kiverstein heben hervor, dass die Interaktion mit Artefakten die Entwicklung und das Training spezifischer sozio-kultureller Praktiken erfordert, und sie weisen auf die menschlichen Lebensformen eigene Normativität von Handlungen sowie die Geschichtlichkeit kultureller Affordanzen hin.41
38 39 40 41
Tibor Solimosy: Against Representation: A Brief Introduction to Cultural Affordances, in: Human Affairs 23 (2003), S. 594–605, S. 602. Vgl. Joel Krueger: Affordances and the Musically Extended Mind, in: Frontiers in Psychology (6. Januar 2014), S. 2. Siehe Mark Reybrouck: Musical Sense-making and the Concept of Affordance: An Ecosemiotic and Biosemiotic Approach, in: Biosemiotics 5/3 (2012), S. 391−409, S. 402. Vgl. Erik Rietveld/Julian Kiverstein: A Rich Landscape of Affordances, in: Ecological Psychology 26/4 (2014) S. 325–352.
58
Marion Lauschke
Beide Autoren sind sich darüber im Klaren, dass die Anforderungen an kulturelle Affordanzen über die Möglichkeiten „direkter“ Wahrnehmung hinausgehen. Dieses Problem versuchen sie über die von Gibson eingeräumte Möglichkeit der „education of attention“42 zu lösen. Einen Vorschlag, präreflexive Interaktion in den semiotischen Prozess zu integrieren, macht Simone Morgagni: „[A] sensation, and some sensorimotor qualities linked to it, can be reciprocally involved within the framework of a perception process, implying at the same time some semiotic organization of forms“43 und gewinnt damit eine Kontinuität natürlicher und kultureller Formprozesse.44 Denselben Punkt erreicht der Semiotiker Umberto Eco von der entgegengesetzten Richtung aus. In seinem Spätwerk nimmt er die „untere Schwelle der Semiotik“ ins Visier und gelangt zu der Überzeugung, dass es „materielle Grundlagen der Signifikation“ gibt, und dass „diese Grundlagen gerade in jener Disposition zur Begegnung und Interaktion liegen, die man als das erste (noch nicht kognitive und sicher noch nicht mentale) Auftauchen der primären Ikonizität betrachten kann“ – jedoch ohne den Begriff der Affordanz zu verwenden.45 Beide befinden sich auf einer Argumentationslinie mit Dewey, für den „the distinction between physical, psycho-physical, and mental is thus one of levels of increasing complexity and intimacy of interaction among natural events“.46 Dewey kann als Affordanz-Theoretiker avant la lettre bezeichnet werden, der Symbolizität und Tradition in das interaktionistische Paradigma integriert, ohne den naturalistischen Rahmen zu verlassen. Die Kontinuität stellt er wie folgt her: „In the lower organisms, interaction between organic and environment-energies takes place for the most part through direct contact.“47 Bei höheren Organismen sieht das anders aus: „In the organisms that have distance receptors and special organs of
42 43 44
45
46 47
Gibson: The Ecological Approach (wie Anm. 32), S. 254. Morgagni: Affordances as Possible Actions (wie Anm. 31), S. 874. Eine ähnliche Absicht, die radikale Zurückweisung von mentalen Repräsentationen des Gibson‘schen Ansatzes zu relativieren und dadurch den Anwendungsbereich des Begriffs der Affordances zu vergrößern, verfolgt Scarantino: Affordances explained (wie Anm. 37). Umberto Eco: Kant und das Schnabeltier, aus dem Italienischen von Frank Herrmann, München/Wien 2000, S. 129. Eco stützt sich in seinem Überlegungen nicht auf Dewey, sondern auf Peirce: „Vor mir zeichnet sich das ab, was Peirce als Perzept bezeichnet, und was noch keine vollendete Wahrnehmung ist. Peirce schreibt, daß man das, was ich sehe, zwar ein „Bild“ nennen könnte, doch wäre das irreführend, weil dieses Wort mich an ein Zeichen denken ließe, das für etwas anderes steht, während das Perzept für sich selbst steht, nur ‚an die Tür meiner Seele klopft und auf der Schwelle steht’ (CP7:619)“ (S. 137). John Dewey: Experience and Nature, in: ders.: The Later Works. 1925–1953, vol. 1: 1925, hg. v. Jo Ann Boydston, Cabondale, IL 1981, S. 200. Dewey: Logic (wie Anm. 2), S. 35.
59
Ikonische Formprozesse und Affordanzen
locomotion, the serial nature of life behavior demands that earlier acts in the series be such as to prepare the way for the later.“48
8. Musikalische und ikonische Affordanzen Während Ansätze, die den Begriff der Affordanz für das Verständnis von Bildern fruchtbar zu machen suchen, noch auf sich warten lassen,49 liegt im Bereich der Musiktheorie inzwischen eine ganze Reihe an Versuchen vor.50 Für den Argumentationsgang dieses Textes, der ikonische Affordanzen in den größeren Rahmen ikonischer Formprozesse integriert, ist Mark Reybroucks Ansatz, musikalische Strukturen als Affordanzen zu begreifen, der ebenfalls auf Dewey und den Enaktivismus Bezug nimmt und dem es um eine prozessuale Beschreibung der Interaktion des Hörers mit seiner tönenden Umgebung geht, besonders fruchtbar.51 „Is music something ,out there‘, a kind of structure or artefact, that can be dealt with in a static way?“ Mitnichten, argumentiert der Autor: „Music […] is to be defined as a collection of sound/time phenomena which have the potential of being
48 49
50
51
Ebd. Von dem hier geprägten Begriff „ikonischer Affordanzen“ ist der Begriff der „image affordances“ zu unterscheiden, den Hartmut Stöckl: Die Sprache im Bild, das Bild in der Sprache: Zur Verknüpfung von Sprache und Bild im massenmedialen Text. Konzepte. Theorien. Analysemethoden, Berlin 2004, S. 357, prägt. Stöckl geht es um die pragmatische Bedeutsamkeit von in Bildern repräsentierten Objekten und Sachverhalten. Mit dem Begriff der ikonischen Affordanz hingegen ist ein nicht repräsentationales Verhältnis zwischen Bild und Betrachter thematisiert. Neben den bereits erwähnten Aufsätzen von Reybrouck: Musical sense-making and the concept of affordance (wie Anm. 40) und Krueger: Affordances and the Musically Extended Mind (wie Anm. 39), werden musikalische Affordanzen thematisiert von Eric Clarke: Ways of Listening: An Ecological Approach to the Perception of Musical Meaning, Oxford 2005; Rubén López Cano: Che tipo di affordances sono le affordances musicali? Una prospettiva semiotica, in: Daniele Barbieri/Luca Marconi/Francesco Spampinato (Hg.): L’ ascolto: Condotte, pratiche, grammatiche, Lucca 2008, S. 43–54; W. Luke Windsor/Christophe de Bézenac: Music and Affordances, in: Musicae Scientiae 16/1 (2012), S. 102−120; Damiano Menin/Andrea Schiavio: Rethinking Musical Affordances, in: Avant 3/2 (2012), S. 202–215. Vgl. auch Krueger: Affordances and the Musically Extended Mind (wie Anm. 39), S. 3, Krueger zufolge lädt das „akustische Profil“ der Musik zu einer sensomotorischen Antwort ein. Auch Bilder erzeugen motorische Resonanzen (vgl. Marion Lauschke: Zur Interaktion mit Artefakten: Motorische Resonanz in Kunstpsychologie und Neurowissenschaften, in: Susanne Walz-Pawlita/Beate Unruh/Bernhard Janta (Hg.): Körper-Sprachen, Gießen 2016, S. 36–57), wenngleich die Bewegungsantworten auf Musik wesentlich ausgeprägter ausfallen.
60
Marion Lauschke
structured, with the process of structuring being as important as the structure of the music.“52 In diesem Sinne können auch bildliche Strukturen – gezeichnete Linien, wolkige Flecken – als ikonische Affordanzen begriffen werden. Bilder, so lässt sich mit Paul Klee formulieren, enthalten Wahrnehmungsangebote an den Betrachter: „Dem gleich einem weidenden Tier abtastenden Auge des Beschauers sind im Kunstwerk Wege eingerichtet. Das bildnerische Werk entstand“, so Klee, „aus der Bewegung, ist selber festgelegte Bewegung und wird aufgenommen in der Bewegung (Augenmuskeln).“53 Ikonische Affordanzen stellen ein Potential dar, dessen Realisierung als ikonischer Formprozess verstanden werden kann. Zentral für den Prozess der Interaktion mit Bildern ebenso wie mit Klängen ist die Zeitlichkeit. Die Wahrnehmung dieser Strukturen ist zwar in dem Sinne „direkt“, als der Blick den gezeichneten Linien folgt und die durch den Hell-Dunkel-Kontrast erzeugte „Bewegungsantwort“ des Betrachters54 ein physiologisches Phänomen ist, welches nicht den Umweg über eine mentale Repräsentation nimmt. Doch benötigt der Prozess des visuellen Abschreitens und die Entfaltung der Dynamik von Lichtung und Verdunklung Zeit. Die heraufziehende und zurückweichende Dynamik wolkiger Farbflächen (die Dynamik von „Bedrohung und Flucht“) in Klees Bild sowie die zu Pfeilen konvergierenden oder als Räder rotierenden Linien sind weder physikalische Eigenschaften des Bildes noch bloße Wahrnehmungseindrücke, die der zufälligen Blickbewegung des Betrachters entspringen, sondern Wahrnehmungsangebote des Bildes, die in der Betrachtung aktualisiert werden.
9. Emergenz John Dewey hat sich nicht darauf beschränkt, alltägliche sensomotorische Prozesse zu einer Elementareinheit des Verhaltens zusammenzufassen und als Emergenzen zu begreifen. Auch Kunstwerke emergieren in der Konzeption Deweys. Damit implementiert er eine zeitliche und eine relationale Komponente in die Bestimmung einer scheinbar statischen Entität.55 Kunst ist einem der bekanntesten Werke John Deweys zufolge Erfahrung – eine Einsicht, die er mit Paul Klee teilt: 52 53 54 55
Reybrouck: Musical Sense-making and the Concept of Affordance (wie Anm. 40), S. 391f. Paul Klee: Schöpferische Konfession, in: ders.: Das bildnerische Denken, hg. u. bearbeitet v. Jürg Spiller, Basel 51990, S. 76–80, S. 78. Vgl. Lauschke: Zur Interaktion mit Artefakten (wie Anm. 51). Dewey entwickelt seine Überlegungen vor allem an Bildern. Mit der Genese des Kunstwerkes ist nicht die Zeitlichkeit von Filmen oder Musik gemeint, sondern die Emergenz in der Wahrnehmung.
61
Ikonische Formprozesse und Affordanzen
„Auch das Kunstwerk ist in erster Linie Genesis, niemals wird es rein als Produkt erlebt.“56 Um Kunstwerke als Emergenzen thematisieren zu können, trennt Dewey zwischen dem materiellen „Kunstprodukt“ und dem „Kunstwerk“ als Erfahrung: „The first is physical and potential; the latter is active and experienced.“57 Erst im Prozess der Erfahrung entsteht das Werk, und rhythmisch gestaltete Zeit steht für Dewey dabei im Zentrum. Zu dieser Dynamik des Kunstwerkes, die sich in der Erfahrung realisiert, gehören in Klees Bedrohung und Flucht durch verschiedene ikonische Strukturen und deren Konstellationen erzeugte Bewegungen unterschiedlicher Qualität, Formationen, Hemmungen, Auflösungen und Richtungswechsel. Das als Bedrohung spürbare langsame „Heraufziehen“ der dunklen Farbwolken bannt den Betrachter; ihre entgegengesetzte Lichtung setzt ihn frei. Die Dynamik ist als Wechsel von Verengung und Weitung des Gesichtsfeldes auch leiblich spürbar. Wie schon Deweys Pragmatismus hat auch Gibsons Affordanztheorie eine relational-ontologische Komponente, die in der aktuellen Diskussion vernachlässigt wird, die jedoch unverzichtbar ist, möchte man einen psychophysischen Dualismus vermeiden und ikonische Formprozesse begreifen: „the information to specify the utilities of the environment is accompanied by information to specify the observer himself, his body, legs, hands, and mouth. This is only to reemphasize that exteroception is accompanied by proprioception – that to perceive the world is to co-perceive oneself.“58 Zwischen der auf den Betrachter zugehenden sowie ins Bildzentrum sich zusammenziehenden Bewegung der Farbwolken und den auf den gezeichneten Bahnen sich vollziehenden Blickbewegungen findet sowohl ein Richtungs- als auch ein Qualitätswechsel statt: Während sich die polare Bewegung der Verdunklung und Lichtung diffus „kriechend“ vollzieht, nimmt die Blickbewegung und mit ihr die körperliche Interaktion zwischen Bild und Betrachter, die entlang der gezeichneten Strukturen gelenkt und kanalisiert wird, Tempo auf. Die Bewegung wird jedoch immer wieder durch kreisende Wirbel abgelenkt, durch Sackgassen gestoppt oder versinkt im Konturlosen. Die beschriebenen Bildelemente lassen sich, will man sich nicht auf eine formale Beschreibung beschränken, sondern sie im Interaktionszusammenhang mit sensomotorisch begabten Betrachtern erfassen, am besten als ikonische Affordanzen begreifen. Sie machen dem Betrachter Wahrnehmungs- und Bewegungsangebote und laden ihn zu einer Erfahrung ein, die körperlich vollzogen werden muss sowie leiblich gespürt werden kann und deren komplexe Bedeutung sich nicht auf den im Titel angedeuteten elliptischen Gehalt „Bedrohung und Flucht“ reduzieren 56 57 58
Klee: Schöpferische Konfession (wie Anm. 53), S. 78. Dewey: Art as Experience (wie Anm. 3), S. 167. Gibson: The Ecological Approach (wie Anm. 32), S. 141.
62
Marion Lauschke
lässt. Erst die „situationsräumliche“ Wahrnehmung der polaren Spannung unterschiedlicher Qualitäten von sich zirkulär abwechselnder Aufhellung und Verdüsterung sowie die ausweglose Bewegung auf den angebotenen Bahnen lässt deutlich werden, dass Klee mit diesem Bild eine Situation ikonisch erfahrbar macht, in der eine Rettung vor der Bedrohung durch Flucht keine Option darstellt.
10. Schluss Mit „ikonischen Formprozessen“, so lässt sich zusammenfassen, sind Übergangsformen semiotischer Prozesse gemeint, die auf der physiologischen Ebene ihren Ausgang nehmen. Sie legen eine Spur zum Beginn des Denkens, an dem sich Qualitäten verdichten, Kontraste und Strukturen entstehen, die Wahrnehmungsangebote darstellen. Ikonische Formprozesse emergieren aus der Interaktion mit ikonischen Affordanzen. Sie sind kontinuierlich, prozessual, relational und interaktiv. Deweys Theorie qualitativen Denkens ist eine solche Theorie dynamischer Formen, die, ergänzt um einen Begriff der „ikonischen Affordanz“ den Rahmen steckt, in dem ikonische Formprozesse thematisiert werden können. Der Enaktivismus ist eine Theorie relationaler interaktiver Formprozesse, dessen Mangel bislang darin besteht, die sozio-kulturelle Umwelt des Menschen unterkomplex zu begreifen.59 Die dargestellte Erweiterung des Begriffs der „Affordanz“ um „kulturelle Affordanzen“ ermöglicht es, Artefakte als Geschichte und Provokation interaktiver Prozesse zu verstehen, die nicht nur durch Materialeigenschaften, sondern auch durch Formqualitäten ausgelöst werden. In diesem Sinne versteht sich die Prägung des Begriffes „ikonischer Formprozess“ als Beitrag sowohl zu einem kulturwissenschaftlich informierten Enaktivismus als auch zur Entwicklung einer verkörperungsphilosophisch entwickelten Ikonologie.
59
Jung: Verkörperte Intentionalität (wie Anm. 22), S. 32, hat bereits darauf hingewiesen, dass der Enaktivismus die symbolische und die soziale Dimension der menschlichen Lebensform vernachlässigt. Während sowohl Shawn Gallaghers Ansatz, für den Intersubjektivität zentral ist, als auch Hanne de Jaeghers „participatory sense-making“ die soziale Interaktion in den Enaktivismus integriert haben, steht eine Berücksichtigung der Symbolizität der kulturellen Umwelt des Menschen noch aus.
Gottfried Boehm
Der Haushalt der Gefühle Form und Emotion
1. Das Terrain der Debatte Über Gefühle zu reden birgt mancherlei Risiken, nicht zuletzt in der Wissenschaft. Wenn wir sie dennoch eingehen, dann deshalb, weil wir uns zugleich gestärkt und herausgefordert erfahren. Gestärkt durch jene anhaltende Konjunktur, die von der neurowissenschaftlichen Emotionsforschung über mancherlei Stationen bis zur Philosophie der Affekte reicht und dabei eine Fülle fächerübergreifender Aspekte eröffnet. In diesem Kontext stellt sich auch die Frage nach dem Bezugsverhältnis von Form und Emotion.1 Auf spezifische Weise herausgefordert sind wir durch jene offenen Probleme, die die Kunstwissenschaft schon deshalb im Kern treffen, weil sie aus der schwerlich bestreitbaren, emotionalen Wirkungsmacht der Kunstwerke resultieren. Aber wie kommt sie zustande? Und wie lässt sie sich verstehen? Die Frage der Wirkung ist im Übrigen methodologisch heikel, mit dem üblichen historiographischen Instrumentarium schwerlich zu entfalten. Auch ist der Stellenwert der Gefühle anthropologisch umstritten: Sind sie bloße Dreingaben zu Willen, Evolution, Wissen und Kognition oder von basaler beziehungsweise fundierender Natur? Gibt es – mit Blaise Pascal zu reden2 – einen allgemeinen Esprit du cœur, das heißt eine „Logik des Herzens“ – und nimmt sie womöglich die Form des Bildes an? 1
2
Zur Emotionsdebatte: Christoph Demmerling/Hilge Landweer: Philosophie der Gefühle: Von Achtung bis Zorn, Stuttgart/Weimar 2007 (Bibliographie S. 311–328); Hilge Landweer (Hg.): Gefühle – Struktur und Funktion, Berlin 2007; Claudia Benthien et al (Hg.): Emotionalität: Zur Geschichte der Gefühle, Weimar/Wien 2000; zuletzt Rebekka Hufendiek: Embodied Emotions: A Naturalist Approach to a Normative Phenomenon, New York/London 2016. Blaise Pascal: Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensées), übers. u. hg. v. Ewald Wasmuth, Heidelberg 1954, Nr. 277, 282: „Wir erkennen die Wahrheit nicht nur durch die Vernunft, sondern auch durch das Herz […]“, S. 283.
64
Gottfried Boehm
Bild 1 Gioacchino Assereto: Tantalus, nach 1640, Öl auf Leinwand, 117 × 101 cm, Graz, Universalmuseum Johanneum.
Unsere ersten Bemerkungen dienen der Orientierung auf dem Terrain, auf dem wir uns bewegen wollen. Darstellungen von Emotionen reichen weit zurück. Man erinnere sich nur der urzeitlichen Affektheroen, gewalttätiger Giganten und Titanen, allesamt Verkörperungen zügelloser aber zielstrebiger Gewalt, die die alten Narrative und die Kultur- und Kunstgeschichte bis heute bevölkern (Bild 1). Künstlerische Ausdrucksformen ganz unterschiedlichen Anspruchs („high and low“) zeigen sich davon fasziniert, der blutrünstige Terror, das heißt der affektive Superlativ ist weder als Fantasie noch als Realität ausgetilgt (Bild 2 und 3). Vor diesem Hintergrund war der Gedanke des Aristoteles, die Affekte auf ihre Vernunftfähigkeit hin zu diskutieren (ohne sie deshalb den Begriffen zu unterwerfen), von geradezu weltgeschichtlicher Bedeutung. Seine Überlegungen sind keineswegs abgetan, denn eine „Kultur der Emotionen“ (ohne die menschliche Gesellschaften nicht überleben können) bedarf jedenfalls auch diskursiver Grundlagen. Allerdings fällt auf, dass Aristoteles diese Fragen nicht dort abgehandelt hat, wo man es erwarten möchte – nämlich in De Anima, das heißt in seiner „Psychologie“ – sondern ganz unvermutet – in der Rhetorik.3 Warum diese merkwürdige Verpflanzung? Sie gibt uns einen ersten wichtigen Hinweis. Denn sie bringt die Emotion sofort mit körperlichem Handeln zusammen 3
Peter Oesterreich: Fundamentalrhetorik: Untersuchung zu Person und Rede in der Öffentlichkeit, Hamburg 1990, S. 11.
65
Der Haushalt der Gefühle
Bild 2 Artemisia Gentileschi: Judith und Holofernes, um 1612, Öl auf Leinwand, 159 × 126 cm, Neapel, Museo Capodimonte.
Bild 3 Arnold Böcklin: Die Pest, 1898, Tempera auf Tannenholz, 149,8 × 105,1 cm, Basel, Kunstmuseum.
(Aristoteles denkt sie also „verkörpert“) und hält sich dazu an die actio des Redners, dessen bewegte Performanzen im Zentrum gesellschaftlicher Verständigungsprozesse geschehen. Die öffentliche Rede war im antiken Verständnis, aber nicht nur damals, Dreh- und Angelpunkt der Zivilisation. Seine Rhetorik ist mithin kein Rezeptbuch sprachlicher Figuren, mit dem man sie gerne gleichsetzt, sondern eine Reflexion über die leibhafte Emotionalität des Ausdrucks. Und er entwickelt dazu erstmals ein Register, welches die gesamte Erscheinungsfülle des Affektiven in den Blick nimmt, indem er das gesamte Feld mittels dreier Markierungen kenntlich macht, die er Pathos, Ethos und Pragma nennt. Damit begründet er ein Dispositiv, das wir mit unseren Worten „Haushalt der Gefühle“ nennen. Davon weiter unten mehr. Aby Warburg, dem wir den bedeutendsten Beitrag zur bildlichen Darstellung von Emotionen verdanken, hat diese aristotelische Idee emotionaler Wechselwirkungen und gleitender Unterschiede nicht aufgenommen. Sicherlich war sie ihm geläufig, doch hebt er allein das Pathos hervor, die – wie er meinte – stärkste emotionale Stimme, in Gestalt einer figurzentrierten, bewegten „Schauformel“.4 Er hat 4
Ulli Seegers: Alchemie des Sehens: Hermetische Kunst im 20. Jahrhundert. Antonin Artaud, Yves Klein, Sigmar Polke, Köln 2003, S. 217: „Warburg verwendet mit ‚Pathos‘ einen Begriff
66
Gottfried Boehm
Bild 4 Aby Warburg: Mnemosyne Atlas, Tafel 45, 1929, London, The Warburg Institute Archive.
erkannt, dass das Pathos in besonderer Weise zum Auge drängt, zu einem monstrare, einschließlich des Monstrums, das sich in besonderer Weise zeigt.5 Diese Konzen-
5
der klassischen Rhetorik und belegt ihn neu: statt auf aristotelische Affekterregung zielt der Ikonologe vielmehr implizit auf die strikte Verbindung von Pathos, Pneuma und Schicksal (Heimarmene).“ Dazu Bemerkungen von Warburg wie zum Beispiel: „Kosmisches Pneuma erscheint als orgiastisch subjektive Gestikulation“ (S. 218). Das Monströse wäre dann etwas, dessen anschauliche Suggestivität den Betrachter in Bann schlägt.
67
Der Haushalt der Gefühle
Bild 5 Domenico Ghirlandaio: Geburt Johannes des Täufers, 1486–1490, Fresko, Florenz, S. Maria Novella.
Bild 6 Andrea Mantegna: Bacchanal mit dem Weinfass, um 1490, Kupferstich, 29,9 × 43,7 cm, Berlin, Kupferstichkabinett, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz.
tration auf affektive Superlative ist nachvollziehbar, aber gleichwohl nicht überzeugend. Denn zum anthropologischen und kulturellen Erscheinungsbild der Gefühle gehören gleitende Übergänge und Mischungsverhältnisse und es scheint uns erforderlich, das breite Ausdrucksspektrum des Emotionalen ins Auge zu fassen. Warburgs Faszination von starken Energien hat gewiss unterschiedliche Auslöser. Einen in der eigenen psychischen Befindlichkeit, einen anderen in der Transformation des Antikenverständnisses, die die „stille Größe“ um ekstatische Erfah rungen erweiterte – wofür ja auch unsere mythologischen Exempel vom Beginn
68
Gottfried Boehm
stehen können. Er sprach von einem frühzeitlichen „Urprägewerk“, in dem energetisch aufgeladene Dynamogramme entstanden sind, die sich durch heftige Körperbewegungen, Gebärdenspiel und bewegtes Beiwerk auszeichnen.6 (Bild 4 und 5) Die ninfa fiorentina ist mittlerweile die bekannteste unter diesen einmal gestanzten und unauslöschlichen Bildformeln, die durch die Geschichte wiederkehren und dabei auch ihren Sinn wechseln.7 Diese durch Nietzsche inspirierte dionysische, ja pneumatische Aufladung bereicherte den Zugang zur Antike außerordentlich (Bild 6). Doch hat sie auch einen Preis – den einer Reduktion des Emotionalen um viele Register. So sehr starke Gefühle die Menschen in Bann schlagen, das Leben stürzt nicht von Ekstase zu Ekstase, sondern vollzieht sich klimatisiert, was starke Schwankungen, einschließlich des Orgiastischen, einschließt. Daraus folgt, dass wir von Warburgs Weg abzweigen müssen. Zuvor aber noch ein paar Hinweise auf die Affektregie der Rhetorik, die sich handelnd realisiert. Was sich auch daran erkennen lässt, dass die Markierungen des Ausdrucksfeldes bevorzugt mittels Tätigkeitsworten, das heißt Verben, gefasst werden. Wobei das movere (bewegen im physischen wie psychischen Sinne) für die Leidenschaften steht, für die perturbatio beziehungsweise magnitudo animi, das conciliare für die ortsfeste Verlässlichkeit des Ethos8 – es bedeutet im Griechischen ursprünglich ja auch so viel wie „Aufenthalt“ – und das probare beziehungsweise docere für eine hellsichtige Rationalität, das heißt für Pragma, lateinisch res. Dabei gelangen die Emotionen in ein ausgesprochen ruhiges Fahrwasser. Aber auch geistige Übersicht, Distanz, Selbstbeherrschung („Sophrosyne“)9 und selbst abstrakte Gedankengebäude sind nicht frei von Affekten. Es gibt metaphorisch gesprochen den leidenschaftlichen Schachspieler. Die drei Leitbegriffe der Rhetorik dürfen also nicht klassifikatorisch missverstanden werden, sie umreißen das ganze Feld der Wirksamkeit der Affekte. Die Küche der Emotionen ist durchgehend geöffnet. Irgendetwas köchelt immer und drängt zum Ausdruck, für den kein einzelnes Sinnesvermögen zur Verfügung steht, sondern ein komplexes Sensorium, ein integraler Spürsinn, der traditionell den Namen Geschmack (gusto, goût) trägt. So lässt sich mit
6
7
8
9
Aby Warburg: Der Bilderatlas Mnemosyne, hg. v. Martin Warnke, unter Mitarbeit von Claudia Brink, Berlin 2000, S. 3. Die Rede ist auch von einer „phobisch geprägten Eindrucksmasse“, die „die ganze Skala des Ergriffenseins gebärdensymbolisch umspannt“ (ebd.). Vgl. zu „Nymphe“ Ullrich Raulff: Wilde Energien: Vier Versuche zu Aby Warburg, Göttingen 2003, S. 17–47; Giorgio Agamben: Nymphae, Berlin 2005, S. 7–47, und andere Diskussionsbeiträge. Vgl. dazu Henry Maldiney: Die Ästhetik der Rhythmen, in: Claudia Blümle/Armin Schäfer (Hg.): Struktur, Figur, Kontur: Abstraktion in Kunst- und Lebenswissenschaften, Zürich/Berlin 2007, S. 48. Vgl. zu Warburgs Gebrauch des Begriffs „Sophrosyne“ Ernst H. Gombrich: Aby Warburg: Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt/M. 1981, S. 141 u.ö.
69
Der Haushalt der Gefühle
Bild 7 Giorgione: Portrait eines Adeligen, um 1510, Öl auf Leinwand, 76,2 × 63,5 cm, Washington, National Gallery of Art [Ausschnitt].
Bild 8 Antonello da Messina: Bildnis eines jungen Mannes, 1478, Nussbaumholz, 20,4 × 14,5 cm, Berlin, Gemäldegalerie.
Bild 9 Leonardo da Vinci: Cecilia Gallerani, um 1489–90, Öl auf Holz, 55 × 40,5 cm, Krakau, Muzeum Narodowe w Krakowie.
Bild 10 Antonello da Messina: Portrait eines Mannes, 1478, Öl auf Holz, 30,5 × 26,3 cm, Cefalù, Museo Mandralisca.
70
Gottfried Boehm
Bild 11 Charles Le Brun: Expressions des passions de l’âme, 20 Gesichtsausdrücke, Nr. 20, Le Désespoir, um 1800, Radierung, Paris, Bibliothèque nationale de France.
dem Schmecken die Struktur emotionaler Erkenntnis erhellen, die für die körperliche Vereinnahmung bestimmend wird. Gefühle hüllen uns ein.10 Auf diese spezifische Leibhaftigkeit kommen wir im nächsten Abschnitt eigens nochmals zurück. Was aber besagt dies für die Bilder? Ich beginne mit Beispielen, an denen mir selbst – vor langer Zeit – die untergründige Fortwirkung einer anthropologisch gefassten Rhetorik aufgegangen ist.11 Beim Versuch die Frühgeschichte des Individualporträts zu verstehen, fielen in Werken Antonellos, Giovanni Bellinis, Giorgiones, Leonardos und manch anderem emotionale Differenzen ins Auge, die dazu dienten, jeweilige Charaktere zu verdeutlichen. Neben kombattanten, pathetischen Nachdruck treten reich facettierte Modi menschenfreundlicher Offenheit – gelegentlich auch metron pathos beziehungsweise humanitas genannt – bis hin zur zauberischen Grazie eines hintergründigen Lächelns (Bild 7–9). Die pure Sachhaltigkeit des Pragma spielt im Porträt einfach deshalb keine Rolle, weil Individuen keine Sachen sind.
10
11
Vgl. dazu auch die Bemerkungen zu Hermann Schmitz, in: Anna Blume/Christoph Demmerling: Gefühle als Atmosphären? Zur Gefühlstheorie von Hermann Schmitz, in: Landweer (Hg.): Gefühle (wie Anm. 1), S. 118. Gottfried Boehm: Bildnis und Individuum: Über den Ursprung der Porträtmalerei in der italienischen Renaissance, München 1985, passim.
71
Der Haushalt der Gefühle
Bild 12 Pierre-Jacques Volaire: Der Ausbruch des Vesuv am 14. Mai 1771, um 1780, Öl auf Leinwand, 99 × 150 cm, Wien, Gemäldegalerie der Akademie der Bildenden Künste.
Wichtig am emotionalen Erscheinungsbild der Dargestellten war eine gewisse Unschärfe beziehungsweise Unbestimmtheit des Ausdrucks. Die jeweilige affektive Haltung „spielt sich ein“, und wenn sie einmal zu erfrieren droht, dann verbindet sich damit ein Verlust an Plausibilität und Lebendigkeit (Bild 10). Damit dürfte deutlich geworden sein, dass auch von einem ersterbenden Pianissimo oder leichtfüßigen Adagio starke Emotionen ausgehen können. Ein einsamer Flötenton zeigt uns, dass es des Vivace oder Fortissimo eines ganzen Orchesters, das heißt des Pathos gar nicht bedarf. Auch Bildwerke überzeugen sehr oft mittels winziger Nuancen, selbst an der Grenze der Sichtbarkeit. Dieses riesige Terrain gilt es ins Auge zu fassen, wenn man über Form und Emotion redet. Wobei ich keineswegs verkenne, dass Angst-Lust, das heißt die Lust am Schrecken, menschliche Bedürfnisse befriedigt. Überwältigt werden ist offenbar (auch) schön. Eine Wiener Ausstellung blättert einige Kapitel dieser Geschichte auf, zu der unter anderem „Laokoon und die Folgen“ und die „starken Frauen“ (Medusa, Medea, Judith, Salome, Lucretia etc.) gehören, bis hin zur gewaltigen Erhabenheit der Natur oder der Hölle des Hieronymus Bosch (Bild 11 und 12).12
12
Ausst.-Kat.: Lust am Schrecken: Ausdrucksformen des Grauens, hg. v. Martina Fleischer, Weitra 2014.
72
Gottfried Boehm
Bild 13 Gustave Courbet: Le Désespéré (Selbstportrait), 1834, Öl auf Leinwand, 45 × 54 cm, Privatsammlung.
Bild 14 Gustave Courbet: La Source da la Loue, 1863, Öl auf Leinwand, 84 × 105 cm, Zürich, Kunsthaus.
Es ist aber nicht damit getan, das affektive Spektrum in seiner Breite zu rekonstruieren, solange man der Suggestion erliegt, Affektdarstellungen seien einzig Sache jeweiliger Protagonisten, gegebenenfalls auch speiender Vulkane. Tatsächlich haben wir uns, nicht zuletzt durch Warburgs Pathosformel geleitet, an exemplarische Darsteller gehalten, sie bündeln das Geschehen und schlagen uns in emotionalen Bann. Geht es aber um den Haushalt der Gefühle und die gleitenden Nuancen, dann wird man das ganze System der Darstellung ins Auge fassen müssen. Das zeigt
73
Der Haushalt der Gefühle
sich an der kohärenten emotionalen Organisation vieler Gemälde – zum Beispiel denjenigen Courbets, die ein hintergründiges Dunkel kennzeichnet (Bild 13 und 14) – dann natürlich an der Gattung des sogenannten „Stimmungsbildes“, der, folgt man Kerstin Thomas, von Caspar David Friedrich bis Cézanne, das „Erlebnis einer Totalität“ zugrunde liegt.13 Schließlich gehören nicht-figurative Bilder dazu, die eines theatralen Darstellers entbehren und doch über ein starkes emotionales Wirkungspotenzial verfügen. Auch hier lassen sich Pathetiker identifizieren, zum Beispiel Kandinsky, Pollock oder Rothko (Bild 15 und 16) und solche, die mit anderen Registern operieren. Der große Kühle aus dem Norden, nämlich Piet Mondrian, hat sein subtiles Resonanzpotential zwischen fragiler Klarheit (zum Beispiel seiner Bildrau-
Bild 15 Wassily Kandinsky: Jüngster Tag (Le Jour du Jugement dernier), 1912, Aquarell und Tinte auf Glas, 33,6 × 45,3 cm, Paris, Centre Georges Pompidou.
13
Bild 16 Jackson Pollock: Untitled, 1948, Lack, Aluminium und Öl, Glas und Nägel auf Papier und Pappe auf Hartfaserplatte, 78,7 × 58,4 cm, Privatsammlung.
Kerstin Thomas (Hg.): Stimmung: Ästhetische Kategorie und künstlerische Praxis, München 2010; dies.: Welt und Stimmung bei Puvis de Chavannes, Seurat und Gauguin, München 2010, S. 9–13.
74
Gottfried Boehm
Bild 17 Piet Mondrian: Broadway Boogie Woogie, 1942–43, Öl auf Leinwand, 127 × 127 cm, New York, Museum of Modern Art.
ten) und der beschleunigten Rhythmik des Boogie-Woogie entfaltet (Bild 17). Es überrascht nicht zu hören, dass er ein leidenschaftlicher Tango-Tänzer gewesen ist.
2. Von der Motorik des Körpers zur Verkörperung der Emotion Die Frage nach der emotionalen Wirkung von Bildern bringt die Sensomotorik des Körpers ins Spiel, die uns jetzt beschäftigen wird. Sie bildet den erforderlichen Resonanzboden, denn Gefühle sind ja keine gewöhnlichen Dinge in der Welt, sondern Intensitäten, das heißt Ereignisse in actu. Messen lassen sie sich nicht, es sei denn durch jenes sensible Sensorium, das wir selbst körperlich sind, das wir nicht nur haben. Wir existieren verkörpert und fühlen als ein Selbst. So erkunden wir auch die emotionalen Kräfte, die auf uns ein- oder von uns fortwirken. Über den theoretischen Status von Gefühlen ist viel gestritten worden. Die Einschätzungen reichen von einem lediglich subjektiven, irrationalen Restposten unseres Innen-
75
Der Haushalt der Gefühle
lebens, über den sich vernünftig nicht wirklich reden lässt, bis zum Versuch ihrer Angleichung an gewöhnliche, mentale beziehungsweise propositionale Akte.14 Wir werden im Folgenden einen mittleren Weg einschlagen, der den Gefühlen zubilligt, eigene Zugänge zur Welt zu bahnen. Eigene Zugänge – das heißt aber auch, dass sie von anderen Verhaltensweisen beziehungsweise Erkenntnisakten unterschieden sind. In dieser Richtung argumentiert übrigens gegenwärtig auch ein Teil der Kognitionswissenschaft, der sich in einer produktiven Auseinandersetzung mit der Phänomenologie und Heidegger befindet.15 Unsere kurze Skizze dessen, was man emotionale Körperlogik nennen kann, entwerfen wir stets schon im Hinblick auf das Bezugsverhältnis von Form und Emotion, das wir dann im letzten Abschnitt an Bildern näher diskutieren wollen. Es gehört zu den großen geistigen Ereignissen des 20. Jahrhunderts, den Körper nicht nur als einen der möglichen Gegenstände des Wissens zu verstehen, sondern als eine apriorische Basis. Daran haben verschiedene Köpfe gearbeitet, ich beziehe mich im Folgenden aber lediglich auf eine Einsicht Husserls, die dann Schule machte. Zudem lässt sie sich problemlos nachvollziehen. Husserl war aufgefallen, dass wir nicht nur die Dinge berühren können, sondern zugleich uns selbst, indem wir beispielsweise mit der rechten Hand den linken Arm ergreifen oder dergleichen. Geschieht das, kommt der Körper also auf sich selbst zurück, dann gewinnt er eine stupende Auszeichnung. Er erweist sich als undurchsichtig und erlaubt gerade deshalb jenes An-rühren, auf das sich Emotion stützt. Er ist dann die einzige Stelle in der Welt, in der Etwas fühlen und sich selbst fühlen konvergieren.16 Eine Art Schlange des Ourobos, die sich in den Schwanz beißt. Die beiden losen Enden der Welt, die isolierte Subjekt- und die ebenso isolierte Objektseite werden als Einheit erfahrbar. Für die Absicht, körperlichen Emotionen eigene Aufschlusskraft von Realität zuzubilligen, ist dies eine unverzichtbare Prämisse. Sie aktualisiert sich aber nicht nur in der Figur der Selbstberührung, sondern ganz spontan zum Beispiel im Hin und Her von Gesten. Sie lassen sich als präverbale Akte beschreiben, mit denen wir den Bezug zu anderen und zur Umwelt herstellen. Die Pointe ist stets die Bewegung. Sie ermöglicht, was bei Lakoff, Johnson und anderen als eine vorgängige
14 15
16
Vgl. die Diskussion durch Christoph Demmerling: Brauchen Gefühle eine Sprache? Zur Philosophie der Psychologie, in: Landweer (Hg.): Gefühle (wie Anm. 1), S. 19–33. Vgl. Julian Kiverstein/Michael Wheeler (Hg.): Heidegger and Cognitive Science, Basingstoke 2012; Jan Slaby: Emotionaler Weltbezug: Ein Strukturschema im Anschluss an Heidegger, in: Landweer (Hg.): Gefühle (wie Anm. 1), S. 93–112. Edmund Husserl: Husserliana, Bd. 1: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, hg. v. Stephan Strasser, Den Haag/Dordrecht u.a. 1963, S. 128; dazu auch Emmauel Alloa/Natalie Depraz: Edmund Husserl – „Ein merkwürdig unvollkommen konstitutiertes Ding“, in: Emmanuel Alloa/Thomas Bedorf/Christian Grüny/Tobias Nikolaus Klass (Hg.): Leiblichkeit: Geschichte und Aktualität eines Konzeptes, Tübingen 2012, S. 7–22.
76
Gottfried Boehm
Körper-Umwelt-Koppelung beschrieben wird, beziehungsweise von Shaun Gallagher als „situierte Kognition“.17 Zugleich haben wir damit auch präzisiert, was der vieldeutige Begriff der Verkörperung eigentlich meint: Er bezeichnet jenen somatischen Ort, von dem aus wir uns orientieren, der die Modalitäten und Strukturen unseres Umgangs mit der Welt impliziert. Er besteht aus einem ganzen Haushalt emotionaler Energien, deren Existenzform in körperlichen Bewegungen besteht, die zwischen Fremd- und Selbstberührung oszillieren. Eine Erläuterung dieses Gedankens entnehmen wir der uns schon geläufigen anthropologisch interpretierten Rhetorik.18 Ihre Erkenntnisziele bestanden darin, mit den Mitteln körperlicher Performanz etwas vor Augen zu stellen und glaubhaft zu machen. Sie ist ein Tun aus dem Körper heraus, in dem die Fähigkeiten zu Entwurf und Erfindung (inventio), zu argumentativer Gliederung (dispositio) und die des Vorhaltens mittels des Gedächtnisses (memoria) sorgfältig ausgearbeitet werden. Was uns jetzt vor allem daran interessiert, ist ihr unmittelbarer Körperbezug. Quintilian beschreibt in seiner Institutio Oratoria19 sehr genau, mit welcher multisensoriellen Körpermotorik er sich vollzieht, nämlich durch Akte der Stimme (vox), des Mienenspiels (vultus), der Handbewegung (gestus) und der Körperhaltung (habitus). Sie alle zusammen repräsentieren die symbolische Plastizität des Körpers, mit dem wir ebenso Emotionen ausdrücken wie an ihnen teilhaben. Eine Plastizität, die uns gestattet, jemanden zu bewegen, wie selbst bewegt, berührt, ge-rührt zu werden. Ich benutze dieses Wortspiel, um jenen rätselhaften Vorgang zu verdeutlichen, in dem aus einer physischen Bewegung von A nach B (zum Beispiel der Hände) eine emotionale und sinnträchtige Mitteilung wird. Diese Transformation geschieht überall dort, wo Verkörperung geschieht, sie ist deshalb auch die eigentliche Achse der bildlichen Formgebung. Wir diskutieren die Rolle des Körpers aber auch in der Hoffnung, dass wir Hinweise finden, die emotionale Organisation von Bildwerken im Detail zu verstehen, vom Fokus des Darstellers zum Horizont der Darstellung überzugehen und die Gefühle von ihrer ikonischen Genese her zu analysieren. Es gibt in Bildwerken auch eine emotionale Topologie, die auf die körperliche Orientierung nach Richtungen reagiert. So ist bereits die Art und Weise einer Präsentation emotional gefärbt: zum Beispiel das Liegen oder Kauern einer Figur, das Sitzen, sich Aufrichten und sich
17
18 19
Shaun Gallagher: Philosophical Antecedents of Situated Cognition, in: Philip Robbins/Murat Aydede (Hg.): The Cambridge Handbook of Situated Cognition, Cambridge/New York u.a. 2009, S. 35–51. Vgl. dazu zusammenfassend Oesterreich: Fundamentalrhetorik (wie Anm. 3), passim. Quintilian: Institutio Oratoria, XI, 3, 14ff. (Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, hg. u. übers. v. Helmut Rahn, Darmstadt 1975, S. 613ff.).
77
Der Haushalt der Gefühle
Halten,20 bis hin zur Metaphorik der Himmelsleiter oder auch dem Linkischen der linken Hand. – Doch zurück zur actio. Es scheint zunächst banal festzuhalten, dass wir nicht irgendwo oder vor uns hin, sondern stets in Bezug auf etwas gestikulieren. Wir antworten mit emotionalem Ausdruck auf Etwas, das uns entgegenkommt, in einer Situation und innerhalb eines Horizontes. Die affektive actio ist stets reactio. Worauf? Auf die situativen Bedingungen, unter denen wir uns befinden. In einer der wichtigsten neueren Reinterpretationen, die die aristotelische Affekt-Rhetorik erfahren hat, spricht Heidegger in Sein und Zeit diesbezüglich von „Befindlichkeit“ (auch von Bedeutsamkeit) und meint damit situative Vollzüge des Daseins, in unserer Sprache: des handelnden Körpers, unter dem Kontinuum eines jeweiligen Horizontes.21 In diesem Zusammenhang wurde übrigens der Begriff der „Stimmung“ beziehungsweise auch der „Atmosphäre“, der bis dahin philosophisch kaum geadelt war – nicht zuletzt weil die Diffusion, die er beschreibt, ihn selbst zu erfassen scheint –, mit jenem theoretischen Nachdruck ausgestattet, der am Anfang auch seiner gegenwärtigen Karriere steht,22 unter anderem bei Otto Bollnow, Hermann Schmitz, Gernot Böhme, Hans-Ulrich Gumbrecht und anderen. Die Karriere des ästhetischen Begriffs „Stimmung“ von Rousseau über die Romantik bis zu Alois Riegl ist andere Wege gegangen. Was uns daran interessiert, ist das Situative. Wir agieren emotional in Kontexten beziehungsweise Horizonten. Sie aber haben zwei bemerkenswerte strukturelle Eigenschaften: nämlich Kontinuität und Formlosigkeit. Ein unterbrochener Horizont (wenn es dergleichen gäbe) wäre keiner. Und einer, der sich bereits ausgeformt zeigte, ginge damit in sein Gegenteil über, nämlich in eine jeweilige Distinktion, verlöre seine maßgebliche Qualität, sich kontinuierlich durchzuhalten. Damit sind aber auch die begrifflichen und anschaulichen Voraussetzungen geschaffen, die Beschränkung auf das Pathos zu überwinden und dem Haushalt der Gefühle insgesamt gerecht zu werden. Denn offenbar gibt es eine starke Emotionalität, die sich nicht superlativ einer Körperbewegung einformt, sondern aus dem Unscheinbaren einer gesamthaften Diffusion, aus dem Grund des Bildes aufsteigt. Sucht man nach Darstellern, dann findet man keine. Was man dagegen findet, ist ein transitorischer, mit einem visuellen Rhythmus ausgestatteter Resonanzbereich, der die jeweilige Szene trägt und aus dem sie hervortritt. Man hat seine Rolle lange verkannt, weil er sich begrifflichen Bestimmungen schwer erschließt. Hier setzen bildanalytische Begriffe wie „Stimmung“ oder „Atmosphäre“ an, die der Präsenz des
20 21 22
Vgl. Jean Luc Nancy: Corpus, Berlin 2003, S. 58. Martin Heidegger: Sein und Zeit, 9. Aufl., Tübingen 1960, § 29 (S. 134). Ebd., S. 137.
78
Gottfried Boehm
Bild 18 Jan van Goyen: Panoramatische Landschaft mit der Ansicht des Haarlemer Meeres, um 1645, Tafelmalerei, 22 × 31,5 cm, Den Haag, Museum Bredius.
Unbestimmten eine sprachliche Umschreibung geben.23 Husserl hat in der fünften logischen Untersuchung auf das Phänomen der „Färbung“, der Färbung eines Sinnes, nicht der Leinwand, aufmerksam gemacht und es analysiert.24 Er meint damit eine Verschiebung der Aufmerksamkeit vom manifesten Gehalt auf die Modi von Tonfall, Tempo oder Modulation. Der grammatikalisch identische Satz kann ohne jede Veränderung allein durch verschiedene Intonation seinen Sinn völlig verändern, zum Beispiel einen melancholischen oder auch gleichgültigen Ton annehmen. Das wollen wir am Ende dieses Abschnitts an einem Gemälde exemplifizieren. Jan van Goyen ist ein Maler des Wetters oder des Klimas genannt worden. Ein Beispiel, dem sich auch andere emotional erfüllte Naturszenen beifügen ließen. In unserer Sprache: Er verschiebt die Aufmerksamkeit von formaffinen Distinktionen auf einen Gesamteindruck (Bild 18). Wir sehen, wie sich der Darstellung ein Tonus, das heißt eine flexible Spannung bemächtigt, die aus den Poren der Pigmentierung hervorzudringen scheint. Bewegung folgt keiner Körperlogik, sondern einem elementaren Fluss, dessen nervöse Flexibilität dem Bild eine affektive Klangfarbe gibt.
23 24
Vgl. Thomas: Stimmung (wie Anm. 13). Edmund Husserl: Logische Untersuchungen, 2. Band: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, 1. Teil, 3. Aufl., Halle 1922, S. 395.
79
Der Haushalt der Gefühle
Bild 19 Arnold Böcklin: Villa am Meer (Erste Version), 1864, Öl auf Leinwand, 125,2 × 174,7 cm, München, Schack-Galerie.
Hier macht sich keine Angst-Lust breit, erhebt sich kein Geschrei, auch fließt kein Blut, wohl aber kommt ein unvergleichlicher emotionaler Ton auf, ein niederschwelliger Rhythmus. Am Rande vermerkt: Rhythmus ist ein Begriff, der sprachgeschichtlich vermutlich mit dem griechischen Verbum für „fließen“ verbunden ist. Wer sich an Goyens Bilder erinnert, der erinnert sich daran. Mir ist aber außerordentlich wichtig zu betonen, dass die Umlenkung der Form ins Kontinuum der Fläche, die Jan van Goyen vornimmt, kein lediglich formaler Vorgang ist. Er steuert vielmehr die Semantik dieser Landschaft: Es ist ein emotionaler Tonus, in dem sich die Dimensionen der Natur: Höhe, Weite und Ferne, die Asymmetrie ihrer Seiten etc. zu einem Totum verbinden, das einen gemeinsamen Puls besitzt. Haushalt der Gefühle? Gewiss! Wir sehen unterschiedliche Temperaturen, das Wechselspiel von Kräften, im Ausschnitt eine sich artikulierende Welt (Bild 19).
3. Die Formung der Affekte im Bild Der Bogen unserer Argumentation neigt sich, ohne das stabilisierende Gegenlager schon zu erreichen. Wir haben die emotionale Kraft der Diffusion und des Un bestimmten, das heißt die Hintergrundgefühle der pathetischen Distinktionsästhetik gegenübergestellt, in der sich das Empfinden jeweils fokussiert. Aber natürlich nicht
80
Gottfried Boehm
in der Absicht, damit die Eigenart unterschiedlicher historischer Gestaltungswege herauszuarbeiten, sondern um in der Sache weiterzukommen. Unsere Sache betrifft den inneren, den systematischen Zusammenhang von Form und Emotion und wir sind jetzt an einen für die Argumentation kritischen Punkt gelangt. Er lässt sich in eine Frage kleiden, die sich vor uns auftürmt. Gibt es ein Bildern innewohnendes affektives Substrat, das es gestatten würde, die Logik der Darstellung mit derjenigen der dargestellten Protagonisten gemeinsam und im gleichen Zug zu entwickeln? Ich brauche nicht zu betonen, dass es sich dabei um ein kardinales Problem nicht nur der Bildtheorie, sondern seit langem schon der Kunstgeschichte handelt. Nämlich die Verzweigung in Formanalyse und abgespaltener Semantik, die Trennung von Wie? und Was? auf ihre gemeinsame Wurzel zurückzuführen. Auch für den Formdiskurs gilt, dass die Konzentration allein auf das jeweils Geformte hinter den Anforderungen der Phänomene zurückbleibt. Wir haben an anderer Stelle zu zeigen versucht, dass es das Kontinuum der Bildfläche ist, von dem her die jeweiligen Formkräfte ihren Ausgang nehmen und sich konkretisieren.25 Der Zusammenhang beider Momente löst erst ein, was „Verkörperung“ meint. Die Rede von einer Logik der Kontraste ermöglicht einerseits die bildlichen Artikulationen, andererseits aber auch das Ineinandergleiten der Teile, das Lebendigkeit und emotionale Lust bereitet. Ich halte aus dieser ausführlichen Debatte lediglich fest, dass wir für die Klärung der theoretischen Fragen dem Organisationsniveau des Bildganzen, das heißt dem Grund einen Vorrang einräumen. Auf den wir zuletzt im Zusammenhang der Affektfrage zurückgekommen sind, wie unter anderem am Exempel Jan van Goyens sichtbar wurde. Ich möchte nun einen Vorschlag unterbreiten, der zu erhellen versucht, wie sich Form, Emotion und Sinn tatsächlich aus dem gleichen Substrat und in einem Zug entfalten lassen. Er mündet in eine Exemplifikation. Zuvor bedarf es aber einer gewissen Vorbereitung. Denn ich spreche von der Form des Lichtes. Gemeint ist nicht externe Beleuchtung, die es braucht, damit überhaupt Etwas identifizierbar wird, sondern jenes Licht, das Bilder selbst erzeugen – das in ihnen jeweils wirkende Licht. Denn: alles, schlechterdings alles, was in Bildern erscheint, steht in ihrem Licht, das sich stets mit einer Dreingabe von Dunkel präsentiert, das heißt als ein Differenz- oder Kontrastphänomen. Dieses Wechselspiel sprechen wir grundsätzlich an, nicht im Sinne
25
Gottfried Boehm: Eine verborgene Kunst: Über Form und Schematismus, in: ders./Emmauel Alloa/Orlando Budelacci/Gerald Wildgruber (Hg.): Imagination. Suchen und Finden, München 2013, S. 13–44; ders.: Form und Schematismus, in: Franz Engel/Yannis Hadjinicolaou (Hg.): Formwerdung und Formentzug, Berlin 2016 (Actus et Imago 16), S. 1–18.
81
Der Haushalt der Gefühle
einer spezifischen clair-obscur-Ästhetik oder Lichtregie à la Caravaggio und seiner Nachfolger. Nochmals: Alles, was sich in Bildern zeigt – von Lascaux bis zum Kino –, was jeweils geformt wurde, zeigt sich nur, weil es im Lichte seiner Darstellung steht. Deleuze hat in seinem Foucault-Buch von einem ursprünglichen „Es gibt“ des Lichtes gesprochen.26 Genau diese fundamentale Gabe, dieser Zustrom von Energien, der Geformtes, Ansichten, Sichtbarkeiten überhaupt erst ermöglicht, ist von Grund aus emotional gesättigt. Ohne Unterbrechung, wenn auch in sehr verschiedenen Erscheinungsformen, reicht er von Rand zu Rand und erfüllt das ikonische Kontinuum, das nicht zwingend eine Fläche sein muss. Von dort her strukturiert es die Szene – das, was uns das Bild jeweils zu sehen gibt –, betrifft mithin Darstellung wie Dargestelltes gleichermaßen, erscheint als Bedingung und als Bedingtes, als das, was ins Licht stellt und zugleich als das andere, das im Licht steht. Es erlaubt dem Auge zu unterscheiden und alles so wahrzunehmen, wie es künstlerisch geordnet worden ist. Wir blicken dabei auf das ganze Bildfeld in simultaner Attitüde und erfassen zugleich den Erscheinungsreiz der einzelnen geformten Dinge. Die ikonische Differenz, die sich jetzt als Spielraum von Aufhellung und Lichtentzug, von Transparenz und Opazität darbietet, impliziert ein doppeltes Licht. Einerseits steht es im Modus einer hellen Diffusion, die jene räumliche Tiefe schafft, welche Durchblicke ermöglicht, andererseits trifft der Blick dabei stets auf undurchdringliche Widerstände. Wie auch immer im einzelnen – und die Bildgeschichte hat einen unerhörten Reichtum an Möglichkeiten hervorgebracht: In Bildern ist es stets licht genug. Unser Exempel aus dem Œuvre von Peter Paul Rubens wird das noch genauer zeigen. Zuvor entwickeln wir die Sachfragen einen Schritt weiter. Dem Licht ist also Dunkel in Relationen zugemischt, die von ausgesprochener Dunkeltonigkeit bis zum ewigen Mittag der Impressionisten reichen, von der Grenze des Verschwindens, die Künstler wie Malewitsch oder Ad Reinhardt ausgeforscht haben, bis zur strahlenden Diffusion weißer Bilder, an der Grenze zur Blendung. Gleichwohl: Das dunkelste Bild ist licht genug, das lichteste dunkel genug, um einen Spielraum der Artikulation zu schaffen, der kein bloßer Anstrich mit einer Sound-So-Farbe ist. Was aber hat dies mit der Frage nach Form und Affekt zu tun? Die Konvergenz von Licht und Emotion entsteht aus der Art, wie sie sich zeigen, dem Modus ihrer Präsentation. Beide erweisen sich als feinkörnig, gestreut, atmosphärisch, ausgebreitet, emotional gefärbt, und sind gerade deswegen imstande, jedwede Form anzunehmen, sich zu verdinglichen beziehungsweise zu verdichten.
26
Gilles Deleuze: Foucault, Frankfurt/M. 1992, S. 83f.: „Es gibt folglich ein ‚Es gibt‘ des Lichts, ein Sein des Lichts oder ein Licht-Sein, genauso wie ein Sprache-Sein. Ein jedes ist ein Absolutum und gleichwohl historisch […]. Das Licht-Sein ist eine strikt unteilbare Bedingung, ein Apriori, das allein imstande ist, die Sichtbarkeiten auf den Blick zu beziehen […].“
82
Gottfried Boehm
Hermann Schmitz hat eine wichtige Beobachtung festgehalten, wenn er Gefühle „prädimensional“ genannt hat, ihnen eine entwicklungsfähige Unbestimmtheit zuweist. Das heißt sie haben keine Oberfläche, was ihnen ermöglicht zu diffundieren oder sich zu verdichten. Auch diese Eigenart teilen sie mit dem Licht. Es hat, wie das Gefühl, keine Länge, Breite, Höhe oder Tiefe, auch dann nicht, wenn es sich konkret ausbreitet, wenn sich Licht- oder Gefühlsräume ausbilden. Nachzutragen bleibt, wie Licht in Bildern überhaupt entsteht. Man kann es nicht malen, es sei denn man verwechselt es mit der Farbe Weiß. Wie aber dann? Es ist der jeweiligen Farbigkeit implizit, an die physikalische Materialität von Pigmenten und an Stillstellung gebunden. Was es aktiviert, ist die Logik der Kontraste mit ihren kleineren oder größeren Unterschieden, die jene Aktivität des Auges stimulieren, die zur Wahrnehmung von Licht führt. Als Bildlicht ist es stets Resultante von Prozessen. Und Implikation meint seinen Einschluss in die Farben und seine daraus erfolgende Mobilisierung. Erst dieses Wechselverhältnis erzeugt jene fundamentale Helligkeit des „Es gibt“, mit der sich der affektive Tonus, die Gestaltung der Gefühle einstellt. Warum aber haben wir von der Form des Lichtes gesprochen? Ist Feinkörnigkeit, Stimmung oder Diffusion nicht das Gegenteil jeder gestalteten Konkretion? Nicht, wenn man ein Formkonzept zugrunde legt, in dem die Entformung stets zur Form gehört, schlicht deshalb, weil sie mit jeglicher Formung als Bedingung einhergeht. Licht ist in diesem Sinne Folge eines Formentzuges und allein deshalb imstande, als Erscheinungsgrund des distinkt Geformten aufzutreten. Es braucht genügend Leere, ein ungeformtes Zwischen, damit die Dinge zu ihrem Recht kommen, es braucht den Grund, damit sich Figur oder Figuration manifestieren können. Eine Theorie der bildlichen Form handelt von diesen Differenzereignissen beziehungsweise Schematismen, sie operiert mit der Logik der Kontraste. Wir unterziehen das Wechselverhältnis von Form, Emotion und Licht nunmehr einer Probe. Das Exempel wurde mit Bedacht ausgewählt. Es handelt sich um Rubens Aktporträt seiner Frau Hélène Fourment (von Rubens selbst das „Pelzchen“ genannt und der Dargestellten testamentarisch vermacht), das uns deswegen besonders interessiert, weil der Künstler enge Verbindungen zwischen seiner Malerei aus der Farbe und dem Erscheinungsmodus der Dargestellten angelegt hat (Bild 20). Das erotische Sujet wiederum verdeutlicht, dass eine Anthropologie der Gefühle auch vom Begehren handeln wird. Der Künstler hat es auf eine Weise kultiviert, die sinnliche Steigerung und Verführung mit Diskretion, Scham und Unberührbarkeit verbindet. Diese Art von Pathos, das vom Erscheinungswunder des weiblichen Körpers handelt, hält sich fern von jedweder Pathosformel. Von weitergehenden interpretatorischen Aspekten müssen wir jetzt absehen und konzentrieren uns auf das Licht und seine Implikationen. Der dunkle Grund ist alles andere als univok, vielmehr auf komplexe Weise multivalent. Einer genauen
83
Der Haushalt der Gefühle
Bild 20 Peter Paul Rubens: Bildnis Hélène Fourment, Das Pelzchen, ca. 1638, Öl auf Holz, 176 × 83 cm, Wien, Kunsthistorisches Museum.
Analyse zeigt sich, dass im dunklen Fond der Farbe dem Schwarz jeweils verschiedene Primärfarben beigemischt sind – Rot, Gelb-Orange, Blau –, die es nach Braun und Oliv hin brechen und ihm sonore Resonanzen verleihen. Im Pelzumhang schiebt sich dieses Hintergrundgeschehen auf die vordere Ebene des Gemäldes. Dazwischen bilden sich unterschiedliche Graustufen aus. Chromatische Modulationen schaffen zarte Kontraste, die aber stark genug sind, auch dem dunklen Grund hinreichende Helligkeit mitzuteilen, ihn zu dynamisieren. Wir erinnern nochmals daran, dass das Licht aus Prozessen einer spezifischen Entformung entsteht, seine aufhellende Kraft aus gleitenden Farbdifferenzen zieht, die noch unterhalb einer benennbaren Semantik liegen, so sehr sie – vom Grunde her – das körperliche Erscheinen ermöglichen. Das Licht, in das Gewebe der Oberfläche eingeformt, gewinnt eine dominante Rolle, ohne dass es Rubens dabei um spektakuläre Effekte gegangen wäre. Er setzt es vielmehr ein, um damit den
84
Gottfried Boehm
Sinn der Figur, zwischen Porträt und mythologischer Personifikation, zu entfalten. Ihren Gehalt schöpft er aus der Matrix jenes beschriebenen farbigen Dunkels. In ihm vollzieht sich der Übergang von der Materialität der Farbe zu einer greifbaren, sinnlichen Verkörperung, die sich mit einer emotionalen Steigerung auch der koloristischen Temperatur verbindet. Über diese komplexe Verschränkung von Grundaspekten mit der Figur wäre noch viel nachzutragen, auch über den Status der Person, die zwischen der Intimität eines Porträts und mythologischer Geltungsferne changiert. Nur soviel: Die Gebärde der gleichzeitigen Verhüllung und Schaustellung, die Hélène Fourment vollzieht, wiederholt auf leibhaftige Weise, was in der Struktur des Bildes selbst bereits angelegt ist: Die Gebärde der Verschränkung ihrer Arme hebt ins Bewusstsein, was wir die Implikation beziehungsweise Mobilisierung des Lichtes genannt haben. Rubens organisiert die farbigen Kontraste so, dass sie stets auf zwei Ebenen agieren: auf der Ebene der Darstellung (der Lichtwerdung der farbigen Kontraste) und auf der zweiten, der Erscheinung der Figur. Auf unvergleichliche und komplexe Weise geschieht, was wir eingangs formuliert hatten: Bilder stellen, was sie zeigen, in ihr eigenes Licht. Seine luminose, in ständigen Übergängen begriffene Kraft basiert auf Formentzug, um gerade so der emotionalen Präsenz des Körpers der Hélène Fourment einen glänzenden Auftritt zu verschaffen.
Kerstin Thomas
Das bestimmte Unbestimmte Formen der Emotion im Bild
1. Ausdruck als Intention Emotionen in Bildern sind keine Eigenschaften wie Farben und Einzelformen. Sie sind vielmehr ein aus dem Zusammenwirken unterschiedlicher Formen resultierender Ausdruck. Der Ausdrucksbegriff ist deshalb zentral für die Frage nach Formen und Emotionen. Der Philosoph Robin G. Collingwood betont in seinen Principles of Art von 1938, dass der Ausdruck (expression) der Kunstwerke notwendigerweise in ein kommunikatives Geschehen eingebettet ist.1 Emotionen in einem Kunstwerk sind nicht unwillkürliche Gefühlsäußerungen, also die von einer spezifischen Person – sei sie fiktiv oder real – empfundenen und von außen sichtbaren emotionalen Regungen. Sie sind vielmehr gesuchter Ausdruck, der auf das verstehende Nachvollziehen der Betrachter ausgerichtet ist. Sie sind eine intentionale Setzung, die sich an das Verstehen der Rezipienten wendet, wie Derek Matravers im Oxford Handbook of Philosophy of Emotion präzisiert.2 Das heißt zu allererst, dass Emotionen in Bildern Resultate einer künstlerischen Überformung sind. Deutlich wird dies an dem Umstand, dass Bilder die in der Erfahrungswirklichkeit sukzessive verlaufenden Gefühle als Synthese präsentieren – wie dies Lessing am Beispiel des Laokoons verdeutlichte. Lessing führte aus, dass der antike Bildhauer dazu gezwungen war, den in der literarischen Schilderung abgebildeten Gefühlsverlauf von rasendem Schmerz zu erhabener Größe bei Laokoon durch den Medienwechsel in einen verdichteten Ausdruck zu synthetisieren, in dem beide Momente enthalten
1 2
Robin G. Collingwood: The Principles of Art [1938], London 1978, S. 109–124. Derek Matravers: Expression in the Arts, in: Peter Goldie (Hg.): The Oxford Handbook of Philosophy of Emotion, Oxford/New York 2010, S. 617–634, Kap. 27.
86
Kerstin Thomas
Bild 1: Bill Viola: Still aus Observance, 2002, Video auf Plasmabildschirm, angebracht an die Wand, 120,7 × 72,4 × 10,2 cm, 10,14 Minuten.
sind.3 Der Künstler findet somit zu einer neuen Form, durch die er versucht, die gesamte Gefühlsepisode zu vermitteln. Aber auch Kunstwerke, welche über die Möglichkeiten verfügen, Gefühlsverläufe darzustellen, wie filmische Arbeiten, sind Resultate einer künstlerischen Intervention, die darin besteht, Emotionen erfahrbar zu machen. So folgt etwa in Bill Violas Videoarbeit Observance (2002) (Bild 1) aus der Serie der Passions, in der 18 Schauspieler nacheinander nach vorne treten und Trauer zum Ausdruck bringen, der Gefühlsausdruck den Anordnungen und Anweisungen des Künstlers. Die Emotionen sind ein auf Rezipienten ausgerichtetes, künstlerisches Ausdrucksgeschehen.
3
Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, in: ders.: Werke in drei Bänden, Bd. 3, München 1982, S. 9–188, hier S. 26–29, S. 103.
87
Das bestimmte Unbestimmte
2. Verursacher-Prinzip Jeder vermeintlich natürliche Gefühlsausdruck in Bildern ist eine künstlerische Setzung: Dies anzunehmen, gebietet allein schon die seit Colin Radfords Aufsatz von 1975 in der Emotionsforschung verbreitete Forderung, den fiktionalen Charakter von Gefühlen in Kunstwerken ernst zu nehmen.4 Die zur Zeit gängigen Ausdruckstheorien, wie sie etwa Jenefer Robinson in ihrem Buch über Emotionen in den Künsten vertritt, neigen allerdings dazu, einen solch schwachen Intentionsbegriff in einen starken Intentionsbegriff zu überführen und damit genau jene Spielart der Bildwirkung auszublenden, die in diesem Band im Vordergrund steht: Das Unbestimmte.5 So herrscht ein zu stark auf Personen konzentriertes Emotionskonzept vor, bei dem die Intentionalität des emotionalen Ausdrucks nicht allein funktional-medial bestimmt wird, in dem Sinne, dass einem Ausdrucksmedium eben per se eine gewisse Absicht zur Kommunikation zugrunde liegt. Vielmehr vertreten die Ausdruckstheorien von Robinson und anderen weitgehend einen starken Intentionsbegriff, indem sie die Absicht des Künstlers in den Vordergrund stellen, durch Emotionen im Bild etwas zum Ausdruck zu bringen. Dieses Ausdrucksmodell geht letztlich immer noch auf das wirkungsästhetische Paradigma zurück, das – geschult an der Rhetorik – Emotionen in Bildern als Mittel zur Verstärkung einer festen Bildaussage ansieht. Das einflussreichste Modell einer solchen an der Rhetorik ausgerichteten Bild-Ausdruckstheorie ist das von Charles Le Brun, welches er 1668 in seinem Vortrag Conférence sur l’expression générale et particulière der Académie Royale de Peinture et de Sculpture vorstellte und welches sich durch die mit Stichen versehene Publikation von 1698 stark verbreitete.6 Le Brun erstellte hier, um die Lesbarkeit von handlungs- oder bedeutungsstützenden Affekten zu gewährleisten, ein kodifiziertes Schema menschlichen Affektausdrucks. Le Bruns Schema erwies sich als äußerst einflussreich, nicht allein für die Gestaltung des Gesichtsausdrucks von Bildpersonen, sondern auch als Modell für die Frage nach Emotionen in Bildern. So hat die mit jenem Modell verbundene Fixierung
4 5 6
Colin Radford: How Can We Be Moved by the Fate of Anna Karenina?, in: Proceedings of the Aristotelian Society 49 (1975), S. 67–80. Jenefer Robinson: Deeper than Reason: Emotion and its Role in Literature, Music, and Art, Oxford 2005. Charles Le Brun: Conférence de M. Le Brun,
sur l’expression générale et particulière, mit Stichen von Bernard Picard, Amsterdam 1698; vgl. ders.: L’expression des passions et autres conferences. Correspondance, hg. von Julien Philipe, Paris 1994; Jennifer Montagu: The Expression of the Passions: The Origin and Influence of Charles Le Brun’s ‚Conférence sur l’expression générale et particulière‘, New Haven und London 1994; Thomas Kirchner: L’expression des passions: Ausdruck als Darstellungsproblem in der französischen Kunst und Kunsttheorie des 17. und 18. Jahrhunderts, Mainz 1991.
88
Kerstin Thomas
auf einen festen intentionalen Gehalt von Bildern in dem Sinne, dass Bilder das zum Ausdruck bringen, was der Künstler als deutliche Botschaft dort hineingelegt hat, auch zu einer Überbetonung des Verursacherprinzips geführt. Für die Frage nach den Emotionen im Bild heißt das: werden Emotionen in Bildern festgestellt, so fragt man danach, wessen Emotionen das sind. Im Falle solcher Werke, die Le Bruns Schema anwenden, aber auch im Falle des Laokoons oder der Videoarbeit von Bill Viola sind die Emotionen des Bildes diejenigen der repräsentierten Personen und insofern liegt eine personengebundene Definition von Emotionen nahe. Doch können in zahlreichen Gemälden insbesondere der Moderne Emotionen festgestellt werden, die nicht eindeutig einer Bildfigur zugeordnet werden können, so wie etwa in der Landschaftsmalerei. Auch hier herrscht aber in den Emotionstheorien eine zu starke Bindung an das Verursacherprinzip vor. So hat etwa Bruce Vermazen im Falle der Stimmungslandschaft den Begriff einer hypothetischen persona eingeführt, die zum Träger der Gefühle bestimmt wird.7 Jenefer Robinson, die dieses persona-Konzept ausbaut, führt aus, dass demnach ein stimmungsvoll gefärbtes Landschaftsgemälde als emotionaler Ausdruck einer hypothetischen Person wirkt, die man nicht näher bestimmen muss.8 Man könnte auch sagen, man blickt durch ihre Augen auf die Landschaft. Eine traurige Landschaft ist demnach eine Landschaft, gesehen durch die traurige Stimmung einer nicht weiter zu identifizierenden Person, deren Sicht sich der Künstler zu eigen gemacht hat. Und selbst für die unanschauliche Musik vertritt Jerrold Levinson ein Konzept, bei dem etwa der traurige Ausdruck eines Musikstücks auf die Analogie eines Gesichtsausdrucks einer fiktiven persona zurückgeführt wird und deshalb eine traurige persona angenommen wird.9 Dem „Missing Person Problem“, wie es Dominic McIver Lopes nennt, wird also dergestalt begegnet, dass, ist keine eindeutige Bildperson, oder reale Person aufzufinden, kurzerhand eine fiktive Person an die Stelle der fehlenden gesetzt wird.10 Ein solch stark intentionalistisch geprägtes Konzept, das sich in der Frage der Bildemotionen am Verursacherprinzip orientiert – ganz gleich, ob die Emotionen nun realen, dargestellten, oder fiktiven Personen zugeschrieben werden – beachtet allerdings zu wenig die spezifische Qualität der Formen eines Bildes. Dominic McIver Lopes unterscheidet in seinem Buch Sight and Sensibility zwar Figuren-, Landschafts- und Formenausdruck, und wendet sich somit den Bildformen als Ausdrucksträger zu, jedoch ist auch diese Differenzierung letztlich nur auf motivischer Ebene durchgeführt und 7 8 9 10
Bruce Vermazen: Expression as Expression, in: Pacific Philosophical Quarterly 67 (1986), S. 196–224. Robinson: Deeper than Reason (wie Anm. 5), S. 279. Jerrold Levinson: Musical Expressiveness, in: ders.: Pleasures of Aesthetics, Ithaca/New York 1996, S. 90–125. Dominic McIver Lopes: Sight and Sensibility: Evaluating Pictures, Oxford/New York 2005, S. 57–65.
89
Das bestimmte Unbestimmte
geht nicht mit einer Funktions- und Wirkungsanalyse einher.11 Denn ungeachtet der Unterschiede versteht er in jedem der drei Fälle die Emotionen in den Bildern als intentional gesetzte Elemente, die eine feststehende Bedeutung erzeugen sollen. Das Verursacherprinzip bleibt dabei bestehen, auch wenn der Ursprung der Emotionen nun nicht mehr den innerbildlichen Akteuren oder fiktiven Personen, sondern dem vor der Leinwand agierenden Künstler zugeschrieben wird.
3. Das Unbestimmte Solche einem starken Intentionalitätsbegriff verpflichtete Modelle von Bildausdruck versuchen, den Charakter des Unbestimmten, der in emotional aufgeladenen Bildern potenziert vorliegt, durch eine Benennung abzuschwächen. Der emotionale Ausdruck wird dort als Empfinden einer Person deklariert, das der Künstler bewusst ins Werk gelegt habe, um eine spezifische Bedeutung des Werks zu betonen. Das Unbestimmte, das ja eben gerade nicht durch eine solche Bedeutungsfixierung erfasst werden kann, wird in der Bestimmung aufgelöst. Deutlich wird dies bei Werken, deren emotionaler Ausdruck gerade durch die Uneindeutigkeit des Verursachers ausgelöst wird: Werke, die auf verschiedenen Sichtweisen und nicht nur auf einer zu beruhen scheinen. Wird bei diesen Werken die starke Intentionalitätsauffassung zugrunde gelegt, büßen sie einen Großteil ihrer Wirkung ein. So geht eine gängige Deutung von Van Goghs Gemälden davon aus, dass der Künstler seine eigene emotionale Verfasstheit den Dingen aufprägte, so dass diese eine anthropomorphe Widerspiegelung des Künstlers und seiner Subjektivität seien.12 Für Van Goghs Stuhlgemälde (Bild 2) scheint diese Deutung zunächst plausibel. Die Gegenstände, die den Stuhl zieren, können in der Tat als Vincents Tabaksbeutel und seine Pfeife identifiziert werden und in der krummen, jedoch stolzen Aufrichtigkeit dieses einfachen Stuhls ist eine Charakterisierung des Künstlers aufgehoben, ebenso wie in dem exzentrischen Lehnstuhl mit Büchern des dazugehörigen Bildes (Bild 3) die seines Freundes Gauguin. Es liegt also nahe, in dem Stuhl ein rein auf den Künstler bezogenes Objekt zu sehen. Doch liegt dem Bemühen, einen eindeutig benennbaren Urheber des starken Bildausdrucks zu finden, ein zu einfaches Deutungsschema zugrunde, das – wie erwähnt – das Unbestimmte der Bilder umgeht. Denn einerseits würde davon ausgegangen, dass der Künstler einen
11 12
Ebd., Kap. 2: The Air of Pictures, S. 49–90, bes. S. 78–86. Beispielhaft hierfür sind etwa die Ausführungen von Ingo F. Walther und Rainer Metzger, die in Van Goghs Gemälden „identifikatorische Kräfte“ am Werk sehen, „die jedes Motiv, dessen er in einem Bild habhaft werden kann, auf die eigene Person beziehen.“ Ingo F. Walther/Rainer Metzger: Vincent van Gogh. Sämtliche Gemälde, Bd. 2, Köln 1993, S. 454.
90
Kerstin Thomas
Bild 2 Vincent van Gogh: Vincents Stuhl mit Pfeife, 1888, Öl auf Leinwand, 91,8 × 73 cm, London, National Gallery (Courtauld Fund).
Bild 3 Vincent van Gogh: Gauguins Stuhl, 1888, Öl auf Leinwand, 90,5 × 72,7 cm, Amsterdam, Van Gogh Museum.
Stuhl in seiner tatsächlichen Erscheinungsform als neutrale Repräsentation von Farb- und Formqualitäten abgebildet habe, andererseits jedoch, dass Van Gogh das wahrgenommene Objekt mit einer subjektiven Bedeutung überzogen habe. Objektivität und Subjektivität sind demnach mögliche Perspektiven, welche ein Künstler gegenüber Objekten einnehmen kann, die Dinge werden als passive Entitäten angesehen, denen der Künstler seine Sicht aufprägen kann. Der amerikanische Kunsthistoriker Meyer Schapiro hat an verschiedenen Stellen, in Publikationen sowie in unpublizierten Aufzeichnungen und Briefen, sowohl die eine als auch die andere Annahme widerlegt und dagegen eine Deutung starkgemacht, die die ambivalente Bezüglichkeit zwischen den verschiedenen Entitäten betont. Schapiros Analysen von Van Goghs Bildern sind aufschlussreich für die Frage nach dem methodischen Umgang mit dem Ausdruck von emotional Unbestimmtem, weshalb sie hier kurz vorgestellt werden sollen. Zum einen geht es Schapiro darum, die Ansicht zu widerlegen, dass es überhaupt eine neutrale Sicht auf Dinge geben könnte, die sozusagen übrig bliebe, zöge man Van Goghs Subjektivierung vom Objekt ab. Es ist wohl kein Zufall, dass Schapiro sich in diesem Argument auf Alfred North Whitehead bezieht, hatte dieser doch in seinem Buch Kulturelle Symbolisierung den relationalen Charakter von Objekten herausgestellt, indem er betont hat, dass jedes Sehen von Gegenständen unmittelbar
91
Das bestimmte Unbestimmte
mit der kulturellen und emotionalen Bedeutung der Dinge einhergehe.13 Allerdings konzediert Whitehead in seinem Text, dass sich ein Künstler eine Sicht antrainieren könne, in der Dinge wie etwa ein Stuhl strukturell und formal wahrgenommen würden, jenseits ihrer Bedeutung: Wir schauen auf, sehen eine farbige Gestalt vor uns und sagen: da ist ein Stuhl. Aber was wir gesehen haben, ist nichts anderes als eine farbige Gestalt. Vielleicht wäre ein Künstler nicht direkt zur Annahme eines Stuhls gelangt. Er könnte bei der Betrachtung einer wunderschönen Gestalt stehengeblieben sein. Aber alle von uns, die keine Künstler sind, haben, besonders wenn wir müde sind, einen starken Hang, von der Wahrnehmung der farbigen Gestalt direkt – in irgendeiner Weise des Gebrauchs oder der Emotion oder des Denkens – zur Annahme eines Stuhls überzugehen.14 Schapiro kommentiert diese Stelle Whiteheads auf einer Karteikarte, die sich in den Research Files seines Nachlasses befindet, und widerspricht Whiteheads Charak terisierung des Künstlerblicks mit Bezug auf Van Goghs Stuhl: „[…] but Van Gogh’s vision of chair begins with the object as a known and valued singular object; it is the mate to Gauguin’s chair, and the painter places other objects on chair in order to identify it further. In the final p[ain]t[in]g, it is the recognized, felt, loved chair that is painted and in such a way that its chair quality is magically transmitted.“15 Gemalte Objekte sind demnach nicht einfach Produkte einer neutralen Schilderung der Alltagswelt. Sie sind immer auch Objekte, mit denen der Künstler in einer Beziehung steht. Diese spezifische Beziehung fließt zwangsläufig in die Darstellung ein. Dabei geht Schapiro davon aus, dass im künstlerischen Gestaltungsverfahren intentionale und unbewusste Anteile miteinander verwoben sind. Die künstlerische Imagination, die sich aus dem Unterbewussten speist, führe dazu, dass der Künstler auch vertrauten Objekten einen „specific emotional character“ verleihe – wie Schapiro 1959 auf einem Zettel zum Stichwort des „Unbewussten als Quelle der Kunst“ notierte, der sich ebenfalls in seinem Nachlass befindet.16
13
14 15
16
Alfred North Whitehead: Symbolism: Its Meaning and Effect [1927]. Deutsche Übersetzung: ders.: Kulturelle Symbolisierung, hg. und übers. von Rolf Lachmann, Frankfurt/M. 2000, hier S. 61–64. Zu Whitehead siehe auch den Beitrag von Oswald Schwemmer in diesem Band. Ebd. S. 62–63. Meyer Schapiro: encycl. on artistic and everyday vision, in: Meyer Schapiro Collection, Series V.5, Box 296, Rare Book and Manuscript Library, Columbia University Library New York. Meyer Schapiro: The Unconscious as a Source of Imagery, 1959, in: Schapiro Collection (wie Anm. 15), Series IV.3, Box 237, Folder 25.
92
Kerstin Thomas
Andererseits jedoch widerspricht Schapiro auch der Sichtweise einer Psychologisierung oder Anthropomorphisierung von Gegenständen durch die Künstler, die ja ebenfalls von einer feststehenden Entität eines Dings ausgeht, auf die ein solch subjektiv-manipulativer Zugriff erfolgt. In einem Briefwechsel mit Jacques Lacan aus dem Frühjahr 1948 geht es um eben jene Frage. Lacan erläutert in seinem Brief an Schapiro seine Überlegungen zur „Folie de l’Ameublement“, in denen vom Anthropomorphismus von Stühlen die Rede ist. Schapiro präzisiert den Gedanken in Bezug auf die Malerei des 19. Jahrhunderts: „the anthropomorphism here is a psychomorphism, not the relation to human body, but to certain feelings and desires“.17 Dieser Bezug auf den Begriff des Psychomorphismus verdeutlicht Schapiros Abneigung gegen die Vorstellung, dass der Künstler seine Eigenschaften oder Emotionen einfach auf die Dinge überträgt. Denn mit dem Begriff des Psychomorphismus als Gegenbegriff zum Anthropomorphismus hatte der Soziologe Gabriel Tarde versucht, die Vorstellung eines Materie-Geist-Dualismus zu überwinden zugunsten der Annahme unzähliger kleiner und dynamischer Verbindungen zwischen verschiedenen Entitäten.18 In seiner Schrift Monadologie und Soziologie entwickelt Tarde ein Modell unbewusster Sensibilitäten, welche durch Überzeugung und Begehren angetrieben sind und im Kontakt andere Entitäten affizieren können, so wie sie selbst affiziert werden. Neben dem Begriff des Psychomorphismus greift Schapiro auch Tardes Vorstellung von der Verbindung zwischen Dingen durch Gefühle und Begehren auf, wie aus der Briefstelle hervorgeht. Mit seinem impliziten Bezug auf Tarde macht Schapiro deutlich, dass sich in der Kunst die komplexen psychisch-körperlichen Beziehung zwischen Dingen und Menschen abbilden und keine einfache Übertragung von menschlichen Formen auf Objekte geschieht. Es geht also nicht um eine Entlehnung des Menschlichen an die unbelebten Dinge, sondern um Gefühle, die als Ereignisse zwischen zwei oder mehr Entitäten angesehen werden. Schapiro unterminiert auf diese Weise streng objektivistische wie subjektivistische Modelle und etabliert demgegenüber das Bild als Ort einer Auseinandersetzung des Künstlers mit den ihn umgebenden Objekten. In seiner Analyse von Van Goghs Gemälde Krähen über dem Kornfeld (Bild 4) betont er deshalb, dass die Leidenschaft, die aus dem Bild spricht, weniger von der psychischen Erkrankung des Künstlers zeuge als vielmehr von dem Versuch, die Dinge in ihrer eigenen Charakteristik und damit als potenziell energetisches Gegenüber bestehen zu lassen. Er beschreibt, wie der Künstler Perspektiven durchschneidet, damit Gegenstände heran-
17 18
Meyer Schapiro: Briefentwurf an Jacques Lacan, Juni 1948, in: Schapiro Collection (wie Anm. 15), Series II, Box 142, Folder 8. Gabriel Tarde: Monadologie und Soziologie [orig. Monadologie et sociologie, 1893], übers. von Juliane Sarnes und Michael Schillmeier, Frankfurt/M. 22015, Kap. II, S. 31–45.
93
Das bestimmte Unbestimmte
Bild 4 Vincent van Gogh: Weizenfeld mit Krähen, 1890, Öl auf Leinwand, 50,5 × 103 cm, Amsterdam, Van Gogh Museum.
holt, um einen Kontakt mit der Welt herzustellen.19 Ein wesentliches Merkmal seines Werks sei „seine Hingabe ans Objekt, sein persönlicher Realismus“ – eine Haltung, für die „die äußere Realität ein Gegenstand starken Begehrens oder eines ausgeprägten Bedürfnisses ist“.20 Die verzerrte Perspektive, die dick aufgetragene Farbe entsprängen dem verzweifelten Bemühen, „den Dingen in der Wiedergabe ihre Gegenständlichkeit zu erhalten“.21 Die sichtbaren Gegenstände sollten auf diese Weise ihren Charakter bewahren, gleichzeitig zeugen sie von seinen Empfindungen ihnen gegenüber. Van Gogh halte an der Gegenständlichkeit fest und seine Verbundenheit mit den Dingen, so schließt Schapiro, ist eine „konstruktive Tätigkeit mit tiefen, gefühlsmäßigen Wurzeln“.22 Dies zeige sich auch in seinen Stillleben: „[…] die unproblematischen Dinge seiner Umgebung, Blumen, Wege und Felder, seine Schuhe, sein Stuhl, sein Hut und seine Pfeife, die Utensilien auf seinem Tisch, dies sind seine ureigensten Gegenstände, sie kommen auf ihn zu und sprechen ihn an.“23 Van Gogh äußerte in seinen Briefen, dass das Empfinden für die Dinge selbst fruchtbarer und lebendiger sei als das für die Bilder. Der Stuhl, der sich so trutzig gegen die Zimmerecke und den streng gekachelten Boden behauptet, ist deshalb nicht einfach 19
20 21 22 23
Meyer Schapiro: On a Painting of Van Gogh: Crows in the Wheat, in: View (Fall 1946), S. 8–14; deutsche Fassung: Meyer Schapiro: Über ein Bild von van Gogh, in: ders.: Moderne Kunst: 19. und 20. Jahrhundert, Köln 1982, S. 94–107, S. 94. Ebd., S. 100. Ebd., S. 101. Ebd., S. 105. Ebd., S. 106.
94
Kerstin Thomas
anthropomorphes Symbol des Künstlers. Er ist vielmehr ein in seiner eigenen Dinghaftigkeit wahrgenommenes Objekt, auf das sich gleichwohl das Verlangen des Künstlers richtet und dessen Vertrautheit er durch die freundlich zugewandte Sitzfläche und seine dort niedergelegte Pfeife mit Tabaksbeutel betont. Auch Cézannes Werk, dem Schapiro eine viel unpersönlichere, ja distanzierende Beziehung zur Umwelt attestiert, zeichnet sich seiner Meinung nach durch eine gegenläufige Objektbeziehung aus, bei der das Objekt sowohl unpersönliches Gegenüber wie auch Objekt vielfacher persönlicher Beziehungen ist, wie Schapiro in seinem Aufsatz zu Cézannes Äpfeln von 1968 darlegte.24 Das Stillleben erfüllt demnach zunächst den Zweck der Distanzierung, indem es den Künstler den „unpersönlichen Kosmos der Dinge“ als Darstellungsgegenstände bietet. Gerade aufgrund dieser Distanz jedoch stehe es „einer unendlichen Vielfalt von Gefühlen und Gedanken, selbst solchen von verwirrender Heftigkeit, offen“.25 Stillleben fordern die Reaktion auf ein stillschweigend angenommenes Gegenüber heraus, jeder Gegenstand steht sowohl in psychologischer Relation zu den anderen dargestellten Gegenständen wie auch zu uns. Durch das Stillleben werden Beziehungen zwischen den Dingen und dem Betrachter gestiftet, aus denen etwa „Einsamkeit, Kontakt, Harmonie, Streit, Heiterkeit, Überfluß und Luxus“ sprechen können.26 Schapiros Bildanalysen und seine verstreut geäußerten methodisch-kritischen Darlegungen können als Ausgangspunkt für die Entwicklung einer kunsthistorischen Theorie von Form und Emotion dienen: Für ein Modell, das dem Kunstwerk einen prozessualen und relationalen Charakter zugesteht, indem es nicht allein als Behälter einer durch den Künstler bestimmten Bedeutung angesehen wird, sondern als Medium, das die Beziehung zwischen Menschen und Dingen als unabgeschlossenen Prozess in seiner ganzen Widersprüchlichkeit widerzuspiegeln vermag. Statt also Emotionen im Bild an einen Verursacher zu binden, könnte man sagen, dass die Emotionen aus dem Zusammenspiel unterschiedlicher Entitäten herrühren und Qualitäten der Werke selbst, ihrer Formen sind. Mit diesem Modell kann der unbestimmte emotionale Ausdruck von Bildern, den man vielleicht besser
24
25
26
Meyer Schapiro: The Apples of Cézanne. An Essay on the Meaning of Still-Life, in: Art News Annual 34 (1968), S. 35–53; wieder abgedruckt in ders.: Modern Art: 19th & 20th Centuries, New York 1978 (Selected papers; 2), S. 1–38; deutsche Fassung: Meyer Schapiro: Cézannes Äpfel. Ein Essay über die Bedeutung des Stillebens, in: ders.: Moderne Kunst (wie Anm. 19), S. 7–48, S. 24. Ebd., S. 31. Vgl. meinen Aufsatz: Kerstin Thomas: Persönliche Objekte. Psychoanalyse und Kunst bei Meyer Schapiro, in: Imago. Interdisziplinäres Jahrbuch für Psychoanalyse und Ästhetik, Gießen 2014, S. 177–194. Ebd., S. 41.
95
Das bestimmte Unbestimmte
mit Stimmung oder Atmosphäre beschreiben kann, deutlicher erfasst werden.27 Das affektive Regime von Bildern kann vieldeutig und unbestimmt sein, Bilder können Emotionen ausdrücken, ohne dass diesem Ausdruck ein intentionaler Akt zugrunde gelegt werden muss. Vielleicht wäre es deshalb besser, statt von Ausdruck von Ausdrucksgeschehen zu sprechen.
4. Rezeption Mit dem Begriff des Ausdrucksgeschehens wird deutlich, dass sich der relationale Charakter von Bild-Emotionen auch auf die Rolle des Betrachters bezieht. Denn der Ausdruck von Emotionen muss durch einen Betrachter realisiert werden. Ist also der emotionale Ausdruck eine Eigenschaft von Bildern, heißt das dennoch nicht, dass diese Eigenschaft eine ontologische Kategorie ist, die jenseits des sozialen Zusammenhangs von Kunstwerken besteht. Emotionen in Kunstwerken wirken nicht primär über das sprachlich-begriffliche und damit rationale Verständnis, sondern über die Empathie der Betrachter. Insbesondere trifft das auf solche Qualitäten zu, die eben jenen Rest des Unbestimmbaren ausmachen, um den es in diesem Sammelband geht. Die klassischen Empathie-Theorien der deutschen Einfühlungsästhetik gehen von einer feststehenden Wirkungsbeziehung zwischen Formausdruck und Emotionseindruck aus. So nahmen etwa Friedrich Theodor und Robert Vischer, Theodor Lipps und andere an, dass aufgrund der Übereinstimmung zwischen den betrachteten Formen und den Körperformen des Betrachters ein Einfühlungs- und Korrespondenzverhältnis zwischen Bild und Rezipient ausgelöst werde.28 Die emotionale Wirkung von Formen und der menschliche Wahrnehmungsapparat werden als konstante universelle Größen angesehen, die unbeeinflusst sind von historischen und sozialen Prozessen. Demnach ließen sich bestimmte Formen, Farben und Verläufe, die Bewegung simulieren, Basisaffekten zuordnen. Ein ähnliches Konzept des unveränderlichen, biologischen Zusammenhangs zwischen Gefühlsausdruck und Gefühlseindruck vertritt etwa noch Paul Ekman, der in seinen Studien zum Gesichtsausdruck diesen Zusammenhang durch empirische Untersuchungen zu belegen sucht.29 27
28
29
Zur Stimmung als Ausdrucksmittel der Malerei vgl. Kerstin Thomas: Welt und Stimmung bei Puvis de Chavannes, Seurat und Gauguin, Berlin 2010. Zur Atmosphäre: Gernot Böhme: Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt am Main 1995. Robert Vischer: Über das optische Formgefühl, in: ders.: Drei Schriften zum ästhetischen Formproblem, Halle/Saale 1927, S. 1–44. Wieder abgedruckt in: Thomas Friedrich/Jörg Gleiter (Hg.): Einfühlung und phänomenologische Reduktion: Grundlagentexte zu Architektur, Design und Kunst, Berlin 2007, S. 37–70. Paul Ekman (Hg.): Emotion in the human face, Cambridge u.a. 1982.
96
Kerstin Thomas
Bild 5 Robert Capa: Spanischer Soldat im Augenblick seines Todes, 1937, Seite aus Life III/2, 12. Juli 1937, S. 19.
In der Kunstgeschichte hat David Freedberg den Versuch unternommen, eine zeitgemäße kunsthistorische Emotionsforschung durch eine Verknüpfung von Einfühlungsästhetik und kognitionswissenschaftlichen und neurowissenschaftlichen Erkenntnissen zu Affektreaktionen zu begründen. So erklärt er – inspiriert durch die Spiegelneuronen-Theorie von Vittorio Gallese und Giacomo Rizzolatti – Betrachterreaktionen auf Kriegsbilder mittels Empathie und weitet diese Erkenntnisse auf
97
Das bestimmte Unbestimmte
das berühmte Kriegsbild von Robert Capa aus (Bild 5). Freedberg deutet die Reaktion des Betrachters gegenüber Capas Bild als körperliche Reaktion mit unmittelbarem emotionalen Reflex: „Man fühlt in dem eigenen Körper die Instabilität des Soldaten. Die ausgedrückte Unsicherheit seines physischen Zustandes wird Teil der physischen Empfindung des Betrachters. Durch die physische Bindung des Betrachters an ein solches Bild wird physische Empathie langsam in Emotion umgewandelt.“30 Ein solches Verständnis von feststehenden Relationen zwischen Formen und Bildwirkung wird dem meist eher undeterminierten emotionalen Ausdruck von Bildern nicht gerecht. Ein derartiges Modell vermag nicht, die Qualität des Unbestimmten im Bild zu bestimmen. Vielmehr muss man sich wohl das konkrete Kunstwerk eher als Knotenpunkt vorstellen, von dem aus Gefühlsbilder ihren Ausgang nehmen, sich vermischen mit Anderem und sich daraufhin immer wieder an die Kunstwerke knüpfen. Das hieße, dass man einerseits die Betrachter als aktive Faktoren des affektiven Regimes der Bilder begreift. Dass man jedoch andererseits die Vorstellung eines Automatismus vermeidet, der auch die in der Musikästhetik entstandene Arousal-Theorie verpflichtet ist: also die Vorstellung, dass Kunstwerke unmittelbar Gefühle beim Rezipienten erzeugen. Kendall Walton, der eine abgeschwächte Form der Arousal-Theorie vertritt, entwickelt ein Modell, bei dem Imagination und tatsächliche Gefühlserfahrung sich nicht ausschließen, sondern bedingen.31 Auch wenn Walton auf ein ganz anderes Phänomen abzielt, nämlich auf gegenstandslose Musik, ist sein Modell interessant, weil es den Zusammenhang von Imagination und aktualer affektiver Berührung beschreibt. Kunstwerke setzen dieser Vorstellung zufolge die Imagination des Betrachters in Gang, die gespeist ist von zahlreichen Erfahrungs- und Gefühlsepisoden, wodurch eine tatsächliche Stimmung aktuell ausgelöst wird. Der emotionale Ausdruck von Formen ist demnach erst im Akt der Rezeption wahrnehmbar – wobei diese als intuitiver Erfahrungsabgleich funktioniert. Das kann blitzschnell gehen. Aber das heißt nicht, dass das voraussetzungslos, reflexhaft geschieht. Der Betrachter bildet einen eigenen Aktivitätspol. Seine Erfahrungen, Wünsche, Auffassungen und Kenntnis gehen in die Imagination mit ein, die an das Werk getragen wird und einen Teil seiner Wirkung bedingt. Dabei sind es insbesondere die poetisch offenen, unbestimmten Kunstwerke, die die Rezeption in 30
31
David Freedberg: Empathy, Motion and Emotion, in: Klaus Herding/Antje Krause-Wahl (Hg.): Wie sich Gefühle Ausdruck verschaffen: Emotionen in Nahsicht, Taunusstein 2007, S. 17–51; 26–27. Zu den Aktualisierungen des Einfühlungskonzepts in der Ästhetik vgl. Robin Curtis/ Gertrud Koch (Hg.): Einfühlung: Zur Geschichte und Gegenwart des ästhetischen Konzepts, München 2009; Amy Coplan/Peter Goldie (Hg.): Empathy: Philosophical and Psychological Perspectives, Oxford/New York 2011. Kendall Walton: What Is Abstract about the Art of Music?, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 46/3 (1988), S. 351–364; 359–61.
98
Kerstin Thomas
Bild 6 Suzanne Opton: Soldier: Bruno-355 Days in Iraq, Fotografie aus der Serie Soldier, 2006.
der Schwebe halten und deshalb einen besonders intensiven emotionalen Eindruck hinterlassen. Deutlich wird dies durch die Arbeit Soldier (2006) (Bild 6) von Suzanne Opton, die aus Fotos heimgekehrter US-Soldaten nach ihrem einjährigen Einsatz im Irak besteht.32 Die Künstlerin bat die Soldaten, ihren Kopf auf einen Tisch abzulegen und in das Objektiv zu blicken, während sie selbst vorgeblich Einstellungen an der Kamera vornehmen wollte. In Wirklichkeit fotografierte sie die Soldaten bereits in ihrer Ruhestellung. Entstanden sind Portraitköpfe liegender Soldaten, deren Gesichter keinen spezifischen Ausdruck tragen. Der starke emotionale Eindruck, den die Fotos hinterlassen, rührt also nicht von der Mimik her. Er entsteht einerseits aus der Perspektive einer extremen Nahsicht, dem direkten Blick der Fotografierten, die zudem durch die liegende Haltung in eine intime Nähe gerückt sind. Andererseits jedoch erhalten die Bilder ihre Intensität dadurch, dass die Kenntnis des politischen und gesellschaftlichen Hintergrunds des Betrachters als Teil seiner emotionalen Erfahrung wirksam wird. Der Tatsache, dass die Soldaten von einem traumatisierenden Kriegseinsatz heimgekehrt sind, von welchem konkrete Einsatzdauer und -ort
32
Vgl. meinen Aufsatz: Kerstin Thomas: Das affektive Regime der Bilder, in: Ausst.-Kat.: Affekte, hg. von Claudia Emmert/Jessica Ullrich, Kunstpalais Erlangen, Berlin 2014, S. 180–193.
99
Das bestimmte Unbestimmte
im Titel angegeben ist. Der Ausdruck ihrer Gesichter ist nun nicht unspezifisch, sondern die Betrachterin spürt das Verlorene, Leere, Abgründige in ihrem teilnahmslosen Blick. Ihre Empathie wird auf unterschiedlichen Ebenen durch Wissen gespeist und ist keineswegs als reflexhafte Reaktion aufzufassen, auf die sie vielmals durch die vorschnelle Adaptation der Spiegelneuronentheorie reduziert wurde. Gerade an der Fotoarbeit von Suzanne Opton wird deutlich, dass der emotionale Ausdruck der Bilder nicht das Resultat einer starken intentionalen Setzung ist, bei der spezifische Emotionen eine konkrete Bildaussage stützen, es sei denn, man legt einen schwachen Intentionalitätsbegriff zugrunde, bei dem die Erzeugung unbestimmten Ausdrucks selbst als Intention angesehen wird. Der emotionale Ausdruck der Bilder ist hier andererseits auch nicht als Resultat einer Projektion des Betrachters zu sehen. Zum näheren Verständnis des affektiven Regimes der Bilder, das im Unbestimmten zwischen Darstellungsobjekt, Bild und Betrachter operiert, können Richard Wollheims Überlegungen zu Kunst und Ausdruck fruchtbar gemacht werden. Wollheim wendet sich in seinem Text Correspondence, projective properties, and expression in the arts von 1991 sowohl gegen ein personenorientiertes intentionalistisches Modell von Bildausdruck als auch gegen ein projektives Modell.33 Das erste schreibe dem Kunstwerk unzulässigerweise menschlichen Ausdruck zu, das zweite jedoch vernachlässige die spezifischen Objektqualitäten von Kunstwerken, weil es davon ausgeht, dass die Eigenschaften des Kunstwerks reine Zuschreibungen, „Projektionen“ von außen seien. Wollheim versteht den Ausdruck des Kunstwerks demgegenüber als Resultat sowohl seiner formal-materiellen Qualitäten als auch des Erfahrungswissens von Künstler und Betrachter. Dabei fließe auf Seiten des Betrachters die Kenntnis und die Vorstellungen vom Herstellungsprozess des Werks mit in die Sicht auf das Werk ein. Sowohl der Künstler als auch der Betrachter arbeiteten unablässig an der Etablierung einer Korrespondenzbeziehung zwischen emotionaler Erfahrung und Ausdruckspotential des Werks. Folgt man dieser Analyse, so müsste man als Konsequenz den Ausdruck von Kunstwerken, in besonderem Maße aber ihren emotionalen Ausdruck, als vorläufiges Resultat eines unablässigen Auseinandersetzungsprozesses verstehen. Ausdruck müsste demgemäß als prozessual gedachtes „Geschehen“ angesehen werden, weil er niemals feststeht, sondern stets auf die Aktualisierung durch einen Betrachter angewiesen ist. Versteht man Wollheims Modell der Korrespondenzbeziehungen als ein dynamisches Geschehen, könnte man es noch erweitern um mehrere aktive Entitäten – ganz im Sinne von Gabriel Tarde. Daraus ergibt sich, dass es keinen eindeutigen Verursacher von Emotionen in Bildern gibt, sondern diese stets das Resultat der Begegnung einer Vielzahl von Akteuren sind. Für die Frage nach dem Unbe33
Richard Wollheim: Correspondence, projective properties, and expression in the arts, in: Salim Kemal/Ivan Gaskell (Hg.): The Language of Art History, Cambridge 1991, S. 51–66.
100
Kerstin Thomas
stimmten als Qualität eines Bildes ist mit dieser Einsicht viel gewonnen. Denn wir können nun vorläufig festhalten, dass Bilder von Prozessen zeugen und Prozesse in Gang setzen, in deren Verlauf Emotionen zugeschrieben oder empfunden werden können. Diese Emotionen können als Wirkungen der Auseinandersetzung verschiedener Entitäten verstanden werden: von Objekten der Alltagswelt, imaginären Objekten, dem Künstler, dem Werk in seinem materiellen Substrat und seinem imaginären Potential sowie dem Betrachter, der sich zu all diesen Entitäten aktiv verhält als eigenständiger Akteur inmitten dieser Relationen. Das Unbestimmte der Bilder bedingt auch ihre Unverfügbarkeit als Objekte. Doch ist das Unbestimmte demnach nicht als Aura eines hermetischen Objekts zu verstehen. Der Charakter des Unbestimmten – jener „unverfügbare Rest“ ist nicht Residuum einer metaphysischen Essenz oder Seele der Dinge. Es ist vielmehr Ausdruck für die unendliche Unabge schlossenheit der vielfältigen Beziehungen zwischen Objekten, Material, Künstler, Bild und Betrachter. Die Wirkkraft dieser Beziehungen rührt daher, dass individuelle Impulse mit dem Charakter der Dinge in Kontakt treten – in der psychologischen Nähe ist somit gleichsam der Kontakt mit der Welt begründet. Das Unbestimmte zeigt daher die soziale Dimension der ästhetischen Erfahrung auf, die für die wissenschaftliche Erforschung von Emotionen im Kunstwerk von zentraler Bedeutung ist.
Wolfgang Prinz
Fremde Bilder
1. Bilder in Aktion Bilder sind merkwürdige Dinge. Seit es sie gibt, treibt philosophisch gesinnte Köpfe unter ihren Liebhabern die Frage um, was sie eigentlich sind und was sie von Dingen unterscheidet, die nicht Bilder sind. Um solche Fragen kreisen auch die folgenden Überlegungen, wenn auch vor einem ganz anderen Hintergrund. Sie blicken nämlich auf Bilder nicht aus der Perspektive philosophisch grundierter Kunsttheorie, sondern biologisch und psychologisch grundierter Wahrnehmungstheorie. Aus dieser Perspektive gehen sie der Frage nach, was das Besondere an Bildern ist. Was bedeutet der Blick auf Bilder und wie unterscheidet er sich vom Blick auf Dinge, die nicht Bilder sind? Was ist es genau, das die Wahrnehmung von Bildszenen von der Wahrnehmung echter Szenen unterscheidet? Bilder sind merkwürdige Dinge. Zunächst sind sie flächige Objekte, etwa aus Holz, Leinwand, Karton oder Papier, deren Oberfläche durch Kontrast und Farbigkeit in linearen oder flächigen Strukturen organisiert ist. Zugleich sind sie allerdings Produkte menschlicher Handlungen – Produkte, die in bestimmten kulturellen und historischen Kontexten entstanden sind. Sie haben also zwei Gesichter, ein physisches und ein intentionales, und in der bild- und kunsttheoretischen Literatur gibt es eine lange Tradition des Nachdenkens über diese Doppelgesichtigkeit.1 Als physische Objekte sind sie nichts weiter als das, was sie physisch sind, aber als intentionale
1
Zur Übersicht vgl. die Beiträge von Reinhard Niederée/Dieter Heyer: The Dual Nature of Picture Perception: A Challenge to Current General Accounts of Visual Perception, in: Heiko Hecht/Robert Schwartz/Margaret Atherton (Hg.): Looking into Pictures: An Interdisciplinary Approach to Pictorial Space, Cambridge, MA 2003, S. 77–98, Rainer Mausfeld: Conjoint Representations and the Mental Capacity for Multiple Simultaneous Perspectives, in: ebd., S. 17–60, und Richard Wollheim: In Defense of Seeing-in, in: ebd., S. 3–15.
102
Wolfgang Prinz
Objekte weisen sie weit darüber hinaus. Zum einen weist ihre physische Beschaffenheit zurück auf die Handlungen, die sie erzeugt haben, die Intentionen, die die Handlungen hervorgebracht haben, und damit auf die historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontexte, aus denen sie hervorgegangen sind. Das sind Eigenschaften, die Bilder mit anderen Artefakten teilen. Zum anderen aber verweisen sie auf das, was sie zur Darstellung bringen, das heißt auf Dinge und Ereignisse, die von ihnen selbst ganz verschieden sind. Das ist eine Eigenschaft, die Bilder gegenüber anderen Artefakten auszeichnet. Wie immer man das im Einzelnen sehen mag – Bilder sind jedenfalls mehr als das, was sie physisch sind, und dass sie das sind, verdanken sie dem Umstand, dass sie Produkte zielgerichteter menschlicher Tätigkeit sind. Das ist es, was wir zu sehen nicht umhin können, wenn wir auf ein Bild blicken – egal ob es sich um eine Steinritzung aus dem Neolithikum, ein bürgerliches Renaissanceporträt oder ein Selfie mit Sonnenbrille und Eiffelturm handelt. Wir blicken auf Artefakte, die bestimmte Menschen in der Absicht hervorgebracht haben, bestimmte Dinge auf bestimmte Weise sichtbar zu machen.2 Für Bilder gilt also in besonderem Maß, was im Prinzip für alle Artefakte gilt: dass sie intentional aufgeladen sind. In der bild- und kunsttheoretischen Reflektion artikuliert sich diese Eigenschaft gelegentlich in einer Idee, die auf den ersten Blick etwas sonderbar erscheint: dass Bilder nämlich Dinge sind, denen mentale – oder jedenfalls quasi-mentale – Kräfte innewohnen, und dass deshalb von ihnen eine Aktivität ausgeht, die der Tätigkeit menschlicher Subjekte vergleichbar ist. Zuletzt hat Horst Bredekamp in seiner Theorie des Bildakts diese Idee in ebenso prägnanter wie provokanter Weise entwickelt.3 Diese Theorie schreibt dem Bild Kräfte zu, denen sich das Empfinden, Denken und Handeln seines Betrachters nicht entziehen kann. Provokant ist die Theorie nicht zuletzt deshalb, weil sie dem konstruktivistischen Zeitgeist den Kampf ansagt und in einem radikalen Sinn realistisch verstanden werden will. Die Kräfte, die die Aktivität des Bildes ausmachen, sollen nämlich dem Bild selbst immanent sein und nicht erst im Akt der Rezeption entstehen. Rezeption ist notwendig, aber nicht hinreichend für die Erklärung von Bildaktivität: sie kann aus der Latenz nur etwas holen, was schon im Bild angelegt ist. Die folgenden Überlegungen sind durch Bredekamps Theorie angeregt. Was ist zu der Idee der Bildaktivität aus der Perspektive biologischer und psychologischer
2
3
Die Bilder, von denen hier die Rede ist, stehen also nicht pars pro toto für sämtliche Produkte ästhetischer Gestaltung. Bilder sind nach dieser Lesart ästhetische Artefakte nur dann, wenn sie auf flächigem Untergrund Strukturen aufweisen, die etwas zeigen oder darstellen, das von ihnen selbst verschieden ist. Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts: Frankfurter Adorno-Vorlesung 2007, Frankfurt/M. 2010, S. 51ff.
103
Fremde Bilder
Wahrnehmungstheorie zu sagen? Auf den ersten Blick sieht es so aus, als stünde der Realismus dieser Theorie in ziemlich unversöhnlichem Gegensatz zu dem konstruktivistischen Geist funktionalistischer Wahrnehmungstheorie. Aber das stimmt nicht. Denn wie wir sehen werden, kommt weder die Bildakttheorie ohne einen gehörigen Schuss Konstruktivismus zurecht noch die Wahrnehmungstheorie ohne eine gehörige Portion Realismus. Der Gang der folgenden Überlegungen lässt diese abstrakten Fragen allerdings zunächst in den Hintergrund treten. Im Mittelpunkt der beiden folgenden Abschnitte steht die sehr viel konkretere Frage, was das Betrachten von Szenen in Bildern von der Wahrnehmung von Szenen im Leben unterscheidet. Dabei wird sich zeigen, dass zwischen diesen beiden Arten von Szenen ein grundlegender Unterschied besteht, der die Wahrnehmungs- und Gestaltungsautorenschaft von Beobachtern und Beobachterinnen betrifft, das heißt ihre Fähigkeit, durch eigene Handlungen zu bestimmen, was sie von der jeweiligen Szene zu sehen bekommen. Während bei diesen Überlegungen die wahrnehmungstheoretische Perspektive im Vordergrund steht, kommt der letzte Abschnitt noch einmal auf die Frage der Bildaktivität zurück, von der sie ihren Ausgang genommen haben.
2. Szenen im Leben Beginnen wir mit einer evolutionsbiologischen Frage: Wozu sind Wahrnehmungssysteme eigentlich gut und was sollen sie leisten? Wer auf diese Weise fragt, stellt sich ein Lebewesen in einer Umwelt vor, mit der es durch eigene Bewegungen interagiert, sodass es zu jedem Zeitpunkt einem bestimmten Ausschnitt seiner Umwelt ausgesetzt ist. Dieser Ausschnitt umfasst Strukturen und Prozesse, die auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind und auf entsprechend unterschiedlichen Skalen beschrieben werden müssen – von subatomaren bis hin zu astronomischen Skalen. Viele dieser Strukturen und Prozesse sind für die (Über)lebenschancen dieses Wesens ohne Bedeutung, aber einige sind relevant in dem Sinne, dass sie seinen Spielraum für Interaktionen in und Interaktionen mit dem aktuellen Um weltausschnitt bestimmen und begrenzen. Die relevanten Komponenten des aktuellen Umweltausschnitts machen die Szene aus, in der sich das Lebewesen gerade befindet. Mit der Wahl dieses unkonventionellen (und natürlich völlig unbiologischen) Ausdrucks nehmen wir vorweg, dass wir unser hypothetisches Lebewesen später nicht nur mit Ausschnitten aus seiner Umgebung, sondern auch mit Bildern konfrontieren wollen und deshalb auf eine Terminologie angewiesen sind, die in beiden Kontexten verstanden werden kann. Aus dem gleichen Grund werden wir im Folgenden das Lebewesen zunehmend durch die Beobachterin ersetzen.
104
Wolfgang Prinz
Jedenfalls können wir jetzt unsere einfache Ausgangsfrage mit einer einfachen (und ziemlich trivialen) Antwort bedienen: Wahrnehmungssysteme sind dazu da, Wissen über die jeweilige Szene bereitzustellen. Wissen ist natürlich ein ebenso unbiologischer Ausdruck wie Szene oder Beobachterin. Er dient hier als Sammelbezeichnung für alle Informationen, die dem Lebewesen beziehungsweise der Beobachterin über Struktur und Dynamik der jeweiligen Szene zur Verfügung stehen und die es beziehungsweise sie für die Steuerung von Bewegungen und Interaktionen nutzen kann. Das Wissen, das hier gemeint ist, ist also ausschließlich funktional definiert und muss ohne mentalistischen Beigeschmack verstanden werden. Es umfasst alle Informationen über die Szene, die der Beobachterin für die Steuerung ihrer Tätigkeit zur Verfügung stehen, ganz egal ob es in Form unbewusster und implizit wirksamer sensomotorischen Kopplungen daherkommt oder etwa in Form bewusster und explizit repräsentierter Wahrnehmungsinhalte. In welcher Form und welchem Format auch immer – Wahrnehmung ist dazu da, der Beobachterin Wissen über die aktuelle Szene zu liefern.
Zyklische Organisation Für die weiteren Überlegungen konzentrieren wir uns auf das Sehen als paradigmatische Form von Wahrnehmung – nicht nur mit Blick auf seine traditionelle Prominenz in der wahrnehmungstheoretischen Literatur, sondern auch mit Blick auf seine unausweichliche Rolle für die Wahrnehmung von Bildern. Bisher war hauptsächlich davon die Rede, was Wahrnehmung bewirkt: Sie stellt Wissen bereit, das situationsgerechtes Handeln möglich macht. In diesem Sinne bestimmt das, was wir sehen, das, was wir tun, sodass das, was wir tun, davon abhängt, was wir sehen. Das ist aber nur die halbe Wahrheit über den Zusammenhang von Wahrnehmung und Handlung. Die andere Hälfte wird erkennbar, wenn man in die umgekehrte Richtung blickt. Dann sieht man, dass Wahrnehmung zugleich von Handlungen abhängt, das heißt dass das, was wir sehen, davon abhängt, was wir tun. Denn das, was wir zu einem bestimmten Zeitpunkt von einer Szene zu sehen bekommen, hängt nicht nur von der Szene selbst ab, sondern in mindestens gleichem Maße auch von unseren eigenen Handlungen.
Bild 1 Wahrnehmungs-/Handlungszyklus mit zwei funktionalen Implikationen: W H: Handlung hängt von Wahrnehmung ab. H W: Wahrnehmung hängt von Handlung ab.
105
Fremde Bilder
Bild 1 zeigt ein simples Schema, das beide Wahrheiten zusammenfasst. Es zeigt eine zyklische Struktur für die Organisation von Wahrnehmung und Handlung, die zwei unterschiedliche Lesarten und zwei unterschiedliche theoretische Perspektiven nahelegt. Was die Lesarten betrifft, kann man Wahrnehmungs-/Handlungs-Zyklen entweder rein zeitlich verstehen oder zeitlich und funktional. Die funktionale Lesart nimmt an, dass mit der zeitlichen Abfolge auch eine kausale Verursachung verbunden ist: Was wir wahrnehmen, steuert, was wir tun, und was wir tun, bestimmt, was wir wahrnehmen. Was theoretische Perspektiven betrifft, kommt es darauf an, was man anhand von Handlungs-/Wahrnehmungs-Zyklen erklären will. Die handlungstheoretische Perspektive will Handlungen erklären und interessiert sich deshalb für die Frage, wie Handlung von Wahrnehmung abhängt. Die wahrnehmungstheoretische Perspektive will dagegen Wahrnehmung erklären und interessiert sich deshalb für die umgekehrte Frage, wie Wahrnehmung von Handlung abhängt. Auf den ersten Blick mögen uns diese Ideen ziemlich trivial vorkommen. Wie tiefgreifend ihre wahrnehmungstheoretischen Implikationen sind, wird erst auf den zweiten Blick erkennbar. Die zyklische Organisation von Wahrnehmung und Handlung macht nämlich deutlich, dass wir die Wahrnehmung einer Szene nicht als punktuelles Ereignis auffassen dürfen, sondern sie als einen hochgradig interaktiven und in der Zeit erstreckten Vorgang verstehen müssen. Denn wir haben es nicht mit einem passiven Beobachter zu tun, der außerhalb der Szene steht und lediglich registriert, was in ihr geschieht, sondern mit einer aktiven Beobachterin, die selbst Teil der Szene ist und in Sequenzen von iterativen Handlungs-/Wahrnehmungs-Zyklen mit ihr interagiert. Dabei erfasst ihre Wahrnehmung die Dynamik der Veränderungen, die sich aus diesen Interaktionen ergeben.
Eigen- und Fremddynamik In älteren Wahrnehmungstheorien galten solche Interaktionen als lästige Störfaktoren, deren Wirkung es so weit wie möglich zu eliminieren gilt – zum Beispiel durch Wahl eines statischen Beobachters, der unbeteiligt von außen auf die Szene blickt. Ganz anders dagegen die Perspektive moderner biopsychologischer Wahrnehmungstheorien: Hier gelten Mobilität und Interaktivität der Beobachterin als naturgegebene Faktoren, deren Wirkung schon deshalb auf keinen Fall reduziert oder gar eliminiert werden kann und darf, weil sie für die Wahrnehmung der Szene konstitutiv sind. Konstitutiv sind sie deshalb, weil die Handlungen der Beobachterin mitbestimmen, was sie von der Szene zu sehen bekommt. Ihre Interaktionen mit der Szene leisten entscheidende Beiträge zur Wahrnehmung der Szene, und Wahrnehmung ist in diesem konkreten Sinn auf Handlung angewiesen.
106
Wolfgang Prinz
Bild 2 Instrumentelle Handlungen verändern den Inhalt von Szenen (rot markierte Veränderungen zwischen t1 und t2): (a) Verschiebung, (b) Zerstörung, (c) Ent fernung eines Elements.
Die Handlungen, von denen hier die Rede ist, können von zweierlei Art sein, instrumentell und epistemisch. Instrumentelle Handlungen zielen darauf, den Inhalt der Szene zu verändern, das heißt zum Beispiel Dinge wegzunehmen, hinzuzufügen, zu verschieben, verformen oder verfärben, sie anzuhalten oder in Bewegung zu versetzen (Bild 2). Epistemische Handlungen zielen dagegen darauf, den Zugang zur Szene zu verändern, das heißt zum Beispiel den Standort, die Blickrichtung, die Beleuchtung, den Zeitpunkt oder die Zeitdauer ihrer Beobachtung (Bild 3). Während also instrumentelle Handlungen in die Struktur der Szene selbst eingreifen, lassen epistemische Handlungen die Szene unberührt und verändern die Bedingungen ihrer Beobachtung. Damit hängt ein weiterer Unterschied zusammen, der die Skalen ihrer Wirkungen betrifft. Während instrumentelle Handlungen meist lokale Veränderungen in der Szene bewirken (z. B. ein Gegenstand wird verformt, verschoben oder weggenommen), bewirken epistemische Handlungen in der Regel globale Veränderungen, die die Struktur des gesamten Informationsangebots betreffen (z. B. der Blick wandert durch die Szene). In beiden Fällen führen die Handlungen zu Veränderungen des Informationsangebots, und die unterschiedlichen Skalen, auf denen sich diese Veränderungen abspielen, enthalten Informationen über die Handlungen, die sie bewirken.
107
Fremde Bilder
Bild 3 Epistemische Handlungen verändern den Zugang zu Szenen (rot markierte Veränderungen zwischen t1 und t2). (a) Rotation: Fixationswechsel bei konstantem Standort, (b) Translation: Standortwechsel bei konstanter Fixation, (c) Rotation und Translation kombiniert.
Für die Beobachterin bringt die Einsicht, dass Handlung für Wahrnehmung konstitutiv ist, eine gute und eine schlechte Nachricht mit sich. Die gute Nachricht betrifft ihre Gestaltungs- und Wahrnehmungsautorenschaft. Da sie aktiv mit der Szene interagiert, ist ihre Wahrnehmung nicht allein der Beschaffenheit der Szene ausgeliefert. Sie kann vielmehr durch gezielte instrumentelle und epistemische Handlungen darüber mitbestimmen, was sie zu sehen bekommt und wird dadurch zur Autorin (oder jedenfalls Ko-Autorin) ihrer Wahrnehmung. Die schlechte Nachricht betrifft die Überlagerung von Eigen- und Fremddynamik – gewissermaßen die Kehrseite dieser Autorenschaft. Sie spricht ein funktionales Grundproblem an, das mit der zyklischen Organisation von Wahrnehmung und Handlung untrennbar verbunden ist. Wenn nämlich zutrifft, dass Wahrnehmung stets von vorausgehenden Handlungen abhängt, dann muss auch gelten, dass das Informationsangebot, das der Beobachterin über die aktuelle Szene zur Verfügung steht, sich zu jedem Zeitpunkt aus zwei Quellen speist, deren Produkte sich überlagern: dem, was in der Szene an und für sich geschieht und dem, was sie durch ihre Handlungen bewirkt. Nur die erste Quelle kann allerdings liefern, was Wahrnehmung bezweckt: Wissen über die Struktur und Dynamik der Szene selbst (Fremddynamik). Die andere liefert dagegen Wissen über die Wirkung eigener Handlungen (Eigendynamik).
108
Wolfgang Prinz
In der resultierenden Gesamtdynamik, die ihr zur Verfügung steht, überlagern sich dann Eigen- und Fremddynamik und sind untrennbar miteinander vermischt. Wenn aber die Gesamtdynamik nicht liefern kann, was Wahrnehmung bezweckt, ist die Überlagerung von Fremd- und Eigendynamik ein Problem, für das eine Lösung gefunden werden muss.
Bild 4 Überlagerung von Fremd- und Eigendynamik zwischen t1 und t2. Fremddynamische Veränderung (grün): vertikale Wanderung eines Elements. Eigendynamische Veränderungen (rot); (a) durch instrumentelle Handlung: horizontale Verschiebung eines Elements; (b) durch epistemische Handlung: Blickverlagerung des Auges.
Optischer Fluss – Bevor wir auf Lösungen zu sprechen kommen, müssen wir uns noch die Größenordnung des Problems vor Augen führen, mit dem wir es hier zu tun haben. Wie schon gesagt, hat die klassische Wahrnehmungsforschung die konstitutive Rolle, die Beobachteraktivität für Wahrnehmung spielt, lange Zeit unterschätzt oder sogar völlig übersehen. Das mag nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass die Eigendynamik für die Beobachterin oft unsichtbar oder jedenfalls ziemlich unscheinbar ist. Das gilt vor allem für die Eigendynamik epistemischer Handlungen, die, obwohl sie oft tiefgreifende globale Strukturveränderungen im gesamten Gesichtsfeld umfasst, dennoch unter normalen Bedingungen weitgehend unsichtbar bleibt. Erst seit James J. Gibson kennen wir optische Flussdiagramme, die die dramatische Größenordnung dieser Veränderungen veranschaulichen. Sie führen uns eine Dynamik vor Augen, die wir, um es paradox zu formulieren, nicht sehen können, obwohl unser Sehen voll und ganz auf ihr beruht.4 4
Vgl. James J. Gibson: The Perception of the Visual World, Boston, MA 1950, David M. Regan/ Lloyd Kaufman/James Lincoln: Motion in Depth and Visual Acceleration, in: Kenneth R.
109
Fremde Bilder
Bild 5 Lichtenberg blickt aus einer Kutsche, die sich nach links durch die Landschaft bewegt. Die Pfeile markieren den optischen Fluss im Gelände, d. h. die Verschiebung der jeweiligen Bildpunkte bei Fixation eines (rot markierten) Punktes (a) im Gelände und (b) am Horizont. (Der optische Fluss, der natürlich auch in den Wolken stattfindet, ist aus Gründen der Übersichtlichkeit weggelassen).
Vereinzelt kommt es allerdings vor, dass scharfsichtige Beobachter sehen können, was normalerweise unsichtbar bleibt. Ein bemerkenswertes Beispiel solcher Scharfsichtigkeit liefert Georg Christoph Lichtenbergs Beobachtung während der Fahrt in einer Kutsche: „Wenn ich in einer Chaise fuhr so habe ich oft bemerkt, daß die nächsten Punkte des umher liegenden Feldes rückwärts, hingegen die entfernten vorwärts zu laufen schienen, zwischen beiden war vermutlich ein Punkt der sich weder vor- noch rückwärts bewegte sondern der seiner Entfernung wegen eben so sehr vorwärts rückte als ihn seine Nähe rückwärts trieb. Auf was für Gründen beruht die Bestimmung der Entfernung dieses Punkts?“5 Bild 5 illustriert, wovon hier die Rede ist: Wenn Lichtenberg aus der Kutsche blickt und einen Punkt im Feld fixiert, bewegen sich alle entfernten Punkte in Fahrtrichtung, alle nahen Punkte aber in Gegenrichtung. Das ist das, was er sehen konnte: den durch die Bewegung der Kutsche in seinem Gesichtsfeld ausgelösten optischen Fluss.
5
Boff/Lloyd Kaufman/James P. Thomas (Hg.): Handbook of Perception and Human Performance: Sensory Processes and Perception, Vol 1, New York, NY 1986, S. 19.11–19.46. Seitdem hat die Analyse optischer Flussfelder zunehmende praktische Bedeutung in den Ingenieurwissenschaften gewonnen, vor allem im Bereich des Maschinellen Sehens und der Robotik; vgl. z. B. Steven S. Beauchemin/John L. Barron: The Computation of Optical Flow, in: ACM Computing Surveys 27/3 (1995), S. 433–467, Christopher Brown (Hg.): Advances in Computer Vision, Mahwah, NJ 1988. Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe [1770], Bd. 2, hg. v. Wolfgang Promies, Frankfurt/M. 1994, Sudelbücher, Heft A, S. 234.
110
Wolfgang Prinz
Was er allerdings weder sehen noch wissen konnte, ist die Antwort auf die Frage, die er sich anschließend stellt und die ihn gewiss verblüfft hätte: dass er es selbst ist, der die Lage des Punktes wählt, an dem sich die beiden Bewegungsrichtungen begegnen: Er wählt sie, indem er durch seinen willentlich kontrollierten Blick den Fixationspunkt in der Szene bestimmt (Bild 5). Verblüfft, so dürfen wir vermuten, hätte ihn die Einsicht, dass das, was er von der Szene zu sehen bekommt, nicht nur von der Beschaffenheit der Szene selbst abhängt, sondern auch von seinem eigenen Willen, der ihn zum Autor (oder jedenfalls Ko-Autor) seiner Wahrnehmung macht.
Subtraktion und Dämpfung Wenn Überlagerung das Problem ist, könnte Subtraktion die Lösung sein: Subtraktion der Eigendynamik von der Gesamtdynamik, sodass der verbleibende Rest die Fremddynamik liefert. Allerdings setzt eine solche Lösung voraus, dass sich die Eigendynamik identifizieren und bestimmen lässt. Auf die Frage, wie das vor sich gehen kann, gibt es zwei Antworten, die sich lange Zeit befehdet haben.6 Gemeinsam ist ihnen, dass sie gelernte Kontingenzbeziehungen zwischen Handlung und Wahrnehmung voraussetzen. Die eine Antwort postuliert handlungsbasierte Berechnung der Eigendynamik. Sie setzt voraus, dass die Handlungen, die eigendynamische Veränderungen bewirken, bekannt sind – mit der Folge, dass ihre Konsequenzen für die Wahrnehmung schon berechnet werden können, bevor sie eintreten. Solche Berechnungen
6
Gemeint ist hier die klassische Auseinandersetzung über die Bedeutung motorischer („efferenter“) Signale für die Wahrnehmung, die mit Helmholtz begann und bis heute andauert. Auf der einen Seite haben Autoren wie Helmholtz (Hermann von Helmholtz: Handbuch der physiologischen Optik, Leipzig 1867) und von Holst und Mittelstaedt (Erich von Holst/Horst Mittelstaedt: Das Reafferenzprinzip, in: Naturwissenschaften 37/40 (1950), S. 464–476) postuliert, dass afferente Signale nicht eindeutig interpretiert werden können, ohne dass efferente Signale über geplante Bewegungen in Rechnung gestellt werden (Outflow-Perspektive). Auf der anderen Seite haben Autoren wie Gibson (James J. Gibson: The Ecological Approach to Visual Perception, Boston, MA 1979) und Turvey (Michael T. Turvey: The Thesis of the Efference-Mediation of Vision Cannot be Rationalized, in: Behavioral and Brain Sciences 2/1 (1979), S. 83–85) eine solche Rolle efferenter Signale bestritten und postuliert, dass Wahrnehmung allein durch komplexe Strukturen afferenter Signale konstituiert wird (Inflow-Perspektive). Inzwischen haben Outflow- und Inflow-Theorien Waffenstillstand, wenn nicht gar Frieden geschlossen, nachdem sich die Auffassung durchgesetzt hat, dass beide Perspektiven einander ergänzen können und müssen (vgl. z. B. Stephen E. Palmer: Vision Science, Cambridge, MA 1999, Kap. 7; Wayne L. Shebilske/Aaron L. Peters: Perception of Objects, Events ad Actions, in: Wolfgang Prinz/Bruce Bridgeman (Hg.): Handbook of Perception and Action, Vol. 1, London: 1995, S. 227–251).
111
Fremde Bilder
setzen natürlich zuvor erworbenes Wissen über Handlungs-/Wahrnehmungs-Kontingenzen voraus, d. h. Wissen über die perzeptiven Konsequenzen gegebener Handlungen. Die Strukturen, in denen dieses Wissen gespeichert ist, werden bisweilen auch als Vorwärtsmodelle bezeichnet. Sie modellieren die tatsächliche funktionale Abhängigkeit der Ereignisse, indem sie die Wahrnehmungskonsequenzen gegebener Handlungen vorausberechnen. Dabei kann das Wissen über gegebene Handlungen, das hierfür erforderlich ist, auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Formaten zur Verfügung stehen, zum Beispiel durch zugrundeliegende Intentionen, durch motorische Kommandos oder auch durch sensorisches Feedback über die laufende Ausführung der gegebenen Handlung. Die andere Antwort postuliert wahrnehmungsbasierte Berechnung der Eigendynamik. Sie kommt vor allem dann ins Spiel, wenn die Handlungen, die eigendynamische Veränderungen bewirken, nicht genau bekannt sind (wie z. B. in Lichtenbergs Fall, der sich ja nicht selbst bewegt, sondern in einer fahrenden Kutsche sitzt). In diesem Fall ist die Berechnung der Eigendynamik auf zuvor erworbenes Wissen über Wahrnehmungs-/Handlungs-Kontingenzen angewiesen, d. h. auf Wissen über die Handlungsgrundlagen gegebener Wahrnehmungsdynamik. Die Strukturen, in denen dieses Wissen gespeichert ist, werden bisweilen auch als Inverse Modelle bezeichnet. Sie modellieren Zusammenhänge zwischen Ereignissen, die den tatsächlichen funktionellen Abhängigkeiten entgegenlaufen, indem sie die Handlungsgrundlagen gegebener Wahrnehmungsdynamik rückberechnen. Dabei wird das Wissen über die gegebene Wahrnehmungsdynamik durch globale Muster räumlicher und zeitlicher Kopplungen lokaler Veränderungen bereitgestellt, wie sie zum Beispiel im optischen Fluss enthalten sind. Die erste Antwort beruht also auf Vorausberechnung möglicher Wahrnehmungskonsequenzen gegebener Handlungen, die zweite auf der Rückberechnung möglicher Handlungsursachen gegebener Wahrnehmung. Und obwohl sie auf völlig unterschiedlichen Modellen und Kontingenzbeziehungen aufbauen, erlauben beide eine Abschätzung der Eigendynamik und schaffen damit die entscheidende Voraussetzung für die Subtraktion des Eigenanteils von der Gesamtdynamik. In der Regel bekommt der Beobachter von alldem allerdings nichts mit. Er sieht weder Überlagerung noch Subtraktion. Was er zu sehen bekommt, ist nichts als die immanente Fremddynamik der Szene selbst. Hier gilt das Prinzip der asymmetrischen Repräsentation: zur direkten, expliziten Repräsentation gelangt die Fremddynamik der Szene, während die vom Beobachter induzierte Eigendynamik allenfalls in indirekter und impliziter Form mitrepräsentiert wird. Wer aus einer fahrenden Kutsche blickt, sieht die Landschaft, durch die er fährt, und nur am Rande sieht er mit, wie sich die Kutsche durch die Landschaft bewegt. Wer einen Brief liest, liest die Wörter, auf die er gerade blickt, und nur am Rande bemerkt er die Sequenz von Kopf- und Blickbewegungen, die er dabei ausführt. Wir repräsentieren
112
Wolfgang Prinz
also explizit, was in der Szene geschieht, aber nur implizit, was wir tun, um dieses explizite Wissen zu erzeugen. Diese Asymmetrie scheint auf Mechanismen zurückzugehen, die die Wahrnehmung eigener Handlungen und der mit ihnen verbundenen Eigendynamik ab schwächen oder sogar unterdrücken. Während solche Mechanismen für epistemische Handlungen schon seit langem bekannt sind, sind sie für instrumentelle Handlungen erst kürzlich beschrieben worden.7 Die Mechanismen mögen in beiden Bereichen unterschiedlich sein, aber sie verkörpern ein gemeinsames funktionales Prinzip. Sie garantieren die distale Fokussierung der Wahrnehmung.8 Dieses Prinzip besagt, dass Wahrnehmungsprozesse und -systeme stets so organisiert sind (und, wenn sie ihrer biologischen Funktion gerecht werden wollen, auch sein müssen), dass die Repräsentationen, die sie liefern, auf distale Szenen fokussiert sind und dass sie, um dieses Ziel zu erreichen, die proximalen Prozesse, die ihnen Zugang zu den distalen Szenen vermitteln, ausblenden müssen. Vor diesem Hintergrund verstehen wir, dass die Dämpfung proximaler Eigendynamik dazu dient, die Fokussierung auf distale Fremddynamik zu unterstützen.
7
8
Ein markantes Beispiel aus dem Bereich epistemischer Handlungen ist die sakkadische Suppression – die weitgehende Unterdrückung der Wirkungen der mit sakkadischen Augenbewegungen verbundenen Verschiebungen des Netzhautbildes. Die Bewegungen, mit denen unsere Augen durch die Szene wandern, bleiben für uns unsichtbar; sichtbar ist nur die stabile Szene selbst (vgl. z. B. Leonard Matin: Visual Localization and Eye Movements, in: Kenneth R. Boff/Lloyd Kaufman/James P. Thomas (Hg.): Handbook of Perception and Human Performance: Sensory Processes and Perception, Vol. 1, S. 20.21–20.45). Entsprechende Beobachtungen im Bereich instrumenteller Handlungen werden als sensorische Abschwächungseffekte bezeichnet (sensory attenuation). Solche Abschwächungseffekte sind dann zu beobachten, wenn Beobachter Bewegungen selbst erzeugen (im Vergleich zu Kontrollbedingungen, in denen die gleichen Ereignisse durch andere Quellen/Personen erzeugt werden). Der Abschwächungseffekt besteht dann darin, dass die Intensität des jeweiligen Wahrnehmungseindrucks in der eigendynamischen Bedingung deutlich geringer als in der fremddynamischen Bedingung ist (Sarah-J. Blakemore/Chris D. Frith/Daniel M. Wolpert: Spatio-Temporal Prediction Modulates the Perception of Self-Produced Stimuli, in: Journal of Cognitive Neuroscience 11/5 (1999), S. 551–559; Carmen Weiss/Arvid Herwig/Simone Schütz-Bosbach: The Self in Action Effects: Selective Attenuation of Self-Generated Sounds, in: Cognition 121/2 (2011), S. 207–218). Vgl. Egon Brunswik: Distal Focussing of Perception: Size Constancy in a Representative Sample of Situations [1934], in: Psychological Monographs 56/1 (1944), S. i–49.
113
Fremde Bilder
3. Szenen in Bildern Wenden wir uns jetzt endlich Bildern und Bildszenen zu, um die es ja eigentlich gehen soll. Was geschieht, wenn wir auf ein Bild blicken – so hatten wir eingangs gefragt – und was ist es eigentlich, das die Wahrnehmung dargestellter Szenen in Bildern von der Wahrnehmung echter Szenen im Leben unterscheidet? Nachdem wir uns inzwischen mit den Grundlagen der Wahrnehmung natürlicher Szenen vertraut gemacht haben, können wir diese Fragen jetzt etwas präziser formulieren. Wie ist es, wenn wir auf ein Bild blicken, mit der zyklischen Organisation von Wahrnehmung und Handlung bestellt? Welche Rolle spielen dann unsere Handlungen und wie steht es mit unserer Gestaltungs- und Wahrnehmungsautorenschaft?
Regel und Ausnahme Indem wir so fragen, greifen wir auf die Wahrnehmung natürlicher Szenen als Bezugsfolie für die Wahrnehmung von Bildszenen zurück, und wir fragen, wie sich Szenen in Bildern von Szenen im Leben unterscheiden. Wer aus ontologischer Perspektive auf Bilder blickt und sie gern als Dinge sui generis ansehen möchte, mag einen solchen Vergleich unziemlich und unangemessen finden. Dagegen ist aus der wahrnehmungstheoretischen Perspektive, die wir hier einnehmen, ein solcher Vergleich unumgänglich – aus systematischen und aus historischen Gründen. Die systematischen Gründe ergeben sich aus den relativen Häufigkeiten, mit denen wir es im täglichen Leben mit natürlichen Szenen und Bildszenen zu tun haben. Hier kann kein Zweifel daran bestehen, dass Begegnungen mit Bildszenen seltene Ereignisse sind. Wir verbringen die weitaus meiste Zeit unseres Lebens in Interaktion mit natürlichen Szenen und verwenden nur ein vergleichsweise kleines Zeitbudget auf Bilder – und das, obwohl wir wahrlich in bildmedial gesättigten Zeiten und Verhältnissen leben. Natürlich mögen die Zeitanteile, die wir auf diese beiden Arten von Szenen verwenden, individuell variieren – interessenbedingt, berufsbedingt, angebotsbedingt etc. – aber diese Unterschiede sind nur marginal im Verhältnis zu dem grundlegenden Häufigkeitsvorsprung natürlicher Szenen gegenüber Bildszenen. Wie es scheint, ist der Umgang mit natürlichen Szenen die Regel, von der der Umgang mit Bildszenen die Ausnahme ist. Noch schärfer tritt diese Asymmetrie zutage, wenn wir die Kulturgeschichte des Umgangs mit Bildern mit der Naturgeschichte des Umgangs mit natürlichen Szenen vergleichen. In dieser Betrachtung wird deutlich, dass Begegnungen mit Bildszenen nicht nur Raritäten, sondern auch Novitäten sind – ziemlich neue Ereignisse, die in der Naturgeschichte der Wahrnehmung erst kürzlich auf den Plan getreten sind. Gelegentliche Begegnungen mit Bildszenen kennen unsere Vorfahren seit nicht einmal 50.000 Jahren. Davor lebten sie – über etliche hunderttausend
114
Wolfgang Prinz
Jahre hinweg – in einer Welt, in der es Bilder noch gar nicht gab.9 Ganz andere Größenordnungen gelten dagegen für die Beherrschung des Umgangs mit natürlichen Szenen. Hierfür stand den Vorfahren unserer Vorfahren ein Zeitraum von mehr als 500.000.000 Jahren zur Verfügung. So lange ist es nämlich her, seit die Evolution innerhalb relativ kurzer Zeit ein reiches Spektrum von mobilen vielzelligen Lebewesen hervorbrachte, die mit elementaren Sensoren und Effektoren ausgestattet waren und deren Überlebens- und Reproduktionschancen davon abhingen, wie gut es ihnen gelang, die Fremddynamik der Szenen, von denen sie umgeben waren, von der Eigendynamik ihrer Bewegungen zu trennen.10 Diese naturgeschichtlichen Tatsachen machen deutlich, dass wir, wenn wir über Wahrnehmung von Bildern reden, auch darüber reden müssen, wie Wahrnehmungssysteme, die seit 500 Millionen Jahren für die Trennung von Eigen- und Fremddynamik beim Umgang mit natürlichen Szenen entwickelt und optimiert werden, darauf reagieren, dass sie seit 50 Tausend Jahren – also gerade einmal im letzten Zehntausendstel (!) ihrer bisherigen evolutionären Lebenszeit – auf Szenen in Bildern stoßen, die, wie wir gleich sehen werden, einige der seit Urzeiten gültigen Regeln für den Umgang mit natürlichen Szenen außer Kraft setzen. Dieser gewaltige naturgeschichtliche Vorsprung lässt für die wahrnehmungstheoretische Analyse jedenfalls keine andere Wahl als den Umgang mit natürlichen Szenen als Regelfall und den Umgang mit Bildszenen als Ausnahmefall anzusehen und die Ausnahme mit dem gleichen konzeptuellen Besteck zu untersuchen wie die Regel.
9
10
Das gilt natürlich nur für Bilder in dem engen Sinn, in dem wir sie hier verstehen, nämlich für Strukturen auf flächigem Untergrund, die etwas zeigen oder darstellen, das von ihnen selbst verschieden ist (vgl. Anm. 2). Die Geschichte ästhetischer Artefakte dürfte deutlich älter sein als die Geschichte solcher Bilder. Bilder sind allenfalls Spätprodukte der Naturund Kulturgeschichte dessen, was Bredekamp als bildaktive Gestaltungsformen bezeichnet (Horst Bredekamp: Bildaktive Gestaltungsformen von Tier und Mensch, in: Ausst. Kat. +ultra. Gestaltung schafft Wissen, hg. v. ders./Nikola Doll/Wolfgang Schäffner, Martin Gropius Bau Berlin, Leipzig 2016, S. 17–25). Allerdings zeichnen sich diese Spätprodukte durch zwei Eigenschaften aus, die ihre gesonderte Betrachtung rechtfertigen: die Wahrnehmungsanomalien, die sie auslösen (s. u.) und die rasante kulturelle Karriere, die ihnen (trotz oder wegen dieser Anomalien) seit Beginn der Neuzeit beschieden ist. Gemeint ist damit die sogenannte Cambrian Explosion, d. h. die relativ kurzfristige Entstehung einer Vielzahl von Bauplänen für mobile vielzellige Tiere im Kambrium zu verzeichnen ist (James W. Valentine/David Jablonski/Douglas H. Erwin: Fossils, Molecules and Embryos: New Perspectives on the Cambrian Explosion, in: Development 126/5 (1999), S. 851–859). Die sensorischen und motorischen Fähigkeiten, die diesen Tieren das Überleben sichern, werden in der verhaltensbasierten Robotik auch als Cambrian Intelligence bezeichnet und als Modell für Roboter ohne Repräsentation verwendet (Rodney A. Brooks: Cambrian Intelligence: The Early History of the New AI, Cambridge, MA 1999).
115
Fremde Bilder
Wahrnehmungsanomalien Was unterscheidet Bildszenen von natürlichen Szenen und was geschieht, wenn Wahrnehmungssysteme, die für den Umgang mit natürlichen Szenen im Leben gemacht sind, auf dargestellte Szenen in Bildern treffen? Bilder und Bildszenen haben zwei bemerkenswerte komplementäre Eigenschaften, die – zusammengenommen – dazu führen, dass die Betrachtung von Bildszenen ein grundlegend anderes Muster von Autorenschaft auslöst als die Betrachtung natürlicher Szenen. Bilder sind zum einen dafür gemacht, die konstitutive Rolle von Eigenhandlungen der Beobachterin für die Gestaltung und Wahrnehmung der Szene aufzuheben (oder jedenfalls deutlich einzuschränken). Sie setzen – mit anderen Worten – die Autorenschaft der Beobachterin für die Szene weitgehend außer Kraft. Zugleich sind Bilder – umgekehrt – dafür gemacht, die Rolle fremder Akteure für die Gestaltung und Wahrnehmung von Szenen hervorzuheben, indem sie die Beobachterin mit Produkten fremder Handlungen und ihrer Autoren konfrontieren. Sie schränken also nicht nur ihre eigene Autorenschaft ein (Enteignung), sondern liefern sie zugleich fremder Autorenschaft aus (Verfremdung). Enteignung – Wie wir gesehen haben, hängt das, was wir zu sehen bekommen, wenn wir uns in einer natürlichen Szene befinden, nicht nur von der Beschaffenheit der Szene ab, sondern auch von unseren instrumentellen und epistemischen Handlungen. Wenn wir dagegen auf eine dargestellte Szene in einem Bild blicken, ist alles ganz anders. Bilder schränken unsere Wahrnehmungsautorenschaft massiv ein. Sie enteignen uns, weil sie die Szenen, die in ihnen dargestellt sind, unserem eigenen Einfluss weitgehend entziehen. Bilder setzen nämlich die für natürliche Szenen charakteristischen Handlungs/Wahrnehmungs-Kontingenzen außer Kraft – mit der Folge, dass das, was wir von Bildszenen zu sehen bekommen, kaum noch von unseren Handlungen abhängt. Ganz offensichtlich ist solche Enteignung für den Bereich instrumenteller Handlungen. Wenn wir auf ein Bild blicken, haben wir es mit zwei ineinander verschachtelten Szenen zu tun: der natürlichen Szene (in der wir uns selbst vor einem Bild stehen sehen, das vor uns an der Wand hängt) und der dargestellten Szene (in der wir zum Beispiel auf ein Stillleben mit Früchtekorb blicken). Während wir die natürliche Szene durch unser Handeln jederzeit gezielt verändern können, ist uns eine vergleichbare Veränderung der dargestellten Szene verwehrt. Wir können zwar (in der natürlichen Szene) das Bild abnehmen, umhängen oder zerkratzen, sind aber außer Stande, (in der dargestellten Szene) einzelne Elemente zu verschieben, zu verformen oder zu entfernen. Die instrumentelle Gestaltungsautorenschaft, die unseren Umgang mit natürlichen Szenen ganz selbstverständlich auszeichnet, kommt uns abhanden, wenn wir es mit Bildszenen zu tun haben. Das ist die instrumentelle Seite der Enteignung.
116
Wolfgang Prinz
Weniger offensichtlich, aber nicht weniger bedeutsam, ist die Enteignung, die Bilder und Bildszenen im Bereich epistemischer Handlungen bewirken. Auch für epistemische Handlungen gilt, dass Bilder die für natürliche Szenen charakteristischen Wahrnehmungs-/Handlungs-Kontingenzen außer Kraft setzen. Zum einen lassen Bildszenen uns keine Wahl für die Perspektive, mit der wir auf sie blicken. Die Perspektivierung wurde mit der Herstellung des Bildes vorgenommen, und sie ändert sich auch nicht, wenn wir unseren Standort vor dem Bild verändern. Verändern können wir zwar die Perspektive, mit der wir selbst auf das Bild an der Wand blicken, aber völlig unberührt bleibt davon die bildimmanente Perspektivierung, die zum Beispiel mit dem Blick des Malers auf die dargestellte Szene oder mit dem Standpunkt der Kamera, die diese Szene aufgezeichnet hat, bestimmt wurde. Bildszenen enteignen uns aber nicht nur hinsichtlich der Wahl der Perspektive, mit der wir auf die Szene blicken, sondern auch im Hinblick auf die Wirksamkeit unserer eigenen Handlungen. Zur Illustration mag ein Gedankenexperiment dienen, das Lichtenbergs Kutschen-Szenario betrifft. Nehmen wir an, Lichtenberg hätte aus der fahrenden Kutsche nicht in die Landschaft selbst geblickt, sondern auf ein Bild dieser Landschaft – etwa eine am Wegesrand montierte Plakatwand, die den Landschaftausschnitt zeigt, den sie verdeckt. Dann wäre das optische Flussmuster, das dieses Arrangement auslöst, völlig unabhängig davon, wohin er blickt. Egal, ob er das Gelände oder den Horizont der Plakatlandschaft fixiert – das Flussmuster bliebe unverändert. Es spiegelte dann nichts weiter als die Struktur der natürlichen Szene (= Plakatwand am Wegesrand), aber nicht die Struktur der auf der Plakatwand dargestellten Bildszene (= flaches Gelände mit hügeligem Horizont). Als Zwischenfazit können wir jetzt bereits festhalten, dass sich die Optionen, die wir für den Umgang mit Bildszenen haben, erheblich von den Optionen unterscheiden, die wir für den Umgang mit natürlichen Szenen haben. Bei natürlichen Szenen beeinflussen unsere Bewegungen und Handlungen die Szene selbst und die Information, die uns über sie zur Verfügung steht. Bei dargestellten Szenen in Bildern haben unsere Bewegungen und Handlungen dagegen keinen derartigen Einfluss – weder (im instrumentellen Sinne) auf die Szene selbst, noch (im epistemischen Sinne) auf die verfügbare Information. Bildszenen bleiben unverändert, egal, was wir tun. Indem sie unsere Gestaltungs- und Wahrnehmungsautorenschaft einschränken, enteignen sie uns. Verfremdung – Hinzu kommt, dass Enteignung mit Verfremdung einhergeht, d. h. Schwächung eigener von Stärkung fremder Gestaltungs- und Wahrnehmungsautorenschaft komplementiert wird. Wenn wir auf Szenen in Bildern blicken, sehen wir Produkte von Handlungen und Intentionen fremder Autoren. Wir blicken auf fremde Szenen- und Bildideen, die andere für uns ausgewählt haben, auf fremde Inszenierungen dieser Ideen, die andere für uns arrangiert haben, auf fremde Per-
117
Fremde Bilder
spektiven, mit denen andere auf diese Szenen und Inszenierungen geblickt haben und nicht zuletzt auf fremde Formen und Farben, in denen sie ihren Blick auf Szenen und Inszenierungen dargestellt haben. Nichts von dem, was Bildszenen uns anbieten, hängt von uns selbst ab. Alles, was wir zu sehen bekommen, ist fremd, weil es von anderen abhängt, die in vorgängigen epistemischen und instrumentellen Handlungen die Auswahl der Szene und den Blick auf sie bzw. ihr Arrangement und ihre Darstellung festgelegt haben. Was aber bedeutet es, wenn wir auf Produkte fremder Handlungen blicken? An der Tatsache, dass Bildszenen solche Produkte sind, kann ja kein Zweifel bestehen. Aber was heißt das für das, was wir sehen? Wahrnehmungs-/Handlungs-Zyklen bieten, wie wir gesehen haben, die Grundlage für die Vorausberechnung von Konsequenzen gegebener Handlungen (Vorwärtsmodelle) und die Rückberechnung von Handlungsursachen gegebener Wahrnehmungsinhalte (Inverse Modelle). Inverse Modelle, auf die es für den Blick auf Bilder ankommt, berechnen die Handlungen, die gegebener Wahrnehmung zugrunde liegen, und sie tun dies ohne Rücksicht auf die zugrundeliegende Autorenschaft. Je nach Szenario können diese Berechnungen auf eigene oder fremde Handlungen zurückverweisen, die gegebene Wahrnehmung hervorgebracht haben. Bei natürlichen Szenen geht es, wie wir sahen, in erster Linie um eigene Handlungen, bei Bildszenen dagegen, wie wir jetzt sehen, um Fremdhandlungen. Dennoch gibt es einen entscheidenden Unterschied. Während es für den Berechnungsvorgang selbst gleichgültig sein mag, ob er Wahrnehmungsinhalte auf eigene oder fremde Handlungen zurückführt, sind die Wirkungen in beiden Fällen fundamental verschieden. Während nämlich die Wahrnehmung von Produkten (bekannter) eigener Handlungen den skizzierten Subtraktions- und Dämpfungsprozessen unterliegt, kommen bei Produkten (unbekannter) fremder Handlungen weder Subtraktion noch Dämpfung in Betracht. Das bedeutet, dass wir die Produkte fremder Handlungen, auf die wir in Bildern treffen, stets ungedämpft zu sehen bekommen. Wer Bilder betrachtet, ist fremder Auswahl, fremdem Arrangement, fremder Beobachtung und fremder Darstellung „ungedämpft“ und daher schutzlos ausgeliefert. Das ist der Kern der Verfremdung, die mit der Wahrnehmung von Bildszenen verbunden ist. Die Bilanz, die wir an dieser Stelle ziehen müssen, ist ebenso simpel wie bemerkenswert: Wenn wir die Wahrnehmung von Bildszenen mit der Wahrnehmung natürlicher Szenen vergleichen, finden wir eigene Gestaltungs- und Wahrnehmungsautorenschaft weitgehend durch fremde Autorenschaft abgelöst. Bildszenen konfrontieren uns mit einer doppelten Anomalie: Sie machen uns hilflos, weil sie unsere eigene Autorenschaft einschränken (Enteignung), und sie machen uns schutzlos, weil sie uns fremder Autorenschaft ausliefern (Verfremdung).
118
Wolfgang Prinz
Blick auf Bilder Die Frage, wie diese doppelte Anomalie zustande kommt, ist jetzt leicht zu beantworten. Ihre Quelle ist weder allein in bildimmanenten Eigenschaften zu suchen noch allein in beobachterimmanenten Dispositionen. Ihre Quelle ist vielmehr der Blick, in dem sich beide begegnen – der Akt der Rezeption, in dem beobachterimmanente Dispositionen auf bildimmanente Eigenschaften treffen. Von Bildern, auf die niemand blickt, geht weder Enteignung noch Verfremdung aus, und Beobachter, die nicht auf Bilder blicken, erleiden weder Enteignung noch Verfremdung. Sobald aber eine Beobachterin auf ein Bild blickt, sind Enteignung und Verfremdung für das, was sie zu sehen bekommt, unausweichlich. Wirkungen – Was machen Bilder und Bildszenen mit Beobachtern und Beobachterinnen, die auf sie blicken? Wie wir gesehen haben, schränkt der Blick auf Bilder ihre eigene Gestaltungs- und Wahrnehmungsautorenschaft ein und setzt sie fremder Autorenschaft aus. In diesem Sinne sind Bildszenen stets fremde Szenen, das heißt Szenen, in denen Beobachter nicht zu Hause sind, weil andere sie für sie gemacht haben. Hinzu kommt eine weitere Eigenschaft, die den Blick auf Bildszenen vom Blick auf natürliche Szenen unterscheidet. Bildszenen sind in zweierlei Hinsicht konstante Szenen. Zum einen sind sie intraindividuell konstant: sie ändern sich nicht im Lauf der Zeit. Wer heute auf ein Bild blickt, trifft – cum grano salis – auf die gleiche Szene, die er gestern angetroffen hat. Zum anderen sind sie interindividuell konstant: sie unterscheiden sich nicht für verschiedene Beobachter. Wenn ich auf ein Bild blicke, treffe ich – wiederum cum grano salis – auf die gleiche Szene, die du vorfindest, wenn du darauf blickst.11 Der Blick auf Bildszenen geht also mit Konstanz und Gleichheit innerhalb und zwischen Individuen einher – Eigenschaften, die beim Blick auf natürliche Szenen niemals erreicht werden können (und dort natürlich auch völlig dysfunktional wären). Wenn wir auf ein Bild blicken, blicken wir auf eine Szene, von der wir wissen (oder jedenfalls glauben), dass sie sich seit der Entstehung des Bildes nicht verändert hat und dass wir sie deshalb mit allen Beobachtern und Beobachterinnen teilen, die in der Vergangenheit auf dieses Bild geblickt haben und in Zukunft darauf blicken werden. Deshalb sind konstante Szenen stets auch geteilte Szenen – Szenen, die wir
11
Dass das Angebot der Szene konstant bleibt, heißt natürlich noch lange nicht, dass z. B. Beobachterinnen, die in verschiedenen historischen und kulturellen Kontexten leben, auch das Gleiche sehen.
119
Fremde Bilder
synchron und diachron mit anderen Beobachtern teilen. Nicht zuletzt deshalb können Bilder nicht nur ästhetische, sondern auch politische Wirkungen entfalten.12 Rückwirkungen – Wenn es das ist, was Bilder mit uns machen, bleibt noch die umgekehrte Frage, was wir mit Bildern und Bildszenen machen. Wenn Bilder uns Wahrnehmungserfahrungen vermitteln, die wir mit anderen teilen, liegt es nahe, dass wir soziale Praktiken entwickeln, die den Gebrauch von Bildern regeln, und kommunikative Diskurse in Gang setzen, die den Austausch darüber regeln, was sie zu zeigen und zu bedeuten haben. Solche Praktiken und Diskurse betreffen den ästhetischen, politischen und medialen Bereich.13 Die ästhetische Wirkung von Bildern wird weitgehend durch die Alterität und Fremdheit bestimmt, die von Bildszenen ausgeht. Ästhetische Praktiken des privaten und öffentlichen Bildgebrauchs sind vielfach darauf ausgerichtet, Fremdheitsund Alteritätserfahrungen zu vermitteln und zu kanalisieren. Ähnlich sind ästhetische Diskurse über Produktion und Rezeption von Bildern darauf angelegt, die technischen, künstlerischen, gesellschaftlichen und historischen Grundlagen der Darstellung, Wahrnehmung und Wirkung ihrer Alterität zu erschließen. Politische Praktiken des Bildgebrauchs machen sich in erster Linie die Tatsache zunutze, dass Bildszenen stets geteilte Szenen sind und sich dadurch als Werkzeuge (oder sogar Waffen) in politischen Szenarien anbieten, die an kollektiver Gleichschaltung individuellen Wahrnehmens und Denkens interessiert sind. Nicht weit davon entfernt sind mediale Bildpraktiken und -diskurse, die sich gleichermaßen auf Fremdheit und Geteiltheit von Bildszenen stützen.
12
13
Geteilte Realität und ihre repräsentationalen Grundlagen sind in letzter Zeit zu einem zentralen Forschungsthema der kognitiven Neurowissenschaften avanciert; vgl. z. B. Gerald Echterhoff/E. Tory Higgins/John M. Levine: Shared Reality: Experiencing Commonality with Others’ Inner States about the World, in: Perspectives on Psychological Science 4/5 (2009), S. 496–521, E. Tory Higgins: Shared-Reality Development in Childhood, in: Perspectives on Psychological Science 11/4 (2016), S. 466–495, Sukhvinder S. Obhi/Emily S. Cross (Hg.): Shared Representations: Sensorimotor Foundations of Social Life, Cambridge, UK 2016, Wolfgang Prinz: Open Minds: The Social Making of Agency and Intentionality, Cambridge, MA 2012, Michael Tomasello/Malinda Carpenter/Josep Call u.a.: Understanding and Sharing Intentions: The Origins of Cultural Cognition, in: Behavioral and Brain Sciences 28/5 (2005), S. 675–691. Diese Praktiken und Diskurse können wir hier nur streifen. Ihre Untersuchung fällt natürlich in die Zuständigkeit historisch-hermeneutischer Wissenschaften und geht damit weit über das hinaus, was biologisch und psychologisch grundierte Wahrnehmungstheorie zu erklären vermag.
120
Wolfgang Prinz
4. Produktion und Rezeption Kommen wir zum Schluss noch einmal auf die bildontologischen Fragen zurück, von denen wir ausgegangen sind. Was bedeuten die Wahrnehmungsano malien, die wir identifiziert haben, für den ontologischen Status von Bildern? Welche Eigenschaften von Bildern sind real und immanent und welche ‚nur‘ konstruiert und zugeschrieben? Und wie ist es nicht zuletzt mit der Bildaktivität bestellt? Gibt es sie – und wenn ja, wie sind ihre Wurzeln auf Produktion und Rezeption verteilt? Zunächst müssen wir einige Selbstverständlichkeiten zur Produktion festhalten. Bilder sind Artefakte, das heißt Produkte intentional gesteuerter Handlungen. Das heißt, dass ihre Eigenschaften durch die an ihrer Gestaltung beteiligten Handlungen ihrer Produzenten bestimmt werden, die ihrerseits von deren Lerngeschichte über Handlungs-/Wirkungs-Zusammenhänge bestimmt werden. Bilder haben ihren Ursprung also in einer Entstehungsgeschichte, die aus intentionalen Handlungen besteht. Diese Entstehungsgeschichte stattet sie mit historischen Eigenschaften aus, die ihnen unveräußerlich innewohnen – genauso unveräußerlich wie zum Beispiel ihre Größe oder ihre Farben und Linien. Diese historischen Eigen schaften sind selbst nicht rezeptionsabhängig. Bilder verkörpern die Geschichte ihrer Produktion auch dann, wenn es niemanden gibt, der sie im Blick auf das Bild erkennt. Wenn das so ist – welche Rolle spielt dann die Rezeption? Diese historischen Eigenschaften mögen latent im Bild vorhanden sein, aber sie bleiben wirkungslos, solange niemand auf das Bild blickt und sie aus der Latenz holt. Sie sind Dispositionseigenschaften im klassischen Sinne – nicht anders als die Wasserlöslichkeit von Zucker, die jedem Zuckerstück immanent ist, aber latent bleibt, solange es nicht mit Wasser in Berührung kommt. Indem Rezipienten auf Bilder als Produkte fremder Handlungen blicken, aktualisieren sie das in ihnen angelegte Potenzial historischer Eigenschaften. Welche Handlungen und Intentionen Rezipienten dabei sehen und sehen können, hängt allerdings von deren Lerngeschichte über Wirkungs-/Handlungszusammenhänge ab. Rezipienten können natürlich nur sehen, was ihre eigene Lerngeschichte ihnen zu sehen erlaubt. Ob und wieweit sie dabei etwas sehen können, was Produzenten intendiert haben, hängt dann von der Überlappung der Lerngeschichten von Produzenten und Rezipienten ab. Nimmt man beides zusammen, sieht man, dass Bildern ein in ihrer Produktion verankertes Aktivitätspotenzial immanent ist, das aber latent bleibt, solange es nicht durch Rezeption aktualisiert wird. Real und den Bildern immanent ist nicht ihre Aktivität, sondern ihr Potenzial zur Induzierung von Aktivität in Akten der Rezeption. Bilder haben historische Eigenschaften, aber sie sind nicht selbst aktiv.
121
Fremde Bilder
Bildaktivität entsteht im Akt der Rezeption – immer dann, wenn der Blick eines Beobachters das im Bild angelegte Potenzial aktualisiert.14 Was also sind Bilder? Die Antwort verbindet – in scheinbar paradoxer Weise – Realismus mit Konstruktivismus. Einerseits sind Bilder reale Produkte intentionaler Handlungen und verfügen deshalb über latente reale Eigenschaften, die nicht rezeptionsabhängig sind. Andererseits können diese Eigenschaften aber nur in Akten konstruktiver Rezeption aus der Latenz geholt werden. Der konstruktivistische Realismus, der diese beiden Wahrheiten verbindet, stattet Bilder mit realen Eigenschaften aus, denen Rezeption sich – je nach Kompetenz und Neigung – ausliefern oder verweigern kann.
14
Zu ähnlichen Schlussfolgerungen führen bereits Bredekamps Überlegungen zur bildaktiven Latenz (Horst Bredekamp: Die Latenz des Objekts als Modus des Bildakts, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Florian Klinger (Hg.): Latenz: Blinde Passagiere in den Geisteswissenschaften, Göttingen 2011, S. 277–284).
Horst Bredekamp
Die Prägnanz der Form Hans Leinbergers Berliner Muttergottes als Philosophem
1. Leinbergers Bronzeskulptur und das Problem der Prägnanz Eines der eindrucksvollsten Bildwerke des Bode-Museums stellt eine Bronzefigur dar, die in der Frankfurter Ausstellung Fantastische Welten. Albrecht Altdorfer und das Expressive in der Kunst um 1500 als ein skulpturales Motto gastiert hat (Bild 1).1 Im Katalog ist Albrecht Altdorfer als „Anarchist“ des Stils um 1500 bezeichnet worden, doch dies gilt mit Blick auf seine radikale Eigenwilligkeit umso mehr für den Schöpfer dieser Bronzefigur, den Landshuter Bildhauer Hans Leinberger.2 Sie wurde im Rathaus von Moosburg an der Isar aufgestellt,3 stand aber ursprünglich vermutlich im Zusammenhang des Auftrages von Kaiser Maximilian, Bronzestatuen für sein Grabmal in Innsbruck herzustellen. Hierfür spricht bereits ihre beträchtliche Höhe von fast einem halben Meter. Alle bedeutenden Bildhauer dieser Zeit, so auch Veit Stoß und Leinberger, waren an diesem gewaltigen Vorhaben beteiligt. Schon bei der ersten Näherung hat diese Figur etwas Verstörendes: eine wilde Bronzemasse, breit angelegt, aber auch tief durchschluchtet, mit klarer Konturlinie und zugleich fingernd ausgreifend. In der verwirrenden Komplexität ihrer Form-
1 2 3
Ausst.-Kat.: Fantastische Welten: Albrecht Altdorfer und das Expressive in der Kunst um 1500, hg. v. Stefan Roller/Jochen Sander, Frankfurt/M./München 2014, S. 226f. Guido Messling: Anarchist und Apelles? Altdorfer und der deutsche Humanismus, in: Ausst.Kat.: Fantastische Welten (wie Anm. 1), S. 20−25. Dagmar Plugge: Lebenslebendigkeit und Abstraktion − Die Berliner Bronzemadonna Hans Leinbergers und die Frankfurter Figur, in: Herbert Beck/Hartmut Krohm (Hg.): Ansichts Sache. Das Bodemuseum Berlin im Liebieghaus Frankfurt. Europäische Bildhauerkunst von 800 bis 1800, Frankfurt/M. 2002, S. 143−151.
124
Horst Bredekamp
struktur wirkt sie wie eine Bestätigung von John Deweys mottohafter Aufforderung zum „Rückgang ins Unbestimmte“.4 Unbestimmtheit bedeutet für Dewey nicht ein Mangel an Präzision, sondern eine Überfülle von Aspekten, die mit- und ineinander wirken können. Im Sinne Deweys steht der Begriff des Unbestimmten in der Tradition jener „Prägnanz“, die Alexander Gottlieb Baumgarten nicht von Eineindeutigkeit sprechen ließ, sondern von Fülle: „PERCEPTIONES plures in se continentes PRAEGNANTES“. Es ist die Bedeutung der „Prägnanz“ als „Schwangerschaft“, wie sie im „pregnant“ des Englischen noch bewahrt ist. Das „Unbestimmte“ und das „Prägnante“ sind in diesem Sinn Komplementärbegriffe eines überbordenden Mehr an Bedeutungen: „VORSTELLUNGEN, die mehrere in sich enthalten, heißen ÜBERBORDENDE VORSTELLUNGEN. Also sind überbordende Vorstellungen stärker.“5 Von hier zieht sich eine Linie bis zu Ernst Cassirers Formel der „symbolischen Prägnanz“, der zufolge Gegenstände als sinnvolle Einheiten zu bezeichnen sind.6 Mit dem „Faktor Widerstand“ hat Dewey ein für die Form des Werkes wesentliches Element dieser Art der „Prägnanz“ eingeführt. Ein solches, an Lukrez’ clinamen erinnerndes Moment der intrinsisch wirkenden Renitenz und der Störung „verdient an dieser Stelle besondere Beachtung. Ohne innere Spannung gäbe es ein ungegliedertes Dahinströmen zu einem blindlings gesetzten Ziel“.7 Der Widerstand erzeugt Dewey zufolge eine Form, die den Rhythmus des Wechselspiels mit dem Betrachter anstößt. Kaum ein Kunstwerk birgt diesen Gehalt so, um im Sprachbild zu bleiben, „prägnant“ wie Leinbergers Berliner Figur. Ich werde versuchen, Aspekte dieser Prägnanz einer in sich spannungsvollen Unbestimmheit mit Blick auf diese Figur zu isolieren und begriffliche Schlüsse zu ziehen. Es ist dieser Zugang, den John Michael Krois als Aufgabe einer philosophischen Ikonologie gestellt hat. Hierzu gehört ihm 4 5
6
7
John Dewey: Kunst als Erfahrung, Frankfurt/M. 1988, S. 225. „PERCEPTIONES plures in se continentes PRAEGNANTES vocantur. Ergo perceptiones praegnantes fortiores sunt. Hinc ideae habent magnum robur“ (Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica. Metaphysik. Historisch-kritische Ausgabe, übers. u. hg. v. Günter Gawlik/ Lothar Kreimendahl, Stuttgart-Bad Cannstadt 2011, Par. 517, S. 274). Im Gegensatz zur Übersetzung (S. 275) habe ich PRAEGNANTES nicht mit dem viel zu schwachen VIELSAGENDE, sondern mit ÜBERBORDENDE übersetzt. Vgl. hierzu und zum Folgenden: Horst Bredekamp: Vorwort zur Neufassung, in: Der Bildakt, Berlin 2015, S. 9−19. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. III: Phänomenologie der Erkenntnis, Darmstadt 1954, S. 274. Vgl. John Michael Krois: Problematik, Eigenart und Aktualität der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen, in: Hans-Jürg Braun/Helmut Holzhey/ Ernst Wolfgang Orth (Hg.): Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt/M.1988, S. 15−44, insbes. S. 18−26. Dewey: Kunst als Erfahrung (wie Anm. 4), S. 160. Zu Lukrez clinamen vgl. Horst Bredekamp: Herrenhausen, Versailles und die Philosophie der Blätter, Berlin 2012, S. 88−91.
125
Die Prägnanz der Form
Bild 1 Hans Leinberger: Lukas Madonna, um 1515−20, Bronze (Hohlguss), 45,5 × 21 × 17,5 cm, Berlin, Bode-Museum.
126
Horst Bredekamp
zufolge unabdingbar, Philosopheme nicht zu applizieren, sondern aus der Form selbst und ihrem Wechselspiel mit dem Betrachter die sprachlichen Begriffe entstehen zu lassen.8
2. Die Form und das Movens In der quirligen Bronzemasse von Leinbergers Guss ist der Kopf einer Frau zu erkennen, und bei näherer Betrachtung schält sich auch das von ihr gehaltene Kind heraus, womit sich die Figur als Maria mit dem Gottessohn erweist. Sie ist mit der paenula bekleidet, jenem Mantel, der auf byzantinische Zeit zurückgeht und daher als altehrwürdiges Motiv der Erscheinung Mariae selbst angesehen wurde. Damit bezieht sich der Bildhauer auf jene Legende, derzufolge die Muttergottes dem Evangelisten Lukas erschienen ist, um sich selbst als authentische Bildvorlage zu zeigen.9 Aufgestellt auf einem trommelförmigen Sockel, wirbelt ihr mächtiger Mantelsaum nach oben, sodass offen bleibt, ob sie vom Himmel herabgeschwebt oder in die Luft erhoben ist. Eine mächtige Falte geht vom linken Fuß zum rechten Arm, und im Gegenschwung ziehen drei Schlüsselfalten zur linken Hand, über der das Christuskind mit seiner Linken zum Kopf der Mutter greift. Über dem linken Oberarm trägt es einen nach hinten ausbuchtenden Rosenkranz. So flächig sich diese Figur in der Frontalsicht darbietet, so voluminös entfaltet sie beim Umschreiten ihre tiefe Räumlichkeit. Aus halbrechter Sicht zeichnen sich die Y-Falten wie Wülste unter der Oberfläche des Gewandes ab (Bild 2). Massiv kommt neben dem Schwung der diagonal verlaufenden Bahn das linke Knie aus der Überkleidung. Ebenso entfaltet der Gewandsaum eine stärkere Materialität. Er schneidet in seiner Grobform straff vom linken Arm bis zum Sockel, um über dem linken Fuß wie von einem inneren Strudel erfasst zu werden und in sich gedreht eine Eigenbewegung zu vollziehen. Auch der Schwung der weiten Schlaufenöffnung auf Hüfthöhe zeugt von diesen Bewegungen, die von den Energien ihrer Umgebung keinesfalls vorbereitet sind. Wie durch Zauberei schnürt sich die Figur in der Seitensicht im Gegenzug zusammen, als wäre sie in einer unsichtbaren Röhre verfangen (Bild 3). Allerdings schnellen die beiden Schüsselfalten nach vorn, und vor allem das linke Knie und das nach hinten stehende Gewand der paenula markieren die massive Kraft des Standmotivs, das dem Schwingen, das sich aus der Vordersicht ergeben hatte, widerspricht.
8 9
Siehe den aus dem Nachlass edierten Text John Michael Krois: Philosophy and Iconology im vorliegenden Band. Gisela Kraut: Lukas malt die Madonna: Zeugnisse zum künstlerischen Selbstverständnis in der Malerei, Worms 1986.
127
Die Prägnanz der Form
Bild 2 Lukas Madonna, von halbrechts.
Bild 3 Lukas Madonna, von rechts.
Die Rückenansicht zeigt einen erneut gewandelten Charakter (Bild 4). Das Gewand fällt hier von der Kapuze her in homogenen, weich fließenden Falten. Sie bündeln sich unter dem rechten Arm, um von diesem Punkt im Gegenzug durch eine Röhrenfalte zum linken Fuß der Figur zurückzuspringen. Angesichts der Fülle der Vorderseite tut sich hier eine geradezu grotesk leere Fläche auf, die den Kontrast zu den seitlich sich aufbauschenden Saumfalten besonders stark hervortreten lässt. Der Blick auf die linke Seite lässt die Dynamik der gewaltigen Röhren, die vom rechten Arm ausgehen, nicht minder deutlich sichtbar werden (Bild 5). Ihr Zug wird durch das Sförmige Schwingen und Strudeln des Mantelsaumes konterkariert. Wie abschließend auch der Blick von halblinks bezeugt (Bild 6), bietet jede Perspektive eine scheinbar andere Figur. Die Berliner Bronze verlangt vom Betrachter ein Umschreiten, um ihre Prägnanz erfassen zu können. In der Virtuosität ihres Wechsels von
128
Horst Bredekamp
Bild 4 Lukas Madonna, von hinten.
129
Die Prägnanz der Form
Bild 5 Lukas Madonna, von links.
Bild 6 Lukas Madonna, von halblinks.
Flächen der Komplexität zu tiefen Raumbildungen entfaltet diese Figur das Potenzial ihres Theaters multiperspektivischer Bedeutungen. Angesichts ihrer jeweils unterschiedlichen Bedeutungen ist sie unbestimmt, aber nicht im Sinne von Unschär fe, sondern von Fülle, wie sie Baumgarten definiert hat. In der solcherart erzwungenen Eigenbewegung des Betrachters realisiert sie jenen „dynamischen Charakter“, den John Michael Krois als körperschematische Grundbedingung aller Apperzeption von Kunst definiert hat.10
10
John Michael Krois: Bildkörper und Körperschema: Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, hg. v. Horst Bredekamp/Marion Lauschke, Berlin 2011 (Actus et Imago 2), S. 71.
130
Horst Bredekamp
Bild 7 Der Meister der Schönen Madonnen: Madonna aus Krumau, um 1390−1400, Kalksandstein, Reste von Bemalung und Vergoldung, 112 × 45 × 34 cm, Wien, Kunsthistorisches Museum. Bild 8 Krumauer Madonna, von halblinks.
131
Die Prägnanz der Form
3. Die spätgotische Skulptur zwischen Pathos und Ikonoklasmus Dieser Vorgang ist das Ergebnis einer mehr als hundert Jahre währenden Reflexion des Rechts auf Form in der Form selbst. Was sich in Leinbergers Figur abspielt, wird im Vergleich mit den hundert Jahre zuvor geschaffenen „Schönen Madonnen“ deutlich (Bild 7). In der Vorderansicht eines der Hauptwerke dieses Typus, der im Wiener Kunsthistorischen Museum bewahrten „Schönen Madonna aus Krumau“,11 breitet sich eine mächtige Draperie aus, die den Leib der Muttergottes weitgehend zum Verschwinden bringt. Wie eine Erinnerung daran, dass sich unter den mächtigen Schüsselfalten noch ein Körper befindet, drückt sich das rechte Knie Marias in Andeutung durch den Stoff, und links unten taucht ihre rechte Fußspitze in der Mitte eines trichterförmigen Faltenwurfes auf. Am Standmotiv zeigt sich, dass mehr als nur eine Verhüllung des irdischen Körpers gemeint ist. Da das vorgestellte Knie das Spielbein erkennen lässt, müsste der Oberkörper über dem linken Standbein, wo zudem das Gewicht des Christuskindes aufliegt, stabilisiert werden. Stattdessen aber beugt sich Maria schräg nach links noch hinter das Spielbein, sodass unklar bleibt, auf welche Weise sie sich halten kann. In der Seitensicht wird diese Instabilität verstärkt, da das breit entwickelte, mächtige Gewand nun schalenartig verschmälert wird, um eine von der Stirn der Muttergottes über ihre rechte Schulter und ihre linke Hüfte bis zum vorderen Gewandauslauf reichende S-Linie zu verfolgen (Bild 8). Aus dieser Sicht wird vollends unerklärlich, warum diese Figur nicht umstürzt. Das Spiel mit der Schwerkraft demon striert, dass sie nicht allein von dieser Welt ist. Bei aller Schwere ihrer Stofflichkeit wirkt sie gewichtslos und ephemer wie eine Erscheinung. Ihr gelingt es in einer kaum jemals zuvor erreichten Weise, Sinnlichkeit und Immaterialität zu verbinden.12 Umso eindrucksvoller es Gestalten wie der Krumauer Muttergottes gelang, das Stoffliche mit dem Übersinnlichen zu verschränken, umso stärker wurde jedoch die Bildkritik. Die von der Verquickung von Geist und Formschönheit abgestoßenen radikalen Kritiker um Jan Hus sahen in ihr vor allem eine gleisnerische Sinnlichkeit und eine nicht minder verdorbene Farbe, welche die verweltlichte Kirche als ihr
11
12
Herbert Beck/Horst Bredekamp: Die internationale Kunst um 1400, in: Ausst.-Kat.: Kunst um 1400 am Mittelrhein: Ein Teil der Wirklichkeit, hg. v. Herbert Beck/Wolfgang Beh/Horst Bredekamp, Liebighaus Frankfurt, Frankfurt/M. 1975, S. 1−29, insbes. S. 1–10; Jiri Fajt: Krumauer Madonna, in: ders. (Hg.): Karl IV. Kaiser von Gottes Gnaden: Kunst und Repräsentation des Hauses Luxemburg, Berlin 2006, S. 550−553. Otto Pächt: Die historische Aufgabe von 1400, in: ders.: Methodisches zur kunsthistorischen Praxis: Ausgewählte Schriften, hg. v. Jörg Oberhaidacher/Artur Rosenhauer/Gertraut Schikola, München 1995, S. 64−106.
132
Horst Bredekamp
gefügiges Instrument benutzt hatte.13 Die Folge war der Bildersturm der radikalisierten Anhänger des Hus. Durch Abschlagen der Gesichter und Gliedmaßen, wie bei einer Muttergottes aus Kamenny (Bild 9), wurde die Materie zur ewigen Schande ihrer selbst freigelegt. Stärker noch als durch eine vollständige Zerstörung der Figuren offenbarte sich für die Ikonoklasten in den Schlagflächen der Irrglaube, dass in der Materie das Heil gebunden werden könne.14
Bild 9 Muttergottes von Kamenný Újezd, um 1420, Lindenholz, 129 cm, Frauenberg, Alšova jihoˇceská galerie.
Die Verquickung von Stofflichkeit und Abstraktion war den kirchenkritischen Zeitgenossen unerträglich geworden, aber der vorreformatorische Ikonoklasmus war nicht die einzige Alternative. Vielmehr ereignete sich neben dem Bildersturm eine Reform als innere Revision der Gestaltung. Sie äußerte sich in der Kritik der weichen Stofflichkeit. Die vollendet gerundeten, tiefe Raumgebilde erzeugenden
13 14
Victor Svec: Bildagitation: Antipäpstliche Bildpolemik der böhmischen Reformation im Göttinger Hussitenkodex, Weimar 1994. Jan Royt: Kirchenreform und Hussiten, in: Fajt (Hg.): Karl IV. Kaiser von Gottes Gnaden (wie Anm. 11), S. 555−561, S. 560. Vgl. Horst Bredekamp: Kunst als Medium sozialer Konflikte: Bilderkämpfe von der Spätantike bis zur Hussitenrevolution, Frankfurt/M. 1975, S. 242−303.
133
Die Prägnanz der Form
Bild 10 Nikolaus Gerhaerdt von Leyden (zugeschr.): Muttergottes, um 1465, Lindenholz, 56,5 × 22,3 × 18,5 cm, Berlin, Bode-Museum.
und fordernden Draperiegebirge der Jahrzehnte um 1400 wurden zerknittert, isoliert und autonomisiert, und sie traten gegenüber den Körpern in ein kompliziertes Verhältnis, das den Einheitsleib von Körper und Gewand, wie ihn die Schönen Madonnen vorgeführt hatten, auflöste. Diesen Vorgang verdeutlicht eine um 1465 geschaffene, Nikolaus Gerhaerdt von Leyden zugeschriebene Holzfigur des Bode-Museums besonders eindrucksvoll (Bild 10).15 Ihr Kind ist verloren gegangen, wodurch die Zackenformen ihrer Draperie 15
Hartmut Krohm (Hg.): Werke altdeutscher Bildhauerkunst in der Berliner Skulpturensammlung, Gerchsheim 2006, S. 42−65; Kat.: Skulpturensammlung im Bode-Museum (Prestel Museumsführer), hg. v. Janet Kempf, München 2006, Nr. 20, S. 26f.
134
Horst Bredekamp
Bild 11 Muttergottes, von links.
Bild 12 Muttergottes, von rechts.
über dem Bauch umso deutlicher werden. Aus der Seitensicht von links knittert das Gewand scharfkantig auf (Bild 11), sodass zwischen dem feinen Gesicht und den schweren Haarlocken ein Kontrast entsteht, der allein durch die Silhouette gebunden wird. Aus der gegenüberliegenden Perspektive tut sich unter dem linken Arm eine tiefe Durchschluchtung auf (Bild 12), und der weite, nach vorn sich aufblähende Überhang wirkt im Gegenzug wie ein mit Wasser gefüllter Behälter. Körper und Stoff, die sich bei der Schönen Madonna verbunden hatten, treten nun blitzartig als miteinander agierende Gegenpole auf.
135
Die Prägnanz der Form
Bild 13 Nikolaus Gerhaerdt von Leyden: Muttergottes aus Dangolsheim (Straßburg), um 1460–65, Nussbaumholz mit Resten der ursprünglichen Fassung, 102 × 37 × 33 cm, Berlin, Bode-Museum, von halbrechts. Bild 14 Muttergottes aus Dangolsheim, von vorn.
Die zweite im Bode-Museum befindliche Figur Nikolaus Gerhaerdts zeigt dieses Prinzip in nochmaliger Steigerung (Bild 13).16 Bei dieser um 1465 geschaffenen Muttergottes von Dangolsheim ist die Hüfte stärker nach oben gedrückt, und der Oberkörper knickt weit nach hinten, sodass sich unter dem linken Arm eine tiefe, 16
Krohm (Hg.): Werke altdeutscher Bildhauerkunst (wie Anm. 15), S. 36−41; Kat.: Skulpturensammlung im Bode-Museum (wie Anm. 15), Nr. 21, S. 27f.
136
Horst Bredekamp
nach außen durch einen schneidend dünnen Gewandsaum gerahmte Schlucht öffnet. Sprachlich kann nur schwer eingefangen werden, was sich hier vollzieht (Bild 14). Diese Figur ist konsequent aus Gegensätzen aufgebaut, um ihre einzigartige Qualität aus der Harmonisierung dieser Widersprüche zu gewinnen. Die exaltierte Trennung von Mutter und Kind macht aus dem Umhang bereits ein Leichentuch.17 Hans Leinberger hat diese inneren Widersprüche nochmals in eine interne Knitterform weitergetrieben. Seine aufgewühlten, teils gepressten und gestauchten Gewänder, die eine wie dämonisch sich entfaltete Leibdynamik umschreiben, überführten den Typus der „Schönen Madonna“ im Moosburger Altar (1511/14) in ein übersteigertes Pathos (Bild 15). Im Schrein erscheint Maria inschriftlich als Theotokos, „Gottesgebärerin“. Angetan auch hier mit der apostolischen paenula, schwebt sie vom Himmel als leibhaftige Erscheinung des wahren Bildes, das Lukas angeblich von der Madonna gemalt hat. Das Kultbild versucht seine abbildhafte Eigenschaft zu negieren und authentische Merkmale ihrer wahrhaftigen Erscheinung zu reali sieren. Welche Kräfte hier gegeneinander arbeiten, zeigt das Gewand ihres Unterkörpers, das von splitternden, ziehenden, sich wölbenden, kreisenden und sich aufbauschenden Stoffbewegungen erfasst wird (Bild 16). In diesen Spannungen wird evident, dass der Bildhauer an nichts so sehr gearbeitet hat wie an der Aufhebung besonders kontrastreicher Gegensätze.18 Die Faltengebung ist von einer derart surrealen Konkretheit, dass sie die Selbstzerstörung in sich zu bergen scheint. Diese ultimative Anstrengung, die Skulptur am Vorabend des reformatorischen Bildersturms zu retten,
17
18
Um 1500 überbot der Nürnberger Bildhauer Veit Stoß diesen Amoklauf gegen den Einheitsleib der Schönen Madonna nochmals. Er schuf Werke wie die Krakauer Grabplatte König Kasimirs IV., deren Wechselspiel von abstrahiertem Gewandschwung und knittriger Faltenbildung den Eindruck erweckt, als würden zwei verschiedene Sphären unter höchstmöglicher Wahrung ihres Kontrastes miteinander verbunden werden. Hierzu: Zdzislaw Kepinski: Veit Stoß, Warschau/Dresden 1981; Jörg Rasmussen: „...far stupire il mondo“. Zur Verbreitung der Kunst des Veit Stoß, in: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg/Zentralinstitut für Kunstgeschichte München (Hg.): Veit Stoß: Die Vorträge des Nürnberger Symposions, München 1985, S. 107−122; Claudia F. Albrecht: Stilkritische Studien zum mittleren Werk des Veit Stoß, unter besonderer Berücksichtigung der Volckamer-Stiftung, Würzburg 1997; Horst Bredekamp: Der Künstler als Verbrecher: Ein Element der frühmodernen Rechts- und Staatstheorie, München 2008, S. 23f. Dies gilt besonders für Veit Stoß‘ Heiligenfiguren, wie es der Nürnberger Hl. Andreas vorführt. Vgl. Michael Baxandall: The Limewood Sculptors of Renaissance Germany, New Haven/London 1981, S. 200−202. Er selbst ist in statuarisch konzentrierter Reflexion versenkt, wohingegen sich unterhalb des Buches das Gewand in Eigenbewegung aufbauscht. Bernhard Decker: Das Ende des mittelalterlichen Kultbildes und die Plastik Hans Leinbergers, Bamberg 1985, S. 241−290.
137
Die Prägnanz der Form
Bild 15 Hans Leinberger: Muttergottes im Altarschrein von St. Kastulus, 1514, Lindenholz, Höhe der Muttergottes ca. 212 cm, Moosburg. Bild 16 Unterkörper der Muttergottes von Moosburg.
nimmt die eigene Negation in sich auf. Ihr ist eine autoikonoklastische Tendenz zueigen, die sich noch im Gelingen selbst infrage stellt.19 Sie präsentiert die Unmöglichkeit ihrer Ausführung.
19
Ebd., passim. In ähnlicher Argumentation mit Blick auf Tilman Riemenschneider: Jörg Rosenfeld: Die nichtpolychromierte Retabelskulptur als bildreformerisches Phänomen im ausgehenden Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit, in: Hartmut Krohm/Eike Oellermann (Hg.): Flügelaltäre des späten Mittelalters, Berlin 1992, S. 65−83.
138
Horst Bredekamp
In dieser Formtradition steht auch Leinbergers Berliner Bronzefigur (Bild 1). Eingebunden in die Reform des um 1400 geschaffenen Typus der Schönen Madonna, will sie gleichsam nicht sie selbst sein; sie versteckt sich in ihren Extremen. Ihr dynamischer Charakter ringt mit der Existenzberechtigung ihrer selbst, und darin ist sie bestimmt und unbestimmt, Rückgang und Exaltation zugleich.
4. Die Schadstellen von Hans Leinbergers Marienfigur Dass in dieser Bestimmung keine Fiktion liegt, bezeugt die Funktion dieser Figur als Modell. Leinbergers Bronzemadonna stellt eines der ersten Beispiele dafür dar, dass Modelle in ihrem eigenen Rang geschätzt und gehütet wurden.20 Auch dies ist ein Element ihrer überragenden Bedeutung. Ihr Modellcharakter erweist sich darin, dass sie unfertig, misslungen und unbestimmt aus dem Brennvorgang hervorgegangen ist. Ihre Oberfläche ist wüst,
Bild 17 Hans Leinberger: Lukas Madonna, linkes Bein. 20
Bild 18 Lukas Madonna, Fußpartie von links.
Zu dieser Entwicklung mit Blick auf Italien: Irving Lavin: Visible Spirit: The Art of Gianlorenzo Bernini, Bd. 1, London 2007, S. 33−61.
139
Die Prägnanz der Form
Bild 19 Hans Leinberger: Lukas Madonna, Oberkörper.
Bild 20 Lukas Madonna, Brust.
indem sie, wie auf dem linken Oberschenkel, Spuren von Blasen und Fehlstellen aufweist (Bild 17). Der Saum des weit schwingenden Mantels lässt gar an eine „Krokodilshaut“ denken.21 Auf der gegenüberliegenden Seite zeigt sich, wie die hoch sprudelnden Gewandformen im Innenbereich von nicht minder poröser Oberflächenstruktur gebildet sind (Bild 18). Auf der Rückseite erscheint ebenfalls eine hohe 21
So die Charakterisierung durch Wilhelm Pinder: Die deutsche Plastik vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende der Renaissance, Bd. 2, Potsdam 1924, S. 463.
140
Horst Bredekamp
und zugleich in sich differenziert aufgerissene Oberfläche (Bild 4). Wie ein provokantes Zeichen sitzt inmitten des geschwungenen Dreiecks der Faltenstege eine klaffende Fehlstelle. Auch die rechte Wange Marias ist porös (Bild 19), und über der rechten Hand reißt ebenfalls ein Loch auf (Bild 20). Weitere Fehlstellen tun sich über dem linken Knie der Christusfigur auf. Die gesamte Oberfläche ist von unbereinigter Rauheit, um an keiner Stelle die Illusionen zu erzeugen, dass mit dieser Bronzefigur ein anderer Charakter verbunden worden sei als der, ein Modell für eine noch auszuführende Figur darzustellen, die somit eine Momentaufnahme eines Formprozesses abbildet. Das breit angelegte Antlitz der Maria, die starke und zugleich schiefe Unterlippe sowie das nach außen abfallende, linke Auge bezeugen den Mut zu einer Disharmonie, die der konfessionslosen Sprödigkeit der Oberfläche zu entsprechen scheint (Bild 19). Diese Muttergottesfigur bietet keine Vollendung, sie ist fehlerhaft, und sie konterkariert die Illusionen, in der Materie die himmlische Erscheinung der Lukas-Madonna wirksam werden zu lassen. Als wäre sie von einem Bilderstürmer geschaffen worden, legt sie die Rohheit der Materie frei. Sie durchlöchert im wahrsten Sinn des Wortes alle Wünsche nach Idealität und Harmonie. Die Etappen der Formkritik an den Schönen Madonnen, wie sie als Typus um 1400 ausgebildet waren, münden in die zerstörte Oberfläche von Leinbergers Modellbronze, als sollten sowohl die formimmanente Kritik wie auch Elemente des Bildersturms verbunden werden (Bild 21 und 22). Sie zeigt solcherart auf allen Ebenen schier unendliche Möglichkeitsformen. Durch den historischen Glücksfall, dass ein missratener Entwurf als vollgültiges Werk erachtet und bewahrt wurde, ereignet sich an dieser Figur eine Form, die in ihrem Wechsel vom Nicht-Mehr der Fehlstellen und dem Porösen des Noch-Nicht das Gelingen ihres Modellcharakters ausweist. In ihrem unfertigen Charakter verneint diese Modellfigur die Tendenz von Modellen, sich an die Stelle dessen zu setzen, was sie zu modellieren haben.22 Die Berliner Bronze ist vielmehr darin das Modell aller Modelle, dass ihr Misslingen nicht vergessen lässt, dass sie als Modell-
22
Horst Bredekamp: Modelle der Kunst und der Evolution, in: Präsident der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Hg.): Modelle des Denkens. Streitgespräch in der Wissenschaftlichen Sitzung der Versammlung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am 12. Dezember 2003: Debatte, Heft 2, Berlin 2005, S. 13−20. Vgl. Samuel Strehle: Evidenz und Beherrschungsmacht: Bildwissenschaftliche und soziologische Zugänge zur Modellfunktion von Bildern, in: Ingeborg Reichle/Steffen Siegel/Achim Spelten (Hg.): Visuelle Modelle, München 2008, S. 57−70, S. 66−68, und, im selben Band, am Beispiel des Modells der Doppelhelix: Reinhard Wendler: Das Spiel mit Modellen. Eine methodische Verwandtschaft künstlerischer Werk- und molekularbiologischer Erkenntnisprozesse, S. 101−116, S. 105−107.
141
Die Prägnanz der Form
Bild 21 Der Meister der Schönen Madonnen: Krumauer Madonna.
Bild 22 Hans Leinberger: Lukas Madonna.
figur gedacht war. Gerade darin, dass sie ihre Funktion niemals hat realisieren können, wird sie zur autonomen Skulptur. Als Figur, die in ihrer inneren Spannung den Betrachter zur körperschematischen Umkreisung treibt und darin unablässig neue Bedeutungsschichten öffnet, wirkt Leinbergers Bronze in ihrer höchsten Bestimmung wie eine Inkarnation jener Firstness, die Charles Sanders Peirce in der selbstbezogenen, ersten Bedeutung des Werks erkannte.23 Es ist referenzlos unbestimmt. Der Sinn dieser Modellfigur liegt nicht darin, zu verweisen, sondern in sich selbst unbestimmt zu sein: im Sinn einer Prägnanz der Fülle. 23
Charles Sanders Peirce: Collected Papers, Bd. 1, hg. v. Charles Hartshorne/Paul Weiss, Cambridge, MA, 1931−1935, S. 356. Der Begriff der „Firstness“ ist eine von drei Formen seiner Kategorienlehre, die Erscheinungen des Seins beschreiben.
Claudia Blümle
Rhythmus im Bildraum John Dewey, Henri Maldiney und Gilles Deleuze
1. In seiner Vorlesung Kunst als Erfahrung aus dem Jahr 1931, die 1934 publiziert wurde, begründet John Dewey den zentralen Stellenwert des Rhythmus in der Kunst wie folgt: „Weil Rhythmus ein allgemeingültiges Daseinsschema darstellt, das einer jeglichen Verwirklichung von Ordnung innerhalb des Wandels zugrunde liegt, durchzieht er sämtliche Gattungen der Kunst.“1 Das allgemeingültige Daseinsschema, auf das sich Dewey bezieht, besteht in dem Zwist, der sich aus der artifiziellen Trennung von Lebewesen und Umwelt ergibt, der ursprünglich nicht da war und den es zu überwinden gilt.2 Bevor die Trennung von Organismus und Umwelt etabliert wird, richtet sich der Mensch zunächst auf seine Umwelt und zwar bevor er sich für die eigenen organischen Prozesse und inneren Zustände interessiert.3 Die ästhetische Erfahrung weist Dewey dabei als die Erfahrung schlechthin aus, da sie die Bedingung des jeweiligen Vollzugs menschlicher Umweltbeziehung ist. Dieser wiederum ermöglicht die Existenz künstlerischer Form und zwar allererst als Rhythmus. Die zeitlichen Ordnungen der Natur, ihr Wirken im Raum und der Bezug des Menschen zu ihr bilden das „Grundmuster der Kunst, sie sind letzten Endes die wahren Bedingungen für Form“.4 Die ästhetische Erfahrung im Bezug zur Umwelt tritt schließlich am deutlichsten im Kunstwerk zu Tage. Denn so wie ein Kunstwerk auf der Existenz von Rhythmen in der Natur gründet, so sind diese Rhythmen die 1 2
3 4
John Dewey: Kunst als Erfahrung, Frankfurt/M. 2010, S. 174. Vgl. zum Rhythmus im Denken von Dewey Felicia Kruse: Vital Rhythm and Temporal Form in Langer and Dewey, in: Journal of Speculative Philosophy 21/1 (2007), S. 16–26; Hansjörg Hohr: Erfahrung als ästhetische Erfahrung: Zu John Deweys Ästhetik, in: ders./Hein Retter (Hg.): Gesellschaft, Religion und Ästhetik in der Erziehungsphilosophie John Deweys, Bad Heilbrunn 2009. S. 208–291. Dewey: Kunst als Erfahrung (wie Anm. 1), S. 174f. Ebd., S. 174.
144
Claudia Blümle
Bild 1 James Abbott McNeill Whistler: Arrangement in Grau und Schwarz Nr. 1 (Porträt der Mutter), 1871, Öl auf Leinwand, 144,3 × 162,5 cm, Paris, Musée d‘Orsay.
Bedingungen der Form in der Erfahrung. Aufgrund dessen liegt Dewey zufolge der rhythmischen Form die Eigenschaft aktiven Wirkens zugrunde, die gerade nicht erst nachträglich die Materie prägt.5 Vor diesem Hintergrund wäre der Fehler, dass die schönen Künste zwischen räumlichen und zeitlichen zu trennen seien und nur die letztere sich durch einen Rhythmus auszeichne […] gravierend genug, beträfe er nur die Theorie. Tatsächlich aber verhindert die Leugnung eines Rhythmus bei Gemälden und Gebäuden eine Perzeption von Qualitäten, die für deren ästhetische Wirkung absolut unentbehrlich sind. Die Festlegung des Rhythmus auf eine buchstäbliche Wiederkehr mit regelmäßiger Wiederholung identischer Elemente geht von der Vorstellung einer statischen oder anatomischen statt einer funktionalen Wiederkehr aus.6 5 6
Ebd., S. 171. Ebd., S. 194.
145
Rhythmus im Bildraum
Bild 2 Pierre-Auguste Renoir: Louveciennes, 1872–1873, Öl auf Leinwand, 38,7 × 46,4 cm, Philadelphia, The Barnes Foundation.
Der Rhythmus trägt zum unmittelbaren Reichtum des Ganzen bei und zugleich ist er die Bedingung für den Anreiz jeder visuellen Annäherung an das Bild. Vorausgesetzt, „man findet dynamische Beziehungen einer Steigerung und Bewahrung“7 im Kunstwerk – gilt die beständige Variation der Wahrnehmung sowohl im Großen wie auch im Kleinen, – also auf das ganze Bild bezogen oder auf die qualitativen Unterschiede der Malerei im Detail. Dewey zieht hierfür einen Vergleich zwischen James McNeill Whistler und Auguste Renoir heran (Bild 1 und 2). Man vergleiche beispielsweise ein Gemälde von Whistler mit einem von Renoir. Bei Whistler findet man in den meisten Fällen eine erhebliche Farbübertreibung, Farben, die so eintönig wie überhaupt nur möglich sind. Rhythmen mit ihren notwendigen Kontrastfaktoren werden nur durch die Gegenüberstellung von Blöcken konstituiert. Dagegen findet man auf einem einzigen 7
Ebd.
146
Claudia Blümle
Bild 3 Cover der Erstauflage von John Dewey, Art as Experience, London 1934, mit El Grecos Gethsemane aus der National Gallery in London.
Quadratzentimeter eines Renoir-Gemäldes keine zwei benachbarten Linien von exakt derselben Qualität. Wir brauchen uns dieses Sachverhalts nicht bewußt zu sein, wenn wir das Bild betrachten, seiner Wirkung aber sind wir uns bewußt.8 Bezogen auf das 144,3 × 162,5 Zentimeter große Gemälde Arrangement in Grau und Schwarz Nr. 1, auch Porträt der Mutter genannt, wird der schwarze Vorhang als schwarze Fläche links neben der Wand als graue Fläche gesetzt, dessen kontrastreiches Spiel mit den zwei Bilderrahmen und den strahlend weißen Passepartouts fortgesetzt wird (Bild 1). Vor dem Hintergrund von Deweys Überlegungen wird hier deutlich, dass im Farbspektrum von Schwarz, Weiß, Grau und wenig Grün und Gelb Figur und Grund, Fläche und Raum scharf entgegengesetzt werden. Der Rhythmus 8
Ebd.
147
Rhythmus im Bildraum
Bild 4 Erste Seite in der Erstauflage von John Dewey mit der geflügelten Viktoria aus dem Louvre in Paris: aus: John Dewey, Art as Experience, London 1934, unpaginiert.
entsteht Dewey zufolge in der Beziehung dieser Kontraste zueinander und im Verhältnis zur Komposition des Gemäldes. In einzelnen Farbfeldern sind neben der lasierenden, glatten Malweise unterschiedliche singuläre Malweisen zu finden wie die Striche des Teppichs links, die unscharfe Schattenzone unterhalb des Stuhles rechts und das im Faltenwurf verwischte Ornament des Vorhangs. Diese wiederum betonen in ihrer einheitlichen Malweise und innerhalb des jeweiligen Farbfeldes ihren Bezug zur großflächigen Bildordnung. Die Landschaft von Renoir lässt sich Dewey zufolge im Gegensatz dazu nicht in einer gesamten Komposition des Kontrastes erfassen, sondern in sich differenzierenden und jeweils unterschiedlich gesetzten Linien, Strichen und Farbflecken (Bild 2). Konzentriert man sich auf den Einsatz von Schwarz, von Weiß, von Gelb, von Dunkelrot oder von Blau wird ersichtlich, dass sich die Ordnung des Bildes mit der Betonung wiederholter Farben jeweils neu struk turiert. In dieser Wiederholung der Farben in gespachtelten oder verwischten Strichen und Flecken entsteht ein Rhythmus, der sich während der Wahrnehmungszeit
148
Claudia Blümle
Bild 5 Bildtafel mit mexikanischer Keramik aus der Barnes Foundation, aus: John Dewey, Art as Experience, London 1934, unpaginiert. Bild 6 Bildtafel mit afrikanischer Plastik aus der Barnes Foundation, aus: John Dewey, Art as Experience, London 1934, unpaginiert.
verändert, je nach dem, ob die Aufmerksamkeit auf Details, auf das gesamte Bild, die Malweise oder auf einer einzelnen Farbe liegt. Es konnte bei Deweys Vergleich zwischen Whistler und Renoir bisher leider noch nicht eruiert werden, an welche Gemälde der Philosoph konkret gedacht hat und welche bestimmten Bilder, Objekte und Kunstwerke im Rahmen seiner Vorlesung mittels Diaprojektionen gezeigt wurden. In der Erstauflage sind neben dem Cover mit El Grecos Gethsemane aus der National Gallery in London (Bild 3) insgesamt acht Bildtafeln mit Reproduktionen antiker (Bild 4), mexikanischer (Bild 5), afrikanischer (Bild 6) oder der klassischen modernen Kunst Europas, insbesondere Renoir, Henri Matisse und Paul Cézanne (Bild 7) reproduziert, die Dewey im Blick auf ihren spezifischen Rhythmus als Form analysiert. So vermittelt die antike Geflügelte Viktoria eine Bewegung, die nicht einer ständigen Veränderung unterworfen ist, sondern in einem dauerhaften Schwebezustand gehalten wird (Bild 4). Anstatt
149
Rhythmus im Bildraum
Bild 7 Bildtafel mit Stillleben mit Pfirsichen von Paul Cézanne aus der Barnes Foundation, aus: John Dewey, Art as Experience, London 1934, unpaginiert.
eines sukzessiven Verlaufs bildet ein schwebender Zeitsinn die plastische Wirkung aus den bildräumlichen Mitteln der Skulptur.9 Cézannes Sehen der Naturkräfte in ihren dynamischen Beziehungen wiederum wurde durch eine Anpassung von unstabilen Elementen als eine Ganzheit erfasst. Dabei ist der Rhythmus eine Antwort auf das unerschöpfliche Naturschauspiel, das sich hier räumlich artikuliert.10 Der Vergleich zwischen den Werken aus aller Welt ist für ein Verständnis der verschiedenen Empfänglichkeiten des Rhythmus entscheidend (Bild 4–8), die sich aber nicht einzig auf die rhythmische Manier der Antike oder europäischen Renaissance als eine Norm beziehen.11 Neben den rhythmischen Mustern von Arabesken und Linien bei Botticelli oder der griechischen Skulptur, die einen Rhythmus in der Unschärfe gerundeter Flächen erreicht (Bild 4), zeichnet sich der charakteristische Rhythmus in der ägyptischen Skulptur durch das Verhältnis von Größenordnungen oder in der afrikanischen Skulptur in den scharfen Konturen aus (Bild 6). Letztere 9 10 11
Ebd., S. 273. Ebd., S. 275. Ebd., S. 198.
150
Claudia Blümle
vermag aufgrund „eines Rhythmus von Konturen, Massen und Formen“12 zu einem Gebäude zu werden, das wie die Architektur ins Leben tritt und dieses gestaltet. Die meisten Kunstobjekte, die in den Bildtafeln reproduziert wurden, stammen aus der Sammlung der Barnes Foundation (Bild 5–7). Der Kontakt mit dem Kunstsammler Barnes und die gemeinsamen Museumsbesuche in Europa und Asien13 haben Deweys Denken in Bezug auf die Kunst als ästhetische Erfahrung maßgeblich geprägt. Wie im Vorwort betont, geht sein Kunstverständnis in starkem Maße auf Barnes Schriften zurück.14 Und nicht zuletzt bedankt er sich für die Genehmigung einer Anzahl von Abbildungen in der Erstauflage von Kunst als Erfahrung bei der Barnes-Stiftung.15 Der konkrete Bezug zur bildenden Kunst in Deweys Überlegungen, auf die er in seiner Vorlesung und auch deren Buchform verwiesen und die er beschrieben und näher erörtert hat, fehlt aber leider in den deutschen wie aktuellen englischen Ausgaben. Es wäre – neben dem erneuten Abdruck der Abbildungen aus der ersten Auflage – auch eine eigene Untersuchung wert, zu erforschen, welche weiteren Dias Dewey in seiner Vorlesung Kunst als Erfahrung gezeigt hat. Neben dem vielfachen Bezug auf Kunstwerke zieht Dewey nicht nur künstlerische Bildbeispiele heran, um den Stellenwert der ästhetischen Erfahrung des Rhythmus als Form zu erfassen. Jeder Gegenstand, ob Kunst oder nicht, besitzt eine ästhetische Qualität und diese beruht auf den „Rhythmen, welche die Energien fundieren und organisieren, [und] bereits im Vorgang einer Erfahrung eingeschlossen sind.“16 Beispielsweise beschreibt er ein Schachbrett mit hellen und dunklen Quadraten, bei dem die „Wiederholung uniforme Einheiten in gleichmäßigen Intervallen“17 erzeugt. Es ist gut möglich, dass Dewey dabei ein konkretes Objekt vor Augen hatte, das im Besitz von Barnes war: eine afrikanische Holztür, die Ende des 19. Jahrhunderts für einen Innenraum entstanden ist (Bild 8).18 Die Kontraste werden in diesem Objekt einerseits durch die reliefierte Struktur im Holz und anderseits in der Bemalung der quadratischen Reihe in weißer und dunkelroter Farbe verstärkt. Bezogen auf das 12 13 14
15 16 17 18
Ebd., S. 272. Hohr: Erfahrung als ästhetische Erfahrung (wie Anm. 2), S. 210. Es handelt sich dabei um folgende Titel: The Art in Painting, French Primitives and Their Formes und The Art of Matisse, auf die Dewey verweist. Vgl. insbes. Dewey: Kunst als Erfahrung (wie Anm. 1), S. 110f., S. 138, S. 202 u. S. 234. Dewey: Kunst als Erfahrung (wie Anm. 1), S. 8. Ebd., S. 199. Ebd., S. 195. Mit dieser Tür in der Hand und vor einem Matisse ließ sich Alfred Barnes in einer bekannten Fotografie portraitieren. Johanna Schiffler hat in Philadelphia das Objekt vor Ort eruieren können. Für ihre Entdeckung und ihren bibliografischen Hinweis danke ich ihr sehr herzlich. Vgl. ausführlicher zu dieser afrikanischen Tür und ihrer Rezeption in den kunsthistorischen Studien von Alfred Barnes: Christa Clarke (Hg.): African Art in the Barnes Foundation, Philadelphia 2015, S. 144.
151
Rhythmus im Bildraum
Bild 8 Unbekannt, Baule (Ethnie): Tür („Anuan“), 19./frühes 20. Jahrhundert, Pigment auf Holz, 156,2 × 50,8 × 5,1 cm, Philadelphia, The Barnes Foundation.
Schachbrett argumentiert Dewey nicht funktional, sondern ausgehend von einer sinnlichen Betrachtung als rhythmische Form. Denn die Erfahrung karierter Arrangements erfaßt das Objekt nicht so regelmäßig geordnet wie es, physikalisch und geometrisch gesehen, tatsächlich ist. Wenn das Auge schweift, nimmt es neue und verstärkende Flächen wahr, und eine sorgsame Beobachtung läßt dann erkennen, daß neue Muster beinahe automatisch aufgebaut werden. Die Quadrate verlaufen einmal vertikal, einmal horizontal, einmal in der einen, dann in der anderen Diagonale; und die kleineren Quadrate bauen nicht nur größere Felder auf, sondern auch Rechtecke und Figuren, die treppenstufenartige Umrisse gewinnen. Das organische
152
Claudia Blümle
Verlangen nach Variation ist von der Art, dass es in der Erfahrung erzwungen wird, und das sogar ohne große äußere Veranlassung.19 Der Unterschied zwischen dem Ästhetischen und dem Geistig-Intellektuellen liegt – so Dewey – „in der verschiedenartigen Betonung jenes anhaltenden Rhythmus, der die Wechselbeziehung zwischen den Lebewesen und ihrer Umwelt kennzeichnet“.20 Der anhaltende Rhythmus beruht darauf, dass der „Verlust der Integration in die Umwelt und ihrer Wiederherstellung“21 im Menschen nicht nur insistiert, sondern ihm auch bewusst ist. Der Mensch passt seine aus der Notwendigkeit erwachsenen Tätigkeiten dem rhythmischen Wandel der Naturzyklen an und zugleich verwendet er „die Rhythmen, die ihm die Natur auferlegt, dazu, seine Beziehungen zur Natur so zu feiern, als hätte sie die Freiheit ihres Reiches auf ihn übertragen“.22 Dies führt dazu, dass der Mensch durch seine Einbeziehung in die Rhythmen der Natur beginnt, „den Wandlungen dort Rhythmen aufzuerlegen, wo es bisher keine gegeben hatte“.23 So beschreibt Dewey, dass selbst […] die Vorstellung von Molekül, Atom und Elektron [...] dem Bedürfnis [entspringt,] kleinere und subtilere Rhythmen, die man entdeckt hat, in eine Form zu fassen. Die Mathematik ist die Übereinstimmung zwischen den am weitesten verallgemeinerten Aussagen und den universalen Rhythmen. Das eins, zwei, drei, vier beim Zählen, die Konstruktion von Geraden und Winkeln zu geometrischen Figuren, die höchsten Flüge in der Vektorrechnung sind Mittel, durch die Rhythmen aufgezeigt oder gesetzt werden.24 In diesem Zusammenhang verdeutlicht Dewey, dass diese Rhythmen auch die Richtschnur für die Wissenschaften seien. Die Wissenschaften, die verschiedene Rhythmen aufzeichnen, stellen ein Ordnungsgefüge für die unterschiedlichen Formen des Wandels dar. „Heute“– also 1934 – seien die „von der Naturwissenschaft gefeierten Rhythmen nur dem Denken, nicht aber der Wahrnehmung in der unmittelbaren Erfahrung zugänglich.“25 Die naturwissenschaftlich erfassten Rhythmen werden „durch Symbole dargestellt, die für die Sinneswahrnehmung keine Bedeutung haben“,26 während die Rhythmen das Grundmuster der Kunst bilden und die 19 20 21 22 23 24 25 26
Dewey: Kunst als Erfahrung (wie Anm. 1), S. 195. Ebd., S. 23. Ebd. Ebd., S. 172. Ebd. Ebd. Ebd., S. 173f. Ebd.
153
Rhythmus im Bildraum
wahren Bedingungen für die Form sind. Doch noch immer ist „das gemeinsame Interesse an Rhythmus das Band, das Wissenschaft und Kunst in einem Verwandtschaftsverhältnis hält“.27 Der Rhythmus als allgemeingültiges Daseinsschema ist dabei nicht auf den Körper bezogen, sondern beruht auf dem jeweiligen Versuch, eine Interaktion zwischen Körper und Umwelt herzustellen. Vor diesem Hintergrund ist die ästhetische Erfahrung weniger eine Frage der Unmittelbarkeit der Perzeption, sondern beruht vielmehr auf einem ästhetischen Rhythmus im Bezug zur Umwelt.28 Auch wenn Dewey bereits mit dem Titel der Vorlesung die Kunst ins Zentrum rückt, geht es ihm primär um die ästhetische Erfahrung. Dabei nimmt er keine genuin kunstphilosophische Position ein und hebt die Trennung von Kunst und Natur auf. Sein Argument ist, dass zum Umweltbezug des Menschen die Kunst dazu gehört und entsprechend behandelt er ein Schachbrett gleichermaßen wie Gemälde von Whistler und Renoir. In seinen Beschreibungen des Rhythmus als ästhetische Erfahrung wird im Vergleich zu den verschiedenen Beispielen immer wieder deutlich, dass Deweys Bezugspunkt in der nicht figurativen Gestaltpsychologie liegt, die den Grund ebenso wie Figur/Form berücksichtigt und er auch die figurativen Werke oft abstrakt beschreibt. Sowohl bei Whistler wie beim Schachbrettmuster liegt der Schwerpunkt nicht im Beschreiben einzelner Formen, sondern ihrer Relationen untereinander wie beispielsweise im Kontrast durch die Gegenüberstellung von Blöcken, die in der Farbübertreibung von Schwarz und Weiß liegt. In Folge der an abstrakten Bildern orientierten Gestaltpsychologie begreift Dewey die ästhetische Erfahrung rhythmisch, sei es nun als Erfahrung im Umweltbezug oder in Anbetracht eines Kunstwerks.
2. Dreißig Jahre nach John Deweys Vorlesungen beschäftigt sich der Kunsthistoriker und Philosoph Henri Maldiney in seinem Text Ästhetik der Rhythmen von 1967 mit dem Rhythmus in der bildenden Kunst und im Bezug zur philosophischen Ästhetik und Kunstphilosophie. In seinen Schriften verbinden sich Phänomenologie, Anthropologie, Psychoanalyse, Ästhetik und Kunstgeschichte zu einer Philosophie des Bildes.29 Mit Blick auf die bildende Kunst ist für Henri Maldiney die Unterscheidung 27 28 29
Ebd. Ebd., S. 188f. Henri Maldiney wurde 1912 in Meursault an der Côte d’Or geboren. An der École normale supérieure in Paris studierte er Philosophie bei Léon Brunschvicg. Im Rückblick betonte er, dass er die wichtigsten philosophischen Anregungen in dieser Zeit von Jean Cavaillès erhalten habe. In den folgenden Jahren begann er mit der Lektüre der Schriften von Edmund Husserl und Martin Heidegger. Nach dem Zweiten Weltkrieg promovierte Maldiney in Philoso-
154
Claudia Blümle
zwischen Zeichen, Bild und Form entscheidend. Zeichen und Bild sind ihm zufolge von der Kunst weit entfernt. Zunächst zielen sie auf Identifikation und auf Wiedererkennung. Im Gegensatz dazu ist die Form weder intentional noch signifikant. Ein Zeichen oder ein Bild verweist auf etwas anderes als auf sich selbst, auf einen Referenten oder auf ein Modell, in welchem sie sich substituieren (beim Referenten) oder etwas in Erinnerung rufen (beim Modell). Die künstlerische Form hingegen kommt ohne Referenten und ohne Modell aus. Vielmehr funktioniert sie immanent, indem sie mit ihrer eigenen Genese zusammenfällt: sie ist Gestaltung und nicht Gestalt. In Abgrenzung vom geistigen Bild, das repräsentiert und illustriert, entwickelt Maldiney eine Theorie des Bildes, die er vom Sich-zeigen des Bildphänomens in der bildenden Kunst her denkt. Dabei besitzt das Bild nicht die Funktion nachzuahmen, sondern zu erscheinen. Das Bild von der Wirklichkeit besteht somit in der Illusion seiner Erscheinung, während die Wirklichkeit des Bildes das aktuelle Ereignis seines Erscheinens ist.30 Das Sein des Erscheinens selbst wird wiederum in der Malerei reflektiert und sichtbar gemacht.31 Indem das Erscheinen den Bedingungen von Form und Formwerden unterliegt, betrifft die Bildtheorie Maldineys insbesondere die bildende Kunst. Er verknüpft die Form mit dem Rhythmus, wobei er zwischen Form und Genese der Formen, den „Formanten“, wie folgt unterscheidet: „Eine figurative Form besitzt [...] zwei Dimensionen: eine ‚intentional-repräsentative‘ Dimension, wonach diese ein Vorstellungsbild ist, und eine ‚genetisch-rhythmische‘ Dimension, die genau genommen daraus eine Form hervorbringt.“32 Maldineys Blick auf antike Stelen, chinesische Aquarelle, Mosaiken aus Ravenna, Gemälde von Herkules Seghers, Jan van Goyen, Paolo Uccello oder Paul Cézanne lässt ebenfalls deutlich werden, dass differenzierende Bildelemente zuein ander in Relation gebracht werden, um im rhythmischen Werden der Formen eine signifikante Gegenwart zu produzieren. Die Malerei ist nicht da, um gesehen zu
30
31 32
phie und Kunstgeschichte. Er lehrte an der Universität in Gent und erarbeitete ausgehend von Erwin Straus, Ludwig Binswanger und Roland Kuhn eine psychoanalytisch geleitete Phänomenologie der Kunst. Anschließend hatte er bis 1980 den Lehrstuhl für Allgemeine Philosophie, phänomenologische Anthropologie und Ästhetik in Lyon inne. Heute lebt er zurückgezogen im Süden Frankreichs. Henri Maldiney: Entretiens avec Henri Maldiney, in: Chris Younès (Hg.): Henri Maldiney: Philosophie, art et existence, Paris 2007, S. 181–212, bes. S. 182 u. 184. Siehe auch Claudia Blümle: Henri Maldiney, in: Kathrin Busch/Iris Därmann (Hg.): Bildtheorien aus Frankreich: Ein Handbuch, München 2011, S. 255–264. Eliane Escoubas: Essai d’une phénoménologie de l’espace pictural, in: Pascal Dupond/Laurent Corunarie (Hg.): Phénoménologie. Un siècle de philosophie : Husserl, Heidegger, Merleau-Ponty, Arendt, Patoc�ka, Levinas, Dufrenne, Maldiney, Henry, Marion, Richir, Paris 2003, S. 187–194, hier S. 187. Ebd., S. 187. Henri Maldiney: Die Ästhetik der Rhythmen, in: Claudia Blümle/Armin Schäfer (Hg.): Struktur, Figur, Kontur: Abstraktion in Kunst und Lebenswissenschaften, Berlin/Zürich 2007, S. 58.
155
Rhythmus im Bildraum
werden, sondern um sehen zu lassen. Die Distanz zum wahrgenommen Bild wird aufgehoben und die Organisation der sinnlichen Mannigfaltigkeit ins Zentrum gerückt. Maldineys Kunstphilosophie geht einher mit einer Kritik, wonach der begriffliche Sinn derjenige sei, der alles, auch die bildende Kunst, regiert. Aufgrund der Vorherrschaft des Begriffs über die bildende Kunst hat, so Maldiney, der Geist aufgehört, sich in einer wahrnehmbaren Form in den Kunstwerken zu bilden. Vor dem Hintergrund, dass die Kunst nicht alles dem Begriff, sondern alles dem Rhythmus verdankt, entwickelt er seine erste These: „Es gibt nur vom Rhythmus her Ästhetik. Es gibt nur ästhetischen Rhythmus.“33 Im ersten Satz bezieht sich Ästhetik auf die Dimension der bildenden Kunst, und sein Feld begrenzt sich auf die künstlerische Sinnlichkeit, während im zweiten Satz das Wort ‚ästhetisch‘ das ganze Feld der sinnlichen Rezeptivität umfasst. Dabei stellt Maldiney die Frage, wie das Verhältnis zwischen der künstlerischen und der sinnlichen Ästhetik zu verstehen sei, und entwickelt vor diesem Hintergrund seine zweite These: „Die Kunst ist die Wahrheit des Sinnlichen, weil der Rhythmus die Wahrheit der ‚αἴσθησις’ ist.“34 Maldiney zufolge lässt die Kunst im Weltbezug das Offene sein, das entweder als Selbstbewegung des Chaos oder als ein Übergang vom Chaos zum Rhythmus führt, dessen Bewegung ein Offenkundig-Sein erzeugt. Dabei unterscheidet Maldiney drei grundlegende Rhythmen, die die Geschichte durchziehen und die zu einer Variation der Emergenz im Offenen führt. Der erste grundlegende Rhythmus manifestiert sich in der Öffnung eines absoluten Erscheinens. Die Form hebt sich von ihrem Grund wie von einer Wand klar ab. Es gibt in diesem Sinne kein Diesseits des Erscheinens und darin liegt auch das Gesetz des Gegenübers in der Kunst, kraft dessen das Werk den Raum um sich herum strukturiert. Der zweite grundlegende Rhythmus tritt im Offenen des Verschwindens zutage. Das Wirkliche des Seienden gibt sich nur in seinem Rückzug, wofür Maldiney eine Tuschezeichnung aus dem 13. Jahrhundert von Meng Yü-ch’ein heranzieht (Bild 9). Jedes Ding manifestiert sich hier im Verschwinden, so wie sich im Dunst des Gebirges ein Grat in jenem Augenblick zeigt, in dem er in seine Verschleierung zurückkehrt. Zuletzt führt die Zusammenführung des Erscheinens und Verschwindens zum dritten grundlegenden Rhythmus, wie er in byzantinischen Mosaiken oder den Bildern Cézannes sichtbar wird (Bild 7 und 10). Der Raum entzieht sich im Rhythmus und wird zugleich durch ihn hervorgebracht. Innerhalb dieser drei grundlegenden Rhythmen der bildenden Kunst unterscheidet Maldiney zudem zwischen dem Rhythmus einer rahmenden Geschlossenheit, in dessen Zentrum sich der Betrachter projiziert und sich intra-projektiv der 33 34
Ebd., S. 55. Ebd.
156
Claudia Blümle
Faszination hingibt, und dem Rhythmus einer direkten Verbindung zum Betrachter, die ihn distanzlos verpflichtet, in das Bild einzutreten. Im zweiten Fall ist das Werk „kein Objekt mehr, sondern Akt“.35 Grundsätzlich tritt in der sinnlichen Formgebung der Künste die rhythmische Bildgestaltung selbst in Erscheinung. In diesem Sinne ist Form aktiv, als Akt des Form-Werdens, und das heißt der Gestaltung, die sich zwar in der Gestalt verkörpert, ihrerseits jedoch ihre immanente Genese bezeugt. Deshalb unterscheidet Maldiney zwischen der Form und der Genese von Formen. Vor diesem Hintergrund stellt er die „Chronothese“, die der chronofotografischen Momentaufnahme als Fixierung der Zeit im Bild und somit dem metrischen Takt folgt, der „Chronogenese“, dem Zeit-Werden, gegenüber.36 Bildtheoretisch kommt es dabei zu einer Überlagerung von Chronothese und Chronogenese, und dies bedeutet, dass im Bild nicht nur die Zeit stillgestellt wird, sondern umgekehrt das Bild selbst als rhythmische Strukturbildung verzeitlicht wird. In diesem Zusammenhang verknüpft Maldiney den Wechselbezug, den Richard Hönigswald „Rhythmusgestalt“ nennt,37 nicht nur mit der Ästhetik, sondern er denkt den Rhythmus als eine Koexistenz gegenläufiger Bewegungen im Bild selbst. Ausgehend von dieser Prämisse entwickelt Maldiney einen Chiasmus, eine gegenläufige Bewegung von Ausdehnung und Kontraktion, die er mit dem physiologischen Begriffspaar „Systole“ und „Diastole“ beschreibt.38 Seit der Romantik dient die rhythmische Bewegung des Herzmuskels innerhalb von Naturphilosophie und Ästhetik als organische Metapher des Lebens, die gleichzeitig mit sinnesphysiologischen Bedeutungen korreliert.39 Bezogen auf die bildende Kunst ist es dieser kontinuierliche Rhythmus, der im Offenen zur Erscheinung kommt (Systole) und verschwindet (Diastole), und das Sein des Bildes offenbart.40 Maldiney zufolge ist Malerei nicht da, um gesehen zu werden, sondern um sehen zu lassen. Die Distanz zum wahrgenommenen Bild wird aufgehoben und stattdessen rückt die rhythmische Organisation der sinnlichen Mannigfaltigkeit ins Zentrum. In Maldineys Phänomenologie führt diese stete Folge vom Grenzenlosen ins Bestimmte und wieder zurück.
35 36 37 38 39
40
Ebd., S. 75. Ebd., S. 63f. Richard Hönigswald: Vom Problem des Rhythmus, Wiesbaden 1923. Maldiney: Ästhetik der Rhythmen (wie Anm. 32), S. 73f. Goethe hat das physiologische Begriffspaar Systole und Diastole von der rhythmischen Bewegung des Herzmuskels in den Bereich der Naturphilosophie und der Ästhetik verschoben. Zum Zusammenhang von Goethes „höherem Empirismus“ und dem transzendentalen Empirismus von Deleuze siehe Joseph Vogl: Goethe’s Colors, in: Max-Plack-Institut für Wissenschaftsgeschichte (Hg.): The Shape of Experiment, Berlin 2006, S. 225–231. Jean-Christophe Goddard: Violence et subjectivité: Derrida, Deleuze, Maldiney, Paris 2008, S. 100.
157
Rhythmus im Bildraum
Bild 9 Meng Yü-ch’ein: Bergwelle, 13. Jahrhundert, Tusche auf Papier.
3. Gilles Deleuze, der 1967 in Lyon Kollege von Maldiney war, widmet sich in mehreren seiner Schriften dem Rhythmus.41 Er entwickelt diese aus der Phänomenologie heraus, um sie in seine Immanenzphilosophie münden zu lassen.42 Wie Dewey und Maldiney geht Deleuze in starkem Maße dabei auf die Werke Paul Cézannes ein (Bild 6 und 9). Hier analysiert er den Rhythmus als eine raum-zeitliche Artikulation, die die Allianz zwischen Werden und Ereignis im Bild ermöglicht. Die Abfolgen von Farbflecken im Werk Cézannes können nur noch zeitlich wahrgenommen werden. In der Lichtführung wird nun der optische Raum verabschiedet, der sich mit taktilen Referenten wie Tiefe, Kontur oder Modellierung vereint. Die zentralperspektivische Bildkonzeption, die das Sehen in einen abtastenden Raum überführt, konzipiert das Licht als Linie. Diese lineare Lichtführung ist in den Bildern von Cézanne nicht mehr vorhanden und stattdessen tauchen Farbzonen und freigelassene Stellen im Bild auf, die die blendende Leuchtkraft eines unbestimmten Lichtes festhalten. Es gibt keine Schlagschatten, die sich mit geschlossenen Konturen oder
41
42
Zur Rezeption Maldineys bei Deleuze vgl. Mireille Buydens: Sahara: L’esthétique de Gilles Deleuze, Paris 1990; Paul Patton: Deleuze: A Critical Reader, Oxford 1997; John Rajchman: The Deleuze Connections, Cambridge 2000; ders.: Abstraktion. Was ist abstrakt?, in: Friedrich Meschede (Hg.): Etwas von etwas, Abstrakte Kunst, Köln 2005 (Jahresring 52), S. 91–107; Ronald Bogue: Deleuze on Music, Painting, and the Arts, New York 2003; Goddard: Violence et subjectivité (wie Anm. 40). Vgl. zur Wendung der Phänomenologie im Denken von Deleuze insbesondere Kerstin Andermann: Malerei im Spannungsfeld von Phänomenologie und Immanenzphilosophie. MerleauPonty und Deleuze, in: Birgit Mersmann/Martin Schulz (Hg.): Kulturen des Bildes, München 2006, S. 249–263.
158
Claudia Blümle
hell-dunklen Abstufungen an wiederzugebende Objekte anlehnen und sich auf diese Weise zu Referenzen verfestigen. Das bewegte Verhältnis von Form und chaotischen wie differenzierenden Farbflecken, das sich hier nicht stabilisieren kann, bezeichnet Deleuze als Rhythmus. Deutlich ist diese Form des Rhythmus in einem der letzten Aquarelle von Cézanne im unteren rechten Bildfeld mit den Farbflecken in Braun und Lila zu erkennen, die man sowohl für den Stamm eines Baumes wie auch für dessen Schatten halten kann (Bild 10). Ebenso bezeichnen die Striche oberhalb des grünen Flecks gleichermaßen Äste und Zweige des Baumes wie auch dichtes Gebüsch.43 Diese Unbestimmtheit bringt eine Zeitlichkeit hervor, die auch den Raum betrifft. Erkennt man in der frei gelassenen hellen Fläche eine niedrige Mauer, auf der ein Blumentopf steht, so stellt sich angesichts der Möglichkeit, dass der vertikale lila Fleck sowohl ein Baumstamm als auch dessen Schatten sein kann, unvermeidlich die Frage, ob dieser in aufgebrochenen Umrisslinien gezeichnete Baum sich vor oder hinter der Mauer befindet. Aufgrund dieser Ununterscheidbarkeit entsteht eine gegenläufige Bewegung der räumlich davor und dahinter situierten Objekte in Bezug zu ihrer Umgebung. Die Bewegung zwischen Tiefe und Oberfläche, wie sie an dem Aquarell von Cézanne hervortritt, beschreibt Deleuze als „seichte Tiefe“44 und zwar im Rückgriff auf Clement Greenbergs Begriff shallow depth, den die französische Übersetzung von Mare Chenetier als profondeur maigre bezeichnete. Dieser Begriff wiederum geht auf einen ozeanographischen Ausdruck zurück, der die Untiefen benennt.45 Die verzeitlichte Wahrnehmung trifft hierin auf ihre eigenen empirischen Bedingungen. Sie setzt sich aus unendlich vielen kleinen Wahrnehmungen zusammen, den Sensationen, die als sich differenzierende Farben imstande sind, die Wahrnehmung in ihrer veränderlichen Gestalt hervorzubringen, sich zu stabilisieren oder wieder aufzulösen. Diese farbigen Striche, Flecken und Zonen sind Deleuze zufolge weder signifikativ oder signifikant, sondern asignifikant. In der bildenden Kunst brechen sie dabei jeweils mit der Figuration, da sie dazu bestimmt ist, die Sensation zu malen. Die Wahrnehmungsbedingungen der Farbflecken, des Mal, und der Linienstriche sind in der Intensität als Differenz enthalten und lassen sich nicht abstrakt vor aller Erfahrung als reine Formen der Anschauung etablieren. Raum und Zeit werden somit als Bedingung der Erfahrung verstanden, die aus dem Prinzip der
43
44 45
Vgl. Gottfried Boehm: Zur Hermeneutik des Bildes, in: ders./Hans-Georg Gadamer (Hg.): Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften, Frankfurt/M. 1978, S. 444–471, hier S. 464. Gilles Deleuze: Francis Bacon: Logik der Sensation, übers. v. Joseph Vogl, München 1995, S. 73, S. 84 u. S. 88. Clement Greenberg: Dossier Pollock, übers. v. Mare Chenetier, in: Macula 2 (1977), S. 50.
159
Rhythmus im Bildraum
Bild 10 Paul Cézanne: Gartenterrasse in Les Lauves, 1906, Bleistift und Aquarell auf Papier, 43 × 54 cm, New York, Sammlung von Herr und Frau Eugen Victor Thaw.
Intensität abgeleitet wird und dies bedeutet, dass die vielzähligen inneren Zeitlichkeiten und die statisch ordinalen Genesen untrennbar mit dynamischen und beweglichen Strukturen verbunden sind. Die drei Grundelemente der Malerei, Struktur, Kontur und Figur, die Deleuze in Logik der Sensation einführt, ermöglichen es, von einer Bewegung im Bild zu sprechen, die in zwei Richtungen agiert: Die erste Bewegung nennt Deleuze im Rückgriff auf Maldiney Systole, die von der Struktur über die Kontur hin zur Figur verläuft.46 Die zweite Bewegung, die „Diastole“, verläuft von der Figur über die Kontur hin zur Struktur. So operiert die „Systole“ als Bewegung, die ihren Ausgang von der Struktur nimmt, über die Kontur zur Figur gelangt und zu einer Isolierung der Figur führt. Die Diastole setzt umgekehrt bei der Figur an und leitet zur Struktur über. Dabei löst sich die Figur in der Struktur, in der Fläche auf. Die Kontur wiederum gewährleistet eine bewegliche Kommunikation zwischen Figur und materieller Struktur. Sie funktioniert zunächst isolierend, wirkt deformierend, indem sie sich mit der Struktur vereint. Führt die Systole zu einer Isolierung der Figur, so entwickelt die Diastole 46
Deleuze: Francis Bacon: Logik der Sensation (wie Anm. 44), S. 25f. und 31f.
160
Claudia Blümle
eine Kontraktion und Auflösung der Figur. Der Rhythmus schließlich entsteht in der Koexistenz dieser doppelten Bewegungen von Systole und Diastole im Gemälde. Er ist daher keine Momentaufnahme der Bewegung, sondern vielmehr jene Bewegung, die von einer Ordnung zu einer anderen übergeht, die eine Ebene in eine andere transponiert. In Milles Plateaux denkt Deleuze gemeinsam mit Felix Guattari wie Dewey über das Verhältnis von Chaos, Rhythmus und Umwelt nach. Ausgangspunkt ist dabei folgende Überlegung von Henri Maldiney: Der Rhythmus ist das Milieu, in welchem ihr Sein befreit ist von der Möglichkeit des Nicht-Seins, und des Anders-Seins. Weil er eine Form der Gegenwart ist, ein Existential ist, ist der Rhythmus, durch sich selbst Garant der Realität. In ihm fallen Wirkliches und Mögliches zusammen. Durch ihn ist die Kunst kein – wie man sagt – Imaginäres.47 Für Deleuze und Guattari wiederum werden aus dem Chaos, dem Milieu aller Milieus, nicht nur Milieus sondern auch Rhythmen geboren.48 Aus dem Chaos treten unterschiedliche Milieus heraus, die sich verfestigen oder sich im Rückgang ins Chaos auflösen. Im Milieu als Form ist der Bezug zum Chaos in diesem Sinne permanent präsent. Der Rhythmus wiederum entsteht dann, wenn es einen Übergang von einem Milieu zum nächsten Milieu gibt.49 Der Zwischenraum ist die Gemeinsamkeit von Rhythmus und Milieu, während der Unterschied darin liegt, dass der Rhythmus zwischen den rhythmisierten Milieus emergiert. Deshalb liegt der Rhythmus nie auf derselben Ebene wie das Rhythmisierte.50 Angesichts sich verfestigender und geschlossener Milieus, die in der Kunst mit den Mitteln der Defiguration aufgebrochen werden, wird ein zentrales Interesse von Deleuze und Guattari an der Kunst deutlich. Der Künstler beginnt, wie Deleuze und Guattari im Rückgriff auf Klee beschreiben, […] um sich zu schauen, in alle Milieus, um die Spur der Schöpfung im Geschaffenen zu erfassen, die natura naturans in der natura naturata; und dann, nachdem er sich ‚in den Grenzen der Erde eingerichtet hat, interessiert er sich für das Mikroskopische, für Kristalle, Moleküle, Atome und Teilchen,
47 48 49 50
Maldiney: Die Ästhetik der Rhythmen (wie Anm. 32), S. 67. Gilles Deleuze/Felix Guattari: Tausend Plateaus, Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1993, S. 427. Ebd. Ebd., S. 428.
161
Rhythmus im Bildraum
allerdings nicht für wissenschaftliche Genauigkeit, sondern für Bewegung, ausschließlich für die immanente Bewegung.51 In dem Moment, in dem der Betrachter vor einem Kunstwerk steht, taucht er in ein Milieu ein und jede Distanz zum Kunstwerk ist in diesem Moment aufgehoben. Doch die Kunst verhindert zugleich, dass sich ein bestimmtes Milieu stabilisiert. Stattdessen tut sich vielmehr zwischen den verschiedenen Milieus ein offener und werdender Zwischenraum des Rhythmus auf.
4. Die drei philosophischen Positionen, die hier nebeneinander gerückt wurden, verdeutlichen ein Nachdenken über den Rhythmus im Blick auf die philosophische Ästhetik und ihren Bezug auf die bildende Kunst. Während bei Dewey die chaotische Umwelt in der ästhetischen Erfahrung überwunden wird und bei Maldiney das Chaos der Ausgangspunkt jeder Kunst bildet, denken in Milles Plateaux Deleuze und Felix Guattari den Rhythmus im permanenten Bezug zum Chaos. Dewey zufolge entsteht vor dem Hintergrund der Gestaltpsychologie der Rhythmus im Kontrast. Maldiney widmet sich in seiner phänomenologischen Kunstphilosophie dem Rhythmus als einer Bewegung von Erscheinen und Verschwinden. Deleuze und Guattari fassen in ihrer Philosophie des Werdens den Rhythmus als eine Bewegung zwischen dem Chaos als Grund und den sich formenden Milieus. Neben den Unterschieden legen alle drei Positionen folgende Tendenz nahe: Nicht mehr die statische Form und auch nicht das räumliche Nebeneinander von Formen, sondern der Rhythmus in seiner raumzeitlichen Dimension lässt die philosophische Ästhetik und die bildende Kunst im 20. Jahrhundert in einer neuen Weise zusammentreffen.
51
Ebd., S. 460.
Viola Nordsieck
Rhythmus als Form der Dauer Zu Form und Formbildung im Denken Henri Bergsons
Hierbei darf freilich die ‚Form‘, eben weil sie das aktive und gestaltende, das eigentlich schöpferische Moment darstellt, nicht als starre, sondern sie muß als lebendige und bewegliche Form gefaßt werden. Ernst Cassirer
1. Bergson: Ein Denker des Unbestimmten Henri Bergson ist lange Zeit wenig gelesen worden. So nachhaltig er die französische Philosophie zu seinen Lebzeiten geprägt hat, so gründlich hat man ihn später verworfen. Es war vor allem Deleuze’ Le Bergsonisme, das 1966 erschien und langsam begann, diesen Zustand zu ändern. Die psychologischen, philosophischen und politischen Ursachen und Kontexte dieser Abgrenzung werden auf Grund seiner aktuellen Neuentdeckung erforscht.1 Dabei hat sich gezeigt, dass es eine Abgrenzung auch und gerade zu jenen Zügen seines Denkens gegeben hat, die ihn für die besagte Neuentdeckung so attraktiv machen. Er sei, so Julien Benda 1927 in dem Essay La trahison des clercs, „feminin und pathetisch“, das heißt also den männlichen Geist untergrabend, der sich erkennend über das Gefühl erhebt. Er sei Romantiker, Irrationalist, Feind des Intellekts, Prediger des Gefühls und der Beweglichkeit, Verächter des Denkens, kultischer Verehrer der 1
Gerade in den Jahren seit 2000 sind bei den Presses Universitaires de France sämtliche Werke neu herausgegeben worden. Auch die Annales bergsoniennes, welche die von 1948 bis 1973 erschienenen Études bergsoniennes wieder aufgreifen, erscheinen im selben Verlag, in der Reihe Épiméthée, die von Jean Hyppolite 1953 gegründet wurde und jetzt von Jean-Luc Marion betreut wird. Vgl. zur Rezeptionsgeschichte aktuell Heike Delitz: Bergson-Effekte: Aversionen und Attraktionen im französischen soziologischen Denken, Weilerswist 2015, und Caterina Zanfi: Bergson et la philosophie allemande, Paris 2014.
164
Viola Nordsieck
Nützlichkeit.2 Diese Tendenzen galten als veraltet und reaktionär – und eben als schwach, weiblich, passiv („pathetisch“ bezieht sich hier auf das Griechische „pathos“, auf die erleidende Seite des Passiven). Gerade engagierte Denker riefen nach Klassenkampf, nach Riss und Bruch, nach deutlichen Setzungen, Opposition von Sein und Nichts. Fortschritt hieß Rationalismus, Kritik am Intellekt hieß, den Gegnern des Fortschritts zuzuarbeiten. Georges Friedman schreibt 1936: „Wie man weiß, reserviert der Intuitionismus mit seiner ausdauernden Kritik der Intelligenz und der Wissenschaft die höchsten Grade des Wertmaßstabes stets den tiefen Wirklichkeiten, jenseits der herstellenden und oberflächlichen Intelligenz: dem Leben, der durée, dem Instinkt.“3 Unter der antibürgerlichen Polemik gab es in Frankreich zwei Hauptrichtungen der Kritik. Einmal ist es die fehlende Konkretion bei vorgegebener Suche nach der Konkretion, stattdessen eine „meisterliche“ Abstraktion.4 Zweitens ist es die Betonung der Tiefe, der Bewegung, des Gefühls und der Tätigkeit. Diese Konzepte gäben sich in femininer, pathetischer Weise dem Irrationalismus hin und verrieten so die universale Fortschrittsarbeit des Intellekts, der „herstellenden Intelligenz“.5 Bis heute ist diese Sicht auf Bergson prägend, obwohl wir heute die Fortschrittsarbeit des Intellekts deutlich kritischer sehen als damals. Im deutschen Sprachraum kommt die Erfindung der „Lebensphilosophie“ hinzu, die Bergson von Beginn an als einen unreflektierten Erfinder von Mythen liest, der „das Leben“ als ontologische Grundkonstante und unmittelbar Gegebenes setzt.6 So wird erstens verkannt, dass Bergson, der Meister der Abstraktion, auch ein Meister der Vermittlung ist, weil seine Abstraktion immer im Sinne Herders gelesen werden muss: als
2 3 4
5
6
Vgl. Delitz: Bergson-Effekte (wie Anm. 1), S. 270ff. Ebd., S. 138. Zitiert wird Friedmans Krise des Fortschritts (1936). Vgl. Delitz: Bergson-Effekte (wie Anm. 1), S. 270ff. Georges Politzer ist ein marxistisch geprägter Denker, der Bergson für seine mangelnde Konkretion kritisiert, wobei natürlich das Verständnis von Konkretion beider Denker unvereinbar bleibt. Paul Nizan wirft Bergson vor, sich mit der Bourgeoisie gegen den Menschen gemein zu machen. Vgl. ebenfalls Delitz: Bergson-Effekte (wie Anm. 1). Julien Bendas Streitschrift La trahison des clercs wirft Bergson vor, den universalistischen Standpunkt der Philosophie aufzugeben. Georges Friedman wirft ihm vor, Gegner des Fortschritts zu sein, s.o. Man hätte im Deutschen zum besseren Verständnis Bergsons auf Herders Ästhetik zurückgreifen können, in der die Entstehung von Ordnungsprinzipien als „inneren Prinzipien“ (Leibniz) durch das Gefühl beschrieben wird, oder auf Novalis‘, Herders und Schellings Begriff der Intensität. Ernst Cassirer stellt diese Ideen zusammen mit der Entelechie bei Leibniz, der Ästhetik von Geschmack, Formangleichung und Intuition bei Shaftesbury und Hume und der Einbildungskraft bei Kant in die Tradition der „inneren Form“. Vgl. dazu Viola Nordsieck: Formen der Wirklichkeit und der Erfahrung: Zur Philosophie der Erfahrung bei Henri Bergson, Ernst Cassirer und Alfred North Whitehead, Freiburg i. Br. 2015.
165
Rhythmus als Form der Dauer
Auszug aus dem Konkreten. Es gibt im Denken Bergsons keine Unmittelbarkeit. Tatsächlich wird das Versprechen der Konkretion, das Politzer und Nizan so enttäuschte, doch eingelöst durch eine echte Reflexion des Konkreten, die nicht in der zweiwertigen Logik von Setzung und Negation, von Sein und Nichts verbleibt. Zweitens wurde lange Zeit das subversive Potenzial verkannt, das in Bergsons „femininem“ Denken der Tiefe liegt: komplexe Verhältnisse zu erfassen, die nicht durch klare, in der Fläche darstellbare Kausalrelationen allein bestimmt werden können. Verhältnisse des Einfühlens, der Differenz, der Präzision, der Bewegung und Grenzüberschreitung, des Vagen und Diffusen und nicht zuletzt auch des Alltäglichen. Beide Aspekte gehören zusammen und werden, vor allem seit der Relektüre Bergsons durch Deleuze, nach und nach aktualisiert. Jene engagierten Denker im frühen 20. Jahrhundert waren überzeugt, ein Denken zum Wohl der Menschheit nur als männlich konnotierte Subjektivität fordern zu können, die im Fortschritt sich selbst verwirklicht. Dazu gehört eine Logik von Subjekt und Gegenstand, welche die aktiven Kräfte des Fortschritts auf der Seite des Subjekts sieht, die Passivität als Material auf der Seite des Gegenstands, also der Wirklichkeit, die in eine bessere Welt umzuarbeiten ist. Diese Logik hat Bergson kritisch verworfen und durch die besagte Reflexion des Konkreten ersetzt. Damit ist jenes von Benda und Friedman kritisierte „feminine und pathetische“ Denken gemeint, das ich im Folgenden zu umreißen versuche. Bergson kritisiert eine Tradition der Metaphysik, die ihre Systeme auf der Basis einer Logik von Substanz und Akzidens, von Identität und Differenz aufbaut.7 Ein solches System ergibt, so Bergson, „eine Gesamtheit von so abstrakten und infolgedessen unbestimmten Begriffen, daß man hierin neben dem Wirklichen alles Mögliche und selbst Unmögliches unterbringen kann.“8 Er will Präzision an die Stelle dieser „schlechten“ Abstraktion setzen. Das erfordert, die Unbestimmtheit der Begriffe durch eine Reflexion auf die Prozesse zu ersetzen, die zu ihrer Bestimmung führen. Um diese Prozesse zu denken, bedarf es einer mathematischen Logik. Statt Identität und Differenz als Grundlage vorauszusetzen, sollen sie nun als Ergebnisse gedacht werden, ganz ähnlich wie in der modernen Mathematik die Dimensionen von Raum und Zeit im Verhältnis
7
8
Eine entsprechende Kritik der Metaphysik liefert Ernst Cassirer in Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910). Auch die empfohlene Lösung ist bei Bergson ähnlich wie bei Cassirer und den Marburgern: eine Mathematisierung, die eine Reflexion mehrstelliger und mehrdimensionaler Verhältnisse ermöglicht. Henri Bergson: Denken und schöpferisches Werden, Hamburg 2008, S. 21.
166
Viola Nordsieck
zur Entwicklung metrischer Systeme gedacht werden. Die Ursprünge dieser Prozesse sucht Bergson, in der Tradition von Topologen wie Bernhard Riemann, in qualitativen, lokalen Vorgängen der Differenzierung aus einer Einheit des Unbestimmten.9 Damit löst er ein altes philosophisches Problem der Form. Denn es liegt im Begriff der Form, dass sie vermittelt: durch ihren Umriss als Figur, durch ihre Bedeutung in der Sprache, als Wesen, als Idee, als Funktion, als Strukturprinzip. Es gibt verschiedene Formbegriffe, und sie alle bringen eine Art und Weise der Vermittlung zum Ausdruck. Wie aber kommen wir zu dieser Vermittlung, die in den Formen liegt, und wie können wir das Formlose denken? Bergson gelingt es, diese Schwierigkeit zu überwinden, indem er die Entstehung der Form, aber ebenso die Form selbst als eine Kontinuität der Veränderung denkt. Die Vermittlung besteht nun in der reflektierenden Dynamik zwischen Form und Formentstehung. Um dieses wesentliche Prinzip von Bergsons Denken verständlich zu machen, greife ich auf ein altes Konzept der prozessualen Formentstehung zurück, das im Denken Bergsons eine unauffällige und doch wichtige Rolle spielt, nämlich auf den Rhythmus.
2. Der Rhythmus: Ein Konzept der Formentstehung Ein Rhythmus zeichnet sich, so sind sich die meisten Definitionen einig, durch eine geordnete Folge von Mustern aus. In Musik- und Sprachwissenschaft, Biologie und Dramaturgie beschreibt man ihn als zeitliche Gliederung oder regelmäßige Wiederholung. In der Musiktheorie wird der Rhythmus dabei häufig in einer Weise definiert, welche das Metrum in den Rhythmusbegriff einschließt. So definiert etwa der Musikwissenschaftler Martin Pfleiderer den einzelnen Rhythmus als
9
Bernhard Riemann, ein Lehrer Bergsons, prägte die Topologie in Folge von Leibniz, Gauss und Listing und entwickelte die Richtung der mengentheoretischen Topologie. Mit Bezug auf die Gauß’sche Flächentheorie führt er alle geometrisch relevanten Relationen auf die möglichen Beziehungen zwischen Flächen zurück. Diese möglichen Beziehungen bilden verschiedene Typen von Mannigfaltigkeiten, die sich wiederum aus der intensiven Relationalität des Ortes ergeben, d. h. aus qualitativen Eigenschaften der Gestalt oder der Lage, nicht aber aus extensiven Relationen zu etwas anderem. Diese lassen sich erst im Rahmen einer bereits erfolgten Metrisierung ausdrücken. Der Raum wird so zur relationalen Invariante. Bergson erweitert diese prozessuale Logik der Metrisierung auf alle Bereiche der Vermittlung, was die sinnliche Wahrnehmung einschließt, Denken, Erkenntnis, aber auch evolutive Entwicklungen lebendiger Formen.
167
Rhythmus als Form der Dauer
„zeitliche Struktur einer Klangfolge“,10 welche „die Dauer der Zeit nach jedem fortlaufenden Schritt“11 misst. Das ist so interessant wie problematisch, da das Metrum als Maßeinheit zumindest idealiter eine klare externe Skalierung voraussetzt. Der Rhythmus hingegen ist, wie wir sehen werden, von dieser externen Skalierung nicht abhängig. Er kann zwar durch diese bestimmt werden, er kann sich dieser Bestimmung jedoch auch entziehen. Denn das Verhältnis von Rhythmus und Metrum lässt sich, so werde ich vorschlagen, mit Bergsons mengentheoretischen Konzepten der qualitativen und quantitativen Mannigfaltigkeit analysieren. In der Musiktheorie tritt das Spannungsverhältnis von Rhythmus und Metrum auch dort hervor, wo die Abgrenzung zwischen beiden nicht klar definiert ist. Pfleiderer sieht ein Spannungsverhältnis etwa bei synkopischen Verschiebungen in Blues und Jazz, wenn rhythmische Phrasierungen weiter gespannt sind als metrische. In diesem Sinn steht der Rhythmus in einem Spannungsverhältnis zur Metrik, zu dem Maß, das er ermöglicht, das er aber zugleich immer wieder aufbrechen kann. „Obwohl der Rhythmus die Vielheit zum Vorschein bringt, deren Einheit sich verbirgt“, schreibt Blanchot, „obwohl er regelhaft scheint und sich gemäß der Regel durchzusetzen scheint, bedroht er diese Regel, denn er überschreitet sie immer durch eine Wendung, aufgrund derer der Rhythmus, auch wenn bei ihm das Maß auf dem Spiel steht, sich nicht daran mißt […].“12 Zwar ist die Verschiebung beim Zwölftaktmuster im Blues eher ein Ergebnis harmonischer als rhythmischer Verhältnisse, doch lässt sich daran sehen, dass rhythmische Muster nicht (zwingend) an die Metrik gekoppelt sind bzw. sich nicht aus dieser ergeben – wie man eigentlich vermuten müsste, wenn der Rhythmus (wie in Pfleiderers Definition) die Dauer nach jedem Schritt „messen“ sollte. Denn der Rhythmus ist innerhalb seiner Kontinuität veränderbar, kann also mehrere Metren ,haben‘. Mittlerweile ist auch die westliche Musiktheorie mit Hilfe psychologischer und neurologischer Forschung zu dem Schluss gekommen, dass „wahrgenommene Rhythmen immer subjektiv sind, da sie sich nicht eindeutig und zwingend aus der physikalischen Struktur der Schallereignisse ergeben“.13 Wenn das der Fall ist, können 10 11 12
13
Martin Pfleiderer: Rhythmus. Psychologische, theoretische und stilanalytische Aspekte populärer Musik, Bielefeld 2006, S. 10. Ebd., S. 274. Maurice Blanchot: L’écriture du désastre, Paris 1980. Zit. n. Christopher Fynsk: Vom Rhythmus erfaßt, in: Barbara Naumann (Hg.): Rhythmus: Spuren eines Wechselspiels in Künsten und Wissenschaften, Würzburg 2005, S. 109–122, S. 120. Pfleiderer: Rhythmus (wie Anm. 10), S. 61. Er zitiert Handel 1989, weist aber auch darauf hin, dass die These schon von Wilhelm Wundt 1911 formuliert wurde und „die Kenntnis des Phänomens“ „natürlich älter“ sei.
168
Viola Nordsieck
Rhythmus und Metrum auch nicht in eins fallen, sie können einander höchstens in noch zu klärender Weise beeinflussen. Kognitionswissenschaftler, Psychoanalytiker14 und Entwicklungspsycholo15 gen haben auf dem Wege der Beobachtung von Müttern und Säuglingen, die sich über rhythmische Gestaltungsformen auf einander einstimmen, für sich entdeckt, was Daniel Stern „Vitalitätsformen“ nennt. Der Psychoanalytiker stellt mit diesem Begriff einen Bezug zu „lebensphilosophischen“ Themen her. Rhythmuswahrnehmung wird als Element einer solchen Einstimmung gedacht, also als wesentlicher Bestandteil von Kommunikation und von Wahrnehmung selbst. Die Musikwissenschaftlerin Jin Hyun Kim, die Musik als Form von embodiment erforscht, geht einen Schritt weiter. Sie möchte zeigen, dass das Metrum nicht auf klassische Repräsentationsformen zurückführbar ist,16 sondern sich aus der Aktivität des entrainment ergibt, einer Synchronisation der Musizierenden, wobei „zwei oder mehr unabhängige rhythmische Muster mit einander in Einklang gebracht werden“.17 Diese Richtung der Musiktheorie greift auf kognitionswissenschaftliche Forschungen zurück und denkt den Rhythmus als aktive Gestaltungsform in der Wahrnehmung, die erst die Möglichkeit zur Messung, das Metrum, hervorbringt. Eine deutliche Illustration dieses Spannungsverhältnisses von Rhythmus und Metrum sowie der dem Rhythmus notwendig zugehörigen Aktivität des entrainment ergibt sich aus der polyrhythmischen Musik. An ihr lässt sich zeigen, dass das immer noch gängige Verständnis des Rhythmus als „unterteilend“ im Sinne von „messend“ nicht selbstverständlich ist, ja dass das Zählen selbst zwar dem Metrum, nicht aber dem Rhythmus notwendig angehört. In der westafrikanischen Musik steht für John M. Chernoff die Tatsache im Mittelpunkt, dass es niemals nur einen Rhythmus gibt. Das macht den Versuch unbehaglich zu verstehen, „wie zwei oder mehr Menschen zusammen spielen können, oder sogar noch unbehaglicher: wie überhaupt gespielt werden kann“.18 Es wird 14 15 16
17
18
Vgl. Daniel Stern: Ausdrucksformen der Vitalität: Die Erforschung dynamischen Erlebens in Psychotherapie, Entwicklungspsychologie und den Künsten, Frankfurt/M. 2011. Vgl. Colwyn Trevarthen/Stephen Malloch (Hg.): Communicative Musicality: Exploring the Basis of Human Companionship, Oxford 2009. Kims Überlegungen, auf die ich mich hier beziehe, wurden im Januar 2015 in der Forschergruppe „Ikonische Formprozesse“ an der Humboldt-Universität Berlin vorgestellt, wo sie Juniorprofessorin ist. Vgl. auch Jin Hyun Kim: Embodiment in interaktiven Musik- und Medienperformances unter besonderer Berücksichtigung medientheoretischer und kognitionswissenschaftlicher Perspektiven, Osnabrück 2012. Martin Clayton/Rebecca Sager/Udo Will: In Time with the Music: The Concept of Entrainment and its Significance for Ethnomusicology, 2005, online unter: http://www.open.ac.uk/ Arts/experience/InTimeWithTheMusic.pdf (04.10.2016), S. 1, Übers. v. Verf. John Miller Chernoff: African Rhythm and African Sensibility: Aesthetics and Social Action in African Musical Idioms, Chicago, IL 1979, S. 42, Übers. v. Verf.
169
Rhythmus als Form der Dauer
nicht gemeinsam eingezählt: eine Praxis, die westlichen Musikproduzenten auch bei den ersten Studioaufnahmen von Reggae und Dancehall Kopfschmerzen bereitete. Allein schon der für Reggae charakteristische Offbeat, also die Betonung an unerwarteter Stelle, verleiht den rhythmischen Mustern eine Elastizität über ihr Metrum hinaus. Chernoff formuliert es so: „Die Musiker finden nicht hinein, indem sie einen gemeinsamen Beat einzählen, sondern sie müssen sich in Beziehung zu den anderen setzen.“19 Es sei notwendig, schreibt er, „im Geiste oder im Körper zusätzliche Rhythmen aufrecht zu erhalten zu denen, die wir hören.“20 Diese Notwendigkeit der zusätzlichen Rhythmen kann uns als Schlüssel zum Verständnis des Rhythmus dienen. Was wir als Rhythmus ansehen, wenn wir ihn mit dem Metrum verwechseln, ist eine abstrakte Idee des Rhythmischen: abstrahiert aus dem erfahrenen Rhythmus. Wenn wir messen, also ein objektives Metrum einbauen, konstruieren wir sozusagen das Medium des Rhythmischen außerhalb seiner selbst: als homogenes Schema, das den Rhythmus des Stückes dominiert. Der erfahrene Rhythmus aber wird erfahren im Verhältnis zu anderen Rhythmen. Das erfordert ein aktives Eintreten in dieses Verhältnis: Sowohl das hörende Verstehen als auch das spielende Vollziehen von Rhythmen ist nur möglich als Nach- oder Mitvollzug. Die Wahrnehmung des Rhythmischen gestaltet sich gemäß unserer Aufmerksamkeit: gemäß dessen, was wir hören können, welchen Qualitätsveränderungen wir in der Lage sind zu folgen und auch welche wir selbst zu setzen in der Lage sind. Ohne eigene rhythmische Setzung, ohne Eigenbewegung können wir gar keine Rhythmen erfassen, weil es notwendig ist, sich im Hören und Spielen selbst im Verhältnis zu ihnen zu positionieren. So wäre das Wesen des Rhythmischen nicht als objektiv „unterteilend“ zu fassen, sondern als „positionierend“, dies allerdings im Verlauf einer Bewegung und nicht an einer festen Stelle. Das ist eine einzigartige Charakteristik. „Unterteilend“ ist ein Rhythmus dann immer noch, aber nur aus dem jeweiligen Mitvollzug heraus und in Bezug auf ihn. Die objektive Unterteilung des Metrums kann dementsprechend wechseln. Erst in diesem Kontext wird verständlich, warum ich den Rhythmus als Konzept der Formentstehung bezeichnet habe. Denn der Rhythmus selbst als Form, die sich streckenweise gleich bleibt und dann metrisch skaliert werden kann, entsteht in der Wahrnehmung und Eigenbewegung und wird zugleich für diese Wahrnehmung kenntlich. Genau dieses Ineinander von „in der Wahrnehmung“ und „für die Wahrnehmung“ trifft, wie wir sehen werden, auf Bergsons Verständnis der Konkretion als Prozess zu.
19 20
Ebd., S. 45. Ebd., S. 49.
170
Viola Nordsieck
Altehrwürdig ist das Konzept des Rhythmus insofern, als es in der vorsokratischen Philosophie bereits vorkommt, allerdings noch ohne seinen Aspekt der gleichmäßigen Regel eines Verlaufs. Der Sprachwissenschaftler Émile Benveniste hat gezeigt, dass der griechische Ausdruck rhythmós sich ursprünglich zwar auf ein Konfigurationsgeschehen, eine Anordnung bezieht, doch nicht unbedingt einschließt, dass diese Anordnung sich regelhaft wiederhole.21 In den Schriften Platons finden wir die Anwendung des Rhythmusbegriffes auf den Tanz. Hier erst, so Benveniste, ergibt sich die Entwicklung einer prozessualen Ordnung durch den Rhythmus. Hier wird das spontane Konfigurationsgeschehen erweitert auf eine strukturierende Folge von Bewegungen. In diesem Sinne beschreibt der Rhythmus auch bei Platon schon eine Formentstehung aus dem Unbestimmten, und zwar eine Art der Formentstehung, die bei Bergson in Folge Riemanns mit den Mitteln der mathematischen Topologie erfasst wird. Denn Platon beschreibt im Dialog Timaios die Entwicklung von Formen, im Sinne geometrischer Formen, aus einer ursprünglichen, rein qualitativen Ungeschiedenheit, die er chôra nennt.22 Das Wort ist abgeleitet von choros, Tanzraum, und bedeutet allgemein Umgebung, Platz oder Gegend.23 Timaios ist eine mythische Erzählung über die Entstehung des Kosmos. In dieser Erzählung finden sich dieselben Grundannahmen zur Formentstehung wie in der mathematischen Topologie: In einer „Gegend“, einem noch unbestimmten Ort, vollziehen sich zunächst chaotische Bewegungen, die eine Ordnung entwickeln, und zwar indem sie ihre „Spuren“ oder „Tendenzen“ zu Richtungen „einprägen“. Das Wort „Tendenz“ wird auch von Leibniz verwendet, der als Begründer der neuzeitlichen mathematischen Topologie gelten kann, und stammt von tónos, Spannung. Es ist ein Intensitätsbegriff, das heißt, ein Konzept, das intensive Relationen beschreibt. Intensive Relationen wurden ursprünglich von den Stoikern (Chrysipp, Seneca) entwickelt, von den Scholastikern kategorisiert und von Leibniz mathematisiert. Gemeint sind Relationen qualitativer Art, die ihre Relata nicht unverändert lassen: eine Art von Verknüpfungen, ohne welche das Verknüpfte nicht so wäre, wie es ist. Charles Sanders Peirce beschreibt diese mit einem Begriff aus der Scholastik als „reale Relationen“:
21 22
23
Vgl. Émile Benveniste: Der Begriff des ‚Rhythmus‘ und sein sprachlicher Ausdruck, in: ders.: Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, München 1974, S. 363–373. Diese Rückführung der Ideen zur Formentstehung in der mathematischen Topologie und in der Philosophie Bergsons, Cassirers und Whiteheads auf die platonische chôra wird ausführlich expliziert in Nordsieck: Formen der Wirklichkeit (wie Anm. 6), Kap. 5. Der Begriff der chôra taucht auch auf bei Jacques Derrida, Julia Kristeva und Luce Irigaray. Christoph Horn/Christoph Rapp: Chôra, in: dies. (Hg.): Wörterbuch der antiken Philosophie, München 2002, S. 89f.
171
Rhythmus als Form der Dauer
A real relation subsists in virtue of a fact which would be totally impossible were either of the related objects destroyed; while a relation of reason subsists in virtue of two facts, one of which only would disappear on the annihilation of either of the relates.24 Peirce’ „relation of reason“ lässt sich auch als extensive oder extensionale Relation beschreiben. Sie setzt Metrisierung voraus: die klare Abgrenzung der Relata gegen einander. Da diese objektiv repräsentierbar ist, kann sie durch reason auch als objektiv erkannt und begründet werden. Die „reale Relation“ hingegen ist intensiv und qualitativ. Sie ist nicht objektiv repräsentierbar, sondern an die Erfahrung gebunden. Diese „Realität“ wird in der Scholastik als „Konkretion“ gefasst, ein Begriff, der auf concretio zurückgeht, Calcidius‘ lateinische Übersetzung einer von Chrysipp beschriebenen Kategorie der stoischen Logik: einer „kontinuierlichen“, „intensiven“ Einheit einer „vollständigen gegenseitigen Durchdringung“ von Elementen, die dabei ihre Qualitäten behalten.25 Diese Kategorie Chrysipps entspricht Bergsons durée. Die Idee, dass intensive, qualitative Verhältnisse als Basis und Ursprung einer Systematik extensionaler, messbarer Verhältnisse fungieren, lässt sich also über die Geschichte der intensiven Relationen von der modernen Topologie bis zur platonischen Philosophie zurückverfolgen. Bergsons philosophisches Werk kann, wie oben angedeutet, als Versuch gelesen werden, die Übergänge des Bestimmten aus dem Unbestimmten zu begreifen. Intensität als diejenige Relation, die ein Kontinuum und damit auch Übergänge ermöglicht, steht dabei immer im Mittelpunkt.26 Die Begriffe der „Elastizität“, der „Spannung“ und der „Tendenz“, die von derselben Wurzel (gr. tónos, lat. tensio) stammen wie das Wort „Intensität“, beschreiben intensive Relationen. Sie finden sich bei Bergson überall dort, wo es um die wirkenden Elemente nicht-mechanischer Übergänge geht. Das sind Übergänge, die nicht durch ein bereits bestimmtes Anderes (wie eben eine Mechanik) allein erklärt werden können. Die Kategorie der Intensität nennt Bergson die durée.
24 25 26
Charles Sanders Peirce: A Guess at the Riddle, in: ders.: Writings of Charles S. Peirce, vol. 6: 1886–1890, Bloomington, IN 2000, S. 165−211, S. 177. Vgl. dazu Julia Wildberger: Seneca und die Stoa: Der Platz des Menschen in der Welt, Bd. 1, Berlin 2006. Es war Aristoteles, der in der Physik das Kontinuum als Lösung der zenonischen Paradoxien einführte und an die Erfahrung knüpfte. Bergson schrieb dazu seine thèse supplémentaire, die zweite These zur Erlangung des Doktorgrades. Die erste These war der Essai sur les données immédiates de la conscience, im Deutschen sein erstes Buch: Henri Bergson: Zeit und Freiheit, Hamburg 2006.
172
Viola Nordsieck
In Was heißt Denken? hat Heidegger die ebenso berühmte wie provokative Behauptung aufgestellt, die Wissenschaft denke nicht. Ein nah verwandter Gedanke steckt in Bergsons Konzentration auf die durée. In einem Brief an William James beschreibt Bergson das Erstaunen, das ihn befiel, als ihm aufging, dass in der Wissenschaft die Zeit nicht dauert. „Je m‘aperçus, à mon grand étonnement, que le temps scientifique ne dure pas.“27 Denn, so meint Bergson, in der Wissenschaft würden Qualitätsveränderungen bei der Messung so behandelt, als seien sie Sprünge, instantane Übergänge zwischen zwei Zuständen. Sie werden als extensionale Relation behandelt, als relation of reason, und nicht als intensive Relationen, die dem Übergang selbst angehören. Daraus folgt, dass Qualitäten nur als Eigenschaften von Zuständen beschrieben werden können, die ihrerseits akzidentielle Zustände von statischen Einheiten wie Dingen, Gegenständen, Substanzen sind. Diese Verwechslung ist das Herzstück der Argumentation im Essai sur les données immédiates de la conscience, es handelt sich nämlich um eine logische Verwechslung: die Anwendung einer falschen Kategorie durch zu grobe Systematik, die extensionale Relationen bereits voraussetzt. Bergson will nun zeigen, dass Qualitäten nicht nur aus den Übergängen entstehen, sondern mehr noch: dass Qualitäten selbst nur als Übergänge verstanden werden können. Nur ein Übergang, eine Veränderung kann die verschiedenen, kontrastierenden Aspekte in sich vereinen und doch verschieden bleiben lassen. Dies ist notwendig, um eine Qualität als solche zu erfahren. Was sich überhaupt erfahren und damit überhaupt erkennen lässt, liegt demzufolge nun nicht mehr im Unveränderlichen der Substanz, sondern in der kontinuierlichen Veränderung der durée. Neue Elemente können dabei jederzeit auftreten, ohne die vorigen zu verdrängen. So verändert sich ständig die immanente Gliederung eines Ganzen, das nicht eine Summe seiner Teile ist, sondern aus den vielfachen Beziehungen zwischen seinen Elementen ein je relatives Ganzes ergibt. Dieses Ganze kann weniger als ein Behälter, eher als eine Art Medium für diese Beziehungen gedacht werden. Bergson nennt es „eine Kontinuität, die weder Einheit noch Vielheit ist“,28 sondern eine „Kontinuität des Übergangs, das ist die Veränderung selbst. Diese Veränderung ist unteilbar, sie ist sogar substantiell.“29 Die Kontinuität des Übergangs ist eine Figur aus der Topologie nach Bernhard Riemann, der sie eine von mehreren „Mannigfaltigkeiten“ nennt. Mannigfaltigkeit bezeichnet ein Raster an Möglichkeiten des Übergangs von der Unordnung zur Ordnung. Wenn wir von der Unordnung zur Ordnung übergehen, entstehen feste Strukturen und damit messbare Verhältnisse. Es wird also eine Metrik entwickelt. 27 28 29
Brief an William James, 9. 5. 1908, in: Henri Bergson: Mélanges, Paris 1972, S. 765f. Bergson: Denken und schöpferisches Werden (wie Anm. 8), S. 24. Ebd., S. 27.
173
Rhythmus als Form der Dauer
Dabei können nach Riemann „diskrete Vielheiten“, die selbst Träger ihrer Metrik sind, unterschieden werden von „kontinuierlichen Vielheiten“, deren Metrik nur in Bezug auf etwas Anderes entsteht. Die diskrete Vielheit lässt klar abgegrenzte Elemente in einem homogenen Ordnungsschema des Nebeneinander und Nacheinander erscheinen, dessen Homogenität gerade durch die klare Abgrenzung erzeugt wird und die daher auf qualitative Differenzierung zunächst verzichten kann und muss. So beschreibt Bergson den dreidimensionalen Raum. Die kontinuierliche Vielheit hingegen lässt ihre qualitativ heterogenen Elemente nur als Bestandteile eines Ganzen auftreten, dessen Kohärenz dadurch entsteht, dass die Elemente zueinander und zum Ganzen in intensiven oder „realen“ Relationen stehen. Ihre Verhältnisse zueinander und untereinander sind dasjenige, was die qualitativen Elemente selbst bestimmt. Sie können nicht getrennt voneinander präsent werden. Diese Kontinuität ist die „reine Dauer“, eine Art Urform der durée, die Bergson im Essai beschreibt. Ihre Qualität entfaltet sich in der Beziehung der Elemente untereinander. „Tatsächlich“, so Bergson in der ersten Bestimmung der durée im Essai, „organisiert sich jedes Mehr an Reiz mit den vorangegangenen Reizen, und das Ganze macht auf uns den Eindruck einer musikalischen Phrase, die fortwährend im Begriffe ist, zu verklingen und sich unausgesetzt in ihrer Totalität durch das Hinzukommen eines neuen Tons modifiziert.“30 In den folgenden Schriften entwickelt Bergson den Begriff der durée weiter, doch ihre bleibende Eigenschaft ist die des heterogenen und damit flexiblen Ganzen. Sie kann andere Strukturen integrieren und kann auch die Logik homogener Ordnungsschemata in ein Ganzes einbeziehen, doch wo sie fehlt, kann kein Ganzes entstehen. Sie übernimmt damit die Funktion der Substanz. Zugleich wird sie zur logischen Basis eines Übergangs, der nicht bloß zwischen zwei bereits fertig bestimmten Elementen vermittelt, sondern die Bestimmtheit des einen aus der Unbestimmtheit des anderen ableitet und damit selbst zu dieser werdenden Bestimmtheit gehört. Eine solche qualitative Mannigfaltigkeit ist also ein Rhythmus, der nur im Verhältnis zu anderen Rhythmen erfahren werden kann. Das Metrum hingegen ist eine quantitative oder homogene Mannigfaltigkeit, deren einzelne Elemente sich aus ihrem Verhältnis zueinander bestimmen, nicht aus ihrer Qualität. Dieses Verhältnis ist objektiv und messbar. Der Rhythmus hingegen kann sich verändern, ohne seine Kontinuität zu verlieren, so dass sich dann auch das messbare Verhältnis der musikalischen Elemente untereinander und damit das Metrum verändert.
30
Bergson: Zeit und Freiheit (wie Anm. 26), S. 81.
174
Viola Nordsieck
3. Rhythmische Formentstehung in der Philosophie Bergsons Es ist die sinnliche Wahrnehmung, die Bergson mit den Mitteln der qualitativen Mannigfaltigkeit zu reflektieren sucht. Er denkt sie als ein Kontinuum der Formbildung, in der jedes neue Ereignis, also jedes Auftreten neuer Qualitäten, das Ganze in seinem inneren Zusammenhang verändert. Es handelt sich dabei um ein rhythmisches Kontinuum. Das lebendige Bewusstsein denkt er als polyrhythmisch: Es hat seine eigenen Rhythmen und trifft mit den Rhythmen der wahrgenommenen Welt aufeinander. Die ausführlichste Erklärung dieses Aufeinandertreffens und des Resultats in der „konkreten“ (s. o.) und „komplexen“ Wahrnehmung vollführt er in Matière et mémoire,31 wobei das Gedächtnis im Wesentlichen für die Kontinuität mit der individuell erlebten Vergangenheit steht. Ein Unterschied zwischen Bergsons nur angedeuteten Philosophie des Rhythmus und der ausgearbeiteten Philosophie des Rhythmus eines Maldiney ist vorab zu betonen: Maldiney beruft sich einerseits auf den oben bereits zitierten Benveniste, der sich von der fälschlich überlieferten Etymologie des „Strömens“ im Rhythmischen absetzen möchte, und andererseits auf Erwin Straus’ Unterscheidung von Gefühl und Wahrnehmung, sensation und perception, wobei dem Gefühl das eher unbewusste, chaotische Strömen zugeordnet wird, der Wahrnehmung aber die bewusste und ordnende Konfiguration, zu der das Rhythmische hin strebt.32 Das scheint tendenziell zum Konfigurierenden, zum schon Prägnanten hinzuführen, welches sich das chaotische Strömen des Gefühlten als eine Art Material für die Formung zunutze macht. Eine solche Emergenztheorie des Rhythmus, der aus dem formlos Dahinströmenden auftaucht, ist nicht mit Bergsons intensiver Vielheit in Deckung zu bringen. Sie erinnert eher an William James, der behauptet, dass wir die Diskontinuität der Wahrnehmung als Abweichung von der Kontinuität des Fließens erfassen, nicht aber dieses selbst. Um diese fehlende Kontinuität, die nicht selbst wahrgenommen werden kann, zu ersetzen, gibt er dem Bewusstsein eine kategoriale Form als „Funktion“33 des Erkennens. Bergsons Position ist, bei aller Nähe zu James, an dieser Stelle eine andere. Er würde sagen, dass wir weder Strom noch Puls für sich, sondern nur das Verhältnis von Diskontinuität und Kontinuität, von Puls und Strom erfassen. Fließen ist nicht
31 32 33
Henri Bergson: Materie und Gedächtnis: Eine Abhandlung über die Beziehung von Körper und Geist, Hamburg 1991. Vgl. dazu Ronald Bogue: Deleuze on Music, Painting and the Arts, New York 2003. Vgl. William James: „Gibt es ein ‚Bewußtsein‘?“, in: Pragmatismus und radikaler Empirismus, Frankfurt/M. 2006, S. 7–27, darin v.a. S. 8: „Diese Funktion besteht im Erkennen.“
175
Rhythmus als Form der Dauer
ursprünglich, so Bergson, und es kann auch kein reines, veränderungsfreies Fließen geben. Es gibt keinen ursprünglichen Gefühlsbereich: Die Rede davon sei eine Projektion des Unbestimmten, das man sich dann als eine Art formloser Masse oder bloßer Materie vorstellt, aus der unter Anwendung von Ordnungsschemata eine Form geknetet würde. Woher diese Ordnungsschemata kommen, bliebe damit auch ungeklärt. Weder Strom noch Puls können wir also laut Bergson erfassen, sondern nur ihr Verhältnis: ihre intensive Relation, die uns erst ihre beiden oder mehreren Elemente erschließt. Dabei wird aber im Entstehen rhythmischer Gestalten unser Puls in dieses Verhältnis gebracht, und daraus allein ergibt sich die Form. Statt auf einen ungeordneten Strom im Unbestimmten, das uns irgendwie als Material zugänglich wäre, konzentriert sich Bergson auf die Übergänge im Unbestimmten selbst. Das kann so nur gedacht werden, wenn eben nicht ein Rhythmus gedacht wird, sondern viele – und allein das Einbeziehen und Ausschließen ihrer Wirkungen konfiguriert „den“ Rhythmus, dessen Konfiguration wir als Bestimmtes, Geformtes in den Blick nehmen können. Einen mystisch unaussprechlichen Bereich des an sich Ungeformten brauchen wir dazu gar nicht erst zu erfinden – denn eine Materie ohne Form lässt sich, wie Bergson sehr aristotelisch betont, ohnehin nicht denken.34 Bergsons Reflexion rhythmischer Gestaltungsmuster kommt also niemals ohne ihr Verhältnis untereinander aus, ohne die Art, wie sie sich aufeinander auswirken. Denn diese Wirkungen stellen den Übergang ins Prägnante dar. Wenn Bergson selbst vom Rhythmus spricht, dann nimmt er ihn meistens als eine Art Puls, als das Tempo oder den Bewegungsablauf einer Dauer: „Die Permanenz einer Sinnesqualität besteht in [der] Wiederholung von Bewegungen, wie das Leben aus der Folge von Herzschlägen besteht.“35 Etwas kann sich nur bleibend bemerkbar machen und auswirken, indem es sich als Bewegungsfolge perpetuiert. Die Art des Auswirkens hängt wieder mit der Spannung zusammen, also der intensiven Relationalität, die dem jeweiligen Rhythmus eigen ist. Die innere Spannung eines Pulses bestimmt auch die Arten, wie er sich auf andere Rhythmen auswirken kann. Durch die Qualität, also die Wirkung, welche die rhythmische Eigenkonfiguration als Verlaufsform ausübt, ist es dem Bewusstsein möglich, etwas von den „Schwingungen“ und „Vibrationen“ der Wirklichkeit zu erfassen. Das wiederum funktioniert nur, weil das Bewusstsein selbst der Wirklichkeit immanent ist. Bewusstsein
34 35
Denn was es nicht geben kann, ist „eine unbegreifliche Wirkung dieser Materie ohne Form auf dieses Denken ohne Materie“. Bergson: Materie und Gedächtnis (wie Anm. 31), S. 7. Henri Bergson: Schöpferische Entwicklung, Jena 1921, S. 305.
176
Viola Nordsieck
und Wirklichkeit sind in diesem Vorgang Teile eines Ganzen, die intensiv auf einander bezogen sind. Das heißt, der eigene Rhythmus der Dauer des Bewusstseins spielt zusammen mit den je eigenen Rhythmen der Dauer der wahrgenommenen Wirklichkeit. Es gibt hier kein Verhältnis von Innen und Außen, ebenso wenig von Subjekt und Gegenstand. Nur so lässt sich, Bergson zufolge, der Vorgang erklären, durch welchen wir in unserer Wahrnehmung einen Zustand unseres Bewußtseins und eine von uns unabhängige Wirklichkeit zugleich erfassen. […] Letzten Endes haben wir keine Wahl: wenn unser Glaube an ein mehr oder minder homogenes Substrat der Empfindungsqualitäten begründet ist, so ist dies nur durch eine Tat möglich, welche uns in der Qualität selbst etwas erfassen oder erraten läßt, das über unsere Empfindungen hinausgeht, als ob diese Empfindung schwanger von geahnten und verborgenen Einzelheiten wäre. Ihre Objektivität, d. h. das was sie an Mehr hat als was sie gibt, bestünde dann gerade, wie wir durchblicken ließen, in der ungeheuren Mannigfaltigkeit der Bewegungen, die sie gewissermaßen als Chrysalide im Innern ausführt. An der Oberfläche liegt sie unbeweglich; aber sie lebt und vibriert in der Tiefe.36 Hier haben wir die „Prägnanz“ der Empfindung, eine Paraphrasierung von Leibniz, der eine Intensitätsbeziehung mittels einer Vielfalt „kleiner Wahrnehmungen“ beschreibt, durch welche die Gegenwart mit der Zukunft schwanger ist.37 Die Empfindung „lebt und vibriert in der Tiefe“, das heißt sie ist angerührt, in Schwingung versetzt durch Bewegungen, die in ihrer prägnanten Konfiguration nicht selbst als Gegenstände vorkommen, sondern in ihr nur ihre Wirkung entfalten – aus dem Unbestimmten heraus. Die Kontinuität zwischen wirklichen Bewegungen und ihrer Wirkung auf die innere Organisation der Empfindung, dieser topologischen Chrysalide, ist die Qualität selbst. Die rhythmische Spannung, die uns diese Vibration mitteilt, wird erzeugt durch ein Wechselspiel von Kontraktion und Expansion, also zwischen dem Zugriff der Wahrnehmung und dem Sich-Entfalten von Wirkungen. Auf komplexerer Ebene ergeben sich dadurch, wie Bergson schreibt, Bewegungen des Abstiegs und des Aufstiegs. Dabei hat die Kontraktion stets etwas Aktives, Mechanisches, damit Instantanes an sich und konzentriert sich auf den Moment. Die Spannung, die sie enthält, braucht keine Zeit, sich zu entfalten. Die Expansion aber entwickelt sich, und Bergson 36 37
Bergson: Materie und Gedächtnis (wie Anm. 31), S. 202f. Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, in: ders.: Philosophische Werke in vier Bänden, Bd. 3, hg. v. Ernst Cassirer, Leipzig 1926, S. 11.
177
Rhythmus als Form der Dauer
stellt eindeutig fest, dass sie die kontinuierliche, die eigentliche Trägerin des Rhythmus ist. Denn die Kontraktion „haspelt nur ein durchaus fertiges Knäuel ab; prinzipiell könnte sie sich fast momenthaft vollziehen, ähnlich einer gespannten Feder, die abschnappt. Ihrem Wesen nach dagegen dauert die zweite, die einer Arbeit des Reifens oder Schaffens entspricht und zwingt jener ersten, von ihr unabtrennbaren, ihren Rhythmus auf.“38 Kontraktion liefert uns das Metrum: Die einzelnen, kontrahierten Punkte können wiederholt werden, sie sind erfasst und fixiert. Bergson macht deutlich, dass eine solche Vielheit, die sich über die messbare Beziehung ihrer Elemente untereinander definiert und darum in eine Formel kontrahiert werden kann, nur in Abhängigkeit vom intensiven Ganzen einer Dauer existieren kann. Darum wird der Rhythmus einer lebendigen Form nicht durch den Rhythmus der Materie determiniert, sondern der Rhythmus der Materie entsteht erst im Zusammenhang der lebendigen Form und wäre ohne sie weder zu erfassen noch in seiner Ordnung zu bestimmen.39 Expansion hingegen ist innerlich gegliedert durch den élan, das heißt, sie ist elastisch. Élan charakterisiert bei Bergson eine Vielheit, die sich durch Neuzugänge beweglich hält, also durch eine ständige Veränderung der Komponenten und damit auch der Spannung zwischen ihnen. Der Begriff des élan wird in der Schöpferischen Entwicklung ausgearbeitet als Formbildungsprinzip des Lebens, das dadurch gekennzeichnet ist, dass es „sich aktualisiert, indem es sich ausdifferenziert, entwickelt, materialisiert. Dabei gilt die Materie nicht als Hindernis, welches dem schöpferischen Impuls entgegen steht und ihn stört. Die Materie ist selbst eine Bewegung: die Bewegung, durch die der élan vital sich aufgliedert, sich unterscheidet und sich auf sich selbst bezieht.“40 Elastizität, élan ist also die Kohärenz eines intensiven Ganzen, die je individuelle und konkrete Art, in der seine wirkenden Elemente aufeinander bezogen sind. Hingegen steht die Kontraktion für eine Verdichtung von Qualitäten durch aktives Erfassen. „Eben die erste Funktion der Wahrnehmung ist es, eine Reihe elementarer Veränderungen durch Vollziehen einer Verdichtung in Form der Qualität
38 39
40
Bergson: Schöpferische Entwicklung (wie Anm. 35), S. 17f. Hier darf daran erinnert werden, dass Bergsons mathematischer ,Lehrer‘ Riemann auch einer der Vordenker der Quantenfeldtheorie ist und Bergsons Überlegungen zur Materie in dieser Tradition stehen. Nadia Yala Kisukidi: Néant, négation, négativité dans L‘Évolution créatrice de Bergson, in: Frédéric Worms/Anne Fagot-Largeault (Hg.): Annales bergsoniennes IV, Paris 2008, S. 399– 410, S. 406, Übers. v. Verf.. Das Zitat lautet: „[...] s’actualise en se défaisant, en se matérialisant. La matière n’est pas une chose-obstacle qui fait face à l’impulsion créatrice et l’interrompt. La matière est proprement le mouvement par lequel l’elan vital se divise, se différencie, en s’inversant.“
178
Viola Nordsieck
[...] zu ergreifen.“41 Eine solche Verdichtung geschieht, wenn sich die reine Wahrnehmung, die sich „zur Materie wie der Teil zum Ganzen verhält“,42 mit der Dauer des bewussten Erlebens schneidet. Denn in der reinen Wahrnehmung wird der wahrnehmende Leib momentan dem Rhythmus der Materie unterworfen, der jedoch als Ordnungsschema erst in diesem Zusammentreffen konstituiert wird. Die eigentliche Wahrnehmung, die Bergson die „komplexe und konkrete Wahrnehmung“ nennt, kommt erst zustande, wenn dieser materielle Rhythmus durch die aktive Bewegung des Erfassens mit dem Rhythmus des Erlebens zusammentrifft. „In Wirklichkeit gibt es keinen durchgehenden Rhythmus der Dauer; man kann sich sehr verschiedene Rhythmen vorstellen, langsame oder schnellere [...]“, schreibt Bergson in Materie und Gedächtnis. „Das will sagen, daß wir im Akte der Wahrnehmung etwas erfassen, was über die Wahrnehmung selbst hinausgeht, ohne daß deshalb die materielle Welt sich wesentlich von der Vorstellung unterscheidet, welche wir von ihr haben.“43 Das Bestimmte der Vorstellung steht in Kontinuität zum Unbestimmten, das über die Vorstellung hinausgeht und sie mit bewirkt. Erst damit, was Bergson das „Gedächtnis“ nennt, wird dieses Erfassen durch die Wahrnehmung wirklich zu einer Erfahrung. Das Gedächtnis ist so etwas wie das individuelle Zusammenspiel der verschiedenen Rhythmen des eigenen Erlebens. Im Zusammentreffen der durée des eigenen Erlebens mit der durée der „reinen Wahrnehmung“, also der direkten Wirkung des Materiellen, sowie der Kontraktion, der aktiven Eigenbewegung des wahrnehmenden Bewusstseins, entsteht etwas völlig Neues. Dieses Neue hat wiederum eine eigene Qualität und Wirkkraft, entfaltet einen eigenen Rhythmus, der die anderen Rhythmen in ihrer Wirkung integriert. So lässt sich verstehen, warum Bergson meint, die elastische, lebendige Expansion der durée zwinge der Kontraktion ihren Rhythmus auf. Denn die eigentliche Wirkung kann sich ja überhaupt nur entfalten in der durée. Das geistige Leben wird überall bewegt, angeregt und aufgestört durch die wirkenden Explosionen solcher verdichteten Qualitäten, die, um in der Metapher zu bleiben, synkopische Verschiebungen zu den bestehenden Rhythmen herstellen. In Le Rire unternimmt Bergson eine Analyse des Komischen, die für sein Verständnis der Formbildung von Bedeutung ist. Das „kleine Problem“ des Komischen, wie er es entschuldigend nennt, „entzieht [...] sich jedem, der es fassen will“.44 Das Komische ist zunächst unbestimmt, ungeformt, formlos; es „glitscht“ (glisse) davon.
41 42 43 44
Bergson: Schöpferische Entwicklung (wie Anm. 35), S. 305. Bergson: Materie und Gedächtnis (wie Anm. 31), S. 60. Ebd., S. 206. Henri Bergson: Das Lachen: Ein Essay über die Bedeutung des Komischen, Hamburg 2011, S. 13.
179
Rhythmus als Form der Dauer
Bergson sucht die Veränderungen im Sich-Entziehenden nachzuvollziehen, und was er zu finden meint, ist ein sich wiederholendes Muster: Das Komische, so argumentiert er, entsteht immer dann, wenn wir etwas erwarten und etwas anderes, Unerwartetes bekommen. Jedoch nicht irgendetwas: Das Komische entsteht dort, wo wir die fließende, elastische Bewegung des Lebendigen erwarten, des belebten und denkenden Wesens, das im Umgang mit seiner Situation reagiert und handelt, und wo diesem Wesen statt dessen auf einmal die starre, die rigide, die mechanische Bewegung des „Materiellen“ aufgezwungen wird. Das Komische entsteht durch das Erstarren des élan: eine „komplexe Situation“ zwischen Spannung und Elastizität, intensiver Kohärenz, die „durch den Zusammenbruch von Beweglichkeit gekennzeichnet ist“.45 Das Ausrutschen und Hinfallen auf der Straße, die unbewussten Reaktionen des Eifersüchtigen: nicht etwa Schadenfreude sei hier der eigentliche Lachreiz, sondern ein dinglicher Schematismus, der an die Stelle denkender und empfindender Eigenbewegung tritt. Es ist ein Verlust des Rhythmus im Lebendigen an die Starrheit der Mechanik. Das Lebendige hat also eigene Rhythmen, das lebendige Bewusstsein hat viele Rhythmen. Die Polyrhythmie des lebendigen Bewusstseins ist philosophisch insofern von Interesse, als sie nicht den Anspruch erhebt, der menschliche Geist könne das Erkannte in irgendeiner Form enthalten oder es sich gar aneignen. Bergson ist sehr klar in diesem Punkt: Das Bewusstsein ist der Wirklichkeit immanent, nicht umgekehrt. Das Bewusstsein zieht in die Kontraktion seiner Vorstellung Bilder hinein, für die das Wirkliche nicht Urbild ist, sondern wirkende Ursache in einem rhythmischen Prozess. Trotzdem gelingt es, Rückschlüsse auf die Strukturen dessen zu ziehen, was sich da entzieht. Denn es bestehen im Wahrnehmen, Fühlen und Denken eben intensive Relationen zur Wirklichkeit: das heißt, die Qualitäten des Wahrgenommenen beeinflussen die Qualitäten des wahrnehmenden Bewusstseins direkt und transformieren sie. Im Essai hebt Bergson als ein typisches Beispiel solcher Transformationen die Synchronisation hervor, die Angleichung der psychischen Bewegungen an einen wahrgenommenen Rhythmus, also eine Form dessen, was heute entrainment genannt wird. Der Rhythmus bewirkt also nicht nur die Synchronisation von Darsteller und Zuschauer/Zuhörer, sondern er schafft auch die Empfänglichkeit für das Kunstwerk und seine Botschaft. Und er tut das, indem er die ,aktiven Kräfte unserer Persönlichkeit‘, die, wenn das Kunstwerk Aufmerksamkeit begehrt,
45
Johannes Schick: Erlebte Wirklichkeit: Zum Verhältnis von Intuition zu Emotion bei Henri Bergson, Berlin 2012, S. 185.
180
Viola Nordsieck
zu ,widerstrebenden‘ werden, ,einschläfert‘ und so ,das Gewebe jener psychologischen Vorgänge, die unsere Geschichte ausmachen‘, zertrennt.46 Hier ist es der Rhythmus der Kunst, der die Wahrnehmung dominiert. Später, nachdem er sich in Materie und Gedächtnis mit den „Rhythmen verschiedener Elastizität“ auseinandergesetzt hatte, trennt Bergson „die einschläfernde Wirkung des regelmäßigen Takts […] von der unregelmäßigen Strukturierung, die der Rhythmus bewirkt.“47 Einem solchen Rhythmus kann man nachspüren, ihm folgen, um dann zu beginnen, ihn zu übernehmen, zu beherrschen, zu variieren. Bergson entwickelt diesen Übergang vom Folgen zum Führen am klassischen Beispiel von Diktion und Rhetorik: Das heißt aber, daß das Kind sich zuerst ganz in ihn einfühlen muß, oder – mit anderen Worten – es muß etwas von der Inspiration, die dem Werk zugrunde liegt, in sich aufnehmen. Wie sollte es das fertigbringen, wenn es sich nicht in den besonderen Gestus, in die besondere Haltung, in den besonderen Rhythmus des Autors einfühlt? Das heißt aber, es mit lauter Stimme lesen. Die nuancierende Intelligenz kommt erst später, aber Nuance und Farbe sind nichts ohne die Zeichnung. Der eigentlich verstandesmäßigen Auffassung geht die Wahrnehmung der Struktur und der Bewegung voraus, d. h. bei der Seite, die man liest, die Gliederung der Perioden und der Rhythmus. Diese richtig zu markieren, sich Rechenschaft abzulegen über die zeitlichen Beziehungen zwischen den verschiedenen Sätzen eines Abschnittes und den verschiedenen Satzgliedern, dem crescendo des Gefühls und des Gedankens ohne Unterbrechung zu folgen bis zu dem Punkte, der sozusagen den musikalischen Höhepunkt bildet: darin besteht zunächst die Kunst der Diktion.48 Hier wird die Nähe des bergsonianischen Denkens zum Pragmatismus deutlich. Denn das Einfühlen in die Rhythmen des Wirklichen gilt ihm nicht nur als Teil der „Kunst der Diktion“, sondern jeder Fähigkeit zum Handeln überhaupt. Aktives Handeln steht in kontinuierlicher Verbindung zu den aktiven, erfassenden Elementen
46 47
48
Christoph Kersten: Partizipation und Distanz: Henri Bergsons hermeneutische Philosophie, Freiburg i. Br. 2015, S. 664. Ebd., S. 665. Kersten bezieht sich dabei auf Hisashi Fujita: La question du rythme et de la mesure dans la philosophie de Bergson, in: Études de langue et littérature française 89 (2006), S. 74–89. Bergson: Denken und schöpferisches Werden (wie Anm. 8), S. 104f.
181
Rhythmus als Form der Dauer
der Wahrnehmung. Freies Handeln versteht Bergson als Handeln aus einer Situation heraus, wobei das Handeln wenig frei und fremdbestimmt ist, wenn nur wenig von all dem erfasst wird, was in dieser Situation zur Wirkung kommt. Je mehr aber erfasst wird, je mehr und vielfältiger „andere“ Rhythmen in Beziehung zu den „eigenen“ gesetzt werden, desto „freier“ wird für Bergson auch die daraus erfolgende Handlung sein. Man beachte, dass in dieser Vorstellung des Handelns zunächst kein separates „Subjekt“ der Handlung vorkommt. Ein solches „Subjekt“, eine agency, die als eigene Größe losgelöst von der komplexen Passivität der Erfahrung gesetzt würde, ist in Bergsons Augen eine Hilfskonstruktion, die einmal mehr aus einem Mangel an logischer Präzision erwächst. Denn das Handeln selbst als Prozess lässt sich nur im Verhältnis zu jener komplexen Passivität der Erfahrung denken, aus der es erwächst und die, wie wir gesehen haben, rhythmisch strukturiert ist. Natürlich ist da die lebendige Individualität der Handelnden, die selbst eine intensive Ganzheit ist – und diese kommt nur in den Prozessen der Erfahrung vor. Setzt sie sich selbst als Person, als Ich, als Gestalt, um sich objektiv betrachten zu können, so ist dies nur ein Teilelement der intensiven Ganzheit des lebendigen Individuums. Denn auch für das Selbst gilt: Die Rhythmen des Ganzen können sich wandeln, ohne dass die Kontinuität endet. Das Einfühlen in die Rhythmen des Wirklichen ist somit auch eine Bedingung von Erkennen und philosophischem Denken. Bergsons Methode des philosophischen Denkens nennt er Intuition. Die Intuition wird methodisch dem (nur) aktiven Intellekt gegenüber gestellt. Sie bezeichnet ein zunächst passives, in Folge aber vermittelnd-mediales Verhältnis zum philosophischen Gegenstand, ein Sich-Versenken und Sich-Bewegen-Lassen. Zudem ist es wichtig zu betonen, dass Intuition hier nicht, wie wir es in der deutschsprachigen Tradition nach Leibniz kennen, als Begriff der unmittelbaren Anschauung verstanden werden darf. Intuition nach Bergson beschreibt „ein[en] unmittelbare[n] Kontakt“, aus dem „eine geistige Bewegung hervor[...]“49 geht. Diese geistige Bewegung wird ebenfalls ihren eigenen Rhythmus entwickeln. „Das bedeutet, daß die Analyse mit Starrem, Unbeweglichem operiert, während die Intuition sich in die Bewegung oder, was auf dasselbe hinauskommt, in die Dauer hineinversetzt.“50 Es wird hier also keine philosophische Sicht auf etwas Gegebenes oder die Prinzipien des Gegebenen beschrieben, keine Form der Anschauung, die etwas Statisches, Ewiges erfassen könnte. Weniger noch eine „unmittelbare“ Anschauung, die ohne zwischengeschaltete Hilfsmittel wie das Denken oder die Symbole auskäme. Stattdessen ähnelt Bergsons nicht visuell gedachte Intuition viel mehr der 49 50
Ebd., S. 131. Ebd., S. 202.
182
Viola Nordsieck
produktiven Einbildungskraft bei Kant, die sich metaphorischer Hilfen bedient, Formen und Entwicklungen nachspürt und die Imagination in einem zeitlichen Verlauf mit Denken und Wahrnehmung abgleicht.51 Ohne die Intuition liefe die philosophische Analyse Gefahr, die Eigenbewegung des Wirklichen auf ein starres Schema zu übertragen. Dann verfiele sie in einen alten Fehler, gegen den Bergson sich in seinem ganzen Werk immer wieder wendet: die Vorstellung eines homogenen Zeitverlaufs. Die Intuition will vielmehr den heterogenen, verschiedenen Zeitverläufen, also den Rhythmen des Wirklichen nachspüren. Darum will sie sich zunächst den Rhythmen dessen überlassen, was sie zu verstehen sucht. „Auf der Seite, die sie in dem großen Buch der Welt aufgeschlagen hat, möchte die Intuition Bewegung und Rhythmus der Komposition herausfinden und die schöpferische Entwicklung nacherleben, in dem sie sich einfühlend in sie versenkt.“52 Intuition bedeutet Einfühlen, Folgen und Anpassen. Daraus entsteht dann der eigene Rhythmus des Denkens, in den der gefühlte Rhythmus zwar eingegangen ist, zu dem er jedoch in keiner Art von Abbildverhältnis steht. Dem erfassenden und schematisierenden Intellekt kommt dabei die Aufgabe zu, Bilder und Schemata zu schaffen, die die Intuition verwenden kann. Sie arbeitet mit „konkreten Ideen“, die „einen Anflug des Bildhaften besitzen“.53 Dass sie bildhaft sind, bedeutet für Bergson, dass diese Ideen Eigendynamik und Wirkkraft besitzen. „[...] so bringt uns auch die Intuition unserer Dauer [...] in unmittelbaren Kontakt mit einer Kontinuität andersartiger Dauern, die wir nach unten oder nach oben im Sinne einer nachlassenden oder steigenden Spannung nachzuerleben versuchen.“54 Durch dieses Nacherleben von Rhythmen ermöglicht die Intuition letztlich das Denken.
4. Der Rückgang ins Unbestimmte als Vermeidung „falscher Probleme“ Indem er die Formen der Wahrnehmung als Prozesse der Formentstehung reflektiert, überwindet Bergson die Schwierigkeiten, die darin liegen, Erkenntnis und Wahrnehmung als eine Art Erfassen des statischen Inhalts oder des passiven Materials der Wirklichkeit durch das aktive Potential des Subjekt zu denken. Hinter
51 52 53 54
Vgl. dazu Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe Bd. 10, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1974. Bergson: Denken und schöpferisches Werden (wie Anm. 8), S. 105. Ebd., S. 58. Ebd., S. 210.
183
Rhythmus als Form der Dauer
diesen bis heute verbreiteten Theorien der Wahrnehmung, die in der Tradition der frühen Neuzeit Erkennen als ein höheres und sinnliches Wahrnehmen als ein niederes Vermögen des Subjekts verstehen, steckt der Versuch, ein adäquates Abbild der Wirklichkeit zu erlangen, das mit dieser verglichen werden könnte. Ich und Welt werden dann als zwei Extensionen gedacht, die Inhalte enthalten, und das Erkennen wird zur Fähigkeit (facultas) des Urteilens über die Äquivalenz dieser Inhalte. Das heißt nichts anderes, als dass die „Form“ des Wahrgenommenen mit der „Form“ des Wirklichen verglichen werden soll; und die Theorien der Wahrnehmung und der Erkenntnis müssen dann komplizierte Vermittlungsfunktionen zwischen beiden konstruieren, um diesen Vergleich möglich zu machen. Wahrnehmungstheorie wird zur Repräsentationstheorie. Aus diesem Grund wird das Erkennbare und Denkbare üblicherweise als Sichtbares oder sichtbar Gemachtes gedacht. Den Übergang aber vom noch nicht Repräsentierten zum Repräsentierten kann man nicht sehen und auch nicht visualisieren, so dass er meist aus dem Blick gerät. Dabei geschieht es nicht selten, dass der Übergang entweder ausgelöscht und geleugnet wird, oder aber nur als Modell, als Rückdeutung aus dem Sichtbaren mit Mitteln der Symbolisierung gedacht werden kann. Ein wesentliches Prinzip von Bergsons Philosophie liegt gerade darin, Verwechslungen und die faux problèmes, die durch sie entstehen, zu vermeiden. Nehmen wir die oben beschriebenen Wahrnehmungstheorien als Beispiel, die zu Repräsentationstheorien werden. Hier werden einige Formbegriffe miteinander verwechselt: die Form als Gestalt, das heißt die Erscheinung des Phänomens für das wahrnehmende Subjekt, und die Form als Funktion, das heißt, die Bedingungen der Möglichkeit für diese Erscheinung.55 Der Rückgang ins Unbestimmte und die Reflexion auf die Prozesse der Formentstehung ist Bergsons engagierter und pragmatischer Lösungsansatz, um solche Verwechslungen auf Grund „fauler“ Anwendung von Relation und Maß56 zu vermeiden. Das Beispiel der Formentstehung im Rhythmischen hat gezeigt, wie eine solche Reflexion funktionieren kann. Der Rückgang vom Bestimmten ins Unbestimmte stellt in diesem Fall eine Verfolgung der Spuren von Vielen im Einen dar, wobei das Eine gedacht werden
55
56
Mit dem Begriff der „Funktion“ greife ich auf Ernst Cassirer zurück, der das kantische Apriori des Subjekts in die Bedeutungsfunktion einer symbolischen Form umgearbeitet hat. Die Übereinstimmungen zwischen Cassirer und Bergson habe ich umfassend herausgearbeitet in Formen der Wirklichkeit und der Erfahrung. Nordsieck: Formen der Wirklichkeit (wie Anm. 6). Michel Serres: Atlas, Berlin 2005. S. 67.
184
Viola Nordsieck
kann als die Situation der „konkreten und komplexen Wahrnehmung“ (Bergson), eine Polyrhythmie von Bewusstsein und Leben. Was sich auf diese Wahrnehmung auswirkt, sind nicht die klar definierbaren Eigenschaften der Objekte, sondern die Art und Weise, auf die ihre „zusätzlichen Rhythmen“ als Verhältnis zu unseren eigenen Rhythmen in unserer Wahrnehmung auftauchen und ihre intensive Vielheit neu gestalten.
Oswald Schwemmer
Form als Prozess Whiteheads Konzept einer prozesstheoretischen Metaphysik
1. Whiteheads Intuition Alfred North Whitehead ist ein schwieriger Autor. Jahrelang hat er über eine prozesstheoretische Konzeption der Wirklichkeit nachgedacht, ohne sie als ein umfassendes und in sich geschlossenes System darzustellen. Als Teilstück seiner Konzeption hat er allerdings in seinen Publikationen zur Theoretischen Physik, vor allem in The Enquiry Concerning the Principles of Natural Knowledge (1918) und The Concept of Nature (1920), den Zusammenhang von Bewegung und Äther und von Raum und Bewegung prozesstheoretisch darzustellen versucht. In seinem späteren Werk Process and Reality. An Essay in Cosmology1 von 1929 hat er dann eine Gesamtdarstellung seiner Philosophie vorgetragen. Es ist unmöglich diese Darstellung ohne Verlust auf eine knappe Übersicht zu reduzieren. Gleichwohl habe ich den Versuch unternommen, wenigstens einige der grundlegenden Gedanken Whiteheads darzustellen und so die Gesamtkonzeption seiner Philosophie zu skizzieren. Die prinzipielle Intuition dieser Konzeption ist die Einheit von Kausal- und Sinnverhältnissen. Whitehead war einer der wagemutigsten Philosophen, die sich dieser Frage gestellt haben. Er hat dabei eine gewaltige, weil umfassende, Theorie des einen Universums entwickelt, in dem wir leben, oder auch der Wirklichkeit, die uns umgibt und trägt. Weil dieses eine Universum sich so entwickelt hat, wie es sich 1
Alfred North Whitehead: Process and Reality: An Essay in Cosmology, Gifford Lectures Delivered in the University of Edinburgh During the Session 1927–1928, New York 1929. Zitiert wird nach der Critical Edition von David Ray Griffin/Donald W. Sherbourne, New York 1978 [PR]. Die (oft problematische) Übersetzung erschien als: Prozeß und Realität: Entwurf einer Kosmologie, übersetzt und mit einem Nachwort von Hans Günter Holl, Frankfurt/M. 1984. Im folgenden Text werden wie üblich immer die englischen Ausgaben und dann die deutschen Übersetzungen von Whiteheads Werken angegeben.
186
Oswald Schwemmer
nun einmal entwickelt hat, muss es doch eine Möglichkeit geben, diese Entwicklung als Einheit darzustellen. Als erstes ist dabei zu sehen, dass es einen strengen Determinismus nicht geben kann, der impliziert, aus Gleichem müsse Gleiches entstehen. Sonst gäbe es uns nicht – und natürlich auch alles andere nicht. Dies bedeutet, dass von Anfang an das Neue, das Andere als das bis dahin Gewesene, möglich war. Damit eng verbunden ist der zweite Grundgedanke: Wirklichkeit geschieht – und zwar als ein sich selbst verknüpfendes Ensemble von Geschehnissen, die auf das Geschehene reagieren. Denn wirklich Neues kann weder in einem streng deterministischen noch in einem strukturalistischen System entstehen. Nur wenn sich im Ablauf dieses Geschehens dessen prinzipiell kontingente Verknüpfungen entwickeln und nicht umstandslos als Fälle subsumierbar sind, gibt es die Möglichkeit des Neuen. Das erfordert eine auf alles, was überhaupt ist, erweiterte prozesstheoretische Perspektive. Damit ist ein dritter Grundgedanke vorbereitet: Wenn die Entwicklung des Universums nicht einer blinden Notwendigkeit folgt, sondern sich selbst organisiert, dann gibt es schon auf der elementarsten Ebene unserer Wirklichkeit eine, und sei es auch noch so primitive, Form des „Erfassens“ des Geschehenen durch das Geschehende. Whitehead nennt dieses Erfassen prehension.2 In dieser Formulierung liegt eine für die Whitehead‘sche Philosophie charakteristische Schwierigkeit. Das, was wir heute als ein Moment der Selbstorganisation beschreiben würden, formuliert Whitehead in einer subjektivistischen Sprache, gleichsam vom Ende der Entwicklung aus – so, als gäbe es schon im subatomaren Bereich eine Form des Wahrnehmens. Tatsächlich will Whitehead damit aber lediglich auf die Kontinuität der kosmischen, biologischen, psychischen und kulturellen Evolution des Universums hinweisen. Es geht ihm darum, in jedem Geschehen dieses Moment der Selbstorganisation, und sei es noch so schwach, zu erkennen und damit das den Einzelfall deduzierende Gesetzesdenken zu verabschieden. Ein vierter Grundgedanke, der mit der Einheit des Universums und seinem Geschehens-Charakter zusammenhängt, ist die allgemeine Verbundenheit der Dinge bzw. Geschehnisse; Whitehead spricht von connectedness.3 Jedes Geschehnis erfasst die Gesamtheit des bis dahin Geschehenen. Damit ist es mit allem, was zur Vergangenheit des Universums gehört, verbunden. Aber diese Verbundenheit muss nicht in der Aufnahme des jeweils Vergangenen in das eigene Geschehen bestehen. Ein Vergangenes kann auch eliminiert werden und damit ohne jeden Einfluss auf die Entwicklung des Geschehens bleiben. Wenn etwa – 2 3
PR, S. 18ff. / S. 57ff. Alfred North Whitehead: Modes of Thought, New York 1938. S. 9. Dt. Übersetzung: Denkweisen, übers., hg. und eingeleitet von Stascha Rohmer, Frankfurt/M. 2001, S. 54.
187
Form als Prozess
um ein Beispiel aus unserem Wahrnehmungsbereich zu wählen – die Dauer eines Erfassungsvorgangs, die Präsenzzeit z.B. einer auditiven Wahrnehmung, kürzer ist als die Entwicklung einer Resonanz, dann kann der entsprechende Ton nicht wahrgenommen werden. Doch auch Nicht-Erfassen ist ein Verhältnis, eine negative prehension. Prinzipiell gilt also, dass ein jedes Geschehen mit allem verbunden ist, was aus seinen Umgebungen und deren Umgebungen usw. in der jeweils unmittelbaren Vergangenheit als Einwirkungspotential bereitsteht. Der grundlegende Charakter des allgegenwärtigen Geschehens, das unsere Welt charakterisiert, zeigt sich für Whitehead auch dort, wo wir bloß einen „Raum“ ohne jeglichen dinglichen Inhalt erfassen bzw. erfassen wollen. Nicht nur das, was wir gegenständlich in seiner dinglichen Identität erfassen, sondern auch das, was wir – statisch – als reines Ausbreitungsgeschehen identifizieren, gehört für Whitehead zum umfassenden Weltgeschehen, in dem wir uns zu orientieren haben. Diese alles durchdringende und alles zusammenhaltende Kreativität des Universums ist für Whitehead das „Ultimate“, das „Letztliche“ oder „Elementare“.4 In jeder philosophischen Theorie gibt es Whitehead zufolge ein solches Elementares im Sinne dessen, was nicht weiter zurückverfolgt werden kann. Es verwirklicht sich durch seine akzidentellen Verkörperungen und lässt sich auch nur durch diese charakterisieren. Abgesehen von diesen kommt ihm keine Wirklichkeit zu: Seine Wirklichkeit besteht im Geschehen, der Verkörperung. Bezogen auf die eigene Philosophie bemerkt Whitehead: „In der organistischen Philosophie wird dieses Elementare ,Kreativität’ genannt, und Gott ist ein uranfängliches, unzeitliches Akzidenz.“5
2. Whiteheads Gesamtkonzept Whiteheads Gesamtkonzept erschließt sich nicht ohne weiteres durch die Lektüre seiner Texte. Will man dieses Konzept gleichwohl verstehen, muss man den Wegen seiner Darstellungen folgen. Für den wortgenauen Interpretationskritiker würde man damit zwar nur einen halben Whitehead vorstellen, doch für ein philosophisches Selbstdenken bliebe die Whitehead-Lektüre ein fruchtbares Anregungsfeld, auf dem man mit Whitehead ein eigenes Konzept entwickeln kann.
4 5
In der deutschen Übersetzung ist „the Ultimate“ missverständlich mit „das Elementare“ wiedergegeben (PR, S. 38 / S. 7). „In the philosophy of organism this ultimate is termed ,creativity‘; and God is its primordial, non-temporal accident.“ (PR, S. 7 / S. 38). In Whiteheads Prozesstheologie ist Gott die Verwirklichung der alles durchdringenden und alles umfassenden Kreativität. Er ist nicht das Prinzip selbst, sondern die immanente Entwicklung des Wirklichen: ein werdender Gott.
188
Oswald Schwemmer
Der besseren Lesbarkeit und gedanklichen Orientierung wegen sei daher nun nicht das voluminöse Hauptwerk Process and Reality, sondern vor allem, wenn auch nicht nur, der dritte und vierte Teil Philosophical und Civilization des vier Jahre später publizierten Adventures of Ideas6 als Grundlage einer „freien“ Interpretation gewählt.
Holismus und Verkörperung Im ersten Teil von Adventures of Ideas, der sozialhistorische Aspekte behandelt, behauptet Whitehead: „Die gesamte Umwelt hat an der Beschaffenheit jedes in ihr auftretenden Vorgangs teil; und jeder Vorgang hat ursprünglich den Charakter, den seine Umwelt ihm verliehen hat. Die Gesetze, die für eine bestimmte Umwelt gelten, bringen nichts anderes zum Ausdruck als den allgemeinen Charakter der Vorgänge, aus denen diese Umwelt sich zusammensetzt.“7 Zwar lassen sich „allgemeine Charaktere“ angeben, grundlegend ist jedoch, dass die Vorgänge je unterschiedliche umweltbedingte oder kontextspezifische Charaktere haben: „Die Menschen werden von ihren Gedanken ebenso bewegt wie von den Molekülen ihres Körpers, von der Intelligenz nicht weniger als von völlig sinnlosen Kräften.“8 Das hat philosophisch Konsequenzen für die „Verkörperung“ bzw. das LeibSeele-Problem: „Der Mensch […] kann sich nicht von geistigen Gewohnheiten losmachen, die aufs engste mit seinen körperlichen Gewohnheiten verflochten sind.“9 Whitehead vertritt dabei keinen Naturalismus, sondern einen „Holismus“, d. h. er sieht nicht die psychischen Phänomene als bloß kausale Produkte des Physischen, sondern versteht beide als Teilelemente eines ganzheitlich sich vollziehenden Prozesses. Dabei ist allerdings die bewusste Aktivität im Rahmen dieses Ereigniszusammenhangs weniger bestimmend, als wir anzunehmen geneigt sind: „Die Autonomie des Denkens ist […] strikt begrenzt, in vielen Fällen ganz zu vernachlässigen; es vollzieht sich im Allgemeinen jenseits der Bewußtseinsschwelle.“10 Und noch deutlicher formuliert Whitehead im Sinne eines Verkörperungskonzepts die Eingebundenheit des Menschen in seine Umwelt, die auch seine gedankliche Existenz umfasst: „Der Mensch ist in jedem Moment seiner Existenz untrennbar mit seiner Umwelt verbunden. Die Umwelt, die der jeweils gegenwärtige
6
7 8 9 10
Alfred North Whitehead: Adventures of Ideas, New York 1933 (zitiert nach der Paperback ausgabe, New York 1967) [AI]. Dt. Ausgabe: Abenteuer der Ideen, übers. v. Eberhard Bubser, Frankfurt/M. 1971. AI, S. 41f. / S. 134f. Ebd., S. 46 / S. 141. Ebd., S. 46 / S. 141f. Ebd., S. 47 / S. 142.
189
Form als Prozess
Augenblick aus der Vergangenheit übernimmt, ist in ihm immanent; und umgekehrt geht jeder Augenblick menschlicher Existenz in die Umwelt ein, die – teilweise durch ihn – der Zukunft überliefert wird.“11 Dieses Kontinuum der Augenblicke charakterisiert auf allgemeinste Weise den zeitlichen Zusammenhang allen Geschehens in der Welt.
Organismus Die Unterscheidung, die Whitehead in diese Konzeption als grundlegend einbringt, ist die zwischen lebendiger und lebloser Natur. Was er in der „organistischen Philosophie“, wie Whitehead seine philosophische Konzeption selbst nennt, behandelt, ist der „organische“ – und also lebendige – Charakter dieses Zusammenhangs. Wir haben es in der lebendigen Natur niemals mit der Identität, mit einem Gleichbleiben des Existierenden zu tun, sondern immer mit Entwicklungen, die das Entstehen eines Neuen, nämlich eines neuen Augenblicks der Individualität, hervorbringen. Existieren – auch das der leblosen Natur – heißt: Erfassen des vorangehenden Geschehens und Einwirken auf das folgende Geschehen. Selbst wenn diese Geschehnisse die gleiche Struktur besitzen, sind die aufeinander folgenden Geschehnisse des Universums in ihrer Existenz ein eigenes und neues Geschehen, das je eigenständig strukturiert ist durch das Verhältnis der Geschehnisse untereinander. Im lebendigen Geschehen der kreativen Eigenentwicklung ist das ein sich im aktiven Erfassen der externen Einwirkungen immanent konfigurierendes Geschehen: „Das Leben ist nun aber einmal eine Offensive, die gegen die repetitiven Mechanismen des Universums gerichtet ist. […] Man kann das Leben nur verstehen, wenn man es als ein Anstreben der Vollkommenheit betrachtet, die unter den Bedingungen der gegebenen Umwelt möglich ist. [...] Das bloße Hinnehmen der Fakten ist das Charakteristikum der leblosen Natur.“12
Routine und Verkörperung Eine besondere Rolle spielt für Whitehead in seiner „organistischen“ Konzeption die Gewohnheit oder Routine. Sie ist für ihn „das Fundament des sozialen Lebens“.13 „Die Routine ist der Gott jedes sozialen Systems, der siebente Himmel des Geschäftsmanns, die entscheidende Komponente für den Erfolg jeder Form der industriellen Produktion, der Idealzustand, den der Staatsmann sich wünscht.“14
11 12 13 14
Ebd., S. 63 / S. 168. Ebd., S. 80f. / S. 193. Ebd., S. 90 / S. 207. Ebd., S. 90 / S. 206.
190
Oswald Schwemmer
Eine Routine ist aber auch das Produkt erfolgreicher Ideen für die soziale oder technische Organisation von Handlungsabläufen und damit für die entsprechenden Systeme. Und so erklärt denn auch Whitehead: „Das System im Ganzen ist ein Produkt der Intelligenz.“15 Um dann sofort hinzuzufügen: „Aber sobald die erforderliche Routine sich einmal eingespielt hat, verschwindet die Intelligenz wieder aus dem Bild, und das System erhält sich durch eine Koordination von bedingten Reflexen.“16 Diese Koordination ist ein verkörpertes Geschehen, das die Alltagsroutinen trägt. Das verkörperte Geschehen ist „ein alles allumfassendes Faktum, das nichts anderes ist als die fortschreitende Geschichte des einen Universums. Diese Gemeinschaftlichkeit der Welt, die den Nährboden alles Entstehens bildet, und deren Wesen ein Prozeß ist, in dem sich der Zusammenhang erhält, ist das, was Platon als den ,Aufenthaltsort aller Dinge‘, das ,Worin‘ (hypodoché) bezeichnet hat.“17 Entscheidend für das Verständnis dieses „allumfassenden Faktums“ ist dessen Leere. Dieses Faktum enthält keinerlei Bestimmungen für die „fortschreitende Geschichte des einen Universums“. Es ist selbst das, was Whitehead auch die Kreativität in dieser fortschreitenden Geschichte oder auch Gott nennt. Tatsächlich ist dies eine ungewöhnliche Terminologie – ebenso ungewöhnlich wie die daran anschließende „Prozesstheologie“, die sich auf Whitehead beruft.
Das Schöpferische des Erlebens und die Grenzen der Sprache Whiteheads philosophisches Programm besteht nun darin, die einzelnen Phasen dieses Geschehens in ihrer Struktur begrifflich zu erfassen. Dazu stellt er als grundlegend die Struktur des Erlebens, des Werdens eines Neuen in dem Erleben des Gewordenen dar. Dabei stellt er seiner Analyse zwei grundlegende Thesen voran. Die erste These lautet: Erkenntnis ist nicht die Grundstruktur der Erfahrung, sondern der abstrakte Sonderfall eines aktiven Unterscheidens und bewussten Artikulierens. Die zweite These lautet: Die eigentliche Grundstruktur der Erfahrung bedarf einer realen Verbindung, die immer auch körperlich ist. Für den abstrakten Sonderfall des Erkennens bedeutet das die Notwendigkeit der Emotionalität und Affektivität als Verbindung mit dem Wirklichen, als Faktizität. Das macht Sprache und Denken zu Prozessen metaphorischer Übertragung.
15 16 17
Ebd. Ebd. Ebd., S. 150 / S. 291.
191
Form als Prozess
Ich behaupte […], daß der Begriff der reinen Erkenntnis eine Abstraktion hohen Grades ist, und daß das bewußt artikulierte Unterscheiden ein variabler Faktor ist, der nur in komplexeren („more elaborate“) Erlebnissen („examples of occasions of experience“) auftritt. Die Basis des Erlebens und der Erfahrung („the basis of experience“) ist emotional; allgemeiner gesagt: das fundamentale Faktum ist das Aufkommen einer affektiven Tönung, die von Dingen ausgeht, deren Relevanz bereits gegeben ist.18 Die elementare Tatsache dieses Geschehens ist das bloße „Dass“ der Realität, das wir in seinem „Wie“ nur metaphorisch erfassen können. So spricht denn auch Whitehead vom Pulsieren des schöpferischen Verwirklichungsgeschehens: „Das Schöpferische dieser Welt ist die pulsierende Emotion des Vergehenden, das sich in ein neues, es transzendierendes Faktum stürzt.“19 An anderer Stelle spricht Whitehead von „Emotionsschwingungen“ und „Wellenlängen und Schwingungen“: Die primitive Form der physischen Erfahrung ist emotional – blindes Gefühl […]. In der Terminologie der Physik ist diese primitive Erfahrung ein ,Vektorfühlen’, das heißt, Empfinden aus einem Jenseits, das bestimmt ist, und Hinausweisen auf ein Jenseits, das noch bestimmt werden muß. […] In dieser Vektor-Übertragung des primitiven Empfindens ist die primitive Vorsorge für die Weite des Kontrasts durch Emotionsschwingungen getroffen, die […] als Wellenlängen und Schwingungen erscheinen.20 Und sozusagen als Großform des kreativen Prozesses sieht Whitehead eine stete Schwingung zwischen der Öffentlichkeit der Vielen und der privaten Individualität: „Der kreative Prozeß ist rhythmisch. Er schwingt von der Öffentlichkeit der Vielen zur individuellen Privatheit und zurück vom privaten Individuum zur Öffentlichkeit des objektivierten Individuums.“21 Es ist deutlich, dass Whitehead sich der Sprache sehr kreativ bedienen muss, um auszudrücken, was er sagen möchte. Der Zwang zur Metaphorik ist durch die Grenzen der Sprache erzeugt, die auch schon durch die innersprachlichen Grenzen zwischen Wörtern gesetzt wird. Mit diesen Grenzen strukturiert sich die Wortsprache als eine Kette aus klar voneinander abgesetzten Gliedern, die zwar durchaus entgrenzte Verhältnisse – z.B. des Ineinander – darzustellen vermag, sich selbst aber
18 19 20 21
Ebd., S. 176f. / S. 326. Ebd., S. 177 / S. 328. PR, S. 162f. / S. 303f. PR, S. 151 / S. 283.
192
Oswald Schwemmer
aufgrund dieser Wortgrenzen nicht als ein solches Ineinander präsentieren kann. Dies ist anderen Darstellungsformen vorbehalten, wie sie z.B. in den Bildern der Malerei oder den Tongebilden der Musik verwirklicht werden können. An die Grenzen der Sprache gerät auch der Versuch, Realisierungsprozesse als Prozesse der Individualisierung sprachlich zu erfassen. Eben diese Prozesse stehen im Zentrum der Whitehead‘schen Philosophie: „Die individuelle Unmittelbarkeit eines Erlebensvorgangs (,of an occasion’) ist die endgültige Einheit der subjektiven Form, in der der Vorgang zur absoluten Wirklichkeit wird. […] Der Erlebensvorgang entsteht aus den für ihn relevanten Objekten und vergeht, d. h. geht in den Status eines Objekts für andere Erlebensvorgänge über. Aber den entscheidenden Augenblick seiner absoluten Selbsterfüllung genießt er als eine emotionale Einheit.“22 Die Rede von einer Unmittelbarkeit, einer reinen Individualität und einem Augenblick der absoluten Selbsterfüllung lässt bereits durch die Extremformen „rein“, „absolut“ und eben auch „unmittelbar“ eine sprachliche Grenzform erkennen, die im Grunde über Negationen hergestellt wird. Auf diese Weise sind es gedankliche Konstruktionen, die als Paradoxien auftreten: Das, wie Whitehead selbst formuliert, „einzig Wirkliche im Universum“23 wird als etwas jenseits unserer artikulierbaren Wirklichkeit, in der wir leben, – im wörtlichen Sinne – heraus- und damit auch hinausgestellt. Tatsächlich sieht Whitehead das „bewußt artikulierende Unterscheiden, das die Erkenntnis ausmacht“, als einen „zusätzlichen Faktor“, und zwar „in der subjektiven Form des Wechselspiels zwischen Subjekt und Objekt“. Das „Wechselspiel zwischen Subjekt und Objekt“ ist – in seiner „subjektiven Form“ – das Geschehen, das sich im Vollzug des artikulierenden Erfassens verwirklicht. Und dieses Erfassen geschieht zusätzlich zu dem erfassten Individuationsprozess. Die wahrnehmenden Funktionen unseres Erfassens resultieren „unmittelbar aus der Stimulation unserer körperlichen Sinnesorgane“, und dies in einem „process of experiencing“. Dieser Prozess besteht „in der Aufnahme von – schon vor diesem Prozess existierenden – Entitäten“. Der Prozess ist dabei selbst nichts anderes als das komplexe Faktum dieser Aufnahmen und ihrer zuvor nicht zu determinierenden Wirkungen auf einander. Der Erlebensprozeß wird durch die Aufnahme von Objekten in die komplexe Einheit jenes Vorgangs konstituiert, der mit diesem Prozeß selber identisch ist. Der Prozeß erschafft sich selbst, aber er erschafft nicht die Objekte, die er als Bestandteile seines eigenen Wesens in sich aufnimmt.24 22 23 24
Ebd., S. 177 / S. 327f. Ebd., S. 177 / S. 328. Ebd., S. 179 / S. 330.
193
Form als Prozess
Dass der Prozess sich selbst erschafft, verdankt sich der Eigenschaft des Universums, die allem, was ist bzw. wird, zugrunde liegt: die bereits erwähnte Kreativität, eine Aktivität, durch deren Voraussetzung die gesamte Konzeption von Whiteheads Prozessphilosophie charakterisiert werden kann: „Der Schöpfungsprozeß ist die Form der Einheit, die das Universum hat.“25
3. Form als Prozess – Die Problematik der Zeitlosigkeit Eine systematische Sichtung der Whitehead’schen Prozessphilosophie würde sich auch mit Hilfe des Kapitels zum Kategorienschema in Process and Reality anbieten. Dabei wäre allerdings zu berücksichtigen, dass dieses Kapitel, wie Whitehead selbst schreibt, nur eine vorläufige Skizze enthält und erst durch die Gesamtheit der folgenden Untersuchung überhaupt verständlich wird. „This chapter contains an an ticipatory sketch of the primary notions which constitute the philosophy of organism. The whole of the subsequent discussion […] has the purpose of rendering this summary intelligible.“26 Daher soll es an dieser Stelle bei der obigen skizzenhaften Darstellung bleiben, die ein eher intuitives Verständnis zugänglich macht, bewusst ohne ganz strenge Bindung an Whiteheads Terminologie. Die oft unkonventionellen terminologischen Festlegungen Whiteheads erschweren nämlich zumeist das Verständnis seiner Konzeption. Zum Schluss soll dennoch kurz auf eine Problematik eingegangen werden, die bereits am Anfang des Schemas der Existenzkategorien zu Beginn des Hauptwerks deutlich wird. Die erste Kategorie des Schemas ist „the Ultimate“, die bereits erwähnte Kategorie des Letztlichen oder „Elementaren“. Die folgenden Kategorien der Existenz stecken gleichsam den Rahmen ab, innerhalb dessen Whitehead seine prozesstheoretische Konzeption entwickelt. Die äußersten Koordinaten dieses Rahmens würden dann bezeichnet durch ein konträres Paar von Kategorien, zwischen denen sich alle anderen Kategorien der Existenz ansiedeln lassen: „actual entity“ und „eternal object“. Die actual entities, die Whitehead auch in explizit prozesstheoretischer Perspektive actual occasions nennt, sind die elementaren Geschehnisse im Universum, die er selbst als seine Interpretation von Leibniz‘ Monaden beschreibt. Der Prozess der Aktualisierung ist ein Individuationsprozess, der sich durch fortlaufende Selbstkonfiguration hin zu 25 26
„The process of creation is the form of unity of the Universe.“ AI, S. 179 / S. 331. PR, S. 18 / S. 57.
194
Oswald Schwemmer
einer Schwelle faktischer Existenzfähigkeit bewegt. Diese Selbstkonfiguration verdankt sich einer immanent sich ergebenden „inneren Stimmigkeit“, einem Zusammenstimmen wie bei der Entstehung reiner Töne aus Geräuschen. Jeder, der ein Blas- oder Streichinstrument zu spielen gelernt hat, wird diesen Umschlag der rauschenden oder quietschenden Tonversuche zu klaren Tönen kennen. Diese mit einem Schlag sich ergebende tönende Stimmigkeit ist nur ein Beispiel für eine immanent sich bildende Selbstkonfiguration, die an einem bestimmten Punkt die Schwelle zu einer eigenständigen Existenz überschreitet. Aber sie gibt uns immerhin eine Vorstellung von einem Prozess der Verwirklichung. Die eternal objects hingegen sind Konfigurationsmuster, die sich in einer vorangegangenen Entwicklung ergeben haben und nun als Ausgangspunkt einer neuen Entwicklungsphase des Universums eine Verbindung mit anderen Konfigurationsmustern eingehen. Sie sind „zeitlos“, eternal nur im Sinne dieser von der Verkörperung losgelösten Anwendbarkeit als Muster. Real sind sie indessen nur, wenn sie sich verkörpern in einem individuellen Geschehen, also in der actual entity bzw. actual occasion. Zwischen diesen beiden äußeren Polen ergeben sich weitere Unterscheidungen: vom „Dass“ zum „Wie“ der Existenz. Als Einwand lässt sich anführen, dass zeitlose Gegenstände, die „eternal objects“ im strengen Sinne als ewig oder zeitlos gedacht, in Whiteheads Gesamtentwurf problematisch sind. Whitehead besteht jedoch darauf, dass es auf der Ebene der eternal objects eben keine Entstehung des Neuen gibt. Dies scheint gegen die eigene Konzeption der immanenten Weltentwicklung zu verstoßen. Für Whitehead gilt prinzipiell: That in the becoming of an actual entity, novel prehensions, nexū s, subjective forms, propositions, multiplicities, and contrasts, also become; but there are no novel eternal objects. In other words, it belongs to the nature of a ,being‘ that it is a potential for every ,becoming.‘ This is the ,principle of relativity.‘27 Doch Immanenz schließt eine kontingente Entwicklung auch der „reinen Potentiale“ ein. Auch die „eternal objects“, also die Konfigurationsmuster, ergeben sich erst dadurch, dass eine immanente Verwirklichung der Verkörperung bestimmter Konfigurationsmuster vorausgegangen ist. Da diese Konfigurationsmöglichkeiten damit von der Faktizität und also von der Kontingenz der historischen Entwicklung erschlossen worden sind, können sie nicht „ewig“ oder zeitlos sein. Anders gesagt: Das, was wird oder überhaupt werden kann, ergibt sich aus dem, was geworden ist. Irritierend ist dann eben die strikte Unterscheidung zwischen 27
PR, S. 22 / S. 64f. (meine Kursivierung).
195
Form als Prozess
den „sekundären“ Kategorien der Existenz und der „primären“ Kategorie der zeitlosen Gegenstände, obgleich es doch in allen Fällen um Konfigurationsmuster für existenzfähige Ereignisse bzw. Entitäten geht. Die „extreme Endgültigkeit“ („extreme finality“), die Whitehead für diese Kategorien beansprucht, reicht jedenfalls nicht als Grund für die Zeitlosigkeit der eternal objects. Denn alles, was wirklich ist, hat diese „extreme Endgültigkeit“, auch das, was im Sinne einer wirklich bestehenden Möglichkeit der Verwirklichung wirklich ist. Es ist eben so und nicht anders. Gerade diese „Endgültigkeit“ aber ist es, die nicht deduziert werden kann, wenn es um Verwirklichungen geht. Hier gibt es keinen Unterschied zwischen den allgemeinsten eternal objects und den „sekundären“ Kategorien. Lediglich die Behauptung, dass es überhaupt Konfigurationsmuster für die Verwirklichung gibt, wäre im wörtlichen Sinne zeitlos. Es wäre dies aber auch eine inhaltsleere Behauptung und zudem eine Behauptung im Singular. Beides entspräche jedoch nicht dem Konzept einer prozesstheoretischen Metaphysik. Ich danke Viola Nordsieck und Sascha Freyberg für ihre Mitarbeit an diesem Text.
Bildnachweise
Einleitung 1 Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin. Krois 1 Courtesy of the Lowell Observatory, Flagstaff, Arizona. 2 Wolfgang Minaty: Grünewald im Dialog, Regensburg 2016, p. 107. 3–4 John M. Kennedy: Drawing and the blind: Pictures to Touch, New Haven 1993, pp. 175, 167. 5 https://www.drupal.org/files/project-images/ir_captcha_screenshot_3.png (10.08.2017). 6 James Elkins: The Domain of Images, 1999 New York, p. 191. 7 https://colewebbharter.files.wordpress.com/2011/04/the-passion-of-the-christ-7.jpg (10.08. 2017). 8 Adam Brooks et al.: Sensation: Young British Artists from the Saatchi Collection, London 1997, p. 91. 9 Ernst Cassirer: Die Begriffsform im mythischen Denken, in: id.: Gesammelte Werke, vol. 16: Aufsätze und kleine Schriften 1922–26, Hamburg 2003, p. 62. 10 Barbara Buhler Lynes/Jonathan Weinberg (eds.): Shared Intelligence, Berkeley/Los Angeles 2011, p. 66. 11 Courtesy of the Kunstmuseum Basel. 12 Olivier Berggruen et al.: Yves Klein, Berlin 2004: Hatje Cantz, p. 46. Schürmann 1 http://neubauercollegium.uchicago.edu/events/uc/kentridge/. (ed.): James Turrell. The Other Horizon, Ostfildern-Ruit 1998, pp. 62, 183.
2–3 Peter Noever
Lauschke 1 © Zentrum Paul Klee, Bern. Boehm 1 Wikimedia Commons. 2 Sybille Ebert-Schiffer: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben, Der Maler und sein Werk, München 2012, S. 108, Abb. 66. 3 Ausst.-Kat: Arnold Böcklin – Eine Retrospektive, hg. v. Rolf Andree, Kunstmuseum Basel, Heidelberg 2001, S. 327. 4 Aby Warburg u.a.: Atlas Obrazów Mnemoysne, Warschau 2015, S. 89. 5 Steffi Roettgen: Wandmalerei der Frührenaissance in Italien. Bd. 2, Die Blütezeit 1470–1510, München 1997, S. 193, Abb. 92. (Prome theus Bildarchiv). 6 Jane Martineau: Andrea Mantegna, London/New York 1992, S. 284, Abb. 78. 7 Terisio Pignatti, Filippo Pedrocco: Giorgione, München 1999, S. 161, Abb. 24. 8 Gioachhino Barbera: Antonello da Messina, Mailand 1998, S. 141. 9 Ausst.-Kat.: Gesichter der Renaissance. Meisterwerke italienischer Portrait-Kunst, hg. v. Keith Christiansen/Stefan Weppelmann, München 2011, S. 71, Abb. 5. 10 Gioachhino Barbera: Antonello da Messina, Mailand 1998, S. 42. 11 Charles Le Brun: Le expressions des passions de l’ame représentées en plusieurs testes gravées d’après les dessins de feu M. Le Brun, hg. v. Jean Audran, Paris 1727. Bibliothèque nationale de France, département Arsenal, RESERVE FOL-S-286 (http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k1352510/f53.item.zoom). 12 Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste Wien. 13 Valérie Bajou: Courbet, Paris
198
Bildnachweise
2003, S. 40. 14 Ausst.-Kat.: Gustave Courbet, hg. v. Ulf Küster, Fondation Beyeler, Ostfildern 2014, S. 94/95. 15 Hans Konrad Roethel: Kandinsky, Oxford 1979, S. 101, Abb. 104. (Prometheus Bildarchiv). 16 Kirk Vernedoe, Pepe Karmel: Jackson Pollock, New York 1999, S. 255, Abb. 152. 17 Jon 18 Christiaan Vogelaar (Hrsg.): Jan van Goyen. Milner: Mondrian, London 1992, S. 220, Abb. 175. tentoonstelling. Verschenen bij de gelijknamige tentoonstelling in Stedelijk Museum De Lakenhal te Leiden, 12 oktober 1996 – 13 januari 1997, Zwolle 1996, S. 119. (Prometheus Bildarchiv). 19 Ausst.Kat: Arnold Böcklin – Eine Retrospektive, hg. v. Rolf Andree, Kunstmuseum Basel, Heidelberg 2001, S. 189. 20 Ausst.-Kat.: Rubens und sein Vermächtnis. Inspiration für Europa, hg. v. Nico van Hout, Palais voor Schone Kunsten Brüssel, Leipzig 2014, S. 129, Abb. 24. Thomas 1 Ausst.-Kat: Affekte, hg. von Claudia Emmert und Jessica Ullrich, Kunstpalais Erlangen, 2–4 Ausst.-Kat: Vincent van Gogh, Rijksmuseum Vincent Berlin: Neofelis Verlag 2014, S. 141. van Gogh, Amsterdam und Rijksmuseum Kröller-Müller, Otterlo; Bd. 2: Paintings, hg. von Evert van Uitert, Mailand 1990 , S. 186, 187, 285. 5 Robert Capa: Spanischer Soldat im Augenblick seines Todes, 1937, Seite aus Life III/2, 12. Juli 1937, S. 19. Bildquelle: Michel Frizot: Neue Geschichte der Fotografie, Köln 1998, S. 590. 6 Suzanne Opton: Soldier, Seattle 2011, ohne Paginierung. Prinz 1–6 © Wolfgang Prinz. Bredekamp 1−6, 10−14, 17−20, 22 Foto: Barbara Herrenkind. 7, 8, 21 Karl Heinz Clasen: Der Meister der Schönen Madonnen, Berlin/New York 1974, o.S., Abb. 40 u. 43. 9 Foto des Verfassers. 15–16 Rainer Kahsnitz: Die großen Schnitzaltäre. Spätgotik in Süddeutschland, Österreich, Südtirol, München 2005, Tf. 163 u. 164. 2, 8 PhiladelBlümle 1 Paris, Musée d’Orsay © bpk, RMN Grand Palais, Jean-Gilles Berizzi. phia, The Barnes Foundation © 2017 The Barnes Foundation. 3–7 John Dewey: Art as Experience, London 1934, ohne Paginierung. 9 Henry Maldiney: Ouvrir le rien l’art nu, Fougères 2000, S. 147. 10 New York, Sammlung von Herr und Frau Eugen Victor Thaw © akg-images.