Humanismus polyphon: Menschlichkeit im Zeitalter der Globalisierung [1. Aufl.] 9783839411728

Wie präsentiert sich der Humanismus im Zeitalter der Globalisierung? Welche Alternativen bieten sich dem traditionellen,

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German Pages 288 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Humanistisches Lernen in der Postmoderne: Konstruktivismus und Paulo Freire
»… was durch mein Seyn wird in der Welt erstrebet« – Dichtung als Einkehr in den Sonetten Wilhelm von Humboldts
Den neuen Menschen tanzen. Tanz und Kulturkritik zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Der Niedergang des Humanismus: Zwischen Vitalismus und Aristokratie des Geistes
Demokratie, Freiheit und Menschenrechte: Humanistische Werte oder Instrumente unmenschlicher Politik? Stimmen aus den Meinungsforen der pan-arabischen Tageszeitung al-Hayat für einen interkulturellen Dialog
Menschheit, Humanismus und Antihumanismus in den historischen Anthropologien Droysens und Burckhardts
»Was kann noch alles aus ihnen werden«? ›Menschheit‹ als historische Kategorie in der Universalgeschichtsschreibung August Ludwig Schlözers
»Preparing ourselves for freedom«. The Contribution of Literature to Identity Construction. Two South African Examples
Humanität im Exil: Die Zuwanderung mexikanischer Indianer in den Südwesten der USA und der Aufbau einer transnationalen Identität
Ganz und gar Mensch sein: Von der Missachtung, Entdeckung und Befreiung des fremdkulturellen Lesers
Mit anderen Augen sehen. Ansätze für eine transkulturelle Kunstvermittlung im musealen Kontext
Deconstructing deconstruction: Umberto Eco’s Baudolino as a humanist critique of postmodernism
Unternehmenswerte: Ein Trend zu humanistischen Ansätzen in der Wirtschaft?
Tod und Menschlichkeit
Utopie und Sozialismus im Werk von Otto Rühle und Alice Rühle-Gerstel
Autorinnen und Autoren
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Humanismus polyphon: Menschlichkeit im Zeitalter der Globalisierung [1. Aufl.]
 9783839411728

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Gala Rebane, Katja Bendels, Nina Riedler (Hg.) Humanismus polyphon

Band 2

2009-08-10 14-18-40 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02be217807407734|(S.

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) T00_01 schmutztitel - 1172.p 217807407742

Editorial Globalisierung erfordert neue kulturelle Orientierungen. Unterschiedliche Traditionen und Lebensformen ringen weltweit um Anerkennung und müssen sich den Erfordernissen einer universellen Geltung von Normen und Werten stellen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der menschlichen Welt- und Selbstdeutung müssen gleichermaßen berücksichtigt werden. Dazu bedarf es einer neuen Besinnung auf das Menschsein des Menschen: in seiner anthropologischen Universalität, aber auch in seiner Verschiedenheit und Wandelbarkeit. Die Reihe Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung ist einem neuen Humanismus verpflichtet, der Menschlichkeit in seiner kulturellen Vielfalt in sich aufnimmt und als transkulturell gültigen Gesichtspunkt im Umgang der Menschen miteinander in den Lebensformen ihrer Kulturen zur Geltung bringt. Die Reihe wird herausgegeben von Jörn Rüsen (Essen), Chun-chieh Huang (Taipeh), Oliver Kozlarek (Mexico City) und Jürgen Straub (Bochum), Assistenz: Henner Laass (Essen). Wissenschaftlicher Beirat: Peter Burke (Cambridge), Chen Qineng (Peking), Georg Essen (Nijmegen), Ming-huei Lee (Taipeh), Surendra Munshi (Kalkutta), Erhard Reckwitz (Essen), Masayuki Sato (Yamanashi), Helwig Schmidt-Glintzer (Wolfenbüttel), Zhang Longxi (Hongkong)

2009-08-10 14-18-40 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02be217807407734|(S.

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) T00_02 seite 2 - 1172.p 217807407750

Gala Rebane, Katja Bendels, Nina Riedler (Hg.)

Humanismus polyphon Menschlichkeit im Zeitalter der Globalisierung

2009-08-10 14-18-41 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02be217807407734|(S.

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) T00_03 titel - 1172.p 217807407758

In Zusammenarbeit mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, dem Institute of Advanced Studies in the Humanities and Social Sciences, National Taiwan University, und der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Duisburg-Essen Gedruckt mit Unterstützung der Stiftung für Kulturwissenschaften, Essen

Humanismus in der Epoche der Globalisierung – Ein interkultureller Dialog über Menschheit, Kultur und Werte gefördert von der Stiftung Mercator

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1172-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2009-08-10 14-18-41 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02be217807407734|(S.

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) T00_04 impressum - 1172.p 217807407766

I N H AL T

Vorwort

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Humanistisches Lernen in der Postmoderne: Konstruktivismus und Paulo Freire KIRA FUNKE

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»… was durch mein Seyn wird in der Welt erstrebet« – Dichtung als Einkehr in den Sonetten Wilhelm von Humboldts ASLI AYMAZ

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Den neuen Menschen tanzen. Tanz und Kulturkritik zu Beginn des 20. Jahrhunderts DIANA BRENSCHEIDT GEN. JOST

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Der Niedergang des Humanismus: Zwischen Vitalismus und Aristokratie des Geistes NINA RIEDLER

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Demokratie, Freiheit und Menschenrechte: Humanistische Werte oder Instrumente unmenschlicher Politik? Stimmen aus den Meinungsforen der pan-arabischen Tageszeitung al-Hayat für einen interkulturellen Dialog SHADIA HUSSEINI

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Menschheit, Humanismus und Antihumanismus in den historischen Anthropologien Droysens und Burckhardts 107 ARTHUR ASSIS UND CHIH-HUNG CHEN

»Was kann noch alles aus ihnen werden«? ›Menschheit‹ als historische Kategorie in der Universalgeschichtsschreibung August Ludwig Schlözers ANDRÉ DE MELO ARAÚJO »Preparing ourselves for freedom«. The Contribution of Literature to Identity Construction. Two South African Examples KATJA BENDELS Humanität im Exil: Die Zuwanderung mexikanischer Indianer in den Südwesten der USA und der Aufbau einer transnationalen Identität AARÓN GRAGEDA BUSTAMANTE Ganz und gar Mensch sein: Von der Missachtung, Entdeckung und Befreiung des fremdkulturellen Lesers OLGA ILJASSOVA-MORGER Mit anderen Augen sehen. Ansätze für eine transkulturelle Kunstvermittlung im musealen Kontext SUSANNE BUCKESFELD

125

145

161

179

197

Deconstructing deconstruction: Umberto Eco’s Baudolino as a humanist critique of postmodernism GALA REBANE

215

Unternehmenswerte: Ein Trend zu humanistischen Ansätzen in der Wirtschaft? MAREN BORGGRÄFE

231

Tod und Menschlichkeit FELIX TIRSCHMANN

249

Utopie und Sozialismus im Werk von Otto Rühle und Alice Rühle-Gerstel LIZETTE JACINTO

269

Autorinnen und Autoren

285

Vorw ort Die Suche nach der Antwort, was es genau bedeutet, ein Mensch zu sein, hat die Entwicklung der menschlichen Zivilisation in ihren zahlreichen Ausprägungen seit jeher begleitet. Jede Kultur hat ein eigenes Ideal entwickelt und gepflegt, das einen perfekten Menschen als Gesamtheit seiner physischen, psychischen, moralischen und kulturellen Merkmale entwarf und ihn von anderen Lebewesen strikt abzugrenzen vermochte. Im Abendland haben sich Philosophen und Künstler bereits in der griechischen Antike mit diesem Thema auseinandergesetzt. Die Grundgedanken des altgriechischen Humanismus wurden in den Erkenntnissen der Vorsokratiker über die ewige Veränderlichkeit aller Dinge, die Einheit aller Dinge, in der der Mensch sich als deren integrativer Teil erkennen konnte, und dem Axiom, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei, zusammengefasst. Die Idee des Guten als Orientierungspunkt menschlicher Handlungen, die von der Stoa hinzugefügt wurde, haben später die Neoplatoniker weiterentwickelt und zum Prinzip der ethischmoralischen Unterscheidung zwischen Mensch und Tier erhoben. Während das metaphysisch orientierte neuplatonische Denken in späteren Jahrhunderten zu einem zentralen Bestandteil der mittelalterlichen christlichen Dogmatik wurde, ist es in der Renaissance das ursprünglich antike Ideal des sich stets bildenden, lebensbejahenden, selbstbestimmenden Individuums, das die Harmonie von Körper, Geist und Seele verwirklicht und die göttliche Schöpfung krönt – ein Ideal, das in den wissenschaftlichen, literarischen und künstlerischen Werken der Humanisti rehabilitiert wird. Die menschliche Individualität und deren Potenzial, sich frei und schöpferisch zu entfalten, stehen im Mittelpunkt des neuhumanistischen Strebens in der Epoche der Moderne. Die Bildung soll als das wichtigste Mittel dazu dienen, das wahre Wesen des Menschen zu verwirklichen, 7

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zu vervollkommnen und somit zum Wohl der gesamten Menschheit beizutragen. Dabei wird die Rolle der Geschichte im privaten, aber vor allem im gesellschaftlichen Leben neu konzipiert. Der sich bildende Mensch wird aus historischer Perspektive betrachtet; im Prozess der Bildung machen sich die Individuen die gesamte historische Erfahrung der Menschheit zu Eigen. Das zu entwickelnde und zu pflegende historische Bewusstsein, das sich in erster Linie in den Werken Herders und Humboldts zeigt, bietet dem Menschen den kognitiven Rahmen, sich selbst in Verbindung zu anderen wahrzunehmen, den eigenen Lebenserfahrungen einen Sinn zu verleihen und ein Orientierungssystem sowohl für die Gegenwart als auch für Zukunftserwartungen zu erarbeiten. Im Prozess der zunehmenden Säkularisierung der westlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert werden in Anlehnung an die Erkenntnisse der Aufklärung die gesetzlichen Richtlinien erarbeitet, deren eigentliches Ziel es ist, die Konzepte der Menschenrechte, Menschenwürde und Menschenwerte in die Staatsordnung einzubetten und die unabdingbare Gleichheit und Freiheit aller Subjekte zu sichern. Die Geschichte des 20. und des jüngsten 21. Jahrhunderts zeigt jedoch, wie weit das geträumte Ideal der Neuhumanisten und die schroffe Realität auseinanderklaffen: Die Begriffe des Humanismus und der Humanität wurden gerade im letzten Jahrhundert oft missbraucht und als Rechtfertigung für die größten Verbrechen gegen die Menschheit vereinnahmt. Zwei Weltkriege und die zeitgenössischen militärischen Einsätze im Nahen Osten, totalitäre Regime in verschiedenen Gegenden der Erde, die weltweit wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, die heutzutage ein unzumutbares Ausmaß annimmt, und das Unvermögen der Regierungen – selbst in den Staaten, die zur »ersten Welt« gehören –, den beunruhigenden gesellschaftlichen und ökonomischen Tendenzen Einhalt zu gebieten, rücken die Frage nach Humanität und Humanismus im zwischenmenschlichen Handeln ins Zentrum der wissenschaftlichen, politischen und sozialen Bemühungen um eine neue globale Ordnung, die auf den Idealen der Gerechtigkeit, Demokratie und Menschenwürde ruht und ein friedliches Zusammenleben sowie die Kooperation zwischen verschiedensten Kulturen und deren Angehörigen sichern würde. Der vorliegende Band präsentiert die Ergebnisse der interdisziplinären Forschung, die im Rahmen des Graduiertenkollegs »Der Humanismus in der Epoche der Globalisierung. Ein interkultureller Dialog über Kultur, Menschheit und Werte« am Kulturwissenschaftlichen Institut, Essen, entstanden sind. Die Doktorandinnen und Doktoranden, die sich in ihren Arbeiten mit dem Thema Menschlichkeit sowohl in den heutigen Prozessen des globalen Wandels als auch im Hinblick auf vergangene Zeiten intensiv befasst haben, kommen aus ganz unterschiedlichen 8

VORWORT

Ländern und wissenschaftlichen Fachbereichen; was ihre Projekte und Forschungsanliegen jedoch miteinander verbindet, ist die Suche nach dem aktuellen Potenzial der humanistischen Ansätze in ihren diversen Ausprägungen. Die beachtliche Vielfalt der hier vorgestellten Diskurse über Humanismus, die sich durch Zeit und Raum ziehen, bestimmt den polyphonen Charakter dieses Buches. Die Thematik der Aufsätze reicht von der Entwicklung der historischen Anthropologien und der Herausarbeitung des Begriffs »Humanität« in den deutschen Geschichtswissenschaften im 18. und 19. Jahrhundert über die neuen Menschenbilder in Literatur und Kunst am Anfang des 20. Jahrhunderts bis hin zur heutigen Polemik über humanistische Werte und Menschenwürde im internationalen Diskurs. Dabei werden verschiedene Wissens- und Lebensbereiche berührt, die die Mannigfaltigkeit der Ideen des universellen wie auch des kulturspezifisch Menschlichen reflektieren und die vielfältigen Zusammenhänge miteinander in Verbindung setzten. Jedoch läuft in allen humanistischen Ansätzen durch Zeit und Raum der Leitfaden der unverzichtbaren klassischen Triade: Die ewige Veränderlichkeit aller Dinge, die sich in der Geschichtlichkeit der Gattung Mensch widerspiegelt; die Wiedererkennbarkeit der gesamten Menschheit in einem Menschen, die sowohl eine geschichtliche, als auch eine kulturelle und soziale Dimension hat; und die maßgebliche Natur des Menschen, die in seinem schöpferischen Potential ruht. Bildung nimmt im Humanismus eine zentrale Stellung ein als ein Prozess, in dem der Mensch seine Subjektivität kreativ zu verwirklichen sucht, sich die kulturell-geschichtlichen Errungenschaften der gesamten Menschheit aneignet und dadurch gleichzeitig lernt, sich als Teil des Ganzen zu sehen. Kira Funke widmet ihren Beitrag dem Thema der humanistischen Werte im gegenwärtigen deutschen Bildungssystem und versucht in Anlehnung an die Philosophie des brasilianischen Pädagogen Paulo Freire, ein neues angewandtes Konzept des Humanismus herauszuarbeiten, das dazu beitragen soll, »gelebte Demokratie« in Bildung und Erziehung junger Bürger hin zu selbständigen, kreativen und gesellschaftlich-politisch verantwortungsbewussten Menschen zu verwirklichen. Die geistige Weiterentwicklung des Individuums stellte bereits für den klassischen Humanismus den wichtigsten Bestandteil des wahrhaftig Menschlichen dar. Diesem Ideal gehen seine Vertreter nicht nur in ihren wissenschaftlichen Werken nach, sondern versuchen auch, es in ihrer eigenen Lebenspraxis zu realisieren. Aslı Aymaz zeigt anhand der Sonette Wilhelm von Humboldts, wie der Wissenschaftler seinen philosophischen Auffassungen über das Wesen des Menschen poetische Form 9

GALA REBANE, KATJA BENDELS UND NINA RIEDLER

und Ausdruck verleiht. Humboldt betrachtet Bildung als den Weg, der es dem Menschen ermöglicht, seine Individualität zu entfalten und somit zur Entwicklung der gesamten Menschheit beizutragen, und hebt die Bedeutung und das gestalterische Potenzial der Poesie im Bildungsprozess hervor. Kreativität als Ausdruck und Garant der sich frei entfaltenden menschlichen Subjektivität prägt jedoch nicht nur die bildenden Künste und die Literatur. So wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts das antike Ideal eines runden und vollkommenen Menschen, dessen Geist, Seele und Körper sich in harmonischem Einklang miteinander befinden, erneut aufgewertet. Diana Brenscheidt gen. Jost beschäftigt sich mit dem sogenannten »modern dance« oder Ausdruckstanz, der als Gegensatz zum klassischen Ballett konzipiert wurde und dessen Verfechter darauf abzielten, die Kartesianische Dichotomie zu überwinden, den Menschen zurück in die Natur zu führen und wieder in die allgemeine kosmische Ordnung zu integrieren. Dabei sollte der Ausdruckstanz auch zur moralischen Verbesserung des Menschen beitragen, indem er die menschliche Emotionalität zu befreien versprach und menschlichem Kreativitätspotenzial den Weg ebnete. Nicht selten erwies sich jedoch das humanistische Bestreben, einen vollkommenen, schöpferischen Menschen ins Leben zu rufen, als ambivalent und gar gefährlich. Nina Riedler zeigt am Beispiel von literarischen Werken Gabriele D’Annunzios, wie der klassische Humanismus an der Wende zum 20. Jahrhundert zunehmend erodiert und in Vitalismus und chauvinistischen Elitismus kippt, der letztlich in gefährliche Nähe zum Faschismus gerät. D’Annunzios Begeisterung für das Nietzscheanische Konzept des Übermenschen geht auf in seiner künstlerischideologischen Suche nach einem starken und leidenschaftlichen Individuum, das sich über die Gesellschaft und deren moralische Grundsätze stellt. Nicht nur in der Literatur wird der Humanismus zuweilen in seinen dunklen Gegensatz verwandelt und in den Dienst von nationalistischer Ideologie und Machtkämpfen gestellt. Shadia Husseini untersucht, wie der Diskurs über die humanistischen Werte der Demokratie, Freiheit und Menschenrechte eine imperiale Politik fördern kann. Anhand von Beispielen aus der transnationalen pan-arabischen Tageszeitung al-Hayat zeigt sie die Gefahren, die das unüberlegte Auferlegen eines »universell geltenden«, im Grunde aber primär eurozentristischen Wertesystems auf nicht-westliche Gesellschaften mit sich bringt. Mit dem Aufleuchten antihumanistischer Tendenzen in den historischen Anthropologien Johann Gustav Droysens und Jacob Burckhardts beschäftigen sich Arthur Assis und Chih-hung Chen. Die Autoren un10

VORWORT

tersuchen die Herangehensweisen der beiden Historiker im Bezug auf die Begriffe des »Menschen« und der »Menschheit« und weisen auf das Primat des Bildungsgedankens für ihre Geschichtstheorien hin. Dabei wird aber auch gezeigt, dass die humanistischen Ansätze Droysens und Burckhardts in ihrem Kern einige gefährliche Tendenzen bergen. Durch die beharrliche Betonung der tierhaften Seite des menschlichen Wesens und die exzessive Hervorhebung der zweckfreien, rein ästhetischen Anschauung verweigert Burckhardt dem Menschen jegliche Freiheit außer der künstlerischen und stellt somit letztlich die Möglichkeit der menschlichen Selbstgestaltung in Frage. Droysen ordnet viele Elemente seiner universalistischen Überzeugungen, insbesondere das Bildungsideal, dem preußisch-deutschen Nationalstaatsprojekt unter und ebnet so den Weg für die spätere Entwicklung des Nationalismus. Nichtsdestotrotz bleibt es ein unbestrittenes Verdienst von Historikern wie Droysen, der Geschichte eine zentrale Bedeutung für die gesamte Menschheit und die Selbstwahrnehmung der Individuen beizumessen. Der These, dass die Geschichte ohne Menschheit blind und die Menschheit ohne Geschichte leer sei, geht André de Melo Araújo nach. Der Historiker analysiert die Universalgeschichte August Ludwig Schlözers und zeigt seine gegenwärtige Bedeutung im Zeitbruch der Globalisierung, in dem universale Perspektiven wieder an Bedeutung gewinnen. Geschichte als Rahmen gesellschaftlichen Lebens bietet den Menschen ein Orientierungssystem, das der individuellen und kollektiven Existenz Sinn und Bedeutung verleiht und ein Gefühl der Zugehörigkeit stiftet. In der Identitätsbildung kann die Geschichte aber auch zu einer Last werden, die die innere Freiheit des Menschen hemmt. Vor dem Hintergrund der Demokratisierung Südafrikas Mitte der 1990er Jahre untersucht Katja Bendels am Beispiel zweier autobiographisch geprägter Werke Wilhelm Verwoerds und Antjie Krogs das Potenzial literarischen Schreibens, den Menschen bei der Verarbeitung der Vergangenheit und der Suche nach sich selbst und seinem Platz in der Gesellschaft zu helfen. In unserer zunehmend globalen Weltgesellschaft, die einerseits durch Transkulturalität und universalistische Entwicklungstendenzen gekennzeichnet ist, andererseits aber auch durch Ausbrüche von Mikronationalismen und fundamentalistische Kreuzzüge gegen Andersgesinnte stets bedroht wird, stellt sich die Frage nach der Bilanz zwischen dem Allgemeinmenschlichen und dem Kultur- und Subjektspezifischen und somit nach der kulturellen Identität und Diversität besonders dringlich. Aarón Grageda Bustamante zeigt, wie die Kultur der mexikanischen Mixteken, die in den letzten Jahrzehnten in die USA eingewandert sind, 11

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sich durch diese Übersiedelung transformiert. Die hier erreichte Einsicht in die facettenreichen Auswirkungen der Migration auf eine ethnische Kultur bietet eine innovative Perspektive, die auf die positiven Effekte der Globalisierung aufmerksam macht. Zwei weitere Beiträge beschäftigen sich aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven mit dem Thema der Interkulturalität. Olga Iljassova-Morger untersucht die Humanitätspotenziale der Transkulturalität auf dem Gebiet der Literaturrezeption. Mithilfe einer neuen interkulturellen literarischen Hermeneutik, die sich gleichzeitig auf drei Ebenen – der individuellen, der kulturspezifischen und der allgemeinmenschlichen – bewegen soll, versucht sie, die gefährlichen Defizite der universalistischen und relativistischen Einsichten zu überwinden, ohne dabei die Individualität der Literaturrezipienten zu vernachlässigen. Susanne Buckesfeld thematisiert subjektive und allgemeinmenschliche Rezeptionsmodi der bildenden Kunst. Anhand des Beispiels eines Museumsprojekts veranschaulicht sie die Voraussetzungen für eine Methode der transkulturellen Kunstvermittlung an kulturell heterogene Rezipienten, die die Reduktion der Betrachter auf ihre jeweiligen kulturellen Hintergründe vermeidet. Die grundsätzliche Unreduzierbarkeit des Menschen durch alle Arten von Fremdzuschreibung steht im Vordergrund jedes humanistischen Bestrebens. Gerade zum Ende der Postmoderne, die häufig dazu tendierte, die menschliche Existenz zur bloßen Diskurserscheinung herabzusetzen, tritt diese Frage erneut in den Vordergrund. In ihrem Beitrag argumentiert Gala Rebane, dass Umberto Eco in seinem Roman Baudolino die teils anti-humanistisch geprägten Ansichten der postmodernen Literatur und Philosophie thematisiert und anschließend zersetzt. Der Mensch wird als ein primär soziales Wesen wiederentdeckt, der seinen moralischen Pflichten anderen gegenüber nachgehen soll. Die soziale Dimension des Menschen und seines Lebens sowie die Frage nach der moralisch-gesellschaftlichen Verantwortung gewinnt gerade in der heutigen Zeit an Bedeutung. Die globale Marktwirtschaft unterminiert die traditionellen Lebensformen der Menschen und droht, zwischenmenschliche Beziehungen allmählich auf rein profitorientierten Handel zu reduzieren. Maren Borggräfe erörtert die Frage, inwiefern Kapitalismus und Humanismus miteinander kompatibel sein können. In Anlehnung an die Theorien Johann Gottfried Herders und Adam Smiths über den Menschen zeigt sie, dass beide Konzepte zentrale Aspekte teilen, in erster Linie die Idee, dass die Menschen in ihren verschiedenen Handlungen und Lebenspraxen von einem Bedürfnis nach Akzeptanz durch ihre soziale Umgebung getrieben werden. Wertegeleitetes, ja, humanistisches Management in einem internationalen Unternehmen ist, so 12

VORWORT

die Autorin, nicht nur grundsätzlich möglich, sondern muss in Zukunft eine bedeutende Rolle im interkulturellen Zusammentreffen auf dem Weltmarkt spielen. Die alarmierende zunehmende Vermarktung aller Lebensbereiche des Menschen reicht bis hin zu seinem Tod. Felix Tirschmann beschäftigt sich mit der Problematik des menschlichen Sterbens und analysiert aus soziologischer Perspektive zwei gegenwärtige Formen des gesellschaftlichen Umgangs mit dem Tod: Sterbehilfe und Patientenverfügung. Beide sollen dem Patienten das Sterben in Würde ermöglichen, allerdings droht erstere die Wertigkeit des Lebens durch ihre wachsende Vermarktung zu unterwandern, während die Patientenverfügung die Möglichkeit eines adäquateren Wegs, Tod und Sterben zu begegnen, verspricht. Die Suche nach Menschlichkeit ist gleichzeitig eine Suche nach der Utopie. Diesem Unterfangen widmeten im Laufe der Geschichte zahlreiche Denker, Künstler, Wissenschaftler und Politiker nicht nur all ihre Energie, sondern auch ihr Leben. Vom Streben der Psychologin und Schriftstellerin Alice Rühle-Gerstel nach einer besseren Zukunft für die kommenden Generationen sowie von ihrem tragischen persönlichen Scheitern berichtet Lizette Jacinto. Zusammen mit ihrem Ehemann Otto Rühle zählte Alice Rühle-Gerstel zu den bedeutendsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Das Ehepaar Rühle stand der nationalsozialistischen Diktatur Deutschlands ebenso kritisch gegenüber wie dem autoritären Regime in der damaligen Sowjetunion, da beide Regimes humanistische Prinzipien verletzten und die Freiheit ihrer Subjekte untergruben. Der schwierige Weg des Ehepaars, der sie schließlich nach Mexiko führte, fand sein Ende, als sich Alice Rühle-Gerstel wenige Stunden nach dem Tod ihres Mannes das Leben nahm. Ihre Ideen bleiben in ihren Werken bewahrt und inspirieren – so wie viele andere, teilweise auch in diesem Band angesprochene humanistische Ansätze – weitere Generationen auf ihrer Suche nach einer Utopie. Die Hoffnung, eine bessere Zukunft für alle Menschen in der globalisierten Welt gewährleisten zu können, liegt auch den Recherchen und Bestreben der Autoren der hier dargestellten Beiträge zugrunde, die bemüht sind, sich mit Misserfolgen der vergangenen Epochen auf ihrer Suche nach dem Ideal der menschlichen Existenz und des Zusammenlebens kritisch auseinanderzusetzen und in der Gegenwart weiterführende Wege für das humanistische Denken und Handeln zu finden. Obwohl die extreme Varietät zeitgenössischer Lebensformen und -praxen eine enorme Herausforderung für den heutigen Humanismus darstellt, besitzt die Multikulturalität zugleich auch ein neuartiges Potenzial, das Partikuläre mit dem Universellen, das Lokale mit dem Globalen, das Individu13

GALA REBANE, KATJA BENDELS UND NINA RIEDLER

elle mit dem Gemeinschaftlichen zu versöhnen und in Verbindung zu bringen. Die in den Beiträgen geäußerte Kritik an älteren, teils gescheiterten oder gar gefährlichen Modellen des Humanismus und die Visionen eines Humanismus der Zukunft zeigen, dass eine vielseitige und transkulturelle, dem Eigenen und dem Fremden Rechnung tragende und selbstreflexive Rücksichtsnahme auf die Komplexität und Vielgestaltigkeit menschlicher Kulturen, Weltanschauungen und Weltbildern den künftigen, ja globalen und polyphonen Humanismus prägen muss. Dass unser kleiner, aber vielstimmiger Beitrag zur Diskussion über die Menschheit und Menschlichkeit zu Beginn des 21. Jahrhundert nicht nur in Rede, sondern auch in Schrift verwirklicht werden durfte, verdankt sich vielerlei Unterstützung. Unser Dank gilt all unseren Kolleginnen und Kollegen aus dem Graduiertenkolleg unter besonderer Erwähnung von Dr. Olga Iljassova-Morger und Felix Tirschmann, die sich an der Vorbereitung des Sammelbandes aktiv beteiligt und uns unschätzbare Hilfe bei den Korrekturen geleistet haben. Ferner möchten wir unseren Projektleitern Prof. Dr. Jörn Rüsen und Prof. Dr. Erhard Reckwitz für die engagierte Betreuung unserer Forschungsvorhaben und den Anstoß zu diesem Sammelband danken sowie den Projektkoordinatoren der ersten Stunde, Dr. Irmtraud Seebold und Dr. Martin Gieselmann, und ihren Nachfolgern Dr. Carmen Meinert und Aladdin Sarhan für den Beistand in unserer Zusammenarbeit und bei der Vorbereitung des Buchs. Vielen Dank auch an Shari Gilbertsen für die Korrektur der Abstracts. Auch danken wir der Stiftung Mercator, die unser Projekt finanziert hat und durch deren großzügige Unterstützung diese Veröffentlichung realisiert werden konnte, der Stiftung für Kulturwissenschaften, Essen, für ihre Unterstützung bei den Druckkosten sowie der Evangelischen Akademie Villigst und insbesondere Dr. Rüdiger Sareika für die Hilfe bei der Organisation unserer Treffen und die freundliche Atmosphäre, in der unsere Diskussionen, die zum Entstehen dieses Buchs geführt haben, stattfanden. Und natürlich sind wir dem transcript Verlag verpflichtet, der den vorliegenden Band ohne Zögern in sein Programm der Humanismus-Reihe aufgenommen hat. Gala Rebane, Katja Bendels und Nina Riedler

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Humanistisches Lernen in de r Postmoderne: Konstruktivismus und Pa ulo Freire KIRA FUNKE

Abstract The present article strives to re-define the concept of humanism which attains a new relevance in the educational system. The initial premiss is that humanism should not be regarded as a ready-made expedient but, rather, as a multivalent and processual concept, and as an epistemic and practical attitude the implementation of which in the educational praxis has to be constantly re-conceived. Diverging from the one-sided universalistic tenets, such comprehension of humanism also relates to postmodern social theories and constructivist epistemology. I underpin my proposition with the presentation of two pedagogical models, which in a certain sense can be interpreted as a revision of humanistic claims: the »Kritische Pädagogik« and the »Humanistische Pädagogik«. Critically analysing these approaches with a reference to the present situation of the educational system in Germany, I expound a novel way of comprehending humanism, which is primarily based on the theory of interactionist constructivism and the philosophy of the Brazilian pedagogue Paulo Freire.

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KIRA FUNKE

»Der Traum der Humanisierung, dessen Konkretisierung immer ein Prozess ist […], durchläuft die Brüche der realen, konkreten Begrenzungen ökonomischer, politischer, sozialer, ideologischer etc. Natur, die uns einer Enthumanisierung unterwerfen.«1

Über ein (neues) Konzept von Humanismus in Erziehung und Bildung nachzudenken, ist ein komplexes Unterfangen. Der Begriff hat vielfältige Bedeutungen in unterschiedlichen Zeiten und Disziplinen angenommen und ist auch innerhalb des europäischen Humanismusverständnisses nicht einheitlich definiert. Er war und ist vor allem in Bezug auf die katastrophalen Ereignisse im Europa des 20. Jahrhunderts grundlegender Kritik ausgesetzt. Für den Bereich der Erziehung und Bildung hat der Begriff des Humanismus in erster Linie im Konzept der altsprachlichen humanistischen Gymnasialbildung Bedeutung erlangt. Er steht hier in der Tradition der Werte der Moderne, die sich auf die Antike beziehen: Humanismus als Aufklärung, Bildung als Ausbildung der (kritischen) Vernunft des guten Menschen. Besonders aus postmodern orientierter Perspektive scheint ein so verstandener Humanismus wenig hilfreich zu sein, da er Vielfalt, Differenz und nicht-kognitive (Er-)Lebensweisen nur wenig berücksichtigt und die Vorstellung des guten und vernünftigen Menschen ausschließend und ethnozentrisch interpretierbar ist. Der Begriff des Humanismus kann jedoch in seiner Bedeutung mehr und anderes beinhalten. Humanismus in seiner weiten Bedeutung, einerseits auf der individuellen Ebene als Bemühen um Menschlichkeit und Menschenwürde, als freie Persönlichkeitsentfaltung, kritische Reflexion und entsprechende Gestaltung des eigenen Lebens sowie andererseits auf der Ebene der Gesellschaft als Schaffung der dafür notwendigen Lebens- und Umweltbedingungen, ist auch aktuell für die Erziehung und Bildung interessant. Es gilt hier also, sich einem Begriff anzunähern, der Pluralität und Differenz mitdenkt und dennoch eine Verständigungs- und Handlungsgrundlage darstellt, die übergreifende Relevanz hat, also ein Begriff, der die Verdienste postmodernen Denkens und die Errungenschaften der Moderne miteinander in Einklang zu bringen sucht.2 1

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Paulo Freire: Pedagogia da Esperança. Um reencontro com a Pedagogia do oprimido, São Paulo: Paz e Terra 2003, S. 99 (Pädagogik der Hoffnung. Eine Wiederbegegnung mit der Pädagogik der Unterdrückten, Übersetzung K.F.). Hiermit berühren wir ein Grundproblem der Ethik, das im Rahmen dieses Aufsatzes nicht umfassend erläutert und beantwortet werden kann. Ulrich Beck versucht beispielsweise mit seinem Konzept des Kontextuellen Uni-

HUMANISTISCHES LERNEN

Im vorliegenden Artikel gehe ich zunächst kurz auf zwei aktuelle Ansätze in der deutschsprachigen Pädagogik ein, die im weitesten Sinne als Angebote eines neu verstandenen Humanismus aufgefasst werden können: Die Kritische Pädagogik und die Humanistische Pädagogik. Im Anschluss daran entwickele ich, auf der Basis einer knappen Beschreibung der gegenwärtigen Situation des Bildungssystems in Deutschland, Vorschläge und Anregungen für ein neues Humanismusverständnis, das sich auf den brasilianischen Pädagogen Paulo Freire3 einerseits und auf den Interaktionistischen Konstruktivismus4 andererseits bezieht.

Kritische Pädagogik als aufklärende Bildung Die aktuelle Neuauflage der Kritischen Pädagogik5 in Deutschland greift vor allem die Ideen der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule auf und fragt entlang deren Zielen und Ansprüchen in erster Linie nach einer Pädagogik, welche emanzipatorisch wirkt und den Menschen als Subjekt seines Handelns kritisch zur Welt in Beziehung setzen hilft. In dieser Hinsicht können wir die Kritische Pädagogik als eine humanistisch orientierte Pädagogik verstehen: Der Mensch soll nicht handlungsunfähig in entfremdete und entfremdende Lebenswirklichkeiten einge-

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versalismus einen Mittelweg zwischen Universalismus und Relativismus zu entfalten. Ulrich Beck: Was ist Globalisierung? Frankfurt/Main: Suhrkamp 2007b, S. 135ff. Paulo Freire ist ein bekannter brasilianischer Pädagoge, der dem Denken der Moderne zugeordnet werden kann, da er vor allem die Idee der Emanzipation des Subjekts in das Zentrum seines Denkens stellte. Der Interaktionistische Konstruktivismus als gemäßigter Konstruktivismus geht davon aus, dass die Wahrnehmung der Wirklichkeit zwar immer durch subjektive Konstruktionen mit beeinflusst ist, wir bei bewusster Berücksichtigung dieser Konstruktionen jedoch trotzdem zu gültigen Erkenntnissen gelangen können, auch wenn diese begrenzt und vorläufig sind. Der Interaktionistische Konstruktivismus ist vor allem kulturtheoretisch orientiert und bezieht Erkenntnisse des postmodernen Denkens mit ein. Auf seiner Basis wurde von K. Reich die Systemisch-konstruktivistische Pädagogik entwickelt. Es kann an dieser Stelle keine Einführung in diese Ansätze gegeben werden. Vgl. dazu beispielhaft Kersten Reich: Systemisch-konstruktivistische Pädagogik. Einführung in Grundlagen einer interaktionistisch-konstruktivistischen Pädagogik, Neuwied, Kriftel, Berlin: Luchterhand 1996. Zur Entstehung und ersten Phase der Kritischen Erziehungswissenschaft in Deutschland und deren Zusammenhang zu ihrer aktuellen Fassung vgl. beispielhaft Dieter Hoffmann: Kritische Erziehungswissenschaft. Historische und systematische Rekonstruktionen eines verdrängten Paradigmas, Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2007, S. 7ff. 17

KIRA FUNKE

bunden sein, sondern sich zu diesen kritisch in Beziehung setzen und handelnd in sie eingreifen können. Die Betonung des Stellenwerts der Vernunft einerseits kritisierend, da das aufklärerische Projekt der Moderne ihre Ziele nicht erreichen konnte, sondern vielmehr neue Herrschafts- und Unterdrückungsstrukturen hervorbrachte, setzt die Kritische Pädagogik doch andererseits auf die kritische Vernunft als Instanz und Agens einer neuen Bildung und Erziehung.6 Die Kritische Pädagogik ist kulturpessimistisch ausgerichtet und zeichnet die (post)moderne Welt als Schreckgespenst sozialer Pathologien und Bedrohungsszenarien sowie entfremdeter, unterworfener Subjekte, die dem »ständig drohenden Rückfall« einer »ontogenetischen Regression in vorrationale Stadien der Subjektentwicklung«7 ausgeliefert sind. Sie misst der kritischen Urteilskraft eine überaus große Bedeutung bei, denn »eine noch unterentwickelte Rationalität«8 führe zu »Selbstgefährdung von Kindern«9. Die »nicht-intellektuellen Dimensionen des Mensch-Welt-Verhältnisses«10 werden zwar in ihrer Bedeutung erkannt, jedoch, so scheint es, ausschließlich in den Dienst der Ausbildung des Verstandes des Subjektes der »kritischen Bildung«11 gestellt. In einem solchen Erziehungs- und Bildungskonzept werden jedoch nicht nur die kreativen Potenziale und der Stellenwert dieser Dimensionen im Lehr-Lernprozess unterschätzt, sondern es besteht außerdem die Gefahr, dass eine so verstandene Erziehung und Bildung letztlich autoritäre – und somit wenig humanistische – Züge annehmen kann, da das Vertrauen in die Leistungs- und Schaffenskräfte der LernerInnen sowie in deren Vielfalt gering ist und diese als zu beeinflusst »von den Sozialpathologien […], die von allen Individuen ohne jede Ausnahme Besitz

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Zwar weist Hoffmann darauf hin, dass »nur eine Minderheit [der kritischen Pädagogen, K.F.] um die Weiterführung der Aufklärung bemüht ist« (D. Hoffmann: Kritische Erziehungswissenschaft, S. 18), jedoch ist nach wie vor die Betonung der kritischen Urteilskraft das Zentrum des Konzepts der Kritischen Pädagogik, denn »[d]as Ausmaß der Verblendung bzw. Unmündigkeit in der Gegenwart ist erschreckend.« Ebd., S. 23. 7 Bernhard, Armin: »Kritische Erziehungswissenschaft zwischen Antiquiertheit und Zukunftsbedeutung: Zur Überprüfung eines erziehungswissenschaftlichen Theoriemodells«, in: ders./A. Kremer/F. Rieß (Hg.), Kritische Erziehungswissenschaft und Bildungsreform. Programmatik, Brüche, Neuansätze, Bd. 1: Theoretische Grundlagen und Widersprüche, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2003, Bd. 1, S. 8-36, hier S. 25. 8 Ebd., S. 22. 9 Ebd. 10 Ebd., S. 21. 11 Ebd., S. 22. 18

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ergriffen haben«,12 gesehen werden. Die Kritische Pädagogik tritt eher als eine vermeidende Kampfansage gegen etwas als für etwas in den Ring und opfert damit einen Teil ihrer potenziellen Wirkungskraft. Auf diese Art und Weise versäumt sie es, eine Erziehungs- und Bildungstheorie mit praktischer Relevanz zu formulieren, die sich dem oben genannten Schreckgespenst in einer Weise stellt, dass sich dieses unter anderem auch in eine positive Vision phantasievoller, experimentierfreudiger und deswegen hoffnungsvoller Lehr-Lernerfahrungen wandeln kann (nicht muss), welche die Herausforderungen postmoderner Ambivalenzen als Ermöglichungsraum annimmt, ohne ihren kritischen, politischen und emanzipatorischen Anspruch aufgeben zu müssen.13 Sie riskiert, dass die Subjekte dieser Kritischen Pädagogik sich mit postmoderner Schnelligkeit von ihr emanzipieren – falls sie es nicht schon längst getan haben. Es soll an dieser Stelle nicht der kritische Anspruch der Kritischen Pädagogik in Frage gestellt werden. Im Gegenteil, es ist wichtig zu betonen, »dass […] kritisches Hinterfragen im Sinne von Aufklärung über Voraussetzungen, über die Bedingung der Möglichkeit von Veränderungen« nach wie vor ein Anliegen der Pädagogik ist, das »auch für postmoderne Denker wesentlich«14 bleibt. Jedoch sollte dieses Hinterfragen nicht einseitig in eine bestimmte Richtung zielend verordnet werden und, vor allem, sollte die Beziehungsseite von Lernen stärker reflektiert werden, denn: »[E]ine kritische Sicht auf die Inhalte, wie sie etwa die Kritische Theorie […] entwickelte, hat auch schon zuzeiten einer inhaltsdominanten Pädagogik und Didaktik geholfen, die Inhaltsansprüche selbst zu hinterfragen.« Jedoch ist diese kritische Sicht nach wie vor zu sehr »inhaltlich orientiert«.15

Humanistische Pädagogik als ganzheitliche Bildungspraxis Ein weiterer, gänzlich von der kritischen Pädagogik verschiedener Ansatz ist der der Humanistischen Pädagogik. Der Begriff ist unter seinen VertreterInnen selbst umstritten, da er einerseits eine Verbindung zum humanistischen altsprachlichen Bildungsideal nahe legt und andererseits vermeintlich impliziert, andere pädagogische Ansätze seien nicht huma-

12 Ebd., S. 23. 13 Vgl. dazu auch Kersten Reich: Konstruktivistische Didaktik. Lehren und Lernen aus interaktionistischer Sicht, München, Unterschleißheim, Neuwied: Luchterhand 2004, S. 26f. 14 Ebd. 15 Ebd., S. 32f. 19

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nistisch orientiert.16 Beides jedoch ist nicht die Intention der VertreterInnen dieses Ansatzes. Vielmehr bezieht die Humanistische Pädagogik in erster Linie ihre Bezeichnung aus ihrer theoretischen wie praktischen Nähe zur Humanistischen Psychologie, wie sie in den USA entwickelt wurde – auch wenn sie nicht in dieser aufgeht. Sie umfasst unterschiedliche pädagogische Ansätze, welche alle mehr oder weniger stark zu dieser in Verbindung stehen.17 Zu diesen zählen unter anderem das Psychodrama, die Gestaltpädagogik, die Bioenergetik, die Suggestopädie, die personenzentrierte Gesprächsführung, die themenzentrierte Interaktion und die Psychosynthese. Sie haben zum Ziel, »zur Wiederherstellung eines ganzheitlichen Zugangs zur Pädagogik beizutragen.«18 Die genannten Ansätze innerhalb der Humanistischen Pädagogik sind unterschiedlich tief theoretisch ausgearbeitet. Vielen von ihnen ist gemein, dass sie eine starke Praxisausrichtung haben, in der Praxis entstanden sind und sich dort bewährt haben, so dass sie »eher pragmatisch formuliert als theoretisch begründet«19 sind. Obwohl sie ihren Ursprung in der Psychologie und der Psychotherapie haben, finden sie praktische Anwendung in der pädagogischen Praxis, vor allem in der außerschulischen Bildung.20 Als ganzheitliche Ansätze möchten sie »Aspekte von Erziehungs-, Bildungs- und Lernprozessen hervorheben und methodisch zugänglich machen, die in einem auf kognitive Lernprozesse zentrierten allgemeinen Bildungssystem systematisch, historisch und aktuell vernachlässigt sind. Warum sie vernachlässigt sind, kann systematisch […] mit 16 Einige VertreterInnen dieses Ansatzes präferieren deswegen stattdessen die Bezeichnung Integrative Pädagogik. Auch dieser Begriff birgt Nachteile in sich, da er eine Nähe zu Ansätzen einer Pädagogik im Kontext Migration und Behinderung suggeriert, der auf diese Art und Weise nicht vorhanden ist. Vgl. dazu beispielhaft Volker Buddrus (Hg.): Humanistische Pädagogik, Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 1995, und Heinrich Dauber: Grundlagen Humanistischer Pädagogik. Integrative Ansätze zwischen Therapie und Politik, Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 1997. 17 Dauber erläutert, welche weiteren erkenntnistheoretischen, gesellschaftstheoretischen und anthropologischen Verständnishorizonte in der Humanistischen Pädagogik zum Tragen kommen (welche in Teilen jedoch mit denen der humanistischen Psychologie übereinstimmen). Vgl. dazu H. Dauber: Grundlagen Humanistischer Pädagogik, S. 63ff. 18 Volker Buddrus: »Integrative Pädagogik oder Humanistische Pädagogik? Ein Vorwort«, in: ders. (Hg.), Humanistische Pädagogik, S. 9-13, hier S. 11. 19 H. Dauber: Grundlagen Humanistischer Pädagogik, S. 157. 20 Das formale Schulsystem bietet durch die inhaltliche, räumliche und zeitliche Aufteilung der Lehr-Lernprozesse wenige Freiräume für die Praxis einer Humanistischen Pädagogik, auch wenn einzelne Lehrpersonen diese Freiräume zu nutzen versuchen. 20

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dem Interpretationsmuster der Moderne und dann als Folgeproblem der Moderne analysiert werden«.21

Insbesondere bedeutet dies, dass der Stellenwert nicht-kognitiver, sondern affektiver Prozesse für den Lehr-Lernprozess stärkere Beachtung findet, um damit die Verstandesorientierung der Moderne zu ergänzen durch eine eher ganzheitlich geprägte Herangehensweise: Ziel ist es hierbei auch, verborgene, nicht bewusste Einflussfaktoren des LehrLernprozess sicht- und erlebbar zu machen und sie in den Bildungsprozess als Wachstumsprozess einzubinden. Die Schwerpunktsetzungen der Humanistischen Pädagogik liegen darüber hinaus in der Betonung des Beziehungsaspekts innerhalb von Lehr-Lernprozessen (und nicht nur des Inhaltsaspekts), der Gestaltung von Lehr-Lernprozessen als für den/die LernerIn persönlich bedeutsam und der Berücksichtigung der im Prozess wirksam werdenden Kontexte.22 Eine so verstandene Humanistische Pädagogik liefert interessante und wertvolle Hinweise, wie ein neuer Humanismus in Erziehung und Bildung aufgefasst werden kann. Die im Folgenden als Alternativen vorgestellten Ansätze weisen einige Ähnlichkeiten mit ihr auf. Jedoch fehlt der Humanistischen Pädagogik eine umfassende theoretische Reflektion und Begründung, vor allem hinsichtlich der systematischen Berücksichtigung von Inhalts-, Beziehungs- und emotionaler Seite in Bildungsprozessen, aber auch in Bezug auf die Reflexion der gesellschaftlichen Funktion von Erziehungs- und Bildungsinstitutionen sowie deren kulturelle Rückgebundenheit.

Überlegungen zur Situation und Funktion des Bildungssystems – welche Art von Humanismus brauchen wir? Das Bildungs- und Erziehungssystem beinhaltet traditionell die Institutionen, durch die Werte, und daher auch humanistische Werte, vermittelt wurden und werden (können). Dies ist die Schwierigkeit, denen sich diese Institutionen heute gegenüber sehen, haftet doch auf der einen Seite dem Schlagwort Werteerziehung der Verdacht an, rückwärtsgewandt bis hin zu totalisierend zu sein. Dennoch wird von den Institutionen auf der 21 V. Buddrus: »Integrative Pädagogik oder Humanistische Pädagogik? Ein Vorwort«, S. 12. 22 Vgl. dazu H. Dauber: Grundlagen Humanistischer Pädagogik, S. 182ff. und Volker Buddrus/Waldemar Pallasch: Annäherungen an die Integrative Pädagogik, in: V. Buddrus (Hg.), Humanistische Pädagogik, S. 15-25, hier S. 23f. 21

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anderen Seite erneut und immer stärker verlangt, eine neue Perspektive auf mögliche Werte zu öffnen und diese vermittelnd erlebbar zu machen. Aber auch die in den Institutionen selbst Tätigen und Lernenden wünschen sich eine Lernumgebung und Lernmöglichkeiten, welche auf bestimmten Werten und Regeln basiert – und so nicht zuletzt das Lernen erst ermöglicht. Die Aufgaben der Institutionen des Erziehungs- und Bildungssystems werden jedoch fortwährend durch wirtschaftliche und gesellschaftliche Faktoren unterminiert – und somit gezwungenermaßen neu erfunden und verändert. Gesellschaftliche Problemlagen wirken reziprok in die Institutionen hinein und verdichten sich dort zu neuen Herausforderungen und Aufgabenstellungen. Das marktwirtschaftliche System, das auf den Prinzipien des Wettbewerbs, der Profitsteigerung und des Konsums basiert, bringt ein In-Frage-Stellen von Werten mit sich, das sowohl die Aufgaben als auch die Einflussbereiche des Erziehungs- und Bildungssystems konterkariert. Durch die PISA-Studie23 ist verstärkt in das öffentliche Bewusstsein gerückt, dass sich soziale, strukturelle und ökonomische Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten in Deutschland im System Schule widerspiegeln und fortsetzen. Die Schule ist – und das gilt ebenso für die Hochschulen und anderen Bildungs- und Erziehungsinstitutionen – nicht unabhängig von gesellschaftlichen Wirklichkeiten. Sie muss sich fragen lassen, ob das Menschenrecht auf Bildung durch sie für alle LernerInnen gewährleistet ist.24 Vor allem müssen darüber aber die politischen EntscheidungsträgerInnen nachdenken, die die Strukturen, Ressourcen und Inhalte der Schulen gestalten und LehrerInnen wie LernerInnen nicht selten in eine Situation versetzen, die dieses Recht für Einzelne wie für Gruppen

23 Wie alle Studien muss auch die PISA-Studie auf methodische Genauigkeit hin kritisch betrachtet werden. Es ist hier nicht der Ort, um die Validität und Reliabilität der Studie zu beleuchten. Ich schließe mich Reich an, der zwar anmerkt, dass »die Pisa-Studie … unter dem Vorbehalt [steht], einen Vergleich sehr unterschiedlicher Lerner mit einer relativ begrenzten Methode« angestellt zu haben, jedoch dennoch die Studie dazu verwendet »Hinweise, Denkansätze« zu generieren und zu dem Schluss kommt, dass sie »eine Misere an[zeigt], die vielen didaktischen Praktikern schon lange klar war und die sie oft genug in der Vergangenheit beklagt hatten, ohne hinreichend gehört zu werden.« (K. Reich: Konstruktivistische Didaktik, S. x) 24 Dies ist beispielsweise ein universeller Anspruch, den auch der Interaktionistische Konstruktivismus mit tragen kann. Jedoch wäre es aus Sicht dieses Ansatzes notwendig, den Anspruch des Rechts auf Bildung für die unterschiedlichen Kontexte unter dem Aspekt der Diskurse von Macht, Wissen und Hegemonie vertieft zu diskutieren. 22

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einschränkt.25 Themen wie Gewalt an/von jungen Menschen, zu große Schulklassen, die wachsende Anzahl von so genannten Schulverweigerern, überforderte und ausgebrannte LehrerInnen, neue Anforderungen durch eine multikulturell geprägte und vielsprachige SchülerInnenschaft, Universitäten, die immer stärker wirtschaftlichem Druck unterliegen und den Konkurrenzkampf innerhalb wie außerhalb ihrer Mauern zunehmend zu spüren bekommen, beherrschen darüber hinaus nicht nur verstärkt den Diskurs in den Medien, sondern beschäftigen die EntscheidungsträgerInnen in Politik und Gesellschaft sowie die Lernenden und Lehrenden selbst. Die erzieherische Aufgabe der Bildungs- und Erziehungsinstitutionen, d.h. zum Beispiel der Schulen und Hochschulen, aber auch der Einrichtungen der frühkindlichen Erziehung sowie der außerschulischen Bildung und Institutionen der sozialen Arbeit wird folglich stärker in den Blick genommen. Diese Institutionen, insbesondere die Schulen, befinden sich demzufolge in einem Spannungsfeld. Einerseits kommt ihnen die Aufgabe zu, den Anforderungen des Systems zu entsprechen und den Menschen auf eine Art und Weise zu erziehen und zu bilden, dass er oder sie erfolgreich in das (Wirtschafts)System integriert werden kann (Stichwort Employability)26. Es ist der berechtigte Anspruch der LernerInnen, dafür ausgerüstet und darauf vorbereitet zu werden. Doch schon hier erweist sich die Auswahl der Inhalte als schwierig: »Einerseits sollen insbesondere die öffentliche Schule oder andere Bildungseinrichtungen vorwiegend in vom übrigen Leben abgetrennter Form Lernern scheinbar bleibende objektive Realitäten nach ausgewählten Texten, Sachverhalten oder gestellten Szenarien vermitteln. […] Als Kriterien werden meist […] entweder traditionelle Bildungsansprüche […] oder Marktbedürfnisse

25 Das gilt beispielsweise für die MigrantInnen, die sowohl an Haupt- wie an Förderschulen (insbesondere an der Förderschule Lernen) stark überrepräsentiert sind. Aber auch an der gesamten SchülerInnenschaft der Förderwie der Hauptschulen, deren Chance auf eine Eingliederung in den Arbeitsmarkt oder den Besuch weiterbildender Institutionen bekanntlich sehr gering sind, geht in der Praxis das Ideal der fördernden Bildung für alle vorbei. Vgl. dazu beispielhaft Bernd Overwien/Annedore Prengel (Hg.): Recht auf Bildung. Zum Besuch des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen in Deutschland, Opladen, Farmington Hills: Budrich 2007. 26 Das wird nicht nur durch die Struktur und Inhalte der Institutionen selbst, sondern auch durch die Erfordernisse einer Gesellschaft, die aus Systemsicht immer mehr schlichtweg nicht benötigte Menschen produziert, erschwert. Vgl. dazu beispielhaft Zygmunt Bauman: Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne, Bonn: Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung 2005, und Ulrich Beck: Schöne neue Arbeitswelt, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2007a. 23

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[…] genannt. Andererseits werden diese › objektiven Realitäten‹ in der Postmoderne ständig entwertet, über den Haufen geworfen und in neue Bildungsansprüche oder Marktbedürfnisse verwandelt.«27

Die Schulen haben einen erzieherischen Auftrag, der impliziert, Werte zu vermitteln, die über die kapitalistische Verwertungslogik hinaus gehen und die helfen sollen, die soziale – und nicht nur die wirtschaftliche – Stabilität der Gesellschaft zu gewährleisten, sowie das persönliche und gemeinschaftliche Wachstum der LernerInnen zu fördern. Besonders diese Frage wird öffentlich (wieder) mehr und mehr gestellt. Darüber hinaus haben nicht wenige LernerInnen wie LehrerInnen den Wunsch, in allererster Linie einen Raum für möglichst freies, selbstbestimmtes und offenes Lernen gemeinsam füllen und nutzen zu können – ein Wunsch, der durch die Ansprüche, die von außen an sie herangetragen werden, allzu sehr ins Hintertreffen gerät. Das führt die Bildungsinstitutionen in »ein Spannungsverhältnis zwischen traditionellen Anforderungen und postmodernen Verunsicherungen«.28 Wie sollen also nun die genannten Institutionen diesen Aufgaben innerhalb des oben skizzierten Spannungsfelds Rechnung tragen? Aktuell können wir in der Politik das Bestreben beobachten, humanistisch anmutende Werte wieder verstärkt in die Praxis der Schulen einzubinden, um diese in der Erfüllung ihres erzieherischen Auftrags zu stärken. Ein Beispiel für diesen Versuch ist die (Wieder-)Einführung der so genannten Kopfnoten im Land Nordrhein-Westfalen zum Schuljahr 2007/2008. Nicht mehr nur schulische Leistungen, sondern auch das Sozialverhalten der SchülerInnen werden durch das Notensystem beurteilt. Verhaltensweisen wie z.B. Zuverlässigkeit, Konfliktverhalten, Verantwortungsbereitschaft und Kooperationsfähigkeit werden mit den Schulnoten von eins bis vier bewertet. Dies ist ein Beispiel rückwärtsgewandter, autoritärer Politik, die nicht nur an wissenschaftlichen und bildungspraktischen Erkenntnissen, sondern auch an den Wünschen und Anliegen eines großen Teils der SchülerInnen- und LehrerInnenschaft vorbei geht. Anstatt den LernerInnen und LehrerInnen Lernorte und Lernarten zur Verfügung zu stellen, an denen und mit deren Hilfe sie die genannten Kompetenzen praktisch erkunden, erleben und erlernen können, erhöht die Politik hier schlicht den Druck auf die LernerInnen (und die LehrerInnen) – und vertritt die fragwürdige Auffassung, dass erstens Leistungsdruck zu einer messbar erhöhten Leistung führt und zweitens, dass soziale Kompetenzen durch ein starres Notensystem in angemessener

27 K. Reich: Konstruktivistische Didaktik, S. 25. 28 Ebd., S. 24. 24

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Weise abgebildet werden können. (Das trifft noch nicht einmal für schwerpunktmäßig inhaltliches Lernen zu). Die Schule führt auf diese Art und Weise ihren Erziehungsauftrag gezwungenermaßen ad absurdum.

Interaktionistischer Konstruktivismus und der Ansatz Paulo Freires als Chance eines neu verstandenen und praktizierten Humanismus Auf der Basis der geschilderten Überlegungen schlage ich eine Konzeptionierung des Humanismusbegriffs für die Erziehung und Bildung vor, die sich den postmodernen Ambivalenzen stellt. Diese liegen vor allem in der Pluralität und Differenz individueller und kollektiver Interessensund Bedürfnislagen, die eine starke Perspektivenvielfalt mit sich bringt. Dieses Konzept sehe ich nicht als antimodern, sondern als eine Weiterentwicklung der Moderne: aus postmoderner Sicht, die diese Vielfalt zu berücksichtigen sucht, ein modernes Projekt, das Aufklärung, Emanzipation und Freiheit für alle Menschen anstrebt, zu überdenken und ihm zu neuer Relevanz zu verhelfen. Gerade weil die Wissensbestände der postmodernen Welt sich schnell wandeln, Mehrdeutigkeiten und Kontingenzen unterworfen sind, und Wahrheit immer auch als Beobachtung und Interpretation erscheint,29 sollte das zentrale Merkmal eines neuen Humanismus sein, Dialog, Kommunikation und Beziehung (zwischen Mensch und Inhalt, zwischen Mensch und Welt und zwischen Mensch und Mensch) in das Zentrum der Pädagogik zu stellen. »Gegensätzlichkeit wird zur Chance, sich vertiefend mit Gegensätzen und Widersprüchen zu befassen, andere Ansichten weit reichend und differenziert zu erfahren und mit eigenen Bedürfnissen zu beantworten, damit nicht nur Konsens, sondern auch einen Konsens über einen Dissens als sinnvolle Strategie und Kommunikation erleben zu können.«30

29 Dies bedeutet nicht, wie es oft unterstellt wird, dass sich nun jede Person beliebig die eigene Wahrheit und Welt konstruiert. Auch der Interaktionistische Konstruktivismus – welcher sich z.B. vom Radikalen Konstruktivismus deutlich unterscheidet – stellt einen Wahrheitsanspruch auf dieser relativierenden Grundlage und betont, dass solche geteilten Wahrheiten als »Zuschreibungsformen eines adäquaten Handelns und Beobachtens im Sinne von Vorverständigungen und gemeinschaftlich ausgebildeten Normierungen, Beobachtungen und Kontrollen hierüber« (ebd., S. 8) sinnvoll und notwendig sind. 30 Ebd. S. 57. Zur Systematisierung einer Didaktik in der Postmoderne vgl. auch ebd. S. 13ff., insbes. S. 19, 154ff. 25

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In diesem Sinne wird eine humanistische Bildung heute zu einer Pädagogik der Diversität, die auf der einen Seite den Dissens diskutiert und (an)erkennt, und dennoch versucht, diesen in einen Werterahmen zu stellen, der als umfassender Rahmen für alle gelten will, ohne eine zu hohe Konsenserwartung zu stellen. Dieser Werterahmen beinhaltet beispielsweise Ziele, die auch in konstruktivistischen und postmodernen Ansätzen als wertvoll betrachtet werden, wie Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität.31 Im Kontext der dargestellten Anforderungen kann ein Rückgriff auf die Arbeiten des brasilianischen Pädagogen Paulo Freire Anregungen geben. Paulo Freire (1921-1997) wurde weltweit vor allem durch sein Alphabetisierungskonzept bekannt, das Alphabetisierung mit politischer Bildung für soziale Gerechtigkeit verband. Bis heute hat er vor allem in Brasilien einen deutlichen Einfluss auf die Bildungspolitik und Bildungspraxis in unterschiedlichen Kontexten. Als humanistischer Pädagoge stellt er in seinem Ansatz auf der einen Seite Wege vor, Menschenwürde und Persönlichkeitsentwicklung in den Mittelpunkt der pädagogischen Arbeit zu stellen, und auf der anderen Seite parallel dazu die gesellschaftlichen Zusammenhänge, die zu ersterem widersprechenden sozialen Praxen führen können, zu analysieren und auf ihre Veränderungen hinzuwirken. In diesem Zusammenhang wird Wissen immer kritisch in Bezug darauf untersucht, wem es dient und, konstruktivistisch gesprochen, in welchem Kontext es viabel, also gültig, ist. Er berücksichtigt somit in seinem Ansatz individuelle wie gesellschaftliche Aspekte des Humanismus. Paulo Freire schlägt eine pädagogisch-politische Arbeit vor, die die Lebenswelt und -wirklichkeit der LernerInnen in den Mittelpunkt des Erziehungs- und Bildungsprozesses stellt und zum Ausgangspunkt allen Lernens macht, sowie sich konsequent als eine Arbeit begreift, die transformative gesellschaftliche Aufgaben übernimmt, ohne diese zu verordnen. Die Bildungspraxis nach Freire ist von einem dialo-

31 In dieser Hinsicht hat ein so verstandener Humanismus ebenfalls einen universellen Anspruch. Auch postmoderne und konstruktivistische Ansätze geben diesen nicht auf, sondern versuchen ihn nicht durch einen rational für alle geteilten und verbindlichen Konsens mit Wahrheitsanspruch, sondern durch eine eher pragmatistische Sichtweise der Idealisierung ihrer antizipierten Folgen zu begründen. Insbesondere der Interaktionistische Konstruktivismus vertritt hier das Anliegen radikaler Demokratie. Vgl. dazu auch Stefan Neubert: »Konstruktivismus, Demokratie und Multikultur: Konstruktivistische Überlegungen zu ausgewählten theoretischen Grundlagen der anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte«, in: Stefan Neubert/Hans-Joachim Roth/Erol Yildiz (Hg.), Multikulturalität in der Diskussion. Neuere Beiträge zu einem umstrittenen Konzept, Opladen: Leske und Budrich 2002, S. 63-98, hier S. 63ff. 26

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gischen, solidarischen Verhältnis zwischen LehrerIn und LernerIn geprägt, in dem eine zugewandte, visionäre und wohlwollende Haltung das Kernstück des Lehr-Lernprozesses darstellt. Lernen wird so zu einem persönlichen Wachstum des Lerners/der Lernerin (wie des Lehrers/der Lehrerin), das stets eine politische Komponente enthält. Freire bleibt jedoch unter anderem in seiner Erkenntniskritik, in der Berücksichtigung des Unbewussten und Gefühlten (das er erwähnt, jedoch nicht systematisch ausarbeitet) und in der Analyse der gesellschaftlichen Einbettung der Erziehungs- und Bildungsinstitutionen vage. Ein Humanismus, der sich postmodernen Herausforderungen stellt, sollte sich aus diesem Grunde über Paulo Freire hinaus weiterentwickeln. Hierbei kann der Ansatz des Interaktionistischen Konstruktivismus, wie er von Kersten Reich entwickelt und vertreten wird, den humanistischen Ansatz Freires sinn- und wirkungsvoll ergänzen, da der Interaktionistische Konstruktivismus didaktische Instrumentarien bietet, die in dieser Differenziertheit bei Freire fehlen. Darüber hinaus berücksichtigt er psychologische, sozial- und kulturwissenschaftliche Erkenntnisse. So komme ich zu dem Schluss, dass gesellschaftliche Wirklichkeiten in der Schule reflektiert, dekonstruiert und neu konstruiert werden müssen und dürfen. Eine konstruktivistische Werteerziehung bedeutet vor diesem Hintergrund, Werte zu untersuchen, (so weit wie möglich) transparent und erlebbar zu machen, sie dem Risiko der Kritik und Dekonstruktion auszusetzen und neue Konstruktionen zuzulassen, ohne sich vor einer Verbindlichkeit von Werten zu scheuen, denn »[e]manzipatorische Bildungsarbeit im postmodernen Sinn nimmt die Selbstverantwortung und Mündigkeit der Individuen ernst. Lernen heißt somit: Reflexion und Klärung von Wertprioritäten, Wahrnehmung von Differenzen, Erweiterung von Möglichkeiten moralischen Urteilens.«32 Hilfreich für eine so verstandene humanistische pädagogische Praxis sind vor allem folgende Grundsätze des Interaktionistischen Konstruktivismus: • Vor allem der Reflexion der Beziehungen und der Kommunikation kommt, neben den Inhalten, im Lehr-Lernprozess eine besondere Bedeutung zu, denn Inhalte werden im Rahmen von Beziehungen, re/de/konstruktiv vermittelt. Hierfür sind besonders systemische Methoden hilfreich. Lernen wird so zu einem dialogischen und solidari-

32 Horst Siebert: Konstruktivistisch lehren und lernen, Augsburg: ZielVerlag 2008, S. 12. 27

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schen Handeln (ähnlich wie bei Paulo Freire), denn je gelingender die Kommunikation, desto wirkungsvoller auch das Lernen.33 Lernen ist somit ein gemeinsamer Konstruktionsprozess von Wissen. Alle an diesem Prozess beteiligten Personen (LehrerInnen wie LernerInnen) haben das Recht, diesen mitzugestalten und ihre eigenen Perspektiven mit einzubringen. Der interaktionistische Konstruktivismus zielt darauf ab, unbewusste Wirklichkeiten, Wünsche, Träume und Vorstellungen, die im LehrLernprozess wirksam werden, mit zu berücksichtigen, erkennt jedoch gleichzeitig (anders als Paulo Freire) die Grenzen der Erkenntnis und Kommunikation an.34 Der Lehr-Lernprozess kann erfolgreicher gestaltet werden, wenn auch Kreativität und Phantasie in ihm Platz finden, beispielsweise durch die Anwendung von konstruktiven Methoden wie Planspiele und deren Reflexion. Die interaktionistisch-konstruktivistische Diskurstheorie unterscheidet den Diskurs des Wissens, der Macht, des Unbewussten und der Beziehungen. Sie stellt ein Instrumentarium dar, den politischen Anspruch, den alle in diesem Aufsatz erwähnten Ansätze mehr oder weniger explizit haben, differenziert zu betrachten.35 Durch die Anwendung der Diskurstheorie lässt sich beispielsweise untersuchen, wie gesellschaftliche Herrschaftsformen und Machtverhältnisse auch in den Bildungsinstitutionen wirksam werden.

Insbesondere dem Beziehungsdiskurs kommt in der Erziehungs- und Bildungsarbeit eine ganz besondere Bedeutung zu. Gesellschaftlich verantwortliches und reflektiertes Verhalten bedeutet stets, sich zu sich selbst und anderen in Beziehung zu setzen. Und dies will re-/de-/konstruktiv erlernt sein. Es sind Beziehungen, die die gelebte und gestaltete Realität formieren und ihr ein human(istisch)es Bild verleihen. Und diese lassen sich nicht durch Noten von eins bis vier angemessen darstellen, geschweige denn durch bloßen Leistungsdruck erreichen.

Fazit Damit ein wie oben beschriebener Humanismus im Bildungssystem praktisch erfahren und gelebt werden kann, müssen auf der einen Seite die Strukturen dieses Systems verändert sowie auf der anderen Seite die

33 Vgl. K. Reich: Konstruktivistische Didaktik, S. 38, 23 und 55. 34 Vgl. beispielhaft ebd., S. 57ff. 35 Vgl. dazu ebd., S. 48f. 28

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Methodik und Didaktik, die innerhalb des Systems zur Anwendung kommen, modifiziert werden. Konkret bedeutet dies: Das vielgliedrige (nicht nur dreigliedrige, denn die unterschiedlichen Förderschulen sind ebenfalls Teil dieses Systems) Schulsystem, in dem die Kinder viel zu früh und zu stark selektiert werden, sollte zu Gunsten eines Gesamt- und Ganztagsschulsystems aufgegeben werden.36 Das Hochschulsystem sollte für alle kostenfrei in Anspruch genommen werden können. Die LehrerInnenausbildung muss entlang den geschilderten Notwendigkeiten reformiert werden – und den zukünftigen LehrerInnen selbst ein anderes Lernen ermöglichen. Die Methodik und Didaktik muss die Beziehungsseite des Lernens als unbewusste, gefühlte und imaginierte Faktoren des Lernens stärker mit berücksichtigen. Statt Benoten hilft systemisches Bewerten, diese Faktoren bei der Evaluation mit einzubeziehen. Die Lehr-Lernprozesse sollten re-/de-/konstruktiv und lernerorientiert gestaltet werden sowie an ihre Lebenswirklichkeit anschlussfähig sein – auch wenn sie über diese hinausweisen. Zusätzlich werden Lehrkräfte benötigt, die Visionen vorleben und erleben lassen, um innerhalb wie außerhalb des Systems Wirkung zu zeigen – und das System muss diese Visionen zulassen und unterstützen.37 LehrerInnen, vor allem aber auch endlich die LernerInnen selbst sollten aktiv in den politischen Gestaltungsprozess des Erziehungs- und Bildungssystems miteinbezogen werden. Gelebte Demokratie ist der beste Weg zum/des Humanismus einer Bildung und Erziehung in der Postmoderne: »Anerkennung, Freundlichkeit, Dialog und Enthierarchisierung – dies sind moderne Stichworte, die in der Kultur postmodern nicht mehr nur idealisierend benutzt werden sollten. Wir erwarten, dass sie praktisch im Lehren und Lernen umgesetzt werden.«38 Nicht nur dort, so möchte ich hinzufügen.

Literatur Bauman, Zygmunt: Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne, Bonn: Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung 2005. Beck, Ulrich: Schöne neue Arbeitswelt, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2007a. Ders.: Was ist Globalisierung?, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2007b. 36 Vgl. dazu Wolfgang Edelstein: »Schule als Armutsfalle – wie lange noch?«, in: Bernd Overwien/Annedore Prengel (Hg.), Recht auf Bildung, S. 123ff. 37 Vgl. K. Reich: Konstruktivistische Didaktik, S. 59. 38 Ebd., S. 35. 29

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Bernhard, Armin: »Kritische Erziehungswissenschaft zwischen Antiquiertheit und Zukunftsbedeutung: Zur Überprüfung eines erziehungswissenschaftlichen Theoriemodells«, in: ders./A. Kremer/ F. Rieß (Hg.), Kritische Erziehungswissenschaft und Bildungsreform (2003), Bd. 1, S. 8-36. Ders./Armin Kremer/Falk Rieß (Hg.): Kritische Erziehungswissenschaft und Bildungsreform. Programmatik, Brüche, Neuansätze, Bd. 1: Theoretische Grundlagen und Widersprüche, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2003. Buddrus, Volker (Hg.): Humanistische Pädagogik, Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 1995. Ders.: »Integrative Pädagogik oder Humanistische Pädagogik? Ein Vorwort«, in: ders. (Hg.), Humanistische Pädagogik (1995), S. 9-13. Ders./Pallasch, Waldemar: »Annäherungen an die Integrative Pädagogik«, in: V. Buddrus (Hg.), Humanistische Pädagogik (1995), S. 1525. Dauber, Heinrich: Grundlagen Humanistischer Pädagogik. Integrative Ansätze zwischen Therapie und Politik, Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 1997. Edelstein, Wolfgang: »Schule als Armutsfalle – wie lange noch?«, in: B. Overwien/A. Prengel (Hg.), Recht auf Bildung (2007), S. 123133. Freire, Paulo: Pedagogia da Esperança. Um reencontro com a Pedagogia do oprimido, São Paulo: Paz e Terra 2003. Hoffmann, Dieter: Kritische Erziehungswissenschaft. Historische und systematische Rekonstruktionen eines verdrängten Paradigmas, Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2007. Neubert, Stefan: »Konstruktivismus, Demokratie und Multikultur: Konstruktivistische Überlegungen zu ausgewählten theoretischen Grundlagen der anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte«, in: ders./H.-J. Roth/E. Yildiz (Hg.), Multikulturalität in der Diskussion (2002), S. 63-98. Ders./Roth, Hans-Joachim/Yildiz, Erol (Hg.): Multikulturalität in der Diskussion. Neuere Beiträge zu einem umstrittenen Konzept, Opladen: Leske und Budrich 2002. Overwien, Bernd/Prengel, Annedore (Hg.): Recht auf Bildung. Zum Besuch des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen in Deutschland, Opladen, Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich 2007. Reich, Kersten: Konstruktivistische Didaktik. Lehren und Lernen aus interaktionistischer Sicht, München, Unterschleißheim, Neuwied: Luchterhand 2004.

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Ders.: Systemisch-konstruktivistische Pädagogik. Einführung in Grundlagen einer interaktionistisch-konstruktivistischen Pädagogik, Neuwied, Kriftel, Berlin: Luchterhand 1996. Siebert, Horst: Konstruktivistisch lehren und lernen, Augsburg: ZielVerlag 2008.

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»… w as durch me in Se yn w ird in der We lt erstrebet« – Dichtung als Einkehr in de n Sonette n Wilhe lm vo n Humboldts ASLI AYMAZ

Abstract Wilhelm von Humboldt (1767-1835), one of the central figures of humanism, created the theory of Bildung (self-formation or self-cultivation) which he considered personally significant until the end of his life. In his final years, spent in the castle of Berlin-Tegel, he composed sonnets in which he articulated and reflected on the impressions and experiences of his life. These sonnets cover several topics. The following contribution introduces an assortment of sonnets and demonstrates the way Humboldt’s reflections are handled in his poems and what their role is in the process of Bildung. The compositions form a space for selfabsorption and point out what literature can contribute to Bildung.

1. Das »Innre« und die Zeit Wilhelm von Humboldt (1767-1835) übte im Laufe seines Lebens mehrere politische Funktionen aus und ist besonders als Bildungstheoretiker und Sprachphilosoph in die Geschichte eingegangen. Bereits als junger Student bewegt er sich im Kreis der Berliner Aufklärung. Seine Freundschaft mit Friedrich Schiller, seine Briefwechsel mit Johann Wolfgang Goethe, Friedrich August Wolf, Friedrich Heinrich Jacobi, Christian Gottfried Körner und anderen Zeitgenossen stellen entscheidende Ein-

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flüsse in seinem Leben dar. Mit seiner Frau Caroline von Humboldt verbindet ihn eine innige Beziehung, die sich bis zu ihrem Tod aufrechterhält. Seine Aufenthalte in Italien, Frankreich und Spanien prägen seinen Bildungsweg in entscheidender Weise, da er aus ihnen Anregungen für seine Studien zum Altertum und zur Kultur- und Sprachtheorie gewinnt. Humboldt führt ein bewegtes Leben, in dem er besonders in der Phase bis zum Jahre 1806/07 grundlegende anthropologische und kulturtheoretische Überlegungen anstellt, die seine folgenden sprachphilosophischen und politischen Arbeiten stützen.1 In der im Jahre 19902 erschienenen Untersuchung Lydia Dippels, die sich mit den ästhetischen und anthropologischen Vorstellungen Humboldts befasst, heißt es einleitend: »Wilhelm von Humboldt hat neben anderen Denkern des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts einen eigenständigen Beitrag zu einer philosophisch-ästhetischen Wesensbestimmung des Menschen geleistet. Mit den stereotyp verwandten Begriffen des Humanisten und Repräsentanten des deutschen Bildungsdenkens bzw. kongenialen, aber letztlich unproduktiven Echos Schillers und Goethes ist seine Bedeutung allerdings nur unzulänglich umschrieben. Diese Klischees stehen in einem Mißverhältnis zu dem, was aus seinem weitverzweigten Œuvre wirklich bekannt ist […]«

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Vgl. Herbert Scurla: Wilhelm von Humboldt. Werden und Wirken, Berlin: Verlag der Nation 1970. Lydia Dippel: Wilhelm von Humboldt. Ästhetik und Anthropologie, Würzburg: Königshausen und Neumann 1990 (Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 50), S. 9. Beispielsweise bezieht sich Dippel auf den Gebrauch des Begriffs der Humanität im Zusammenhang mit Humboldts Werk: »Der Ausdruck ›Humanitätsidee‹ kommt in Humboldts Sprachgebrauch nicht vor; er wird erstmals von Spranger plakativ verwendet und in den Mittelpunkt seines Denkens gerückt. Auch der Begriff ›Humanität‹, dem bei Herder im Rahmen der wechselseitigen Bezogenheit von ›Menschheit‹, ›Kultur‹ und ›Bildung‹ eine Schlüsselstellung zukam, fehlt in Humboldts Schriften. Niethammer gebraucht ihn 1808 als erster repräsentativ für jene pädagogische Strömung, welche die ›vollendete, allseitige, harmonische Ausbildung zu einem Ganzen‹ dem Prinzip absolutistischer Standes- und Berufserziehung entgegenstellte. ›Humanismus‹ und ›Philantropismus‹ gelten fortan als Gegenbegriffe, die den Kontrast zwischen dem Ideal zweckfreier ›Menschenbildung‹ und dem utilitaristischen Erziehungsdenken des aufgeklärten Absolutismus verdeutlichen sollen. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wird ›Humanismus‹ schließlich zum Epochenbegriff für eine Bewegung, die eine Erneuerung des eigenen Zeitalters aus dem Geist der Antike erstrebt. Um die deutsche Hinwendung zur Antike in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vom vorwiegend romanisch vermittelten Renaissance-Humanismus des 15. und 16. Jahrhunderts abzugrenzen, prägte Sprangers Lehrer Friedrich Paulsen 1885 den Begriff des Neuhumanismus.« Ebd., S. 11.

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Dippel fasst hier die Problematik zusammen, die mit dem überlieferten Humboldt-Bild3 verbunden ist. Doch lässt sich, zunächst losgelöst von der Frage, ob Humboldt ein klassischer Humanist gewesen sei, ein Menschenbild in seinen Schriften ausmachen, das maßgeblich auf der Idee der Bildung beruht. Eingehend beschäftigt sich Humboldt insbesondere in den neunziger Jahren mit der Frage nach dem Wesen des Menschen, seinem konstitutiven Wirken als Individuum und als Vertreter seiner Gattung. Diese Überlegungen begleiten Humboldt bis zu seinem Tod, seine Bildungstheorie geht stets auch mit der Reflexion über den eigenen Bildungsweg einher. Im Folgenden soll nun ein Ausschnitt aus dieser Reflexion, der die letzten Lebensjahre Humboldts umfasst, näher betrachtet werden. »Zu Beginn des sechsten Jahrzehnts seines Lebens kehrte er nach Berlin zurück und wurde erst jetzt dort wirklich heimisch«4, heißt es in der Biographie Herbert Scurlas. Es beginnt eine Phase der »schöpferischen Einsamkeit in Tegel«5, in der er auch Gedichte verfasst. Humboldt entwirft im Laufe seines Lebens zwar mehrere dichterische Versuche, aber in den Jahren zwischen 1832 und 18356 bedient er sich besonders der traditionsreichen Form des Sonetts, um seinen Eindrücken und Erinnerungen dichterischen Ausdruck zu geben. Diese Sonette, entstanden sind über tausend, sollten vermutlich nicht veröffentlicht werden. Alexander von Humboldt gibt in den Jahren zwischen 1841 und 18527 eine Auswahl aus dem Nachlass heraus, und im Jahre 1853 entsteht eine eigenständige Ausgabe der Sonette, die ebenfalls von Alexander von Humboldt besorgt wird und in Berlin erscheint. »Die Sonette meines Bruders, von ihm selbst nicht zur Veröffentlichung bestimmt, ja den

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Vgl. Jürgen Kost: Wilhelm von Humboldt. Weimarer Klassik. Bürgerliches Bewusstsein. Kulturelle Entwürfe in Deutschland um 1800, Würzburg: Königshausen und Neumann 2004 (= Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 19). Auch Kost revidiert eines der gängigen HumboldtBilder. Er kontextualisiert Humboldts Bildungsideal in der Abgrenzung zum Weimarer Klassizismus. H. Scurla: Wilhelm von Humboldt, S. 415. Ebd. Wilhelm von Humboldt: »Sonette. Mit einem Vorwort von Alexander von Humboldt«, in: Albert Leitzmann (Hg.), Wilhelm von Humboldts Werke, Bd. 9, photomechanischer Nachdruck Berlin: Walter de Gruyter und Co. 1968, S. 159-441. Leitzmann stellt seiner eigenen Auswahl der Humboldtschen Sonette das Vorwort Alexander von Humboldts aus der SonettAusgabe von 1853 voran. Vgl. Wilhelm von Humboldt: Gesammelte Werke, Bd. 1-7, hrsg. v. Alexander von Humboldt, Berlin: Reimer 1841-1852. Auch unter den früheren dichterischen Versuchen Humboldts befinden sich Sonette, allerdings zeugen die letzten Lebensjahre von einer umfangreicheren Produktion. 35

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nächsten Angehörigen bis zu seinem Tode (am 8. April 1835) unbekannt geblieben, sind, wie ich schon an einem anderen Orte gesagt, als ein Tagebuch zu betrachten […]«8 – und weiter führt er an: »Aus diesem Gesichtspunkte betrachtet, gewährt ihre Sammlung ein eigenthümliches Interesse. Wenn sie einen Reichthum von Ideen offenbart über den erhabenen Einklang in den Kräften der Natur, wie über das ungleiche Wechselspiel in den Schicksalen der Menschheit; so bezeugt sich auch zugleich Ruhe und milde Stimmung des Gemüths am Ende einer Laufbahn in vielbewegter Zeit.«9

Die Sonette sind Ausdruck einer Spiegelung des Selbst und eines an Eindrücken reichen Welterlebens. Die Motive werden aus einer Vielfalt von Themen geschöpft: Es sind Überlegungen über Natur- und kosmische Erscheinungen, über mythologische, reale, historische oder fiktive Figuren, die neben philosophischen Ideen und selbstreflexiven Gedanken stehen.10 Entsprechend äußern sich unterschiedliche lyrische Subjekte – aus einigen Sonetten geht eine sprechende weibliche Figur hervor, in anderen wiederum eine männliche. Humboldt erzeugt eingängige Stimmungsbilder, die sich zwischen Schwere und Heiterkeit, zwischen sprachlicher Komplexität und einem seichteren Stil bewegen. Aus dieser Sammlung wird im Folgenden nur eine kleine Auswahl vorgestellt, welche Aufschluss bezüglich der Fragestellung gibt, wie diese Selbstspiegelung inhaltlich inszeniert wird. In einem weiteren Schritt wird die Frage aufgeworfen, welche Bedeutung dichterischer Tätigkeit im Zusammenhang mit der Bildungsvorstellung Humboldts zukommt.

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Aus dem »Vorwort« Alexander von Humboldts in: W. v. Humboldt: Sonette, S. 161. 9 Ebd. 10 Vgl. Felix M. Wassermann: »Die Alterssonette Wilhelm von Humboldts. Bekenntnis und Vermächtnis«, in: Monatshefte. A Journal Devoted to the Study of German Language and Literature 42 (1950), S. 395-408. Wassermann zeigt die vielfältigen Motive und Bezüge auf, die in den Sonetten aufgegriffen werden. Zu den Motiven vgl. auch Albert Leitzmann: Wilhelm von Humboldts Sonettdichtung, Bonn: A. Marcus und E. Webers Verlag 1912. Albert Leitzmann stellt im zweiten Kapitel seines Essays heraus, dass bereits der junge Humboldt mit der Form des Sonetts konfrontiert wird. »Durch Zufall ist es dem jungen Humboldt, der in den Tagen seiner jugendlichen berliner Aufklärungszeit hie und da Verschen im Stile Göckingks und Gellerts gemacht hat oder zierliche französische Reime zusammengefügt hatte, in Göttingen als Student, wo er zuerst den Geist zu freierem Flügelschlag erheben lernte, vergönnt gewesen, die Wiedergeburt des deutschen Sonetts als Zuschauer und Kritiker unmittelbar mitzuerleben.« Ebd., S. 10f. 36

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Zu Beginn sei nun das folgende Sonett11 (1833) angeführt, in dem sich das Ich über das Zeitempfinden äußert: »Die Zeit. Was ist der Strom, der keinen Ursprung kennet, und sich in keinen Ocean ergiesset, der ohne Unterbrechung ewig fliesset, dess Länge keine Zunge messend nennet? Die Zeit es ist, die alle Dinge trennet, und doch im weiten Bett zusammenschliesset, die in demselben Nu vergeht und spriesset, und mehr verzehrt, als Glut, die lodernd brennet. Doch der die Allmacht vor nicht Gränze schreibet, der setzt der Mensch in seinem Innren Schranken durch seines Geistes Fühlen und Gedanken. Denn was in ihm beständig gleich sich bleibet, das der Natur gemässe, stete Wollen, lässt fort sich nicht vom Zeitenstrome rollen.«

Das Subjekt erfährt eine Überhöhung aufgrund seiner Standhaftigkeit gegen die Vergänglichkeit, die sich durch das Zeiterleben ergibt. Dem barocken Duktus von der Zeitlichkeit wird der Mensch entgegengesetzt, der sich auf sein »Innres« beruft, um die Wirkung der Zeit zu transzendieren. In dem Fragment »Theorie der Bildung des Menschen«12, die vermutlich 1794 oder 1795 entstanden ist, stellt Humboldt programmatisch seine Bildungsidee vor: »Die letzte Aufgabe unsres Daseyns: dem Begriff der Menschheit in unsrer Person, sowohl während der Zeit unsres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so grossen Inhalt, als möglich, zu verschaffen, diese Aufgabe löst sich allein durch die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung. Diess allein ist nun auch der eigentliche Massstab zur Beurtheilung der Bearbeitung jedes Zweiges menschlicher Erkenntniss. Denn nur diejenige Bahn kann in jedem die richtige seyn, auf welcher das Auge ein unverrücktes Fortschreiten bis zu diesem letzten Ziele zu verfolgen im Stande ist, und hier allein darf das Geheimniss gesucht werden, das, was sonst ewig todt und unnütz bleibt, zu beleben und zu befruchten.«

11 W. v. Humboldt: Sonette, S. 259. 12 Wilhelm von Humboldt: »Theorie der Bildung des Menschen«, in: Andreas Flitner/Klaus Giel (Hg.), Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden, Bd. I, 4., korrigierte und mit einem Nachwort versehene Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002, S. 234-240, hier S. 235f. 37

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In diesem Zusammenhang inszeniert Humboldt das metaphysische »Innre« des Menschen durch eine prägnante Metaphorik: »Beschränken sich indess auch alle diese Forderungen nur auf das innere Wesen des Menschen, so dringt ihn doch seine Natur beständig von sich aus zu den Gegenständen ausser ihm überzugehen, und hier kommt es nun darauf an, dass er in dieser Entfremdung nicht sich selbst verliere, sondern vielmehr von allem, was er ausser sich vornimmt, immer das erhellende Licht und die wohlthätige Wärme in sein Innres zurückstrale.«13

Dem nur vage benannten und nicht näher erläuterten »Innren«14 kommt die Bedeutung einer metaphysischen Einkehr zu, die der Vergänglichkeit und »Entfremdung« entgegenwirkt – Faktoren, die den Menschen, der sich über seinen Selbstzweck definiert, in seiner physischen Disposition progressiv schwinden ließen. In einem weiteren Sonett15 (1832) heißt es: »Der Stern. Castor und Pollux man bezeichnet findet, dass über jedem Haupt ein Stern hell schwebet, der, an des Himmels Fackel angezündet, mit seinem Licht hernieder milchweiss bebet. Ein Stern sich überm Haupt auch mir erhebet, der Stern mich eigentlich ans Leben bindet, 13 Ebd., S. 237. 14 Zu den Grundzügen Humboldtscher Bildungstheorie vgl. Dietrich Benner: Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie. Eine problemgeschichtliche Studie zum Begründungszusammenhang neuzeitlicher Bildungsreform, 3. erw. Aufl., Weinheim, München: Juventa Verlag 2003. »Absolut in dem von Humboldt gemeinten Sinne kann nur etwas sein, das seinen Maßstab nicht aus äußeren gesellschaftliche Bedingungen und Anforderungen ableitet und auch nicht einfach den inneren Vorstellungen einzelner Subjekte entlehnt, sondern seine Absolutheit aus dem Zweck, Urteilskriterium zu sein, gewinnt. Da wir nun aber weder objektiv noch subjektiv über einen fertigen Maßstab zur Beurteilung unserer Person und der uns umgebenden gesellschaftlichen Verhältnisse verfügen, gehört es geradezu zu dem hier fordernden Maßstab, dass wir ihn nicht haben, sondern nach ihm fragen müssen und ihn, weil unser Fragen selbst konstitutiv ist für das, was überhaupt Maßstab unserer Bestimmung sein kann, nur suchend finden und als einen einmal gefundenen niemals besitzen, sondern als Regulativ weiteren Suchens und Findens benötigen und brauchen. Weil der Maßstab menschlicher Bildung durch die Frage nach ihm konstituiert wird und infolgedessen die Bedeutung eines regulativen Prinzips für die Arbeit an der Bestimmung des Menschen beansprucht, sagt Humboldt, er lasse sich auf nichts anderes als den Menschen selbst beziehen […]« Ebd., S. 82. 15 W. v. Humboldt: Sonette, S. 166. Hervorhebung A.A. 38

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und mir mit lichten Strahlen klar verkündet, was durch mein Seyn wird in der Welt erstrebet. Ich habe durch mein Flehn herabgezogen, zu mir sein ruhges, ewges Glanzbegleiten; mein Vater half mir machen ihn gewogen, nun kann in seinem Strahl ich sicher schreiten. In meinem Busen nicht mehr Zweifel streiten, des Lebens Finsternisse sind entflogen.«

Während hier der Bildbereich des Lichts und der Gestirne die kosmische Verkündung eines Zwecks beschreibt, kommt ebenfalls eine Form der Autonomie und Einzigartigkeit zum Ausdruck, aus der eine paradoxe Konstellation des Subjekts hervorgeht: Das klare Licht, das einerseits für eine unergründliche und zugleich sichtbare Sphäre16 steht und somit eine Leitung des Subjekts impliziert, zeigt dem Subjekt andererseits seinen Selbstzweck auf, der sich aus seiner Einzigartigkeit und somit Unverwechselbarkeit ergibt. Der Stern verkünde, »was durch [sein] Seyn […] in der Welt erstrebet [werde].« Es ist die Individualität des einzelnen, die wiederum, und hierin liegt das paradoxe Moment, zur allgemeinen Entwicklung der Menschheit beiträgt. So wird der »Theorie der Bildung des Menschen« eine prägnante Forderung vorangestellt: »Es wäre ein grosses und trefliches Werk zu liefern, wenn jemand die eigenthümlichen Fähigkeiten zu schildern unternähme, welche die verschiedenen Fächer der menschlichen Erkenntniss zu ihrer glücklichen Erweiterung voraussetzen; den ächten Geist, in dem sie einzeln bearbeitet, und die Verbindung, in die sie alle mit einander gesetzt werden müssen, um die Ausbildung der Menschheit, als ein Ganzes vollenden.«17

Folgende Prämisse dient dieser Forderung: »Im Mittelpunkt aller besonderen Arten der Thätigkeit nemlich steht der Mensch, der ohne alle, auf irgend etwas Einzelnes gerichtete Absicht, nur die Kräfte seiner Natur stärken und erhöhen, seinem Wesen Werth und Dauer verschaffen will.«18 Humboldt entwirft einen Menschen, der durch den Ausdruck seiner Individualität einen Beitrag zur Entwicklung seiner Gattung leistet und der die Legitimation, Bleibendes zu hinterlassen, aus dem metaphysisch beschriebenen, nicht näher definierten »Innren« zieht. Die kon16 Zum traditionsreichen Motiv der Himmelsbetrachtung vgl. Jens Pfeiffer: Contemplatio Caeli. Untersuchungen zum Motiv der Himmelsbetrachtung in lateinischen Texten der Antike und des Mittelalters, Hildesheim: Weidmann 2001 (= Spolia Berolinensia, Bd. 21). 17 W. v. Humboldt: Theorie der Bildung des Menschen, S. 234. 18 Ebd., S. 235. 39

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zentrierte Einkehr ins »Innre« begründet den intellektuelle Wert des Menschen, der dem »Begriff der Menschheit in unserer Person«, aus diesem paradoxen Moment heraus, »Dauer« und »Werth« verleiht.19 Die eingehende Lichtmetaphorik, die Humboldt über die Allegorie der Dioskuren entwickelt, steht für die Überhöhung des Zwecks im Individuum, das ihn in der Einkehr ins »Innre« aufsucht. Die Orientierung am göttlichen Licht zeigt die Vergegenwärtigung und den Vollzug der eigenen Bildung auf. Hieraus lässt sich schließen, dass Humboldt der Bildungstheorie, die er in den neunziger Jahren in dem kurzen Fragment »Theorie der Bildung des Menschen« darlegt, in den Sonetten dichterischen Ausdruck gibt. Diese Bildungstheorie zeigt sich einerseits in der formalen dichterischen Arbeit, die den Selbstspiegelungsprozess, der konstitutiv die individuelle Bildung bestimmt, darstellt, und andererseits inhaltlich in den Sonetten: Das Bild vom »Stern«, der »verkündet«, »was durch [sein] Seyn wird in der Welt erstrebet« gibt in einem mystifizierenden Duktus die Bildungstheorie des jungen Humboldt wieder, der in der idealen Entfaltung des Individuums einen weiteren, notwendigen Beitrag zum Abstraktum ›Menschheit‹ sieht.

2. Das Sonett und die »Tiefe« des Geists Humboldt verfasst auch Sonette über die Dichtung und das Dichten. Ihm liegt es fern, sich als gesetzten Dichter zu betrachten, der den Prozess des Dichtens als Profession und Berufung lebt. Er weiß um seine Schwächen in der formalen und sprachlichen Ausführung, sodass er die entsprechenden Überlegungen ebenfalls in ein Sonett20 (1833) einfließen lässt: »Mit Unrecht, Verse, nenn’ ich euch Sonette, da ihr nicht schlinget in gleich engem Kreise der Wechselreime leicht gewundne Kette, mehr folgend freier, selbtgewählter Weise. Mein Ohr und Sinn es freilich lieber hätte, ihr bliebet in Hesperiens Wohllautgleise, doch den Gedanken auf Prokrustes Bette müsst’ ich einpassen seinem Reimgehäuse.

19 Die Dissertation der Verfasserin, die an der Ruhr-Universität Bochum entsteht, wird einen Beitrag zu diesem Themenkomplex zu leisten versuchen. Die Arbeit befasst sich mit der Anthropologie Wilhelm von Humboldts. 20 W. v. Humboldt: Sonette, S. 288. 40

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Dem wahren Dichter ists allein gegeben, dass, aus einander wie von selbst entsprungen, Sprachfessel und Idee zusammenstreben; umsonst von Mühe wir danach gerungen. Ich folge nur dem Trieb, in leichte Schranken zu heften frei hinströmende Gedanken.«

Das Ich spricht in der Dichtung über die Dichtung und ihre Produktionsumstände – die Literatur referiert somit über ihre Konstitution, ihre Grenzen und Intentionen.21 Humboldt bedient sich dieses Duktus nicht nur rechtfertigend, sondern gibt ihm in einer hohen Anzahl von Sonetten weiteren Ausdruck. Im folgenden Sonett22 (1832) parallelisiert das Ich Dichtungen mit »anmuthgen Träumen«: »Dichtungen oft anmuthgen Träumen gleichen, vom Finger leichter Phantasie gewebet. Der Geist die Fäden festzuhalten strebet, doch fühlt sie sich, wie Nebelduft, entweichen Und Träume tiefer doch, als Wahrheit, reichen. Was in dem Innersten der Wesen lebet, nur von des Geistes Aetherhauch umschwebet, findet im Traum, unsichtbar, sichtbar Zeichen. Der Geist dann ruht auf seiner eignen Tiefe, uns über seines Schosses Dunkel brütet. Was Absicht und Vernunft hervor nie riefe, von selbst aufblühend lieblich dar sich bietet, und aus der Kräfte tief beseeltem Zeugen sieht man der Dinge Urgestalten steigen.«

In syllogistischer Annäherung wird der Dichtung das Potential einer Transzendierung in eine metaphysisch beschriebene Sphäre übertragen, die sich durch das Aufzeigen des »Innersten« der »Wesen« kennzeichnet. Die Dichtung avanciert zur Trägerin philosophischer Transzendenz und formt eine Erkenntnis, die sich nicht über die Vernunft ableiten lässt, sondern sich in der Potenzierung des Abstraktums ›Geist‹23 mitteilt

21 Zur Entstehung ›autonomer‹ Literatur in der Epoche der Romantik vgl. Gerhard Plumpe: Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf, Westdeutscher Verlag: Opladen 1995, S. 65-104. 22 W. v. Humboldt: Sonette, S. 171. 23 Zur Komplexität des Geistbegriffs vgl. K. Rothe: »Geist«, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1974, Sp. 154-204. 41

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– es ist die »Tiefe« des Geistes, die eine metaphysische Sphäre voraussetzt. Hier bedient sich Humboldt einer Denkfigur, die bereits in frühromantischen Überlegungen entwickelt wird. August Wilhelm Schlegel24 setzt in seinen Berliner Vorlesungen über die »Geschichte der romantischen Literatur« aus dem Jahre 1802 bis 1803 folgende Beschreibung der Kunst und Poesie an den Anfang: »Das Wesen aller ächten Kunst und Poesie kann nicht mit dem vernünftelnden Verstande ergründet werden: sie nimmt das ganze Gemüth in Anspruch, sie kommt aus dem Innersten auserwählter Menschen, und so muß man sich ihr auch in seinem Innersten mit Ernst und Liebe hingeben, um in ihr Heiligthum eingelassen zu werden. Dann entsteht eine weit lebendigere Überzeugung als die, welche auf dem speculativen Wege ohne Bekanntschaft mit den Hervorbringungen der Poesie und Kunst bewirkt werden kann […]«

Kunst und Poesie formen Erkenntnisse, die denen des »vernünftelnden Verstandes« entgegengesetzt werden. Die Kunst entspringt auch hier einer metaphysischen Sphäre, die als das »Innerste« bezeichnet und deren Zugänglichkeit über ihre metaphorische Sakralisierung konstituiert wird. Sowohl der Kunstproduzent als auch der Kunstrezipient werden dazu aufgefordert, sich dieser Sphäre hinzugeben. Die Kunst bedarf der Aufmerksamkeit, Konzentration und Hingabe. Der jüngere Bruder Friedrich Schlegel25 verfasst im Jahre 1800 das »Gespräch über die Poesie«, in dem er der Poesie das Attribut der Individualität zuschreibt: »Die Vernunft ist nur eine und in allen dieselbe: wie aber jeder Mensch seine eigne Natur hat und seine eigne Liebe, so trägt auch jeder seine eigne Poesie in sich. Die muß ihm bleiben und soll ihm bleiben, so gewiß er der ist, der er ist, so gewiß nur irgend etwas Ursprüngliches in ihm war; und keine Kritik kann und darf ihm sein eigenstes Wesen, seine innerste Kraft rauben, um ihn zu einem allgemeinen Bilde ohne Geist und ohne Sinn zu läutern und zu reinigen, wie die Toren sich bemühen, die nicht wissen was sie wollen. Aber lehren soll ihn die hohe Wissenschaft echter Kritik26, wie er sich selbst bilden muß in sich 24 August Wilhelm Schlegel: »Vorlesungen über die romantische Literatur«, in: Ernst Behler/Georg Braungart (Hg.), August Wilhelm Schlegel. Kritische Ausgabe seiner Vorlesungen, Bd. II/1, Paderborn u.a.: Ferdinand Schöningh 2007, S. 1-178, hier S. 2. 25 Friedrich Schlegel: »Gespräch über die Poesie«, in: Hans Eichner (Hg.), Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. II, Paderborn u.a.: Ferdinand Schöningh 1967, S. 284-351, hier S. 284. 26 Zum Kritikbegriff Friedrich Schlegels vgl. Lothar Pikulik: Frühromantik. Epoche – Werk – Wirkung, 2. bibliographisch ergänzte Aufl., München: C.H. Beck 2000. »Den […] erweiterten und vertieften Sinn von ›Kritik‹ 42

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selbst, und vor allem soll sie ihn lehren, auch jede andre selbständige Gestalt der Poesie in ihrer klassischen Kraft und Fülle zu fassen, daß die Blüte und der Kern fremder Geister Nahrung und Same werde für seine eigne Fantasie.«

Die Poesie fungiert als konstitutives individuelles Prinzip, das in der jeweils eigenen Ausgestaltung der Bildung entdeckt und entfaltet werden soll. Die Kunst, die vom Künstler ausgeht, ist Ausdruck der Poesie und dient zugleich als Folie zur Potenzierung der individuellen Poesie des Rezipienten. Der frühromantische Duktus27 des Humboldtschen Sonetts besteht einerseits in der inhaltlichen Gestaltung und andererseits im Vollzug des eigenen literarischen Schaffens: Das sprechende Ich parallelisiert Dichtungen mit Träumen, deren Entstehung eine subjektive Gehatte dem Begriff Kant gegeben. Wollte Kant mit seinem Kritizismus auf die Bedingungen des Denkens und Erkennens zurückgehen, so Friedrich Schlegel mit dem nämlichen Ansatz auf die des Dichtens. Kant suchte den vor aller Erfahrung liegenden, transzendentalen Grund aller Erkenntnis. Schlegel sucht im künstlerischen Werk (nicht außerhalb) dessen transzendentalen Ursprung, den genetischen Code. Kritisch wäre keine Poetik, wenn sie ›nicht auch das Produzierende mit dem Produkt darstellte‹ (Ath.Fr. 238; FS II, 204). Deutlich wird hier, daß nicht die Person des Genies im Sinne des Sturm und Drang, sondern die gleichsam überpersönliche Genialität im Sinne der Kantischen, nicht empirisch zu verstehenden Subjektivität gemeint ist. Poesie blüht ›von selbst aus der unsichtbaren Urkraft der Menschheit hervor, wenn der erwärmende Strahl der göttlichen Sonne sie trifft und befruchtet‹ (FS II, 285). Wie anderwärts tritt auch in diesem Kontext bei Schlegel für den transzendentalen Ursprung oftmals der Begriff ›Geist‹ ein.« Ebd., S. 146. 27 Vgl. Werner Schultz: »Die religiösen Motive in der Sonettdichtung Wilhelm v. Humboldts«, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche NF 7 (1926), S. 219-239. Auch Schultz weist in seinen Untersuchungen auf die romantischen »Töne« in den Sonetten Wilhelm von Humboldts hin. Er bezieht sich hierbei aber auf die Motive des Todes und der Nacht: »Die nachfolgende Untersuchung, die von der – anderswo noch zu begründenden – Voraussetzung ausgeht, daß die Humanitätsidee nur der eine Brennpunkt des bipolar strukturierten Geistes Wilh. v. Humboldts ist, versucht, an Hand der Sonettdichtung Humboldts zu andern religiösen Quellen seiner Persönlichkeit vorzudringen. Sie versucht dies, indem sie zwei Begriffe in ihren Mittelpunkt stellt, die von sich aus zufolge ihres wesentlichen Sachverhalts eine direkte Hindeutung auf die Religion enthalten und zugleich zu den lebendigen Motiven jener Sonettdichtung gehören. Ich meine die Begriffe Nacht und Tod. […] Im folgenden soll der Nachweis erbracht werden, daß auch die Seele Wilhelm v. Humboldts, wie sie sich am unmittelbarsten in seinen Sonetten geformt hat, von jener ›Schattensucht‹ (Herder) wesenhaft besessen war. Ich sage wesenhaft; also nicht zufällig oder als Erscheinung irgendeines Abschnitts seines Lebens, sondern als einer der Grundtöne, die spontan und ungewollt aus seiner Seele hervorquollen und sich durch nichts bändigen ließen. Töne der Romantik!« Ebd., S. 220f. Vgl. auch F.M. Wassermann: Die Altersonette, S. 398. 43

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staltung aus der individuellen Erfahrung voraussetzt. Träume geben Aufschluss über das »Innerste der Wesen«, über die Sphäre also, die nicht durch analytische Klarheit und das Denkvermögen erschlossen werden kann. Das Sonett referiert über die Dichtung und somit über ihre eigenen Gattungsmerkmale, sodass die metaphysischen Ideen in der literarischen Form transzendiert werden. Zugleich zeigt sich im Sonett, über die Mittlung des sprechenden Ich, ein Autor, der seinem »Inneren«, das sich in seiner individuellen Poesie und in der individuellen Reflexion über die Dichtung darstellt, Ausdruck gibt. »Ich folge nur dem Trieb, in leichte Schranken/zu heften frei hinströmende Gedanken«, heißt es somit im bescheidenen Ton dieser Selbstreflexion. In diesem Zusammenhang spielt die Form des Sonetts eine erhebliche Rolle, da sie eine feste Struktur vorgibt, in denen die Gedanken bildlich dicht zusammengeführt werden. August Wilhelm Schlegel, der sich als Philologe mit unterschiedlichen literarischen Formen auseinandersetzte, äußert sich, ebenfalls in der »Geschichte der romantischen Literatur«,28 zum herausfordernden Charakter des Sonetts: »Durch die gebundene Beschränkung wird das Sonett nun ganz besonders bestimmt, ein Gipfel in der Concentration zu seyn. Das lyrische Gedicht ist zwar kurz gegen epische und dramatische Compositionen gehalten, jedoch ist ihm keine Zahl der Strophen vorgeschrieben. Das Sonett hat nur eine, oder, wenn man will zwey sich entgegengesetzte, womit alles erschöpft ist und nichts weiter folgen kann. Jeder Augenblick wird daher festlich und kostbar, und der Dichter muß ihn mit dem bedeutsamsten, was nach Maßgabe des Gegenstandes in seiner Gewalt ist, auszufüllen suchen. Daraus geht der Charakter gedrängter und nachdrücklicher Fülle hervor. Bey dem Verhältnisse zwischen Empfindung und Gedanken findet zwar eine gewisse Breite Statt, aber der vielsagendste prägnanteste Ausdruck eines tiefen Gefühls ruft schon von selbst den Tiefsinn hervor. Und so kann ein Sonett nicht leicht zu tiefsinnig sein, wohl zu sinnreich, wenigstens zum Nachteil seiner Großheit.«

Eine Gedichtform, die aufgrund ihrer Kürze und ihrer komplexen Melodik, welche sich durch jeweils zwei Auf- und Abgesänge ergibt, eine konzentrierte und eine, vor allem bedingt durch ihren epigrammatischen Charakter29, irritierende Lektüre hervorruft, eignet sich in ihrer Konstitution besonders zur Artikulation der formalen Einheit in der Vielfalt der Stoffe und Themen und zur dichten Zusammenführung ausschweifender Impressionen. Die Schlegelsche Charakterisierung zeigt die paradoxe Verfassung dieser lyrischen Form auf, stellt ihre fest vorgegebene Form 28 A.W. Schlegel: Vorlesungen über die romantische Literatur, S. 167. 29 Vgl. ebd. 44

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der literarischen Ausdruckskraft gegenüber, die sich in der geforderten Konzentration der Gedanken widerspiegelt. Die hohe Anzahl der Sonette Humboldts demonstriert die Idee, die sich hinter diesem Projekt der Selbstspiegelung verbirgt: Die Sonette sind Folge des inneren Antriebs zu dichten, eines Prinzips, das sich im Gefühl der »Wehmut«30 äußert. Dies geht aus der Rede des sprechenden Ich im folgenden Sonett (1835) hervor. »Dreiviertel eurer Bahn habt ihr vollendet, Sonette, die ich aus der Brust gesendet, als meiner Stimmung still vertraute Zeichen; vielleicht das Ziel auch werdet ihr erreichen. Wenn sich noch einmal hat herumgewendet der Bilder Kreis, der Glanz vom Himmel spendet, kann, wenn auch nicht des Lebens Sterne bleichen. sonettlos wieder mir der Tag verstreichen. Wird dann der Quell der Dichtung ganz versiegen? wird weniger der Vers gefesselt fliegen? Solang sich in der Brust Gefühle regen, aus denen süsser Sehnsucht Wehmut quillet, von tiefer Lust das volle Herz auch schwillet, zu wandeln auf der Dichtung Blumenwegen.«

Dichtung entsteht aus dem Gefühl der Sehnsucht und somit aus dem Gefühl eines Mangels, das durch das Dichten aufgefangen wird. Das Dichten setzt die Einkehr ins »Innre« und die »Einsamkeit«31 des Ich voraus, sodass die Gedanken in ihrem Fluss gebändigt und in Form gegossen werden. Es ist »Des Südens klangvoll schöne Dichterblume,/die einst Petrarca krönete mit Ruhme«32, welche das Medium dieser Einkehr bildet.

30 W. v. Humboldt: Sonette, S. 431. Hervorhebung A.A. 31 Vgl. W. v. Humboldt: Sonette, S. 415f. Es ist das Sonett Nr. 1012 aus dem Jahre 1834. 32 Ebd. 45

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3. Die Poesie in der Bildung In der Schrift »Über das Verhältniss der Religion und der Poesie zu der sittlichen Bildung«33 schreibt Humboldt der Poesie das Potential zu, neben der Religion »gleichmässig« zur »Veredelung«34 des Menschen beizutragen. »Die Poesie steht zur Bildung des Menschen in einer zwiefachen Beziehung: 1. in einer der Form: indem sie Wahrheit und Lehre durch Einkleidung und rhythmischen Ausdruck der Einbildungskraft näher zu bringen sucht; 2. in einer des Inhalts: indem sie, überall das Erhabenste, Reinste und Schönste aufsuchend, im Menschen immer das Höchste und Geistigste seiner Natur anzueignen bemüht ist, und ihm beständig vor Augen hält, dass er den vorübergehenden Genuss der dauernden inneren Genugthuung, das Irrdische dem Unendlichen nachsetzen, und im Widerstreit der Neigungen und Pflichten Alles, durch Selbstbeherrschung und Erhebung über das Niedere und Gemeine, dem Adel und der Reinheit der Gesinnung opfern muss.«

Bildung gestaltet sich auf unterschiedlichen Ebenen aus: Sie entsteht aus der Übung sprachlicher Formen und zugleich durch die Auffindung idealer Werte, deren Qualität sich an der »Selbstbeherrschung« und »Erhebung« bemisst. Poesie wird auch hier als Prinzip und treibende Kraft für die Entfaltung der Individualität beschrieben, die Humboldt als Bildung wiedergibt. Entscheidend ist die vielfältige Funktion der Poesie, die unterschiedliche Vermögen des Menschen anspricht: Der Sinn für Form und der Sinn für Ideen werden gleichermaßen geschult. 33 Wilhelm von Humboldt: »Über das Verhältniss der Religion und der Poesie zu der sittlichen Bildung«, in: A. Flitner/K. Giel (Hg.), Wilhelm von Humboldt. Bd. I, S. 562-566. Zur Entstehung dieser Schrift führen die Herausgeber in Bd. V (2., korrigierte und ergänzte Aufl. von 2002, S. 359) der Werkausgabe wichtige Datierungshinweise an: »Der Erstdruck dieser kleinen Schrift erfolgte in der posthum von Alexander von Humboldt veranstalteten und mit einem Vorwort versehenen Sammelausgabe von W. v. Humboldts Sonetten [Berlin 1853]. Da die Handschrift verschollen ist, kann weder der Text vor Alexanders stilistischer Überarbeitung rekonstruiert, noch eine genaue Datierung vorgenommen werden. Während Alexander die Niederschrift vor 1824 ansetzte, neigt Leitzmann […] wegen des Besitzers der Handschrift […] und wegen der Anklänge an die Diede-Briefe eher zu einer Datierung zwischen 1825 und 1830. Die Gedanken der Schrift weisen jedoch auf frühe aufklärerisch-klassische Positionen, z.B. die Korrespondenz mit Schiller 1795/96 und auf Schleiermachers Reden über die Religion, wie sie freilich auch den alten Humboldt wieder beschäftigt haben; so bleibt die Datierung der Schrift unsicher.« 34 W. v. Humboldt, Über das Verhältniss der Religion und der Poesie zu der sittlichen Bildung, S. 564. 46

DICHTUNG ALS EINKEHR IN DEN SONETTEN W ILHELM VON HUMBOLDTS

Wie an den bisher vorgestellten Sonetten zu sehen ist, lässt Humboldt neben philosophischen Ideen auch die Reflexion über die Form des Sonetts einfließen, seine dichterischen Ambitionen stellen somit die Umsetzung des Nachdenkens über die Funktion der Poesie dar. Er macht die Vorstellungen über die Poesie und ihre Wirkungskraft für seinen individuellen Bildungsweg fruchtbar und verfasst somit bis zu seinem Tod Gedichte. Dies ist ein charakteristischer Zug im Schaffen und Wirken Humboldts: Den Ideen zur Bildung und zum Studium des Altertums, die er theoretisch in verschiedenen Schriften erörterte,35 folgte er zugleich auch auf seinem eigenen Weg. Beispielsweise schreibt er am 20. Juli 180536 von Rom aus Friedrich August Wolf einen Brief, in dem er schildert, wie die individuelle Lektüre der »Alten« sich mit dem Erleben der kulturellen und Naturlandschaft Roms paart. Auch hier zeigt sich, wie die intellektuelle Auseinandersetzung mit einem Kulturgegenstand unmittelbar in den persönlichen Bildungsweg einfließt. Das intensive Erleben einer historischen Landschaft, mit den unterschiedlichen Assoziationen, die sie hervorruft, geht unmittelbar aus der Lektüre der alten Schriftsteller hervor. »Ich lese jetzt wieder sehr viel die Alten, und immer Römer.37 Denn das Localinteresse überwiegt doch alles Andre. Die Totalität der Römergeschichte und des Römerlebens im Kopf, in Rom herumzugehen, ist eigentlich mein Leben. In die Museen und Gallerieen komme ich selten; um Basreliefs, Münzen und Gemmen bekümmre ich mich wenig oder gar nicht. Ich liebe nicht die in Häuser eingeschlossenen Götter. Aber die Kolossen, deren Wunderköpfe Sie im Barbarenlande gesehen haben, die unter freiem Himmel stehen, und auf Rom vom Quirinal hinabsehen, die grüße ich ziemlich alle Tage. Wo für mich der Genuß vollkommen seyn soll, muß die Bläue des Himmels auch ihr Recht behaupten, man muß noch einen Theil Latiums mit überschauen und das Lateiner Gebirge den Horizont schließen sehen. Dann wird man unwiderstehlich zu endlosen Betrachtungen über Geschichte und Menschenschicksal hingezogen, dann rundet sich auf einmal um die Hügel herum das ganze Gemälde der Weltgeschichte. Denn auf mich übt Rom immer seine große Gewalt mehr als durch alles Andre dadurch aus, daß es der Mittelpunkt der alten und neuen Welt ist. Denn selbst das Letzte wird ihm niemand mit Recht streitig machen. Unsere neue Welt ist eigentlich gar keine; sie besteht bloß in einer Sehnsucht

35 Vgl. Bd. I und II der Werkausgabe: Wilhelm von Humboldt, hg. von A. Flitner und K. Giel. 36 Wilhelm von Humboldt: »Brief an Friedrich August Wolf vom 20. Juli 1805«, in: Philip Mattson (Hg.), Wilhelm von Humboldt. Briefe an Friedrich August Wolf, Berlin, New York: Walter de Gruyter 1990, S. 254-257, hier S. 255. 37 Hervorhebung A.A. 47

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nach der vormaligen, und einem ungewissen Tappen nach einer zunächst zu bildenden. In diesem heillosesten aller Zustände suchen Phantasie und Empfindung einen Ruhepunkt und finden ihn wiederum nur hier.«

An dieser Stelle wirken sowohl die Poesie als auch die »Sehnsucht«, die sich besonders durch die Auseinandersetzung mit den »Alten« ergibt, als treibende Kräfte im persönlichen Schaffen und Wirken. Der Rückbezug der Poesie auf die Bildung schreibt der Dichtung somit die Funktion zu, sich auf das individuelle »Innre« zu besinnen und einen Rückzugsraum für die Erinnerungen und Eindrücke eines bewegten Lebens zu schaffen. Dichtung wird zur Einkehr und zum vereinheitlichenden Regulativ eines Bildungswegs, der diese Verarbeitung aufgrund der Vielfalt der Erlebnisse nahe legt. Das Bildungsmodell, das Humboldt hier darbietet, zeichnet sich durch die reale und stete Orientierung am Ideal der Entfaltung der Individualität aus. In diesem Modell dient die literarische Arbeit, und im weitesten Sinne die individuelle Textproduktion, als Folie für die Selbstspiegelung, die die Bildung konstitutiv erfordert – einerseits durch die Schulung im Umgang mit sprachlichen Formen und andererseits durch die sprachliche und metaphorische Artikulation der Ideen, die aus dieser Spiegelung hervorgehen. Dichtung wird zur gebrochenen Darstellung eines real erlebten »Innren«, das sich aber wiederum aufgrund ihrer metaphysischen Qualität normativer Beschreibungen entzieht. Insofern können nur die metaphorische Sprache und die formale Einkleidung in literarische Strukturen dieser Selbstspiegelung gerecht werden. In einem weiteren Sonett38 (1832), das nun abschließend vorgestellt wird, vergleicht das sprechende Ich Dichtung mit dem »Mutterlied«, das für menschliche Wärme und Fürsorge steht, die in einer künstlerischen Form vermittelt wird. »Die Dichtung. Es giebt nicht tiefer Sinniges auf Erden, als Dichtung, die das Herz bewegt erzeuget. Man fühlet sie im Menschenbusen werden, und zu dem Ohr sie des Olympiers steiget. Sie weilet bei dem Hirten stiller Heerden, sie theilt des Kriegers Farhniss und Beschwerden, sie mild zu jedem Menschenloos sich neiget, und in der Brust nur des Verworfnen schweiget. Sie fliesst aus dunkler, unerspähter Quelle, und hebt sich zu des Aethers lichter Helle. Man ahndet, dass sie Irrdschem nicht entstammet, 38 W. v. Humboldt: Sonette, S.181. 48

DICHTUNG ALS EINKEHR IN DEN SONETTEN W ILHELM VON HUMBOLDTS

und fasst nicht, wie sie her vom Himmel flammet, da sie so menschlich um die Brust sich schmieget wie Mutterlied, das ein den Säugling wieget.«

4. Schluss Anhand der in diesem Zusammenhang vorgestellten Auswahl an Sonetten, die einerseits das geistige Wirken des sprechenden Ich und andererseits die Reflexion über die Dichtung behandeln, sollte gezeigt werden, dass Humboldt seine eigenen dichterischen Versuche im Alter als Einkehr inszeniert hat, die ihm am Ende eines bewegten Lebens als Zuflucht und zugleich als Reflexionsraum für seine vielfältigen Eindrücke und Erinnerungen dienten. Er verarbeitet Ideen aus seiner Bildungstheorie der neunziger Jahre und zeigt zugleich in einem frühromantischen Duktus auf, dass Erkenntnisse sich nicht über einen reinen Zugang durch die Vernunft erschließen lassen, sondern sich in der mystischen Beschreibung eines metaphysisch gedachten »Innren« präsentieren. Die Form des Sonetts, zu der Humboldt bereits in seinen jungen Jahren einen Zugang findet, dient hierbei als Vorlage, durch die Inhalte konzentriert und zugleich epigrammatisch wiedergegeben werden können. In den Sonetten wird somit der individuelle Bildungsweg dichterisch gespiegelt, sodass die perspektivische Brechung, die aus dieser Einkehr hervorgeht, ästhetisch überformt auftritt. Humboldt, der seine Vorstellungen über Bildung stets in seinen persönlichen Bildungsweg zu integrieren versuchte, schreibt gerade der Poesie im Prozess der Bildung eine gewichtige Rolle zu: Sie dient einerseits der Verfeinerung der menschlichen Vermögen durch die Übung an sprachlichen Formen und andererseits der Artikulation der Werte, die für den eigenen Bildungsgang von Bedeutung sind. Die letzte Lebensphase, die von der intensiven Auseinandersetzung mit den Sonetten und folglich mit individuellen Inhalten geprägt ist, zeigt eine mögliche Gestaltungsweise des individuellen Wirkens, die sich über die literarische Tätigkeit definiert. Dichtung wird zur Einkehr, da sie einen überhöhten Raum zur Artikulation eines Prozesses bietet, der die Selbstspiegelung vermittelt und zeitlich transzendiert. Da Bildung eine immerwährende Tätigkeit des Geistes39 vorsieht, die von ebenfalls nie endenden Reflexionsprozessen begleitet wird, können unterschiedliche Wege zu ihrer Ausgestaltung gesucht werden. Das Dichten, wenn es auch nur auf den

39 Vgl. Wilhelm von Humboldt: »Über den Geist der Menschheit«, in: A. Flitner/K. Giel (Hg.), Wilhelm von Humboldt, Bd. I, S. 506-518. 49

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persönlichen Zugang beschränkt wird, stellt eine Form dar, diese Reflexionsprozesse zu vollziehen. Somit heißt es in einem Sonett40 (1834), das die Naturerfahrung mit der Wirkung der Dichtung in Verbindung bringt: »Gefüllte Blume keine Frucht je träget; sie bildet kein Geschlecht, bleibt immer Eine, nur Farbenschmuck, in lieblichem Vereine mit würzgem Duft, zur Schau den Sinnen leget. Das, wodurch Dichtung uns die Brust beweget, ist auch Gewebe gleich aus farbgem Scheine, wie Welle, die in luftger Köperreine an das entzückte Ohr, verhallend, schläget. Doch wenn sie beide sich im Menschen spiegeln. der Reichthum der Natur in Pracht der Sinne, die Dichtung in phantastisch zartem Glühen, dem Geist dann frei entkeimte Blüthen blühen, durch die zu unvergänglichem Gewinne sie alle Erdenfrüchte überflügeln.«

Bildung ist ein Prozess, der ganz entscheidend auf die geistige Tätigkeit und die Selbstreflexion des Individuums bezogen ist. Die Alterssonette sind Ausdruck der Umsetzung dieser Idee – nur die Rückbesinnung auf das »Innre« vermag die Bildung zu vollenden. Jürgen Kost41 hat herausgestellt, dass Humboldts Menschenbild sich deutlich von dem Konzept des zoon politikon des Weimarer Klassizismus, das den Menschen als Gesellschaftswesen definiert, unterscheidet. Humboldts Menschenbild zielt auf die Entfaltung der Individualität ab und berücksichtigt kaum die Attribute der Gesellschafts- und Gemeinschaftsfähigkeit und ihrer Verankerung in der individuellen Entwicklung. Humboldt, dessen Bildungsweg von seinen eigenen philosophischen Reflexionen über die Bildung geprägt war, führt in seiner Biographie Lebensstationen vor, die gerade der Selbstspiegelung und der Besinnung auf das »Innre« einen großen Raum zugestehen. In den Sonetten wird der eigene Lebensweg künstlerisch dokumentiert und inszeniert, sodass sich insbesondere hierin der humanistische42 Gehalt der Bildung zeigt: Die perspektivisch gebroche40 W. v. Humboldt: Sonette, S. 368. Hervorhebung A.A. 41 Vgl. J. Kost: Wilhelm von Humboldt, S. 37-161. 42 Der Begriff des Humanismus lehnt sich an dieser Stelle an folgender Definition an. Vgl. Menze, C. u.a.: »Humanismus, Humanität«, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1974, Sp. 1217-1230. »Der Neu-H. teilt mit dem Renaissance-H. die Liebe zum klassischen Altertum, unter50

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ne Rückbesinnung43 auf das Selbst vermag die Erfahrung des Selbst zu intensivieren und auszugestalten.

Literatur Benner, Dietrich: Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie. Eine problemgeschichtliche Studie zum Begründungszusammenhang neuzeitlicher Bildungsreform, 3. erw. Aufl. Weinheim, München: Juventa 2003. Dippel, Lydia: Wilhelm von Humboldt. Ästhetik und Anthropologie, Würzburg: Königshausen und Neumann 1990 (= Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 50). Flitner, Andreas/Klaus Giel (Hg.): Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002. Humboldt, Wilhelm von: »Brief an Friedrich August Wolf vom 20. Juli 1805«, in: Philip Mattson (Hg.), Wilhelm von Humboldt. Briefe an Friedrich August Wolf, Berlin, New York: Walter de Gruyter 1990, S. 254-257. Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 1-7, hrsg. v. Alexander von Humboldt, Berlin: Reimer 1841-1852. Ders.: »Sonette. Mit einem Vorwort von Alexander von Humboldt«, in: Albert Leitzmann (Hg.), Wilhelm von Humboldts Werke, Bd. 9, photomechanischer Nachdruck Berlin: Walter de Gruyter und Co 1968, S. 159-441. Ders.: »Theorie der Bildung des Menschen«, in: A. Flitner/K. Giel (Hg.), Wilhelm von Humboldt (2002), Bd. I, 4, S. 234-240.

scheidet sich aber von ihm durch seine philosophische Tiefe, durch die aus dem Ungenügen an der eigenen Zeit entsprungene Griechensehnsucht sowie durch eine neue Konzeption literarisch-ästhetisch-historischer Bildung, die er anthropologisch fundiert. In ihm verbindet sich die neu begründete Altertumswissenschaft mit den in der zweiten Hälfte des 18. Jh. sich konstituierenden Einzelwissenschaften vom Menschen. […] Frei von vorgängiger theologischer Inanspruchnahme stellt sich die Individualität als eine in der Erscheinung wurzelnde Idee dar, die in dem bildenden Lebensprozeß sich von ihren Bindungen löst, sich im freien Spiel ihrer Kräfte erfüllt, harmonische Idealität verwirklicht und in dem Studium des Altertums wie der Kunst überhaupt zu einem erfüllten Selbstverständnis gelangen soll, um ihrer höchsten Bestimmung nach in dem Ideal der Menschheit aufzugehen.« Ebd., Sp. 1218. 43 Vgl. auch Christoph Wulf: »Perfecting the Individual. Wilhelm von Humboldt's concept of anthropology, Bildung and mimesis«, in: Educational Philosophy and Theory 35 (2003), S. 241-249. 51

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Ders.: »Über das Verhältniss der Religion und der Poesie zu der sittlichen Bildung«, in: A. Flitner/K. Giel (Hg.), Wilhelm von Humboldt (2002), Bd. I, 4, S. 562-566. Ders.: »Über den Geist der Menschheit«, in: A. Flitner/K. Giel (Hg.), Wilhelm von Humboldt (2002), Bd. I, 4, S. 506-518. Kost, Jürgen: Wilhelm von Humboldt. Weimarer Klassik. Bürgerliches Bewusstsein. Kulturelle Entwürfe in Deutschland um 1800, Würzburg: Königshausen und Neumann 2004 (= Studien zur Literaturund Kulturgeschichte, Bd. 19). Leitzmann, Albert: Wilhelm von Humboldts Sonettdichtung, Bonn: A. Marcus und E. Webers Verlag 1912. Menze, C. u.a.: »Humanismus, Humanität«, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1974, Sp. 1217-1230. Pfeiffer, Jens: Contemplatio Caeli. Untersuchungen zum Motiv der Himmelsbetrachtung in lateinischen Texten der Antike und des Mittelalters, Hildesheim: Weidmann 2001 (= Spolia Berolinensia, Bd. 21). Pikulik, Lothar: Frühromantik. Epoche – Werk – Wirkung, 2. bibliographisch ergänzte Aufl. München: C.H. Beck 2000. Plumpe, Gerhard: Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf, Opladen: Westdeutscher Verlag 1995. Rothe, K.: »Geist«, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1974, Sp. 154-204. Schlegel, August Wilhelm: »Vorlesungen über die romantische Literatur«, in: Ernst Behler/Georg Braungart (Hg.), August Wilhelm Schlegel. Kritische Ausgabe seiner Vorlesungen, Bd. II/1, Paderborn u.a.: Ferdinand Schöningh 2007, S. 1-178. Schlegel, Friedrich: »Gespräch über die Poesie«, in: Hans Eichner (Hg.), Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. II, Paderborn u.a.: Ferdinand Schöningh 1967, S. 284-351. Schultz, Werner: »Die religiösen Motive in der Sonettdichtung Wilhelm v. Humboldts«, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche NF 7 (1926), S. 219-239. Scurla, Herbert: Wilhelm von Humboldt. Werden und Wirken, Berlin: Verlag der Nation 1970. Wassermann, Felix M.: »Die Alterssonette Wilhelm von Humboldts. Bekenntnis und Vermächtnis«, in: Monatshefte. A Journal Devoted to the Study of German Language and Literature 42 (1950), S. 395408.

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Wulf, Christoph: »Perfecting the Individual. Wilhelm von Humboldt's concept of anthropology, Bildung and mimesis«, in: Educational Philosophy and Theory 35 (2003), S. 241-249.

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De n ne ue n Mensc he n ta nze n. Ta nz und Kulturk ritik z u Be ginn des 20 . Ja hrhunderts DIANA BRENSCHEIDT GEN. JOST

Abstract Modern dance, often called Ausdruckstanz in German, developed at the beginning of the 20th century, mainly in Germany and the USA. In close alliance with contemporary culture critique, many of its practitioners established a vision of dance as being able to bring to life a new human being. In opposition to classical ballet, they believed their art capable of overcoming the Cartesian separation of body and mind, re-connecting humanity with nature and, furthermore, having a moralizing effect. The intended holistic approach was often inspired by the so-called primitive cultures which became an important frame of reference. The following essay starts out with a short presentation of the aesthetical and philosophical ideas as well as the cultural movements which had an impact on the dance scene’s self-definition. Consequently, an analysis of selected writings by modern dancers and critics demonstrates a strong aspiration to renew humanity through dance, manifest in their approaches.

Einleitung Anfang des 20. Jahrhunderts formulierte die amerikanische Tänzerin Isadora Duncan ihre Vision eines modernen Tanzes als Tanz der Zukunft. Den damit verbundenen Tänzer bzw. die Tänzerin der Zukunft beschrieb sie folgendermaßen:

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»The dancer of the future will be one whose body and soul have grown so harmoniously together that the natural language of that soul will have become the movement of the body. The dancer will not belong to a nation but to all humanity.«1

Ähnliche Vorstellungen eines die ganze Menschheit verbindenden Tanzes, obgleich spiritueller geprägt, finden sich in den Schriften von Ruth St. Denis, ebenfalls eine Pionierin des modernen Tanzes in den USA: »The great mission of the dancer is to contribute to the betterment of mankind. I have written elsewhere, ›the highest function of the dance is to ennoble man’s concept of himself.‹ This cannot be accomplished until the creative artist, whatever his field, becomes aware of himself as a citizen of the world and of his responsibility to lead instead of follow, to unfold instead of repeat, and to bring self-realization to its highest point of expression.«2

Auch Rudolf von Laban entwarf um 1920 die Vision eines Tänzers als neuen Menschen, der, als Vorbild für den Rest der Menschheit, einen ganzheitlichen Zugang zur Welt ermöglichen könne.3 Der moderne Tanz, häufig auch bezeichnet als Ausdruckstanz, modern dance oder freier Tanz bzw. free dance, hat seine Anfänge vorrangig in Deutschland und in den USA. Eng in Verbindung mit kulturkritischen Bestrebungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwarfen viele seiner Vertreter Visionen eines »neuen Menschen«, die sie im Tanz erfüllt glaubten. Sich vom klassischen Ballett abgrenzend, verstand sich der moderne Tanz als ein Weg, über die Kunst den cartesianischen Dualismus von Körper und Seele bzw. Geist zu überwinden, den Menschen zur Natur zurückzuführen und zu dessen Moralisierung beizutragen. Den erstrebten ganzheitlichen Zugang sah man dabei u.a. noch in fremden, sogenannten primitiven Kulturen erfüllt, die somit zu einem wichtigen Bezugsrahmen der modernen Tanzbewegungen wurden. Im Folgenden werden zunächst kurz ästhetisch-philosophische wie auch gesellschaftliche bzw. kulturkritische Strömungen betrachtet, die in diesem Zusammenhang von grundlegendem Einfluss auf die moderne Tanzszene waren. Vor diesem Hintergrund sollen anhand ausgewählter Schriften mo1

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Isadora Duncan, »The Dancer of the Future«, in: Michael Huxley/Noel Witts (Hg.), The Twentieth-Century Performance Reader, London, New York: Routledge 22002, S. 171-175, hier S. 175. Ruth St. Denis: »Religious Manifestations in the Dance«, in: Walter Sorell (Hg.), The Dance Has Many Faces, Chicago: A cappella books 1992, S. 39, hier S. 4. Vgl. Rudolf von Laban: Die Welt des Tänzers. Fünf Gedankenreigen, Stuttgart: Walter Seifert 1920, S. 3.

TANZ UND KULTURKRITIK

derner Tänzer und zeitgenössischer Tanzkritiker exemplarisch Konzeptionen eines neuen, ›ganzen‹ Menschen aufgezeigt werden, wie sie in der modernen Tanzszene speziell zu ihren Anfängen im Umlauf waren. Trotz der speziell im deutschen Kontext in den 1930ern erfolgenden gefährlichen Verengung des hier entwickelten Menschenbildes, zeigen diese frühen Debatten deutlich, dass der moderne Tanz sich zunächst kulturenübergreifend und integrativ definierte und sich somit als neue ›humanistische‹ Tanzkunst präsentierte.

Hintergründe: Von Wagner und Nietzsche zur L e b e n s p h i l o s o p h i e u n d d e n R e f o r m b ew e g u n g e n In Das Kunstwerk der Zukunft (1850) weist Richard Wagner den Tanz, die Tonkunst und die Dichtung als die drei grundlegenden reinmenschlichen Künste aus und hebt den Tanz, da dieser den ganzen Menschen miteinbeziehe und Gesang und Tanz sich notwendig auf den Körper rückbeziehe, als diejenige Kunst hervor, die den Zugang zu allen anderen Künsten ermöglicht.4 Auch Friedrich Nietzsche, einige Jahre lang ein Verfechter der Ansätze Wagners, benennt in Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1870-71) die Tanzkunst direkt. Vereint mit der Musik wird dieser der dionysischen Seite seines von dem Zusammenspiel der zwei Kräfte des Dionysischen und Apollinischen geprägten Lebensprinzips zugeschrieben. Hier soll es dem überzivilisierten Menschen wieder möglich sein zur Natur zurückzufinden und sich über Gesang und Tanz mit anderen Menschen gemeinschaftlich zu verbinden: »Unter dem Zauber des Dionysischen schliesst sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen.«5

Frühe moderne Tänzer, wie beispielsweise die in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehr erfolgreiche Amerikanerin Isadora Duncan, bezogen sich in häufig eklektizistischer Art und Weise auf die Schriften 4

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Vgl. Richard Wagner: »The Art-Work of the Future« (1895), in: ders., The Art-Work of the Future and Other Works, übers. von William Ashton Ellis, Lincoln, London: University of Nebraska Press 1993, S. 69-213, hier S. 100. Friedrich Nietzsche: »Die Geburt der Tragödie: oder Griechenthum und Pessimismus (1870-1871). Mit dem Versuch einer Selbstkritik (1886)«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 3, München: Musarion 1920, S. 3-165, hier S. 25. 57

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Wagners und Nietzsches, um den Tanz in seiner von den anderen Künsten unabhängigen Bedeutung hervorzuheben. Sie alle einte eine schon bei Wagner angelegte Abwendung vom klassischen Ballett, dem sie Künstlichkeit und Unnatürlichkeit der Bewegungen vorwarfen – im Falle Isadora Duncans zugunsten eines freien, natürlichen, an der griechischen Antike orientierten Tanzes. Das Interesse an Natur, Bewegung und einer neuen Körperlichkeit rückte die moderne Tanzszene auch in die Nähe der verschiedenen Lebensreformbewegungen ebenso wie der Lebensphilosophie, deren grundlegendes Gedankengut auch schon in Friedrich Nietzsches Konzeption des Lebens als ein Zusammenspiel des Apollinischen und Dionysischen Prinzips auftaucht.6 Lebensphilosophische Ideen, deren Vorläufer in der Romantik, beispielsweise in der Naturphilosophie Friedrich Schellings und den Schriften Jean-Jacques Rousseaus, zu suchen sind, erfreuten sich um die Jahrhundertwende speziell in Deutschland und Frankreich großer Beliebtheit. Autoren wie Ludwig Klages und Henri Bergson bemühten sich in ihren Schriften um eine »Integration einer neuen Sicht- und Denkweise von Natur und Leben in den gesamtkulturellen Kanon«7. Gegen die Einseitigkeit von Materialismus und Positivismus gewandt, vertraten sie einen ganzheitlichen Ansatz, der den Fluss des Lebens, ebenso wie die Intuition und das Gefühl betonte. Sich kritisch gegen die Erkenntnis alleinig über den Verstand wendend, suchte die Lebensphilosophie so nach »alternativen Auffassungsweisen, die die Bewegung des Lebens nicht in starrer Begrifflichkeit erdrücken sollten«8. Henri Bergson gewann hier für den modernen Tanz insbesondere aufgrund seines Denkens über Zeit und Bewegung an Bedeutung. Seine Betonung des Zeitflusses bzw. der Zeitdauer durée im Gegensatz zum traditionellen Zeitbegriff, ebenso wie die Betonung der Kreativität in der Konzeption des élan vital als »schöpferischen Urimpuls«9 trafen in Tanzkreisen – wie beispielsweise bei Rudolf von Laban – auf positiven Widerhall. Auch Ludwig Klages ging von einer in jedem Menschen unbewusst vorhandenen schöpferi6

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Vgl. Klaus Thora: »Der Einfluss der Lebensphilosophie Rudolf von Labans auf das Tänzerische Weltbild«, in: Gunhild Oberzaucher-Schüller (Hg.), Ausdruckstanz. Eine mitteleuropäische Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wilhelmshaven: Florian Noetzel Verlag 1992, S. 154-160, hier S. 155. Ebd., S. 154f. Inge Baxmann: »›Die Gesinnung ins Schwingen bringen‹. Tanz als Metasprache und Gesellschaftsutopie in der Kultur der zwanziger Jahre«, in: Hans U. Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988, S. 360-373, hier S. 365. K. Thora: Der Einfluss der Lebensphilosophie Rudolf von Labans auf das Tänzerische Weltbild, S. 157.

TANZ UND KULTURKRITIK

schen Gestaltungskraft aus. Gabriele Brandstetter zufolge hatte dieser Gedanke, ebenso wie die Theorie des Expressionismus, Einfluss auf die Benennung des deutschen modernen Tanzes als Ausdruckstanz.10 Von ihren Ansätzen her eng in Verbindung mit der Lebensphilosophie standen auch die Lebensreformbewegungen, die sich als soziale Bewegungen um 1890 bildeten. Im Zuge der Modernisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts kam es zu einem tiefgreifenden ökonomischen Wandel innerhalb der Gesellschaft, der zugleich zu Desorientierung führte. Die zunehmende Säkularisierung und Rationalisierung wurden vielerseits als »Mangelerscheinung und Depravation der individuellen Existenz« des Menschen verstanden: »Körper, Geist und Seele galten gleichermaßen als traumatisiert, und um den Menschen in diesem harmonischen Dreiklang wiederherzustellen, wurde eine Rückkehr zur Natur als Allheilmittel gepriesen.«11 Mit dem Ziel Zivilisationsschäden entgegenzuwirken, konzentrierte man sich auf den ganzen Menschen und dessen Verhältnis zur Natur wie zum gesamten Kosmos. Auch im sich zu dieser Zeit entwickelnden modernen Tanz spiegelten sich diese Ansätze wider, wie im Folgenden am Beispiel von Isadora Duncan, Rudolf von Laban und Mary Wigman gezeigt wird.

Konzeptionen vom neuen Menschen im modernen Tanz Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts gab die amerikanische Tänzerin Isadora Duncan (1878-1927) eine Reihe von Auftritten ihres von der griechischen Antike inspirierten Tanzes in europäischen Metropolen wie Paris, London, Wien und Berlin. Publikum und Kritiker in Deutschland zeigten sich begeistert von ihrem »freien Tanz«, der sich deutlich von den Konventionen des klassischen Balletts abhob: »Statt in Spitzenschuhen tanzte Duncan barfüßig; statt in einem steifen Gazeröckchen trat sie in lang wallende Schleier gehüllt auf, statt des obligatorischen Pirouetten-Drehens und der steifen Beinakrobatik, die man vom klassi-

10 Vgl. Gabriele Brandstetter: »Ausdruckstanz«, in: Diethart Kerbs/Jürgen Reulecke (Hg.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, Wuppertal: Peter Hammer Verlag 1998, S. 451-463, hier S. 453. 11 Wolfgang R. Krabbe: »Lebensreform/Selbstreform«, in: Diethart Kerbs/ Jürgen Reulecke (Hg.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, Wuppertal: Peter Hammer 1998, S. 73-75, hier S. 73. 59

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schen Ballett her gewohnt war, erstaunte die Art, wie Duncan zu Klavierklängen ›herumhüpfte‹.«12

Isadora Duncan wurde gefeiert als »die erste Künstlerin, die den Tanz aus den ›unnatürlichen Regeln und Konventionen‹ des Balletts löste und ihn zu einer ›Kunst spontanen und individuellen Ausdrucks‹ führte«.13 Mit ihrem Ziel, einen Tanz des Menschen zu schaffen, der in Verbindung stehe »mit den Bewegungen, wie mit den Formen, die die Natur schuf«,14 bewegte sie sich im Umfeld des Gedankengutes der Lebensund damit verbunden der romantischen Naturphilosophie, die das menschliche Leben als Teil einer kosmischen Bewegung der Natur betrachtete. Diese Verbindung von Mensch, Kunst und Natur meinte man im Rückgriff auf die Antike zu finden und Isadora Duncan beschrieb ihr tanzpädagogisches und künstlerisches Ziel dementsprechend als darin bestehend, »die schönen rhythmischen Bewegungen des menschlichen Körpers wieder zu finden, die ideale Bewegung, die in Harmonie mit der höchsten körperlichen Form sein soll, wieder ins Leben zu rufen, eine Kunst wieder zu erwecken, die zweitausend Jahre geschlafen hat«.15

Grundlegend im Einklang mit Strömungen der Lebensreformbewegung forderte Duncan, dass die tänzerischen Bewegungen der Individualität eines jeden menschlichen Körpers entsprechen müssen.16 So formulierte sie um 1906 unter dem Titel Meine Kunst Unterrichtsprinzipien, die ihr Konzept von der natürlichen, individuell empfundenen und zum Ausdruck gebrachten Bewegung im Einklang von Körper und Seele deutlich machen. Duncan geht in ihren Ausführungen hierbei vom Kind aus, das – in evolutionistischer Manier – näher an der Natur und weniger von negativen Zivilisationserscheinungen gezeichnet erscheint:

12 Evelyn Dörr: »Wie ein Meteor tauchte sie in Europa auf. Die philosophische Tänzerin Isadora Duncan im Spiegel der deutschen Kritik«, in: Frank-Peter Manuel (Hg.), Isadora & Elizabeth Duncan in Deutschland, Köln: Wienand 2000, S. 28-49, hier S. 32. 13 Karl Federn, in: Isadora Duncan: Der Tanz der Zukunft. Eine Vorlesung, Jena: Diederichs 21929; zit. nach: ebd. 14 Isadora Duncan: Der Tanz der Zukunft. Eine Vorlesung, Leipzig: Diedrichs 1903, S. 28; zit nach: ebd., S. 39. 15 Karlsruher Tagblatt vom 23.5.1907, S. 3502; zit. nach: ebd., S. 38. 16 Vgl. ebd., S. 42. 60

TANZ UND KULTURKRITIK

»Dem Kind soll nicht gelehrt werden, Bewegungen zu machen, sondern die heranreifende Seele soll gelenkt und gelehrt werden, das heißt der Körper in dem Ausdruck seiner selbst durch die ihm natürliche Bewegung. Wir lassen das Kind keine Bewegungen machen, ohne daß es weiß, warum es sie macht. Nicht daß ich dem Kind mit Worten die Bedeutung jeder Bewegung auseinandersetzen müßte, aber die Bewegung soll derart sein, daß das Kind mit jeder Fiber ihren Grund fühlt. So wird das Kind in der schlichten Sprache der Geberde [sic!] unterwiesen.«17

Ein Kommentar des Kritikers Hans Brandenburg zu Isadora Duncan in seiner Schrift Der moderne Tanz rückt die Tänzerin noch stärker in die Nähe der Kleidungsreform- und Körperkulturbewegungen ihrer Zeit: »Isadora Duncan aber tat nach diesem unentdeckten Griechenland in uns im einfachsten Wortsinne den ersten Schritt. Die erste Frau, die nicht nur das Korsett ablegt […], sondern (den Körper) zu dem heiligen Werkzeug einer nicht mehr naturfremden Kunst bereitet hatte – so trat sie vor ein Parterre dickbäuchiger Männer und verschnürter Frauen, gebildeter Menschen, die nicht mehr richtig gehen, laufen, sitzen, aufstehen, atmen konnten, deren Leib das traurigste Gefängnis der Seele geworden war. Was zeigt uns das Griechische dieser Erscheinung? […], daß wir mit all unseren geisteskulturellen und zivilisatorischen Errungenschaften weit entfernt sind von einem wahren Kulturganzen, welches ganze und harmonische Menschen verbürgen.«18

Auch Rudolf von Laban (1879-1958), der gemeinsam mit seiner Schülerin Mary Wigman zu den zentralen Begründern des modernen Tanzes oder auch Ausdruckstanzes in Deutschland zählt, war in seinem Denken und seiner Konzeption vom Tanz von lebensphilosophischen wie reformerischen Grundgedanken geprägt. Im Sommer 1912 verbrachte er einige Wochen in Monte Verità am Lago Maggiore, einem Treffpunkt zahlreicher lebensreformerischer Bewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wo er auf seiner sogenannten Tanzfarm Kurse in Tonkunst, Wortkunst, Bewegungskunst und Plastikkunst unterrichtete.19 In seinem Buch Die Welt des Tänzers (1920) entwirft der ursprünglich in Ungarn geborene Tänzer, Tanztheoretiker, Choreograph und

17 Isadora Duncan: »Meine Kunst«, in: F.-P. Manuel (Hg.), Isadora & Elizabeth Duncan in Deutschland, S. 86. 18 Hans Brandenburg: Der moderne Tanz, München: Müller 21917, S. 52f.; zit. nach: Sabine Huschka, Moderner Tanz. Konzepte, Stile, Utopien, Reinbek: Rowohlt 2002, S. 110. 19 Vgl. Valerie Preston-Dunlop: »Rudolf Laban«, in: Selma J. Cohen (Hg.), International Encyclopedia of Dance, Bd. 4, New York: Oxford University Press 1998, S. 89-95, hier S. 89. 61

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Tanzpädagoge den Tänzer als »neuen Menschen«. Dieser neue Mensch ist ihm zufolge ein ganzheitlich orientierter, der – jegliche Trennungen überwindend – Gefühl, Verstand und Willen, oder auch Körper, Geist und Seele, harmonisch in sich zu vereinen in der Lage ist: »Tänzer ist mir jener neue Mensch, der seine Bewußtheit nicht einseitig aus den Brutalitäten des Denkens, des Gefühls oder des Wollens schöpft. Es ist jener Mensch, der klaren Verstand, tiefes Empfinden und starkes Wollen zu einem harmonisch ausgeglichenen und in den Wechselbeziehungen seiner Teile dennoch beweglichen Ganzen bewußt zu verweben trachtet.«20

So ist es gerade der Tanz, der es jedem modernen Menschen, von der Zivilisation geschädigt, ermöglicht, zu seiner eigenen Ganzheit, wenn nicht sogar zum Weltganzen zu finden: »Mir scheint nun, daß Tanzerleben in keinem Teilempfinden, sondern im ganzen Menschen wurzelt.«21 Demnach wird der Tanz zum Medium des Menschen, in dem dieser sein Inneres ausdrücken kann, und eröffnet die Möglichkeit »den Menschen erleben und sagen [zu] lassen, was wirklich in ihm schwingt«.22 Seine Allgemeingültigkeit als Zugangsweg zum Inneren des Menschen erhält der Tanz nach Laban dadurch, dass jeder einzelne Mensch in seinem tiefsten Inneren grundsätzlich zum Tänzer geboren ist: »Tänzer ist jeder Künstler, mancher Denker und Träumer und in seinem unerkannten Grundwesen jeder Mensch.«23 Rudolf von Labans ganzheitlicher, in der Lebensphilosophie verankerter Ansatz wird besonders deutlich in seiner Definition des Begriffes der Gebärde, die er aus der Einheit von Körper, Geist und Seele heraus konzipiert. Sie bildet die Grundlage des Tanzes: »Die immer zusammen auftretende Verstandesarbeit, Gemütserregung und Körperbewegung nennen wir Gebärde. Wird eine Folge von Gebärden zu einem kunstvoll abgerundeten Ganzen vereint, so entsteht der Tanz, der Reigen.«24

Beginnend mit der tänzerischen Gebärde, die – um ausdrucksvoll und nicht »leer« zu sein – entsprechend eng mit dem menschlichen Denken und den verschiedenen Gemütsregungen verbunden sein muss, benennt Laban auch den menschlichen Ton als Gebärde. Dieser wird in der Folge

20 21 22 23 24 62

R. v. Laban: Die Welt des Tänzers, S. 3. Ebd., S. 4. Ebd., S. 6. Ebd., S. 8. Ebd., S. 14.

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ebenfalls zum Tanz: »Immer wieder bilden Lippen, Zunge und Mundhöhle neue Gebärden, vollführen einen Tanz.«25 Jegliche menschlichen Äuβerungen und inneren Regungen werden zu Gebärden erklärt und sind als Tanz zu verstehen. So wird auch der Gedanke zur Gebärde und die Schrift, Laban zufolge, zum »Tanz der Hand«26. Letztendlich ist es dann die körperliche Gebärde, der Tanz, der die direkte Kommunikation zwischen unterschiedlichen Kulturen bzw. Sprachen ermöglicht: »Die einem Begriff entsprechende sichtbare Gebärde des Körpers, der Hand, der Gesichtsmuskeln ist viel einheitlicher bei allen Völkern als die entsprechende Lautbezeichnung. Wenn man sich mit Völkern, deren Landessprache man nicht kennt, verständigen will, wendet man immer die körperliche Gebärde, den Tanz an.«27

Labans Konzeption erreicht einen Höhepunkt in dem für ihn zentralen Begriff des tänzerischen Sinnes, einem umfassenden, ganzheitlichen Wahrnehmungskonzept über Körper, Emotionen und Verstand. Diese Wahrnehmungen werden durch den Menschen bzw. Tänzer wiederum umgesetzt und auf allen Ebenen zum Ausdruck gebracht: »Diese tänzerische Wahrnehmung faßt die ganze, sinnliche, gefühlsmäßige und intellektuelle Wahrnehmung in eine Einheit zusammen. Der erkennende Geist eines Menschen erlangt einen vollen E i n d r u c k , der dann wieder in den verstandesmäßigen A u s d r u c k der Sprechgebärde, den willensmäßigen Ausdruck der körperlichen Bewegung oder den gefühlsmäßigen Ausdruck der Lautgebärde, des Klangrufes gespalten werden kann.«28

Laban beschreibt weiter die Unzulänglichkeit der Teilerkenntnis, die Gefahr für den modernen Menschen, nur über eine dieser drei Ebenen zur Erkenntnis gelangen zu wollen: »Ist aber Körper, Seele und Geist in gleicher Weise dem Eindruck entgegengespannt, so entsteht in unserer Wahrnehmung eine Gewißheit über die Dinge der Welt, die hoch über dem trügerischen Schein steht, den die Natur den einzelnen Teilzentren unserer Psyche bietet.«29

Um jedoch »Vollerkenntnis«, »Vollerleben« oder auch »menschliche Vollbewußtheit« zu erreichen, ist nach Laban eine Wiedererweckung 25 26 27 28 29

Ebd. Ebd., S. 15. Ebd., S. 17. Ebd., S. 21. Ebd., S. 22. 63

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des tänzerischen Sinnes notwendig. So kommt dem Tänzer als dem neuen Menschen die grundlegende Aufgabe zu, diesen umfassenden Sinn an den Rest der Menschheit weiterzuvermitteln: »Den tänzerischen Sinn, das Zentrum der Erkenntnis in sich zu erwecken und zu beleben, ist die erste Aufgabe des Tänzers. Sein ganzes Streben geht dahin, dieser Grundlage menschlicher Vollbewußtheit sich und anderen zu erobern, zu vermitteln und dauernd zu erhalten.«30

Der moderne Mensch soll so, über den Tanz, wieder zu seinen ganzheitlichen Ursprüngen zurückfinden und auf diesem Wege gewissermaßen gesunden.31 Der tänzerische Sinn bietet hierbei – in Abgrenzung zu positivistischen Bestrebungen der Zeit – eine »Synthese der Wahrnehmung durch die verschiedenen Sinnesorgane des Menschen«32: »Der Mensch nimmt die Umwelt durch den tänzerischen Sinn wahr. Diesen tänzerischen Sinn spaltet man für gewöhnlich in Sinnesorgane, deren Mannigfaltigkeit keineswegs durch die Einteilung in die üblichen fünf Sinne voll erschöpft ist. Wir können Gesicht, Geruch, Geschmack, Gehör und Tastsinn noch eine ganze Reihe weiterer Sinne beifügen, wie etwa den Gleichgewichtsund Bewegungssinn, oder auch den Sinn zur Aufnahme von Gedankenströmen. Diese und alle weiteren Unterteilungen sind von den physiologischen Wissenschaften für ihre Zwecke geschaffen, können aber bei Betrachtung der psycho-physiologischen Wirkungen, welche die Umwelt auf den Menschen ausübt, einfach mit den bekannten fünf Grundsinnen zusammen als einheitlicher ›Sinn‹, als der für die Aufnahme der Umweltgebärden empfängliche tänzerische Sinn betrachtet werden.«33

Auf Rudolf von Laban als den »Urheber des neuen Tanzes, der das alte Ballett besiegt oder besser vollendet und erfüllt hat«,34 verweist auch Fritz Böhme. Böhme, der den Tanz als neuen Kulturfaktor propagiert, sieht seine Vision eines Tanzes der Zukunft jedoch erst im Werk von Mary Wigman (1886-1973), Schülerin von Laban, erfüllt. Hier sieht er die Abkehr vom Ballett vollzogen, indem Tanz nun »deutlicher Ausdruck inneren Erlebens«35 ist anstatt künstliche Effekte zu präsentieren. Demnach kommt im Werk Wigmans der Mensch in seinem »seelischen, 30 31 32 33 34

Ebd. Vgl. ebd., S. 34. I. Baxmann: Die Gesinnung ins Schwingen bringen, S. 364. R. v. Laban: Die Welt des Tänzers, S. 44. Fritz Böhme: Der Tanz der Zukunft, München: Delphin-Verlag 1926, S. 15. 35 Ebd., S. 14. 64

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im Überindividuellen ruhenden Sein«36 zum Ausdruck. Damit wird der Tanz zum Ausgangspunkt einer – an Nietzsche angelehnten – »neuen Kultur aus dem Geiste der Bewegung«37, die zum neuen Menschen führt: »Der neue Mensch wurde getanzt von dieser Frau, der starke und freie Mensch der Sehnsucht und Zukunft, die erhoffte Wiedergeburt der Kraft und Eigenheit, der Mensch aus den dämonischen Untergründen und aus den abgeklärten Himmelshöhen, der gewaltige und im besten Sinne rücksichtslose Mensch, der stille und verklärte, der ringende, zerbrechende und dennoch immer wieder ringende Mensch.«38

Auch John Schikowski hebt in seiner Geschichte des Tanzes die tänzerischen Errungenschaften Mary Wigmans noch vor denen Labans hervor, da sie es sei, »die den von ihrem großen Lehrer begonnenen Bau zu einem Gipfel der Vollendung führte«. Dies begründet er u.a. damit, dass sie in der Lage sei, »tiefste Seelenerlebnisse« in Tanz umzusetzen.39 Schikowskis Begeisterung für Mary Wigman wird deutlich, wenn er sie als »eine Persönlichkeit von höchster menschlicher Reife und Reinheit, von tiefer, ernster Wahrhaftigkeit« beschreibt, in deren Tanz scheinbar »eine weltumfassende künstlerische Urkraft am Werk ist, die wie die Natur schaffend sich auswirkt«. Im Gegensatz zum Ballett setzt der Tanz Wigmans ihm zufolge auf »keine äußeren Effekte«, sondern ist ganz eins mit der Natur – »sie tanzt, wie die Nachtigall singt und die Blume duftet« – und kann so jeden Menschen unmittelbar in seinem Innersten berühren.40 Die umfassende gesellschaftliche und gesamtkulturelle Bedeutung, die dem Tanz demnach eigentlich zugeschrieben werden sollte, wird auch in einer Äußerung Labans unter der Überschrift »Das tänzerische Endziel« deutlich: »Wenn Mystik zur wirklichen Religion wird, wenn Wissenschaft bis ans Weisheitserleben reicht und Staatskunst sich in ethische Bewußtheit wandelt, dann fallen sie zusammen im tänzerischen Vollerleben. Im Grund sind Kirchen, Schulen und staatliche Organisationen Hilfsmittel, um den Verstand, das Gefühl und den Willen einzeln zu menschlicher Kultur, zum Tänzertum zu er-

36 37 38 39

Ebd. Ebd., S. 15. Ebd., S. 14. John Schikowski: Geschichte des Tanzes, Berlin: Büchergilde Gutenberg 1926, S. 141. 40 Ebd., S. 144. 65

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ziehen. Die Zusammenfassung selbst aber bleibt immer der Kunst vorbehalten, diesem Tanz der Tänze des Weltgeschehens.«41

D e r m o d e r n e T a n z i n Ab g r e n z u n g z u m klassischen Ballett: Eine Humanisierung des Tanzes? Der moderne Tanz trat Anfang des 20. Jahrhunderts dafür ein, den Menschen besser repräsentieren zu können als es das Ballett bisher vermochte. Im Einklang mit Körperkulturbewegung und Lebensphilosophie sollte der überzivilisierte Mensch, der den Kontakt zu seinem Körper und seiner Seele verloren hatte, mit Hilfe des Tanzes wieder zu seinen ganzheitlichen Wurzeln zurückfinden. Wie bereits beschrieben, nahm fast jeder der Tänzer und Tanzkritiker in seinen Ansätzen Bezug auf romantisch geprägte Vorstellungen von Ganzheit und der Verbindung von Mensch und Natur. Ihnen war gemeinsam »ein Köperbild und ein Bewegungskonzept, das stets die Individualität des Tänzers über die Anpassung des Körpers an ein kodifiziertes System stellte.«42 Trotz Betonung der Subjektivität des Gefühlsausdrucks bemühten sich viele moderne Tänzer in ihren Werken, zugleich universelle, objektivierte Gefühle zu repräsentieren und verstanden sich somit grundlegend als Vertreter eines gesamten Volkes, wenn nicht sogar der gesamten Menschheit.43 Der Tanz sollte als ein positiver Faktor der Kultur wiederentdeckt werden, eine Verbindung, die dem Ballett abgesprochen wurde. Während dem Ballett seitens seiner kulturkritischen Gegner vorgeworfen wurde, aufgrund seiner Herkunft aus dem aristokratischen Kontext anstatt aus dem Volke »den Charakter eines oberflächlichen, rein sinnlichen Amüsements niemals ganz verloren«44 zu haben, war der moderne Tanz eng mit kulturellen und gesellschaftlichen Erneuerungsbewegungen und somit neuen gesellschaftlichen Vorstellungen vom Menschen verbunden. Oftmals in missionarischem, quasi-religiösem Sprachduktus wurde das Potential des Tanzes zur Rückführung des Menschen zur Natur und gleichzeitig zu sich selbst beschworen:

41 R. v. Laban: Die Welt des Tänzers, S. 37. 42 G. Brandstetter: Ausdruckstanz, S. 451. 43 Sabine Huschka verweist auf das damit einhergehende Darstellungsproblem, »trotz emotional und subjektiv verankerter Bewegungen Darstellungsmodi von Bewegung zu finden, welchen aus dem unbestimmt emotionalen und rein subjektiven Raum heraus ein objektiver Status zukommt«. Vgl. S. Huschka: Moderner Tanz, S. 38. 44 J. Schikowski: Geschichte des Tanzes, S. 106. 66

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»Der menschliche Leib soll wieder zu seinen naturgemäßen Rechten kommen. Er soll erlöst werden aus der Lähmung und Verkrampfung und mit ihm soll das Seelenleben zu freierer Entfaltung, zu höherem Fluge befähigt werden. […] Das wunderbare Gefühl der Befreiung und Läuterung, das jede Körperbewegung, soweit sie Gefühlsausdruck [ist,] begleitet, strömt aus dem mehr oder weniger klaren Bewußtsein, daß hier Hemmungen überwunden, Schranken zerbrochen werden, die widernatürlich und in tiefstem Grunde lebensfeindlich sind. Je mehr der Leib des Kulturmenschen in allen seinen Teilen von angeborener und anerzogener Lähmung erlöst wird, desto unbehinderter kann dieses Gefühl sich auswirken, und es findet seine höchste Gipfelung im Tanz.«45

Auf der Suche nach Ganzheitlichkeit blickten viele Vertreter des modernen Tanzes auch auf fremde bzw. sogenannte primitive Kulturen, so dass in ihren tänzerischen Ansätzen oder auch ›Tanzphilosophien‹ eine Öffnung hin zu anderen Kulturen prinzipiell angelegt war. Dies verband sich u.a. mit einer dem Tanz zugeschriebenen Moralisierungs- bzw. Sozialisierungsfunktion, wie sie auch schon in den Schriften Wagners und Nietzsches angelegt ist. Der britische Sozialreformer Havelock Ellis verweist in seinem Buch The Dance of Life (1923) auf die Aktualität dieser Thematik zu Beginn des 20. Jahrhunderts: »It is, however, the dance itself, apart from the work and apart from the other arts, which, in the opinion of many to-day, has had a decisive influence in socialising, that is to say in moralising, the human species.«46 Havelock Ellis bezieht sich hier auf Ausführungen von Ernest Grosse in The Beginnings of Art, in dem dieser sich mit den verschiedenen Künsten bei sogenannten primitiven Völkern oder Naturvölkern beschäftigt. Er kommt zu dem Schluss, dass gerade der Tanz von großer kultureller Bedeutung ist und hebt dessen »socializing influence« hervor: »It would be hard to overestimate the importance of the primitive dance in the culture development of mankind. All higher civilization is conditioned upon the uniformly ordered co-operation of individual social elements, and primitive men are trained to this co-operation by the dance.«47

Aufgrund ihrer sozialen Funktion stellt Grosse, in primitivistischer Manier, die Tänze indigener Gesellschaften als erstrebenswertes Ideal der Vergangenheit dem Ballett gegenüber, das er – vergleichbar vielen mo45 Ebd., S. 130f. 46 Havelock Ellis: The Dance of Life, New York: The Modern Library 1923, S. 60. 47 Ernest Grosse: The Beginnings of Art (1897), New York, London: D. Appleton and Company 1928, S. 229. 67

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dernen Tänzern zu Beginn des 20. Jahrhunderts – als degenerierte Kunstform betrachtet: »The ballet of civilization, finally, with its repulsive sprawling attitudes and distorted perversions of Nature, may, to speak mildly, at best satisfy vulgar curiosity.«48 Sabine Huschka verweist auf die weitreichende Präsenz dieser zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem modernen Tanz – im Gegensatz zum Ballett – identifizierten Vorstellungen, so dass lange Zeit »der Topos der Freiheit und der mit ihm verknüpfte des Humanismus«49 zu weiten Teilen die Reflexion über den modernen Tanz und die damit verbundene Tanzgeschichtsschreibung bestimmte. Huschka führt in diesem Zusammenhang eine Reihe von Autoren an,50 denen zufolge die Modernität in Abgrenzung zum Ballett gerade in der Fähigkeit der Expressivität des Inneren, der Emotionen, verbunden mit Vorstellungen einer neugewonnenen Freiheit und Humanität der Bewegungen besteht. Dass auch diesen Bewegungen letztlich jedoch, ebenso wie dem Ballett, ästhetische Techniken zugrunde liegen, tritt hierbei gerne in den Hintergrund: »Kategorial getrennt liegen sich fortan das Ballett als klassische, normative, formalistische, kühle, inhumane Kunst auf der einen und Ausdruckstanz sowie modern dance als modern, befreiend, expressiv und human identifizierte Tanzkunst gegenüber. So bleibt die Modernität von Ausdruckstanz und modern dance in Abgrenzung zum klassischen Tanz konturiert.«51

Gerade im deutschen Kontext erfuhr die Verknüpfung des modernen Tanzes mit Vorstellungen eines neuen Menschen im Laufe der 1930er Jahre jedoch eine Wende, in deren Verlauf sich hier vorgestellte Menschenbilder zunehmend exklusiv auf die eigene Kultur bezogen. Anstatt aus kultur- bzw. zivilisationskritischer Haltung heraus Tanzkonzeptionen anderer Kulturen integrativ im Sinne eines die gesamte Menschheit verbindenen, gewissermassen ›humanistischen‹ Tanzes miteinzubeziehen, wie es in den Ansätzen vieler Tänzer zunächst angelegt war, wurde das Verständnis von Menschheit nun oftmals alleinig vom deutschen Volk ausgehend entwickelt, dem hierbei eine besondere Vorreiterrolle 48 Ebd., S. 231. 49 S. Huschka: Moderner Tanz, S. 32. 50 Sabine Huschka verweist hier beispielsweise auf Selma J. Cohen (The Modern Dance. Seven Statements of Belief, Middletown: Wesleyan University Press 1966) in den USA, Werner J. Stüber (Geschichte des Modern Dance. Zur Selbsterfahrung und Körperaneignung im modernen Tanztheater, Wilhelmshaven: Heinrichshofen 1984) im deutschsprachigen Raum, ebenso wie den französischen Autor Jacques Baril (La danse moderne, Paris: Vigot 1977). Ebd., S. 52. 51 S. Huschka: Moderner Tanz, S. 44f. 68

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zugeschrieben wurde. Die Tanzschriften Fritz Böhmes sind ein Beispiel hierfür und machen seine zunehmende Orientierung an nationalsozialistischem Gedankengut nur zu deutlich: »Die Kritik am Ballettanz war der letzte Ausläufer einer großen, schon lange dauernden gesamtkulturellen Umstellungsbestrebung. Er war der Nutznießer und Letztbeteiligte der Kulturkritik eines ganzen Jahrhunderts, das vergessen hatte, daß Tanz mit zur Kultur eines Volkes gehört und nicht nur Modeäußerlichkeit und Allotria ist, und das sich nun auf die Mission, die der Tanz zu erfüllen hat, langsam zurückbesann. Die große Kulturkritik des 19. Jahrhunderts ist eine in alle Ecken und Spalten dringende Umstellung der Mentalität des europäischen Menschen und wirkt sich am sichtbarsten aus als Lebensreformbestrebung, als Bewegung gegen Unnatürlichkeit, Unhygiene, Dekadenz, Kraftvergeuden, falsche Kleidung, falsches Essen, Gleichgültigkeit gegen Krankheit und Seuche. Diese neuen Kräfte kommen aus der gesundesten Tiefe deutschen Blutes und stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Aufstieg der Deutschen aus ohnmächtiger Formlosigkeit zu einer festen und in sich starkgefügten Gestalt.«52

Literatur Baxmann, Inge: »›Die Gesinnung ins Schwingen bringen‹. Tanz als Metasprache und Gesellschaftsutopie in der Kultur der zwanziger Jahre«, in: Hans U. Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988, S. 360-373. Böhme, Fritz: Der Tanz der Zukunft, München: Delphin-Verlag 1926. Brandstetter, Gabriele: »Ausdruckstanz«, in: Kerbs/Reulecke (Hg.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen (1998), S. 451-463. Dörr, Evelyn: »Wie ein Meteor tauchte sie in Europa auf. Die philosophische Tänzerin Isadora Duncan im Spiegel der deutschen Kritik«, in: Manuel (Hg.), Isadora & Elizabeth Duncan in Deutschland (2000), S. 28-49. Duncan, Isadora: »The Dancer of the Future«, in: Michael Huxley/Noel Witts (Hg.), The Twentieth-Century Performance Reader, London, New York: Routledge 22002, S. 171-175. Dies.: »Meine Kunst«, in: Manuel (Hg.), Isadora & Elizabeth Duncan in Deutschland (2000), S. 86.

52 F. Böhme: Der Tanz der Zukunft, S. 6f. Zu Fritz Böhmes Nähe zur NSPolitik siehe Laure Guilbert: »Die Politisierung des Tanzes. Fritz Böhmes Hinwendung zum Nationalsozialismus«, in: tanzdrama 55/6 (2000), S. 1215. 69

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Ellis, Havelock: The Dance of Life, New York: The Modern Library 1923. Grosse, Ernest: The Beginnings of Art (1897), New York, London: D. Appleton and Company 1928. Guilbert, Laure: »Die Politisierung des Tanzes. Fritz Böhmes Hinwendung zum Nationalsozialismus«, in: tanzdrama 55/6 (2000), S. 1215. Huschka, Sabine, Moderner Tanz. Konzepte, Stile, Utopien, Reinbek: Rowohlt 2002. Kerbs, Diethart/Reulecke, Jürgen (Hg.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, Wuppertal: Peter Hammer 1998. Krabbe, Wolfgang R.: »Lebensreform/Selbstreform«, in: Kerbs/Reulecker (Hg.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen (1998), S. 73-75. Laban, Rudolf von: Die Welt des Tänzers. Fünf Gedankenreigen, Stuttgart: Walter Seifert 1920. Manuel, Frank-Peter (Hg.), Isadora & Elizabeth Duncan in Deutschland, Köln: Wienand 2000. Nietzsche, Friedrich: »Die Geburt der Tragödie: oder Griechenthum und Pessimismus (1870-1871). Mit dem Versuch einer Selbstkritik (1886)«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 3, München: Musarion 1920, S. 3-165. Preston-Dunlop, Valerie: »Rudolf Laban«, in: Selma J. Cohen (Hg.), International Encyclopedia of Dance, Bd. 4, New York: Oxford University Press 1998, S. 89-95. Schikowski, John: Geschichte des Tanzes, Berlin: Büchergilde Gutenberg 1926. St. Denis, Ruth: »Religious Manifestations in the Dance«, in: Walter Sorell (Hg.), The Dance Has Many Faces, Chicago: A cappella books 1992, S. 3-9. Thora, Klaus: »Der Einfluss der Lebensphilosophie Rudolf von Labans auf das Tänzerische Weltbild«, in: Gunhild Oberzaucher-Schüller (Hg.), Ausdruckstanz. Eine mitteleuropäische Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wilhelmshaven: Florian Noetzel Verlag 1992, S. 154-160. Wagner, Richard: »The Art-Work of the Future« (1895), in: ders., The Art-Work of the Future and Other Works, übers. von William Ashton Ellis, Lincoln, London: University of Nebraska Press 1993, S. 69-213.

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Der Nie derga ng des Huma nis mus : Zw ischen Vitalismus und Ar istokratie des Geis tes NINA RIEDLER

Abstract The ideal of self-perfection is a central part of humanism. We can locate it already in the teachings of Cicero and the Stoa. During the Renaissance it is strongly connected with the advancement of learning. Later, in the German tradition, it becomes a central part of humanism especially as expressed by Humboldt. Towards the end of the 19th century and under the influence of Nietzsche, it changes in a most harmful way: the humanistic ideal of a rounded and complete personality, highly educated and free to develop all talents and ambitions unconstrained by descent, religion or wealth metamorphoses into a strong and passionate character feeling superior and therefore above conventional morals. The Other is nothing more than a vehicle used to experience new sensations. Self-cultivation turns into extreme individualism. Using the works of Gabriele D’Annunzio as example, I will show how humanism degenerated into anti-humanism, eventually to become the tool of fascism.

Der Humanismus hat eine wechselvolle Geschichte erlebt. Die Konzeption eines zukunftsfähigen Humanismus, wie ihn Jörn Rüsen vorschlägt, stellt nur das bislang letzte Glied einer Kette von Niedergang und Neubegründung dar. Eine wichtige Episode dieser Geschichte ereignet sich an der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert. Ihre Be71

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deutung für die Geistesgeschichte im Allgemeinen und den Humanismus im Besonderen liegt darin, dass hier bestimmte Elemente des klassischen Humanismus aufgegriffen werden und einen neuen Platz in antihumanistischen Denktraditionen finden. In der literarischen Strömung des Renaissancismus spielt der Gedanke der Perfektion des Selbst eine zentrale Rolle. Ergänzt durch das Konzept des Übermenschen, wie Nietzsche ihn entworfen hat, entwickeln sich die Charaktere des Renaissancismus zu blutgierigen Machtmenschen – Karikaturen des ursprünglichen Vorbilds, das sich am Renaissancemenschen Burckhardtscher Prägung orientierte. Als Illustration soll ein Blick auf das Werk des italienischen Dichters Gabriele D’Annunzio (1863-1938) dienen, in dessen Leben und Dichtung die Perfektion des Selbst in Kombination mit Nietzscheanischem Gedankengut eine zentrale Rolle spielt. Meine These lautet, dass es die übertriebene Betonung der Perfektion des Selbst im Zusammenklang mit einer bestimmten Form der Nietzsche-Rezeption ist, die die letzten verbleibenden Elemente der humanistischen Denktradition in einen hypertrophen Individualismus kippen lässt. Damit ist der Weg zu einem Anti-Humanismus bereitet, der in letzter Konsequenz in die Gräuel des 20. Jahrhunderts führt.

Perfektion des Selbst Im Laufe des 19. Jahrhunderts lässt sich eine zunehmende Reduktion auf ein positivistisches und materialistisches Nützlichkeitsdenken beobachten, eine Entwicklung, die Friedrich Schiller bereits 1795 in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen kritisiert hatte. Gilt dem klassischen Humanismus das Studium der Antike als Weg zu seelischer und geistiger Vollkommenheit, so blieb von dieser Bildungsbewegung und der daraus abgeleiteten Lebensform unter dem Druck von Industrialisierung, Massengesellschaft und Demokratisierung nicht mehr viel übrig. Ein Element des Humanismus aber hält sich als Forderung und Anspruch vor allem in der Literatur zwischen 1870 und 1914: das Konzept der Perfektion des Selbst. Die Kultivierung des Selbst, die Entfaltung aller Talente unter Ausschöpfung aller Möglichkeiten und Ambitionen, stellte bereits bei Cicero, eine der Gründerfiguren des klassischen Humanismus, eine zentrale Forderung dar – allerdings rückgebunden an die Gesellschaft.1 Herausgelöst aus dem Humboldtschen Bildungsbegriff 1

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Siehe genauer Hubert Cancik: »Gleichheit und Freiheit«, in: Richard Faber/Barbara v. Reibnitz/Jörg Rüpke (Hg.): Antik – Modern. Beiträge zur römischen und deutschen Kulturgeschichte, Stuttgart, Weimar: Metzler 1998, S. 293-313, hier S. 301.

DER NIEDERGANG DES HUMANISMUS

findet dieses Element sich als zentrales Bestreben sowohl in den Arbeiten als auch den Selbstaussagen vieler junger Schriftsteller der Zeit. Auf dem Hintergrund der Auflösung metaphysischer und moralischer Gewissheiten scheint eine Konzentration auf das eigene Ich naheliegend. Auffällig ist jedoch, wie stark dabei ethische Bindungen im Allgemeinen und der Andere im Besonderen in den Hintergrund gedrängt werden. In der Literatur finden wir einen Niederschlag dieser Entwicklung in der Strömung des Renaissancismus. Dieser ist als eine »späte Erscheinungsform des Historismus des neunzehnten Jahrhunderts, eine Traditionswahl des konventionsgebundenen und formgrüblerischen Geistes des neunzehnten Jahrhunderts« definiert worden.2 Die Wahl der Themen und Motive sowie die Form der Darstellung sprechen dennoch dafür, den Renaissancismus der antiklassizistischen Strömung zuzurechnen. So knüpft er an eine Entwicklung der ästhetischen Moderne an, deren Autoren vermeintlich authentische starke Gefühle in ästhetischen Erfahrungen des Unharmonischen, Hässlichen, Ekelhaften gesucht hatten. So entdeckte man, wie Wolfgang Braungart zeigt, die römische Spätantike und die Renaissance als »eine literarisch noch nicht genutzte Ressource für einen amoralischen Schönheitskult«.3 Gleichzeitig zeigen sich deutliche Tendenzen, den Klassizismus und damit zugleich den Humanismus in seiner normativen Geltungskraft allmählich zu untergraben. Jacob Burckhardt bezeichnet die im Klassizismus gefeierte Idealität der Griechen gar als größte Fälschung der Geschichtswissenschaft. Es entstehen zwei antiklassizistische Richtungen: der archaische und der dekadente Antiklassizismus. Letzterer erscheint zunächst in der französischen Literatur bei Gustave Flaubert und Théophile Gautier und zeigt sich wenig später ebenfalls in der Philosophie, Archäologie und Historiographie. Im dekadenten Antiklassizismus figuriert die römische Kaiserzeit als Hintergrund für Ausschweifungen, Verbrechen und einen übersteigerten Ästhetizismus. Der archaische Antiklassizismus betont im Gegensatz zu Winckelmanns Diktum von der edlen Einfalt und stillen Größe der Griechen ihre dunklen, leidvollen, 2

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Franz Ferdinand Baumgarten: Das Werk C.F. Meyers. Renaissanceempfinden und Stilkunst, München: C.H. Beck 1917, S. 16. Dazu auch Walther Rehm: Das Werden des Renaissancebildes in der deutschen Dichtung vom Rationalismus bis zum Realismus, München: C.H. Beck 1924, S. 3. Wolfgang Braungart: »›die schönheit die schönheit die schönheit‹. Ästhetischer Konservativismus und Kulturkritik um 1900«, in: Jan Andres/ Wolfgang Braungart/Kai Kauffmann (Hg.), »Nichts als die Schönheit«. Ästhetischer Konservativismus um 1900, Frankfurt/Main, New York: Campus 2007, S. 30-55, hier S. 38, Hervorhebung im Original. Braungart bezieht sich hier auf Stefan Georges Gedichtzyklus Algabal (1892). 73

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grausamen, chthonischen Züge und ihre dionysische Alterität. Auf diese Weise entstand ein faszinierendes Bild der fremden, barbarischen Antike, die zugleich vertraute moderne Züge trug. Das zunehmende historische Wissen von der Antike zerstörte dabei das Idealbild ihrer Schönheit und Harmonie. Als wichtigste Vertreter dieser Strömung seien genannt Johann Jakob Bachofen (Das Mutterrecht, 1861), Jacob Burckhardt (Griechische Kulturgeschichte, postum 1898-1902) und Friedrich Nietzsche (Die Geburt der Tragödie, 1872). In dem Maße, in dem die Antike ihre autoritative Geltung verliert, verringert sich die Bedeutung des Humanismus, der lediglich in der Institution des humanistischen Gymnasiums bewahrt wird. Die dezidierte Kritik am Humanismus lautet, er erschöpfe sich in endloser schöngeistiger Rede ohne Verantwortung und Konsequenzen.4 Angestoßen durch Jacob Burckhardts Kultur der Renaissance in Italien (1860) greifen die Autoren des Renaissancismus auf Themen, Motive und Charaktere der Renaissance – teils historisierend, teils versetzt in die eigene Zeit – zurück,5 denn sie scheint geeignet, eine Fülle von Bedürfnissen zu befriedigen: Da sie aufgrund ihrer ausgeprägten Stadtkultur mit ihren vielfältigen sinnlichen Reizen ein Pendant zur Großstadterfahrung in der Moderne darstellte, konnte sie als Spiegel der eigenen Zeit herangezogen werden. Auch andere Merkmale der Gesellschaft des späten 19. Jahrhunderts wie die zunehmende soziale Mobilität, die Autonomisierung der Kunst und nicht zuletzt die Wahrnehmung, am Beginn einer neuen Zeit zu stehen, werden als Entsprechungen beider Zeitalter gedeutet. Beide Epochen teilen außerdem den Wechsel von einer normativen Auffassungsweise hin zu einer relativistischen und konsensuellen, den Wahrheitsbegriff relativierenden Denkweise. Die Gegenüberstellung der eigenen glanzlosen Gegenwart mit der Schönheit und Lebensfülle vergangener Epochen fungiert als kritische Instanz und

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Diese Kritik findet sich bis heute wie die Diskussion um das Buch Julian Nida-Rümelins: Humanismus als Leitkultur, München: C.H. Beck 2006, lebhaft vor Augen führt. Interessanterweise beschränkt sich das Phänomen des Renaissancismus nicht auf die deutsche Literatur, auch wenn es hier – vor allem im Drama der Jahrhundertwende mit seinen blutrünstigen Machtmenschen – besonders ausgeprägt ist. Diese eher als Schwundstufe des Renaissancismus zu bezeichnende Ausprägung erfreute sich allerdings großer Beliebtheit beim Publikum; dazu Gerd Uekermann: Renaissancismus und Fin de Siècle: Die italienische Renaissance in der deutschen Dramatik der letzten Jahrhundertwende, Berlin: Walter de Gruyter 1985. Werke, die dem Renaissancismus zuzuordnen sind, finden sich in der englischen (Oscar Wilde, William Butler Yeats, Stephen Phillips), französischen (Paul Bourget, Maurice Barrès) und italienischen Literatur (Gabriele D’Annunzio).

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zeigt die Mängel der eigenen Zeit auf. Dabei wurde die Beschäftigung mit der Renaissance jedoch weniger als Möglichkeit zur Heilung der geistlosen Gegenwart aufgefasst, sondern diente vielmehr der Kompensation der eigenen Schwäche. In diesem Zusammenhang fällt dem Burckhardtschen Renaissancemenschen eine besondere Rolle zu: Dieser erscheint – vornehmlich in der Gestalt von Herrschern und Künstlern – als ›uomo universale‹ und zeichnet sich durch intellektuelle Überlegenheit, Willensstärke, Leidenschaft, Immoralismus, Irreligiosität und nicht zuletzt durch ästhetische Sensibilität aus.6 Aus dem Kontext des Werks herausgelöst, wird er als das große Individuum gefeiert und in der zweiten Phase des Renaissancismus mit Zügen des Nietzscheanischen Übermenschen versehen, während er in der ersten Phase – so etwa C.F. Meyers Pescara oder Hofmannsthals Andrea in Gestern – etwas leiser auftritt.7 Ernst Robert Curtius beschreibt die Situation des jungen Intellektuellen um 1890 als bestimmt durch die Sackgasse, in die der Solipsismus von Symbolismus und Décadence führt.8 Dabei will die junge Generation der Dichter die hier erreichte Autonomie und Sensibilität durchaus nicht aufgeben. Die jungen Autoren begreifen das Selbst als die einzige Realität in einer unsicheren und bedrückenden Welt: Schreiben kreiert eine realere Welt, in der sich der Dichter selbst definiert und auf diese

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Auch Burckhardts Bild des Renaissancemenschen ist nicht voraussetzungslos. Wie Hausmann betont, orientierte er sich an Goethes Übersetzung der Autobiographie Benvenuto Cellinis, in der er »einen Modellfall des künstlerischen Renaissancemenschen porträtiert« findet. Siehe FrankRutger Hausmann: »Humanismus und Renaissance in Italien und Frankreich«, in: Michael Schwarze (Hg.), Der neue Mensch. Perspektiven der Renaissance, Regensburg: Pustet 2000, S. 7-36, hier: S. 11. Auch die Heldenvorstellungen der Romantik spielen eine Rolle. Aus dem englischen Kontext sei verwiesen auf Thomas Carlyle, On Heroes, Hero-Worship, and the Heroic in History (1841), dessen Führergestalten nicht allzu weit entfernt sind von den Übermenschen bei Nietzsche. Im Unterschied zu Uekermann oder Rehm teile ich den Renaissancismus in zwei Phasen ein. In der ersten Phase steht die Form im Mittelpunkt (lyrisches Drama, Novelle), in der zweiten der Inhalt und hier insbesondere der Aspekt der Macht bezogen auf die Charaktere und ihre Handlungen. Ernst Robert Curtius: Maurice Barrès und die geistigen Grundlagen des französischen Nationalismus, Bonn: Cohen 1921. Hier unterscheidet sich die Einstellung der deutschen Autoren von der der Franzosen: Während erstere sich weitgehend von der Politik fernhalten, engagieren letztere sich in der Welt. Für Barrès gilt der ›Culte du Moi‹ als Methode, den unfruchtbaren Nihilismus der Zeit aufzubrechen und spirituelle Energie wiederzufinden. 75

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Weise die Literatur enger mit dem Leben verbindet. Der Dichter avanciert zum Wegweiser und Propheten.9 Warum war die Renaissance nun so interessant für das späte 19. Jahrhundert? Die zentrale Stellung des Menschen in der Welt unter weitgehender Loslösung von religiösen und moralischen Konventionen betont seine Freiheit. Eine besondere Rolle spielt für unseren Zusammenhang die Anthropologie der Renaissance. Der Mensch erscheint hier als freies Individuum, das sich selbst jederzeit neu entwerfen kann und in seinem Weltverhältnis nicht festgeschrieben ist. Er ist charakterisiert als ortlos, frei und neugierig, sein Bewusstsein kann sich bis zu den Engeln erheben.10 Die Selbstentdeckung des Individuums in seiner Autonomie ist ein zentraler Gedanke Burckhardts in der Kultur der Renaissance. Das freigesetzte Individuum hat die Wahl zwischen gut und böse. Die Absolutierung dieser Freisetzung bringt mit sich, dass von nun an Fakten und Erfolg zählen und nicht ihre moralische Bewertung. Selbst Burckhardt kann sich der Faszination durch das große Individuum der Renaissance kaum entziehen – gewährt er doch den Frevlern mehr Raum als den ›uomini universali‹. Indem der literarische Renaissancismus Burckhardt folgt, entfernt er sich vom Humanismus, da nun das Individuum losgelöst von allen sozialen und ethischen Bindungen den einzigen Fokus bildet.11 Der Andere tritt allein deswegen in den Bannkreis des Protagonisten, um neue Empfindungen und Erfahrungen auszulösen.

Lebensphilosophie und Vitalismus Die Entwicklung des Renaissancismus von seiner auf die Form konzentrierten ersten Phase hin zu seiner zweiten, die im Zeichen des Machtwillens steht, vollzieht sich auf dem Hintergrund eines epistemologi-

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So die Selbststilisierung Stefan Georges, dazu genauer Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 225. 10 Giovanni Pico della Mirandola: Über die Würde des Menschen, übers. von Norbert Baumgarten, hg. und eingeleitet von August Buck, Hamburg: Felix Meiner 1990, S. 5f. Der Gedanke von der prinzipiellen Offenheit und Freiheit des Menschen findet sich im Neuhumanismus wieder, so bei Herder. 11 Diese Entwicklung zeichnete sich bereits bei den Vorläufern wie Heinse (Ardinghello, 1787) und Stendhal (Chroniques italiennes, 1837/38) ab, deren Protagonisten ebenfalls Renaissancemenschen sind, die sich von kirchlichen und staatlichen Bevormundungen befreien und keine fremden Gesetze anerkennen. 76

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schen Paradigmenwechsels: Die Beschleunigung der Modernisierung und der gesellschaftlichen Differenzierung sowie das Gefühl kulturellen Niedergangs um 1900 erfordert die Etablierung eines neuen Fundaments. In Literatur, Philosophie und Kunst schien dies die Kategorie des Lebens bieten zu können, wobei ›Leben‹ den um 1800 gängigen Einheitsbegriff der ›Natur‹ ablöste.12 Zu dieser Verschiebung vom Begriff der Natur zu dem des Lebens kommt es dadurch, dass der Rekurs auf den Geist, bei Hegel noch selbstverständlich, durch den Einfluss der neuen naturwissenschaftlichen Leitdisziplin Biologie gekappt wird. In der Krise der Gegenwartskultur verspricht das neue Paradigma Veränderung, ja Revitalisierung. Ebenso wird die Kategorie der Schönheit anders verortet: In seinem Werk Die Kunstformen der Natur (1904) führt Ernst Haeckel die Schönheit der Naturformen vor Augen und zeigt, wie sich im evolutionären Prozess das Leben entfaltet – Schönheit erscheint hier als Zeichen vitaler Kraft. Der nun entstehende Zweig der Philosophie, die Lebensphilosophie, beruht auf der Überzeugung, dass die Verbindung von Sein und Bewusstsein nicht allein durch logische und formale Operationen erfasst werden kann. Stattdessen wird die triebhafte Seite des menschlichen Geistes nobilitiert und philosophiefähig. Es gilt, eine neue Form explikativer Rationalität auszuarbeiten. Da die wissenschaftliche Rationalität nicht ausreicht, den menschlichen Weltbezug zu erfassen, wird sie durch andere Faktoren ergänzt bzw. abgelöst: die Triebe werden als der Vernunft vorgängig angesehen, Macht, Erlebnis und Überzeugung avancieren zu Schlüsselbegriffen. Arthur Schopenhauer stößt diese Entwicklung an mit seiner Konzeption des Willens zum Leben. Er geht davon aus, dass der Mensch mehr ist als ein erkennendes Subjekt, da er durch seinen Körper unmittelbar an den Erscheinungen der Welt teilnimmt. Dies vollzieht sich über den Körper. Fellmann erklärt: »Die unmittelbar erfahrbare Realität des eigenen Körpers, insbesondere des Geschlechts, heißt ›Wille‹. Darunter versteht Schopenhauer die mit der Leiblichkeit verbundene Triebhaftigkeit, die auf die Erhaltung und Vermehrung des Lebens gerichtet ist.«13 Der Wille zum Leben ist als ein blinder und unaufhaltsamer Drang zu verstehen, der auf das Leben gerichtet ist und ohne den es keine Welt gibt.

12 Siehe Wolfgang Riedel: ›Homo Natura‹. Literarische Anthropologie um 1900, Berlin, New York: Walter de Gruyter 1996. Dieser Paradigmenwechsel wird begünstigt durch den Einfluss von Schopenhauers Philosophie auf den Einheitsbegriff ›Natur‹. 13 Ferdinand Fellmann: Geschichte der Philosophie im 19. Jahrhundert, Reinbek: Rowohlt 1996, S. 279. 77

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Nietzsche knüpft an viele Gedanken Schopenhauers an, insbesondere an dessen Willensmetaphysik. Für unseren Zusammenhang ist insbesondere der Zarathustra (1883-85) interessant, in dem er die Lehre vom Übermenschen entwickelt. Dieser erweist sich als Gegenentwurf zum Massenmenschen der Industriegesellschaft insofern als er eine Projektion der artistischen Existenz verkörpert: Der autonome Künstler erhebt den Anspruch, aus sich selbst heraus eine Welt zu schaffen und dabei nur sich selbst verpflichtet zu sein. Die Konzeption des Übermenschen basiert auf der Idee des höchsten Menschen oder Helden in der Naturphilosophie der Romantik, dessen Wille im Einklang mit der Natur steht, wodurch er die anderen Menschen überragt. Cäsar und Napoleon werden hier als Prototypen angeführt. Der Übermensch nach Nietzsche hat Gott überwunden und die Hoffnung auf ein Jenseits als illusionär aufgegeben. Damit wird dem Leben im Diesseits eine neue Bedeutung verliehen, da nur hier dem Dasein ein Sinn gegeben werden kann. Zugleich wird der Körper gegenüber Seele und Geist aufgewertet, wobei beide gleichwohl nicht gänzlich verabschiedet werden. Im Sinne Schopenhauers wird darauf hingewiesen, dass sie ohne den Körper allerdings keine Realität haben. Bei Nietzsche ist daher der Begriff des Willens ebenfalls zentral. Im Zarathustra ist es jedoch ein schöpferischer Wille, der Formwille des Künstlers, der ebenso auf die Lebensumstände anzuwenden ist. Das lässt den Schluss zu, dass es sich sowohl bei der Konzeption des Willens als auch bei der des Übermenschen um ästhetische Phänomene handelt, die im Zusammenhang mit der ästhetischen Rechtfertigung der Welt stehen. Mit dem Willen zur Macht glaubt Nietzsche, die Grundform gefunden zu haben, aus der das gesamte Triebleben des Menschen hervorgeht. Dabei ist der Wille zur Macht selbst kein Trieb, sondern ein Bewusstseinszustand, genauer: das Bewusstsein davon, dass die anderen abhängig von uns sind, ihr Wohl und Wehe in unserer Hand liegt. Damit bleibt der Machtwille letztlich eine Reflexionsfigur. Bei Nietzsche gilt der Renaissancemensch als Modell für die Erneuerung der antiken griechischen Kultur, für die Verkörperung des großen Individuums: In ihm finden wir das Streben nach unbeschränkter Selbstverwirklichung, das Gefahr und Egoismus in sich birgt, vereint mit der Kraft und dem Reichtum einer Lebensweise, die nicht auf moralischen Voraussetzungen beruht. In der Genealogie der Moral (1887) zeichnet er ein Bild dieses Vorläufers des Übermenschen, der die vornehmen Werte wiederaufleben lässt, sich in Kälte und Härte sowohl gegen andere als auch gegen sich selbst übt, um dem Leben zu seiner ursprünglichen Kraft und Stärke zu verhelfen.

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Nicht nur in Deutschland, auch in Frankreich und England werden die Schriften Nietzsches als Gegenmittel begrüßt gegen den lähmenden Geist der Zeit, der geprägt ist von Positivismus und Materialismus, Industrialisierung, Demokratisierung und Massengesellschaft, gegen ängstliche Konventionalität und enge, heuchlerische moralische Standards. Im Gegensatz zu der demokratischen Massengesellschaft des 19. Jahrhunderts schwebt Nietzsche eine Gemeinschaft freier und starker Geister vor, die die Schwachen und ihre Sklaven-Moral verachten. Die aristokratische Lebensform ist geprägt vom Bewusstsein der eigenen Stärke, Pathos der Distanz den Schwachen gegenüber, Unabhängigkeit und Lebensbejahung. Die Unterscheidung von starken und schwachen Naturen, von Herren- und Sklavenmoral zeigt deutlich Nietzsches Überzeugung von der fundamentalen Ungleichheit der Menschen. In der Mitte des 19. Jahrhunderts ist dies kein ungewöhnlicher Gedanke. Eine Rassenlehre im Weltmaßstab legt Arthur de Gobineau (1816-1882) in Essai sur l’inégalité des races humaines (1853-55, dt. Übersetzung 1898-1901) vor: Die Geschichte zeige, dass Völker durch Rassereinheit Macht erlangen, während Rassenmischung den Untergang eines Volkes herbeiführe. Gobineaus Bild des blonden, blauäugigen Germanen als Verkörperung von Kraft und Heldensinn wird von Nietzsche und Julius Langbehn (Rembrandt als Erzieher, 1890) aufgegriffen und verbreitet. Besonders einflussreich war in Deutschland jedoch Gobineaus literarisches Werk La Renaissance. Scènes historiques (1877, dt. 1891). In fünf Szenen werden mit Savonarola, Cesare Borgia, Julius II., Leo X. und Michelangelo herausragende Renaissancegestalten als genialische Übermenschen präsentiert.14

G a b r i e l e D ’ An n u n z i o In Leben und Werk Gabriele D’Annunzios zeigt sich die Kombination des ursprünglich humanistischen Gedankens der Perfektion des Selbst mit Nietzscheanischem Gedankengut in besonders prägnanter Weise. In

14 Die Renaissance erscheint 1896 als Reclamheft und wird vor dem Ersten Weltkrieg kostenlos in Schulen und an die Armee verteilt. Siehe FrankRutger Hausmann, »Rassenkunde und Geisteswissenschaft – die Geschichte eines Verhängnisses«, in: Renaissance-Hefte 2 (1993), S. 64-78, hier: S. 68. Hier findet sich die weitere Entwicklung der Rassenlehre Gobineaus bei Ludwig Woltmann, Hans Friedrich Karl Günther und Houston Steward Chamberlain umrissen. Nach der Machtergreifung 1933 wurde Gobineau als Vater der nationalsozialistischen Rassenlehre gefeiert. 79

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seinem ersten Roman Il Piacere (1889, dt. Lust) präsentiert D’Annunzio mit Andrea Sperelli das Idealbild eines jungen Mannes, der der jeunesse dorée Roms angehört, sich aber durch seine Herkunft, seine literarische und künstlerische Begabung, seinen Geschmack, Reichtum, Schönheit und Vitalität deutlich abhebt. Der letzte Nachkomme einer Familie von tatkräftigen, vitalen Edelleuten und Künstlern hat beide Merkmale geerbt: künstlerische Begabung und Lebenslust. Er graviert Kupferplatten, dichtet Sonette und Tragödien, wobei er die großen Meister der Renaissance als Vorbilder wählt und miteinander kombiniert. Kunst und Leben – genauer: Lebenslust – sind die beiden Pole, zwischen denen sein Leben oszilliert. Das Verlangen der Seele nach Idealen, insbesondere nach den Idealen der Kunst, stellt sich bei dem jungen Mann eigentümlicherweise stets dann ein, wenn sein Körper erschöpft ist – von sportlicher Betätigung oder, häufiger, von der Liebe. Übermäßiges Analysieren und Handeln ohne Leidenschaft scheint seine Kräfte zu zersetzen; nur in der Einheit der Kräfte und des Lebens findet er seine Natürlichkeit und Selbstbewusstsein. Eine der Maximen, die sein Vater zu seinen Lebzeiten vertrat, lautete: »Man muß das eigene Leben gestalten, wie man ein Kunstwerk gestaltet. Das Leben eines Mannes von Geist muß sein eigenes Werk sein. Hierin liegt die wahre Überlegenheit.«15 Unglücklicherweise überschätzte er die Charakterstärke seines Sohnes. Dieser verfügt nach dem frühen Tod des Vaters zwar über ein beträchtliches Vermögen, das ihm die volle Verfügungsgewalt über sein Leben sichert, erweist sich allerdings früh als seinen Leidenschaften und Lüsten ausgeliefert. Unmissverständlich macht der Erzähler klar, dass dieser brillante, schöne junge Mann ein Gefangener seiner Natur – seines schwachen Willens und Wankelmutes – ist. Durch seine Sensibilität ist er für alle Arten von Reizen und Einlüssen besonders empfänglich, zugleich bedeutet dies nichts anderes als dass Andrea abhängig von der Außenwelt ist, eigene Entschlüsse und Überzeugungen vermag er nicht lang aufrecht zu halten, Gefühle sind nicht von Tiefe oder Dauer. Zwischen seinen Gefühlen für die femme fatale Elena Muti und die madonnenhafte Maria Ferres schwankend, erkennt Sperelli in einem Moment der Selbstanalyse, die typisch ist für die Protagonisten D’Annunzios: »Ich bin wankelmütig, falsch, widersprüchlich, unbeständig. Jede Mühe, zur Einheit zu gelangen, ist vergebens. Ich muß mich jetzt sammeln. Mein Gesetz liegt in einem Wort: NUNC. Der Wille des Gesetzes geschehe.«16 Wie sehr seine große sensitive Kraft die

15 Gabriele D’Annunzio, Lust, Stuttgart: Reclam 1995, S. 41. 16 Ebd., S. 333. Hervorhebung im Original. 80

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sittliche zersetzt hat, zeigt insbesondere die Entwicklung seiner Liebe zu Donna Maria, die er auf schändliche Art und Weise betrügt. Im Gegensatz zu der starken Persönlichkeit des Renaissancemenschen hat das Ich Sperellis seine Einheit verloren. Stattdessen spielt er eine Reihe von Rollen, die ihm seine Herkunft und seine Umgebung vorgeben: den Kunstkenner, den Dandy, den Künstler, den Verführer, den Zyniker. Diese Rollen werden nur oberflächlich zusammengehalten durch die Erinnerung und sein immerwährendes Streben nach »piacere«, Lust. In diesem Kontext steht auch die Beschreibung seines Hauses als Theater, in dem vorzugsweise das Schauspiel der Liebe gegeben wird, wobei Andrea selbst zugleich als Regisseur und Schauspieler auftritt. Im Gegensatz zu einem Regisseur verliert sich Sperelli nicht selten in seinen Inszenierungen. Die anderen Figuren, seien es seine Freunde oder seine Geliebten, gewinnen für ihn kaum mehr Wirklichkeit als die Dinge, die er für die Ausstattung seines Hauses wählt, um eine bestimmte Atmosphäre zu erzeugen. D’Annunzio täuscht den Leser von Anfang an nicht darüber, dass sein Held zwar von außen betrachtet ein beneidenswertes Leben zu führen scheint, durch seine charakterliche Schwäche aber sich und diejenigen, die sich in seine Hand begeben, zugrunde richtet. Die Lust des Moments hat einen hohen Preis: »Im Mund spürte er einen unsagbar bitteren und widerwärtigen Geschmack, der von der Zersetzung seines Herzens aufstieg.«17 Im Herbst 1892 las Gabriele D’Annunzio einige ins Französische übersetzte Fragmente aus Nietzsches Jenseits von Gut und Böse (1886) und Zarathustra sowie verschiedene Artikel in französischen literarischen Zeitschriften. Diese fasste er zusammen in der ihm typischen Arbeitsweise, die mitunter an Plagiierung grenzte. Sein, am 25. September 1892 auf der Titelseite der neapolitanischen Zeitung Il Mattino erschienener Essay D’Annunzios, »La bestia elettiva« (Das gewählte Ungeheuer), bildet den Anfang der Nietzscherezeption in Italien. D’Annunzio beginnt mit Überlegungen zur décadence in Europa, insbesondere zum Niedergang der herrschenden Klassen, der mit dem Aufstieg der Bourgeoisie und ihren Werten bzw. denen der Massenkultur einhergeht. Die Lösung der spirituellen und physischen Krise besteht darin, dass eine neue Aristokratie entsteht, durch die in naher Zukunft Nietzsches Gedanken zur Moral des vornehmen Willens aktualisiert wird. »Die Menschen werden in zwei Rassen geteilt. Der höheren, die sich aus der reinen Energie ihres Willens erhoben hat, wird alles erlaubt 17 Ebd., S. 408. 81

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sein, der niedrigeren wenig bis gar nichts.«18 Die neue Elite werde eine neue Ordnung aufstellen, die Führung des Staates übernehmen und der Demokratie, die nichts als ein Kampf eitler Egoismen sei, ein Ende setzen. Dieses politische Programm geht zurück auf literarische Gesichtspunkte, vor allem auf die Frage nach der Rolle des Dichters in der egalitären und bürokratischen Gesellschaft: Für wen soll er schreiben? Nietzsches Moral der Vornehmen liefert mit der Behauptung der moralischen Autonomie und Überlegenheit des Künstlers und seiner Kunst die Antwort darauf. Seiner Vision des neuen Aristokraten nach steht dieser als isoliertes Individuum außerhalb der Gesellschaft, um einer Ansteckung mit dem profanen Alltagsleben zu entgehen, das Wahlen, Demokratie und Staat mit umgreift. Diese Randposition bedeutet allerdings keineswegs Machtlosigkeit, sondern ist im Gegenteil das Zeichen seines Rangs und seiner Verachtung für die vulgäre Masse: Er und seine Kunst stehen für die Zukunft. Der Rückzug aus der Gesellschaft ist notwendig, um die höhere Lebensform zu bewahren. Distanz zur Welt verschafft dem Ich Raum und die Möglichkeit zur Reflektion und dazu, sich selbst als Dreh- und Angelpunkt verstehen zu können. Aus Nietzsches Konzeption des Übermenschen leitet D’Annunzio seine eigene Variante des ›superuomo‹ ab. Dieser entsteht aus der extremen Steigerung der Energien und Instinkte des Menschen, durchdrungen von Sinnlichkeit und Geistigkeit, unter Verklärung und Heroisierung der eigenen Persönlichkeit. Damit steht er im Gegensatz zu Nietzsche, dessen Übermensch das Menschliche transzendieren will. Im ›superuomo‹ dagegen begegnen wir einem Individuum, das sich in extremer Form selbst verwirklicht hat. D’Annunzios Helden statten den Traum von einem höheren Leben mit einem ausgewählten Personal an Helden aus Mythos und Geschichte aus, die als Vorbilder und Seelenverwandte aufgerufen werden. Diese werden allerdings nicht zur Kompensation des eigenen Selbstbewusstseins bemüht, vielmehr entsteht diese Ahnenreihe durch die gemeinsame Teilhabe am Übermensch-sein. Die Sehnsucht nach der Wiederkehr vergangener Zeiten der Größe, die durchaus häufig anklingt, bekommt Zukunft in den Hauptfiguren D’Annunzios. In Il Fuoco (1900, dt. Das Feuer) finden wir in der Figur des Stelio Effrena die Übersetzung des Übermenschen in die Gedankenwelt D’Annunzios. In allen literarischen Gattungen ein Meister ist Effrena

18 Zitiert nach Bettina Vogel-Walter: D’Annunzio – Abenteurer und charismatischer Führer. Propaganda und religiöser Nationalismus in Italien von 1914 bis 1921, Frankfurt/Main et. al.: Lang 2004, S. 26. 82

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davon überzeugt, eine Mission zu haben, die seiner künstlerischen Berufung entspricht. »Da er nur von sich selbst und seiner Welt sprechen konnte, so wollte er wenigstens die glänzendsten und eigenartigsten Eigenschaften seiner Kunst zu einer Idealgestalt zusammenfassen und den nacheifernden Geistern durch Bilder eläutern, von welch unwiderstehlicher Macht des Verlangens er durch das Leben getrieben wurde. Auch wollte er ihnen noch einmal beweisen, daß, um über Menschen und Dinge den Sieg zu erlangen, nichts so wertvoll ist als die Beharrlichkeit in der Selbstbegeisterung und in der Verherrlichung des eigenen Traumes von Schönheit oder Herrschaft.«19

Effrenas Lebensentwurf beschränkt sich nicht auf die Selbstverwirklichung des modernen Mannes und Künstlers, sondern zielt auf die Entwicklung zum ›superuomo‹. Dies kann nur in völliger Freiheit realisiert werden, unabhängig von den Frauen und in Konzentration auf die eigenen Fähigkeiten. Liegt auch in der Beziehung Effrenas mit der Schauspielerin Foscarina – ein kaum abgewandeltes Porträt der Schauspielerin Eleonora Duse – eine wichtige Quelle seines Schaffens, so vollzieht sich diese Liebesgeschichte allein nach seinen Bedingungen: Die Foscarina gibt sich für seine Kunst hin – künstlerisch und körperlich – lässt sich verbrauchen, ein Opfer, das Effrena wie selbstverständlich annimmt. Der Lebensentwurf hin zum Übermenschen lässt alles und alle um ihn herum zum Teil dieses Schauspiels werden: Die Orte, an denen er sich bewegt, dienen als Inspiration für seine geistigen Höhenflüge und werden aufgeladen mit seiner psychischen Energie. Ein zentrales Ereignis des Romans illustriert den Anspruch Effrenas auf seine Sonderstellung. In Venedig hält er eine Rede anlässlich der Eröffnung der Biennale. Der genius loci wird detailreich evoziert: die Stadt Venedig in ihrer historischen Größe und Pracht; die Rede selbst wird gehalten an einer nicht zufällig gewählten Stelle: »im Saal des großen Rates, auf der Tribüne, von der einst der Doge zu der Versammlung der Patrizier sprach, das ›Paradies‹ des Tintoretto im Hintergrund und über sich den ›Ruhm‹ des Veronese.«20 Effrena bezwingt die Menge durch seine Hymne an die Schönheit und die Kunst, in seiner frei gehaltenen Rede verschmelzen Poesie, Politik und Religion. Der Dichter erscheint einerseits als Prophet und weist sich andererseits als legitimen Erben Wagners, der im Laufe der Handlung in Venedig stirbt, aus.

19 Gabriele D’Annunzio: Das Feuer, Berlin: Ullstein 1999, S. 106. 20 Ebd., S. 70. 83

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D e r W e g i n d e n F a s c h i s m u s 21 Von Nietzsche übernimmt D’Annunzio verschiedene Elemente wie die Lehre vom Übermenschen und die Absage an die Demokratie. Seine Interpretation bleibt dabei jedoch überwiegend literarisch, im Gegensatz zu den Faschisten entwickelt er daraus kein politisches Programm. Sein Essay »La bestia elettiva« beginnt und endet mit dem Dichter, der am Rande der Gesellschaft steht, befreit von der Last sozialer Nützlichkeit und in absoluter Autonomie und Macht prophetische Kräfte entwickelt. Macht bedeutet für D’Annunzio die Macht des überlegenen Wesens, insbesondere des Künstlers, Bilder zu schaffen und auf Menschen zu wirken. Der Wille zur Macht erscheint hier als Wille zur Form; der Wille, seiner Umgebung einen Stil und ein Tempo aufzunötigen. Trotzdem schließt D’Annunzio für sich die Betätigung in der Sphäre der Politik nicht aus. Tatsächlich reizt ihn die Vorstellung, der Dandy-Figur eine neue Facette zu verleihen: als Dichterkämpfer verwandelt er nicht nur seinen Körper in ein Kunstwerk, sondern schafft darüber hinaus seine eigene öffentliche Bühne. So trat er bei den Parlamentswahlen 1898 als ›Kandidat der Schönheit‹ für seine Heimat Pescara an und erlangte durch zahlreiche Reden und Artikel, in denen er eine Rhetorik großer Gesten und heroischer Spektakel einsetzte, ein Mandat. Seinen Wechsel von der Rechten zur Linken in der Abgeordnetenkammer begründete er damit, auf der Seite des Lebens stehen zu wollen.22 Nachdem seine Wiederwahl 1900 schei21 Eine Analyse des Werks von Friedrich Nietzsche im Hinblick auf den Faschismus hat Bernhard Taureck vorgelegt. Hier seien nur knapp die wichtigsten Aspekte skizziert, die Öffnungen zum Faschismus bieten. Dazu gehört zuerst die Rede von der Ungleichheit der Menschen, von der Notwendigkeit der Sklaverei und einer Rang- und Kastenordnung zur Hervorbringung der Kunst und des höheren Menschentypus. In vielen Zusammenhängen betont Nietzsche die Notwendigkeit der Zerstörung, nicht zuletzt dessen, was parasitisch und entartet ist. Gewalt erscheint als Selbstzweck; sein Eintreten für Machiavellismus, Krieg und Grausamkeit macht ihn unmissverständlich zu einem Denker des Protofaschismus (siehe Bernhard H.F. Taureck: Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum, Leipzig: Reclam 2000). Taureck untersucht auch den italienischen Faschismus, u.a. die Prägung der Nietzsche-Rezeption durch Julius Evola (1898-1974), die zurückwirkte auf den deutschen Faschismus und noch das heutige Bild der Philosophie Nietzsches in Deutschland und Italien beeinflusst. 22 Siehe B. Vogel-Walter: D’Annunzio – Abenteurer und charismatischer Führer, S. 27. Tatsächlich pflegte er auch in späteren Jahren seine sozialistischen Kontakte, jedoch ohne sich festlegen zu lassen. »Ihr glaubt, dass ich Sozialist sei? […] Ich bin und bleibe bis zum letzten Blutstropfen Individualist, grausamer Individualist.« Ebd., S. 28. 84

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terte, zog er sich aus der Politik zurück. Sein Verzicht beschränkte sich allerdings auf die mühevolle parlamentarische Arbeit, die großen politischen Taten reizten ihn noch immer. Hatte er bereits in seinen Werken wirkungsvoll an das Nationalgefühl der Italiener appelliert, indem er z.B. die Einheit mit den ›terre irredente‹ beschwor,23 so beteiligte er sich nun mit flammenden Reden an der öffentlichen Diskussion zum Kriegseintritt Italiens. Der Prophet der Nation gab der Sehnsucht des Publikums nach einem großen Italien – sowohl in Bezug auf seine Ausdehnung als auch seinen Ruhm – eine Stimme. Diese Stimme half er überdies zu verbreiten: So unternahm er am 9. August 1918 einen spektakulären Flug nach Wien, um Flugblätter mit Propaganda gegen den Kriegsgegner Österreich über der Stadt abzuwerfen. D’Annunzios immer radikalere Artikel führten zu einer folgenschweren Begegnung. 1918 – vor Gründung der faschistischen Partei im März 1919 – nahm der Dichter Kontakt zu Mussolini (1883-1945) auf, weil er sich in Mussolinis Zeitung Popolo D’Italia eine neue Plattform für seine Artikel erhoffte. Mussolini dagegen suchte nach dem Bruch mit den Sozialisten neue Anhänger und war beeindruckt von der breiten Wirkung der Artikel D’Annunzios.24 Denkbar gegensätzlich von Herkunft, Persönlichkeit und Lebenswandel verband sie die Idee eines geeinten Italiens. Das komplizierte Verhältnis zwischen Mussolini und D’Annunzio schwankte zunächst zwischen Freundschaftsbekundungen, wechselseitigen Angriffen und Ergebenheitsgesten des Jüngeren. Der größte politische Coup des Dichters fand 1919 statt: Nach dem Vorbild der unerschrockenen Condottiere der Renaissance zog D’Annunzio in die Adriastadt Fiume ein und wird ihr Kommandeur. Gegen politischen und militärischen Widerstand hält er die Stadt bis Weihnachten 1920. Als charismatischer Führer verwirklicht er hier den Traum von der Einheit von Politik, Kunst und Leben.25 23 So steht in der Ode Al Re giovine (1900) oder in dem Theaterstück La Nave (1904) die Adria im Mittelpunkt, in den Canzoni d’oltremare (1910) wird der Libyenkrieg gefeiert. Die Canzoni wurden von der Jugend begeistert aufgenommen und begründeten die Freundschaft zu Tommaso Marinetti (1876-1944), dem Begründer des Futurismus. 24 Siehe dazu B. Vogel-Walter: D’Annunzio – Abenteurer und charismatischer Führer, S. 22f.; in der Zeit der Fiume-Besetzung: 156f. D’Annunzios Unterstützung Mussolinis und der faschistischen Bewegung deutet sie als Versuch, die Einigung Italiens zu erreichen. 25 Max Weber unterscheidet in Wirtschaft und Gesellschaft (1922) drei Formen von Herrschaft: legale, traditionale und charismatische Herrschaft. Letztere wurde entwickelt anhand von Beobachtungen des George-Kreises um Stefan George. D’Annunzio hatte sich bereits vor dem Krieg als Prophet stilisiert, und übernahm die Rolle des Nationaldichters und Deuters der Nationalideologie von Carducci. Während der Herrschaft in Fiume 85

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Nachdem er zur Aufgabe der Stadt gezwungen worden war, zog er sich in eine Villa am Gardasee zurück, den späteren ›Vittoriale degli Italiani‹. Hatte Mussolini sich während der Fiume-Kampagne eher zögerlich verhalten, so umwirbt er den Commandante nun heftig: Fiume wird mit Garibaldis Marsch auf Rom im Risorgimento verglichen und als Präfiguration eines neuerlichen Marsches gedeutet. Doch auch das liberale Lager und die Veteranen versuchen, den Dichterkämpfer für sich zu gewinnen. D’Annunzio schließt sich gleichwohl keiner politischen Partei an und betätigt sich nicht mehr politisch. Allerdings steht er Mussolini nahe, der ihn bis zu seinem Tod 1938 durch stetige pekuniäre Zuwendungen und anderweitige Unterstützung – sei es bei der Gesamtausgabe seiner Werke oder beim Ausbau des Vittoriale – bei Laune hält, um ihn von der Politik fernzuhalten, zugleich aber das Charisma D’Annunzios zu nutzen. Das Werk D’Annunzios ist ein treffendes Beispiel dafür, wie in der Literatur des Renaissancismus das ursprünglich humanistische Konzept der Kultivierung des Selbst durch die Einengung auf einen übersteigerten Individualismus zu einem anti-humanistischen Zerrbild wird, das in gefährliche Nähe zum Faschismus gerät. D’Annunzio hatte demonstriert, wie die neuen Massenmedien bei der Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit genutzt werden konnten, er hatte über Jahre lautstark gesellschaftliche und politische Neuorientierung propagiert – und dies schließlich durch Teilnahme am Krieg und im Nachkriegsgeschehen aktiv umgesetzt. An diese Strategien und Inszenierungen knüpften die Faschisten nahtlos an.26

mobilisiert er seine Anhänger nahezu ausschließlich über religiöse Begrifflichkeit, Bilder und Metaphern. Wie der Dichter während der FiumeKampagne den religiösen Erlösungsdiskurs aufruft, zeigt Hans Ulrich Gumbrecht: »I redentori della vittoria. Über Fiumes Ort in der Genealogie des Faschismus«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Friedrich Kittler/Bernhard Siegert (Hg.): Der Dichter als Kommandant. D’Annunzio erobert Fiume, München: Wilhelm Fink 1996, S. 84-115. 26 Differenziert zu dieser Frage siehe Irene Chytraeus-Auerbach: Inszenierte Männerträume. Eine Untersuchung zur politischen Selbstinszenierung der italienischen Schriftsteller Gabriele D’Annunzio und Filippo Tommaso Marinetti in der Zeit zwischen Fin-de-Siècle und Faschismus, Essen: Die Blaue Eule 2003, und Michael A. Ledeen: The First Duce. D’Annunzio at Fiume, Baltimore, London: Johns Hopkins University Press 1977. 86

DER NIEDERGANG DES HUMANISMUS

Literatur Braungart, Wolfgang: »›die schönheit die schönheit die schönheit‹. Ästhetischer Konservativismus und Kulturkritik um 1900«, in: Jan Andres/Wolfgang Braungart/Kai Kauffmann (Hg.), »Nichts als die Schönheit«. Ästhetischer Konservativismus um 1900, Frankfurt/Main, New York: Campus 2007, S. 30-55. Breuer, Stefan: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995. Cancik, Hubert: »Gleichheit und Freiheit«, in: Richard Faber/Barbara v. Reibnitz/Jörg Rüpke (Hg.), Antik – Modern. Beiträge zur römischen und deutschen Kulturgeschichte, Stuttgart, Weimar: Metzler 1998, S. 293-313. Chytraeus-Auerbach, Irene: Inszenierte Männerträume. Eine Untersuchung zur politischen Selbstinszenierung der italienischen Schriftsteller Gabriele D’Annunzio und Filippo Tommaso Marinetti in der Zeit zwischen Fin-de-Siècle und Faschismus, Essen: Die Blaue Eule 2003. Curtius, Ernst Robert: Maurice Barrès und die geistigen Grundlagen des französischen Nationalismus, Bonn: Cohen 1921. D’Annunzio, Gabriele: Lust, Stuttgart: Reclam 1995. Ders.: Das Feuer, Berlin: Ullstein 1999. Fellmann, Ferdinand: Geschichte der Philosophie im 19. Jahrhundert, Reinbek: Rowohlt 1996. Gumbrecht, Hans Ulrich: »I redentori della vittoria. Über Fiumes Ort in der Genealogie des Faschismus«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/ Friedrich Kittler/Bernhard Siegert (Hg.), Der Dichter als Kommandant. D’Annunzio erobert Fiume, München: Wilhelm Fink 1996, S. 84-115. Hausmann, Frank-Rutger: »Humanismus und Renaissance in Italien und Frankreich«, in: Michael Schwarze (Hg.), Der neue Mensch. Perspektiven der Renaissance, Regensburg: Pustet 2000, S. 7-36. Ledeen, Michael A.: The First Duce. D’Annunzio at Fiume, Baltimore, London: Johns Hopkins University Press 1977. Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München: DTV 1988 (= KSA 5). Pico della Mirandola, Giovanni: Über die Würde des Menschen, übers. von Norbert Baumgarten, hg. und eingeleitet von August Buck, Hamburg: Felix Meiner 1990. Riedel, Wolfgang: ›Homo Natura‹. Literarische Anthropologie um 1900, Berlin, New York: Walter de Gruyter 1996. 87

NINA RIEDLER

Taureck, Bernhard H.F.: Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum, Leipzig: Reclam 2000. Uekermann, Gerd: Renaissancismus und Fin de Siècle: Die italienische Renaissance in der deutschen Dramatik der letzten Jahrhundertwende, Berlin: Walter de Gruyter 1985. Vogel-Walter, Bettina: D’Annunzio – Abenteurer und charismatischer Führer. Propaganda und religiöser Nationalismus in Italien von 1914 bis 1921, Frankfurt/Main et al.: Lang 2004.

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De mokratie, Freihe it und Mensc he nrec hte : Humanistische Werte oder Instrumente unmenschlicher Politik? Stimme n a us de n Meinungsfore n de r pa n-ara bisc hen Ta ge sze itung al-Hayat für e ine n inte rk ulture lle n Dia log SHADIA HUSSEINI

Abstract Freedom, democracy and human rights appear in ›Western‹ public discourse mainly as human values and humanistic concepts that guarantee globally a peaceful living together. Therefore, it is not surprising that they are often made to an important subject of intercultural dialogue which aims at defusing cultural confrontation. On the other hand, they are as well ›abused‹ in order to legitimate political interventions and violence. The US-administration under George W. Bush, for example, waged ›the war on terrorism‹ with all its consequences in the name of these values. Against this background, the present paper investigates the ways freedom, democracy and human rights are discussed in the Arab media. It aims at the unveiling of the variety of opinions and therefore focuses on the pan-Arab newspaper al-Hayat which is considered to be one of the most open for debate. The intention is to draw some conclusions for an intercultural dialogue on values from these perspectives.

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Herausforderungen eines interkulturellen Dialogs Dialog ist ein viel verwendetes Wort, das gerne als Patentlösung für Konflikte angeführt wird. Dies hat zur Folge, dass im Kontext von Konflikten um Kultur und Religion vor allem ein ›interkultureller Dialog‹ über Werte dazu beitragen soll, Konfrontationen abzubauen und gegenseitiges Verständnis und Akzeptanz zu fördern. Aber was kann damit gemeint sein? Kulturen können nicht mehr als monolithische und in sich homogene, nebeneinander stehende Blöcke verstanden werden. Worauf hier zurückgegriffen wird, ist ein Konzept von Kultur, das diese als Begriff versteht, der Differenzen zwischen Identitäten von ›Ei(ge)nem‹ und ›Anderem‹ konstruiert.1 Diese Grenzziehungen sind jedoch weder als fix noch als singulär zu begreifen, sondern als veränderbar, multipel und je nach Kontext gewichtig oder auch nicht. Demnach gibt es ›den Westen‹ gegenüber ›der islamischen Welt‹ als solchen nicht, jedoch spielt ihre Identifizierung und Differenzierung in Argumentationszusammenhängen um beispielsweise Demokratie eine große Rolle. Im Anschluss an ein solches Verständnis besteht die Funktion eines interkulturellen Dialogs darin, auf der Ebene ›Kultur‹ dezidiert zu polarisieren und eine Differenzachse zu (re)produzieren, mit dem Ziel, diese entweder zu überwinden oder zumindest einen friedlichen Umgang mit dem durch sie definierten ›Anderen‹ zu finden. Wenn ein interkultureller Dialog in dieser Hinsicht erfolgreich sein will, muss er in der Lage sein, sich ›dem Anderen‹ und seinen Wertvorstellungen gegenüber zu öffnen. Dass dies kein leichtes Unterfangen ist, wird bereits durch die unterschiedlichen Vorstellungen über eine ideale Gesellschaftsordnung nach säkularem Muster gegenüber einem religiösen Entwurf und der damit jeweils zusammenhängenden Ansprüche sehr deutlich. So erscheint ein im politischen Islam2 verankertes Modell zumeist als unvereinbar mit einem säkularen. Darüber hinaus kommt ein interkultureller Dialog nicht umhin, sich mit der Kritik am ›alten europäischen Humanismus‹ auseinanderzusetzen. Diese richtet sich vor allem gegen seine eurozentristische Perspek1 2

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Vgl. Marc Boeckler: Geographien kultureller Praxis. Syrische Unternehmer und die globale Moderne, Bielefeld: Transcript 2005, S. 19-40. Politischer Islam lässt sich in Anlehnung an den Islamwissenschaftler Mike Holt verstehen als »political ideology, and more specifically one, that articulates its analysis of power and its political plan of action through the religious terms and concepts found in Islam«. Vgl. Mike Holt: »Translating Islamist Discourse«, in: Said Faiq (Hg.), Cultural Encounters in Translation from Arabic, Clevedon, Buffalo, Toronto: Multilingual Matters LTD 2004, S. 63-74, hier S. 63.

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tive, die Anspruch auf universale Gültigkeit seiner Ideen erhebt, und außerdem die Instrumentalisierbarkeit seiner Konzepte problematisiert. Insbesondere die postkoloniale Theorie liefert hier wichtige Denkanstöße.3 Ihre Vertreter4 werfen dem europäischen Humanismus seine Verstrickung mit dem Kolonialismus vor, die letztendlich zur ›Entmenschlichung‹ des Kolonialisierten führte. Denn dieser – so die Argumentation – entsprach aus Sicht der Kolonialherren der eurozentristisch humanistischen Konzeption des Menschen nicht und fiel daher als das ›ausgeschlossene Andere‹ aus der Kategorie Mensch heraus. Dadurch ließ sich der Kolonialismus mit all seinen unmenschlichen und entwürdigenden Praktiken gegenüber dem Kolonialisierten rechtfertigen.5 Hinter diesem Vorwurf versteckt sich ein generelles Problem des Humanismus, wenn er essentialistische Menschheitskonzepte produziert. Denn durch die Definition dessen, was als menschlich gilt, bestimmt er zugleich das Nicht- oder das Unmenschliche mit. Die Gefahr dabei ist immer, dem ›ausgeschlossenen Anderen‹ seine Menschlichkeit zu nehmen und unmenschliche Handlungen ihm gegenüber zu legitimieren. Dies zeigt beispielsweise auch der ›Kampf gegen den Terrorismus‹ nur allzu deutlich: Lediglich die Definition der ›Unmenschlichkeit‹ des Terroristen kann seine ›unmenschliche Behandlung‹ durch eine Regierung, die sich selbst als Verfechter ›westlicher Werte‹ darstellt, und ein Gefangenenlager wie Guantánamo legitimieren.6 Mit diesem Beitrag soll gezeigt werden, dass solche Diskussionen nicht ausschließlich Thema einer Wissenschaft mit politischem Anspruch sind, sondern auch in öffentlichen Diskursen eine große Rolle spielen. Im Fokus steht die Frage, wie Demokratie, Freiheit und Menschenrechte in arabischen Medien verhandelt werden. Die Bedeutung dieser Werte liegt nicht nur darin, dass sie in der ›westlichen‹ Öffentlichkeit als Garanten für ein friedliches gesellschaftliches Zusammenleben gelten und im Kontext der internationalen und globalen Konflikte in den vergangenen Jahren immer wieder Erwähnung finden. Sie werden auch als politisches Instrument benutzt, indem sie um ihrer Verbreitung willen oftmals zur Legitimation außenpolitischer Interventionen herangezogen werden. Während im ›westlichen‹ Diskurs Demokratie, Freiheit

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Zur Einführung siehe z.B. Robert J.C. Young: Postcolonialism. A very short introduction, Oxford: Oxford University Press 2003. Eines der zentralen Werke ist Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001 (frz. Originaltitel: Les Damnés de la Terre, 1961). Vgl. ebd. Vgl. dazu auch Derek Gregory/Allan Pred (Hg.): Violent Geographies. Fear, terror and political violence, New York: Routledge 2007. 91

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und Menschenrechte weitgehend als global erstrebenswert in Erscheinung treten, werden die Debatten um diese Werte in arabischen Medien durchaus kontroverser geführt. In diese Diskussionen soll hiermit ein Einblick gegeben werden. Damit zielt der Beitrag auch darauf ab, Raum für ›andere‹ Perspektiven zu schaffen und auf diese Weise zur Dezentrierung des eurozentristischen Blickwinkels beizutragen. Untersucht werden die Meinungsrubriken der transnationalen arabischen Tageszeitung al-Hayat, da sie als Foren für öffentliche gesellschaftspolitische Diskussion vergleichsweise offen sind und Sichtweisen unterschiedlichster politischer, religiöser und ideologischer Strömungen zulassen. Bevor die Ergebnisse der Analyse dargestellt werden,7 erfolgen zunächst einige Angaben zur untersuchten Quelle. Das abschließende Fazit versucht aus den Ergebnissen der Analyse heraus einige Anregungen für einen ›neuen Humanismus‹ als einen interkulturellen Dialog zu liefern, der offen für ›andere‹ Konzepte und Vorstellungen ist und anstrebt, Konflikten um Kultur und Religion ein Gegengewicht zu schaffen.

Al-Hayat und ihre Foren für gesellschaftspolitische Diskussion Die Tageszeitung al-Hayat gilt als eine der bedeutendsten transnationalen arabischen Printmedien. Denn »[t]he opinion pages of al-Hayat in particular«, so der Nahostexperte Jon Altermann, »are among the most varied and open fora for debate in the Arab world«.8 Vertreter unterschiedlicher politischer, religiöser und ideologischer Strömungen – Liberale, Konservative, Säkularisten, Nationalisten, Islamisten etc. – sollen hier zu Wort kommen können,9 und damit stellen die Meinungsrubriken für die Analyse der Verhandlung von Werten wie Demokratie, Freiheit

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Die in diesem Beitrag angeführten Zitate aus den Zeitungsartikeln wurden von mir ins Deutsche übersetzt. Damit sind zwangsläufig Bedeutungsverschiebungen einhergegangen, denn jede Übersetzung ist letztendlich ein Interpretationsschritt. Es sind nicht die ›Originalstimmen‹, die hier zu Wort kommen. Die Schreibweise der Autorennamen, sofern sie in lateinischer Schrift nicht bekannt ist, erfolgt wie die Originaltitel der Zeitungsartikel in den Quellenangaben in der Umschrift nach den Regeln der DMG. Jon B. Alterman: New media, new politics? From satellite television to the internet in the Arab world, Washington, DC: Washington Institute for Near East Policy 1998, S. ix. Vgl. ebd.

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und Menschenrechte eine bedeutsame Quelle dar.10 Als Qualitäts- und Prestigemedium verfügt sie über einen sehr hohen Einfluss innerhalb des Mediensystems, sodass die von ihr aufgegriffenen Themen und Denkansätze auch in andere arabische Medien diffundieren. Laut Islamwissenschaftler Lutz Rogler hat sie ein solches Gewicht, »dass sie bis zu einem gewissen Grade eine Orientierungsfunktion für die nationalen Tageszeitungen und Öffentlichkeiten erfüll[t]«.11 Das Herkunftsspektrum der Autoren ist breit gefächert. Neben Journalisten aus allen arabischen Staaten veröffentlichen auch viele arabische Auswanderer Artikel in dieser Zeitung. Die Leserschaft der Zeitung wird vor allem der arabischen und arabischsprachigen Elite zugeordnet, sowohl auf politischer und wirtschaftlicher als auch auf kultureller und intellektueller Ebene.12 Ihre durchschnittliche Auflage beträgt ca. 170.000 Exemplare pro Tag, wobei sich daraus kaum Rückschlüsse über den tatsächlichen Umfang der Leserschaft ziehen lassen, denn die Zeitung ist mit ihren Inhalten auch im Internet präsent und wird dort täglich mehrere Millionen Mal besucht.13 Im Rahmen dieses Aufsatzes werden die Rubriken ›Meinung‹ (raÞy), ›Ideen‹ (afkÁr) und ›Strömungen‹ (tiyÁrÁt) untersucht. Sie enthalten Meinungsbeiträge, Kommentare und Essays zum aktuellen politischen Geschehen sowie zu allgemeineren gesellschaftspolitischen Themen. In diesen Foren intensivierten sich mit den Anschlägen des 11. Septembers und den daraufhin erfolgten nationalen und internationalen Maßnahmen im Zuge des ›Kampfes gegen den Terrorismus‹ die Diskussionen über Demokratie, Freiheit und Menschenrechte. In enger Verknüpfung damit

10 Diese Offenheit gilt jedoch weniger im Zusammenhang mit Angelegenheiten Saudi-Arabiens und der Golfstaaten, denn der Finanzier und formale Herausgeber gehört zur saudi-arabischen Königsfamilie, vgl. Fußnote 13. 11 Lutz Rogler: »Die überregionale arabische Presse und ihr Beitrag zum Wertewandel in arabischen Gesellschaften«, in: Siegrid Faath (Hg.), Politische und gesellschaftliche Debatten in Nordafrika, Nah- und Mittelost: Inhalte, Träger, Perspektiven, Hamburg: Deutsches Orient-Institut 2004, S. 423-447. 12 Vgl. ebd., S. 425. 13 Vgl. http://www.alhayat.com und http://english.daralhayat.com vom 09.05.2009. Die Geschichte der Zeitung beginnt mit ihrem ersten Erscheinen in Beirut im Jahr 1946, wo sie von einem libanesischen Journalisten begründet wurde. Sie musste allerdings infolge des libanesischen Bürgerkrieges 1976 eingestellt werden. Im Jahr 1988 wurde die Zeitung in London neu begründet und ging 1999 in den Besitz von Prinz Khalid Ibn Sultan Abd al-Aziz aus Saudi-Arabien über, welcher damit auch die formale Herausgeberschaft dieser Zeitung übernahm. Ihr Hauptsitz ist seit einigen Jahren wieder Beirut. Vgl. L. Rogler: Die überregionale arabische Presse, S. 429. 93

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stehen Fragen nach Reform und Wandel, v.a. in der ›arabischislamischen Welt‹. Dabei geht es insbesondere um die Implementierung demokratischer Strukturen und die Reformierung von Herrschaftssystemen im Nahen Osten, sowohl als Anliegen westlicher Staaten, der G8Staaten und der UNO – als Beispiel sei hier nur ›The Greater Middle East Initiative‹14 genannt – als auch als Anliegen in den arabischen und islamischen Staaten selbst. So gehört ›die Reform von Innen‹ beispielsweise stets zu den zentralen Themen der Konferenzen der Arabischen Liga. Diese Debatten, die in den vergangenen Jahren geführt wurden und immer noch geführt werden, sollen hiermit aufgegriffen werden. Um für die unterschiedlichen Positionen Beispiele zu finden, wurden die Artikel auf einer Auswertung der Titel aufbauend ausgewählt. Sie umfassen den Zeitraum zwischen 9/11 und Ende 2006.

Demokratie, Freiheit und Menschenrechte: instrumentalisierbare Werte Das ›Wertetrio‹ von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten taucht auf eine vielschichtige Art und Weise in den Meinungsforen der Zeitung al-Hayat auf. Dabei nimmt es als instrumentalisierbare und instrumentalisierte Worthülse zur Legitimation imperialer Politiken der Gegenwart in den untersuchten Zeitungsartikeln einen großen Raum ein. Die Kritik bezieht sich in diesem Zusammenhang vor allem auf die Politik der USamerikanischen Regierung und ihrer Allianzen im Nahen Osten. Das Beispiel, das hier stets Erwähnung findet, ist der Krieg gegen den Irak und das damit einhergehende Töten zahlreicher Zivilisten – ein Krieg, der ›im Namen westlicher Werte‹ geführt wird.15 Jedoch sei er nach Ansicht eines Großteils der Autoren in erster Linie ein strategischer Krieg 14 Hierbei handelt es sich um ein Projekt, das die amerikanische Regierung unter George W. Bush im Juni 2004 auf der G8-Konferenz in Sea Island in Gang gebracht hat. Dies sieht eine Demokratisierung und politische Umstrukturierung in der gesamten Region des Nahen und Mittleren Ostens vor. Die Initiative hat verschiedene internationale Vorläufer und ist letztendlich ein Konsens der G8-Staaten, die sich über Form und Inhalt einigen konnten. Dennoch wird sie häufig und insbesondere in den arabischen Staaten als ein US-amerikanisches Konzept verstanden, nicht zuletzt da es in Washington initiiert wurde. In den arabischen Medien erlebte sie einen sehr starken und kritischen Widerhall. Inzwischen wurde diese Initiative in die »Middle East Partnership Initiative« umbenannt und ist auch mit einer Homepage im Internet vertreten, vgl. http://mepi.state.gov/ vom 09.05.2009. 15 SalÁma NiÝmÁt: »Die Demokratie von Bush« (Übers. S.H., Originaltitel: »Ad-dÐmÙqrÁÔiyya BÙš«), in: al-Hayat vom 22.01.2004, Nr. 14749, S. 9. 94

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mit wirtschaftlichen Interessen. Diesem Vorwurf nach würde es der amerikanischen Regierung v.a. um die Stabilisierung ihrer Position im Nahen Osten und Zentralasien sowie um die Sicherung ihres Zugangs zu Ressourcen gehen, insbesondere dem Öl. Der Plan, das irakische Volk zu ›befreien‹ und demokratische Strukturen in dem Staat aufbauen zu wollen, sei lediglich ein Vorwand.16 Zur Untermauerung dieser These werden neben dem Krieg gegen den Irak zahlreiche andere Beispiele herangezogen, wie z.B. Haltung und Interventionen der USA im Nahostkonflikt, der Krieg gegen Afghanistan, die Positionierung der USA in der libanesisch-syrischen Krise im Jahr 2005 oder ›The Greater Middle East Initiative‹, die auf die Implementierung der Demokratie in den arabischen und islamischen Staaten sowie deren gesellschaftliche und politische Umstrukturierung abzielt.17 Letztere und der damit verbundene ›Demokratieexport‹ wird häufig dezidiert als ›imperiale Erscheinung‹ bezeichnet. Die folgende Karikatur bringt genau dies zum Ausdruck. Abbildung 1: The Greater Middle East

Quelle: al-Hayat vom 25.02.2004, S. 9 Uncle Sam bestellt das Feld und amerikanisiert auf diese Weise das Land. Dabei spannt er die einheimische Bevölkerung vor den Pflug und lässt sie für sich arbeiten. Er selbst verstreut die Samen der »Demokratie«, dies besagt zumindest die Aufschrift auf seiner Tasche. Im Hintergrund steht das Schild, welches dem Geschehen einen Namen gibt: »Das Projekt: The Greater Middle East«. Dieses Projekt, so heißt es in einem 16 Vgl. ËÁlid al-ÍurÙb: »Den besten Dienst, den Amerika für die generelle arabische Demokratisierung leisten könnte, ist, sie und ihre Angelegenheiten ruhen zu lassen.« (Übers. S.H., Originaltitel: »AfÃal Ìidma tuqaddimuhÁ AmÐrka li-damqraÔat al-ÝÁlam al-ÝarabÐ hiyya tarkuhÁ wa šaÝnuhÁ«), in: al-Hayat vom 11.08.2003, Nr. 14564, S. 9 u.a. 17 Vgl. Fußnote 14. 95

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der Zeitungstexte, »ist […] ein Ausdruck für das imperiale Streben der USA […]. Sie überschreiten einen bloßen Einfluss […] und zielen auf die Formung von Staatswesen und ihren Systemen sowie die Neuzeichnung von Karten ab«.18 Um all dies vor der Öffentlichkeit zu legitimieren, würde dem Autor dieses Artikels zufolge eine ideologische Verpackung benötigt. »Und es scheint, dass die Vereinigten Staaten diese […] in der ›Ausbreitung der Demokratie‹ gefunden haben.«19 Hinter den Argumentationsweisen der Beispiele aus den Zeitungsartikeln versteckt sich ein Prinzip, das den Kern der postkolonialen Kritik am europäischen Humanismus widerspiegelt: Mit der ›Greater Middle East Initiative‹, mit dem Afghanistan- oder mit dem Irakkrieg wird bei Staaten angesetzt, die als undemokratisch gelten und massiv gegen Menschenrechte verstoßen. Als Verfechter von Demokratie und Menschenrechten lässt sich somit eine Intervention wenn nicht rechtfertigen, dann zumindest begründen, auch wenn diese selbst gegen internationales Recht und die eigenen Werte verstößt. Letztere können somit für die Verwirklichung eigener geopolitischer oder kolonialer Interessen instrumentalisiert werden.20 Daher ist »die Demokratie«, so spitzt ein Autor sein Erklärungsmuster zu, »eine amerikanische Waffe«.21 Die Wahrnehmung, dass die ›westlichen Werte‹ ›Anderen‹ und ›anders‹ Denkenden gegenüber nicht umgesetzt werden, wird in vielen Artikeln geäußert.22 Die Geschehnisse im Irak beispielsweise werden als »Verbrechen und Blamagen der amerikanischen Demokratie«23 deklariert. Dies wird in der folgenden Karikatur auf zynische Art und Weise dargestellt: Der Soldat belehrt den an Ketten hängenden, gefolterten Menschen, indem er seine gerade benutzte Peitsche als Zeigestock ver-

18 Vgl. ÑÁliÎ BašÐr: »›The Greater Middle East‹ und ›die Verbreitung der Demokratie‹: 2 imperiale Erscheinungen« (Übers. S.H., Originaltitel: »›Aš-šarq al-awsaÔ al-kabÐr‹ wa- ›našr ad-dÐmÙqrÁÔiyya‹: ÝÁriÃÁn imbirÁÔÙrÐyÁn«), in: al-Hayat vom 12.02.2004, Nr. 14910, S. 18 u.a. 19 Ebd. 20 Vgl. Íay×am MinÁÞ: »Amerika und die Rechte des anderen Menschen: der militärische Export von Werten und die Wiedergewinnung der britischen Kolonialregierung« (Übers. S.H., Originaltitel: »AmÐrkÁ wa-ÎuqÙq alinsÁn al-ÁÌir: taÒdÐr al-qiyam Ýaskariyyan wa istiÝÁdat al-idÁrat alistiÝmÁriyya al-biriÐÔÁniyya«), in: al-Hayat vom 17.10.2002, Nr. 14433, S. 15. 21 SalÁma NiÝmÁt: »Die Demokratie ist eine amerikanische Waffe« (Übers. S.H., Originaltitel: »Ad-dÐmÙqrÁÔiyya silÁÎ amÐrkЫ), in: al-Hayat vom 17.04.2005, Nr. 15245, S. 9. 22 Vgl. Abbildung 1. 23 MÙnÐr ŠafÐq: »Verbrechen und Blamagen der amerikanischen Demokratie« (Übers. S.H., Originaltitel: »Al-ÊarÁÞim wa-faÃÁÞiÎ fÐ al-namÙÆaÊ addÐmÙqrÁÔÐ al-amÐrkЫ), in: al-Hayat vom 20.6.2004, Nr. 14961, S. 19. 96

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wendet und auf die an die Tafel geschriebenen Werte »Freiheit, Demokratie, Menschenrechte« zeigt. Abbildung 2: Freiheit, Demokratie und Menschenrechte

Quelle: al-Hayat vom 04.05.2004, S. 9 Werte werden postuliert, doch selbst wird nicht danach gehandelt.24 Was hier in starkem Maße angeprangert wird, ist die Rechtfertigung von Verbrechen im Namen der Menschlichkeit und die Instrumentalisierung von Werten. Diese drohen so ins Bedeutungslose abzurutschen und können dann kaum noch von der Öffentlichkeit ernst genommen werden.

Demokratie, Freiheit und Menschenrechte: e r s t r e b e n sw e r t e u n d v i e l s c h i c h t i g e K o n z e p t e Werden Demokratie, Freiheit und Menschenrechte auf der einen Seite als instrumentalisierbare Begriffe und leere Worthülsen beschrieben, so werden sie auf der anderen Seite in fast ebenso starkem Maße als erstrebenswerte Konzepte und Leitbilder verhandelt – auch im Bezug auf die arabisch-islamische Welt. Dies steht in engem Zusammenhang mit der in den untersuchten Zeitungsartikeln oft zum Vorschein tretenden Identifizierung einer tief greifenden Krise der arabisch-islamischen Gesellschaften – politisch, wirtschaftlich und kulturell. Dabei werden als Beispiele häufig die Kriege und Konflikte in der Region, Extremismus, Terrorismus und das tagtägliche Sterben unschuldiger Zivilisten angeführt. Weiterhin wird oftmals die mangelnde Einheit unter der Bevölkerung der arabischen Länder kritisiert, und ebenso, dass ›andere‹ Überzeugun24 Vgl. auch MaÞmÙn al-ÍusaynÐ: »Der Krieg gegen den Terrorismus besiegt Demokratie und Menschenrechte!« (Übers. S.H., Originaltitel: »Al-Îarb ÝalÁ l-irhÁb tahzimu ad-dÐmÙqraÔiyya wa ÎuqÙq al-insÁn«), in: al-Hayat vom 10.02.2002, Nr. 14207, S. 18. 97

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gen und ideologischen Orientierungen nicht respektiert würden.25 Korruption, totalitäre Regime, Spaltung von Regime und Volk, wirtschaftliche Krisen, zunehmende Armut, zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich sowie Missstände in den Bereichen Bildung und Ausbildung sind Aspekte, die mindestens ebenso häufig Erwähnung finden.26 Hinzu kommen die Strukturen der wirtschaftlichen Abhängigkeit von anderen Staaten, vor allem von den USA, sowie insbesondere die Klage ständig Raum und Opfer ausländischer Interventionen zu sein. Es ist von einem »weiträumigen Zustand der Unzufriedenheit und des vorherrschenden Mangels an allgemeinem Wohlbehagen im Leben der meisten Individuen«27 die Rede. »Wenn wir nicht zum Aufbau unserer arabischen Heimatländer übergehen« so eine Folgerung, »dann wird die Nacht lang und pechschwarz bleiben. Dann werden wir dabei bleiben, zu donnern und zu blitzen, es aber nicht regnen zu lassen«.28 Auswege aus der Krise werden teilweise in gesellschaftlichen Systemen, Konzepten und Ideen gesehen, die dem nahe stehen, was als ›westliche Werte‹ deklariert wird. So wird beispielsweise gefragt: »Was muss für den Übergang von der Kultur des Konsens zur Kultur des Pluralismus und dem Recht auf Unterschied, vom Gesetz des Dschungels zum Gesetz der Menschenrechte, von den festen Beziehungen der Verwandtschaft, die die Entfaltung des Individuums nicht zulassen, zu vertraglichen Beziehungen einer Zivilgesellschaft, von der Familie zum Staat, der das Individuum und sein Recht auf Selbstbestimmung seines tagtäglichen Werdeganges anerkennt, getan werden?«29

Die Demokratie wird von einem Teil der Autoren als »unentbehrliche Notwendigkeit, für die Wahrung der gesellschaftlichen Grundlagen und

25 Vgl. ÝAbd ar-RaÎmÁn MuÎammad aš-ŠÁmÐ: »Wann gelangen wir zur Ebene der vollkommenen Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Menschen?« (Übers. S.H., Originaltitel: »Mata nabluÈu marÎalat as-siyÁdat altÁmma li-l-qanÙn wa-iÎtiram al-insÁn?«), in: al-Hayat vom 03.07.2005, Nr. 15356, S. 10 u.a. 26 Vgl. ebd. und TurkÐ AlÐ ar-RubayÝÙ: »Die Menschenrechte in der arabischen Welt: Eine Sammlung an Visionen und Dimensionen« (Übers. S.H., Originaltitel: »ÍuqÙq al-insÁn fÐ l-ÝÁlam al-ÝarabÐ: maÊmÙÝa min ar-ruÞan wa-l-abÝÁd«), in: al-Hayat vom 03.07.2005, Nr. 15356, S. 10. 27 ÝA. R. aš-ŠÁmÐ: Rechtstaatlichkeit und Achtung der Menschen, al-Hayat vom 03.07.2005, Nr. 15356, S. 10. 28 Ebd. 29 Al-ÝAfÐf al-AÌÃar: »Die globale kulturelle Zivilgesellschaft bewahrt die Freiheit der Kreativität und des Denkens « (Übers. S.H., Originaltitel: »AlmuÊtamiÝ al-madanÐ a×-×aqÁfÐ al-ÝÁlamÐ ÎÁris li-Îurriyat al-ibdÁÝ wa-ltafkÐr«), in: al-Hayat vom 16.09.2001, Nr. 1406, S. 19. 98

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ihrer Kräfte durch die Volksbeteiligung in der Entscheidungsfindung und in der Kontrolle über die Achtung dieser Entscheidungen«30 gesehen. Außerdem sei »[d]ie Demokratie […] durch Volksbeteiligung die Garantie dafür, sich jedweden Zwängen von Außen entgegen stellen zu können«.31 In dieser Hinsicht erfüllt ›der Westen‹ oftmals auch eine Art Vorbildfunktion. »Die Rechtsstaatlichkeit und der Wert des Menschen«, so beispielsweise ein Autor, »sind die beiden wichtigsten Schlüssel zu den Geheimnissen des Fortschritts des Westens und den Grundlagen seiner Lebensinhalte. […] Dagegen sind in unserer arabischen Welt […] die Verzeichnisse der Menschenrechtsorganisationen jährlich voll mit Verstößen gegen die Menschenrechte«.32

Während sich die ›Vorbildfunktion‹ in einigen Artikeln explizit wieder finden lässt, wird in anderen Beiträgen Abstand von der ›westlichen Färbung‹ genommen. Demokratie, Freiheit und Menschenrechte werden als gesellschaftspolitische Leitbilder hochgehalten, jedoch nicht in ihrer westlich-säkularen Ausprägung. Die Vereinbarkeit von diesen Werten mit dem Islam wird in vielen Artikeln nicht nur betont, zuweilen wird auch dargelegt, dass diese Werte aus dem Islam selbst hervorgehen: »Der Islam ist Religion und Glaube, er beinhaltet eine Reihe an Glaubensgrundsätzen und ruft daher zu menschlichen Werten wie Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Toleranz und Verzicht auf Fanatismus auf [und] er betont die Einheit der Menschheit […]. Im Prinzip verkörpern sich die Inhalte des Islam im Sinne der Konzepte von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten (als menschliche Werte) in den Ausgangspunkten und Grundsätzen der islamischen Religion, trotz der Modernität dieser Konzepte und der Formen ihres Ausdrucks. Dies muss hervorgehoben und mit Bestimmtheit betont werden.«33

In mehreren Artikeln wird der ehemalige Generalsekretär der Islamischen Konferenz al-Mutawakkil zitiert, der zu Demokratie und Men30 MuÒÔafÁ SalÁma al-Íusayn: »Die Araber und die Demokratie […] das Erreichen von Forderungen zwischen Verlangen und Schrecken« (Übers. S.H., Originaltitel: »Al-Ýarab wa-d-dÐmÙqraÔiyya […] al-wuÒÙl ilÁ l-istiÎqÁq bayna ruÈba wa ruhba«), in: al-Hayat vom 06.02.2003, Nr. 14552, S. 15. 31 Ebd. 32 ÝA. R. aš-ŠÁmÐ: Rechtstaatlichkeit und Achtung der Menschen, S 10. 33 Mahdi al-ÍÁfiÛ: »Der Islam und die Angelegenheiten Demokratie und Menschenrechte« (Übers. S.H., Originaltitel: »Al-islÁm wa-qaÃÁyÁ addÐmÙqrÁÔiyya wa-ÎuqÙq al-insÁn«), in: al-Hayat vom 25.01.2003, Nr. 14455, S. 18. 99

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schenrechten aufruft und die Ansicht vertritt, dass »der Islam […] den ersten Aufruf zu und den grundlegenden Baustein für die Menschenrechte bildete«.34 In all diesen Beiträgen werden jedoch kaum Aussagen zum Status von Nicht-Muslimen in einer islamisch-demokratischen Gesellschaft getroffen. Gleichwohl werden die Differenzen zu säkularen Konzeptionen häufig anhand von Beispielen thematisiert, wie z.B. in den Artikeln mit folgenden Überschriften: »Die türkische Demokratie ist ein Schauplatz des Streites zwischen Islam und Säkularismus.«35 oder »Die kulturellen Besonderheiten und die gemeinsamen Werte: Die Demokratie als Beispiel.«36 Während muslimische Denker oftmals argumentieren, diese Werte seien dem Islam implizit und würden zu einer islamischen Gesellschaftsordnung dazugehören, so behaupten säkulare Denker, dass in einer islamischen Gesellschaftsordnung keineswegs eine Demokratie herrsche – v.a. nicht im Hinblick auf Andersgläubige –, sondern dass in einer solchen Ordnung die šarÐÝa absolute Priorität gegenüber der Demokratie habe. Diese Beispiele zeigen, dass Demokratie, Freiheit und Menschenrechte insgesamt zu großen Teilen als erstrebenswert verhandelt werden. Natürlich können auch einige Gegenbeispiele ausgemacht werden, jedoch lässt sich im Gros der Artikel eher eine Befürwortung feststellen. Allerdings spiegeln sie ebenso die Vielfalt und Widersprüchlichkeit an Konzepten wider, die sich hinter diesen Werten verbergen können. Und genau für solche Differenzen muss aus der Perspektive postkolonialer Theorie Raum geschaffen und keine Sichtweise von vornherein ausgeschlossen werden.

34 T. ÝA. ar-RubayÝÙ: »Menschenrechte in der arabischen Welt«, al-Hayat vom 03.07.2005, Nr. 15356, S. 10, siehe auch M. al-ÍÁfiÛ: »Islam, Demokratie, Menschenrechte«, S. 18, und Šams ad-DÐn al-KilÁnÐ: »Die Demokratie in den Programmen der zeitgenössischen islamischen Strömungen« (Übers. S.H., Originaltital: »Ad-dÐmÙqraÔiyya fÐ barÁmiÊ at-tiyÁrÁt alislÁmiyyat al-muÝÁÒira«), in: al-Hayat vom 28.02.2006, Nr. 15668, S. 10. 35 NiÆÁm al-MardÐnÐ: »Die türkische Demokratie ist ein Schauplatz des Streites zwischen Islam und Säkularismus« (Übers. S.H., Originaltital: »AddÐmÙqraÔiyyat at-turkiyya masraÎan li-Êadal al-islÁm wa-l-ÝalmÁniyya«), in al-Hayat vom 01.10.2001, Nr. 14093, S. 10. 36 AnÔÙnyÙ BÁdÐnÐ: »Die kulturellen Besonderheiten und die gemeinsamen Werte: Die Demokratie als Beispiel« (Übers. S.H., Originaltitel: »AlÌuÒÙÒiyya a×-×aqÁfiyya wa-l-qiyam al-muštarika: ad-dÐmÙqrÁÔiyya namÙÆaÊan«), in al-Hayat vom 25.12.2005, Nr. 15607, S. 10, oder ÝAbd al-Íasan al-AmÐn: »In Indonesien, dem größten islamischen Staat, verbreitet sich die Demokratie vollständig« (Übers. S.H., Originaltitel: »IndÙnÐsiyÁ, kÙbrÁ ad-duwal al-islÁmiyya, hal tuÔabbiqu ad-dÐmÙqrÁÔiyya kÁmila?«), in: al-Hayat vom 11.07.2004, Nr. 15050, S. 18. 100

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Demokratie, Freiheit und Menschenrechte: d i e An g s t vo r Au f e r l e g u n g »Die Araber und die Demokratie« befinden sich nach den Worten eines Journalisten »zwischen Verlangen und Schrecken«.37 Was der Autor damit ausdrückt, ist nicht nur die Spannweite zwischen Instrumentalisierbarkeit und Leitfunktion, sondern auch die Schwierigkeiten, die bei der ›Implementierung‹ dieser Werte in einer Gesellschaft gesehen werden. Die unterschiedlichen kontext- und kulturspezifischen Bedeutungen und Konzeptionen von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten machen dies bereits zu einem schwierigen und fragwürdigen Unterfangen. Darüber hinaus bemängeln Befürworter dieser Werte – sowohl aus säkularer als auch aus islamischer Perspektive – eine fehlende Struktur, um ihre Verankerung ›in der arabischen Welt‹ überhaupt zu ermöglichen. Diese Einschätzung nimmt einen relativ großen Raum in den Diskussionen um Freiheit, Demokratie und Menschenrechte ein. Der Wert des einzelnen Menschen, so ein Journalist, würde »nicht soviel bedeuten«.38 Außerdem sei »[d]ie Kultur des Demokratischen […] in unserer arabischen Kultur immer noch schwach ausgeprägt«.39 Man würde die Demokratie zwar größtenteils verehren, doch bis zur Umsetzung auf der Handlungsebene würde es nicht reichen. Ähnliche Argumente werden auch von islamischen Denkern vorgebracht.40 In diesem Zusammenhang wird ein Grund für die mangelnde gesellschaftliche Verankerung in der engen Verknüpfung mit der Instrumentalisierbarkeit dieser Werte gesehen. Dadurch – so die Erklärung –, dass die Öffentlichkeit stets die Postulierung dieser Werte hören müsse, aber von genau denjenigen, die sie propagieren, stets Verstöße gegen diese Werte wahrnehmen würde, könne sie diese kaum ernst nehmen. Hierbei richtet sich der Vorwurf der Verstöße nicht nur gegen die USA oder andere westliche Staaten, sondern v.a. auch gegen einen Großteil der arabischen Regimes. Viele würden versuchen, ihre »Zustände zu verpacken«, sodass es ihnen ermöglicht würde, »zu behaupten, dass sie ein demokratisches System seien«.41 Tatsächlich seien sie jedoch autoritär, korrupt und verstießen fortlaufend gegen Menschenrechte.42

37 38 39 40 41 42

M. S. al-Íusayn: Verlangen und Schrecken, S. 15. ÝA. R. aš-ŠÁmÐ: Rechtstaatlichkeit und Achtung der Menschen, S. 10. Ebd. Vgl. ebd. u.a. M. S. al-Íusayn: Verlangen und Schrecken, S. 15. Vgl. ebd. und T. ÝA. ar-RubayÝÙ: Menschenrechte in der arabischen Welt, S. 10. 101

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Als weiteren Grund für das wahrgenommene fehlende gesellschaftliche Interesse wird häufig angeführt, dass viele gesellschaftspolitische Themen, wie z.B. Armut, in der Öffentlichkeit als dringlicher empfunden werden.43 Damit zusammenhängend bemängelt ein weiterer Autor die Art und Weise der intellektuellen Beschäftigung mit dem Thema in »der arabisch-islamischen Welt«. Ihm zufolge seien die wenigen Arbeiten insgesamt gekennzeichnet »durch Oberflächlichkeit sowie theoretische und politische Bröckeligkeit«.44 Ein Großteil der Beiträge sieht auch, dass viele notwendige Strukturen für die Installation von Demokratie und Menschenrechten nicht gegeben sind. Daher könne auch »der Export der Demokratie der Amerikaner zu den Arabern keinen Erfolg« haben.45 Dass die amerikanische Regierung der arabischen Welt die Demokratie nach ihrem eigenen Verständnis auferlegen will, ist eine Befürchtung, die dabei oft genug geäußert wird.46 Sie ließe sich nicht »mit dem Stock vorschreiben«47 und ein solcher Versuch könne nur ins Dilemma führen. Um dies zu belegen, werden häufig die Beispiele Afghanistan und Irak aufgeführt.48 Im Zusammenhang mit den Wahlen in den Palästinensischen Autonomiegebieten wird zudem darauf aufmerksam gemacht, davor gewarnt oder mit zynischer Genugtuung festgestellt, dass durch »demokratische Wahlen« islamistische Gruppierungen wie die Hamas an die Macht gelangen können.49 43 T. ÝA. ar-RubayÝÙ: Menschenrechte in der arabischen Welt, S. 10. 44 Ebd. 45 YasÐn al-ÍaÊÊ ÑÁliÎ: »Warum hat der Export der Demokratie der Amerikaner zu den Arabern keinen Erfolg?« (Übers. S.H., Originaltitel: »LimÁÆÁ lan yanÊaÎu taÒdÐr ad-dÐmÙqrÁÔiyya min amÐrkÁ li-l-Ýarab?«), in al-Hayat vom 04.09.2005, Nr. 15496, S. 15. 46 Vgl. z.B. ËÁlid al-ÍurÙb: »Arabische Demokratisierung«, al-Hayat vom 11.08.2003, Nr. 14564, S. 9, und MaÞmÙn al-ÍusaynÐ: »Die amerikanische Demokratie, ausgearbeitet für den Export für den Markt des Nahen Ostens« (Übers. S.H., Originaltitel: »Ad-dÐmÙqraÔiyyat al-amÐrkiyya almuÝadda li-t-taÒdÐr ÎiyÁl sÙq aš-šarq al-awÒaÔ«), in: al-Hayat vom 14.03.2004, Nr. 14930, S. 18, und M. S. al-Íusayn: Verlangen und Schrecken, S. 15. 47 ÝAbd al-ÍamÐd al-AnÒÁrÐ: »Eine schwierige arabische Lage. Ist es möglich, die Demokratie mit dem Stock vorzuschreiben?« (Übers. S.H., Originaltitel: »ÍÁl Ýarabiyya mustaÝÒiyya: Hal yumkin farà ad-dÐmÙqrÁÔiyya ›bil-ÝaÒÁ?«), in: al-Hayat vom 16.03.2004, Nr. 14953, S. 9. 48 Z.B. M. ŠafÐq: »Verbrechen und Blamagen«, in: al-Hayat vom 20.6.2004, Nr. 14961, S. 19. 49 Vgl. MÁÊid KiyÁlÐ: »Islamisten an der Regierung: Demokratie und amerikanische Politik« (Übers. S.H., Originaltitel: »IslÁmÐyun fÐ s-sulÔa: addÐmÙqrÁÔiyya wa-s-siyÁsiyya al-amÐrkiyya«), in: al-Hayat vom 23.02.2006, Nr. 15639, S. 10 u.a. 102

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Abbildung 3: Die demokratischen Wahlen in der arabischen Welt

Quelle: al-Hayat vom 28.01.2006, S. 9 So zeigt die Abbildung eine Wahlurne mit der Aufschrift »Die demokratischen Wahlen in der arabischen Welt«, die einen Schatten in Form eines Islamisten wirft, der ein Victory-Zeichen macht – ein Verweis auf eine Entwicklung, die nach Einschätzung der meisten Autoren ›der Westen‹ mit Sicherheit nicht gut heißen würde. Aber auch einige der Autoren selbst bringen ihre Bedenken vor den Folgen einer Islamisierung durch Demokratisierung zum Ausdruck: »Die Befürchtung ist, dass die Art und Weise, wie die Religion durch die Islamisten wahrgenommen wird, die Grundlage für die schlimmsten Formen von Tyrannei und Totalitarismus sein kann. Dies erklärt auch die verbreitete Ansicht, dass die Islamisten die Demokratie als eine Brücke nutzen, um zu ihren Zielen zu gelangen, sie diese aber im Anschluss umstürzen.«50

Demokratie, Freiheit und Menschenrechte sind Werte, die zwar bejaht werden, jedoch könne ein Wandel nur »von Innen heraus«51 erfolgen und nicht von Außen erzwungen werden. »Der Weg zu den Menschenrechten ist, dass wir bei uns selbst ansetzen müssen und nicht bei internationalen Institutionen und importierten Ideologien.«52 Gefordert werden ein stärkeres intellektuelles Engagement innerhalb der arabischislamischen Welt sowie »die Vertiefung des Dialogs mit der Gesellschaft, um Meinungen und Ansichten der Allgemeinheit für die Angele-

50 T. ÝA. ar-RubayÝÙ: Menschenrechte in der arabischen Welt, S. 10, vgl. auch Š. al-KilÁnÐ: Zeitgenössische islamische Strömungen, S. 10, und Nahla aš-ŠaÎÎÁl: »Der Islam, die religiösen Gruppierungen, die Demokratie und Ratlosigkeit der Amerikaner« (Übers. S.H., Originaltitel: »AlislÁm wa-Ô-ÔÁÞifiyya wa-d-dÐmÙqrÁÔiyya wa-Îayrat al-amÐrkÁn«), in: alHayat vom 26.02.2006, Nr. 15665, S. 18. 51 T. ÝA. ar-RubayÝÙ: Menschenrechte in der arabischen Welt, S. 10. 52 Ebd. 103

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genheiten von Demokratie und Menschrechten zu öffnen«.53 Die Forderungen erscheinen plausibel, doch die Frage nach dem Umgang mit unterschiedlichen und differierenden Konzeptionen ›im Innern‹ bleibt offen. Aus diesem Grund ließe sich folgern, dass der Bedarf nach einem interkulturellen Dialog über humanistische Werte hoch sei. Jedoch äußern die Autoren auch Befürchtungen der Auferlegung und des Diktats von ›Außen‹, die im Dialog angesprochen und ernst genommen werden müssen.

Folgerungen für einen interkulturellen Dialog Die Analyse der Meinungsartikel in der pan-arabischen Tageszeitung alHayat haben gezeigt, dass Demokratie, Freiheit und Menschenrechte aufgrund des kulturellen, religiösen und ideologischen Pluralismus kaum als universal gültige Werte oder auch global funktionierende Konzepte deklariert werden können und Spezifika berücksichtigt werden müssen. Doch was sich auf abstrakter Ebene einfach formulieren lässt, stellt für einen konkreten, interkulturellen Dialog eine große Herausforderung dar, denn jede Perspektive, die sich für bestimmte Werte stark macht, erhebt allzu leicht einen universalen Anspruch. Die Pluralität der Perspektiven sowie eine wahrgenommene mangelhafte Struktur für die Verankerung von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten werden in einigen Zeitungsartikeln als Gründe für starke Bedenken angegeben, insbesondere, was die Implementierung solcher Konzepte angeht. Doch für viele Autoren erscheint eine Hinwendung zu diesen Werten als unerlässlich, um aus der wahrgenommenen Krise der ›arabisch-islamischen Welt‹ herauszukommen. Dabei ist man sich in einem einig: Der Wandel muss ›von Innen‹ heraus geschehen und kann nicht von Außen auferlegt werden. Für den interkulturellen Dialog über humanistische Werte bedeutet dies jedoch keine Ablehnung auf internationaler Ebene, im Gegenteil: Vor allem die Diskussionen über die Krise und die Konflikte in der Region mit ihren internationalen Interventionen und den damit einhergehenden Spannungen lassen einen interkulturellen Dialog über Werte und Prinzipien mehr als dringlich erscheinen. Wenn dieser jedoch ernst genommen werden will, dann muss er auch den vorherrschenden Pluralismus in den Vorstellungen, Ansichten, 53 Ebd., vgl. auch RÁÈida DerÈam: »Das Beste für die Araber ist, mit einer inneren Initiative den Auslandsprojekten zuvor zu kommen« (Übers. S.H., Originaltitel: »Al-afÃal li-l-Ýarab istibÁq al-mašÁrÐÝ al-ÌÁriÊiyya bimubÁdira dÁÌilyya«), in: al-Hayat vom 24.12.2004, Nr. 15059, S. 9. 104

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Konzepten, Ideen und Perspektiven humanistischer Werte ernst nehmen. Er darf Alternativentwürfe gegenüber ›eigenen‹ Vorstellungen nicht von vorn herein ausschließen, sondern muss sich für ›andere‹ Werte öffnen. Im Falle der hier durchgeführten Analyse würde dies bedeuten, dass er z.B. auch dem politischen Islam eine Stimme zugestehen muss. Dabei steht außer Frage, dass jeder interkulturelle Dialog über Werte und Prinzipien durch alle Beteiligten nur von ihren jeweiligen ›eigenen‹ Positionen, Wertvorstellungen und Ansprüchen aus erfolgen kann, die es jeweils stark zu machen gilt. Aus postkolonialer Perspektive sollten jedoch die ›eigenen‹ Positionierungen im Sinne Gayatri Spivaks als »strategische Essentialismen«54 angesehen werden, die einen stetigen Aushandlungsprozess von humanistischen Konzepten im Spannungsfeld von universalem Anspruch und Partikularismus erlauben. In diesem Sinne müssen auch die Spielregeln des Dialogs zum Gegenstand der Aushandlung gemacht werden. Lediglich dadurch ließe sich der Forderung nach einer Dezentrierung des europäischen Humanismus nachkommen. Die Ergebnisse der Analyse zeigen, dass ebenso wie die postkoloniale Theorie im europäischen Humanismus eine Verstrickung mit dem Kolonialismus erkennt, in den hier untersuchten Artikeln humanistische Werte zu Teilen als ›Komplizen‹ einer imperialen Politik der Gegenwart wahrgenommen werden. Für einen interkulturellen Dialog, der Erfolg haben will, bedeutet dies zweierlei: Zunächst muss für diesen Aspekt sensibilisiert und einen Weg des Umgangs mit der möglichen Angst der ›Anderen‹ vor imperialen Absichten und Auferlegung gefunden werden. Zum zweiten ist eine Auseinandersetzung mit dem Problem der Instrumentalisierbarkeit von Werten unerlässlich. Es bleibt nicht aus, sich dezidiert gegen diese Tendenzen zu wenden und, in der Konsequenz, zum politischen Geschehen ausdrücklich Stellung zu beziehen. Dies bildet letztendlich auch eine der Voraussetzungen, um für die Öffentlichkeit anschlussfähig zu sein und auch außerhalb von Theorie und Wissenschaft ernst genommen zu werden.

54 Gayatri C. Spivak: »Subaltern studies. Deconstructing historiography«, in: Donna Landry/Gerald MacLean (Hg.), The Spivak reader (1985), London: Routledge 1996, S. 203-236. 105

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Literatur Al-Hayat 2001, Nr. 1406, S. 19; Nr. 14093, S. 10. Al-Hayat 2002, Nr. 14207, S. 18; Nr. 14433 , S. 15. Al-Hayat 2003, Nr. 14455, S. 15; Nr. 14552, S. 18; Nr. 14564, S. 9. Al-Hayat 2004, Nr. 14749, S. 9; Nr. 14910, 18; Nr. 14930, S. 18; Nr. 14953, S. 9; Nr. 14961, S. 19; Nr. 15050, S. 18; Nr. 15059, S. 9. Al-Hayat 2005, Nr. 15245, S. 9; Nr. 15356, S. 10; Nr. 15356, S. 10, Nr. 15496, S. 15; Nr. 15607, S. 10. Al-Hayat 2006, Nr. 15639, S. 10; Nr. 15665, S. 10; Nr. 15668, S. 18. Alterman, Jon B.: New media, new politics? From satellite television to the internet in the Arab world, Washington, DC: Washington Institute for Near East Policy 1998. Boeckler, Marc: Geographien kultureller Praxis. Syrische Unternehmer und die globale Moderne, Bielefeld: Transcript 2005. Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001 (frz. Originaltitel: Les Damnés de la Terre, 1961). Gregory, Derek/Pred, Allan (Hg.): Violent Geographies. Fear, terror and political violence, New York: Routledge 2007. Holt, Mike: »Translating Islamist Discourse«, in: Said Faiq (Hg.), Cultural Encounters in Translation from Arabic, Clevedon, Buffalo, Toronto: Multilingual Matters LTD 2004, S. 63-74. Rogler, Lutz: »Die überregionale arabische Presse und ihr Beitrag zum Wertewandel in arabischen Gesellschaften«, in: Siegrid Faath (Hg.), Politische und gesellschaftliche Debatten in Nordafrika, Nah- und Mittelost: Inhalte, Träger, Perspektiven, Hamburg: Deutsches Orient-Institut 2004, S. 423-447. Spivak, Gayatri C.: »Subaltern studies. Deconstructing historiography«, in: Donna Landry/Gerald MacLean (Hg.): The Spivak reader (1985), London: Routledge 1996, S. 203-236. Young, Robert J.C.: Postcolonialism. A very short introduction, Oxford: Oxford University Press 2003.

Bildrechte Die Bildrechte für alle Abbildungen liegen bei al-Hayat.

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Me nsc hheit, Huma nismus und An tihuma nis mus in de n historisc he n An thropologien Dro ys e ns und Burck ha rdts ARTHUR ASSIS UND CHIH-HUNG CHEN

Abstract The following text addresses conceptions of human selfhood and humankind as developed by two major 19th century German-speaking historians, Johann Gustav Droysen and Jacob Burckhardt. It aims at ascertaining to what extent the historical anthropologies proposed by both authors can be considered to be humanistic. We will attempt to provide an answer to this question while locating and discussing both humanistic and anti-humanistic features in their texts. Humanism is understood here as a perspective that emerged within the framework of the philosophy of the Enlightenment, for example, in Immanuel Kant’s ethics and in Friedrich Niethammer’s pedagogy. On the one hand, we will define Droysen’s and Burckhardt’s anthropologies as humanistic, stressing their intellectual connection to the universalistic notions of humankind and human nature developed in the late 18th century. On the other, we will relativize this predicament by exploring their main anti-humanistic traits, i.e. nationalism, with regard to Droysen, and aestheticism, in the case of Burckhardt.

Dieser Aufsatz befasst sich mit zwei wichtigen Vertretern derjenigen westlichen Denktradition, deren Wurzeln in der Aufklärungszeit liegen und die um die Mitte des 19. Jahrhunderts eine gewisse Dominanz im 107

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deutschen geisteswissenschaftlichen Milieu eingenommen hat. Gemeinhin wird diese mit dem Begriff »Historismus« verbunden, eine Bezeichnung, deren Bedeutung breit gefächert ist. Wir stellen »Historismus« gleich mit einer historisierten Form des Denkens über die Menschen und die menschlichen Kulturen,1 also mit einer dynamischen Weltanschauung, die in ihren Ausprägungen spezifisch modern ist. Wissenschaftsgeschichtlich betrachtet ist eine solche Disposition zur Historisierung kein Privileg der deutschen Geschichtswissenschaft: Historismus im breiteren Sinne gibt es sowohl in anderen Ländern als auch in anderen Fachgebieten.2 Im Folgenden betrachten wir ausschließlich den geschichtswissenschaftlichen Zweig des deutschsprachigen Historismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wir werden die theoretischen Konzepte von Mensch und Menschheit untersuchen, die dem Geschichtsdenken Johann Gustav Droysens (1808-1884) und Jacob Burckhardts (1818-1897) zugrunde liegen. Die Fokussierung auf diese beiden Autoren hängt mit ihrer Einzigartigkeit als theoretisch denkende Historiker zusammen. Sie sind unter den deutschen Historikern des 19. Jahrhunderts wahrscheinlich die Einzigen gewesen, die Fragen nach den Prinzipien des Geschichtlichen und der Geschichtswissenschaft in Verbindung mit einer bewussten Anthropologie gestellt haben. Im Hintergrund der Untersuchung steht die Frage, ob und inwiefern sich Droysens und Burckhardts historische Anthropologien als humanistisch betrachten lassen. An dieser Stelle können wir bereits unsere Antwort vorwegnehmen. Sie lautet: Ja und Nein. Ja, da beide Autoren sowohl auf die Menschheit als Kollektiv aller und jeder Menschen als auch auf die gemeinsame Natur des Menschen (auf eine historische Art und Weise) hinweisen. Humanistisch ist dabei in erster Linie der von beiden Autoren universalistisch angelegte Bildungsbegriff, der besagt, menschliche Subjekte sollen sich mit der Geschichte der Menschheit reflexiv

1 2

Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme, 1. Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie, Aalen: Scientia 1961, S. 9. Siehe Friedrich Jaeger/Jörn Rüsen: Geschichte des Historismus. Eine Einführung, München: C.H. Beck 1992; Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus, München: Oldenbourg 1959; Otto Gerhard Oexle: Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus: Studien zu Problemgeschichten der Moderne, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1996; Peter Reill: The German Enlightenment and the Rise of Historicism, Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press 1975; Jörn Rüsen: Konfigurationen des Historismus. Studien zur deutschen Wissenschaftskultur, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993; Annette Wittkau: Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1994.

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DIE HISTORISCHEN ANTHROPOLOGIEN DROYSENS UND BURCKHARDTS

auseinandersetzen, um dabei die eigene Menschlichkeit besser entwickeln zu können. Verneinen lässt sich hingegen die Frage nach dem humanistischen Potential der jeweiligen historischen Anthropologien, da bei beiden eben auch nicht- bzw. antihumanistische Tendenzen zu finden sind. Im Fall Droysens droht der humanistische Universalismus durch seine partikularistischen Auffassungen von Nationalpolitik verloren zu gehen. Bei Burckhardt ist ein Antihumanismus in seiner Neigung zur Mythisierung des europäischen Ursprungs klar feststellbar. Diese Dialektik von Humanismus und Antihumanismus in den historischen Anthropologien beider Autoren werden wir nun versuchen, anhand einiger zentraler Texte herauszuarbeiten. Deutlich wird dabei nicht nur der Glanz, sondern auch die Grenzen humanistischen Denkens.

Die Geschichte und die Bildung des Menschen: D r o ys e n Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hat Droysen eine systematische Theorie der Geschichtswissenschaft (Historik) entwickelt, in deren Zentrum eine historische Anthropologie steht. Zusammengefasst wird diese in der Vorstellung, nach der jeder Mensch »erst ein Mensch werden [muss], um ein Mensch zu sein, und nur in dem Maß ist er es, als er es zu werden und immer mehr zu werden weiß«.3 Vieles steckt hinter solch einer Bestimmung des Menschen als werdendes Wesen. Zunächst deutet Droysens anthropologischer Grundsatz auf die Idee einer selbstreflexiven Menschenwerdung hin; anders gesagt auf den modern-humanistischen Bildungsbegriff. Hervorzuheben ist aber, dass für Droysen die Selbstbildung des Menschen und die geschichtliche Bildung der ganzen Menschheit in engem Zusammenhang stehen. In gewissem Sinne postuliert seine Anthropologie, dass sich in der Selbstbildung jedes Menschen die ganze Bildungsgeschichte der Menschheit wiederholt. Dieses Wechselverhältnis zwischen Mensch und Menschheit in Droysens Anthropologie ist erklärungsbedürftig. Sie wird dort fassbarer, wo Droysen daran erinnert, dass die Menschen der römischen Antike mit dem Wort »humanitas« auf das Menschsein des Menschen hingewiesen hatten. In diesem Zusammenhang übersetzt er »humanitas« als »Bildung« und fügt die folgende Bemerkung hinzu: »Die Bildung ist 3

Johann Gustav Droysen: Historik, Bd. 1: Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857); Grundriß der Historik in der ersten handschriftlichen (1857/58) und in der letzten gedruckten Fassung (1882), Stuttgart: Frommann-Holzboog 1977, S. 14. 109

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durch und durch historischer Natur; und der Inhalt der Geschichte ist die werdende humanitas, die werdende Bildung.«4 Wie man sieht, ist die Geschichte nach Droysen derjenige Prozess, in dessen Verlauf sich die Menschheit hervorbringt. Dieser Prozess umfasst nicht nur die Generierung, Akkumulierung und Modifizierung von aus der Vergangenheit stammenden Kulturgütern. Er führt ebenso zur Herausbildung einer menschlichen Welt, die eine Ausdifferenzierung des Naturbereichs darstellt. Wenn sich also Menschen bilden, machen sie sich dabei die Ergebnisse der gesamten Geschichte der Menschheit zu Eigen. Nicht zufällig findet die Bildung der Individuen nach Droysen durch das subjektive Begreifen der durchlebten Bildung der Menschheit statt. Daraus folgt schließlich, dass ein gebildeter Mensch derjenige ist, der den Prozess der Herausbildung der Gegenwart versteht.5 Droysens Punkt ist klar: die Bildung der menschlichen Individuen geschieht nicht im Elfenbeinturm; sie ist keine weltfremde und egozentrische Selbstkultivierung. Das von seiner Anthropologie als Ziel vorausgesetzte Subjektivitätsmodell hat Droysen geschichtsphilosophisch als »Ich der Menschheit« definiert. Er setzt dem »Ich der Menschheit« das »empirische Ich« entgegen. Dem letztgenannten entspricht Droysen zufolge eine bloß »kleingeschichtliche Betrachtungsweise« − eine Perspektive, die »kleine Dinge groß und die große Dinge klein« sieht.6 Droysen ist der Meinung, dass sich das »empirische Ich« durch dessen eigene Bildung zum »Ich der Menschheit« erheben könne und solle. Dieses Subjektivitätskonzept stünde für eine allgemeine Perspektive, aus der heraus auch die Geschichte erforscht und geschrieben werden sollte, damit sie wiederum in den Dienst der Bildung ihrer Leser treten könne. Aus einer solchen Perspektive könne die Geschichte eben nicht nur wissenschaftlich verstanden, sondern auch praktisch – und zwar durch geschichtsbewusstes Handeln – fortgesetzt werden.7 Die hier implizierte soziale Ethik geht aber nicht so weit, Bildung als oberstes Lebensziel aller Menschen zu universalisieren. Praktisch war das, was Droysen mit dem orakelhaften Ausdruck »Selbst der Menschheit« bezeichnet hat, eine allein auf bestimmte soziale Akteure, nämlich auf Intellektuelle, Politiker und hohe Staatsbeamte, beschränkte Möglichkeit. Gerade hier liegt eine der Grenzen seines historischen Humanismus. Letztendlich vertritt Droysen nämlich eine Auffassung von gesellschaftlichem Leben, die zwar einerseits bürgerlich, doch auch hierar4 5 6 7

Ebd. J.G. Droysen: Historik, Bd. 2: Texte im Umkreis der Historik (18261882), Stuttgart: Frommann-Holzboog 2007, S. 454-467, hier S. 455f. J.G. Droysen: Historik, Bd. 1, S. 371. Ebd., S. 365f.

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DIE HISTORISCHEN ANTHROPOLOGIEN DROYSENS UND BURCKHARDTS

chisch sowie anti-demokratisch ist. Über die zweite Grenze von Droysens Humanismus, nämlich seine partikularistische Auffassung hinsichtlich der preußisch-deutschen Nationalpolitik, wird noch zu sprechen sein. Dennoch ist das Bedeutende in Droysens Anthropologie und in dem daraus abgeleiteten Bildungsbegriff dasjenige, was das Prädikat »historisch« kennzeichnet. Indem er eine historische Anthropologie entwickelte, distanzierte Droysen sich von der Tradition des anthropologischen Denkens, deren Kern eine apriorische Bestimmungen der Natur des Menschen war. Für Droysen gibt es gerade umgekehrt keine vorgegebene Natur des Menschen; was es gibt, ist nur ein geschichtlich gewordener und mithin modifizierbarer Zustand, der die Menschlichkeit des Menschen in jeder Zeit und jedem Kontext ausmacht. Wichtig ist zu betonen, dass hier Menschlichkeit als eine Eigenschaft gedacht wird, die dem Menschen nicht an sich gegeben ist, sondern die sowohl die Menschheit als auch der einzelnen Mensch selber entwickeln muss: »[Jeder Mensch] wird hineingeboren in die ganze historische Gegebenheit seines Volkes, seiner Sprache, seiner Religion, seines Staates usw.; und erst dadurch, daß er das so Vorgefundene, Unendliches lernend, […] in sich nimmt und verinnerlicht, […] hat er mehr als tierisches, ein menschliches Leben.«8 Folglich ist für Droysen das Wesen der Menschen ihr Werden: Menschsein ist gleichbedeutend mit Menschwerden. Grundsätzlich findet dieser Prozess durch Lernprozesse statt, in denen menschliche Subjekte sich aus der Vergangenheit stammende kulturelle Güter aneignen. Anders gesagt: Menschen entwickeln ihre Menschlichkeit, indem sie vorgegebene Kultur in Besitz nehmen; indem sie Sprachen lernen und Werte aufnehmen; indem sie innerhalb von Institutionen und sozialen Verhältnissen zu handeln lernen. Kurz: für Droysen ist das Werden der Menschen – ihre Bildung – das Lernen der Fähigkeit, die man braucht, um subjektiv mit der objektiven Präsenz der Vergangenheit in der jeweiligen Lebenswelt zurecht zu kommen. Aus diesem werdenden, bildenden, geschichtlichen Wesen der Menschen ergibt sich auch das Spezifikum der Menschheit gegenüber den anderen Lebewesen. Droysen bestimmt dieses genauer, indem er von einer »sinnlich-geistigen Natur des Menschen« redet.9 Die Menschen würden sich in diesem Zusammenhang dadurch auszeichnen, dass sie sich nicht damit zufrieden geben, einfach ein Teil der Natur zu sein: »Auch der Mensch hat seine kreatürliche Seite«, erkennt Droysen an, 8 9

Ebd., S. 14. Ebd., S. 423. 111

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»aber dieser sein naturhistorischer Gattungsbegriff füllt nicht sein Wesen aus wie bei Tier und Pflanze«.10 Als Geschichtstheoretiker interessiert sich Droysen demnach nicht für das, was die Menschheit mit den anderen biologischen Gattungen gemeinsam hat, sondern für das, was als spezifisch menschlich und daher als historisch gelten kann. Weiterhin verbindet er diese spezifische Natur mit der Vorstellung, dass Imperfektibilität, also die Unvollkommenheit, ein exklusiv menschliches Attribut sei: »Die Natur ist vollkommen überall, nur der Mensch ist in dem Moment, wo er aufhört, ein Stück Natur zu sein, d.h. wo er Mensch zu sein beginnt, unvollkommen.«11 Droysen nimmt an, er brauche hierbei nicht weiter zu erklären, warum es sich mit dem Menschen so anders als mit den anderen Gattungen verhält. Er geht davon aus, dass die letzten Gründe für die Ausdifferenzierung der Natur in Geschichte (oder der Naturgeschichte in die Geschichte der Menschheit) nicht wissenschaftlich zu erklären seien. Letztendlich verweist Droysen bei dieser Frage stark auf seinen kulturprotestantischen Glauben. Genau hier kann man den Punkt verorten, wo seine Geschichtsauffassung (und die damit verbundene Anthropologie) untrennbar mit seiner »Geschichtsreligion« ist. 12

D i e S ä k u l a r i s i e r u n g d e s M e n sc h e n b i l d e s u n d d i e R e - M yt h i s i e r u n g d e r G e s c h i c h t e : B u r c k h a r d t Ebenso wie Droysen hat Burckhardt eine fundamentale Unterscheidung zwischen Natur und Geschichte vorausgesetzt, die das ontologische Kriterium der Vollkommenheit ins Spiel bringt. In seinen Manuskripten zur Vorlesung »Über das Studium der Geschichte« − die posthum von seinem Neffen Jacob Oeri mit dem Titel Weltgeschichtliche Betrachtungen herausgegeben wurden − befindet sich eine Tabelle über Natur und Geschichte, worin die Lebewesen in der Natur nach »Regnum, Genus, Species« geordnet werden, während die Individuen in der Geschichte nach »Volk, Familie, Gruppe« eingeteilt werden. Nach der Tabelle besitzt jede Spezies »vollständig was zu ihrem Leben gehört«.13 Dies bedeutet, dass jede Spezies eine gewisse Vollständigkeit im Sinne der Vollkom10 Ebd., S. 16. 11 Ebd., S. 23f. 12 Vgl. Wolfgang Hardtwig: »Geschichtsreligion – Wissenschaft als Arbeit – Objektivität. Der Historismus in neuer Sicht«, in: Historische Zeitschrift 252 (1991), S. 1-32. 13 Jacob Burckhardt: Über das Studium der Geschichte, München: C.H. Beck 2000, S. 346. 112

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menheit aufweist. Demgegenüber stehen im Bereich der Geschichte die unvollkommenen Menschen und ihre jeweiligen Gruppierungen. Jedes menschliche Volk »ist unvollständig und sucht sich zu ergänzen, je höher es steht, um so mehr«.14 Burckhardt bezieht sich hier auf eine Art menschlicher Kollektive und nicht unmittelbar auf den Menschen als solchen. Klar ist für ihn hingegen, dass die genannte Unvollständigkeit der Völker direkt aus der strukturellen Unvollständigkeit der ihm zugehörigen Menschen folgt. Burckhardt sieht – wie Droysen – im Beginn der Unvollständigkeit des Menschen auch den Anfang der Geschichte. Seitdem sind die Menschen von dem Streben nach Perfektion geprägt, die sich zwar nie verwirklichen lässt, aber dennoch als Trieb der menschlichen Handlungen und der geschichtlichen Erneuerung bestehen bleibt. Dieser Umstand gilt für Burckhardt als Motor des geschichtlichen Prozesses, d.h. als struktureller Grund, aus welchem sich menschliche Individuen und Gruppen fortlaufend verändern. Diese geschichtsanthropologische Voraussetzung fasst Burckhardt in der Formel zusammen: »Das Wesen der Geschichte ist die Wandlung.«15 Bis auf solche gemeinsamen ontologischen und anthropologischen Voraussetzungen freilich weicht Burckhardts Geschichtsbetrachtung erheblich von derjenigen Droysens ab. Burckhardt hat die Geschichtsphilosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770-1831) heftig kritisiert, die ihrerseits Droysens historischen Kosmos begründet hat.16 Nach Burckhardt ist der Zweckbegriff, den Hegel verwendet und der darüber hinaus eine zentrale Rolle in Droysens Geschichtstheorie spielt, falsch konzipiert. Eine solche Art geschichtsphilosophischen Denkens beurteilt er als eine Form von Theodizee, also als eine Rechtfertigung für die Existenz des Bösen in der von einem guten und allmächtigen Gott geschaffenen Welt. In deren Rahmen fungiert das letztendlich religiös fundierte Telos der Geschichte als Hauptkriterium für die Interpretation aller geschichtlichen Ereignisse. Folglich kann das Vergangene in diesem Sinne nur als Vorbereitung für das Jetzige betrachtet werden.17 Burckhardt verabschiedet sich damit dezidiert von der Tendenz, den Zweck der Geschichte religiös und somit übergeschichtlich zu bestimmen. Seine Distanzierung von einer übergeschichtlichen Instanz wurde von Wolfgang Hardtwig als Säkularisierung des Geschichtsbewusstseins

14 Ebd. 15 Ebd. 16 Vgl. Christoph Johannes Bauer: ›Das Geheimnis aller Bewegung ist ihr Zweck‹. Geschichtsphilosophie bei Hegel und Droysen, Hamburg: Felix Meiner 2001. 17 J. Burckhardt: Über das Studium der Geschichte, S. 134, 347. 113

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bezeichnet.18 Anders als Droysen, der einmal behauptete, »unser Glaube giebt uns den Trost, daß eine Gotteshand uns trägt, daß sie die Geschichte leitet, große wie kleine«,19 fundiert Burckhardt den Halt in der Geschichte innergeschichtlich im Menschen selbst. Mit Recht kann man Burckhardts Geschichtsdenken daher als eine historische Anthropologie bezeichnen,20 in deren Zentrum das Bild des »duldenden, strebenden und handelnden Menschen, wie er ist und immer war und sein wird«, steht.21 Burckhardt – genauso wie Droysen und viele andere − vertritt die These von der Doppelnatur des Menschen. Auch er sieht die Menschen als Lebewesen, die sowohl eine tierische als auch eine menschliche Seite haben. Doch anders als Droysen setzt Burckhardt den Akzent eher auf das Tierische im Menschen. Für ihn bleibt innerhalb des konstitutiven Zuges eines Volkes, »immer genug vom Ursprünglichen übrig, um den Menschen als reißendes Thier zu zeichnen«.22 Dies passiert selbst, nachdem der Mensch durch »das erwachende Bewusstsein« aus dem Naturzustand in die Geschichte eingetreten ist.23 Es ist interessant, wie eng Burckhardts Betonung des Tierhaften im Menschen mit seinem Verzicht auf die politische Geschichtsschreibung zusammenhängt. Burckhardt gibt an, dass seine Betrachtung gewissermaßen pathologisch ist,24 d.h. er möchte die Krankheit der Menschheit analysieren. Allerdings ist für diesen Zweck die politische Geschichtsschreibung nahezu ungeeignet. Seiner eigenen Auffassung nach ordnen die politischen Historiker die politischen Ereignisse in eine Kausalkette ein, um »das Vergangene als Gegensatz und Vorstufe zu uns als Entwickelten« zu betrachten.25 Dem gegenüber bevorzugt Burckhardt die Kulturgeschichte, welche sich auf »das sich Wiederholende, Constante, Typische«26 im Inneren der Menschheit konzentriert. Für ihn ist das Konstante wichtiger und bedeutender als das Momentane, weil die Analyse

18 Wolfgang Hardtwig: Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa und moderner Welt. Jacob Burckhardt in seiner Zeit, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1974, S. 106ff. 19 J.G. Droysen: Vorlesungen über die Freiheitskriege, 1. Teil, Kiel: Universitäts-Buchhandlung 1846, S. 5. 20 Vgl. W. Hardtwig: Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa und moderner Welt, S. 51ff. 21 J. Burckhardt: Über das Studium der Geschichte, S. 134. 22 Ebd., S. 345. 23 Ebd. 24 Ebd., S. 134. 25 Ebd. 26 Ebd. (Hervorhebungen im Original). 114

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des Konstanten, Wiederholenden und Typischen sich für eine pathologische Betrachtung besser eignet. Um das Konstante und das sich Wiederholende kulturgeschichtlich zu analysieren, hat Burckhardt seine später berühmt gewordene These der drei Potenzen – Staat, Religion und Kultur – entwickelt. Nach ihm sind Staat und Religion zwei stabile Potenzen, die für das politische bzw. metaphysische Bedürfnis des Menschen stehen: Sie »beanspruchen wenigstens für das betreffende Volk, ja für die Welt, die universale Geltung«.27 Im Gegensatz dazu ist Kultur ihrem Wesen nach anders; sie ist »der Inbegriff alles dessen, was zur Förderung des materiellen Lebens, und als Ausdruck des gemüthlich-sittlichen Lebens spontan zu Stande gekommen ist, alle Geselligkeit, alle Techniken, Künste, Dichtungen und Wissenschaften. Die Welt des Beweglichen, Freien, nicht nothwendig Universalen; desjenigen was keine Zwangsgeltung in Anspruch nimmt«.28 Als eine nicht stabile Potenz wirkt Kultur also einerseits zersetzend wie auch modifizierend. Sie entsteht aus der ewigen Unzufriedenheit des Menschen mit dem Gegebenen und drängt ihn dazu, anders zu sein und sein zu wollen. Kultur als Potenz zeigt dynamisch die Vorgehensweise und das Resultat menschlichen Handelns, das durch die Bedürfnis- und Triebstruktur angetrieben wird, und dadurch erhält Kultur einen prozesshaften Charakter. Im Gegensatz zu Staat und Religion, die als stabil bezeichnet werden, erhält der Mensch erst durch die Kultur seine Geschichtlichkeit.29 Die tief hinter dem Drang zu Änderungen liegende Bedürfnis- und Triebstruktur kann aber auch ins Unglück führen. In dem für Burckhardt beispielhaften Fall der antiken Griechen begann der zum Untergang führende Prozess in dem entscheidenden Moment, als die Griechen aus dem Mythus erwachten und in das geschichtliche Leben eintraten. Seit diesem Moment wurde die mythische Anschauung zunehmend durch Rationalität und Reflexivität ersetzt. Dennoch weist Burckhardt auf eine Dimension hin, die das Fortleben der griechischen Kultur nach dem Untergang der Polis garantierte, nämlich die Kunst. Genauer gesagt, die aus der mimetischen Attraktion des griechischen Mythus entstandene Kunst. Nur im Kontext der Kunstgeschichte kann Burckhardt sich daher eine Art von Geschichtskontinuum vorstellen. Diese Art von Kontinuum ist in ihrer Konzeption weitaus begrenzter als Droysens Kontinuitätsvorstellung, da beim Letzteren die Kontinuität der Geschichte sich nämlich in allen Bereichen des Lebens

27 Ebd., S. 161. 28 Ebd. 29 J. Rüsen: Konfigurationen des Historismus, S. 311f. 115

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der Menschheit zeigt. Burckhardt seinerseits betrachtet die Menschheit eher pessimistisch. Ihm zufolge sind Begriffe wie »Fortschritt« und »Perfektibilität« fragwürdig.30 Er behauptet, diejenigen Intellektuellen, die von solchen Begriffen Gebrauch machen, seien »mit Speculation über die Anfänge behaftet und müßten deshalb eigentlich auch von der Zukunft reden«.31 Weiter heißt es: »wir können jene Lehren von Anfängen entbehren, und die Lehre vom Ende ist nicht von uns zu verlangen«.32 Statt sich mit den Anfängen zu beschäftigen, die er für bloße Konstruktionen hält33, versucht Burckhardt, die Kontinuität durch den Ursprung zu sichern, an den man sich stets erinnern soll. Diesen Ursprung vermutet Burckhardt im griechischen Mythus. Nach Egon Flaigs These setzt Burckhardt, um der »Ursprungshaftigkeit« willen, die »Jungfräulichkeit« des griechischen Geistes voraus. Damit präsentiert Burckhardt den griechische Mythus als Etwas, das jeder historischen Notwendigkeit entbehrt. Für ihn sehen die Griechen die Welt mit naiven Augen und freier Auffassung.34 Mit einer solchen freien Auffassung und deren Ausarbeitung in epischer Form seien die Griechen zu einer rein ästhetischen Anschauung des Schönen fähig gewesen. Burckhardt spricht in diesem Argument nicht nur seine Präferenz für das Schöne aus, sondern er relativiert dadurch auch die Kategorien des Wahren und Guten. Er stellt ausdrücklich fest: »Das Wahre und Gute [ist] mannigfach zeitlich gefärbt und bedingt.« Demgemäß könne nur das Schöne absolut sein: »Das Schöne freilich könnte über die Zeiten und ihren Wechsel erhaben sein, bildet überhaupt eine Welt für sich. Homer und Phidias sind noch schön, während das Wahre und Gute jener Zeiten nicht mehr ganz das unsrige ist.«35

H u m a n i s m u s u n d An t i h u m a n i s m u s : E i n e B i l a n z Versuchen wir nun abschließend, die oben skizzierten historischen Anthropologien Droysens und Burckhardts systematisch auf die eingangs gestellte Frage des Verhältnisses zum Humanismus zu beziehen.

30 31 32 33 34

J. Burckhardt: Über das Studium der Geschichte, S. 347. Ebd., S. 134. Ebd. Ebd., S. 135. Egon Flaig: Angeschaute Geschichte. Zu Jacob Burckhardts ›Griechische Kulturgeschichte‹, Rheinfelden: Schäuble 1987, S. 227f. 35 J. Burckhardt: Über das Studium der Geschichte, S. 138. 116

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Zunächst ist aber zu klären, was gemeint ist, wenn wir im Zusammenhang mit den beiden Autoren von Humanismus reden. Häufig wird in der entsprechenden Literatur erwähnt, dass das deutsche Wort »Humanismus« wahrscheinlich eine Erfindung des Philosophen und Theologen Friedrich Immanuel Niethammer (1766-1848) ist. In dem 1808 erschienenen Werk Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unserer Zeit hat Niethammer unter dem Begriff »Humanismus« eine Erziehungslehre konzipiert, die eine allgemeine Bildung des Menschen zur Humanität als allererstes Ziel im Blick hat.36 Er spielt damit »Humanismus« ganz bewusst gegen den »Philantropinismus« aus, also gegen die Auffassung, die Erziehung solle vor allem Abrichtung zu praktischen Zwecken sein.37 Niethammer plädiert für einen »Humanismus« als Bildungsideal, in dessen Zentrum das Erlernen der alten Sprachen steht. Durch den Kontakt mit den Klassikern solle in den Schülern die Entwicklung der eigenen Menschlichkeit gefördert werden. Solch eine Entwicklung sei nicht auf den Erwerb praktischer Fähigkeiten ausgerichtet, sondern sei in erster Linie selbstzweckhaft.38 Eng verwandt mit diesem klassizistisch-pädagogischen Ideal einer menschlichen Bildung, die weit über das praktisch Nützliche hinausgeht, ist Immanuel Kants (1724-1804) Ethik, selbst wenn dieser von dem Terminus »Humanismus« keinerlei Gebrauch macht. Die Selbstzweckhaftigkeit der Erziehung, für die Niethammer sich ausspricht, entspricht Kants ethischem Postulat der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen. Unzweideutig ist dieses Postulat in der folgenden Formulierung des kategorischen Imperativs: »Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.«39 Demnach soll jeder Mensch nicht bloß als Mittel für die Zwecke der Anderen, sondern zuerst als

36 Friedrich Immanuel Niethammer: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unserer Zeit, Jena: Frommann 1808. 37 Hubert Cancik: »Entrohung und Barmherzigkeit, Herrschaft und Würde. Antike Grundlagen von Humanismus«, in: Richard Faber (Hg.), Streit um den Humanismus, Würzburg: Königshausen und Neumann 2003, S. 23-42, hier S. 37ff. 38 Vgl. Hans Erich Bödeker, »Menschheit, Humanität, Humanismus«, in: Otto Brunner u.a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3, Stuttgart: KlettCotta 1982, S. 1063-1128, hier S. 1121. 39 Immanuel Kant: »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, in: ders., Gesammelte Schriften, 1. Abteilung, Bd. 4, Berlin: Georg Reimer 1911, S. 385-463, hier S. 429. 117

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Zweck an sich behandelt werden. Mit dieser Maxime eng verbunden sind freilich auch die für den Humanismus zentralen Ideen wie die der Menschenwürde, -freiheit und -perfektibilität. Ebenso gilt das doppelt für die Vorstellungen einer Selbstbestimmung des Menschen sowie einer Selbstbildung der eigenen Menschlichkeit. Wenn wir über Humanismus, Nicht-Humanismus und Antihumanismus bei Droysen und Burckhardt sprechen, meinen wir daher genau diesen Referenzrahmen, der Niethammers Pädagogik und Kants Ethik umgreift. Droysens Anthropologie mit ihrer Hervorhebung der geschichtlichen Dimension der menschlichen Selbstbildung ist durch und durch von der Tradition des Humanismus geprägt. Die Art von anthropologischem Universalismus, die er neben anderen historischen Denkern des 19. Jahrhunderts vertritt, setzt den Menschheitsuniversalismus der Aufklärung fort. Diese geistesgeschichtliche Kontinuität lässt sich feststellen, auch wenn die Selbstwahrnehmung vieler historistischer Autoren, Droysen eingeschlossen, dem widerspricht und oft sogar durch pauschale Vorurteile gegenüber der Aufklärung gekennzeichnet ist.40 Schon im Rahmen der Aufklärung deutet »Menschheit« gleichzeitig auf das Kollektiv aller Menschen hin, dazu auf die eigentümliche Natur des Menschen in Vergleich zu anderen Wesen sowie auf den Zweck, zu dem der Mensch sich selber bestimmt.41 In Droysens Geschichtstheorie – dasselbe gilt gewissermaßen für Burckhardt – werden diese tradierten Bedeutungsdimensionen beibehalten, zudem konsolidierten sich aber auch wichtige partikuläre Ausdifferenzierungen. Vor allen Dingen erlangt für Droysen das aufklärerische Postulat einer gemeinsamen Natur des Menschen erst in einer historisierten Form seine Gültigkeit. Der Ausgangspunkt für eine solche Historisierung des Denkens über die Natur des Menschen ist bereits in der Spätaufklärung zu finden, z.B. bei August Schlözer (1735-1809), für den »der Mensch […] von Natur nichts [ist], und kann durch Conjuncturen alles werden«.42 In der Folge von Idealismus und Romantik führt Droysen diese Tendenz zur Historisierung der Menschennatur weiter. Erst in diesem Zusammenhang wird sein Argument, die Geschichte sei »der Gattungsbegriff des Menschen«, verständlich.43

40 Vgl. Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung, Hamburg: Felix Meiner 2003, S. 206-208. Für Droysens Kritik der Aufklärung als antihistorisch siehe z.B. J.G. Droysen: Historik, Bd. 1, S. 50. 41 H.E. Bödeker: Menschheit, Humanität, Humanismus, S. 1079-1090. 42 August Ludwig Schlözer: Vorstellung seiner Universal-Historie, Göttingen, Gotha: Johann Christian Dietrich 1772, S. 6. 43 J.G. Droysen: Historik, Bd. 1, S. 17. 118

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Wenn man jedoch Droysens Schriften insgesamt betrachtet, findet man nicht nur den aus seiner historischen Anthropologie ableitbaren Humanismus, sondern auch häufig das Gegenteil dessen. Man kann mit Sicherheit sagen, dass vieles aus seiner universalistischen Theorie des Menschen im Rahmen seiner eigenen historiografischen und politischen Praxis verloren geht. Besonders seit 1848 weist Droysens politische Geschichtsschreibung und sein Engagement für das preußisch-deutsche Nationalstaatsprojekt sowohl auf eine Fixierung auf Machtfragen hin, als auch auf eine exkludierende Form politischer Parteilichkeit, ja sogar auf eine Art von Nationalismus.44 In einigen an preußische Politiker und hohe Beamte geschickten Denkschriften hat er z.B. deutlich gemacht, dass die historischen Wissenschaften »in den Bereich der geistigen Kriegsbereitschaft« des preußischen Staaten gehören.45 Anschließend geht Droysen sogar so weit, den Wert des Bildungsideals zu relativieren und der kleindeutschen Machtpolitik unterzuordnen.46 Damit hängt schlussendlich ebenfalls die immer wieder bei Droysen auftauchende Neigung zusammen, das Thema der Menschen- bzw. Grundrechte als Hindernis auf dem Weg zur deutschen Vereinigung zu betrachten.47 Alle diese Züge stehen im Gegensatz zum humanistischen Postulat der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen und passen selbstverständlich auch nicht zum aktuellen Versuch, Humanismus im Zeitalter der Globalisierung neu zu bestimmen. Sie dokumentieren eher die Existenz eines Antihumanismus innerhalb Droysens Geschichtsdenken. Gerade der Nationalismus stellt heute noch eine große Gefahr für das humanistische Gesamtprojekt dar, insofern er das Postulat der Gleichheit aller Menschen den Angehörigen anderer Nationalgemeinschaften gegenüber nicht gelten lässt. Bei Burckhardt ist die Beziehung zwischen Humanismus und NichtHumanismus nicht weniger gespannt. Wenn wir nach seinem »Humanismus« im Sinne Niethammers fragen, wird Burckhardts Anthropologie zu einem hoch interessanten Fall. Einerseits verteidigt Burckhardt die Meinung, die schönfärberische Idealisierung des Griechentums sei unnötig – hierbei stimmt er übrigens mit der antiklassizistischen Haltung

44 Vgl. Robert H. Handy: Johann Gustav Droysen. The Historian and the German Politics in the Nineteenth Century, Dissertation Georgetown University, Washington, D.C. 1966, S. 257ff. 45 J.G. Droysen: Historik, Bd. 2, S. 455, 494. 46 Ebd., S. 480. 47 Johann Gustav Droysen: Politische Schriften, München, Berlin: R. Oldenburg 1933, S. 184. Vgl. dazu Wilfried Nippel: Johann Gustav Droysen. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik, München: C.H. Beck 2008, S. 122ff. 119

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Droysens überein.48 Aber auf der anderen Seite teilt Burckhardt z.T. doch auch eine ähnliche Meinung mit den Klassizisten; z.B. macht er sich große Sorgen darum, dass die griechische Sprache nach dem Verlassen des Gymnasiums nicht verlernt wird. Humanistisch – im klassizistischen Sinne – erklärt er das Ziel seiner Griechischen Culturgeschichte wie folgt: »unser Streben ginge nun dahin, die Theilnahme für das alte Griechentum, soweit unsere schwache Wirksamkeit reicht, am Leben zu erhalten«.49 Was Burckhardt bei den alten Griechen besonders schätzt, ist deren zwecklose, rein ästhetische Anschauung. Als dessen Gegenbild stellt Burckhardt die Phönizier dar, die Geschäftsleute voller Zweckmäßigkeit und Berechnung gewesen seien.50 In dieser Gegenüberstellung ist Burckhardts antiutilitaristische Gesinnung eindeutig zu erkennen. Burckhardts Anthropologie zeigt sich darüber hinaus als vollkommen humanistisch, indem sie auf einem dezidiert säkularen Geschichtsbegriff basiert. Mehr als der geschichtsreligiöse Droysen – der Hegel folgend auf einem nicht durch das menschliche Handeln bestimmbaren Telos der Geschichte beharrt – hat Burckhardt den Menschen ins Zentrum der Geschichte gerückt. Ferner besteht Burckhardt auf der Spontaneität des Menschen, und findet im Schönen − da das Wahre und das Gute gewissermaßen zeitlich bedingt seien − den Halt, an dem erst objektive Werte nachhaltig verankert werden können. Durch die Feststellung, dass die Griechen das Schöne geschaut haben, wird die exemplarische Position des Griechentums im wandelnden Prozess der Geschichte gesichert. Dennoch ist Burckhardts historische Anthropologie im Grunde genommen nicht humanistisch, sondern im Gegenteil antihumanistisch. Nach Wolfgang Hardtwig besteht in ihr eine Ambivalenz von Sein und Sollen: Obwohl Burckhardts Anthropologie in ihrer Zielsetzung humanistisch ist, hat dieser durch seine pathologische Anschauung zu sehr die tierhafte Seite des Menschen betont. Als Folge dieser Asymmetrie kann dann sogar die Möglichkeit der menschlichen Selbstgestaltung als Ganzes in Frage gestellt werden.51 In pessimistischer Art und Weise betrachtet Burckhardt das menschliche Streben nach Freiheit und Gleichheit im Rahmen einer Bedürfnis- und Triebstruktur, die tendenziell zu Verfall und Unglück führt. Nach Burckhardt ist die Freiheit des Menschen aus48 J. Burckhardt: Griechische Culturgeschichte, Bd. 1, München: C.H. Beck 2002, S. 370; J.G. Droysen: Historik, Bd. 2, S. 231. 49 J. Burckhardt: Griechische Culturgeschichte, S. 370. 50 E. Flaig: Angeschaute Geschichte, S. 188f. 51 W. Hardtwig: Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa und moderner Welt, S. 267f. 120

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schließlich auf den Bereich der Kunst beschränkt, so dass Versuche zur Besserung der Menschheit durch andere Bereiche vergebens zu sein scheinen. Ein solcher überstrapazierter Ästhetizismus ist nicht unproblematisch: Nach Egon Flaigs Interpretation lässt sich der Krieg – vor allem in der Form eines totalen Kriegs, bei dem die ganze Existenz eines Volkes eingesetzt wird – für Burckhardt auch ästhetisieren. Erst im totalen Krieg sei der Mensch fähig, aus seinen egoistischen Interessen auszusteigen, und bereit, sich für das Gemeinsame aufzuopfern. Solche Kriege übernehmen für Burckhardt Vorbildfunktion für die gesamte Menschheit, und zwar in dem Sinne, »daß man an das Gemeinsame Alles setze und daß das Einzelleben der Güter höchstens nicht sei. Sodaß aus ihrem Unglück ein herbes, aber erhabenes Glück für das Ganze entsteht«.52 Für Burckhardt ist der Krieg damit auch ein Hilfsmittel zur Stillung der steigenden materiellen Bedürfnisse in seiner Zeit, die er als gravierende Bedrohung für die kulturelle Kontinuität betrachtet.53 Wie wir gezeigt haben, sind die historischen Anthropologien Droysens und Burckhardts in ihrem Verhältnis zum Humanismus nicht eindeutig. Sie enthalten sowohl humanistische als auch antihumanistische Elemente. Der Unterschied zwischen Droysen und Burckhardt hinsichtlich ihrer Menschenbilder zeigt eine Tendenz, die der Entwicklung europäischer Intellektueller des 19. Jahrhundert entspricht. Bei beiden Autoren kann man unschwer Beweise dafür finden, wie der Humanismus sich in sein Gegenteil verkehren kann. Jedoch ist nicht zu vernachlässigen, dass ihr Geschichtsdenken auch universalistische Potenziale zum Ausdruck bringen kann, die als Inspiration und Anknüpfungspunkte zu einer Neubelebung des Humanismus in unserem globalisierten Zeitalter beitragen können.

Literatur Bauer, Christoph Johannes: ›Das Geheimnis aller Bewegung ist ihr Zweck‹. Geschichtsphilosophie bei Hegel und Droysen, Hamburg: Felix Meiner 2001. Bödeker, Hans Erich: »Menschheit, Humanität, Humanismus«, in: Otto Brunner u.a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3, Stuttgart: Klett-Cotta 1982, S. 1063-1128. 52 J. Burckhardt: Über das Studium der Geschichte, S. 150. 53 Egon Flaig: »Kultur und Krieg. Antihumanismus bei Jacob Burckhardt und Friedrich Nietzsche«, in: Richard Faber (Hg.), Streit um den Humanismus, Würzburg: Königshausen und Neumann 2003, S. 137-150. 121

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Burckhardt, Jacob: Griechische Culturgeschichte, Bd. 1, München: C.H. Beck 2002 (=Jacob Burckhardt Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 19). Ders.: Über das Studium der Geschichte, München: C.H. Beck 2000 (=Jacob Burckhardt Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 10). Cancik, Hubert: »Entrohung und Barmherzigkeit, Herrschaft und Würde. Antike Grundlagen von Humanismus«, in: R. Faber (Hg.), Streit um den Humanismus (2003), S. 23-42. Cassirer, Ernst: Die Philosophie der Aufklärung (1932), Hamburg: Felix Meiner 2003 (=Gesammelte Werke: Hamburger Ausgabe, Bd. 15). Droysen, Johann Gustav: Historik, Bd. 2: Texte im Umkreis der Historik (1826-1882), Horst Walter Blanke (Hg.), Stuttgart: FrommannHolzboog 2007. Ders.: Historik, Bd. 1: Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857); Grundriß der Historik in der ersten handschriftlichen (1857/58) und in der letzten gedruckten Fassung (1882), Peter Leyh (Hg.), Stuttgart: Frommann-Holzboog 1977. Ders.: Politische Schriften, Felix Gilbert (Hg.), München, Berlin: R. Oldenburg 1933. Ders.: Vorlesungen über die Freiheitskriege, 1. Teil, Kiel: UniversitätsBuchhandlung 1846. Faber, Richard (Hg.): Streit um den Humanismus, Würzburg: Königshausen und Neumann 2003. Flaig, Egon: »Kultur und Krieg. Antihumanismus bei Jacob Burckhardt und Friedrich Nietzsche«, in: R. Faber (Hg.), Streit um den Humanismus (2003), S. 137-150. Ders.: Angeschaute Geschichte. Zu Jacob Burckhardts ›Griechische Kulturgeschichte‹, Rheinfelden: Schäuble 1987. Handy, Robert Henry: Johann Gustav Droysen: The Historian and German Politics in the Nineteenth Century, Dissertation Georgetown University, Washington, D.C. 1966 (Facsimile: Ann Arbor, London: University Microfilms International 1979). Hardtwig, Wolfgang: »Geschichtsreligion – Wissenschaft als Arbeit – Objektivität. Der Historismus in neuer Sicht«, in: Historische Zeitschrift 252 (1991), S. 1-32. Ders.: Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa und moderner Welt. Jacob Burckhardt in seiner Zeit, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1974. Jaeger, Friedrich/Rüsen, Jörn: Geschichte des Historismus. Eine Einführung, München: C.H. Beck 1992.

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DIE HISTORISCHEN ANTHROPOLOGIEN DROYSENS UND BURCKHARDTS

Kant, Immanuel: »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« (1785), in: ders., Gesammelte Schriften, 1. Abteilung, Bd. 4, Berlin: Georg Reimer 1911, S. 385-463. Meinecke, Friedrich: Die Entstehung des Historismus (1936), München: Oldenbourg 1959. Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unserer Zeit, Jena: Frommann 1808. Nippel, Wilfried: Johann Gustav Droysen. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik, München: C.H. Beck 2008. Oexle, Otto Gerhard: Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus: Studien zu Problemgeschichten der Moderne, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1996. Reill, Peter: The German Enlightenment and the Rise of Historicism, Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press 1975. Rüsen, Jörn: Konfigurationen des Historismus. Studien zur deutschen Wissenschaftskultur, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993. Schlözer, August Ludwig: Vorstellung seiner Universal-Historie, Göttingen, Gotha: Johann Christian Dietrich 1772. Troeltsch, Ernst: Der Historismus und seine Probleme, 1. Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (1922), Aalen: Scientia 1961 (Nachdruck der im Verlag J.C.B. Mohr 1922 erschienenen Ausgabe). Wittkau, Annette: Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1994.

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» Was ka nn noc h alles a us ihne n w erde n«? ›Menschheit‹ als historische Kategorie in der Universalgeschichtsschreibung Au g us t Ludw ig Sc hlöze rs ANDRÉ DE MELO ARAÚJO

Abstract Given that ›Humanity‹ could be considered a central category of Humanism and that, in the globalised modern world, universal perspectives are once again becoming popular in the writing of history this article proposes a new reading of an ›old‹ historiography. It takes its cue from a recent newspaper article presenting a number of arguments reminiscent of the European Enlightenment and aiming at exploring the theoretical framework of the historical category of ›Humanity‹, or ›Humankind‹ [›Menschheit‹], in August Ludwig Schlözer’s (1735-1809) Universal History. My analysis revolves around a fundamental turning point in modern historiography, the moment, in which a certain enthusiasm for the future is put into an interrogative form. The readiness, with which thinkers of the late Enlightenment would put question marks over it, is presented as a result of modern historical thinking emphasising the dynamics of the historical process. My analysis aims at explaining why it could be said that History without Humanity was once conceived as empty, as well as why Humanity without History was regarded as being blind.

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ANDRÉ DE MELO ARAÚJO

Al t e u n d n e u e W e l t Dass mitten in der Natur die Essenz einer besseren Zukunft für die ganze Menschheit versteckt sein könnte, ist keine neu formulierte Hoffnung. Neu sind auch nicht die Formulierungen, die das Gegenargument anführen: Mitten in der Natur versteckt sich die unglückliche und wilde Vergangenheit der Zukunft. So ging zwischen Ende Mai und Anfang Juni 2008 folgendes Foto durch die internationale Presse:

Foto: Gleilson Miranda Was in den Medien als die Entdeckung einer neuen Welt gelten sollte, löste besonders in Brasilien eine Diskussion darüber aus, ob der auf dem Foto dargestellte Indianerstamm schon jemals Kontakt zu anderen Stämmen gehabt hatte oder nicht. Unabhängig von dieser Diskussion nutzte die deutsche Wochenzeitung Die Zeit diese vor kurzem fotografierte Szene zu einem historischen Vergleich. Neben dem Foto druckte sie ein aus dem 17. Jahrhundert stammendes Gemälde eines unbekannten Malers, das sich auf ein Bild von Charles Le Brun (1619-1690) bezieht, welches schon damals das Leben der Ureinwohner Amerikas darstellen sollte.

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DIE UNIVERSALGESCHICHTSSCHREIBUNG AUGUST LUDWIG SCHLÖZERS

Unbekannter Maler, América, ca. 1650, Pinacoteca do Estado de São Paulo/Brasilien, Foto: Rômulo Fialdini In der Zeitung erschien die Abbildung unter dem Titel: »Damals: 1650. Neue Welt«. Damals, um 1650, hatte man sich gefragt, wer an diesen fremden Küsten lebte, welche Sprache sie sprachen, ob sie feindlich oder freundlich gesinnt waren, ob man mit ihnen Handel treiben könnte, ob sie stärker oder schwächer waren, argumentiert Die Zeit weiter. Die Hauptfrage lautete jedoch, ob es tatsächlich Menschen seien. Trotz damaliger Skepsis scheint aber die Frage positiv beantwortet worden zu sein. Nichtsdestoweniger verzichtet die Zeitung am Beispiel der bildlichen Darstellung dieses Zusammentreffens fremder Kulturen nicht auf einen ironischen Duktus, in dem es weiter heißt: »So haben sich die Menschen untereinander bekannt gemacht, kennengelernt. Es ging oft nicht glücklich aus. Heute sitzen sie alle zusammen auf Konferenzen herum.«1 Anscheinend haben sich jedoch nicht alle Menschen der Neuen Welt untereinander bekannt gemacht. Das tatsächlich im Jahr 2008 aufgenommene Foto schien in den Augen der internationalen Presse ein gutes Beispiel dafür zu sein. Dementsprechend hat Die Zeit das Foto mit dem folgenden Titel versehen: »Heute: 29.5.2008. Alte Welt«. Durch die Parallelisierung der Titel verdichtet sich das Zeitspiel: Ist die um 1650 als neu geltende Welt alt geworden oder gilt es im Mai 2008, eine alte Welt neu zu entdecken? Das von der Kamera enthüllte neue ›Loch‹, tief im dichten brasilianischen Regenwald, gewährt den Zugang zur Alten Welt. »Eine unbekannte Kultur! Verborgen in Brasiliens Urwald«, tönte die Zeitung. Diese alten – oder neuen? – Menschen hätten bis dato nichts von der Glück1

Die Zeit vom 5.6.2008, S. 12f. Falls nicht anders angegeben, stammen alle folgenden Zitate aus diesem Zeitungsbericht. 127

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seligkeit der heutigen Zivilisation genossen. Und hinter einer Logik der Glückseligkeit verstecken sich nicht ganz zufällig einige Kategorien bzw. Begriffe der deutschsprachigen Aufklärung: »Vormals nannte man solche von keiner wahren Zivilisation berührten Menschen ›Wilde‹ oder ›Indianer‹. Heute nennen wir sie Urvölker und betrachten sie mit leuchtenden Augen: Ja, was kann noch alles aus ihnen werden! Sie werden alle unsere Fehler vermeiden. Sie werden noch einmal von vorn anfangen mit der Geschichte der Menschheit. Sie werden glücklich sein. Aber warum nur wehren sie sich – mit Händen und Füßen, mit Pfeil und Bogen?«

Der Text, der das Foto erklärt, spielt eigentlich durchgehend mit der aufklärerischen Auffassung, nach der einige Kulturen einerseits als »Wilde« bezeichnet worden sind, wodurch das Glückseligkeitspotenzial der schon aufgeklärten Kulturen hervorgehoben werden konnte. Andererseits könnten sie aber alle unsere Fehler vermeiden, »sie werden glücklich sein« und das untermauert den überzeugten Enthusiasmus für die Zukunft: »Ja, was kann noch alles aus ihnen werden!« Diese in der Zeitung verbreitete und mit aufklärerischen Worten beladene ironische Formulierung gibt uns die Gelegenheit, einen wichtigen Wendepunkt innerhalb der Historiographie der deutschsprachigen Aufklärung aufzuzeigen, wonach die Zukunft nicht als Produkt der göttlichen Vorsehung sondern als Ergebnis rein historischer Konjunkturen formuliert wurde. Der moderne Geschichtsbegriff, der ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts etabliert wurde, wird hauptsächlich dadurch charakterisiert, dass sich die räumliche und zeitliche Spannung der Geschichte ausgedehnt und singularisiert2 sieht und dass eine methodische Reflexion über die Grenzen und über das Verfahren des historischen Denkens betrieben wurde. Und dies taucht paradigmatisch bewusst in der im Zeitungsbericht bereits erwähnten »Geschichte der Menschheit« auf, die sich im 18. Jahrhundert nicht nur auf die Gesamtheit aller Kulturen bezieht, sondern sich auch als eine wesentliche Gattung der spätaufklärerischen Geschichtsschreibung konsolidiert. Hier bekommt die Menschheit durch die räumliche und zeitliche Spannung der Geschichte eine quantitative Ebene, wonach die Vielfalt der unterschiedlichen Kulturen innerhalb eines umfassenden Begriffes vorkommt. Zu dem Singularisierungsprozess

2

Zur Entstehung der Geschichte als Kollektivsingular siehe Reinhart Koselleck: »Die Herausbildung des modernen Geschichtsbegriffs«, Art.: »Geschichte, Historie«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart: Klett-Cotta 1975, S. 647-691, hier S. 647.

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der Geschichte gehört allerdings auch eine qualitative Ebene, wodurch sich das künftige Ziel der Gesamtheit aller Menschen historisch zu erklären versucht. Beide Ebenen müssen aber zusammen betrachtet und verstanden werden. Hier wird dieser Prozess in drei Abschnitten behandelt. Zunächst geht es um die Entwicklung der theoretischen Ansprüche der modernen Geschichtsschreibung in der Form eines künftigen Systems, wonach die Geschichte sich singularisiert sehen würde; zweitens wird hier nach der methodischen Struktur dieses Systems gefragt, um – drittens – einen Entwurf über die ›Menschheit‹ als eine historische Kategorie für die Geschichtsschreibung auch für das Zeitalter der Globalisierung zu skizzieren.

D i e a l t e Z u k u n f t d e s Ag g r e g a t s Der Kontakt mit den im Wald versteckten Urvölkern Amerikas scheint immer ein gutes Beispiel gewesen zu sein, um die Erfahrung mit dem Fremden zu beschreiben; und das gilt auch für die Aufklärung, die genau die Vielfalt der Kulturen innerhalb einer Geschichte der Menschheit zu ordnen suchte. Der Spätaufklärer August Ludwig Schlözer (1735-1809) hat solch einen ›Plan‹ für die Geschichtsschreibung paradigmatisch verfasst. Mit seinen Absichten für die Verbesserung der universellen Geschichtsschreibung im Kopf, ließ er im Jahr 1777 eine Neue Erdbeschreibung von ganz Amerika aus den Federn von Daniel Fenning und Joseph Collier ins Deutsche übersetzen und reproduzieren. Zusätzlich versah er den Text mit einem Vorwort.3 Zu diesem Zeitpunkt war Schlözer bereits ein etablierter Professor in Göttingen und einer der wichtigsten Publizisten im deutschsprachigen Raum. Die sogenannte allgemeine Weltgeschichte wurde zu einem zentralen Anliegen Schlözers. Sie soll einerseits die unterschiedliche Kulturen, Völker bzw. ›Staaten‹ innerhalb einer einheitlichen Geschichtserzählung umfassen. Dies erklärt die Übersetzungsaufträge für die Geschichten vieler unterschiedlicher Völker, und begründet auch Schlözers Interesse für die Neue Welt. Anderseits wird die Weltgeschichte in den Schriften der Spätaufklärer als eine Zeitperiode verstanden, die chronologisch mit der Erbauung Roms begann4 und mit der Entdeckung Amerikas ab3

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Vgl. August Ludwig Schlözer (Hg.): Neue Erdbeschreibung von ganz Amerika, Erster Theil, Göttingen, Leipzig: Weygandsche Buchhandlung 1777. Vgl. August Ludwig Schlözer: Vorstellung seiner Universal-Historie. 1772/1773, neu hg., eingeleitet und kommentiert von Horst Walter Blanke, Waltrop: Hartmut Spenner 1997, Bd. 1, S. 60f. 129

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schließt. Die Weltgeschichte wird in diesem Sinne nicht mehr ausschließlich durch eine universalistische und umfangreiche Auffassung von Geschichte charakterisiert, sondern durch den Erklärungsfaktor dieser Universalisierung selbst, d.h. durch den Kontakt und kulturellen Austausch zwischen den Völkern. Deshalb war die Weltgeschichte nicht nur eine Gattung der spätaufklärerischen Geschichtsschreibung, in der unterschiedliche Geschichten in einem gemeinsamen Verlauf durch einen universalistischen Begriff zusammengebracht wurden, sondern entsprach auch einer Zeitspanne innerhalb des Verlaufs der schon gemeinsam gedachten Geschichte selber. Vor der Erbauung Roms verfügten die Historiker noch nicht über genügendes Quellenmaterial, um eine Verbindung zwischen den Völkern zu erkennen – eine Voraussetzung für die universalistische Perspektive. So nennt Schlözer zwei Gründe, warum er seine Weltgeschichte damals nicht weiterführen konnte. Erstens sei die Geschichte nach der Entdeckung Amerikas zu reich an Ereignissen, was den umfangreichen allgemeinen Blick verhinderte: »mir wenigstens ist es noch zu schwer, Einheit und Zusammenhang in diese unendliche Einzelheit zu bringen, und sie in ein System zu fassen, das dem obigen Begriffe von der Weltgeschichte entspräche«,5 gesteht der Spätaufklärer. Zweitens sei diese neueste Geschichte immer noch im Gange, »und es ist gegen die Regeln der Kunst, von einem Stücke zu urtheilen, dessen letzte Scenen man noch nicht gesehen hat«.6 Diese räumliche Ausdehnung und die zeitliche Beschränkung der Weltgeschichte stammen aus der Vorstellung seiner Universalhistorie,7 ein Buch, das Schlözer 1772 als Material für seine Vorlesung und zum ›Vergnügen‹8 der aufgeklärten und der aufzuklärenden Gelehrten veröf5 6 7

8

Ebd., S. 79. Ebd., S. 80. In den Schriften von Schlözer sind die Begriffe Universalhistorie, Universalgeschichte, Weltgeschichte und Geschichte der Menschheit manchmal austauschbar. Annette Meyer stellt jedoch eine recht umfangreiche und überzeugende Differenzierung zwischen »Natural History of Man«, »World History«, »Universal History« und »History of Mankind« vor. Vgl. Annette Meyer: »The experience of human diversity and the search for unity. Concepts of mankind in the late Enlightenment«, in: Cromohs 8 (2003), S. 1-15. Meyer vertritt die Meinung, dass sie sich in vielen Fällen überschneiden. Im 18. Jahrhundert wird das Wort ›Vergnügen‹ im allgemeinen Sprachgebrauch definiert als »derjenige Affect, welcher aus dem Anschauen oder aus dem Genusse der Vollkommenheiten entstehet«. Es heißt aber auch »durch einem ein Genüge thun, ihn zu frieden und sicher stellen, oder Satisfaction geben«. Siehe dazu Johann Heinrich Zedler (Hg.): Grosses vollständiges Universal Lexikon aller Wissenschaft und Künste, Halle, Leipzig

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fentlichte. Ein Jahr später ließ der Verfasser einen zweiten Band drucken, der eine lange und präzise Antwort auf eine in den Frankfurter gelehrte Anzeigen veröffentlichte kritische Rezension seines Buches aus der Feder von Johann Gottfried Herder (1744-1803) beinhaltete. Herder konzentrierte sich auf das im Titel verwendete Wort Vorstellung, und zog daraus einen Vergleich zwischen dem Stil des Buches und der theatralischen Deklamation.9 Die oben zitierte Idee Schlözers, wonach die Historiker eine bestimmte zeitliche Entfernung brauchen, um über historische Fakten urteilen zu können,10 hat dem Spätaufklärer die Möglichkeit gegeben, über die Regeln einer Kunst zu schreiben, deren »letzte Scenen man noch nicht gesehen hat«. Die Bezeichnung der Geschichtsschreibung in den Schriften des Spätaufklärers als eine Kunst ist zwar fruchtbar, aber in einer völlig anderen und von Herder übersehenen Hinsicht: Sie hat weniger mit der Auffassung zu tun, dass die Geschichte in Szenen gedacht wird, sondern vielmehr mit dem kompositorischen und historisch verankerten Prozess, einen Text zu schreiben. Der von Schlözer schon am Beispiel Amerikas gesuchte allgemeine Blick, der »Einheit und Zusammenhang« für die Einzelheiten bringen sollte und »sie in ein System« fassen würde, veranlasste ihn dazu, einen Vergleich zwischen der Arbeit des Geschichtsschreibers und der des Malers herzustellen. »Einzelne Facta oder Begebenheiten sind in der Geschichtswissenschaft, was die kleinen farbichten Steinchen in der mosaischen Malerei. Der Künstler durch geschickte Austheilung vermischt und ordnet sie, schließt sie genau an einander, und bringt dadurch dem Auge ein fertiges Gemählde auf einer schnurgleichen und ununterbrochnen Fläche entgegen. / Die Kritik gräbt diese Facta aus Annalen und Denkmälern einzeln aus […]: die Zusammenstellung ist das Werk des Geschichtschreibers. […] Die besondere Art dieser Zusammenstellung macht die Methode der Universalhistorie aus.«11

1732-1754, Bd. 47 (1746), Sp. 748-753 (›Vergnügen‹), hier Sp. 748 und Sp. 753-754 (›Vergnügen oder Vergnügung‹). Es wurde von Schlözer auch im Kontext seiner Definition von Funktionen der Universalgeschichtsschreibung verwendet: »Das Vergnügen, das jede einzelne Geschichte dem betrachtenden Geiste im Kleinen gewähret, verschafft die Universalgeschichte im Grossen.« A.L. Schlözer: Vorstellung seiner Universal-Historie, S. 35. 9 Vgl. Johann Gottfried Herder: »Göttingen und Gotha: A.L. Schlözers Vorstellung seiner UniversalHistorie. Bey Dietrich 1772. 8. 16 Bogen« [Rezension], in: Frankfurter gelehrte Anzeigen 60 (1772), S. 473-478. 10 Vgl. A.L. Schlözer: Vorstellung seiner Universal-Historie, Bd. 1, S. 80. 11 Ebd., S. 44f. 131

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Ein wesentliches – und in der Geschichte der Historiographie berühmt gewordenes – Ziel der Universalgeschichtsschreibung ist nach Schlözer die sogenannte Überwindung der Aggregatsform der historischen Fakten zugunsten eines Systems der Weltgeschichte. Während unter Aggregat nicht mehr als eine Anhäufung von Fakten verstanden wurde, heißt System nach Schlözer eine durch Methode strukturierte und ausgewählte Vorstellung der wichtigen Begebenheiten der Universalhistorie bzw. der Weltgeschichte. Schon in der Vorstellung seiner Universalhistorie hat der Verfasser diese zwei Varianten der Geschichtsschreibung miteinander konfrontiert und sie folgendermaßen dargestellt: »Man kann sich die Weltgeschichte aus einem doppelten Geschichtspuncte vorstellen: entweder als ein Aggregat aller Specialhistorien, deren Sammlung, falls sie nur vollständig ist, deren blosse Nebeneinanderstellung, auch schon in seiner Art ein Ganzes ausmacht; oder als ein System, in welchem Welt und Menschheit die Einheit ist, und aus allen Theilen des Aggregats einige, in Beziehung auf diesen Gegenstand, vorzüglich ausgewählt, und zweckmäßig geordnet werden.«12

Diese grundlegende Definition betrifft letztendlich ein zentrales Problem der modernen Geschichtsschreibung, nämlich: die Konzeptionalisierung der Einheit. Nach dieser Vorstellung wird die Einheit in der Geschichte nicht einfach durch eine unzusammenhängende Addition aller Teile der sogenannten Spezialhistorien erreicht. Andersherum: Mit der Idee eines Systems für die Weltgeschichte verstand Schlözer die Einheit vielmehr dynamisch,13 auch im epistemologischen Sinne, sodass sie eigentlich einem historisch bezogenen Akt des Wissens entsprach. Ferner verlangte der wissenschaftliche Anspruch des 18. Jahrhunderts eine Ordnung der Vielfalt, die sich nicht mehr als eine statische – anders ausgedrückt: eine tote – Anhäufung von Fakten darstellen lassen würde, sondern die genau diese lebendige Dynamik14 des Ganzen forderte, dessen Teile immer in 12 Ebd., S. 14. 13 Vgl. Johan van der Zande: »August Ludwig Schlözer and the English ›Universal History‹«, in: Stefan Berger/Peter Lambert/Peter Schumann (Hg.), Historikerdialoge: Geschichte, Mythos und Gedächtnis im deutschbritischen kulturellen Austausch 1750-2000, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2003, S. 135-156, hier S. 144. 14 Zu der dynamischen und darum lebendigen Komponente des spätaufklärerischen Einheitsbegriffs siehe Peter Hanns Reill: »Das Problem der Allgemeinen und des Besonderen im geschichtlichen Denken und in den historiographischen Darstellung des späten 18. Jahrhunderts«, in: Karl 132

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Interaktion mit den anderen wahrgenommen werden sollten. Das historische Subjekt ist daher der Dirigent eines lebendigen Einheitsbegriffs und spielt dementsprechend eine aktive Rolle15 in der Vorstellung sowie in der Verwirklichung der Zukunft. Diesen Schritt vom Aggregat zum System betrachtete Schlözer als eine schwierige aber nicht unmögliche16 Aufgabe des Historikers, die eigentlich den Kern der spätaufklärerischen Universalhistorie bedeutet. Die historischen Fakten müssen aber zunächst gesammelt und erst anschließend in einem System geordnet werden. Die Spezialgeschichten – wie im Fall Amerikas – sorgen für die notwendige Grundlage der Weltgeschichte und bilden eine unabdingbare Etappe bzw. eine unentbehrliche Gattung der Geschichtsschreibung. Und diese Gattung, in der die kleinen Teile in einem polychromen Gemälde in einem nachvollziehbaren Zeitablauf zusammengestellt werden sollten, führt die Aggregatsform und die strukturierenden Pläne eines Systems der Universalgeschichte weiter zu einer Grundstruktur des modernen historischen Denkens, die sich in Anlehnung an eine Formulierung Kants wie folgt zusammenfassen lässt: Aggregat ohne System ist blind, System ohne Aggregat ist leer.17

D a s n e u e S ys t e m d e r Z u k u n f t Die Blindheit der Aggregatsform besteht in ihrer Unfähigkeit, die Zukunft zu betrachten und sie mitzubestimmen. Ohne Pläne, ohne Anschauungen wäre die Struktur der Weltgeschichte eine bloße Summe aller passiven Teile ohne Dynamik und daher zukunftsbedürftig. Ohne historischen Inhalt für die Formulierung eines Ideals mithilfe eines strukturierenden Einheitsbegriffes, wie es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Begriff »Menschheit« war, wäre die Zukunft bodenlos und Acham/Winfrid Schulze (Hg.), Teil und Ganzes. Zum Verhältnis von Einzel- und Gesamtanalyse in Geschichts- und Sozialwissenschaften, München: DTV 1990, S. 141-168, hier besonders S. 147. 15 Zur funktionalen Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Rolle »historischer Subjekte gegenüber der Zukunft« siehe Lucian Hölscher: »Zukunft und Historische Zukunftsforschung«, in: Friedrich Jaeger/ Burkhard Liebsch/Jörn Rüsen/Jürgen Straub (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 1: Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Stuttgart, Weimar: Metzler 2004, S. 401-416, hier S. 402. 16 A.L. Schlözer: Vorstellung seiner Universal-Historie, Bd. 2, S. 269. 17 Für die originale kantische Formulierung siehe Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1781), Bd. 3 der Werkausgabe, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974, S. 98 [B75/A51]: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind«. 133

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daher leer. Deswegen ist für das spätaufklärerische Streben nach einer Weltgeschichte die Frage gestellt worden, wie man den Inhalt des Aggregats in einem System erstens denken und zweitens darstellen könnte. Wenn sich Schlözer genau diese Frage nach der Materie und Form der Universalhistorie stellt, zieht er damit unweigerlich noch einen Vergleich zwischen der Geschichtsschreibung und der Kunst. In der ersten Ausgabe der Vorstellung seiner Universalhistorie ist zu lesen: »Die herausgehobenen Sätze müssen da ihrer, auch nach der geizigsten Auswahl, noch immer eine sehr grosse Menge bleibt, und ihre Stellung, wie in der Mosaik-Malerei, das ganze Wesen der Wissenschaft ausmacht, geordnet werden: so wie die Botanik zum leichtern Erlernen ein System, so wie ein dickes Buch zum bequemern Nachschlagen ein Register, braucht.«18

Die Ordnung und der Vergleich aller Objekte der Wissenschaft bildete die theoretische Grundlage der Vermittlung aufklärerischen Wissens. Ausgehend von der Schlözer’schen Definition des ganzen Wesens der Wissenschaft kann immer eine Kontroverse über die Form und die Materie der Universalgeschichte, aus der ein System abgeleitet wurde, entstehen. Es handelt sich letztendlich um eine Auswahl, die der Historiker treffen muss und wonach die unterschiedlichen Tatsachen zusammen gebracht werden. Die hier erwähnte Kontroverse bezieht sich auf die Kriterien dieser Auswahl und darauf, wie eine Verkettung der historischen Begebenheiten begründet werden kann. Die Frage ist dann, wie wichtig bzw. wesentlich eine bestimmte Kultur bzw. ein bestimmter Staat für die Weltgeschichte überhaupt war. Wenn man keinen beträchtlichen Einfluss auf andere Staaten aufzeigen kann, dann bleiben die meisten Staaten vorsätzlich »also sämtlich aus dem System der Universalhistorie weg, und werden nur ihrem Aggregate aufbehalten«.19 Und als bloße Aggregatsform ist daher die Dynamik des Einheitsprinzips weder belegbar noch zukunftsfähig, da eine Dynamik als solche an Kraft verliert, sobald die Anknüpfungs- bzw. Kontaktpunkte zwischen den Teilen nicht mehr vorhanden sind. Ohne ein System ist das Aggregat blind und deshalb nicht mehr in der Lage, eine zukunftsweisende Beziehung zwischen den Kulturen vor ihm zu sehen. Sich seiner Aufgabe als Historiker und seiner historischen Verankerung bewusst, antwortet Schlözer auf die Rezension Herders, die auch Fragen nach den Konzeptionalisierungskriterien einer Universalhistorie hervorgebracht hat, folgendermaßen: »Und ich möchte die Universalhis-

18 A.L. Schlözer: Vorstellung seiner Universal-Historie, Bd. 2, S. 236f. 19 A.L. Schlözer: Vorstellung seiner Universal-Historie, Bd. 1, S. 105. 134

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torie sehen, bei der keine Zweifel wären!«20 Die Schwierigkeiten lagen natürlich, wie bereits erwähnt, in der Auswahl der Fakten, die in die Weltgeschichte gehören sollten, und in der Methode, wodurch eine Form für die getroffene Auswahl der bedeutsamen Begebenheiten für das Schreiben einer Universalhistorie festgelegt werden könnte. Im Zeitalter der deutschen Spätaufklärung haben verschiedene Geschichtsschreiber bzw. hat jeder Universalhistoriker unterschiedliche Fakten für die Konzeptionalisierung seiner Universalhistorie ausgewählt, was zu etlichen Debatten, beispielsweise über den Beginn der Geschichte, geführt hat.21 Was die methodischen Zweifel betrifft, so wurden diese laut Schlözer bei den Botanikern22 besser gelöst als bei den Universalhistorikern. Und das ist nicht unbedeutend, denn aus den Naturwissenschaften23 stammt nämlich das Modell eines Systems, das auch in Schlözers Schriften über einen Plan für die Universalhistorie zu finden ist und wonach die Einheit zwischen Welt und Menschheit möglich sei. »Wären auch zwei Leute über die Materie der Weltgeschichte so eins«, so der Historiker,

20 A.L. Schlözer: Vorstellung seiner Universal-Historie, Bd. 2, S. 252. 21 Vgl. Helmut Zedelmaier: Der Anfang der Geschichte. Studien zur Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert, Hamburg: Felix Meiner 2003. 22 So wie Linnaeus – oder Carl von Linné (1708-1778), mit dessen Werk Schlözer sich während seines Aufenthalts in Uppsala (1756-1758) näher beschäftigt und worüber er für die deutschen Gelehrten berichtet hat – einmal eine allgemeine Botanik schreiben könnte, wollte auch der Historiker eine allgemeine Geschichte schreiben, oder anders ausgedrückt, ein Systema Historiae liefern, »so wie wir für mechanische bereits ein Systema Naturae haben«. A.L. Schlözer: »Vorrede zur zwoten Ausgabe«, in: ders., Vorstellung seiner Universal-Historie, S. 3r. Als großer Sammler bekannt, versuchte Linné, eine systematische Ordnung der Natur zu schaffen. So ein Ordnungssystem der Botanik sollte aber nicht unbedingt im Widerspruch zu einem sich bewegenden und wiederstrukturierbaren Moment des Systems selbst stehen, obgleich eine mechanische Struktur des Linné’schen Systems bereits von Schlözer betont wurde. Es ist aber nicht Ziel dieses Beitrages, die These ausführlich zu erläutern, wonach sich die spätaufklärerische Dynamik der Geschichte auch von mechanischen Prinzipien beeinflussen ließ. Dieses Argument werde ich in meiner Dissertationsarbeit vertiefen. 23 Über die theoretischen Überschneidungspunkte der naturwissenschaftlichen und geschichtswissenschaftlichen Perspektiven der Spätaufklärung hat Peter Hanns Reill das Folgende festgestellt: »[D]ie Bewegung zur Neubildung historischer Anschauung und Deutung im späten 18. Jahrhundert [wurzelte] in den Methoden, der Logik und den Erklärungsverfahren der Naturwissenschaften.« P.H. Reill: Das Problem der Allgemeinen und des Besonderen, S. 146. 135

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»wie zwei correspondirende Uhren, und beide hätten Thatsätze von Einer Art, und beinahe einer so viel wie der andre, gesammlet: so können sie solche gleichwohl auf sehr verschiedene Art anordnen; so wie vielleicht ein Mosaikmaler, aus einer beinahe gleichen Art und Summe farbigter Steinchen, einen Napomuk, und einen Paulus, bildet. […] Auf eine Wiederentdeckung aller universalhistorischen Thatsätze kan die Weltgeschichte niemals hoffen: folglich wird die Anordnung der noch nicht geretteten immer nur künstlich, willkürlich, unvollkommen, folglich immer Zweifeln ausgesetzt, seyn.«24

Er zweifelte jedoch nicht daran, dass eine Universalhistorie notwendig sei und nach einem gewissen ›Plan‹ verfasst sein müsste: »[U]m die Streitenden auseinander zu bringen, müssen diese Grundsätze entwickelt, muß ein Plan, eine Theorie, ein Ideal dieser Wissenschaft, verfasset werden.«25 Aber wie wurde die begriffliche Einheitskategorie der spätaufklärerischen Historiographie gedacht, sodass das System der Weltgeschichte die schon erwähnte lebendige Dynamik der Zukunft beibehalten könnte? Sicher ist, dass eine aufklärerische Antwort auf diese maßgebliche Frage sich notwendigerweise auf die Gesamtheit aller Menschen beziehen sollte. So beinhaltet bei Schlözer der Menschheitsbegriff26 einerseits einen historischen Zeitverlauf, wonach ein Zustand, eine Phase in der Geschichte positiv beurteilt und betont wird. Der Spätaufklärer verleiht daher dem Begriff eine Bedeutungsebene, die sich auf die Gegenwart oder auf die Vergangenheit bezieht. Auf den Quellen basierend sollte außerdem der Historiker in der Lage sein zu prüfen, auf welchem bestimmten »Grad« bzw. Niveau der Kultur, das nach zuvor festgelegten Kriterien im Vergleich27 mit anderen Kulturen evaluiert wird, ein Volk sich befin24 A.L. Schlözer: Vorstellung seiner Universal-Historie, Bd. 2, S. 254f. 25 Ebd., »Vorbericht«, S. 2v. 26 Über die unterschiedliche Bedeutungsebene des Menschheitsbegriffs siehe Hans Erich Bödeker: »Menschheit, Humanität, Humanismus«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart: Klett-Cotta 1982, S. 1063-1128; und Jörn Rüsen/ Stefan Jordan: »Mensch, Menschheit«, in: Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 8, Stuttgart, Weimar: Metzler 2008, Sp. 327-340. 27 Vgl. A.L. Schlözer: Vorstellung seiner Universal-Historie, Bd. 1, S. 279. Auf die Tatsache, dass der Vergleich aller Objekte der Wissenschaft zu den theoretischen Grundlagen der Vermittlung aufklärerischen Wissens gehört, wurde schon kurz hingewiesen. Für eine ausführlichere Darstellung des Vergleichs als eine methodisch verfahrende Strategie des spätaufklärerischen historischen Denkens am Beispiel Schlözers, die auch aus der Festlegung der Urheberschaft eines Textes stammt, siehe André de Melo Araújo: »Gerüste der Bestimmbarkeit von Kulturen«, in: Bettina Kremberg/Artur Pełka/Judith Schildt (Hg.), Übersetzbarkeit zwischen den Kulturen Europas, Frankfurt/Main et al.: Peter Lang 2009, im Erscheinen. 136

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det. Als Ziel jedoch strukturiert sich der Menschheitsbegriff andererseits als eine Zukunftsperspektive, die der Geschichte eine dynamische Natur zuschreibt: Die Menschheit ist eher eine Bahn, die in alle Gegenden der Welt gebracht werden sollte und die sich deshalb auf die Zukunft richtet. Was könnte der Mensch werden, »falls ihm nur, beim Auslaufen in der Ban der Menschheit, kein Ziel gesteckt würde?«,28 fragte sich Schlözer. Nichtsdestoweniger hat der Historiker immer mit der Möglichkeit gerechnet, dass vielleicht er selber nicht in der Lage sein würde, den ›Plan‹, d.h., das System der Weltgeschichte zu entwickeln.29 Diese spätaufklärerische Unsicherheit hat mehrere Gründe: Einerseits könnte es bedeuten, dass die Zeit erst später hätte kommen sollen, in der die Zukunft der Wissenschaft sich verwirklichen wird. Nach der erschöpfenden Studie der Quellen würde man beispielsweise eines Tages in der Lage sein, eine vollständige Weltgeschichte zu verfassen,30 so wie die Botaniker eines Tages alle Spezies katalogisiert haben würden. Diese Zweifel prägen auch die methodologische Ebene historischer Forschung. Auf dieser Erkenntnis aufbauend hat Schlözer eine allgemeine Regel zur Quellenkritik formuliert, die diese Bedenken impliziert und sich auf jedwede Interpretationsarbeit eines Historikers bezieht: »Über Stellen, die der Ausleger nicht versteht, gehe er nicht schweigend weg, sondern beichte seine Unwissenheit laut, um Andre zu reizen, ihn und das Publicum zu belehren.«31 Mit anderen Worten: Zweifel sind also einerseits auf unterschiedlicher Ebene für den Erfolg der Materialauswahl der Weltgeschichte und ihre Vorstellung unabdingbar, insofern sie den kompositorischen Prozess der Geschichtsschreibung nicht ausblendet. Die Unwissenheit wird Teil des Wissens, da erstere die letztere implizit als unerschöpfbar und als unerreichbar verstehen lässt. Andererseits könnte man diese Zweifel der Vollständigkeit eines Systems der Universalhistorie überhaupt und daher auch der Heuristik der Geschichtswissenschaft zuschreiben. In seiner Antwort an Herder hat Schlözer den

28 A.L. Schlözer: Allgemeines StatsRecht und StatsVerfassungslere, Erster Theil, Göttingen:Vanderhoeck und Ruprecht 1793, S. 31. 29 A.L. Schlözer: Vorstellung seiner Universal-Historie, Bd. 2, S. 257. 30 »Vielleicht zankt man sich 10 Jahre über die bloße Specification aller Völker: aber bloße Rubriken helfen uns nicht. Wir brauchen eine Beschreibung von jedem Volke, nur von etlichen Blättern jede Beschreibung: aber – bei diesem Gedanken verliere ich alle Hoffnung, daß Deutschland noch im 18ten Jarhunderte ein vollständiges Handbuch der Weltgeschichte sehen werde.« A.L. Schlözer: »Vorrede zur zwoten Ausgabe«, in: ders., Vorstellung seiner Universal-Historie, S. 4v. 31 August Ludwig Schlözer: Nestorъ. Russische Annalen in ihrer Slavonischen GrundSprache, Zweiter Teil, Göttingen: Heinrich Dieterich 1802, »Zusätze und Verbesserungen«, S. 319. 137

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Ton der Rezension beibehalten und auch nicht auf den Vergleich mit der Kunst verzichtet: »Von der historischen Heuristik hat wol Hr. H. nie was gehört? Sie ist das in der Historie, was bei Romanen das Schöpferische ist. Wer diese Kunst kan, oder richtiger zu reden, wer dieses Talent besitzt; der fragt dem einfältigsten Annalisten, wie einem Kinde, Dinge ab, an die er selbst nie gedacht hat.«32

Bereits für das spätaufklärerische historische Denken ist die wahre Kunst der Geschichtsschreibung die Fähigkeit, eine fruchtbare Frage zu stellen. Dank der Bereitschaft des Historikers neue – oder sogar alte – Fragen zu stellen, sind einige vergangene Tatsachen auch als Antwort für die Gegenwart geblieben. Eben die Weltgeschichte ist nichts anderes als eine Perspektive der historischen Heuristik, die sich nach der Einheit der Vielfalt »über kulturelle Grenzen hinweg erweitert«33 und durch den Kontakt zwischen den Kulturen zusammengebracht fragt. Demzufolge ist das System eigentlich je nach Fragestellung immer neu zu gestalten. Die bittere Lektion, die das spätaufklärerische Streben nach einem System der Weltgeschichte lernen musste, war die Unmöglichkeit, es vollständig zu liefern.34 Ausgehend von dem kritischen Bestandteil der spätaufklärerischen historischen Epistemologie kann man folgende These zugespitzt formulieren: Egal was für eine Zukunft das System hätte, so sollte diese vor allem mit Ungewissheiten gegenüber seiner eigenen künftigen Verwirklichung verbunden sein.

Al t e u n d n e u e F r a g e n Schlözers Auffassungen von der Universalhistorie machen aus dem neuen System der Zukunft einen historischen Prozess par excellence: Universalhistorisch kann ein Staat, eine Kultur oder eine Person werden. Was die Universalisierungstendenzen für die Zukunft, die auch der Vergangenheit zugeschrieben wurden, angeht, sagt diese Betonung des

32 A.L. Schlözer: Vorstellung seiner Universal-Historie, Bd. 2, S. 279. 33 Jürgen Osterhammel: »Alte und neue Zugänge zur Weltgeschichte«, in: ders. (Hg.), Weltgeschichte, Stuttgart: Franz Steiner 2008, S. 9-32, hier S. 9. 34 Diese These ist in ähnlicher Weise bei Johan van der Zande zu finden, allerdings untermauert durch andere Elemente. Vgl. Johan van der Zande: August Ludwig Schlözer and the English ›Universal History‹, S. 135-156. 138

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Werdens – universalhistorisch zu werden35 – viel über die Struktur der Zukunft aus, die sich nach unserem Beispiel der spätaufklärerischen Historiographie im Vergleich mit der Gegenwart oder sogar mit der Vergangenheit ›verbessern‹ oder ›verschlimmern‹ kann. Das bedeutet, dass trotz der Festlegung eines künftigen Ziels und einer gewissen Hoffnung an die kommende Zeit der zweite Teil des Wesens der Zukunft unbestimmbar bleiben muss. Und das geschieht schon bewusst in den theoretischen Grundlagen der modernen Historiographie, sodass die Dynamik des Menschwerdens eigentlich aus einer ungewissen Hoffnung und aus einer gewissen Unbestimmtheit besteht: »Homo non nascitur, sed fit; und diese Ursachen seiner Menschwerdung liegen außer ihm. Von Natur ist er nichts, durch Conjuncturen kan er alles werden: die Unbestimmtheit macht den zweiten Teil seines Wesens aus. […] Es gibt Barbaren, die vormals aufgeklärte und emsige Nationen waren: es gibt höchst verfeinerte Völker, die vormals Wilde waren: es gibt Barbaren und Wilde, die es noch itzo sind, und es von je her waren.«36

Die in dem Bericht der Zeit mit aufklärerischen Worten beladene Ironie bezieht sich ausschließlich auf die Glückseligkeit und auf den Optimismus der Aufklärung und hat daher die Zweifel sowie die Selbstkritiken des späten 18. Jahrhunderts zusammen mit den Ungewissheiten als Bestandteile der Zukunft hinter sich gelassen. Daher die Einseitigkeit des Ausrufes, der eigentlich nur einen Teil der neuzeitlichen Zukunft ausmacht: »Ja, was kann noch alles aus ihnen werden!« Tatsächlich hat die Spätaufklärung diese Zukunftsbegeisterung schon in Frage gestellt und dasselbe Prinzip so formuliert, dass die Zukunft in ihren Gewissheiten und Ungewissheiten betrachtet wird: Der Mensch kann durch Konjunkturen alles werden.37 35 August Ludwig Schlözer: WeltGeschichte nach ihren HauptTheilen im Auszug und Zusammenhange, Zweiter Theil, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1789, S. 264f. 36 August Ludwig Schlözer: WeltGeschichte nach ihren HauptTheilen im Auszug und Zusammenhange, Erster Theil, Göttingen: Verlag der Witwe Vandenhoeck 1785, »Vorbericht, 1785«, S. 59f. Diese Passage wurde schon vorher von Schlözer für die erste Ausgabe der Vorstellung seiner Universalhistorie formuliert. Der Text ist inhaltlich fast gleich. Vgl. A.L. Schlözer: Vorstellung seiner Universal-Historie, Bd. 1, S. 5f. 37 Hier noch eine kurze – und nicht zufällige – Bemerkung: In der deutschen Sprache erlaubt das Hilfsverb werden die Bildung der Zukunftsform. D.h., auch auf der grammatikalischen Ebene der Sprache ist die Struktur der Zukunft auf die Betonung des Werdens hervorgehoben. Dazu Lucian Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt/Main: Fischer Verlag 1999, besonders S. 37. 139

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Für die moderne Geschichtsschreibung ist die Zukunft per Definition trotz aller Hoffnungen auch ungewiss. Und das gilt zugleich für die wissenschaftliche Zukunft der Vergangenheit, die ebenfalls von den historischen Konjunkturen betroffen ist: »Studium, langes Studium, gehört dazu. Historicus non nascitur, sed fit.«38 So wie der Mensch ist auch die Geschichte von Natur aus nichts; auch sie muss durch Unbestimmtheiten gedacht und gemacht werden. Seit der non natus, sed factus Geburt der modernen Geschichtswissenschaft in der Spätaufklärung gehört als notwendiger Bestandteil der theoretischen Reflexionen über die Geschichtsschreibung dazu, nicht nur die Zukunft bestimmen zu wollen, sondern auch sie in Frage zu stellen. Hier lohnt es sich, auf das zu Anfang aufgeführte Beispiel zurückzukommen, wodurch die Betrachter des im Jahr 2008 aufgenommenen Fotos eingeladen wurden, die Erfahrung zu machen, eine fremde Kultur neu zu entdecken. Und dies wird in zwei kurz skizzierten Bemerkungen gemacht. Erstens: Die Weltgeschichte ist wieder als eine bedeutende Gattung der Geschichtsschreibung im Zeitalter der globalisierten Welt erkannt worden,39 die sich dementsprechend am Beispiel der Erfahrung von Vielfalt und der dazu gehörenden Erweiterung der kulturellen Grenzen entfaltet. In dieser Historiographie wird die ›Menschheit‹ als die Einheitskategorie unterschiedlicher Kulturen bzw. als eine zentrale historische Kategorie gedacht, wodurch auch nach der gemeinsamen Zukunft der Menschen gefragt wird. Daher wird es notwendig, eine alte Frage neu zu stellen: Solle nicht der »Erwartungsüberschuss«40 der historischen Erfahrungen eine sorgfältige Strategie der angängigen Überwindung von Fremdheit und kulturellen Unterschiede entwickeln, wodurch die Universalisierungstendenzen der alten Zukunft, die auch der neuen 38 A.L. Schlözer: Vorstellung seiner Universal-Historie, Bd. 2, S. 266. 39 Die Weltgeschichte ist eine Tendenz der Geschichtsschreibung, die besonders in den Vereinigten Staaten stark zu spüren ist und die insbesondere »unter dem Druck der Einwanderungsprozesse und der Identitätspolitik ethnischer Minderheiten« zu erklären ist. Siehe Sebastian Conrad/Andreas Eckert: »Globalgeschichte, Globalisierung, multiple Modernen: Zur Geschichtsschreibung der modernen Welt«, in: dies./Ulrike Freitag (Hg.), Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt/Main: Campus Verlag 2007, S. 7-49, hier S. 8. 40 Zu den Begriffen »Erwartungsüberschuss« und »Sinnbildungsarbeit« des Geschichtsbewusstseins siehe Jörn Rüsen: Lebendige Geschichte. Grundzüge einer Historik III: Formen und Funktionen des historischen Wissens, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1989, S. 126f. Zur ›Erwartung‹ als einer konstitutiven Kategorie geschichtlicher Zeit siehe Reinhart Koselleck: »›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei historische Kategorien«, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989, S. 349-375. 140

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Vergangenheit zugeschrieben werden wollen, ein selbstkritisches Potenzial enthalten? Auf diese letzte Frage bezieht sich ein zweiter hier skizzierter Punkt. ›Menschheit‹ ist zugleich eine strukturierende Kategorie des Humanismus. Sie kann dadurch als ein wichtiger Bestandteil eines zukunftsweisenden Humanismus wahrgenommen und erneuert werden, insofern die inhärente Kritik der spätaufklärerischen Streben nach einer Geschichte der Menschheit nicht vernachlässigt wird und sie sich alte und neue Fragen erlaubt. Nicht immer war die Spätaufklärung sicher, wie die Zukunft durch die Fremdheitserfahrung aussehen sollte. Als eine Perspektive der historischen Heuristik ist es lohnenswert für die Weltgeschichte im Zeitbruch der Gegenwart, eine alte Grundstruktur des historischen Denkens neu zu diskutieren: Geschichte ohne Menschheit ist blind, Menschheit ohne Geschichte ist leer.

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Koselleck, Reinhart: »›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei historische Kategorien«, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989, S. 349-375. Ders.: »Die Herausbildung des modernen Geschichtsbegriffs«, Art.: »Geschichte, Historie«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart: Klett-Cotta 1975, S. 647-691. Meyer, Annette: »The experience of human diversity and the search for unity. Concepts of mankind in the late Enlightenment«, in: Cromohs 8 (2003), S. 1-15. Osterhammel, Jürgen: »Alte und neue Zugänge zur Weltgeschichte«, in: ders. (Hg.), Weltgeschichte, Stuttgart: Franz Steiner 2008, S. 9-32. Reill, Peter Hanns: »Das Problem der Allgemeinen und des Besonderen im geschichtlichen Denken und in den historiographischen Darstellung des späten 18. Jahrhunderts«, in: Karl Acham/Winfrid Schulze (Hg.), Teil und Ganzes. Zum Verhältnis von Einzel- und Gesamtanalyse in Geschichts- und Sozialwissenschaften, München: DTV 1990, S. 141-168. Rüsen, Jörn: Lebendige Geschichte. Grundzüge einer Historik III: Formen und Funktionen des historischen Wissens, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1989. Rüsen, Jörn/Jordan, Stefan: »Mensch, Menschheit«, in: Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 8, Stuttgart, Weimar: Metzler 2008, Sp. 327-340. Schlözer, August Ludwig: Vorstellung seiner Universal-Historie (1772/1773), neu hg., eingeleitet und kommentiert von Horst Walter Blanke, Waltrop: Hartmut Spenner 1997. Ders.: Nestorъ. Russische Annalen in ihrer Slavonischen GrundSprache, Zweiter Teil, Göttingen: Heinrich Dieterich 1802. Ders.: Allgemeines StatsRecht und StatsVerfassungslere, Erster Theil, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1793. Ders.: WeltGeschichte nach ihren HauptTheilen im Auszug und Zusammenhange, Zweiter Theil, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1789. Ders.: WeltGeschichte nach ihren HauptTheilen im Auszug und Zusammenhange, Erster Theil, Göttingen: Verlag der Witwe Vandenhoeck 1785. Ders. (Hg.): Neue Erdbeschreibung von ganz Amerika, Erster Theil, Göttingen, Leipzig: Weygandsche Buchhandlung 1777.

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DIE UNIVERSALGESCHICHTSSCHREIBUNG AUGUST LUDWIG SCHLÖZERS

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Bildrechte Foto: Gleilson Miranda Bild, América: Pinacoteca do Estado de São Paulo/Brasilien.

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» Pre paring ourselve s for free dom« . The Contribution of Literature to Ide ntit y Construction. Tw o South Afr ica n Ex amples KATJA BENDELS

Abstract With the demise of apartheid, South Africa found itself at a turning point in its history, which has necessitated a re-negotiation of the identities and self-concepts of all its citizens. In this process, literature can play a pivotal role. Since all works of literature are necessarily produced within a specific historical and cultural context, the reading and analysis of these works enables us to look into culturally sanctioned systems of ideas, beliefs, presuppositions and convictions constituting collective mentalities and identities. In this essay I will make use of the autobiographical accounts of two white South Africans in order to demonstrate two different ways of constructing personal identity via literary writing: While My Winds of Change by Wilhelm Verwoerd has been written to explain a particular choice and to invite others to follow his example, Antjie Krog’s narrative Country of My Skull is an example of identity construction by writing.

In recent decades of scholarly discourse, narrative has become increasingly recognised as a primary embodiment of our understanding of the world and of ourselves. It appears to offer a form of understanding of human experience, individual and collective, that is not equally open to

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other forms of exposition or analysis.1 As Birgit Neumann and Ansgar Nünning sum up the discussion on narrative identity, »[o]ur experience and knowledge are not simply given or naturally meaningful; rather they must be ordered, articulated, and interpreted – i.e. narrated – to become meaningful. When we tell stories we impose order on chaotic events, structuring heterogeneous lived experience.«2

In other words: Narratives enable us to place isolated events or experiences in context and thus facilitate understanding. Paul Ricoeur calls this creative act mise en intrigue, Hayden White refers to it as emplotment.3 Emplotment is not simply a reproduction of reality but an operation, an integrating process that borrows from life and transforms it, offering a medium of reflection through which self-understanding can be achieved. Thus, by telling stories about ourselves and our lives to ourselves and others, we continuously re-invent ourselves. The stories that we tell may vary according to situational factors, but they are basically the result of continual selfcreation, which again affects the future stories we tell. It is therefore not surprising that, in the course of the discussions about the best way to unite a hitherto segregated country, Albie Sachs in his famous paper »Preparing Ourselves for Freedom« claims that in South Africa, with its variety of cultures, ethnicities, languages, creeds and ways of life, the creation of national unity can only be achieved »while fully recognising the linguistic and cultural diversity of the country«.4 In this process, he maintains, the arts, and among them literature, can serve as a pivotal device in the debate about a common South African identity.5 While aesthetically highly condensed and resorting to a broad spectrum of aesthetic devices, all works of literature have, just like our personal narratives, necessarily been produced within a specific 1 2

3

4

5

Cf. Anthony Paul Kerby: Narrative and the Self, Indianapolis: Indiana University Press 1991, p. 3. Birgit Neumann/Ansgar Nünning: »Ways of Self-Making in (Fictional) Narrative: Interdisciplinary Perspectives on Narrative Identity«, in: Birgit Neumann/Ansgar Nünning/Bo Pettersson (eds.), Narrative and Identity. Theoretical Approaches and Critical Analyses, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2008, p. 3-22, here p. 5. Cf. Paul Ricoeur: Time and Narrative. Translated by Kathleen Blamey and David Pellauer. 3 vols. Chicago: University of Chicago Press 1984-88, vol. 1, p. 31, and Hayden White: Metahistory, Baltimore: John Hopkins University Press 1987, p. 7. Albie Sachs: »Preparing Ourselves for Freedom«, in: Ingrid de Kok (ed.), Spring is Rebellious. Arguments about Cultural Freedom 1990, p. 19-29, here p. 24. Cf. ibid., p. 19.

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historical and cultural context and within particular discursive formations and practices.6 Since they are thus inevitably rooted within the cultural mentality and ideology prevalent in the subject’s environment, the analysis of these works, to refer to Ansgar Nünning and Birgit Neumann again, consequently »allows insight into culturally sanctioned systems of ideas, beliefs, presuppositions and convictions which constitute collective mentalities and identities«. It is therefore exactly in literary fiction and its adherence to traditional plot-lines, myths and metaphors that »conventionalized presuppositions, biases, values, and epistemological habits find their most succinct expression«.7

Au t o b i o g r a p h y In a discussion of narrative identity construction, the literary genre of autobiography naturally takes a prominent position, since it can be regarded as a written version of the general process of self-narration. In white South African writing autobiography has always played a dominant role and has even experienced a new wave of popularity since the demise of apartheid.8 Many contemporary autobiographical accounts focus on the attempt to adjust to a new political dispensation; Judith Lütge Coullie and her colleagues refer to them as »memoirs-as-self-interrogation«.9 Especially for white South Africans this means that, before attempting to integrate themselves into a changed society, they feel the need to review and question the past and their personal involvement in it as apartheid’s beneficiaries. These accounts mostly explore the possibility of achieving reconciliation and grapple with the insertion of the self 6

7 8

9

Cf. Stuart Hall: »Introduction: Who Needs ›Identity‹?« in: Stuart Hall/Paul du Gay (eds.), Questions of Cultural Identity, London: SAGE Publications 1996, p. 1-17, here p. 4. Both quotations from B. Neumann/A. Nünning: Ways of Self-Making in (Fictional) Narrative, p. 5. For a detailed discussion of the genre of autobiography in South Africa cf. Judith Lütge Coullie/Stephan Meyer/Thengani H. Ngwenya/Thomas Olver (eds.): Selves in Question. Interviews on Southern African Auto/biography, Honolulu: University of Hawai’i Press 2006. For a brief historical overview of autobiographical writing in general cf. Robert Folkenflik: »Introduction: The Institution of Autobiography«, in: Robert Folkenflik (ed.), The Culture of Autobiography. Constructions of SelfRepresentation, Stanford: Stanford University Press 1993, p. 1-21. Judith Lütge Coullie/Stephan Meyer/Thengani H. Ngwenya/Thomas Olver: »Auto/biographical Identities: Placing Selves in Question«, in: Judith Lütge Coullie/Stephan Meyer/Thengani H. Ngwenya/Thomas Olver (eds.), Selves in Question, p. 1-81, here p. 36. 147

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into a changed political, social and cultural situation.10 The accounts of Wilhelm Verwoerd and Antjie Krog, which will be discussed in the following, fall under this category. When people think of an autobiography, they generally have in mind what Wilhelm Verwoerd describes as a text »written by important people, generally at an advanced stage of their life« and as »a reflection on one’s life as a whole«, telling one single story in a »relatively cohesive, chronological order«.11 The options for writing an account of one’s life are, however, manifold. Autobiographies can range from a simple succession of events to a confessional rite of passage narrative in which one sets out to achieve self-awareness and understanding by analysing one’s way of life, thoughts, decisions and experiences. It might entail an apology for or explanation of certain choices or acts, like My Winds of Change12 by Wilhelm Verwoerd; its focus of attention might range from a very narrow view on a person’s psychological development to a presentation of one’s socio-political environment, exhibiting historicocultural traits, like Antjie Krog’s Country of My Skull.13 And although a lot of autobiographies are still written in old age, focus on past achievements and regard the position from which these accounts are told as, to a certain extent, the end of a lifelong personal development, there is also a tendency towards writing one’s autobiography earlier in life. Especially in South Africa, writers of self-narration not only regard the accounts one generates of the past as a method to gain understanding about oneself in the present, but also as a way of fathoming future action and development. Thus, neither Verwoerd nor Krog use their autobiographical accounts to tell the stories of their lives; both rather focus on a limited period of time in which they experienced important changes in the constitution of their identities. Additionally, their accounts have been written not at an advanced age but at a stage in life when the engagement with the past also generates an outlook on future developments. This combination of focussing on the events that triggered an engagement with and consequently a change in the authors’ notions of themselves as white South Africans with their outspoken references to future implications make these two autobiographical narratives relevant examples for an analysis of identity construction in white South African literature. 10 Ibid., p. 35. 11 J. Lütge Coullie/S. Meyer/T.H. Ngwenya/Th. Olver: Auto/biographical Identities, p. 13. 12 Wilhelm Verwoerd: My Winds of Change. Translated by Herman Fourie, Randburg: Raven Press 1997. 13 Antjie Krog: Country of My Skull, London: Vintage 1999. 148

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Wilhelm Verwoerd and Antjie Krog have both been brought up within the Afrikaner culture. Yet, while the former is a descendent of the notorious architect of apartheid, Hendrik Frensch Verwoerd, and was thus raised in a very conservative background, Antije Krog describes a rather liberal Afrikanerdom in her family. Both writers adhere to and try to measure up to the ideals of the ›new‹ South Africa and have welcomed the change in politics. Both of them worked for the South African Truth and Reconciliation Commission and were clearly influenced by its policies of confession and reconciliation. However, while both texts emerge from positions of conflicted identification with – and rejection of – Afrikaner nationalism and describe the experience of shame and guilt on their way to a tentative self-reconciliation and the acceptance of their (reconstituted) identities, they differ greatly in their intentions as well as their outlook on the future. My Winds of Change describes the successful change of an overly Christian Afrikaner-Nationalist into an active member of the African National Congress (ANC)14. It tells of a dramatic break with his old life and a confident and wholehearted conversion into a new person. Verwoerd repeatedly states that his resolution to write this autobiographical account resulted from his father’s absolute rejection of his membership in the ANC, and that his book is to be an attempt to explain his choices not only to his family but also to all people of his culture who cannot understand his decision. Thus, while his work speaks of self-doubts, insecurity and relapses, it was still written after all these obstacles have been overcome. Antjie Krog’s account is very different, more tentative and complex, more confused and confusing. Before the backdrop of the Truth Commission she presents a woman who sets out to investigate her own identity as a white, Afrikaans-speaking South African and her place in the new, changed society. Her book was mainly written as a therapeutic activity, a tool that was to help her come to terms with the experiences she made during the 1990s. As the following analysis will show, in contrast to Verwoerd, her account remains without a definite answer to the question: Who am I and how can I belong?

14 The ANC has been South Africa’s governing party since 1994. It was founded in 1912 to defend the rights and freedom of the African population against white domination and played a crucial role in the abolition of apartheid. 149

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W i l h e l m V e rw o e r d , My W i n d s o f C h a n g e Wilhelm Verwoerd was socialised into a proud, self-confident, strongly religious and conservative Afrikanership. His decision in 1992 to join the ANC and to support the struggle of the African majority against the apartheid government therefore, not surprisingly, generated a lot of interest and ill-feeling not only from his fellow Afrikaners but also from his own family. In his book, Verwoerd now sets out to narrate the story of his conversion from what he calls an »overly Christian, AfrikanerNationalist«15 to a »›pigment poor‹ ›afrika-ner‹«16 with the intention of explaining the choices he made.17 Written in the Christian confessional tradition, My Winds of Change is a self-narrative addressed to a god as much as to a reading audience and can thus be described as a »conversion-confession«.18 It exhibits the general development of the confessional genre that Mark Freeman, in free appropriation of Paul Ricoeur’s hermeneutics, divides into the four stages of recognition, distanciation, articulation and appropriation. The first phase of all developmental processes is the recognition that, to use Freeman’s words, »all is not well« in a person’s life, that there is a discrepancy between the life one is living and the life one might lead. From this realisation of what is amiss follows a phase of distanciation, which entails a tentative identification of the nature of the specific problems and conflicts as well as a growing separation from them. It is a phase of »separation of self from self« in which former experiences become the object of interpretation and analysis. This interpretation and growing certainty of what one does not believe in and does not want to be leads to a period of articulation, in which the subject clarifies for himself/herself what kind of person he/she has to become in order to resolve the existing inner conflicts. In the last stage of the process, the appropriation of his new insights, the resolution can then be put into action. This final stage entails the settlement of a conflict, the release from former bounds while simultaneously opening the door to a new way of life, a new beginning.19

15 Verwoerd in Stephan Meyer: »Philosophical Reflections on Chronicles of Conversion. Wilhelm Verwoerd interviewed by Stephan Meyer«, in: J. Lütge Coullie/S. Meyer/T.H. Ngwenya/Th. Olver (eds.), Selves in Question, p. 366-378, here p. 368. 16 W. Verwoerd: My Winds of Change, p. 67. 17 Cf. S. Meyer: Philosophical Reflections, p. 368. 18 Ibid., p. 366. 19 Cf. Mark Freeman: Rewriting the Self. History, Memory, Narrative, London: Routledge 1993, p. 44-45. 150

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Verwoerd’s development begins with his socialisation into what he calls »proud and arrogant White Afrikanership«.20 In a paper recently given at a conference in London, he describes the consciousness in which he was raised: »I grew up with a perception of myself as a member of a minority ›victimized‹ by ›British imperialism‹. I was only reminded of the horror done to people I saw as ›my people‹. Infused with this narrow, exclusivist remembrance it became more difficult to see the many horrors done by ›my people‹ – during what is more appropriately known as the ›South African War‹ (1899-1902), but especially during the apartheid years.«21

Verwoerd’s account of his youthful enthusiasm for the hieratic and doctrinaire teachings of the Dutch Reformed Church (DRC)22 and his unquestioning adoption of his family’s conservative Afrikanership and political views read like a biblical ›life in sin‹ and are deliberately set side by side with the suffering in black South Africa. This strengthens the impression that the author is eager to distance himself from his thirteenyear-old counterpart and accuses him of arrogance and ignorance. Thus, for example, he relates his birth in February 1964 to the »time when the dark, long years of Mandela and others on Robben Island were just starting«.23 After introductory studies at the University of Stellenbosch,24 Verwoerd leaves the country in 1986 in order to pursue a Masters Degree in Europe. With his departure from South Africa and from a close-nit corset of ethnicity, race, tradition and family expectations, the time is now ripe for the first step in his »process of ›personal reconstruction and development‹«.25 Verwoerd comes into contact with people who are much better informed about the situation in South Africa and who repeatedly confront him with the existence (!) and the brutal and degrading methods of the Security Police in the name of the Afrikaners’ safety and 20 W. Verwoerd: My Winds of Change, p. 5. 21 Wilhelm Verwoerd: »Truth, Justice and Reconciliation? Inclusive Remembrance and the South African Truth and Reconciliation Commission«, paper presented at the Conference on Truth Discovery in Divided Societies, St Ethelburga’s Centre for Reconciliation and Peace 2008. Available from http://www.rec.crestcons.org.uk/Co80206e%20Wilhelm% 20Verwoerd%20Paper.pdf accessed on 11.03.2008. 22 The DRC, among others, provided the moral and philosophical underpinnings for Nationalist apartheid policies. 23 W. Verwoerd: My Winds of Change, p. 7. 24 For many decades, Stellenbosch University served as the leading intellectual home of Afrikaner Nationalism. 25 W. Verwoerd: My Winds of Change, p. 3. 151

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well-being. After many long and tiresome discussions with his housemates, he has to admit: »In the end I realised that I was trying to exculpate myself and wondered whether I was really prepared to sacrifice my privileged, peaceful, comfortable lifestyle to assist the suffering and oppressed? Were we not trying to soothe ourselves with arguments, charity, not realising that for most blacks this was not enough?«26

This insight marks the beginning of the phase of recognition, in which the young man realises that all the ›facts‹ and certainties, all the norms and beliefs that he has been brought up with and that have up to this moment formed a constitutive part of his identity, have been based on lies; lies the DRC and government told about what was happening in South Africa and their involvement in it, lies the Church told about God and his commandments, lies told by his family and teachers.27 This collapse of his belief system necessarily brings about a strong sense of insecurity and the feeling of no longer knowing who he actually is, and he wonders whether he should really make use of all the opportunities to gain this sort of information, as it necessarily forces him to regard with different eyes both South Africa and his whole being, which is so closely connected to his home country.28 The second phase of his process of conversion, a phase of distanciation from his old self and former frame of reference, is closely intertwined with his recognition that for the last twenty years he has – as Freeman writes – been »living a narrative that others wrote«.29 Distancing himself from the notion that his grandfather’s intentions of Separate Development were noble and that the current problems were only due to some minor mistakes by a legitimate government, he realises that apartheid is and always was wrong and a crime against humanity.30 This revelation leads to an increasing dissociation from the views and politics of conservative Afrikaners such as his parents, from the teachings of the DRC, and from the reverence with which his family has always defended his grandfather’s policies. His family name and history become a »crippling burden«, immobilising him with an oppressive sense of guilt.31 Verwoerd experiences an inevitable self-loss while he is search-

26 27 28 29 30 31

Ibid., p. 19-20. Verwoerd in S. Meyer: Philosophical Reflections, p. 371. W. Verwoerd: My Winds of Change, p. 24. M. Freeman: Rewriting the Self, p. 33. W. Verwoerd: My Winds of Change, p. 47. Ibid., p. 108.

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ing for new directions, for a new self. His search leads to a thorough and almost obsessive research into the person and politics of Hendrik Frensch Verwoerd, which finally strengthens his awareness of the positive potential of the blood in his veins. He slowly begins to accept the responsibility to try and make a contribution to reconciliation instead of separation and finally succeeds in »converting destructive guilt feelings into a more constructive acceptance of responsibility«,32 which marks his transition into the third phase of articulation. Through encounters with black (South) Africans, Verwoerd also receives more insight into the problem of ethnicity, and with the help of a friend realises that the time has come for the Afrikaner to stop being ashamed of his Afrikanerness and to start working towards solutions »to save what we can«.33 He decides to free himself from a static understanding of his Afrikaner identity and resolves that from now on he will no longer define it »in terms of one or other combination of unique characteristics (language, customs, view of history etc.)«, will no longer understand it »as a noun but as a verb: an identification with ›the people‹ and their problems«.34 Being an Afrikaner now means for him »›to engage with African suffering‹ […]. In other words to identify with people, particularly ›the people‹ in their suffering and oppression; to try and make a contribution to ›Reconciliation, Reformation and Development‹ in an Africa that seems to be ›beyond liberation‹. […] For me, Afrikanership with a capital ›A‹ was being replaced with a lower-case afrika-nership.«35

It is noteworthy that his understanding as an »afrika-ner« is still strongly connected to an identification with the oppression and suffering of his »fellow persons«36 that must strike the reader as patronising. Only in his conclusion does Verwoerd qualify this picture by no longer emphasising the pain and need for help of black South Africans, but the creative power and the gift of cultural and ethnic diversity in South Africa. With his repeated reference to Albert Luthuli’s famous vision of South Africa as »a home for all her sons and daughters […] a home for men who are black, white, brown, from the ruins of the old narrow groups, a synthesis of the rich cultural strains which we have inherited«37 – which by the way closely corresponds to Albie Sachs’s line of argument – Verwoerd

32 33 34 35 36 37

Ibid., p. 128. Ibid., p. 46. Ibid., p. 97. Ibid., p. 100-101. Ibid., p. 101. Ibid., p. 166. 153

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finally expresses his conviction that only an understanding and acceptance of South Africa’s cultural pluralism can lead to future synthesis and reconciliation. He sees in his involvement with the ANC »a beginning of an answer to the question: What does it mean, for me, today, to be a son of (South) Africa?« and knows that »if the ANC fails to embody Luthuli’s vision, I fail to see how we and our sons and daughters will be able to LIVE, to be at home in (South) Africa«.38 This very pragmatic explanation of a rather self-centred reason for his involvement with the ANC sounds much more honest and egalitarian than the magniloquent assertion that the suffering black majority needs his help. Even though he claims that, naturally, his process of inner integration is never really completed, Wilhelm Verwoerd’s account speaks of a man who has left behind his old life and his identity as Afrikaner in favour of a new, ›white African‹ identity. His account was thus only to a small extent propelled by a personal quest for a new sense of self. As he states in his introduction, from the outset the main objective and the factor that was of crucial importance throughout the writing process was to gain understanding and to be accepted again by his father, who disowned his own son after receiving news about his membership in the ANC. By larger implication, the Afrikaans edition, published in 1996,39 was an apology for and confession of the choices he had made and thus turned out to be more than the intended letter to his father.ŚŖ It was thus fuelled by the wish to be accepted by all of the many Afrikaans people who responded so critically to his decision, accusing him of being a traitor to the nation and telling him that he was no longer a Christian, no longer one of them.Śŗ The English edition, published one year later, was mainly influenced by his experiences during the 1994 elections, especially the people’s reactions to his speeches: »I began to realize how essential it was for those who had suffered under the apartheid regime to hear and understand where someone like me had come from«.ŚŘ It was thus at the same time also a personal search for acceptance within the black community in South Africa, hoping for them to recognise him and accept him for what he is, »white, Afrikaans, Christian, man«.Śř

38 Ibid., p. 166. 39 Wilhelm Verwoerd: Viva Verwoerd? Kronieke van ’n keuse, Cape Town: Human and Rousseau 1996. 40 Cf. Verwoerd in S. Meyer: Philosophical Reflections, p. 368. 41 Cf. ibid., p. 376. 42 Ibid., p. 376. 43 Ibid., p. 377. 154

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An t j i e K r o g , C o u n t r y o f My S k u l l In contrast to Wilhelm Verwoerd, who has obviously found his answer to the question of his South-African identity, Antjie Krog’s account is still concerned with the search for her identity and her place within a changed society. After covering the proceedings of the South African Truth and Reconciliation Commission, which toured the country from 1996 to 1998, as head of the national radio team, Krog decided to write down her experiences and now offers her readers the narrative account of a white woman’s individual attempt to become part of the national process of creating a new, commonly shared South African identity. A crucial part of this process, as will be shown in the following, was to come to terms with an essential but hitherto strongly rejected part of herself, namely her Afrikaner identity. While, just like My Winds of Change, Krog’s account expresses the forceful wish to belong, to become part of the future in South Africa, it also speaks of the difficulties and problems of this endeavour and is an account of only partial success and the realisation that the ideal of reconciliation and healing might perhaps only be possible provisionally.44 In the beginning of her narrative, A.45 has already – and for many years – strongly distanced herself from her Afrikaner heritage and deliberately cut all connections to ›her people‹. Under the impact of the hearings, the codes and norms, which she has established for herself in this process and that have so far ensured her integrity, are now seriously threatened, especially when after decades of internal distancing from all that can be associated with the leaders and supporters of apartheid, the Amnesty Hearings force her to come face to face with the perpetrators of apartheid’s atrocities: »It’s them! It’s truly them … I go cold with recognition. That specific salacious laughter, that brotherly slap on the hairy shoulder, that guffawing circle using a crude yet idiomatic Afrikaans. The manne. More specifically: the Afrikaner manne. […] Aversion. I want to distance myself […] They are nothing to me […] I am not of them. […] I find myself overcome with anger. Anger for being caught up in their mess. Watching them out of the corner of my eye, trying to act normally, laughing, smoking – a slushy fear invades me.«46 44 Cf. Carli Coetzee »›They never Wept, the Men of my Race‹: Antjie Krog's Country of My Skull and the White South African Signature«, in: Journal of Southern African Studies 27/4 (2001), p. 685-696, here p. 692. 45 Krog deliberately avoids setting up any too direct correspondence between herself and her protagonist. I will return to this issue in a short while; for now, and for the sake of clarity, I refer to the protagonist as A. 46 A. Krog: Country of My Skull, p. 134-135. 155

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The emphasis set on »them« in contrast to A.’s »I« shows the deep rupture and desperate struggle to distance herself from what others regard as ›her people‹. But when the hearings begin, in spite of her repugnance, an inner force draws her closer to these men in order to study them more deeply, looking for signs that reveal the characteristics of a killer, »the Face of Evil«47 that may prove to herself how different these men are from her. What she finds, though, is the striking awareness of a deep inner connection: »What do I do with this? They are as familiar as my brothers, cousins and school friends. Between us all distance is erased. Was there perhaps never a distance except the one I have built up with great effort within myself over the years? From the faces alone I can tell who was taken up in the Broederbond, who is a Rapportyrer, a Ruiterwag, who is working class. […] From the accents I can guess where they buy their clothes, where they go on holiday, what car they drive, what music they listen to. What I have in common with them is a culture – and part of that culture over decades hatched the abominations for which they are responsible. […] In a sense it is not these men but a culture that is asking for amnesty.«48

What for Wilhelm Verwoerd is his biological bond with his family and people that forces him to turn the »crippling burden«49 of his heritage into a tool for integration and reconciliation, for Krog turns out to be the cultural connection. The realisation that she does share with these men many aspects that have been and still are crucial to her selfunderstanding and identity equally force A. to shed her aversion and direct her energy towards reconciliation and the declared aim of the Commission to create a new, commonly shared South African identity. Her story tentatively ends with a powerful declaration of love and her claim of »fierce belonging«50 to the African continent, which might lead the reader to assume that A.’s development is concluded. It is, however, not that simple, and this moment of belonging and contentment reveals itself as but a brief spell of bliss. Already the epilogue to her narrative qualifies her enthusiasm with its descriptions of the difficulties, misunderstandings and still prevailing hostility among South Africans, and an attentive reader also stumbles over further indicators qualifying A.’s ecstatic ending to her narrative. The most obvious of them is the identity of the author/protagonist herself. Bold letters on 47 48 49 50

Ibid., p. 135. Ibid., p. 144. W. Verwoerd: My Winds of Change, p. 108. A. Krog: Country of My Skull, p. 421.

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the title page of the book announce Antjie Krog as its author, while the copyright is issued in the name of Antjie Samuel. Yes, we are talking about one and the same person, but why does she use two different names in one and the same publication? In an interview with Gillian Anstey, Krog explains that she generally uses her married identity, Antjie Samuel, for her work as a journalist, while she publishes her poetry and other literary works under her maiden name, Krog: »I want to be Samuel at times […] just someone’s wife. […] As a reporter I am supposed to speak in correct Afrikaans. But I don’t. I speak a lekker Anglicised Afrikaans and I can’t report in that. So my reporting is un-me, unKrog, un-poetic. I see Samuel as the obedient surname that obeys the codes of the SABC and of language, the rules of the game. Krog is the disobedient surname. […] But the older I get, the more difficulty I have in keeping the two apart.«51

One should keep in mind that A.’s English surname Samuel corresponds to her attempts at cutting herself off from an Afrikanerdom that is so often associated with the atrocities of apartheid, while her »disobedient« name Krog identifies her not only as a popular Afrikaans poet but is also still the name of her father and thus connects her to exactly this same Afrikanerdom she resents so much. This »double signature« and »divided identity«, to use Carli Coetzee’s words,52 strengthen the impression of a fragmented self that has not yet been integrated. In this context it is also noteworthy that Country of My Skull is dedicated to »every victim who had an Afrikaner surname on her lips« and that it was not published in her mother tongue Afrikaans but in English. In an interview with Yvette Christiansë and Karen Press, Krog explains that she would compose the text in Afrikaans during the first part of the week, and during the second part, working on a split screen, she would translate her composition into English »because Afrikaans didn’t want that book«.53 Carli Coetzee reads this deliberate play with the contradictory allusions to her Afrikaner surname, the dedication to a victim who has suffered 51 Gillian Anstey: »When Truth Hurts the Heart«, in: Sunday Times, 23 May 1999, p. 10. Available from http://www.suntimes.co.za/1999/05/23/news/ news28.htm accessed on 05.06.2002. 52 C. Coetzee: They never Wept, the Men of my Race, p. 686. 53 Krog in Yvette Christiansë/Karen Press »Down to my Last Skin. A Conversation with Antjie Krog. Interview with Yvette Christiansë and Karen Press«, in: Connect: Art, Politics, Theory, Practice (2000), p. 11-20, here p. 15, cited in Stephan Meyer »›the only truth that stands skinned in sound‹: Antjie Krog as Translator«, in: Scrutiny2 7/2 (2002), p. 3-18, here p. 7. 157

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under Afrikaner brutalism, and the fact that she intentionally defies the Afrikaans language by writing in English as »a powerful statement about discontinuity, about the inability to continue with things as they were before«.54 I suggest that one might rather want to read it as the affirmation that the attempted reconciliation of a divided self could not be established. This inner conflict becomes evident when, despite her decision to write in English, she studs the text with Afrikaans words and phrases not only when there is no adequate translation in English, but also in situations where only the Afrikaans language seems capable of offering solace in despair. The most obvious example offers a scene in which A. escapes from the broadcasting room filled with the victims’ narratives of pain and suffering and finds herself on the stoep outside, recounting the names of indigenous flowers in Afrikaans: »I gasp for breath. Like two underwater swimmers, my eyes burst out to the horizons … the mountains, lit in a blushing light-blue hedge of peace. I am drowning. My eyes claw at the trees, the kloofs … see, smell … the landscape of paradise and a language from paradise: mispel, maroula, tarentaal, I whisper. The air is drowsy with jasmine and kanferfoelie […].«55

A.’s ambiguous use of two surnames in marking the authorship of the book and the decision to publish it in English, as well as a critical epilogue are only a few devices employed by Antjie Krog to counter an ostensibly euphoric ending to her main narrative and to express a high degree of doubt and inner conflict that has not been resolved. In contrast to the self-confident, almost persuasive account by Verwoerd, Krog’s narrative contributes to the national discourse on South African identity construction not by offering answers but by providing insights into her own as yet unsuccessful attempts to integrate the various facets of her personality, heritage and culture into one whole self.

Conclusion Within the context of the multiple South African endeavours to redefine a national identity, Antjie Krog and Wilhelm Verwoerd have both freed themselves from the defining and confining racial categories of apartheid and set out to develop a new, more open and encompassing iden-

54 C. Coetzee: They never Wept, the Men of my Race, p. 688. 55 A. Krog: Country of My Skull, p. 73. 158

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tity.56 Yet, while both writers describe a very similar rite of passage and a change in their consciousness as Afrikaners, their answers and their motivations for writing differ greatly. Thus while Verwoerd relates a period of his life that is for the most part concluded and speaks of a dramatic break with his old nationalist-Afrikaner life in favour of his new Africanisation, Krog speaks of this process in more complex ways. Her narrative is less openly persuasive but rather reads like a tentative and still provisional contribution to the broader debate about the future of whites in South Africa, unable to offer a possible solution or an answer. As Carli Coetzee observes, her account »exhibits a high degree of self-doubt and an acute awareness that a new identity for white South Africans may only be possible provisionally, at certain moments«.57

Works Cited Anstey, Gillian: »When Truth Hurts the Heart«, in: Sunday Times, 23 May 1999. Available from http://www.suntimes.co.za/1999/05/ 23/news/news28.htm accessed on 05.06.2002. Christiansë, Yvette/Karen Press: »Down to my Last Skin. A Conversation with Antjie Krog. Interview with Yvette Christiansë and Karen Press«, in: Connect: Art, Politics, Theory, Practice (2000), p. 11-20. Coetzee, Carli: »›They never Wept, the Men of my Race‹: Antjie Krog’s Country of My Skull and the White South African Signature«, in: Journal of Southern African Studies 27/4(2001), p. 685-696. Coullie, Judith Lütge/Stephan Meyer/Thengani H. Ngwenya/Thomas Olver (eds.): Selves in Question. Interviews on Southern African Auto/biography, Honolulu: University of Hawai’i Press 2006. Coullie, Judith Lütge/Stephan Meyer/Thengani H. Ngwenya/Thomas Olver: »Auto/biographical Identities: Placing Selves in Question«, in: Coullie/Meyer/Ngwenya/Olver (eds.), Selves in Question. (2006), p. 1-81. Folkenflik, Robert: »Introduction: The Institution of Autobiography«, in: Robert Folkenflik (ed.), The Culture of Autobiography. Constructions of Self-Representation, Stanford: Stanford University Press 1993, p. 1-21. Freeman, Mark: Rewriting the Self. History, Memory, Narrative, London: Routledge 1993.

56 J. Lütge Coullie/S. Meyer/T.H. Ngwenya/Th. Olver: Auto/biographical Identities, p. 35. 57 C. Coetzee: They never Wept, the Men of my Race, p. 692. 159

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Hall, Stuart: »Introduction: Who Needs ›Identity‹?« in: Stuart Hall/Paul du Gay (eds.), Questions of Cultural Identity, London: SAGE Publications 1996, p. 1-17. Kerby, Anthony Paul: Narrative and the Self, Indianapolis: Indiana University Press 1991. Krog, Antjie: Country of My Skull, London: Vintage 1999. Meyer, Stephan: »›the only truth that stands skinned in sound‹: Antjie Krog as Translator«, in: Scrutiny2 7/2(2002), p. 3-18. Meyer, Stephan: »Philosophical Reflections on Chronicles of Conversion. Wilhelm Verwoerd interviewed by Stephan Meyer«, in: Coullie/Meyer/Ngwenya/Olver (eds.), Selves in Question. (2006), p. 366-378. Neumann, Birgit/Ansgar Nünning: »Ways of Self-Making in (Fictional) Narrative: Interdisciplinary Perspectives on Narrative Identity«, in: Birgit Neumann/Ansgar Nünning/Bo Pettersson (eds.), Narrative and Identity. Theoretical Approaches and Critical Analyses, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2008, p. 3-22. Ricoeur, Paul: Time and Narrative. Translated by Kathleen Blamey and David Pellauer, 3 vols, Chicago: University of Chicago Press 198488. Sachs, Albie: »Preparing Ourselves for Freedom«, Ingrid de Kok (ed.), Spring is Rebellious. Arguments about Cultural Freedom, Cape Town: Buchu Books 1990, p. 19-29. Verwoerd, Wilhelm: »Truth, Justice and Reconciliation? Inclusive Remembrance and the South African Truth and Reconciliation Commission«, paper presented at the Conference on Truth Discovery in Divided Societies, St Ethelburga’s Centre for Reconciliation and Peace 2008. Available from http://www.rec.crestcons.org.uk/ Co80206e%20Wilhelm%20Verwoerd%20Paper.pdf accessed on 11.03.2008. Verwoerd, Wilhelm: My Winds of Change. Translated by Herman Fourie, Randburg: Raven Press 1997. Verwoerd, Wilhelm: Viva Verwoerd? Kronieke van ’n keuse, Cape Town: Human and Rousseau 1996. White, Hayden: Metahistory, Baltimore: John Hopkins University Press 1987.

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Huma nität im Ex il: Die Zuw anderung mexikanischer Indianer in den Südw esten der US A und de r Aufbau eine r transnationa le n Identität AARÓN GRAGEDA BUSTAMANTE

Abstract Drawing on ethnographical observations, newspaper articles and selected writings, the present paper describes several integration strategies that have been continuously developed throughout the last thirty years by South Mexican natives who migrate to California. Although in this process of cultural assimilation they had to transform their own identity, customs and habits, the article shows that in the epoch of globalisation, this phenomenon does not necessarily entail fatal consequences for the parent culture. As this case study attempts to demonstrate, the departure from the home villages and the re-appreciation of ethnic values in exile have also contributed to the bettering of local relations between those very same Indians in South Mexico. Accordingly, the author makes a plea for a reassessment of migration under a humanitarian perspective, which would facilitate reconciliation between such aspects as ethnicity, national interest, and cultural diversity.

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In einem Zeitungsartikel der New York Times vom 22. Mai 1989 beschreibt der Verfasser die Lage auf den Anbaufeldern von San Luis Rey im Bundesstaat Kalifornien mit folgenden Worten: »Auf den Erdbeerplantagen, die sich hier über die Hügel hinaus ausdehnen, sieht man überall die Rücken mixtekischer Indigene wie Punkte auf einem Teppich. […] Sie sind die Nachkommen einer stolzen Zivilisation Altmexikos, die hierher in großer Zahl einwandern, um den niedrigsten Platz in der sozialen Pyramide Amerikas als Arbeitskräfte für den Ackerbau einzunehmen.«1

Im Folgenden werde ich versuchen, den komplexen Prozess zu beleuchten, vermittels dessen eine spezifische Gruppe von Ureinwohnern aus Südmexiko, die sogenannten Mixteken, auf der Suche nach einer Überlebensstrategie ihre eigene ethnische Beschaffenheit – nicht ohne große Schwierigkeiten – im Zuwanderungskontext verändern und dabei nicht selten ihre Identität neu konzipieren. Am Beispiel ethnographischer Forschung und primärer Quellen möchte ich hier nicht nur zeigen, wie die uralte Beziehung zwischen Erde, Religion und lokaler Zugehörigkeit, die diese Gruppe von Ureinwohnern kennzeichnet, im Zeitalter der Globalisierung eine neue Aktualität erhält, sondern auch, wie unser bisheriges Wissen über Ethnizität erweitert werden kann. Humanität, wie hier gezeigt wird, bezieht sich auf Differenzen. Diese sind die Grundlage aller menschlichen Identität, die ihrerseits das Leben human macht. Darauf aufbauend verdeutlicht dieser im Rahmen der Diskussion um Humanismus stehende Beitrag, wie sich Einheimische Lateinamerikas über Kultur im Exil um Anerkennung bemühen. Die Zuwanderungsbewegung der Mixteka nach Kalifornien hat eine lange Geschichte, die sich faktisch bis Anfang der sechziger Jahre zurückverfolgen lässt.2 Dieses Phänomen begann damals als ein »Prozess der Indianisierung der Arbeitskräfte«3 in den modernisierten Anbaufeldern von Nordmexiko, der in den nächsten zwei Jahrzehnten illegal, aber vom Wirtschaftswachstum gefördert, den Südwesten der Vereinigten 1

2

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Seth Mydans: »Strawberry Fields Bear a New Immigrant Crop«, in: The New York Times vom 22. Mai 1989, S. 54. Übersetzung aller Zitate A.G.B. Vgl. James Stuart/Michael Kerney: Causes and Effects of Agricultural Labor Migration from the Mixteca of Oaxaca to California, La Jolla: University of California Press 1981, und Carol Zabin: Migración oaxaqueña a los campos agrícolas de California. Un diálogo, San Diego: University of California Press 1992. Silvia Escárcega/Stefano Varese (Hg.): La ruta mixteca. El impacto etnopolítico de la migración transnacional en los pueblos indígenas de México, México: UNAM 2004, S. 28.

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Staaten erreichte.4 Mitte der neunziger Jahre, einhergehend mit der radikalen Trennung zwischen Armen und Reichen, die die NAFTA (das Nordamerikanische Freihandelsabkommen) in den südlichen Regionen Mexikos verursachte, steigerte sich diese Tendenz.5 Seitdem tragen willige und relativ fügsame Tagelöhner indianischer Herkunft auf Kosten von Diskriminierung und menschenunwürdiger Lebensumstände sowohl zur Entwicklung der kalifornischen Wirtschaft als auch zur kulturellen Vielfalt dieses Bundesstaates bei. Mit über zehn Millionen sind die »Indianer« im Land die größte Bevölkerungsgruppe in Nordamerika.6 Im Süden von Mexiko liegt die Mixteka, die ärmste Region des mexikanischen Bundeslandes Oaxaca; ein Ort, an dem noch heute 48 Prozent der Bevölkerung nicht oder nur kaum die offizielle Landessprache Spanisch sprechen.7 Mitte der neunziger Jahre arbeiteten etwa 60 000 Mixteken im Bereich des Obst-und Gemüseanbaus im sogenannten Central Valley von Kalifornien.8 Die Anzahl von Zuwanderern aus der mexikanischen Region Oaxaca nach Kalifornien steigerte sich im Laufe des Jahrzehntes: sie stieg von 6 auf 10,9 Prozent. Daraus lässt sich schließen, dass, wenn 4

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Alejandra Leal: »La identidad mixteca en la migración al norte: el caso del Frente Indígena Oaxaqueño Binacional«, in: Amérique Latine. Histoire et Mémoire. Les Cahiers ALHIM 2 (2001), http://alhim.revues.org/index 610.html vom 18.05.2009. Jonathan Fox/Gaspar Rivera-Salgado: »Building Civil Society among Indigenous Migrants«, in: dies. (Hg.), Indigenous Mexican Migrants in the United States, La Jolla: Center for U.S.-Mexican Studies/Center for Comparative Immigration Studies/University of California 2004, S. 1-65, hier S. 2. Die Anzahl der Ureinwohner im Land wurde im Jahr 2000 auf 10 253 627 geschätzt. Die gesamte Bevölkerung Mexikos dagegen auf 97 483 412. Vgl. INI: »Indicadores socioeconómicos de los pueblos indígenas de México«, México: Instituto Nacional Indigenista 2002. Statt »Indigene«, was zumindest im spanischsprachigen Raum etymologisch mit dem Fehlbegriff »in Indien geboren« assoziiert ist, wird hier der Begriff »Indianer« in pragmatischem Sinne benutzt. Obwohl dieser in Mexiko üblicherweise verwendet wird, ist er dennoch negativ konnotiert, worauf im Folgenden noch eingegangen wird. Der Comisión Nacional para el Desarrollo de los Pueblos Indígenas zufolge sprachen im Jahr 2000 48 Prozent der Bevölkerung Oaxacas eine autochthone Sprache. Vgl. CDI-PNUD: Sistema de Indicadores sobre la población indígena de México, con base en el INEGI, XII Censo general de población y vivienda 2000. Alan Riding berichtete vor mehr als fünfundzwanzig Jahren, dass 50 Prozent der Oaxaqueños kein Spanisch beherrschten. Vgl. Alan Riding »In the Land of the Zapotecs and Mixtecs«, in: The New York Times vom 29. November 1981. Seth Mydans: »A New Wave of Immigrants On Farming’s Lowest Rung«, in: The New York Times vom 24. August 1995. 163

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die Tendenz weiter so bleibt, im Jahr 2010 in Kalifornien mehr als 20 Prozent der gesamten Arbeitskräfte im Bereich Ackerbau Indianer aus Südmexiko sein werden.9 Historisch betrachtet lebte die Mehrheit der Indianer, die in die USA zuwanderten, immer nur vorübergehend dort. Als die Überwachung der Grenze durch die amerikanische Armee nach den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 strenger10 und das illegale Übertreten der Grenze für die Zuwanderer in den Jahren danach entsprechend immer teurer wurde, gab es für die Indianer keine Alternative, als langfristig vor Ort zu bleiben. Unter diesen Umständen veränderte sich auch die Bedeutung und Praxis ihrer Kultur.11 In diesem Zusammenhang erklärt Inocencia Pérez, eine mixtekische Migrantin und Einwohnerin der kalifornischen Stadt Fresno, Folgendes: »Da wir nicht mehr die Gelegenheit haben, mit unseren Kindern regelmäßig in unsere Heimatdörfer zu verreisen, so dass sie von ihren Traditionen lernen könnten, organisieren wir die Feste unserer Heimat hier.«12 Es sind diese symbolischen und materiellen Verbindungen zwischen Herkunftsland und Exil, so lautet meine These, die zur Überwindung globalisierungsbedingter Konflikte beitragen können. Drei ausgesuchte Fälle können die Sinnlogik, vermittels derer die Mixteken sich mit ihren lokalen Werten in Verbindung setzen und auf der sie ihre Gruppenidentität außerhalb ihrer Herkunftsregion aufbauen, in ihrer transnationalen Komplexität einsichtig machen.

1. Das Radioprogramm »Die Mixtekische Stunde« Das langsam aber stetig zunehmende Zusammenfinden von Gruppen von Mixteken in der Nähe der Anbaufelder schaffte eine Grundlage für die Migranten, sowohl eigene Gemeinschaftsinteressen in der Öffentlichkeit zu vertreten als auch neue Formen ethnischen Ausdrucks zu 9

Ed Kissam: »Trends in the Ethnic Composition of the California Farm Labor Force«, in: Memo to the Agricultural Worker Health Initiative Policy Advisory Group vom 1. Juli 2003, o.S. 10 Peter Andreas: »The Tale of the Two Borders: The U.S.-Canada and the U.S.-Mexico Lines after 9-11«, in: Peter Andreas/Thomas J. Biersteker (Hg.), The Rebordering of North America, New York: Routledge 2003, S. 1ff. 11 J. Fox/G. Rivera-Salgado: Building Civil Society among Indigenous Migrants, S. 2. 12 Inocencia Pérez: »Fiesta patronal de San Miguel Arcángel«, in: El Tequio September-Oktober 2002, S. 18. 164

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verbreiten. Eine Initiative, die beide Aspekte bewusst fördert, ist das Projekt La Hora Mixteca, zu deutsch »die Mixtekische Stunde«. Im Jahr 1997 kam13 mit Unterstützung von Hugo Morales, dem in Oaxaca geborenen Begründer und Direktor von Radio Bilingüe, dem einzigen offiziell anerkannten Englisch-Spanischen Radiosender in den USA, die »Mixtekische Stunde zur Welt«.14 »Vor [einigen] Jahren klopfte jemand an meine Haustür, es waren drei Männer, die ich nie gesehen hatte. Sie wussten, dass meine Familie mixtekischer Abstammung war und wollten fragen, warum die Mixteken keine Stimme im Radio hatten. […] Die Mixtekische Stunde, ergab sich aus dieser Begegnung. Im Frühling 1997 stellte ich Filemon Lopez an […] Lopez war einer dieser drei Männer, [ein Mensch; A. G. B.] mit viel Erfahrung in der Materie Migration und ein guter Kenner seiner Muttersprache […] Er sollte aus diesen Gründen ein Programm für seine Landsmänner für Radio Bilingüe entwickeln.«15

Der so frisch eingestellte Radiomoderator spielte im Rahmen seiner Sendung traditionelle mixtekische Musik und organisierte einen Nachrichtenaustausch, indem er mixtekischen Anrufern von beiden Seiten der Grenze ein Forum gab, um über ihre Lage öffentlich diskutieren zu können.16 In seinem Programm tauchten zuerst Neuigkeiten über die Landsmänner von den Anbaufeldern Nordmexikos auf, später zahlreiche Informationen über die Verwandtschaft aus Oaxaca und über ihre Heimatdörfer. Viele Angelegenheiten, von den traditionellen Pflichten bis zum Kampf der Migranten für ein extraterritoriales Stimmrecht, wurden auf dieser Bühne thematisiert.17 Aber auch gesundheitliche Aspekte konnten in der Radiosendung angesprochen werden.18

13 Vgl.: Hugo Morales: »On Leadership. Filemon Lopez«, in: Grantmakers in the Arts Reader 17/3 (Winter 2006), Blatt o.S. Die »Mixtekische Stunde« wird auf der Frequenz 91,5 UKW vom Radiosender KSJV in Fresno, Kalifornien übertragen. 14 Bruce Occena: Radio Bilingüe Organizational Profile, Dokument der Stiftung Marguerite Casey, Berkeley: SMC 2005, S. 4. 15 Ebd., S. 7. 16 Ebd., S. 4. 17 Unter dem Namen »Hacia el voto 2004« wurde dieses Programm mit Unterstützung des FIOB (Frente Indígena Binacional Oaxaqueño) und etlicher Akademiker bei Radio Bilingüe durchgeführt. 18 Stephen Magagnini: »Radio gives Mixtecs their own voice. ›La Hora Mixteca‹ reaches out across California«, in: The Fresno Bee vom 20. Oktober 2002, S. 17. 165

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»Die Mixtekische Stunde« wurde so zur sonntäglichen Erfolgssendung von Radio Bilingüe.19 Die Nachfrage und der Informationsbedarf führten zur Ausweitung der Übertragungen in Mexiko auf sieben weitere Radiostationen, sowohl in der Mixteka als auch dort, wo sich die Diasporagemeinde befand.20 So konnten die Migranten im Exil von den Vorbereitungen für die Zeremonien des Schutzpatrons in ihren Heimatdörfern erfahren oder sie wurden über den aktuellen Verbleib ihrer Spenden, die sie für das Fest aufgebracht hatten, informiert. Zudem wurden in diesem Rahmen auch Informationen über den Umgang mit Schädlingsbekämpfungsmitteln, über Frauenrechte oder über ökologischen Anbau erörtert. Das Besondere aber war, dass alle diese Radiobeiträge in der Muttersprache der Mixteken übertragen wurden.21 Die Rockefeller Stiftung unterstützte später diese Anstrengungen mit einer Spende für die Finanzierung der Ausstrahlung über Satellit.22 Hinzu kamen weitere Sponsoren, deren Gelder der mixtekischen Community zugute kamen.23 Als Botschaft an seine Volksgenossen pflegt Filemon Lopez zu empfehlen: »Egal wohin du gehst, bring immer deine Kultur mit, auch deine Sprache; kümmere dich darum, dass deine Kinder nicht ihren Ursprung vergessen, dass das uralte Wissen deiner Vorfahren nicht in Vergessenheit gerät; verbreite überall und immer den Tequio, unsere gemeinschaftliche Arbeitsweise, weil er für unser Allgemeingut steht.«24

19 Hugo Morales erklärt diesen Erfolg folgendermaßen: »A recent independent assessment funded by the Rockefeller Foundation revealed that La Hora Mixteca has a very high market penetration – 65-72 percent of the Oaxacalifornia survey respondents listen to La Hora Mixteca. Almost onethird (31 percent) of the survey respondents who do listen to the program listen every week; another third (34 percent) listen ›almost every week.« H. Morales: On Leadership. 20 Unter anderem in Gelatao, Ejutla, Benito Juárez, Tlaxiaco, Jamiltepec in Oaxaca, ebenso wie in Tlapa, Guerrero und in San Quintín, Mexiko. 21 Eloy Morales: »Entrevista a Filemón López del programa de la Hora Mixteca en la estación de Radio Bilingüe«, vgl. http://www. soaxaquenocal.com/entrevistas.html vom 25. November 2008. 22 Gaspar Rivera-Salgado: »Equal in Dignity and Rights: The Struggle of Indigenous Peoples of the Americas in an Age of Migration«, in: Inaugural address as Professor to the Prince Claus Chair in Development and Equity 2004/2005 delivered on 12 April 2005, Utrecht: Utrecht University 2004, S. 28. 23 Die March of Dimes Stiftung in Kalifornien teilte im Jahr 2005 mit, dass Radio Bilingüe 25.000 Dollar als Hilfe »to Improve the Health of Mothers and Babies« erhalte, vgl: http://www.radiobilingue.org/archive/05_07_ 15_marchofdimes.htm vom 18. Oktober 2008. 24 E. Morales: Entrevista a Filemón López. 166

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Aus einer Situation der Anonymität rückten die Mixteken innerhalb von wenigen Jahren in den Bereich öffentlicher Aufmerksamkeit. Ihre Sprache, deutlicher Differenzierungsfaktor auf beiden Seiten der Grenze, wurde im transnationalen Kontext nicht als ein Zeichen der Unterentwicklung gewertet, sie wurde indessen zum Gegenstand eines kollektiven Interesses.

2. Die Wiedergeburt der mixtekischen Sprache Daniel Nazaroff, Landwirt in der Nähe von Madera, stellte 1995 fest: »Vor vielen Jahren habe ich hier nur Mexikaner angestellt […,] die Lage hat sich aber langsam geändert [,…] jetzt sind diejenigen, die hierher kommen, fast alles Leute aus Oaxaca. Man hört sie reden und merkt schnell, dass es nicht Mexikanisch ist, was unter ihnen gesprochen wird.«25

Tom Davis zufolge, Direktor des Zentrums für lateinamerikanische Studien der Universität von Kalifornien in San Diego, spiegelt sich das Mixtekische, die drittwichtigste Sprache im Bundesland auf der anderen Seite der Grenze, zwar im dortigen Bildungssystem in Baja California wider, aber nur sehr gering.26 Das Problem der Verankerung des Mixtekischen im Bildungssystem liegt nicht nur in der Abwesenheit einer allgemein anerkannten Schriftweise, sondern auch in der Komplexität der Sprache selbst: »Das Mixtekische ist eine tonale Sprache, das Spanische oder das Englische dagegen nicht. Vom Konzept her ist das ein radikaler Unterschied. Darüber hinaus hat das Mixtekische drei Hauptdialekte, die nicht untereinander zu verstehen sind. Es gibt sogar 52 Unterdialekte in Oaxaca.«27

Ein anderes Problem besteht darin, dass das Mixtekische eine uralte Sprache ist und einen sehr begrenzten Wortschatz hat. Ihre Sprecher tendieren dazu, zu einem Wurzelwort ein weiteres hinzuzufügen, um zu erklären, was sie sagen wollen. So ist zum Beispiel mit dem Ausdruck ›das Gesicht des Baumes‹ die ›Rinde‹ bezeichnet. Davis zufolge ist diese Art von Ableitungen nicht mehr angemessen. Zu komplex ist das

25 E. Kissam: Trends in the Ethnic Composition of the California Farm Labor Force. 26 Bill Manson: »Behind the Mixtec Curtain«, in: The San Diego Reader 1999, S. 45. 27 Ebd. 167

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Wissen der Welt geworden, als dass seine Vermittlung auf den Verzicht von Lehnwörtern und Wortneubildungen verzichten kann. Mit der Absicht, den Gebrauch ihrer Muttersprache zu fördern, wurde 1997 die »Mixtekische Akademie der Sprache« von Aktivisten dieser ethnischen Gruppe in der Stadt Tlaxiaco in Oaxaca gegründet.28 Von dort aus wurden Initiativen koordiniert, die zur Erstellung des mixtekischen Alphabets, zur Erforschung der Sprachstruktur und vor allem zur Entwicklung didaktischer Strategien für den Sprachunterricht führten.29 Die Anstrengungen der Mixteken im Exil haben bei der Neubewertung der Sprache eine zentrale Rolle gespielt. Tiburcio Pérez Castro, Mitglied der Akademie und Grundschullehrer in der Stadt Tijuana, behauptet, dass »fast jedes mixtekische Dorf in Oaxaca seine eigene idiomatische Variante besitzt«. Seiner Meinung nach könne eine allgemeine Schrift dazu beitragen, »dass sich die Kommunikation unter ihnen erheblich verbessert.« »Während eines Workshops im Jahr 2003«, sagte Tiburcio Pérez, »konnte man die Variationen der Sprache betrachten, die zwischen zwei Dörfern bestehen, die in Oaxaca nur einen halben Tag voneinander entfernt liegen.«30 Ramona López, Ethnologin aus Oaxaca und Leiterin eines Sprachprogramms für die Förderung des Mixtekischen an der Universität von Kalifornien erklärt: »Im Unterschied zu anderen Migranten ist der Kontakt der Mixteken mit der amerikanischen Kultur sehr begrenzt; ihre Gemeinden funktionieren hier nach gemeinschaftlicher Arbeit, dem Ältestenrat für die zivilen und geistlichen Angelegenheiten, Überwachung der religiösen Pflichten, Pflege der Verwandtschaftsnetzwerke und eine solidarische Umverteilung der Güter.«31

Diese Sprachinitiativen, die in Eigeninitiative von den Mixteken durchgeführt werden, zeigen, dass der Gebrauch einer autochthonen Sprache in diesem Zusammenhang nicht mehr, wie in der mexikanischen Gesellschaft, Rückständigkeit bedeutet. Die Mixteken fordern heute nicht nur zweisprachige Schulen auf beiden Seiten der Grenze, sondern auch eine umfassende Neubewertung der eigenen Kultur in der jeweiligen mexi-

28 »Pronunciamiento del V Congreso de Ve’e Tu’un Sávi AC. Academia de la Lengua Mixteca«, in: El Tequio Januar-Februar 2002, S. 13. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Eduardo Stanley: »La casa de la lengua de la lluvia. Esfuerzos por lograr que el idioma mixteco pueda escribirse«, in: La Prensa de San Diego vom 18. Juli 2003, o.S. 168

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kanischen und kalifornischen Geschichte.32 Die Rede ist hier von einer Kultur, die sich – irgendwo zwischen Mexiko und den USA – auf Grundlage ihrer eigenen Sprache neu definieren will.33 Dieses neue Selbstverständnis spiegelt sich außerdem in dem Wunsch wider, neue Geschichtsbücher für den Schulunterricht einzuführen.34 Mit derselben Überzeugung werden ebenso andere kulturelle Praktiken in den transnationalen Kontext übertragen, diesem angepasst und dort ausgeübt.

3. Das Guelaguetza und der »mixtekische Ball« Das Wort Guelaguetza bezeichnet auf Zapotekisch (einer Sprache, die zusammen mit dem Mixtekischen in Südmexiko weit verbreitet ist), ›Geschenk‹, ›Austausch‹ oder ›Gabe‹.35 In seinem ursprünglichen Gebrauch bezieht es sich aber auf ein uraltes Erntedankfest, das jährlich am Ende des Monats Juli in der Hauptstadt Oaxacas stattfindet. In diesem Rahmen findet als eine der größten Sehenswürdigkeiten ein Turnier namens Pelota mixteca oder »mixtekischer Ball« statt. Selbst wenn die Mixteken keine Landbesitzer in Kalifonien sind und die Mehrheit von ihnen sogar als illegale Zuwanderer im Land leben, haben sie seit 1999 auch in der Diaspora beide Veranstaltungen eingeführt und feiern diese regelmäßig. Nach Meinung von Rufino Domínguez, einem Veranstalter solcher Feierlichkeiten in Kalifornien, ist es Zweck dieser Aktivitäten, »anderen unsere uralte Tradition, Kultur und Folklore vorzustellen, und diese auch nicht zu vergessen, selbst wenn wir in einem anderen Land leben.«36 Im Jahr 2002, als das Guelaguetza in einem Hörsaal der Stadt Fresno stattfand, kamen mehr als 1500 Besucher aus der Umgebung. Indianer des kalifornischen Stamms Tachi Yokut nahmen auch daran teil.37 Im Jahr 2007 fand das Fest an einem 30. September statt. Das Unterhaltungsprogramm steigerte sich in seinem Umfang und damit stieg auch die Anzahl der Gäste. Aus Südmexiko kamen nicht nur Chordiri-

32 Eduardo Stanley: »Indígenas mixtecos reconocen su pasado«, in: El Tequio 6/6 (November-Dezember 2006), S. 3. 33 Jaime Aparicio Ramírez: »Niños valoran la lengua mixteca en la frontera mexicana«, in: El Tequio März-April 2002, S. 7. 34 B. Manson: Behind the Mixtec Curtain, S. 45. 35 Rufino Domínguez Santos: »La Guelaguetza California 2002, en Fresno«, in: El Tequio Mai-Juni 2002, S. 14. 36 Ebd. 37 Ebd. 169

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genten und Tanzgruppen, sondern auch drei Musikkapellen aus den verschiedenen Regionen Oaxacas.38 Nichts zeigt jedoch besser den ethnischen Diskurs, der sich um die Verbindung zwischen Heimat und Exilgemeinde herum bildet, als das Ballspiel. Catarino Pérez, ein Indianer, der bereits im Jahr 1930 zu spielen begann, erklärt: »Das Ballspiel, das wir ›mixtekischen Ball‹ nennen, wurde von Zapoteken, Azteken und Mixteken vor vielen Jahren in Monte Albán gespielt.«39 Es habe zu Beginn das Ziel gehabt, das Chaos des Universums zu beherrschen und die Götter gütig zu stimmen.40 »Aber als die Spanier kamen«, erklärt Gabriel Martínez, »verboten sie das Spiel, weshalb die Einheimischen im Geheimen zu spielen begannen.«41 Miguel Garzón, der einige Pelota-mixteca-Teams in Los Angeles managt, kennt das Risiko, das diese Sportart aufgrund des Ballgewichts darstellt: »Wir wissen, dass es sehr gefährlich für die Zuschauer sein kann, aber wir bekommen auch keine Unterstützung für ein richtiges Spielfeld.«42 Auf einem staubigen Grundstück von 11 x 100 Metern Größe spielen mehrere Gegner, die in zwei Gruppen aufgeteilt werden, indem sie einen harten Kunststoffball, der mehr als ein Kilo schwer ist, mit einem Rindslederhandschuh schlagen. Der »mixtekische Ball« ähnelt so dem modernen Tennis, jedoch ohne Netz. An ihm nehmen vier Spieler teil und die Partie kann mehr als vier Stunden dauern. Mit Stolz behauptet Agustín Hernández, Präsident eines Vereins in Fresno, Folgendes: »Man trägt das Blut in sich, was zu einem gehört; und dieser Sport gehört zu uns, wie er zu unseren Vorfahren gehörte.«43 Selbst wenn das größte Turnier dieser präkolumbischen Sportart im Rahmen des Guelaguetzas in Oaxaca stattfindet, die Anzahl der Praktizierenden scheint dort zu sinken, während seine Popularität in Kalifornien aufgrund des Potenzials als identitäts- und differenzstiftende Tätigkeit dagegen steigt.44 38 Juan Esparza Loera: »Guelaguetza celebrations livens up Fresno«, in: Vida en el Valle vom 3. Oktober 2007, S. 21. 39 Zum Thema zapotekisches Exil vgl. Jeanine Klaver: »From the Land of the Sun to the City of Angels: The Migration Process of Zapotec Indians from Oaxaca, Mexico to Los Angeles, California« in: Netherlands Geographical Studies 228, Utrecht, Amsterdam: The Dutch Geographical Society/Department of Human Geography-Faculty of Environmental Sciences, University of Amsterdam 1997. 40 Francisco Ramírez: »El juego del pueblo«, in: Noticias 10942 vom 19. Juli 2007, o.S. 41 Gabriel Martínez: »Un juego ancestral«, in: El Oaxaqueño 167 vom 17. Oktober 2007, o.S. 42 Ebd. 43 Ebd. 44 Vgl. J. Fox/G. Rivera-Salgado, Building Civil Society, S. 5. 170

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Wie bereits seit neun Jahren wurde auch das zehnte internationale Turnier des »mixtekischen Balls« im Jahr 2007 in Kalifornien organisiert.45 An dieser jährlichen Veranstaltung transnationalen Charakters nehmen im Durchschnitt zwölf Mannschaften teil. Das fünfköpfige Team aus Oaxaca wurde im Jahr 2007 nach Fresno gebracht; dort fanden die Begegnungen am 6. und 7. Oktober statt.46 Kurz vor ihrer Abreise erklärte Fidel Salazar, Präsident der einheimischen Spiel- und Sportarten Oaxacas, dass die lokalen »Teilnehmer sehr begeistert sind, die Grenze zu den USA mit einer Sportart, die fast überall in Oaxaca mittlerweile unbekannt ist, überhaupt übertreten zu dürfen«.47

4. Zum Thema transnationale Identität Versteht man unter einem transnationalen Raum den Bereich zwischen zwei nationalen Staatswesen, in dem sich Menschen verschiedener ethnischer Hintergründe auf der Suche nach besseren Aussichten ständig und ausdauernd hin und her bewegen und gegenseitig beeinflussen,48 und betrachtet man daraufhin die interkulturellen Wechselwirkungen, die dort stattfinden, dann begreift man, dass die Pflege ihrer Identität für die Indianer eine lebenswichtige Angelegenheit darstellt, da sie ihnen über die Grenzen hinweg ein Gefühl von Heimat und Zugehörigkeit vermitteln. Der mixtekische Indianer Arturo Pimentel Salas fasst diesen Aspekt in folgenden Worten zusammen: »Als ich zugewanderter Tagelöhner in den USA wurde, fühlte ich die Notwendigkeit, auf meine eigene Kultur zurückzugreifen. Wir sprechen Mixtekisch und pflegen unsere Gebräuche […], wir können dort das, was uns

45 Julio Sánchez León: »Listo el equipo de pelota mixteca que irá a certámen internacional«, in: Noticias 10970 vom 18. August 2007, o.S. 46 Bericht der Redaktion: »Vuela la pelota mixteca en EU«, in: Diario El Tiempo vom 3. Oktober 2007, S. 9. 47 Ebd. 48 Zum Thema transnationale Migration, vgl. Fußnote 4 und Robert Smith: Los ausentes siempre presentes: »The Imagining, Making and Politics of a Transnational Migrant Community between Tucuani, Puebla and New York City«, Dissertation an der Columbia University 1995, ebenso wie Roger Rouse: »Questions of Identity, Personhood, and Collectivity in Transnational Migration to the United States«, in: Critique of Anthropology 15/4 (1995), S. 351-380. 171

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am Leben erhält, besser verstehen, nämlich: die Erde, die Gemeinde, unsere Lebensform.«49

In diesem transnationalen Raum zwischen Oaxaca und Kalifornien entwickeln die Indianer besondere Formen der Identitätspflege, bei der sie, obwohl sie sich nicht hundertprozentig von der traditionalen Sinnlogik der lokalen Zugehörigkeit trennen, trotzdem neue, wertvolle Elemente eingliedern. Das Exil ermöglicht eine Erweiterung der lokalen Vorstellung von Solidarität über bestehende Grenzen hinaus. So stellt ein Mixteke aus Tijuana über seine Heimatregion fest: »Alle Dörfer sind dort eine Einheit, und da wir uns aus sprachlichen Gründen nicht miteinander verständigen können, tauchen immer wieder Streitigkeiten auf. Aber wenn es in meinem Dorf mit den Familien aus dem Nachbardorf auch alte Problemen geben mag, spielen sie hier [in Kalifornien; A. G. B.] absolut keine Rolle mehr.«50

Diese Bemerkung deutet an, dass sich die Mixteken im transnationalen Raum im Unterschied zu ihrem Heimatdorf als Teil einer größeren Schicksalsgemeinde identifizieren, innerhalb derer die lokalen und konfliktbringenden Zugehörigkeitselemente in den Hintergrund geraten.51 Auf dieser Ebene können auch die zahlreichen Widersprüche, die die Zuwanderungsbewegung in ihren Heimatregionen verursacht hat, im Rahmen neuer Bedingungen anders diskutiert und überwunden werden. Immer wiederkehrende Diskussionspunkte sind dabei die Frage nach dem Gewicht, welche die Meinung der Migranten in den Entscheidungen der Herkunftsdörfer haben soll, oder inwieweit die Ehefrauen die gemeinschaftlichen und religiösen Verpflichtungen ihrer abwesenden Männer erfüllen dürfen. In der kalifornischen Diaspora verdunkeln andere Probleme das Leben der Mixteken. Die Kinder aus den Migrantenfamilien unterbrechen in der Regel mit der Übersiedlung den Schulbesuch,52 diejenigen, die

49 Comité Cívico Popular Mixteco: »Estaciones de un largo retorno. Entrevista con Arturo Pimentel Salas«, in: México indígena 15 (1990), S. 13. 50 Clark Alfaro: Los mixtecos en la Frontera (Tijuana), sus mujeres y el turismo, Tijuana: Universidad Autónoma de Baja California 1991, S. 15. 51 Auf diese Probleme haben am Anfang der Neunziger hingewiesen Carol Nagengast/Michael Kearney: »Mixtec Ethnicity: Social Identity, Political Consciousness and Political Activism«, in: Latin America Research Review 25/2 (1990), S. 61-91. 52 Miguel Berumen Barbosa: »La migración, puntal de la economía mexicana«, in: Observatorio de la Economía Latinoamericana 84 172

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sich vor Ort weiterbilden, werden bald nicht mehr im öffentlichen Bildungssystem akzeptiert. Im Widerspruch zu den Menschenrechten bemühen sich neue Gesetzesentwürfe sogar darum, die illegalen Zuwanderer zu Verbrechern zu erklären.53 Außerdem verändert sich mit der Rückkehr der Migranten in die Heimatregionen dort nicht nur die traditionelle Kochkunst,54 sondern es tauchen auch bis dato unbekannte Probleme wie Drogenabhängigkeit oder Aids auf.55 Als besonders bedrohlich erweist sich aber der Bevölkerungsrückgang in zahlreichen Dörfern Oaxacas.56 Nach offiziellen Angaben haben bereits 30 Prozent der Mixteken ihre Region verlassen.57 Über die Einwohner seines Heimatdorfes San Juan Mixtepec gibt Radiomoderator Filemon Lopez folgenden Kommentar ab: »Wenn sie jung und gesund sind, dann sind sie hier [in Kalifornien; A.G.B.]; nur die Greise bleiben dort.«58 Offensichtlich sind viele Probleme noch ungelöst; trotzdem sind die Grundlagen für einen interethnischen Dialog bereits vorhanden. Seien es Chatinos, Mixteken, Triques oder Zapoteken, im Exil verstehen sie sich in erster Linie als Landsleute aus Oaxaca, erst an zweiter Stelle als Mitglieder ihres Heimatdorfes und fast nie als Indios, eine Bezeichnung, die in Mexiko noch eine sehr pejorative Bedeutung besitzt. Die Zuwanderungsbewegung nach Kalifornien stellt trotzdem für die Mixteken eine gute Möglichkeit dar, sich mit den anderen Ethnien aus der Heimatregion zu verständigen und die je eigene Geschichte im Schicksal anderer Zuwanderer wiederzufinden. Dies ermöglicht parallel den Aufbau eines neuen ethnischen Diskurses, der nicht mehr auf die engen Werte einer fragmentierten Herkunftsregion begrenzt bleibt, sondern ein viel größeres Weltbild umfasst, in dem – nicht ohne Widersprüche – erweiterte Vorstellungen von Ethnizität, Frauenrechten Ökologie

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(September 2003), vgl.: http://www.eumed.net/cursecon/ecolat/mx/2004/ mebb-remesas.htm vom 08. Oktober 2008. Gesetzentwurf HR 4437, bekannt als »das Sensenbrenner-Gesetz«; zum Thema José Careño: »Nueva ley en EE UU define a braceros como criminales«, in: El Universal vom 17. Dezember 2005. Magdalena Ávila: »Altera migración arte culinario mixteco«, in: Noticias 10215 vom 5. Juli 2005. M. Berumen Barbosa: La migración, puntal de la economía mexicana. Zur Entvölkerung der Mixteca siehe Instituto Nacional Indigenista: »Perfil indígena de México. Diagnóstico de los pueblos indígenas de Oaxaca: Migración«, vgl.: http://www.cdi.gob.mx/ini/perfiles/estatal/oaxaca vom 22. November 2008. Laura Carlsen: »La Mixteca: Construyendo un futuro«, in: Voces del campo 2 vom 9. Oktober 2006, S. 3. E. Kissam: Trends in the Ethnic Composition of the California Farm Labor Force. 173

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und nicht selten auch von einer romantischen Idee eines eigenen Platzes in der Welt denkbar werden.59 Durch die Praxis der eigenen Kultur in einem transnationalen Raum sind die Mixteken nicht mehr eine formlose Masse illegaler Zuwanderer oder bloße Opfer der Armut. Als politische und kulturelle Subjekte entwickeln sie Respekt vor sich selbst und vor anderen. Am Rande zweier nationaler Staatswesen und mit Rücksicht auf ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse entwickeln sie die Möglichkeit, ihre Geschichte, Sprache und ihr kulturelles Gedächtnis zum ersten Mal auch an einem anderen Ort für sich selbst und für ihre Nachkommen zu pflegen. Zudem können sie mit anderen ethnischen Gruppen Ansichten teilen, die ihnen im Kampf um eine kulturelle Existenz unter würdigen Lebensbedingungen sehr nützlich sein können. Die Beispiele, die hier vorgestellt wurden, zeigen, wie die Mixteken die Konflikte, die sie auf der Mikroebene der Lokalität in der Herkunftsregion nicht zu lösen vermochten, in einem transnationalen Raum bearbeiten können. Wie der Indianer Rufino Domínguez Santos erklärt: »Von dem Wort ›Huaje‹, das Schote bedeutet, leitet sich der Name Oaxaca ab. […] Wir haben dieses Land ›Oaxakalifornia‹ genannt, nicht nur weil hier viele unserer Landsleute angesiedelt sind, sondern weil wir schon ›Huajes‹ und andere typische Pflanzen aus Oaxaca angebaut haben; mit ihnen sind unsere Sitten und Traditionen untrennbar verbunden.«60

Die Situation, die hier präsentiert wurde, legt nahe, dass es für die Ureinwohner Lateinamerikas andere Wege als den der Integration, Vertreibung oder Isolierung gibt. Sie zeigt das moderne Gesicht ethnischer Lebensformen und die Art und Weise, wie diese, ohne die Beziehungen zu vergessen, die ihren Welten Sinn verleihen, mit gegenwärtigen Herausforderungen umgehen. Kulturelle Leistungen, wie diejenigen, die hier beschrieben wurden, bringen den Indianern nicht nur Kohärenz und Kontinuität als menschliche Gruppe im Exil, sie zeigen vor allem, dass ihre neue Rolle in einem der am meisten entwickelten, kapitalistischen Land der Welt, in dem sich die Globalisierung in weiten Ausmaßen bemerkbar macht, nicht zwingend fatale Auswirkungen haben muss.

59 Jonathan Fox bezeichnet dieses Phänomen als »Scaling up«, vgl. ders.: »Reframing Mexican Migration as a Multi-Ethnic Process«, in: Latino Studies 4 (2006), S. 39-61, hier S. 47. 60 Rufino Domínguez Santos: »La cultura en las organizaciones de carácter binacional y comunitario«, Vortrag gehalten auf der Tagung: Migración México-Estados Unidos. Comunidades transnacionales in Los Angeles am 26. August 2003. 174

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5 . J e n s e i t s vo n O a x a k a l i f o r n i a : Humanität im Exil Blickt man auf die immer größer werdende Anzahl von Migranten, die jedes Jahr auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen bei dem Versuch, illegal die Grenze zu übertreten, in der Wüste zwischen Mexiko und den USA sterben, dann wird deutlich, dass der Fall der mixtekischen Gemeinde im Südwesten der USA keine Erfolgsgeschichte darstellt.61 Die Tatsache, dass die Mixteken für ihr Überleben im Exil die Sitten und Gewohnheiten, die ihnen Identität und Zusammenhalt geben (u.a. die traditionellen Gemeindepflichten, die Kinderarbeit und die Bewahrung und Ausübung religiöser Feierlichkeiten), dem kalifornischen Gesetz völlig anpassen müssen, spricht nicht unbedingt für die Möglichkeit einer vollständigen Integration. Ethnische Lebensformen sind nicht immer kompatibel mit bürgerlichen Lebensformen moderner Gesellschaften. Die Herausforderung, der sich die kalifornische Regierung aufgrund ihrer Abhängigkeit von ethnischen Arbeitskräften in der Landwirtschaft stellen muss, richtet sich auf die Neubetrachtung des ›SchmelztiegelModells‹. In diesem Punkt gibt es bis heute keine befriedigenden Lösungen. Man könnte argumentieren, dass stark entwickelte Länder, an deren Wirtschaft – wie im hier dokumentieren Fall – eine große Anzahl von Migranten beteiligt sind, in der Verantwortung stehen, stärker in eine Bildung zu investieren. Diese sollte Humanität in den Vordergrund stellen, anstatt die Herausbildung eines national orientierten Bürgertums zu befördern, wie es auch heute im Zeitalter der Globalisierung oftmals noch der Fall ist.

Literatur Alfaro, Clark: Los mixtecos en la Frontera (Tijuana), sus mujeres y el turismo, Tijuana: Universidad Autónoma de Baja California 1991. Andreas, Peter: »The Tale of the Two Borders: The U.S.-Canada and the U.S.-Mexico Lines after 9-11«, in: Peter Andreas/Thomas J. Biers-

61 Cuauhtémoc Calderón: »Crecimiento y desarrollo económico y migración en la frontera norte«, in: Comisión Nacional para el Desarrollo de los Pueblos Indígenas, Memoria digital del Primer foro sobre migración indígena, Yucatán 2006. Vgl. http://www.cdi.gob.mx/sicopi/migracion_ sep2006/8_ponencia_cuauhtemoc_calderon.pdf vom 21. Dezember 2008. 175

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teker (Hg.), The Rebordering of North America, New York: Routledge 2003, S. 1-14. Aparicio Ramírez, Jaime: »Niños valoran la lengua mixteca en la frontera mexicana«, in: El Tequio März-April 2002, S. 7. Ávila, Magdalena: »Altera migración arte culinario mixteco«, in: Noticias 10215 vom 5. Juli 2005. Berumen Barbosa, Miguel: »La migración, puntal de la economía mexicana«, in: Observatorio de la Economía Latinoamericana 84, September 2003, vgl. http://www.eumed.net/cursecon/ecolat/mx/ 2004/mebb-remesas.htm vom 08. Oktober 2008. Calderón, Cuauhtémoc: »Crecimiento y desarrollo económico y migración en la frontera norte«, in: Comisión Nacional para el Desarrollo de los Pueblos Indígenas, Memoria digital del Primer foro sobre migración indígena, Yucatán 2006, vgl. http://www. cdi.gob.mx/sicopi/migracion_sep2006/8_ponencia_cuauhtemoc_cal deron.pdf vom 21. Dezember 2008. Careño, José: »Nueva ley en EE UU define a braceros como criminales«, in: El Universal vom 17. Dezember 2005. Carlsen, Laura: »La Mixteca: Construyendo un futuro«, in: Voces del campo 2 vom 9. Oktober 2006, S. 3. CDI-PNUD: Sistema de Indicadores sobre la población indígena de México, con base en el INEGI, XII Censo general de población y vivienda 2000. Comité Cívico Popular Mixteco: »Estaciones de un largo retorno. Entrevista con Arturo Pimentel Salas«, in: México indígena 15 (1990), S. 13. Domínguez Santos, Rufino: »La cultura en las organizaciones de carácter binacional y comunitario«, Vortrag zu der Tagung: Migración México-Estados Unidos. Comunidades transnacionales, Los Angeles, 26. August 2003. Domínguez Santos, Rufino: »La Guelaguetza California 2002, en Fresno«, in: El Tequio Mai-Juni 2002, S. 14. Escárcega, Silvia/Stefano Varese (Hg.): La ruta mixteca. El impacto etnopolítico de la migración transnacional en los pueblos indígenas de México, México: UNAM 2004. Esparza Loera, Juan: »Guelaguetza celebrations livens up Fresno«, in: Vida en el Valle vom 3. Oktober 2007, S. 21. Fox, Jonathan/Rivera-Salgado, Gaspar: »Building Civil Society among Indigenous Migrants«, in: dies. (Hg.), Indigenous Mexican Migrants in the United States, La Jolla: Center for U.S.-Mexican Studies/ Center for Comparative Immigration Studies/University of California 2004, S. 1-65. 176

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Ga nz und ga r Me nsc h se in: Von der Missac htung, Entdeck ung und Befreiung des fre mdk ulture lle n Les ers OLGA ILJASSOVA-MORGER

Abstract ›How do readers with different cultural backgrounds interpret literature?‹ is a question which was raised in literary studies only very late. An attempt to give a complex hermeneutical answer to this question today has to meet many requirements. It has to take into consideration culturally different points of view on literature so as to promote cultural pluralism without reducing the readers to their respective cultural backgrounds, and to validate a specific humanistic cross-cultural potential of literary texts as objects of understanding. The discovery of »the foreign reader« in the 1980s fostered an intercultural hermeneutics, which endeavoured to overcome the eurocentristic universalism of the traditional hermeneutics but at the same time implicitly essentialized foreignness and did not pay enough attention to current global processes of transcultural differentiation and interweaving. The present essay examines different approaches to intercultural hermeneutics and strives to outline a transcultural hermeneutical concept that would do justice to the complexity of modern cultures and involve different dimensions of understanding literary texts: individual, cultural, as well as universal.

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OLGA ILJASSOVA-MORGER

»Manche Leute halten Lesen bloß für eine Art von Flucht: eine Flucht aus der ›wirklichen‹ Welt des Alltags in eine imaginäre Welt, die Welt der Bücher. Bücher sind viel mehr. Sie sind eine Art und Weise, ganz und gar Mensch zu sein.«1 »Eine weitere mögliche Schlussfolgerung aus den Überlegungen zur Problematik der interkulturellen Hermeneutik kann in der Suche nach Modellen des Humanismus und der gegenseitigen Anerkennung bestehen, die das eurozentrische Vorurteil überwinden und die kulturübergreifenden Grundüberzeugungen aller Weltkulturen betreffen.«2

›Wie versteht ein Leser3 einen fremdkulturellen Text?‹, ›Gibt es kulturspezifische Lektüren?‹ sind Fragen, die in der Literaturwissenschaft erst sehr spät gestellt wurden. Wie kann man sie beantworten, ohne den Leser auf seinen kulturellen Hintergrund zu reduzieren, ohne diesen Hintergrund zu kurz kommen zu lassen und die besonderen Potenziale der literarischen Werke als Verstehensobjekt zur Geltung kommen zu lassen? Wie kann eine hermeneutische Konzeption aussehen, die der Komplexität der modernen Kulturen gerecht wird und gleichzeitig eine humanistische ist? In der Literatur- und Kulturwissenschaft kursieren verschiedene Konzepte, die das Verstehen literarischer Werke ›über kulturelle Grenzen hinweg‹ reflektieren und in einem unmittelbaren Zusammenhang mit verschiedenen kultur- und literaturtheoretischen Diskursen stehen. Einer kritischen Sichtung dieser Konzepte und einem Versuch einer alternativen Annäherung an das oben angekündigte komplexe Fragenbündel ist dieser Aufsatz gewidmet. Der rote Faden, der diesen Aufsatz durchzieht, ist die Frage nach den fokussierten interkulturell-hermeneutischen Konzepten implizit zugrunde liegenden Humanitätsvorstellungen. Insbesondere sollen die Humanitätspotenziale der Transkulturalität fokussiert werden, die eine vermittelnde Position zwischen dem eurozentrischen Universalismus und dem

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Susan Sontag: »Ein Brief an Borges«, in: dies., Worauf es ankommt. Essays, Frankfurt/Main: Fischer 2007, S. 154. Michael Hofmann: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung, Paderborn: Fink 2006, S. 42. Die Formen ›Leser‹, ›Rezipient‹, ›Autor‹ u. ä. sind im Text als nomen generale gemeint und werden verwendet, um den Text lesbarer zu machen.

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das Fremde ontologisierenden Kulturrelativismus annimmt und sowohl die Erhaltung und Entfaltung kultureller Identitäten als auch die kulturübergreifende Interaktion ermöglicht.

Die Entdeckung des Lesers Der Leser als aktives Subjekt wurde im deutschsprachigen Raum zum ersten Mal in den späten 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts von der Rezeptions- und Wirkungsästhetik in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Diese »Entdeckung des Lesers« ging mit den gesellschaftlichen Emanzipationsprozessen einher und stellte innerhalb des literaturwissenschaftlichen Feldes eine Gegenreaktion auf die werkimmanenten, formalistischen, marxistischen und strukturalistischen Ansätze dar. »Nachdem Autor- und Werkbegriff im Laufe der Zeit immer stärker in die Kritik geraten waren, hat die Rezeptionsästhetik mit der Frage nach der Funktion des Lesers in gewisser Weise die letzte Karte der Hermeneutik ausgespielt«, schreibt Achim Geisenhanslüke4. Diese Hinwendung zum Subjekt der literarischen Verstehensprozesse könnte man als die erste humanistische methodische Wende in der Literaturwissenschaft betrachten. Der Leser, der problematisiert wurde, war ein »intendierter Leser«5, ein »durchschnittlicher Leser«6, ein »impliziter Leser«7 – nie aber ein »anderskultureller Leser«. Das empirische Korrelat der modernisierten leserbezogenen Hermeneutik war ein eigenkultureller, europäischer Leser, ein Bildungsbürger, der oft – genauso wie die in Literaturkanons lange Zeit dominierenden Autoren – den Kriterien ›white‹, ›European‹, ›male‹ entsprach. Nicht, dass diese Exklusion immer bewusst intendiert war, sie war ein Teil der allgemeinen Tendenz in den Geisteswissenschaften bis zu den 1970-1980er Jahren. Mit dem cultural turn begann eine neue Epoche. Blickt man kurz auf die hermeneutische Tradition des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück und vor allem auf ihre Ausprägung bei Dilthey, Schleiermacher und Gadamer, so findet man eine

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Achim Geisenhanslüke: Einführung in die Literaturtheorie. Von der Hermeneutik zur Medienwissenschaft, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 22004, S. 64. Erwin Wolff: »Der intendierte Leser«, in: Poetica 4 (1971), S. 140-166. Michael Riffaterre: Le style des Pléiades de Gobineau. Essai d’application d’une méthode stylistique, Paris: Minard 1957. Wolfgang Iser: Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett, München: Wilhelm Fink 1972. 181

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Ableitung der individuellen Verstehensprozesse fremder Äußerungen – seien sie individueller, historischer oder kulturräumlicher Art – aus »der allgemeinen Menschennatur« der Interpreten: »Die Möglichkeit der allgemeingültigen Interpretation kann aus der Natur des Verstehens abgeleitet werden. In diesem stehen sich die Individualität des Auslegers und die seines Autors nicht als zwei unvergleichbare Tatsachen gegenüber: auf der Grundlage der allgemeinen Menschennatur haben sich beide gebildet, und hierdurch wird die Gemeinschaftlichkeit der Menschen untereinander für Rede und Verständnis ermöglicht.«8

Jeder Erkenntnisakt wird bei Dilthey durch den gemeinsamen Lebenszusammenhang bedingt, das Verstehen wird als »ein Wiederfinden des Ich im Du« definiert; »diese Selbigkeit des Geistes im Ich, im Du, in jedem Subjekt einer Gemeinschaft, in jedem System der Kultur, schließlich in der Totalität des Geistes und der Universalgeschichte macht das Zusammenwirken der verschiedenen Leistungen in den Geisteswissenschaften möglich.«9 In dieser Passage kommt der universalistische, im Singular gedachte Kulturbegriff deutlich zur Geltung; das Verstehensproblem der fremden Äußerungen wird positiv durch den gemeinsamen Geist der Gemeinschaft gelöst, die tatsächliche Pluralität der Gemeinschaften und Kulturen bleibt einem mit den Begriffen ›Universalgeschichte‹ und ›Totalität des Geistes‹ operierenden Konzept verschlossen, wie auch vielen anderen im 19. und 20. Jahrhundert entstandenen hermeneutischen Konzepten. Auch für Hans-Georg Gadamer stellt ein Interpretationsprozess »das Ineinanderspiel der Bewegung der Überlieferung und der Bewegung des Interpreten« dar: »Die Antizipation von Sinn, die unser Verständnis eines Textes leitet, ist nicht eine Handlung der Subjektivität, sondern bestimmt sich aus der Gemeinsamkeit, die uns mit der Überlieferung verbindet.«10 Es mussten Jahre vergehen, bis die traditionelle universalistische Her[r]meneutik mit einem Problemfeld konfrontiert wurde, das schnell die Grenzen, Defizite und Aporien der Methode aufgezeigt hat: »Die wirkungsgeschichtliche Hermeneutik kommt an ihre Grenzen, wo Kulturgrenzen überschritten werden. Eine interkulturell konzipierte Herme-

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Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1886), Bd. VII der Ges. Schriften, Stuttgart, Leipzig u.a.: Teubner 21958, S. 329. 9 Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, hg. von Manfred Riedel, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1981, S. 235. 10 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen: Mohr/Siebeck 61990, S. 298.

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neutik dagegen, die erst im Entstehen ist, hat gerade diesen reizvollen Grenz- und Zwischenbereich des Verstehens im Blick.«11

Ganz und gar Mensch sein Bevor im nächsten Abschnitt der fremdkulturelle Leser die Bühne betritt und die interkulturelle literarische Hermeneutik problematisiert wird, soll ein Exkurs über spezifische humanistische Potenziale literarischer Werke als Verstehensobjekt vorausgeschickt werden. Die Unterscheidung zwischen der ästhetischen Einflusskraft literarischer Werke und ihrer soziokulturellen Referenzialität hat eine lange Tradition. Hans Robert Jauß wies 1970 darauf hin, dass sich der Erwartungshorizont der Literatur von dem der geschichtlichen Lebenspraxis dadurch unterscheidet, »daß er nicht allein gemachte Erfahrungen aufbewahrt, sondern auch unverwirklichte Möglichkeiten antizipiert, den begrenzten Spielraum des gesellschaftlichen Verhaltens auf neue Wünsche, Ansprüche und Ziele erweitert und damit Wege zukünftiger Erfahrung öffnet«12. Wolfgang Iser entwickelte die rezeptionsästhetischen Gedanken im Kontext der literarischen Anthropologie weiter und fokussierte dabei die Funktion des Fingierens: »[Es] sei Indiz dafür, dass sich der Mensch lediglich in seinen eigenen Möglichkeiten gegenwärtig wird; oder dafür, daß er sich als Monade dadurch bestimmt, dass er allen Möglichkeiten zu begegnen vermag; oder am Ende dafür, dass er im Inszenieren seiner Möglichkeiten ständig bestrebt ist, sein Ende zu verschieben.«13

Wie Aleida Assmann konstatierte, ist »die zentrale Opposition, die Isers Definition des Menschen zugrunde liegt, […] zwischen Zwang und

11 Doris Bachmann-Medick: »Kulturelle Texte und interkulturelles (Miß-)Verstehen. Kulturanthropologische Herausforderungen für die interkulturelle Literaturwissenschaft«, in: Alois Wierlacher (Hg.), Perspektiven und Verfahren interkultureller Germanistik, München: Iudicium 1987, S. 653-664, hier S. 654. 12 Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt/Main: Suhrkamp 21970, S. 202. 13 Wolfgang Iser: »Fingieren als anthropologische Dimension der Literatur«, in: Aleida Assmann/Ulrich Gaier/Gisela Trommsdorff (Hg.), Positionen der Kulturanthropologie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004, S. 21-43, hier S. 42. 183

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Freiheit«.14 Der Zusammenhang der Individualität literarischer Verstehensprozesse mit dem Erlebnis der Freiheit ist ein weiterer sehr wichtiger Aspekt, der die humanistische Funktion literarischen Lesens zur Geltung bringt: »da alle Deutung schöpferisch und alle Schöpfung ein factum ex improviso ist, vermittelt jede divinatorische Lektüre ein Erlebnis von Freiheit«15. Diesen Gedanken entwickelt Manfred Frank unter Berufung auf Kant weiter: »Der Sinn kommt als Zufall oder NichtSinn auf die Welt, bevor er im Rahmen einer menschlichen Unternehmung ›subjektiviert‹ und mit dem Index einer ›Deutung‹ versehen wird. Dieser Index verweist auf die Freiheit«16. Die während der Lektüre erfolgende Subjektivierung, die nie gänzlich kontrollierbar und manipulierbar ist, die Projektion auf das individuell Andere und die Suche nach Sinn sind humanistische Voraussetzungen der individuellen Freiheit. Jean-Paul Sartre erklärte in seinem Klassiker »Que peut la littérature?« bereits 1965, die Freiheit der Menschen »besteht gerade darin, der Wirklichkeit immer, überall einen Sinn zu geben – doch einen immer andren Sinn, der sich dementiert.«17 Und da der Sinn, den die Menschen ihrem Leben geben möchten, sich ihnen entzieht, versuchen sie ihn in der Lektüre frei zu verwirklichen. Dabei handelt es sich in erster Linie darum, dem Werk »eine Art vollen Sinnes seiner Selbst zu geben, mit dem Gefühl von Freiheit, dem Gefühl, einen Augenblick – seiner sozialen und anderen Bedingtheiten mehr oder minder bewusst – in die Freiheit entronnen zu sein«.18 In fast all diesen Gedanken ist eine Dialektik zwischen dem Individuellen und Universellen der literarischen Verstehensprozesse festzustellen, denn das, was einen Leser in der »anderen Welt« der Literatur mit höchst individualisierten Erlebnissen konfrontiert, erhebt ihn gleichzeitig auf die Ebene des Allgemeinmenschlichen: »Manche Leute halten Lesen bloß für eine Art von Flucht […] aus der ›wirklichen‹ Welt des Alltags in eine imaginäre Welt […] der Bücher. Bücher sind viel mehr. Sie sind eine Art und Weise, ganz und gar Mensch zu sein.«19 14 Aleida Assmann: »Neuerfindung des Menschen. Literarische Anthropologien im 20. Jahrhundert«, in: A. Assmann/ U. Gaier/ G. Trommsdorff (Hg.), Positionen der Kulturanthropologie, S. 90-117, hier S. 111. 15 Manfred Frank: Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur deutschfranzösischen Hermeneutik und Texttheorie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989, S. 210. 16 Ebd. 17 Jean-Paul Sartre: »Que peut la littérature?« in: Helmut Brackert/Eberhard Lämmert (Hg.), Reader Literatur, Frankfurt/Main: S. Fischer 1977, S. 266. 18 Ebd. 19 S. Sontag: Ein Brief an Borges, S. 154. 184

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Außerdem sind Fiktionen nach Iser »Bedingungen für das Herstellen von Welten […], deren Realitätscharakter wiederum nicht zu bezweifeln ist«20. Literarische Fiktionen konstruieren eine von vielen möglichen Welten, in welchen jeder Mensch gleichzeitig leben kann und die zugleich seine reale Lebenswelt beeinflussen. Deswegen ist eine wichtige Fiktion der Kunst die Extension des Menschen21: Lektüre ermöglicht es dem Leser, sich in andere Rollen zu versetzen, »sich in je bestimmte Gestalten zu verwandeln«22, »bei sich und über sich hinaus zu sein«23. Für die folgenden Reflexionen über die interkulturell-literarische Hermeneutik kann schon an dieser Stelle eine Schlussfolgerung gemacht werden: Ein interkulturell-hermeneutisches Konzept kann nur dann als humanistisch bezeichnet werden, wenn es nicht nur die kulturelle Zugehörigkeit des Lesers akzeptiert, sondern auch jeden Leseakt als Manifestation der subjektiven Freiheit mit einbezieht.

»Forgotten readers«, Interkulturelle Germanistik und »das Kompliment der Eingeborenen« »Forgotten Readers« heißt ein Buch von Elizabeth McHenry, das 2002 im Verlag Duke University Press erschien. Der Untertitel »Recovering the Lost History of African American Literary Societies« offenbart uns Näheres dazu, wer diese vergessenen Leser sind: McHenry rekonstruiert in ihrem Buch die früheren Versuche der Afroamerikaner, Leser, Schriftsteller und Denker zu werden und dadurch »die Weißen« von ihrer Menschenwürde und Humanität zu überzeugen. Durch ausführliche Archivrecherchen rekonstruiert die Autorin eine lange und komplexe Geschichte der afroamerikanischen Literaturgesellschaften und Bücherclubs. Dieses gleichzeitig deprimierende und inspirierende Beispiel wirft die Frage auf, wie viele vergessene Leser noch auf ihre Entdeckung warten, wie viele weiße Flecken, die in Wirklichkeit dunkle sind, die Literaturgeschichte verbirgt und wie viele Studien noch notwendig sind, um im Rahmen der Literaturgeschichte, der Ethnographie des Lesens oder auch der interkulturellen Literaturwissenschaft all die Leser aufzuwerten und überhaupt in den Blick kommen zu lassen, die aufgrund der metho20 W. Iser: Fingieren als anthropologische Dimension der Literatur, S. 23. 21 Vgl. Marshall McLuhan: Understanding Media: The Extensions of Man, New York, London, Sidney, Toronto: New American Library 1964. 22 W. Iser: Fingieren als anthropologische Dimension der Literatur, S. 35. 23 Ebd., S. 34. 185

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dischen (und gesellschaftlichen) Ignoranz oder gar Missachtung in Vergessenheit geraten sind. Die Spezies »fremdkultureller Leser« ist eine, die im deutschsprachigen Raum erst relativ spät die Bühne betrat. Das Verdienst, den »fremdkulturellen Leser« wahrgenommen und ernst genommen zu haben, gebührt der Interkulturellen Germanistik. In einem längeren Aufsatz definierte Alois Wierlacher – einer der Hauptprotagonisten dieser sich in den 1980er Jahren etablierten Forschungsrichtung – Interkulturelle Germanistik als eine Disziplin, »die die hermeneutische Vielfalt des globalen Interesses an deutschsprachigen Kulturen ernst nimmt und kulturvariante Perspektiven auf die deutsche Literatur weder hierarchisch ordnet noch als Handicap einschätzt, sondern als Quelle zu besserem, weil multiperspektivischem Textverstehen erkennt und anerkennt. Im Miteinander sehen wir zugleich einen Weg zu genauerem Selbstverstehen, weil es erkenntnisfördernde Fremdstellungen des je eigenen Standorts einschließt und verlangt«.24

An der traditionellen Hermeneutik kritisierte Wierlacher in Anlehnung an Jauß, dass sie »ihre Theorie auf die Auslegung verkürzt, ihren Verstehensbegriff unartikuliert gelassen und das Problem der Applikation […] völlig vernachlässigt« hatte.25 Die Applikation der Texte auf die Lebenssituationen fremdkultureller Leser heißt nach Wierlacher u.a. »Aufsuchen von Anschließbarkeiten des Textes an die hermeneutische Situation des Verstehenden, Herausarbeiten kulturell bedingter Lektüreunterschiede, Aufbau einer Ambiguitätstoleranz, Verfremdung der Leser-Routinen, Prüfung der xenologischen Lesereinstellungen«26. Die hermeneutische Situation der multikulturellen Rezipienten wurde dabei durch drei Erscheinungsweisen der Fremde charakterisiert: Fremdsprachlichkeit, fremdkulturelle Wirklichkeit und die Hermetik poetischer Texte. Die »Hermeneutik der kulturell bedingten Varianz literarischen Lesens«27 wurde zum

24 Alois Wierlacher: »Einleitung«, in: ders. (Hg.), Das Fremde und das Eigene. Prolegomena zu einer interkulturellen Germanistik, München: Iudicium 1985, S. VII-XII, hier S. X. 25 Hans Robert Jauß: »Zur Abgrenzung und Bestimmung einer literarischen Hermeneutik«, in: Manfred Fuhrmann/Hans Robert Jauß/Wolfhart Pannenberg (Hg.), Text und Applikation. Theologie, Jurisprudenz und Literaturwissenschaft im hermeneutischen Gespräch, München: Wilhelm Fink 1981, S. 459-481, hier S. 462. 26 Ebd., S. 7. 27 Dietrich Krusche: »Lese-Differenz. Der andere Leser im Text«, in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 26 (2000), S. 87-104, hier S. 87. 186

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»Hauptstück« der wissenschaftlichen und unterrichtlichen Arbeit der Interkulturellen Germanistik28. Auch die Betonung der Differenzen und das Bestreben, Grenzen neu zu definieren, waren ein unentbehrlicher Teil des Programms der Interkulturellen Germanistik. Die Grenzziehung wurde dabei als humanistische Bedingung für die Sicherung verschiedenkultureller Entfaltungsmöglichkeiten betrachtet, denn »[w]ollen differente Kulturen in ihrer Eigenart wahrgenommen und tradierbar werden, müssen sie Grenzen ziehen zwischen dem Eigenen und dem Fremden«.29 Das Wissen über Differenzen und Grenzen sollte die Veränderung der Literaturwissenschaft zu einer interkulturell orientierten Disziplin fördern, »die das Gemeinschaftshandeln der Kulturen zu ihrem Arbeitsmodus machen kann«;30 die Grenzen wurden dabei nicht als Abwehrlinien verstanden, sondern »als Bedingungen von Kooperation und Brücken zwischen den Alteritäten«31. Ein wichtiger Teil der kulturpolitisch zu fördernden »Wahrung kultureller Eigenarten« bestand nach Wierlacher in der Begründung einer multikulturellen Interpretationstheorie. In ihrem Rahmen sollten kulturdifferente Lektüren konstruiert, erforscht und legitimiert, aber darüber hinaus auch gefestigt (!) werden: »denn mit der wissenschaftlichen Erforschung und Festigung kulturvarianter Zugangsmöglichkeiten zur deutschsprachigen Kultur und Literatur erfüllt die (germanistische) Literaturwissenschaft zugleich eine besondere kulturpolitische Verpflichtung unserer Zeit«.32 Bereits in den 1990er Jahren kam eine starke Welle der Kritik an den Grundannahmen und Vorgehensweisen der Interkulturellen Germanistik auf.33 Zu den Kritikpunkten zählte oft der Kulturbegriff, der der interkul-

28 Vgl. Alois Wierlacher: »Mit fremden Augen. Überlegungen zur Begründung einer interkulturellen Hermeneutik deutscher Literatur«, in: ders. (Hg.), Architektur interkultureller Germanistik, München: Iudicium 2001, S. 227-252, hier S. 230. 29 Alois Wierlacher: »Internationalität und Interkulturalität. Der kulturelle Pluralismus als Herausforderung der Literaturwissenschaft. Zur Theorie Interkultureller Germanistik«, in: Lutz Danneberg/Friedrich Vollhardt u.a. (Hg.), Wie international ist die Literaturwissenschaft? Stuttgart, Weimar: Metzler 1996, S. 550-590, hier S. 567. 30 Ebd. 31 Ebd. 32 A. Wierlacher: Internationalität und Interkulturalität, S. 567. Gleichzeitig geht Wierlacher auf die »Mehrdimensionalität persönlicher und kultureller Identität der Interpreten bei der Konstruktion der Lektüren« und »mehrere Identitäten unserer selbst« ein (ebd., S. 570). 33 Vgl. u.a. Peter Zimmermann (Hg.), »Interkulturelle Germanistik«: Dialog der Kulturen auf Deutsch?, Frankfurt/Main, Bern, New York, Paris: Lang 2 1991, und Gert Henrici/Uwe Koreik (Hg.), Deutsch als Fremdsprache: 187

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turellen Hermeneutik zugrunde lag und der oft mit Staatsbezeichnungen zusammenfiel: ›der japanische Leser‹, ›deutsche Rezipienten‹, ›indische Lesart‹. Zu wenig Aufmerksamkeit wurde im Programm der inneren Heterogenität der modernen Gesellschaften sowie den kulturübergreifenden und transkulturellen Prozessen gewidmet. Die interkulturellen Verstehensprozesse und u.a. die Interpretationsprozesse fremdkultureller Texte wurden als Begegnung abgeschlossener und relativ homogener Entitäten: des »Eigenen« und des »Fremden« behandelt. – Das hermeneutische Programm der Interkulturellen Germanistik war in wesentlichen Zügen ein relativistisches. Dem zugrunde lag die Prämisse, dass Leser bei der Rezeption literarischer Texte hauptsächlich auf ihren kulturellen Hintergrund zurückgreifen. Die spezifischen Besonderheiten des Mediums Literatur, die globalen kulturellen Veränderungen: Vernetzungen, Vereinheitlichungs- und Differenzierungsprozesse lassen sich in dieses interkulturell-hermeneutische Konzept kaum implementieren. Sicherlich war das Abgrenzungsbestreben der Interkulturellen Germanistik »gut gemeint«, da es Anerkennung und Aufwertung verschiedener kultureller Perspektiven nach dem Pluralismus-Prinzip zum Ziel hatte sowie das durchaus lobenswerte Ziel unterstützte, die »globale Vielfalt kultureller Andersheiten in Perspektivik und Gegenstandskonstitution zu erkennen, anzuerkennen und im Forschungsgespräch produktiv zu Wort kommen zu lassen«34. Deutlich ist auch das ethische und humanistische Bestreben, in der relativistischen, andere Kulturen und ihre Produkte akzeptierenden Haltung eine Alternative zu den langjährigen universalistischen Theoriebildungen und -anwendungen sowie den vereinnahmenden, eurozentrischen Methoden zu leisten. Im Endeffekt blieb die interkulturelle Germanistik im klassischen Gefälle zwischen Kulturrelativismus (bzw. -pluralismus) und Kulturuniversalismus gefangen: Während sie die fremdkulturellen Perspektiven aufzuwerten sucht, läuft sie Gefahr, die Anderen zu essentialisieren, sie durch Zuschreibung von außen von vorne herein in ihrem Fremdsein einzusperren. Man könnte an dieser Stelle eine vage Analogie mit der Warnung von Justin Stagl ziehen: »Das dem ›Eingeborenen‹ gezollte Kompliment ist zweischneidig: Natürlich hat er immer recht, aber unter der Bedingung, daß er ›authentisch‹ bleibt, daß er also bleibt, wie er ist, wo warst Du, wo bist Du, wohin gehst Du? Zwei Jahrzehnte der Debatte über die Konstituierung des Fachs Deutsch als Fremdsprache, Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren 1994. 34 Alois Wierlacher/Hubert Eichheim: »Der Pluralismus kulturdifferenter Lektüren. Zur ersten Diskussionsrunde am Beispiel von Kellers Pankraz der Schmoller«, in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 18 (1992), S. 373-383, hier S. 373. 188

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ein Eingeborener«35. Auf der Ebene der Literaturrezeption lässt sich in Anlehnung an Kwame Anthony Appiah (1994, 1996) davor warnen, die Tyrannei der dominierenden, ethnozentrisch ausgerichteten westlichen Perspektive auf literarische Texte durch die Tyrannei der Einsperrung »des fremdkulturell Anderen« in die vermeintlichen kulturspezifischen Rezeptionsmuster zu ersetzen. Außer den Problemen der Interkulturellen Germanistik, die auf ihrem Kulturverständnis basieren, lassen sich auch noch »ästhetische« Argumente gegen ihr interkulturell-hermeneutisches Konzept nennen. Kritik an den spezifische Potenziale literarischer Werke nicht genügend beachtenden interkulturell-hermeneutischen Konzepten wurde bereits Ende der 1980er Jahre artikuliert: »Die interkulturelle Perspektive dürfte aber in den philologischen Disziplinen nur dann eine gute Chance haben, wenn sie den poetischen Charakter von deren weiterhin vorrangigen Gegenständen nicht ausblendet«36. Darüber hinaus plädierte Mecklenburg dafür, »kulturelle Alterität nicht als räumliche Entsprechung einer zeitlich-historischen Alterität, wie sie die Rezeptionsästhetik herausstellt, aufzufassen, sondern als die übergreifende Kategorie: Fremd ist uns das zeitlich oder räumlich Ferne in der Regel gerade in dem Maße, wie es uns kulturell fremd ist. Schließlich ist kulturelle Alterität selbst aber keineswegs die einzige, wichtigste oder umfassendste Andersheit, die an Literatur und über das Medium der Literatur wahrgenommen werden kann.«37

Horst Steinmetz erkannte zwar Unterschiede zwischen den Literaturauffassungen der Rezipienten aus verschiedenen Kulturräumen als selbstverständlich an, warnte aber vor ihrer Überbewertung. Er akzentuierte das der Literatur inhärente Zusammenspiel zwischen der »kulturhistorischen« und ästhetischen Identität und betrachtete literarische Werke als Bestandteile eines »literarischen Kulturraums«, der »alle geographischen und kulturhistorischen Einzelkulturen überwölbt«38. Gründe 35 Justin Stagl: »Eine Widerlegung des kulturellen Relativismus«, in: Joachim Matthes (Hg.), Zwischen den Kulturen. Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs, Göttingen: Verlag Otto Schwartz und Co. 1992, S. 145-166, hier S. 151. 36 Norbert Mecklenburg: »Über kulturelle und poetische Alterität. Kulturund literaturtheoretische Grundprobleme einer interkulturellen Germanistik«, in: Alois Wierlacher (Hg.), Perspektiven und Verfahren interkultureller Germanistik/Ges. für interkulturelle Germanistik, München: Iudicium 1987, S. 563-584, hier S. 563. 37 Ebd., S. 565. 38 Horst Steinmetz: »Literarische Wirklichkeitsperspektivierung und relative Identitäten. Bemerkungen aus der Sicht der Allgemeinen Literaturwissen189

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dafür liegen nicht zuletzt in den »sich zunehmend durchsetzenden Wirklichkeiten des industriellen Zeitalters«39 und in der Verbreitung der modernen Kommunikations-, Distributions- und Verkehrsmittel, die dazu beitrugen, dass »literarische Konzepte und Modelle, Gestalt geworden im einzelnen Werk, in kürzester Zeit in aller Welt verbreitet werden und so eine Art von Weltliteratur zu schaffen mitgeholfen haben«.40 Neben dem technischen Fortschritt ist es aber auch die ›poetische Weltsprache‹, moderne Poesie als lingua franca, die »sich dem Ausdruck des Besonderen nicht verschließt«, sondern »vielmehr das Besondere aus der Bindung an die nationalen Literaturen befreit«41. Doris Bachmann-Medick weist auf die Pluralität der Lektüren hin, die sich »nicht zuletzt aus der Vervielfältigung der Identitäten infolge von Globalisierung und Migration, aus den »poetics of displacement« (Clifford)« zusammensetzt.42 Daraus zieht sie entsprechende Schlussfolgerungen für die Betrachtung der Literatur im Rahmen der interkulturellen Literaturwissenschaft. Literatur sollte man nach Bachmann-Medick »nicht als einen Behälter kultureller Identität in den Verkehr zwischen den Kulturen ein[…]bringen. Eher müsste sie im Zeichen historischer oder gegenwärtiger Kulturenvermischung auf ihre Rolle als ein durchlässiges Medium überprüft werden, das die Grundlagen von Identität wie Nationenbildung, Heimat, Zugehörigkeit thematisiert und ihre Verkrustungen aufbricht. Schauplatz von Literatur werden die ›Zwischenwelten der Kulturen‹, die ›kulturelle Zwischenposition‹«.43

Nach dieser Sichtung verschiedener Positionen drängt sich die Frage auf, wie eine interkulturell-hermeneutische Konzeption auszusehen hat, die auf der einen Seite für verschiedenkulturelle Stimmen empfänglich ist, aber die komplizierte Verfasstheit der modernen Gesellschaften nicht auf die kulturrelativistischen, holistischen, abgeschlossenen Kulturmodelle reduziert und die einzelnen fremdkulturellen Leser innerhalb eng definierter Kulturgrenzen einsperrt.

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schaft«, in: ders. (Hg.), Das Fremde und das Eigene. Prolegomena zu einer interkulturellen Germanistik, München: Iudicium 1985, S. 71. Ebd. Ebd. Hans Magnus Enzensberger: Museum der modernen Poesie, München: DTV 31969, S. 17. Doris Bachmann-Medick: »Kulturanthropologische Horizonte interkultureller Literaturwissenschaft«, in: Alois Wierlacher/Andrea Bogner (Hg.), Handbuch Interkulturelle Germanistik, Stuttgart, Weimar: Metzler 2003, S. 439-448, hier S. 444. Ebd.

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Transkultureller Leser: »a part of and apart from a given cultural context« »Das Seltsame ist, wir alle leben, kulturell gesehen, bereits jetzt ein kosmopolitisches, durch Bücher, Kunstwerke und Filme aus anderen Weltregionen bereichertes Leben, in das zahlreiche Einflüsse unterschiedlichster Art eingehen«44, bemerkt Kwame Anthony Appiah. Auch wenn dieses »wir« kritisch revidiert werden kann, ist schon längst die Frage fällig, wie eine hermeneutische Konzeption auszusehen hat, die globale Verflechtungsprozesse berücksichtigt und den Besonderheiten literarischer Texte als Verstehensobjekte Rechnung trägt. Damit diese Konzeption möglichst viele Lebensformen einschließen kann, soll sie meines Erachtens zwischen drei Verstehensebenen lavieren können: der individuellen, der kulturellen und der allgemeinmenschlichen Ebene. Eine solche Vorgehensweise steht im direkten Zusammenhang mit der Aufgabe, Humanität im 3. Jahrtausend so zu definieren, dass die kulturspezifischen Eigenschaften der Menschen auf der einen Seite nicht missachtet und auf der anderen Seite nicht überschätzt werden, so dass die Vielfalt jedes einzelnen Individuums auf seine kulturelle Herkunft reduziert wird und interkulturelle Grenzen zementiert werden. Weder der ethnozentrisch geprägte Kulturuniversalismus (und der ihm entsprechende Humanismus) noch ein selbstgefälliger Kulturrelativismus, der die anderen Kulturen akzeptiert, aber gleichzeitig ihre Inkommensurabilität postuliert, bietet eine zeitgemäße Lösung. – Das Problem ist längst erkannt, an Lösungen mangelt es immer noch. Als eine Möglichkeit, die individuelle, kulturelle und universelle Dimension der Verstehensprozesse zu verbinden, bietet sich das Transkulturalitätskonzept an. Der Begriff Transkulturalität ist nicht neu und wurde bereits Anfang der 1990er Jahre von Ulf Hannerz und Elmar Holenstein verwendet. Bekannt wurde der Begriff in der Mitte der 1990er Jahre durch die Arbeiten von Wolfgang Welsch. In seinen Aufsätzen setzt sich Welsch kritisch mit dem Kulturbegriff von Herder, aber auch mit den Konzepten ›Interkulturalität‹ und ›Multikulturalität‹ auseinander. Er bemängelt an ihnen, dass sie auf der Vorstellung von Kulturen als »autonome Sphären« oder als »Inseln« beruhen. ›Soziale Homogenisierung‹, ›Ethnische Fundierung‹ und ›Absetzung nach außen‹ sind drei Merkmale, die den obsolet gewordenen, aber immer noch weit verbreiteten Kulturbegriff auszeichnen. Beide Ebenen – gesellschaftliche Metaund individuelle Mikroebene – sind nach Welsch transkulturell gewor-

44 Kwame Anthony Appiah: Der Kosmopolit, München: C.H. Beck 2007, S. 141. 191

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den: »Identität ist immer weniger monolithisch, sondern nur noch im Plural möglich. Leben unter heutigen Bedingungen ist Leben im Plural, will sagen: Leben im Übergang zwischen unterschiedlichen Lebensformen.«45 Der höchst komplexe und differenzierte Charakter der modernen Gesellschaften wurde bereits in vielen poststrukturalistischen und postmodernen Arbeiten problematisiert. Das Neue in Welschs Konzept ist sein Versuch, in dem Wirbel der Differenzen eine Art verbindende Ordnung zu finden, die u.a. das transkulturelle Verstehen ermöglichen kann. Eine der Kernaussagen von Welsch ist, dass viele Elemente durch die (national-)kulturellen Grenzen hindurch gehen: »Die transkulturellen Netze haben stets einige Elemente gemeinsam, während sie sich in anderen unterscheiden, so dass zwischen ihnen nicht nur Unterschiede, sondern zugleich Gemeinsamkeiten bestehen. Da sie somit Anteile einschließen, die auch in anderen Netzen vorkommen, sind sie untereinander insgesamt anschlussfähiger, als die alten kulturellen Identitäten es je waren.«46

Auch wenn Welsch selbst der hermeneutischen Methode skeptisch gegenübersteht47, kann Transkulturalität zu produktiven Modifikationen und zur teilweisen Überwindung der interkulturell-hermeneutischen Aporien führen: (viele) Individuen als Subjekte (und nicht nur Objekte) hermeneutischer Prozesse stellen heutzutage »eine Mischung zwischen den divergierenden Strömungen einer Einzelkultur und eine Mischung zwischen den verschiedenen Tendenzen verschiedener Kulturen«48 dar, sie verfügen über viele Eigenschaften, die nicht nur aus ihrer national oder ethnisch verstandenen »Kultur« stammen, sondern die Einflüsse aus verschiedenen »Kulturen«, globale Gemeinsamkeiten integrieren und deswegen viele Überlappungen mit anderen Individuen aus anderen Kulturen zeigen: 45 Wolfgang Welsch: Ästhetisches Denken, Stuttgart: Reclam 2003, S. 171. 46 Wolfgang Welsch: »Transkulturalität. Zwischen Globalisierung und Partikularisierung«, in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 26 (2000), S. 327-351, hier S. 347f. 47 »We must change the pattern from hermeneutic conceptualizations with their beloved presumption of foreignness on the one hand and the unfortunate appropriating dialectics of understanding on the other hand to decidedly pragmatic efforts to interact. And there is always a good chance for such interactions, because there exist at least some entanglements, intersections and transitions between the different ways of life« (Wolfgang Welsch: »Transculturality – the Puzzling Form of Cultures Today«, in: Mike Featherstone/Scott Lash (Hg.), Spaces of Culture: City, Nation, World, London: Sage 1999, S. 194-213, hier S. 203). 48 M. Hofmann: Interkulturelle Literaturwissenschaft, S. 28. 192

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»In der zeitgeschichtlichen Fassung hermeneutischer Rezeptionen fremdkultureller Produkte ist damit nicht zuletzt die Befähigung zur transkulturellen Einfühlung gemeint, die das Fremde deshalb versteht, weil es Eigenes, d. h. intersubjektiv Menschliches in ihm findet, und zwar nicht nur als philosophisch abstrakte Einsicht, sondern im konkreten Sinne als Ein- und Mitfühlen, als ästhetisches und intellektuelles Mit- und Erleben der fremden Kultur. Dieses Programm, im Anderen das verbindende Menschliche des Selbst zu erkennen, scheint noch heute die Definition von Transkulturalität zu bestimmen.«49

Wenn ein Subjekt seine Identität nicht nur aus seiner (national-) kulturellen Zugehörigkeit bezieht, sondern bestimmte kognitive, axiologische und praxeologische Elemente mit den Vertretern anderer Kulturen teilt, so werden auch die ethischen Ansprüche an seine Verstehensprozesse gemildert. Denn eine aneignende und annektierende Haltung des Verstehenssubjekts kann nur in dem Fall unter Ideologieverdacht fallen, wenn der Verstehende eine abgeschlossene, nationalkulturell eindeutig zu identifizierende Entität darstellt, die eine andere als fremd wahrgenommene Entität zu verstehen sucht. Sieht man Individuen in der Vernetzung verschiedener Einflüsse, Einstellungen, Wünsche und Interessen, die durch die Kulturen hindurch gehen, so können ihre Verstehensprozesse nicht mehr als ausschließlich ›vereinnahmende‹, sondern eher als ›durchdringende‹ aufgefasst werden. Dafür braucht man nicht nach kulturübergreifenden Universalien zu suchen. Das jedem Verstehensprozess zugrunde liegende Gemeinsame oder Vertraute ist in viel komplexere Strukturen eingefügt als das die klassischen holistischen Konzepte annahmen: Die Verbindungen zwischen den Kulturen bilden ein komplexes Gefüge aus Referenzen, Transfers, Interrelationen, sich deckenden, abweichenden, modifizierten Komponenten her.50 Gerade Literatur mit ihren bereits erläuterten humanistischen Potenzialen bietet eine fruchtbare Basis für die transkulturelle Suche nach Gemeinsamkeiten und für eine Hermeneutik, die nicht an kulturellen Grenzen aufhört, sondern kulturübergreifend agiert, ohne universalistisch zu werden.

49 Bernd Fischer: »Multi, Inter, Trans: Zur Hermeneutik der Kulturwissenschaft«, in: Trans. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15 (2005). http://www.inst.at/trans/15Nr/01_1/fischer15.htm, vom 04.07.2005. 50 Mehr dazu in: Olga Iljassova-Morger: Von der interkulturellen zur transkulturellen literarischen Hermeneutik, Duisburg: Universitätsverlag Rhein-Ruhr 2009.

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OLGA ILJASSOVA-MORGER

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Mit a nde re n Auge n se he n. An s ä tze für eine tra nsk ulture lle Kunst vermittlung im musealen Kontext SUSANNE BUCKESFELD

Abstract In my contribution, I describe a museum project to illustrate the preconditions for a transcultural method of conveying art to a group of culturally heterogeneous recipients. The aim of this method is to inspire a dialogue on transcultural common denominators without denying cultural differences or relinquishing one’s own cultural orientations. This approach is based on Hans Belting’s assumption that human beings are the »location of images«, which implies that principally everyone is able to access art, here particularly pictorial art. Yet, this access which is principally open to every human being is also determined by the specific terms of reception which substantially rest on the recipients’ particular cultural orientations. The example of Gerhard Richter’s »Sheik with woman/wife« (1966) shows that especially openly structured, ambiguous works of contemporary art referring to issues of a culturally heterogeneous society are suitable for a method of conveying art focused on gradual differences of transcultural common denominators.

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SUSANNE BUCKESFELD

1 . Au s g a n g s f r a g e Mein Beitrag veranschaulicht Voraussetzungen für eine Methode der transkulturellen Kunstvermittlung anhand eines Beispiels aus der Vermittlungspraxis. Ziel der Methode ist, sich mit kulturell heterogenen Rezipienten über kulturübergreifende Gemeinsamkeiten zu verständigen, ohne kulturelle Unterschiede zu leugnen und die eigenen kulturellen Orientierungen preiszugeben. Wie aber müssen Kunstwerke beschaffen sein, die sich für eine transkulturelle Kunstvermittlung im musealen Kontext eignen? Welche ästhetischen Kriterien sollten gegeben sein, damit sich kulturell heterogene Rezipienten in einer konkreten Vermittlungssituation als transkulturell verfasst erleben können? Um diese Fragen zu beantworten, betrachte ich im Rahmen meines Forschungsprojektes solche zeitgenössischen Kunstwerke, die explizit die prinzipielle Transkulturalität bildhafter Darstellungen verdeutlichen, d.h. die grundsätzliche Eigenschaft von Bildern, sowohl Produkt eines spezifischen kulturellen Kontextes zu sein als auch darüber hinauszugehen und kulturübergreifend zu wirken.1 Bilder haben die Eigenschaft, in unterschiedlichen Kontexten verschiedenartig lesbar zu sein. Dementsprechend hängt die Deutung von Kunstwerken außer von ihrer spezifischen Beschaffenheit entscheidend von den kulturellen Bezügen der Rezipienten ab. Ich konzentriere ich mich daher auf solche Werke der zeitgenössischen Kunst, welche ihre Rezipienten von vornherein als transkulturell voraussetzen und als aktiv am Verständnis des Werkes Beteiligte begreifen.2 Kunstwerke, welche die Vermittlung kultureller Austauschprozesse zum Thema haben, bilden dabei die Grundlage zur Entwicklung allgemeiner Voraussetzungen für eine Verständigung im Kunstmuseum, die der kulturellen Heterogenität der heutigen Gesellschaft Rechnung trägt. Mithilfe einer transkulturell gewendeten Rezeptionsästhetik analysiere ich, auf welche Weise die gewählten Kunstwerke den Blick auf verschiedene kulturelle Bezüge eröffnen und Multiperspektivität in einer kommunikativen Auseinandersetzung ermöglichen. Diese rezeptionsästhetische Analyse liefert Kriterien zur Entwicklung von Bausteinen für 1

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Birgit Mersmann: »Bildkulturwissenschaft als Kulturbildwissenschaft? Von der Notwendigkeit eines inter- und transkulturellen Iconic Turn«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 49/1 (2004), S. 91-109. Mersmann betont zwar die Tatsache, dass Bilder «stark kulturell geprägt» sind, berücksichtigt jedoch auch deren Rolle innerhalb kultureller Austauschprozesse. Vgl. besonders S. 107. Ein Beispiel dafür ist das anlässlich der documenta in Kassel 2007 von Danica Dakic realisierte partizipative Kunstprojekt »El Dorado«, das aus einer Sound-Installation, einer Performance und einem Video besteht.

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eine Methode der transkulturellen Kunstvermittlung, deren Ziel es ist, transkulturelle Dialoge innerhalb der Institution Museum zu etablieren, die zur Reflexion über die Vielfalt der kulturellen Bezüge in einer globalisierten Welt führen.3 Voraussetzung für eine solche Vorgehensweise ist die Annahme des Menschen als »Ort der Bilder«4, dem ein Zugang zur Kunst, hier speziell in ihrem bildhaften Charakter, grundsätzlich möglich ist. Der Mensch ist damit dem Bildanthropologen Hans Belting zufolge der eigentliche Ort, an dem Bilder »empfangen und erinnert werden«.5 Dieser grundsätzlich allen Menschen offen stehende Zugang zur Kunst ist jedoch zugleich von den Rezeptionsbedingungen determiniert, welche zu einem wesentlichen Teil auf den jeweiligen kulturellen Orientierungen beruhen. An dieser Stelle ergibt sich ein Berührungspunkt zum Humanismusprojekt. Die gemeinsame ästhetische Erfahrung einer Gruppe kulturell heterogener Rezipienten vor einem Kunstwerk weist individuell unterschiedliche Ausformungen auf. Diese unterschiedlichen Sichtweisen sind in der transkulturellen Kunstvermittlung nicht Gegenstand eines interkulturellen Vergleichs, der methodisch etwa auf Vorstellungen von Max Webers Idealtypen beruhen würde.6 Es geht vielmehr um eine Verständigung, deren Fokus sich auf graduelle Unterscheidungen von kulturell übergreifenden Gemeinsamkeiten richtet.7 Kulturelle Universalien erscheinen 3

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Hier ließe sich einwenden, dass mit der transkulturellen Kunstvermittlung auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Rezipienten z.B. unterschiedlicher Generationen, aber gleicher ethnischer Herkunft, herausgearbeitet werden könnten, so dass Transkulturalität als Konzept zu unspezifisch erscheint. Der Vorteil der Methode liegt jedoch darin, dass auf die Ethnie bezogene Unterscheidungen nicht die einzigen sind, die thematisiert werden, sondern die Vielfalt der kulturellen Bezüge und die Heterogenität der ›Mehrheitsgesellschaft‹ ebenfalls berücksichtigt wird. Vgl. Astrid Messerschmidt: »Querverbindungen. Kultur wandert – zu Transkulturalität und Erwachsenenbildung«, in: Deutsche evangelische Arbeitsgemeinschaft für Erwachsenenbildung e.V. (Hg.), Entwürfe. Themen der evangelischen Erwachsenenbildung. Evangelische Erwachsenenbildung in der zweiten Moderne 1-2 (1995) 1995, S. 56. Hans Belting: »Der Ort der Bilder«, in: ders./Lydia Haustein (Hg.), Das Erbe der Bilder. Kunst und moderne Medien in den Kulturen der Welt, München: C.H. Beck 1998, S. 34-53. Ebd., S. 34. Da die kulturelle Identität der potentiellen Museumsbesucher unbekannt ist, können Idealtypen im Sinne Max Webers aufgrund ihrer Partikularität nur begrenzt für die praktische Vermittlungsarbeit von Nutzen sein; allgemein wirksame Kriterien für eine Kunstvermittlung für kulturell heterogene Rezipienten können solcherart meiner Ansicht nach nicht gewonnen werden. Christoph Antweiler: »Kulturuniversalien für einen Humanismus. Ideen zu einer Arbeitsaufgabe der Menschheit«, Working Papers No. 7, Humanism 199

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somit nicht als konkurrierend im Sinne des »clash of civilizations«,8 sondern als Anknüpfungspunkte, die den Austausch zwischen Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Bezügen befördern können.9 Dabei wird die Partikularität der Ansichten als Chance begriffen, voneinander lernen zu können, so dass kulturelle Differenz nicht als diskriminierend, sondern als bereichernd erfahren werden kann. Lässt sich eine in diesem Sinne transkulturelle Kunstvermittlung mit Rezipienten heterogener kultureller Orientierungen im Museum tatsächlich bewerkstelligen? In diesem Beitrag geht es mir weder um eine ausführliche Darlegung der theoretischen Grundlagen eines solchen Vermittlungsformates, noch um die detaillierte rezeptionsästhetische Analyse eines Werkbeispiels. Vielmehr steht ein kurzer Erfahrungsbericht aus der Vermittlungspraxis im Mittelpunkt, um anhand eines konkreten Beispiels die Möglichkeiten und Grenzen dieses Ansatzes zu veranschaulichen.

2. Transkulturalität Das Konzept der Transkulturalität verstehe ich ausgehend von Wolfgang Welsch als heuristisches Instrument zur Überwindung von dichotomischen Unterscheidungen zwischen Kulturen.10 Mit dem Konzept der Transkulturalität wird ein Perspektivwechsel möglich, so dass stattdessen die vielfältigen kulturellen Verknüpfungen in den Blick geraten, die eine klare Differenzierung zwischen vermeintlich Andersartigem unmöglich macht. Unter dem Blickwinkel der Transkulturalität erscheinen

in the Era of Globalization – An Intercultural Dialogue on Culture, Humanity, and Values. A project of the Institute for Advanced Study in the Humanities, Essen 2007, vgl. http://www.kwi-humanismus.de/de/k30. Working-Papers.htm vom 04.05.2009, S. 26. 8 Samuel P. Huntington: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York: Simon und Schuster 1998; bei Jörn Rüsen: »Towards a New Idea of Humankind – Unity and Difference of Cultures in the Crossroads of Our Time«, Working Papers No. 2, Humanism in the Era of Globalization – An Intercultural Dialogue on Culture, Humanity, and Values. A project of the Institute for Advanced Study in the Humanities, Essen 2007, vgl. http://www.kwi-humanismus.de/de/k30.WorkingPapers.htm vom 04.05.2009, S. 6. 9 Während Rüsen die Differenzerfahrung in den Vordergrund stellt, geht der hier verfolgte Ansatz umgekehrt vom Gemeinsamen aus, das je unterschiedlich rezipiert wird. Vgl. ebd., S. 16. 10 Wolfgang Welsch: »Transkulturalität – die veränderte Verfassung heutiger Kulturen«, in: Stiftung Weimarer Klassik (Hg.), Sichtweisen. Die Vielheit in der Einheit, Weimar: Edition Weimarer Klassik 1994, S. 83-122. 200

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solche Unterscheidungen als unhaltbar, etwa Herders Vorstellung von ethnisch verstandenen, einheitlichen und voneinander abgegrenzten Kulturkreisen, von denen sich Welsch bewusst absetzt.11 Zwar ist auch unter den Vertretern der Interkulturalität inzwischen Konsens, dass Kulturen nicht voneinander abgeschlossene Phänomene sind, sondern intern und extern offen und beweglich verfasst.12 Doch wirken die Vorstellungen solcher Kulturkreise bis heute nach: in der Literatur der interkulturellen Pädagogik der letzten zwanzig Jahre etwa wird das Phänomen Kultur häufig mit Schaubildern in Gestalt von Eisbergen erläutert, die gleichsam eine verschärfte, gefährlichere Version der Kulturkreise darstellen, da wesentliche kulturelle Unterschiede unter der Wasseroberfläche verborgen bleiben und damit, so ist zu folgern, potentiell gefährlich sind. Solche bildhaften Vergleiche stellen die Situation der Kulturen insbesondere zu Zeiten der Globalisierung und den damit verbundenen weltweiten kulturellen Verflechtungen verkürzt dar. Dichotomische Abgrenzungen der Kulturen voneinander auf Basis homogenisierender Vorstellungen, wie sie im Ansatz der Interkulturalität enthalten sind, sind zudem für den tatsächlichen Dialog mit Menschen heterogener kultureller Bezugspunkte hinderlich. Denn das Herausarbeiten von Differenzen und die Konzentration auf Differenzerfahrung läuft Gefahr, eine Hierarchisierung der Beziehungen nach sich zu ziehen, die einem gleichberechtigten Austausch im Wege steht.13 Stattdessen werden Stereotypisierungen und letztlich Vorurteile solcherart erst produziert bzw. verstärkt.14

11 Ebd., S. 87. 12 Vgl. J. Rüsen: Towards a New Idea of Humankind, S. 10. 13 In der Pädagogik wird das Konzept der Transkulturalität von ihren Vertretern als Korrektiv solcher durch interkulturelle Trainings entstehenden Problematiken verstanden, vgl. Traugott Schöfthaler: »Multikulturelle und transkulturelle Erziehung: zwei Wege zu kosmopolitischen Identitäten«, in: International Review of Education. Internationale Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 30 (1984), S. 12ff. Zur Problematik interkultureller pädagogischer Formate, Fremdheitserfahrung und Diskriminierung zu verstärken, siehe auch Georg Auernheimer: Einführung in die Interkulturelle Pädagogik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 42005, S. 73. Neuere Ansätze zur Transkulturalität in der Pädagogik finden sich in Asit Datta (Hg.): Transkulturalität und Identität. Bildungsprozesse zwischen Exklusion und Inklusion, Frankfurt/Main, London: IKO-Verlag 2005. In meiner Arbeit beziehe ich allgemein als gesichert geltende Ergebnisse der interkulturellen Pädagogik ein, sofern sie nicht dem transkulturellen Ansatz widersprechen. 14 Alexander Thomas: »Können interkulturelle Begegnungen Vorurteile verstärken?«, in: ders. (Hg.), Psychologie und multikulturelle Gesellschaft. Problemanalyse und Problemlösungen. Ergebnisse des 14. WorkshopKongresses der Sektion Politische Psychologie im Berufsverband Deut201

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Unter dem Blickwinkel der Transkulturalität gelangen dagegen die Gemeinsamkeiten und Anknüpfungspunkte der Kulturen in den Blick wie auch deren »Ergänzungsbedürftigkeit«15 – also die Frage, was Menschen mit verschiedenen kulturellen Bezügen voneinander lernen können, ohne dass dabei unterschiedliche kulturelle Orientierungen preisgegeben, sondern Spannungen akzeptiert werden. Laut Welsch nehmen die »Verständigungsmöglichkeiten«16 in transkultureller Perspektive zu; eine Annahme, die meinen Ansätzen für eine transkulturelle Vermittlungspraxis zugrunde liegt. Für eine praktische Umsetzung des Konzeptes der Transkulturalität bieten außerdem Arjun Appadurais Überlegungen wertvolle Hinweise. Als besonders fruchtbar erweist sich sein Verständnis von weltweiten kulturellen Strömen, die ungeachtet nationaler Grenzen verlaufen. Er bezeichnet sie als »ethnoscapes, mediascapes, technoscapes, financescapes and ideoscapes«.17 Die an Landschaft erinnernden Bezeichnungen sollen verdeutlichen, dass diese Ströme perspektivisch von den Einzelnen jeweils unterschiedlich angeeignet werden, so dass sie keineswegs kulturell homogenisierend wirken, sondern von dem jeweiligen Kontext ihrer Akteure durchdrungen sind.18 Diese Annahme individueller Akteure korrespondiert mit derjenigen vom Menschen als »Ort der Bilder« und lässt sich auf die Situation der Kunstvermittlung übertragen, wo es um den reflektierten Nachvollzug verschiedener Perspektiven geht. Dem nun folgenden Beispiel aus der Vermittlungspraxis liegt die Frage zugrunde, wie das Konzept der Transkulturalität, dem von Kritikern Unschärfe und methodische Unbrauchbarkeit vorgeworfen wird, nicht nur deskriptiv zur Beschreibung der Verfassung der Kulturen heute verwendet, sondern wie es im Sinne Welschs auch normativ in der Praxis fruchtbar gemacht werden kann.

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scher Psychologen (BDP) in Regensburg, Göttingen: Hogrefe 21996, S. 232f. T. Schöfthaler: Multikulturelle und transkulturelle Erziehung, S. 20. Auch Welsch leugnet nicht, dass kulturelle Unterschiede weiterhin bestehen und wirksam sind, allerdings treten sie insbesondere unter den Bedingungen der Globalisierung auf andere Weise in Erscheinung. Siehe W. Welsch, Transkulturalität, S. 97. Ebd., S. 110. Arjun Appadurai: »Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economy«, in: Mike Featherstone (Hg.), Global Culture. Nationalism, Globalization and Modernity, London, Newbury Park (CA), New Delhi: Sage 1990, S. 296. Ebd.

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3. Vermittlungspraxis – ein Erfahrungsbericht Format Unter dem Titel »Mit anderen Augen sehen« biete ich seit Herbst 2007 zusammen mit Suzan Öcal, Referentin für Öffentlichkeitsarbeit und interkulturelle Bildung im Referat für Integration und Zuwanderung der Stadt Wuppertal, eine Reihe einmal pro Monat stattfindender einstündiger öffentlicher Führungen im Von der Heydt-Museum Wuppertal an.19 Im Gespräch über Kunst mit kulturell heterogen verfassten Besuchergruppen werden die Kriterien der Transkulturalität zur Anwendung gebracht.20 Ziel dieser Reihe ist es keineswegs, in Führungen klassischen Formats, also in Vorträgen, ausschließlich einem Publikum mit ›Migrationshintergrund‹ kunst- und kulturhistorisches Fachwissen über deutsche bzw. westeuropäische Malerei und Skulptur zu vermitteln. Solch einen kompensatorischen Ansatz, der der Ausländerpädagogik der 1980er Jahre entsprechen würde, vertrete ich nicht.21 Im Unterschied zu

19 Das Von der Heydt-Museum Wuppertal wurde 1902 von Bürgern der Stadt gegründet. Entsprechend beherbergt das Haus eine dezidiert bürgerliche Sammlung; Schwerpunkte liegen in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, in Skulptur und Malerei des 19. Jahrhunderts und in Werken v.a. deutscher Künstler der klassischen Moderne. Näheres siehe Sabine Fehlemann (Hg.): Von der Heydt-Museum Wuppertal. Zur Geschichte von Haus und Sammlung, Berlin, Hamburg: Edition StadtBauKunst 1990. 20 Das Funktionieren des Formats hängt entscheidend davon ab, dass möglichst kulturell heterogen zusammengesetzte Besuchergruppen teilnehmen. Voraussetzung sind außerdem gute Deutschkenntnisse, um der Diskussion sprachlich folgen und sich an ihr beteiligen zu können. Frau Öcal wirbt für die Veranstaltungen regelmäßig in allen lokalen Medien (Zeitungen, Radio, Lokalfernsehen, Internet: siehe http://www.integration-in-wupper tal.de; http://www.interkultur-wuppertal.de vom 29.12.2008). Über einen E-Mail-Verteiler werden interessierte Teilnehmer sowie einzelne Interessengruppen, beispielsweise Migrantenselbstorganisationen in Wuppertal, gezielt für die einzelnen Veranstaltungen eingeladen. 21 Damit möchte ich keineswegs ausschließen, dass ein solcher Ansatz nicht auch berechtigt und unter bestimmten Voraussetzungen sinnvoll ist. Wenn eine relativ homogene Gruppe, beispielsweise traditionelle muslimische Frauen, zum ersten Mal ein Kunstmuseum in Deutschland besucht, ist die klassische Vermittlung kunst- und kulturhistorischer Inhalte angebracht, da sie erfahrungsgemäß auf großes Interesse stößt. Aber auch hier empfiehlt sich gelegentlich die Einnahme einer transkulturellen Perspektive zur Fokussierung auf gemeinsame Anknüpfungspunkte, um so ggf. auch Unerwartetes von den Besucherinnen zu erfahren und als Vermittlerin immer auch Lernende zu sein, die in ihrer Funktion nicht unversehens die Rolle kultureller Überlegenheit einnimmt. Vgl. Fußnoten 13 und 14. 203

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einer an nationalen Wertvorstellungen orientierten Kunstvermittlung im Sinne Alfred Lichtwarks22 geht es hier um die Einbeziehung verschiedener kultureller Standpunkte vor einem gemeinsam betrachteten Gegenstand, dem jeweiligen Kunstwerk. Die Kunstvermittlerin beansprucht damit nicht länger die alleinige Autorität ihres Fachwissens, sondern integriert andere Erfahrungshorizonte zur Deutung von Kunstwerken in eine möglichst gleichberechtigte, konsequent dialogische Vermittlung.23 Diese ist durchaus vergleichbar mit der Methode des Hin- und Herfragens von Max Imdahl während seiner Gespräche mit Arbeitern im Bayerwerk Leverkusen,24 der seine fachliche Autorität im Verlauf dieser Gespräche zur Diskussion stellte und davon ausging, dass kunsthistorisches Vorwissen für das Betrachten moderner Kunst nicht vonnöten sei.25 Doch geht es in der transkulturellen Kunstvermittlung nicht in erster Linie um den Prozess des erkennenden Sehens, einer rein ästhetischen Erfahrung, durch die das jeweilige Kunstwerk aktualisiert wird, sondern in der Rezeption des Werkes soll neben Informationen zu seiner Entstehung der Bezug zu gesellschaftlichen Entwicklungen wie auch zum Rezipienten und seiner Biografie hergestellt,26 also etwas außerhalb der ästhetischen Erfahrung Liegendes einbezogen werden. Durch die Kooperation mit Suzan Öcal, einer studierten Sozialwissenschaftlerin und Germanistin mit dem Schwerpunkt interkulturelle Bildung, wird diese Relativierung der fachlichen Autorität und der kulturellen Bezüge auch bei der Instanz der Vermittlung selbst realisiert.27 22 Richard Hoppe-Sailer: »Kunstvermittlung heute – ein kritischer Überblick. Zu den ersten Tagen der Kunstvermittlung«, in: Transfer. Beiträge zur Kunstvermittlung, No 2: Zum Stand der Kunstvermittlung heute. Ansätze Perspektiven Kritik 2 (2003), S. 12. 23 Eine ähnliche Methode für die Arbeit mit Bildern hat Annita Kalpaka entwickelt, ohne dabei auf deren Spezifik einzugehen. Annita Kalpaka: »Jede Menge Bilder – Arbeiten mit Bildern«, in: Der Ausländerbeauftragte der Stadt Hamburg (Hg.), Bildung und Erziehung im Einwanderungsland, Hamburg 1994, S. 207-281. 24 Max Imdahl: Arbeiter diskutieren Moderne Kunst. Seminare im Bayerwerk Leverkusen, Edition »Kunstbuch Berlin«, Berlin: Rembrandt Verlag 1982. 25 Siehe Beate Florenz: »Kunstvermittlung von Imdahl aus?«, Vortrag zum Max Imdahl Kolloquium am 21. und 22. Nov. 2008, situation kunst, Bochum-Weitmar, unveröffentlichtes Manuskript. 26 Die Biografie-Arbeit wird von Vertretern der transkulturellen Pädagogik empfohlen, siehe z.B. T. Schöfthaler: Multikulturelle und transkulturelle Erziehung, S. 21; A. Messerschmidt: Querverbindungen, S. 56. 27 Suzan Öcal ist zudem mit verschiedenen kulturellen Orientierungen aufgewachsen – sie ist in Schwelm geboren, ihre Eltern stammen aus der Türkei. Meine eigene Motivation zur Entwicklung eines Formats der transkulturellen Kunstvermittlung rührt von verschiedenen Auslandsauf204

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Für die einzelnen Treffen werden insbesondere solche Kunstwerke ausgewählt, die beispielsweise Aspekte der gegenwärtigen Situation einer kulturell heterogenen Gesellschaft explizit aufgreifen (Olaf Metzel: Turkish Delight, 2007), oder ältere Kunstwerke, die historische Beispiele für kulturelle Austauschprozesse darstellen, um deren heutige Relevanz zu diskutieren (z.B. flämische Prunkstilleben aus dem 17. Jahrhundert und Kolonialismus), oder – wie in der Literatur zur interkulturellen Museumspädagogik empfohlen – solche Kunstwerke aller Epochen, die elementare menschliche Themen wie z.B. Rituale, Menschenbilder, Jahreszeiten, Natur widerspiegeln, zu denen sich Betrachter kulturübergreifend in Beziehung setzen können.28 Nach der Bildauswahl durch Suzan Öcal und mich erfolgt eine Festlegung des Ziels der jeweiligen dialogischen Vermittlung und Überlegungen zu entsprechenden Fragen, mit denen der Dialog zwischen Rezipienten, Werk und Vermittlern angeregt werden soll. Während die Recherche kunsthistorisch relevanter Inhalte zum Werk von mir übernommen wird, erfolgt durch Suzan Öcal die Ermittlung gesellschaftspolitisch relevanter Daten und Fakten zum Thema. So wird auch der historischen Spezifik von Werk und Thematik nachgegangen. Der Prozess der Vermittlung ist also zu einem Teil gesteuert; da die Teilnehmer meist unbekannt sind, ist der Ablauf allerdings jedes Mal weitgehend unvorhersehbar und das Erreichen der geplanten Ziele ungewiss. Gerade darin liegt eine der Herausforderungen an die Vermittlerinnen, die im kunstdidaktischen Diskurs aktuell mit den Stichworten des »Risikos«, des »Scheiterns« und der »Unwägbarkeit« des Vermittlungsprozesses diskutiert werden.29 Eine weitere Anforderung an die Vermittlerinnen besteht darin, im Verlauf des Gesprächs die eigenen Vorstellungen bezüglich vermeintlicher kultureller Eigenheiten stets zu hinterfragen und stereotype Zuenthalten her; zuletzt in Cincinnati, Ohio, USA, wo ich als Kunstvermittlerin im Contemporary Arts Center (CAC) tätig war und die erste Idee zu diesem Projekt entwickelt habe. – Das CAC hat keine eigene Sammlung, sondern zeigt nach Art einer Kunsthalle in wechselnden Ausstellungen internationale zeitgenössische Kunst. Siehe http://www.contemporary artscenter.org/ (Zugriff vom 28.12.2008). 28 Carola Marx: »Kunst als Schlüssel zur Fremdkultur? Aspekte interkulturellen Lernens mit Kunstwerken«, in: Standbein Spielbein. Museumspädagogik aktuell: Lernziel Sprache – leichter lernen im Museum 70 (Dezember 2004), S. 11. 29 Siehe z.B. Pierangelo Maset: Praxis Kunst Pädagogik. Ästhetische Operationen in der Kunstvermittlung, Lüneburg: Edition Hyde 22002, besonders S. 13 und 17; Fachkongress »curriculum des unwägbaren«. Ästhetische Bildung im schulischen und gesellschaftlichen Kontext, Yehudi Menuhin Stiftung, 20. Oktober 2006, Folkwang Hochschule in Essen. 205

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schreibungen zu vermeiden. Außerdem sollten Teilnehmer mit ›Migrationshintergrund‹ nicht auf die Rolle von Repräsentanten ›ihrer‹ Kultur reduziert werden.30 Letzteres entspräche einer interkulturellen Ausrichtung des Formats, die Gefahr liefe, die Entstehung oder Verfestigung von Vorurteilen und Hierarchien zu befördern. Zu einem wesentlichen Prinzip der transkulturellen Vermittlung gehört es, zu Beginn der Gespräche – auch hier Imdahl folgend – die generellen Ziele der Veranstaltung und die Bedingungen, unter denen die Vermittlung erfolgt, also auch die eigenen kulturellen Bezüge, offen zu legen. Angesichts der teils prekären Themen werden zu Beginn jeder Veranstaltung Gesprächsregeln vorgeschlagen, die Diskriminierungen unterbinden sollen. Es wird zu einer andere Meinungen akzeptierenden Haltung aufgefordert, um möglichst allen Teilnehmern die Gelegenheit zu geben, sich ins Gespräch einzubringen.31

Ein Beispiel: Gerhard Richters »Scheich mit Frau« Der Titel der Veranstaltung zu Gerhard Richters »Scheich mit Frau« von 1966 (Öl auf Leinwand, 140 x 135 cm) lautete »Geliebte Fremde – exotische Verhältnisse zwischen Faszination und Alltag«; Termin war der 26. Juni 2008; es nahmen insgesamt 16 Personen teil; die Gruppe war bezüglich Alter, Geschlecht und den kulturellen Orientierungen äußerst heterogen.32 Richters Gemälde »Scheich mit Frau« ist eine von zahlreichen Arbeiten, denen Fotografien aus Illustrierten zugrunde liegen, wie sie seit 1966 wiederholt entstanden sind.33 Es handelt sich um eines der frühes-

30 A. Thomas: Können interkulturelle Begegnungen Vorurteile verstärken?, S. 236f. 31 Entsprechende Empfehlungen sind Konsens und finden sich auch in Beiträgen, die der interkulturellen Pädagogik zuzurechnen sind, z.B. Horst Siebert: »Interkulturelles Lernen in der Erwachsenenbildung«, in: Annette Scheunpflug/Alfred K. Treml (Hg.), Entwicklungspolitische Bildung. Bilanz und Perspektiven in Forschung und Lehre. Ein Handbuch, Tübingen, Hamburg: Schöppe und Schwarzenbart 1993, S. 343. 32 Verschiedene Altersstufen von Anfang 20 bis ca. 65 waren vertreten; es nahmen 5 Männer und 11 Frauen teil; über den Bildungsstand lassen sich nur Vermutungen anstellen, jedoch waren die meisten eher gut ausgebildet, z.T. auch akademisch. Ungefähr die Hälfte der Rezipienten besaß einen ›Migrationshintergrund‹ oder hatte Erfahrungen mit bi-kulturellen Partnerschaften. 33 Bei der Fotografie handelt es sich um eine jener Bildvorlagen, die Richter z.T. in seinem »Atlas« gesammelt hat; das konkrete Beispiel ist allerdings nicht dort enthalten. Der genaue Hintergrund, vor dem die Fotografie entstanden ist, konnte daher nicht ermittelt werden. 206

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ten Beispiele für dieses Vorgehen, »figurative Motive malerisch umzusetzen, ohne selbst zu komponieren«.34 Das Gemälde folgt den medialen Bedingungen seiner Bildvorlage, so dass in der Verwendung von ausschließlich Grau- und Weißtönen trotz der unscharfen Malweise die Eigenheiten fotografischer Bilder sichtbar werden. Richter zeigt leicht aus der Untersicht das Paar eines Scheichs und einer Frau im Cocktailkleid, die auf einem nicht näher identifizierbaren Möbelstück sitzen und offenbar lächelnd in die Kamera blicken, wiewohl die Gesichtsausdrücke durch die Verwischung der noch nassen Farbe nicht mehr eindeutig zu bestimmen sind. Die Umgebung, in der das zugrundeliegende Foto entstanden ist, bleibt ebenfalls uneindeutig; vage ist ein kleiner Tisch, auf dem ein Telefon steht, auszumachen. Er ist links vor dem Scheich platziert, der dadurch etwas in den Hintergrund rückt, während die elegant übereinander geschlagenen Beine der Frau kompositorisch ein prominentes Gegengewicht im Bildvordergrund bilden.

Gerhard Richter: »Scheich mit Frau«, 1966. Öl auf Leinwand, 140x135 cm, Von der Heydt Museum Wuppertal

34 Dietmar Elger: Gerhard Richter, Maler, Köln: DuMont 2008, S. 62. 207

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Es scheint sich um eine aus privatem Anlass entstandene Fotografie zu handeln, die zur Illustration einer jener Lebensgeschichten veröffentlicht gewesen sein muss, für die sich Richter zu jener Zeit interessiert hat.35 Obwohl Richter den Bildvorlagen nach eigenen Worten keinerlei Bedeutung zumisst und es ihm um die Beliebigkeit der Motive geht, zeigt die jüngere Forschung, dass sich der Künstler bei seiner Auswahl häufig mit solchen Begebenheiten befasst hat, die an seine eigene Biografie angeknüpft haben, so dass das gewählte Motiv keineswegs irrelevant ist.36 Herausgelöst aus dem eigentlichen Kontext und ohne Hinweis auf die zugrundeliegende ›Story‹ bleibt das Bild jedoch offen für unterschiedliche Lesarten, zumal durch die Verwischung der Farbe bedingt die Intention der Darstellung uneindeutig erscheint. Aus der Bildgenese kann daher sowohl eine Indifferenz und Distanz dem Motiv gegenüber geschlossen werden als auch Richters bewusste Auseinandersetzung damit.

Zielsetzung Die Planung des Gesprächs über Richters Gemälde beinhaltete drei große Blöcke: erstens Fragen und Informationen zum Gemälde; zweitens Fragen und Informationen zum Bild bi-kultureller Ehen in den Medien und Hintergrundinformationen zur rechtlichen Lage in den späten 1960er Jahren sowie drittens das medienvermittelte Bild bi-kultureller Ehen in der Gegenwart. Das Ziel der Vermittlung bestand darin, die individuellen und gesellschaftlichen Erfahrungen und den Einfluss der Medien offenzulegen, auf denen die jeweilige Deutung des Gemäldes gründet, und deren relative Gültigkeit erkennbar zu machen. Die Fragen, die an die Rezipienten gestellt wurden und die sich auf das Motiv, die spezifische Malweise, den historischen Kontext und die Medien heute bezogen, lauteten beispielsweise: • Was halten Sie von dieser Frau? Was denken Sie über den Mann? • Wie, glauben Sie, geht es diesem Paar? Um was für eine Ehe handelt es sich? • Welches Bild wird uns hier von dem Paar gezeigt? • Woran kann man erkennen, dass es sich um eine Fotografie als Vorlage handelt? • Warum zeigt Richter nicht gleich die Fotografie? • Wie betrachten wir normalerweise eine Fotografie? Was halten wir von dem, was wir auf einem Foto sehen?

35 Ebd., S. 64. 36 Z.B. zum Thema Flucht, siehe ebd., S. 63f. 208

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• • • •

Was heißt es also, wenn Richter von einer Fotografie ein Bild macht? Was wäre anders, wenn er direkt ›nach der Natur‹ malen würde? Was bewirkt die Verwischung für unsere Wahrnehmung? Was heißt/hieß überhaupt bi-kulturell? Welche Bilder über bi-kulturelle Paare zirkulieren heute in den Medien?

Diese und weitere Fragen bildeten einen Leitfaden für den Dialog, sie zeigen jedoch nicht eine tatsächlich eingehaltene Reihenfolge oder den Ablauf des Gesprächs an. Sie dienten vielmehr dazu, das Gespräch zielgerichtet moderieren zu können und einzelne, auch abwegige Reflexionen der Rezipienten immer wieder an das Gemälde zurückzubinden und damit zur Diskussionsgrundlage zu machen.

Ablauf Im Gespräch wurden sehr unterschiedliche Sichtweisen deutlich, die auf dem individuellen Erfahrungshorizont und auf der Berichterstattung der Medien beruhen, welche auf kursierende Vorstellungen von bi-kulturellen Ehen gleichermaßen einwirken können. Es entwickelte sich eine lebhafte Diskussion über die öffentliche Meinung und die Erfahrung mit bikulturellen Partnerschaften, über die einige Rezipienten freimütig berichteten und die ihre Deutung des Gemäldes beeinflusste. Die im Format angestrebten, vielfältigen Sichtweisen kamen vor allem in der Art, wie die Personen gedeutet wurden, zur Sprache. Die Frau wurde u.a. für naiv und etwas dümmlich, aber auch für stark und ihrem Mann gegenüber dominant gehalten. Dabei sagen die Begründungen für die verschiedenen Lesarten ebenso viel über den jeweiligen Rezipienten aus und seine oder ihre kulturellen Bezugspunkte wie über das Gemälde Richters, so dass diese Aussagen keineswegs völlig beliebig sind, denn sie knüpfen in jedem Fall an eine konkrete Beobachtung des Gemäldes an. Damit wurde zugleich die Gültigkeit wie auch die Relativität der einzelnen Beobachtungen deutlich und eine gleichberechtigte Verständigung aller Beteiligten ermöglicht. Die jeweilige Lesart ließ sich nicht allein auf die ethnische Herkunft der Rezipienten reduzieren, sondern über ethnische Begrenzungen hinaus wurden Gemeinsamkeiten in der Anschauung wie auch die Vielfalt der kulturellen Bezüge erkennbar. Lediglich Äußerungen, denen ein essentialistischer Kulturbegriff zugrunde lag und die diskriminierend waren, wurden zurückgewiesen; dies geschah sogar durch die übrigen Rezipienten selbst, ohne dass die Vermittlerinnen eingreifen mussten. 209

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Fazit Es eignen sich insbesondere offen strukturierte, uneindeutige Kunstwerke der zeitgenössischen Kunst wie das Beispiel von Gerhard Richter, das sich zudem thematisch auf eine kulturell heterogene Gesellschaft bezieht, für eine solche Diskussion, die vielfältige Positionen geradezu einfordert und damit eine transkulturelle Rezeption begünstigt. »Der Rezipient findet sich am Ende seiner Betrachtung häufig in einer unentscheidbaren Situation wieder. Wahrheiten changieren: Das eine ist wahr, aber das andere auch«, so Jürgen Müller 2007 in einem Vortrag am Gerhard Richter Archiv, Dresden, zu Richters Art, in Bildern zu denken.37 Gerade die Tatsache, dass die Bildvorlage aus ihrem ursprünglichen Kontext, einer Illustrierten, gelöst worden ist, lässt in der Vermittlung die Einbeziehung verschiedener Erfahrungen zur Erklärung des Bildes zu, während das malerische Verfahren zugleich Distanz zum Rezipienten erzeugt und eine Identifikation verhindert. Auch ist Richters Werk hier besonders geeignet, da er das Motiv von vornherein als zunächst fotografisch erzeugtes Bild zu sehen gibt und damit unweigerlich die medial vermittelte Realität thematisiert.38 Für die Anregung zu einem offenen Gespräch ist dies besonders wirksam, da die Rezipienten darüber diskutieren können, welche Meinungen in den Medien produziert werden, anstatt ihre persönlichen Ansichten unvermittelt offenbaren zu müssen. Direkte Fragen wie: »Was halten Sie von bi-kulturen Ehen?« erzeugen erfahrungsgemäß lediglich stereotype Antworten – entweder im affirmativen Sinne oder auf negativen Vorurteilen beruhend, wodurch in beiden Fällen jedoch ein tiefgehender Austausch zwischen Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Orientierungen verhindert wird.39 Zudem würde das Bild hier nur als Illustration dienen; die Eigenart des Kunstwerkes und die seiner Rezeption wäre jedoch nicht berücksichtigt. Gerade in der Anforderung, die Kunstwerke nicht bloß als Anlass für eine Diskussion über die Chancen und Probleme einer kulturell heterogenen Gesellschaft aufzufassen, liegt die besondere Schwierigkeit einer transkulturellen Kunstvermittlung. Der Anspruch, die individuellen Erfahrungen nicht unkommentiert zu lassen oder absolut zu setzen, macht es erforderlich, die Beobachtungen und deren Deutung jeweils an 37 Jürgen Müller: »Einführung. Vom Denken in Bildern«, in: Dietmar Elger, (Hg.), Sechs Vorträge über Gerhard Richter. Februar 2007, Residenzschloss Dresden (=Schriften des Gerhard Richter Archivs Dresden, Bd. 1), Köln: König 2007, S. 9. 38 Auch wenn es hierzu widersprüchliche Positionen in der RichterForschung gibt. Siehe D. Elger: Gerhard Richter, S. 65. 39 G. Auernheimer: Einführung in die Interkulturelle Pädagogik, S. 158. 210

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das Gemälde zurückzubinden, damit sie für alle nachvollziehbar und damit reflexiv erfassbar sind. Diese Rückbindung der Lesarten an das Gemälde ist notwendige Voraussetzung für das Gelingen der transkulturellen Vermittlung, will sie nicht als beliebige Gesprächsrunde enden. Werk und Betrachter sind somit tatsächlich gleichberechtigte Größen im Rahmen der Vermittlung. In diesem Sinne fördert eine transkulturelle Kunstvermittlung die Verständigung zwischen Rezipienten mit heterogenen kulturellen Orientierungen und die Kontextualisierung des jeweiligen Kunstwerkes in den eigenen Horizont und die Horizonte der anderen Teilnehmer, die nicht notwendigerweise miteinander verschmelzen müssen. Das Format bietet somit die Möglichkeit, die Begrenztheit der eigenen Perspektive zu erfahren und mit anderen Sichtweisen in Beziehung zu setzen, kurz: Kunst mit anderen Augen zu sehen.

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TRANSKULTURELLE KUNSTVERMITTLUNG IM MUSEALEN KONTEXT

Schöfthaler, Traugott: »Multikulturelle und transkulturelle Erziehung: zwei Wege zu kosmopolitischen Identitäten«, in: International Review of Education. Internationale Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 30 (1984) S. 11-24. Siebert, Horst: »Interkulturelles Lernen in der Erwachsenenbildung«, in: Annette Scheunpflug/Alfred K. Treml (Hg.), Entwicklungspolitische Bildung. Bilanz und Perspektiven in Forschung und Lehre. Ein Handbuch, Tübingen, Hamburg: Schöppe und Schwarzenbart 1993, S. 335-347. Thomas, Alexander: »Können interkulturelle Begegnungen Vorurteile verstärken?«, in: ders. (Hg.), Psychologie und Gesellschaft. Problemanalyse und Problemlösungen. Ergebnisse des 14. WorkshopKongresses der Sektion Politische Psychologie im Berufsverband Deutscher Psychologen (BDP) in Regensburg, Göttingen: Hogrefe 2 1996, S. 227-239. Welsch, Wolfgang: »Transkulturalität – die veränderte Verfassung heutiger Kulturen«, in: Stiftung Weimarer Klassik (Hg.), Sichtweisen. Die Vielheit in der Einheit, Weimar: Edition Weimarer Klassik 1994, S. 83-122.

Bildrechte Die Rechte für das Bild von Gerhard Richter, »Scheich mit Frau«, liegen beim Künstler.

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Deconstructing deconstruction: Umberto Ec o’s Baudolino as a huma nist c ritique of postmodernis m GALA REBANE

Abstract For good or bad, the epoch of postmodernism seems to be finally over. In how far was the whole postmodernist culture predicated on the totalising logic of late capitalism, as Fredrick Jameson (1991) vehemently asserted? And what developments can be observed in the cultural sphere after the major crisis of the dominant political, economic and social order of the West, often dated from 9/11? Contemporary developments in the national historical fiction of Italy reveal a prominent shift from the ontological dominant, which, arguably, underlay postmodernist literature (McHale 1997) to the axiological dominant and the ensuing search for universal human values. It is the intention of the present paper to exemplify this theoretical stance with an analysis of Baudolino (2000) by Umberto Eco, the novel representing a meta-reflective compendium of the most essential traits of historiographic metafiction. Exploring the ultimate limits of narrative deconstruction, the novel exerts a neohumanist critique of the onto-epistemology of postmodernism and posits the question of the transcendability of discourse and of the monadic subject’s principal non-deconstructability.

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Requiem for an epoch The postmodernist era seems to have come to an end. Was it terminated abruptly by the events of 9/11 which forced the western world to face the fact that humanity was far from having resolved all, or at least the most distressing, socio-political conflicts, and could acquiesce in a posthistorical paradise of discursive constructs and ever-changing images?1 Or was postmodernism’s decease already covertly inherent in its vital core, so that in the last two decades the symptoms of its agony had gradually been growing ever more manifest, and the debris of the collapsed Twin Towers in 2001 just became a horrendous tomb monument to the collective illusions of the still-born epoch? The latter view has been frequently expressed by left-wing critics who regarded postmodernist culture even in its heyday as a screen of glossy images hiding the atrocities of modern life out of public view. One of the most influential Marxist literary scholars, Fredric Jameson, put his view on postmodernism in a blunt statement: »I must remind the reader of the obvious; namely, that this whole global, yet American, postmodern culture is the internal and superstructural expression of a whole new wave of American military and economic domination throughout the world: in this sense, as throughout class history, the underside of culture is blood, torture, death, and terror.«2

Italian critic Luperini pursues a similar line of judgement on the now decrepit cultural phase, stating that postmodernism was a period of general »anaesthesia« of collective life, marked by morbid and complacent nihilism, and of particular »anaesthesia« of the intellectuals whose former role of legislators and social mediators was reduced to that of entertainers,3 concluding his observations with harsh criticism on the postmodernist hypocrisy: »So much angelology, so much mendicant Heideggerism, so much Neoplatonism, so many returns to gnosis, so much ideology in the historical period which yet proclaimed itself postideological!«4 Asserting the death of postmodernism, Luperini pleads for a radi-

1 2 3 4

Cf. Romano Luperini: La Fine del Postmoderno, Napoli: Alfredo Guida Editore 2005, p. 20. Fredric Jameson: Postmodernism or, the Cultural Logic of Late Capitalism, New York, London: Verso 1991, p. 5. Cf. R. Luperini: La Fine del Postmoderno, p. 11. Ibid., p. 12 (my transl.)

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cally new cultural system which would »request other duties and responsibilities«, and in which »the unity of humankind and its very survival are at stake«.5

Judging postmodernism: plead innocent, plead guilty What most obviously disturbed the critics of postmodernism, was its intrinsic connection with the relativist philosophy of pensiero debole (Vattimo), or »weak thought«, and the poststructuralist artistic and analytical practice of deconstruction in dealing with literary texts. On the one hand, the deconstructive mode of philosophical inquiry was a major epistemic breakthrough, which promised – and to a great degree accomplished – a release from numerous repressive grands récits (Lyotard) of modernity, but on the other, it also largely became an inextricable culde-sac. Deconstructing master narratives, one could not but inevitably push the matters further ad absurdum, ending up with a disruption of any meaningful narrative and of the monadic subject her-/himself. Against this background, the much celebrated catchphrase »Anything goes« as a motto of postmodernist artistic expression often had the effect of a red rag on those who mourned the dehumanisation of arts and alienation of the individual. Yet it is arguable whether postmodernism was not an indispensable step which has paved the way for a wholly new stage in cultural development, and whether this novel, politically and morally alert cultural epoch we might be entering now is not an evolutionary succession of postmodernism, rather than a revolutionary destruction of its core principles. Despite, or, perhaps, paradoxically due to its obvious shortcomings and failures, postmodernism has provided invaluable insights into, and cognitive instruments of dealing with the ever more complex and atrocious social and political realities of the contemporaneity, thus revealing in many instances its intrinsic humanist core. By attracting critical attention to the relation between the centre and the periphery in the spheres of social, political and cultural discourse, postmodernist artists and thinkers gave various marginalised and silenced groups a platform of self-expression, which had not existed before, and by questioning and deconstructing master narratives, postmodernism provided a liberatory stance whose importance cannot be underestimated. At the same time, what it failed to give – and that remains both its major flaw and its major strength at once – are any ultimate answers to existential questions or coherent universal alternatives. As Linda Hutcheon puts it, »post5

Ibid., p. 20f. (my transl.) 217

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modernism remains questioning, and, for many, is unsatisfactory for that reason«.6

Readjusting the lens, changing the dominant Much of the criticism directed at postmodernism is largely justified. So are many of its defences. And it is my conviction that we are indeed witnessing the beginning of a new cultural period distinguished by prevailing ethical concerns and addressing the question of elemental human values in their day-to-day immediacy. In his study of postmodernist fiction, Brian McHale persuasively argues that a literary text as a document of a particular moment of cultural history is overarched by this period’s dominant and – whereas the ascendant of modernist literature had been epistemological, postmodernism shifted the focus onto post-cognitive – ontological issues.7 Pursuing his argument further, I would contend that the new stage in cultural development is in its turn predicated on an axiological dominant, and foregrounds moral and ethical questions. A change of dominants is a gradual process, and just as the late modernist and the early postmodernist fiction cannot be neatly separated from one another and often overlap within the literary record of the same writer (McHale exemplifies this stance with the works of Nabokov), so it is the case of the late postmodernist and the emergent new epoch. To substantiate the alleged transition from an ontological to an axiological dominant in literature,8 I will in this essay take a look at the late developments in the genre of the historical novel, which, according to Georg Lukács, »in its origin, development, rise and decline follows inevitably upon the great social transformations of modern times« and whose »different problems of form are but artistic reflections of these socialhistorical transformations«.9 In the wake of the well-known study by Linda Hutcheon, the historical novel in its postmodernist guise of historiographic metafiction is often regarded as paradigmatic for the postmodernist narratives.10 Considering this, it can be plausibly conjectured 6

Linda Hutcheon: A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction, London, New York: Routledge 1988, p. 191. 7 Cf. Brian McHale: Postmodernist Fiction, London, New York: Routledge 1987, esp. p. 6-11. 8 It needs to be said, however, that such a transition and shift of dominant is even more evident in other art media, in the first place in contemporary cinema. 9 Georg Lukács: The Historical Novel (1937), Harmondsworth, New York: Pelican Books 1981, p. 13. 10 Cf. L. Hutcheon: A Poetics of Postmodernism, p. 5. 218

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that a change of dominant would be best detectable in the turn-of-thecentury evolutions which the genre of the historical novel has undergone.

Transcending the limits of poststructuralism: Umberto Eco’s Baudolino I would like to concentrate on one particularly illustrative example from contemporary Italian literature, namely, Baudolino (2000) by Umberto Eco. My choice can be explained by the following reasons: firstly, Eco is considered to be among the major postmodernist writers whose works are firmly inscribed by the critics into the classical canon. His first novel, the international bestseller Il nome della rosa (The name of the rose, 1980), is often regarded as a quintessence of postmodernist writing, featuring its kernel attributes, and therefore unfailingly invoked in practically all major treaties on literary postmodernism. Artfully dealing with questions of semiotics on the one hand, and incorporating many subjects themes pertaining to the medieval legacy on the other, Il nome della rosa reflects Eco’s professional interests and in many instances ironically or ludically elucidates the relationship between the Middle Ages and our own day, which the writer theorised on elsewhere.11 Some years later, Eco wrote two more novels, Il pendolo di Foucault (The pendulum of Foucault, 1988) and L’isola del giorno prima (The island of the day before, 1994), in which he also explored the potentials of semiosis-centred historiographic metafiction. Baudolino is set against a medieval backdrop (which is not the case in Il pendolo di Foucault and L’isola del giorno prima), and by this token, implies a certain contiguity with Il nome della rosa. In it Eco further expounds his ideas on the medieval legacy in European culture, whose entailments range from literary artefacts and loci of cultural memory12 to historically established patterns of the ideas on, the percep11 Three years previous to the creation of Il nome della rosa, Eco publishes a collection of essays Dalla periferia dell’impero. Cronache da un nuovo medioevo (From the periphery of the Empire. Chronicles from the new Middle Ages, Milano: Bompiani 1977), in which he parallels the medieval epoch with postmodernity. 12 With »cultural memory« I refer to the concept, which was initially coined and thus denominated by Jan Assmann (1992), and further elaborated in works by Aleida Assmann (1995), Astrid Erll (2005), Ansgar Nünning (in collaboration with Erll, 2006), to name but a few examples. »Cultural memory« should be understood as the »external« memory of a given group of people comprising mimetic memory, memory of material objects, and communicative memory and serving the purpose of maintaining and 219

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tion of, and the subsequent attitudes towards otherness and alienness. With regard to literary pragmatics, Baudolino is predicated on the poststructuralist premisses of the analytical dealing with, and the practical creation of texts and meaning, and overtly focuses on the semantic relationship between discourse and reality. The novel is a fictitious autobiographical story of the eponymous adoptive son of the Emperor Frederic I Barbarossa. As the reader comes to know, Baudolino allegedly masterminded many axial political events that rocked Italy and the Occident in the 12th century, and were grafted onto the successive cultural memory of the western world. Among these events are, to name but a few, the christening of the Piedmontese city of Alessandria and the end of its beleaguering by the imperial troops; the beatification of Charlemagne; the retrieval and donation of the relics of the Three Magi to the Dome of Cologne; the composition and circulation of the Letter of Prester John. According to his own confession, Baudolino is an arrant liar; the peculiarity of his fabulations, however, consists in the fact that by uttering them, the protagonist creates a reality which is able to create a general public consensus and thus to attain an autonomous validity. In order to corroborate the legitimacy claims of his foster father Barbarossa, who is craving ever more power in his opposition to the Pope, Baudolino fabricates a letter in which the legendary Prester John acknowledges the Emperor’s supremacy and proclaims himself his ally. Furthermore, Baudolino invents the whole Land of Prester John, and eventually sets off on an expedition to find it, guided by a map charted by another patent liar. Peculiarly, he indeed finds this land, or at least its outpost, the city of Pndapetzim. The same holds true for many of Baudolino’s inventions, which he skilfully stages, making others believe in them, absorb them into their »cognitive maps«, and connect them with the historical reality of the 12th century. In other words, discursive constructs get reified through the process of their enunciation, or else, their textual fixation. All this sounds very postmodern and brings to the fore those very issues which inflicted especially heavy charges on literary poststructuralism. The conceivability of hypostatisation of discourse also implies a fundamental discursive deconstructibility of any real-world phenomena. By asserting that some of the uncontested historical »facts«, which lie at the core of extant collective identities, are but mere discursive trompe-l’œils, and that reality can be, and is, just a narrative construct, passing on the connective structures of meaning in the social dimension (cf. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: C.H. Beck 1992, p. 16-21). 220

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one is inevitably constrained to admit that nothing exists outside the representation, has an ultimate transcendental meaning, or an autonomous onto-epistemic immanence. In the words of Jacques Derrida, »The text is all and nothing exists outside it.«13 Apparently, when pushed to an extreme, this stance denies any possibility of experiential knowledge, cognitive recognitions, and emotive insights alike, thus gravely affecting empathic faculties, and leading to the dehumanisation of human interaction and communication. Yet in this very novel, which broadly exploits the postmodernist principles of historical deconstruction, and infringes numerous ontological and epistemic boundaries, the author seems to have hit the bottom of the deconstructable. In the frame narrative, Baudolino rescues the Byzantine historian and erudite Niceta. The latter repays his debt by restoring the life story of Baudolino, who had lost his diaries on the flight from Pndapetzim and compares this loss to a loss of life itself, – an attitude which pinpoints the idea of the inextricability of living and narrating, central to much of postmodernist theory and fiction.14 And yet retelling his life, Baudolino is forced to revise it from a new perspective. In his conversations with Niceta, Baudolino appears to be growing ever more dissatisfied with the outcome of his deeds with regard to the psychological gratification. Although Baudolino has many affectionate relationships, his way of dealing with the ensuing emotional challenges is inherently discursive. He contributes to the thriving of his foster father Barbarossa by the means of creating myths that would legitimate and corroborate the latter's imperial power; his unrighteous passionate love for the wife of Barbarossa is consummated and ultimately exhausted in a fictitious love correspondence in which he composes both his own messages and the Empress’s answers to them; and finally, his relationship with his intimate friends is centred upon several »narrative projects« that feature the invention of the Holy Grail, the aforementioned letter of Prester John, and the composition of the cycle of poems by the famous medieval Archpoet, who, as the novel suggests, was a totally ungifted person, whose lyrics were composed for him by Baudolino. On the whole, Baudolino is deprived of any private existence and inner psychological dimension; his excogitations and emotions invariably become projected outwards and reified in the sphere of public politics and culture. By this token, he unites the principal features of both a »typical postmodern sub-

13 Jacques Derrida: Of Grammatology, translated by Gayatri C. Spivak, Baltimore, Md.: John Hopkins University Press 1976, p. 158. 14 Cf. B. McHale: Postmodernist Fiction, p. 227ff. 221

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ject«, shallow, superficial and ultimately constructed through discourse, and of a »typical postmodernist author«, who engages in joyous reshuffling and reassemblage of reality(-ies) out of available narrative fragments. The first turning point occurs for Baudolino at the sight of his dying wife Colandrina, trampled over by stampeding cattle, and their still-born baby, who does not resemble a human being but a monster: »My son was a mendacity of nature […], I was a liar and had been living as a liar to such an extent that even my semen produced a mendacity. A dead lie.«15 Yet to the insinuative question of Niceta whether Baudolino decided at that instance to change his life, Baudolino replies that the death of his family convinced him, on the contrary, that it was useless to try and be like all others: »I was telling myself: as long as you had been inventing, you invented things that had not been true but became true then. […] And yet the only time when you wanted to do one true thing, with the most artless woman imaginable, you failed and produced something that no one would ever believe or want to exist. Therefore it is better that you retreat into the world of your portents, for there at least you can decide in how far these should be, indeed, portentous.«16

Upon this episode, Baudolino apprehends the intrinsic irreconcilability between the linguistic signs and the ever unapproachable reality they connote. His diegetically »medieval« Neoplatonic insight17 leads him to an anachronistic »postmodern« decision to dismiss objective reality and to exploit instead the power potential of his own fabulations. In order to escape the superimposed ineludible stringency of real life, the protagonist adopts the function of an auctorial demiurge who discursively fash15 Cf. Umberto Eco: Baudolino, Milano: Bompiani 2000, p. 238 (my transl.) 16 Ibid., p. 239. 17 Christina Farronato dedicates her essay »Umberto Eco’s Baudolino and the language of monsters« (in: Semiotica 144 (2003), p. 319-342) to the novel’s appropriation of the medieval Neoplatonic sources such as Pseudo-Dionysius and Johannes Scotus Eriugena to the aims of semiotic reflections on the onto-epistemic status of reality and truth. With regard to the scene of Colandrina’s and the baby’s death, Farronato comments: »In the times of Baudolino, the conviction was widespread that the fetus generated inside the mother’s body was influenced by a series of immaterial events, including things that the mother would observe or read about. If the child did not resemble the father, it was automatically regarded as a monster. Baudolino realizes by looking at the little monster he has conceived that the lies he has ›simply‹ told have been reflected in his own physical progeny. […] [I]n effect the fetus mirrors Baudolino’s own monstrosity, which is mainly a discursive one«. (p. 335) 222

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ions and thus governs his own fictional worlds. Lubomír Doležel asserts in his paper on mimesis and possible worlds that »[p]ossible-worlds semantics legitimates the sovereignty of fictional worlds vis-à-vis the actual world; at the same time, however, its notion of accessibility offers an explanation of our contacts with fictional worlds. The access requires crossing of world boundaries, transit from the realm of actual existents into the realm of fictional possibles. Under this condition, physical access is impossible. Fictional worlds are accessible from the actual world only through semiotic channels by means of information processing.«18

Eco, who himself extensively wrote on the possible-worlds semantics, is perfectly aware of this stance, which he develops and applies in the subsequent chapters of the novel. Soon after the death of his family, Baudolino starts a systematic pursuit of his serendipitous invention of the Kingdom of Prester John, setting off on a long voyage to find it. Baudolino’s venture into the realm of the medieval fantastic should be understood in a twofold perspective as both a supernatural voyage beyond the world’s boundaries into the domain of the monstrous creatures from medieval bestiaries, and as a semiotic exploration of possible worlds. Yet the presumed immunity against sufferance and loss which Baudolino is seeking on his retreat into the realms created by his imagination turns out to be a mere illusion. During his expedition he loses his foster father Barbarossa, several of his friends, and his new love, the female satyr Ipazia [Hypatia] whom he has met in Pndapetzim. Moreover, once back to Constantinople, Baudolino believes to have discovered that one of his most prodigious inventions, the Holy Grail, had been the reason for the murder of Barbarossa by the power-obsessed Archpoet who had been craving the Grail for himself. Baudolino avenges his foster father by killing the Archpoet in a duel. The tragic clash between the fictional and the real world dissolves the fellowship of Baudolino’s remaining companions. His duel with the Archpoet is the first action of Baudolino in which he accepts, albeit against his will, his moral responsibility for both the »monsters« he has discursively created and released into the real world, and for the actual effects which these simulacra have produced. The killing of his friend represents a fundamental challenge, which Baudolino cannot tackle anymore through a flight into imaginary realms, and is thence forced to face directly. It triggers off the painful process of fundamental revision and reassessment of his whole life and, more im18 Lubomír Doležel: »Mimesis and Possible Worlds« in: Poetics Today 9 (1988), p. 475-96, here p. 484f. 223

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portantly still, of those cognitive and performative premisses it has been centred on. It is immediately after the duel that Baudolino meets Niceta. As both plotlines, that of the frame narrative and that of the life story of Baudolino, temporally converge, the protagonist suffers one further shock. In a conversation with a friend of Niceta's, Pafnuzio, Baudolino finally realises that the Archpoet was not the culprit of Barbarossa’s death, and that he himself, believing his adoptive father poisoned and fearing the rage of Barbarossa’s son, had staged Barbarossa’s drowning in a mountain river, which turned out to be the real cause of the emperor’s end. For Baudolino this recognition means the ultimate disruption of his belief in the omnipotence of narratives, which he had presumed to master, and his impunity as their creator. His misconceptions and a certain »demiurgic megalomania« had led him to the murder of both his foster parent and of an innocent friend. In the wake of this revelation, Baudolino decides to become a stilite, that is, a hermit meditating on the top of a pillar, trying to empty his mind of desire, imagination and thoughts as the atonement for his sin. To Niceta, who is persuading him to come down, Baudolino replies: »Now please leave me. […] I have understood what I wanted to understand by telling you my story. We don’t have anything to say to each other anymore. Thank you for having helped me to arrive where I am now«.19 The final and the most significant step Baudolino takes in the chain of painful face-offs with the consequences of his purportedly noncommitted bricolage of narratives is his second departure to the Kingdom of Prester John. He regards the repetition of the journey as the redemption of his errors and an amendment of three personal debts. Firstly, Baudolino is intent on finding the grave of Abdul and erecting a chapel over it, as he had promised to his dying friend. Secondly, he has to find Ipazia, who fled to the mountains from Pndapetzim beleaguered by the White Huns, and to take care of her and their child, which she was pregnant with when they were separated by the attack on the city. Last but not least, Baudolino wants to finally reach the Kingdom of Prester John thus fulfilling his initial promise to Barbarossa.

19 U. Eco: Baudolino, p. 518 (my transl.). 224

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Post mortem: transcending the ultimate boundary Baudolino’s farewell has several far-reaching implications. Not only does Baudolino finally grasp and fully assume his moral responsibilities towards his foster father, his friend, and the beloved woman and their common child. By telling Niceta his life story, Baudolino critically revisits his own narrative which – as he realises at the end of his tale – did not only consist of a creation of historical grands récits but turns out to be a self-illusive master narrative of the discursive omnipotence centred on axiological relativism and allegedly securing his moral immunity. This subsequently brings him to the self-inflicted silence in the hermitical reclusion, and later, as he recognises that the silence in itself can neither amend the wrong he had involuntarily done, nor be a valid alternative to narratives, and thus a »final response« to the questions he is smitten by, to the final physical action. A postmodernist character and narrator throughout, Baudolino consistently rejects his discursive existence and steps out from his own narrative, which in postmodernist fiction equals death.20 The terminal implication of Baudolino’s gesture is also foregrounded by the last chapter’s title Baudolino non c’è più, which has a twofold meaning of both »Baudolino is no longer there« and »Baudolino does not exist anymore«. This instance brings us back to the initial question of what – if at all – remains after the ultimate narrative deconstruction and after the end of narratives. The immediate logical conclusion, to which Baudolino also springs at first, would spell silence. Yet with his newly regained ability to abstract himself from his own narratives and to act as an autonomous agent, Baudolino perceives the negative implication of passivity and withdrawal inherent in it, and moves on. Pushed further, silence in its postmodernist reading entails death, and death has at all times stood for

20 In reference to a well-known stance expounded by Tzvetan Todorov, McHale speaks of Scheherazade as a topical figure for both modernist and postmodernist fiction, whose existence both inside and outside of the fictional world depends on her narrative activity: »As long as she produces narrative discourse, Scheherazade lives; at the moment her discourse falters or stops, she will die. Here, quite graphically, life has been equated with discourse, death with the end of discourse and silence.« (B. McHale: Postmodernist Fiction, p. 228) He asserts that death is the central topic of postmodernist fiction » […] insofar as postmodernist fiction foregrounds ontological themes and ontological structure, we might say that it is always about death. Death is the one ontological boundary that we are all certain to experience, the only one we shall al inevitably have to cross« (ibid., p. 231). 225

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the final universal ontological boundary, behind which every existence ceases, a fundamental limit of any representation. Despite the »laboratory experiments« with imagining non-existence in which postmodernists have engaged,21 postmodernist fiction has apparently not achieved any practicable solution to a transcendence of death. This notwithstanding, Eco’s protagonist nevertheless actively furthers his own narrative end. By embracing it in a full awareness of the consequences, Baudolino transcends it, – or, rather, not death as such, but death as the limit imposed on characters and authors likewise by the fundamental principles of postmodernist narratives. Unlike his life constructed in a tacit compliance with these principles, by which Baudolino had to abide as a character and as a narrator at once, Baudolino’s death represents, on the contrary, an active and creative rebellion of a freely reasoning human agent against the dehumanising effects of postmodernist onto-epistemic stringencies. By virtually walking out on both the writer and the reader, Baudolino champions the resistance to the narrativisation of human subjects, and transcends both the postmodernist death and the death of postmodernism itself.

Human universals and ethics Baudolino is perhaps the novel which most consistently and consequently explores both the dead ends and the strategies of overcoming them, equally co-present at the very core of postmodernist philosophy and literature. Postmodernism professed the liberation from master narratives that inhibited free reasoning and action, and thus supplied an invaluable instrument of resistance to its own grands récits which it simultaneously imposed on those whom it strived to liberate. Extricating himself from the participation in the postmodernist narratives, the protagonist of Eco’s novel turns instead to the revalorised humanistic values, re-establishing the worth of a unified human subject, moral responsibility and duty to oneself and other fellow humans, and resuscitating the old teleological utopianism scorned and dismissed by postmodernism. The Kingdom of Prester John toward which Baudolino sets off is an ever unattainable Utopia, and whereas on his first journey Baudolino sought it as the means of endowing his foster father Barbarossa with more political power, on his second journey he reassesses it as an end in itself. As Umberto Eco says in an interview, the novel is not an apology of lies but of utopia, of those inventions that make the world

21 Cf. B. McHale: Postmodernist Fiction, p. 227-232. 226

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go forward.22 Baudolino develops the idea that people cannot live without an aspiration to a better world despite, or perhaps precisely because of the downfall of major utopian narratives, one of which in the late 20th century was the end of the Soviet Communist Empire,23 – and, I should add, at the break of the new Millennium, the crash of the »end of history« myth. This stance is exemplary for my initial premiss that nowadays ever more thinkers and academic scholars reject the unrestrained relativism inherent in postmodern philosophy, addressing instead those elemental human values, whose observance is once again regarded as an imperative, and striving for the universal and the utopian. This is the main appeal underlying The end of postmodernity by Luperini which I mentioned at the beginning. The critic remains nevertheless sceptical with regard to recent literature, asserting that »of what is happening in the world or in Italy there is practically no trace in the literary production«.24 I would object to that conclusion. Beside the negative examples of »gynaecological and umbilical tales based on dicks and vomit«, or »worn-off manneristic postmodernism« which Luperini cites, there are many literary works that are rooted in the postmodern and yet reveal a new sensibility towards the elemental, universally human, inalienable and non-deconstructible. Baudolino is but one example of how the aesthetical and structural principles of postmodern fiction are overtly and self-reflectively pushed to an extreme and critically disassembled. One may think of other recent historical novels which address issues of anthropology and human universals, ethics and values bearing on the collective experience of past and present alike. Such is, for instance, La stella avvelenata (The poisoned star, 2003) by Sebastiano Vassalli, which posits the question of universal patterns of human behaviour and psychology telling about the encounters of European travellers with the forms of cultural alterity in the Americas. A similar range of concerns is tackled in the literary works that speak of intercultural conflicts and confrontations between historical cultures, social groups, or philosophical and religious doctrines. One may think of Cherudek (1997) and Il castello di Eymerich (The Castle of Eymerich, 22 Laura Lilli: »Con ›Baudolino‹ Eco torna al romanzo«, in: La Repubblica from 11.09.2000, cf. http://www.repubblica.it/online/cultura_scienze/ baudolino/baudolino/baudolino.html accessed on October 13, 2008. 23 Umberto Eco: »Ich bin ein Vernebelungs-Philosoph«. Interview with Hans-Jürgen Schlamp, Rainer Traub and Fritz Rumler, in: Der Spiegel from 13.08.2001, p. 174. 24 R. Luperini: La Fine del Postmoderno, p. 126 (my transl.) 227

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2001) by Valerio Evangelisti, Il filo di seta (The silken thread, 2005) by Carlo Sgorlon, La lama e la rosa (The blade and the rose, 2005) by Serafino Massoni, or Dominus (2005) by Emma Pomilio, among many others. In one way or another, these authors foreground moral and ethical issues that are perceived not as malleable discursive constructs but, rather, as universals whose observation alone may provide a viable basis for communication between, and coexistence of, the participants of most diverse cultures and origins, as well as their socialisation and cooperation in the globalised world. In all these, and numerous other historical novels, history resists being turned into a heap of glossy images devoid of transcendental meaning. Foregrounded is the question of the eternal, the utopian, the universally valid, which should to a large extent determine our relationship towards our past as a collective experience, and underlie the construction of a sustainable future as a communal project, from which, ideally, all the participants may equally profit. In this, ethics is revalorised as a key philosophical discipline which may contribute to the overcoming of the parlous particularism and consolidate humankind on the basis of universal human values.

Works Cited Assmann, Aleida, »Was sind kulturelle Texte?« in: Andreas Poltermann (ed.), Literaturkanon – Medienereignis – kultureller Text: Formen Interkultureller Kommunikation und Übersetzung, Berlin: Erich Schmidt Verlag 1995, p. 232-244. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: C.H. Beck 1992. Derrida, Jacques: Of Grammatology, translated by Gayatri C. Spivak, Baltimore, Md.: John Hopkins University Press 1976. Doležel, Lubomír: »Mimesis and Possible Worlds« in: Poetics Today 9 (1988), p. 475-496. Eco, Umberto: Baudolino, Milano: Bompiani 2000. Eco, Umberto: L’isola del giorno prima, Milano: Bompiani 1994. Eco, Umberto: Il pendolo di Foucault, Milano: Bompiani 1988. Eco, Umberto: Il nome della rosa, Milano: Bompiani 1980. Eco, Umberto: Dalla Periferia dell’Impero. Cronache da un Nuovo Medioevo, Milano: Bompiani 1977. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart, Weimar: Metzler 2005.

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Erll, Astrid/Nünning, Ansgar: »Concepts and methods for the study of literature and/as cultural memory«, in: Ansgar Nünning/Marion Gymnich/Roy Sommer (ed.), Literature and Memory. Theoretical Paradigms – Genres – Functions, Tübingen: Francke 2006, p. 1128. Evangelisti, Valerio: Il Castello di Eymerich, Milano: Mondadori 2001. Evangelisti, Valerio: Cherudek, Milano: Mondadori 1997. Farronato, Christina, »Umberto Eco’s Baudolino and the language of monsters«, in: Semiotica 144 (2003), p. 319-342. Hutcheon, Linda: A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction, New York, London: Routledge 1988. Jameson, Fredric: Postmodernism, or, the Cultural Logic of Late Capitalism, New York, London: Verso 1991. Lilli, Laura: »Con ›Baudolino‹ Eco torna al romanzo«, in: La Repubblica from 11.09.2000, cf. http://www.repubblica.it/online/ cultura_scienze/baudolino/baudolino/baudolino.html accessed on 13. October 2008 Lukács, Georg: The historical novel (1937), Harmondsworth, New York: Pelican Books 1981. Luperini, Romano: La fine del postmoderno, Napoli: Alfredo Guida Editore 2005. Massoni, Serafino: La lama e la rosa, Reggio Emilia: Aliberti 2005. McHale, Brian: Postmodernist Fiction, London, New York: Routledge 1987. Pomilio, Emma: Dominus, Milano: Mondadori 2005. Sgorlon, Carlo: Il filo di seta, Casale Monferrato: Piemme 2005. Vassalli, Sebastiano: La stella avvelenata, Torino: Einaudi 2003.

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Unte r ne hme nsw erte : Ein Tre nd z u humanistisc he n Ansätzen in der Wirtsc haft? MAREN BORGGRÄFE

Abstract

Starting from the observation that German companies present themselves with corporate values strongly resembling humanistic ones, the article tackles the question whether humanism and capitalism can be integrated. The author compares the views on human selfhood of the humanist Johann Gottfried Herder and of the founder of modern economics, Adam Smith, in order to show that both concepts share some aspects: Both use an anthropological definition of the human being as on the one hand driven by the instinct of self preservation and on the other hand by the need of acceptance through fellow human beings. The latter implies that we constantly are participants of an actor-spectatorrelationship. When translated to the sphere of economics, this means that two preconditions have to be fulfilled for successful humanistic management: Firstly, the companies have to stage themselves by imposing humanistic values on themselves according to Herder’s version of the ›golden rule‹. Secondly, the public has to function as a Smithian impartial spectator who judges whether the companies act authentically.

Humanismus und Kapitalismus scheinen sich auf den ersten Blick unversöhnlich gegenüber zu stehen. Beide setzen völlig unterschiedliche Menschenbilder voraus. Während ersterer auf ethischen Werten beruht, die den Menschen in seiner ureigenen Würde und Ganzheit sowie als soziales Wesen ins Zentrum rücken, steht im Kapitalismus die Mehrung 231

MAREN BORGGRÄFE

des wirtschaftlichen Wertes im Vordergrund. Der Mensch wird hier auf den homo oeconomicus, einen auf die Maximierung des eigenen Nutzens bedachten, rational agierenden Einzelkämpfer reduziert. Der Neuhumanist Johann Gottfried Herder, der in vorliegender Untersuchung als Gewährsmann für die europäische humanistische Tradition fungieren soll, hat in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit als anthropologisches Prinzip und Voraussetzung aller Humanität die Friedlichkeit gesetzt: »Indessen ist’s wahr, daß der Bau des Menschen vorzüglich auf die Verteidigung, nicht auf den Angriff gerichtet ist; in diesem muß ihm die Kunst zu Hülfe kommen, in jener aber ist er von Natur das kräftigste Geschöpf der Erde. Seine Gestalt selbst lehret ihn also Friedlichkeit, nicht räuberische Mordverwüstung: der Humanität erstes Merkmal.«1

Das von Herder hier formulierte Programm der Friedfertigkeit, das die Basis jeder Humanität bildet, scheint zunächst im Widerspruch zum System des wettbewerbsorientierten Kapitalismus, das auf der Vorteilsnahme des Einzelnen basiert, zu stehen. Die heutige Praxis der Unternehmensführung erinnert oftmals eher an kriegerische Auseinandersetzungen, bei denen Menschenwürde und Menschenliebe, nach Herder die zentralen Fundamente der Humanität, häufig auf der Strecke bleiben: Immer wieder liest man in den Zeitungen von so genannten feindlichen Übernahmen, bei denen ein Unternehmen sich ein anderes ohne das Einverständnis dessen Managements aneignet. Jüngstes Beispiel aus dem Jahr 2008 ist der Kauf von Continental durch Schaeffler. Schlagzeilen über Korruptionsskandale empören die Öffentlichkeit wie im Falle Siemens. Firmen bespitzeln ihre Mitarbeiter wie zuletzt die Deutsche Telekom und die Deutsche Bahn. Und die Menschen, die ihre Arbeitskraft in den Dienst eines Unternehmens stellen, werden von Ökonomen und Managern reduktiv und versachlichend als ›Humankapital‹ bezeichnet und als größter variabler Kostenfaktor häufig erstes Opfer von Sparrunden durch massiven Stellenabbau. Der Ruf nach mehr Menschlichkeit im kapitalistischen System wird in der Öffentlichkeit schon seit einigen Jahren immer lauter und erlangte angesichts der Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009 eine neue Dringlichkeit. In der Krise offenbarten sich die Folgen des ungezügelten Profitstrebens. Plötzlich wurde die Gier der Investmentbanker angeprangert und für das Anwachsen der Kreditblase verantwortlich gemacht. In den 1

Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791), 2 Bde., Berlin, Weimar: Aufbau 1965, 1. Teil, IV. Buch, 6. Kapitel, S. 153 (im Folgenden IPGM).

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Medien werden seitdem neue ethische Standards für die Weltwirtschaft und eine stärkere Regulierung der Märkte gefordert. Offensichtlich trägt der Crash zur Sensibilisierung für die Notwendigkeit bei, dem homo oeconomicus gewisse Regeln aufzuerlegen. In den vergangenen Jahren lassen sich tatsächlich sowohl in der operativen Praxis der Wirtschaft als auch in den Wirtschaftswissenschaften leise Tendenzen hin zu einem bewussteren Umgang mit dem Menschen beobachten. Ein Indiz hierfür ist die Wiederentdeckung des Gründervaters der rationalistischen Ökonomie Adam Smith als Moralphilosoph. Ein anderes Anzeichen ist die immer stärkere Durchdringung der Wirtschaftswissenschaften durch die Psychologie, Anthropologie und zunehmend auch durch andere Kultur- und Geisteswissenschaften im Zuge ihrer beginnenden Derationalisierung und Hinwendung zu empirischen Methoden. Dies ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Ökonomie immer häufiger auf Probleme stößt, die nicht rational erklärt werden können, wie zum Beispiel die Frage nach der Rolle des Vertrauens bei wirtschaftlichen Interaktionen. Und in der Managementpraxis fällt auf, dass der Mensch – zumindest in den Außendarstellungen der Unternehmen – immer häufiger als Schlüsselfaktor auftaucht.

Humanistische Unternehmenswerte? Integrität, Offenheit, (gesellschaftliche) Verantwortung, Respekt – die selbst auferlegten ethischen Programme der großen deutschen Wirtschaftsunternehmen erinnern heute auffällig an die wichtigsten Werte der europäischen humanistischen Tradition: das Wohlergehen des einzelnen Menschen und der Gesellschaft sowie den Respekt vor der Würde des Menschen. Von den 30 im Deutschen Aktienindex notierten Unternehmen präsentieren sich auf ihrer Firmenhomepage alle bis auf fünf mit einem klar definierten ›Set‹ an Werten, den so genannten Unternehmenswerten oder Corporate Values. Diese Wertekanons werden meist vom Management, manchmal auch gemeinsam mit den Mitarbeitern erarbeitet und anschließend von der Unternehmensführung verabschiedet. Sie sollen die verbindliche Grundlage jeden Handelns aller Mitglieder des Unternehmens darstellen. Doch selbst diejenigen Unternehmen, die auf eine solche Definition, die im Schnitt fünf bis sieben Werte umfasst, verzichten, beschreiben in ihrer an Kunden, Geschäftspartner, potentielle Mitarbeiter, die Presse und ganz allgemein die Öffentlichkeit gerichteten Selbstdarstellung teilweise recht wortreich, welche ethischen Prinzipien ihrer Unternehmensführung zugrunde liegen. 233

MAREN BORGGRÄFE

Abbildung 1: Unternehmenswerte der 30 DAX-Unternehmen Unternehmenswerte Dax-Unternehmen 20 18 Anzahl Nennungen

16 14

18

17 15

14

13

12

12

12

12 10

10 8

6

6

4

4 2

Le is tu In ng te /P gr ro itä fit t/V er tra ue n In no Ex va ze t io lle n O nz ffe /Q nh ua e G it/ lit es Tr ät el an ls sp ch ar .V en er z an Ku tw or nd tu en ng or M ie ita nt rb ie ei ru te ng ro rie nt ie ru ng R es pe kt Vi el Ve fa lt ra nt w or tu ng

0

Unternehmenswert

Das Ergebnis der Evaluation (Abbildung 1 zeigt die elf am häufigsten genannten Werte2) fördert eine angesichts des in der öffentlichen Wahrnehmung oft wenig moralisch wirkenden Wirtschaftsgebarens überraschende Gewichtung der Schlüsselwerte zu Tage. Während mit 18 Nennungen die Fokussierung auf »Leistung« und »Profit« zwar noch unbestritten an erster Stelle steht, folgt überraschenderweise auf Platz zwei mit nur einer Nennung weniger (57 Prozent) das Bekenntnis zu »Integrität«, manchmal auch umschrieben mit »Vertrauen«, »Ehrlichkeit«, »Zuverlässigkeit« und »Aufrichtigkeit«.3 Mit »Innovation« (15 Nennungen) und »Exzellenz« beziehungsweise »Qualitätsbewusstsein« (14 Nennungen) folgen klassische unternehmerische Werte, doch schon am fünfthäufigsten wird »Offenheit« oder 2

3

Weitere genannte Werte mit der Anzahl ihrer Nennungen in Klammern: Sicherheit/Gesundheit/Umweltschutz (4), Leidenschaft/Begeisterung/Engagement (3), unternehmerisches Handeln (3), Fairness (2), Teamwork (2), Mut (2), Marktführerschaft (2), Dynamik/Agilität (2), globale Präsenz (1), Disziplin (1), Toleranz (1), Loyalität (1), Einfachheit (1), Nachhaltigkeit (1), Traditionsbewusstsein (1). Für den Energieversorger eOn bedeutet Integrität: »Wir sind aufrichtig und ehrlich. Wir folgen den Gesetzen und handeln nach ethischen Grundsätzen. Wir kommen unseren Verpflichtungen nach und übernehmen persönlich Verantwortung für unser Handeln.« Vgl. http://www.eon.com/ de/unternehmen/2106.jsp vom 27. Oktober 2008.

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auch »Transparenz« genannt, wobei diese Begriffe ein ganzes Bedeutungsfeld umfassen von Offenheit im Sinne einer Öffnung gegenüber dem Anderen (z.B. anderen Denkweisen und Kulturen) bis zur Transparenz des Unternehmens selbst für seine Mitglieder und auch gegenüber Außenstehenden (z.B. im Sinne einer offenen Kommunikation).4 »Gesellschaftliche Verantwortung« wollen explizit 12 der 30 Unternehmen übernehmen. Aber auch fast alle übrigen, die diesen Wert nicht in ihre Leitwerte aufgenommen haben, präsentieren sich auf ihrer Website mit zahlreichen Projekten in den Bereichen Kultur, Soziales, Umweltschutz und Sport, häufig unter der Überschrift »Verantwortung« oder »Nachhaltigkeit«. Diese sollen zeigen, dass die Unternehmen ihre gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen. Zählt man die vier Nennungen des etwas weiter gefassten Werts »Verantwortung« ohne die Spezifizierung »soziale« hinzu, landet dieser Wert sogar auf Platz drei. 40 Prozent der Firmen konzentrieren sich besonders auf den Kunden und seine Zufriedenheit. Ebenso viele Unternehmen stellen den Menschen als Mitarbeiter bewusst in den Mittelpunkt und betonten dessen Bedeutung als wichtigstes Kapital oder wertvollste Ressource des Unternehmens. So zum Beispiel der Konzern Metro, der ausdrücklich auf den Zusammenhang zwischen der Wertschätzung der Mitarbeiter durch den Arbeitgeber und deren Wertschöpfung hinweist: »Im Wertschöpfungsprozess des Handels kommt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine zentrale Bedeutung zu: Sie repräsentieren das Unternehmen an der Nahtstelle zum Kunden. Die METRO Group legt größten Wert auf eine von Wertschätzung geprägte Unternehmenskultur. […] Auf diese Weise steigert die METRO Group nicht nur die Identifikation und Motivation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sondern erhöht gleichzeitig den Wertschöpfungsbeitrag jedes Einzelnen.«5

Der Faktor Mensch taucht im ›Werteranking‹ also in zwei unterschiedlichen Aspekten gleichberechtigt auf. Beide sind eng miteinander verbun4

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Die Deutsche Post akzentuiert zum Beispiel den Aspekt der Kommunikation stärker: »Gegenseitiges Feedback sowie eine aktive und offene Kommunikation prägen unseren Umgang. Wir führen faire und offene Gespräche und setzen uns mit unterschiedlichen Meinungen konstruktiv auseinander. Wir ermutigen unsere Kolleginnen und Kollegen, ihre Ideen und Anliegen offen und direkt anzusprechen. Teamgeist erfordert Aufgeschlossenheit. Deshalb unterstützen wir eine Politik der ›offenen Tür‹ und Initiativen zum Wissens- und Meinungsaustausch.« Zitat aus dem Code of Conduct der Deutschen Post, vgl. http://www.dpwn.de/dpwn?tab=1&skin =hi&check=yes&lang=de_DE&xmlFile=2007549 vom 27. Oktober 2008. Vgl. http://www.metrogroup.de/servlet/PB/menu/1000145_l1/index.html vom 28. Oktober 2008. 235

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den, da die Menschen im Unternehmen, die Mitarbeiter, gleichzeitig die Schnittstelle zu den Menschen außerhalb, den Kunden, bilden. Immerhin noch ein Drittel der untersuchten Organisationen hält »Respekt«, manchmal auch formuliert als »Wertschätzung« oder »Würde«, gegenüber den Menschen, die mit dem Unternehmen in Kontakt treten, für einen der wichtigsten Werte. Das deutsche Pharmaunternehmen Merck6 beschreibt sein Verständnis von Respekt ausdrücklich als auf dem Konzept der Humanität und Menschenwürde beruhend: »Respect is the foundation of any partnership. Respect is based on the concept of humanity and human dignity. Respect generates an atmosphere of esteem, fairness and recognition. Respect requires open and honest communication. Respect enables us to work successfully in different cultures and with different people. Respect means valuing achievement – yesterday, today and tomorrow.«7

Den für Merck im Wert »Respekt« bereits enthaltenen Aspekt der »Vielfalt« im Unternehmen, häufig »Diversity« genannt, schreiben sich 20 Prozent der Unternehmen explizit auf die Fahnen.8 Tatsächlich taucht dieser Wert jedoch in fast allen Selbstdarstellungen spätestens dort auf, wo es darum geht, sich gegenüber möglichen Bewerbern als attraktiv darzustellen. Insgesamt fällt bei dieser Auswertung auf, dass unter den elf am häufigsten angegebenen Werten acht nicht genuin kapitalistische Ideen abbilden, sondern auf den Menschen und die humane Gestaltung der sozialen Interaktionen des Unternehmens mit diesem abzielen. Folgt man dieser Selbstdarstellung der Unternehmen, scheint ein aktueller Trend zur ›Humanisierung‹ oder Ethisierung der Wirtschaft auszumachen zu sein. Ist tatsächlich in den Führungsetagen der Unternehmen angekommen, was in der Presse vielfach als die Erkenntnis des Tages angepriesen wird, wie zum Beispiel in folgendem Ausschnitt eines Artikels aus der Financial Times Deutschland?

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Die deutsche Merck KGaA, die einen sehr guten Ruf als Arbeitgeber genießt, ist nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen US-amerikanischen Merck AG, die durch den Vioxx-Arzneimittelskandal bekannt wurde. Vgl. http://www.merck.de/en/company/vision_values_strategy/values.html vom 28. Oktober 2008. So zum Beispiel die Deutsche Bank, die einen für die konservative Bankenbranche erfreulich weitreichenden Diversity-Ansatz verfolgt (vgl. http://www.db.com/careers/de/514.html vom 03. Januar 2009).

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»Die zahlreichen Enthüllungen der vergangenen Monate haben das Ethikthema aus der Exotenecke geholt, in der es lange steckte. Es ist mehr und mehr zum zentralen Thema der Unternehmensführung und des internen und externen Kommunikationsverhaltens geworden. Wo dies gegenüber der Öffentlichkeit dokumentiert wird, kann es dann auch durch die verschiedenen Anspruchsgruppen eines Unternehmens überprüft werden, also beispielsweise durch Nichtregierungsorganisationen, durch die Medien und Politiker, aber auch durch die Investoren, Kunden und Lieferanten. Auf diese Weise wird ein werteorientierter Führungsansatz glaubwürdig nachvollziehbar. So lässt sich der Ruf eines Unternehmens bewahren und stärken.«9

Kann man angesichts solcher Beobachtungen bereits von einem Trend zu ›humanistischen‹ Werten in der Wirtschaft sprechen? Oder handelt es sich bei den Wertekanons und anderen Maßnahmen im Zusammenhang mit der Unternehmensethik10 nicht vielmehr um oberflächliche Marketinginstrumente, die hauptsächlich der Besänftigung des in den vergangenen Jahren immer lauter werdenden öffentlichen Unmuts ob der Skandale um moralisch zweifelhaftes Verhalten von Managern dienen, jedoch keine oder kaum Tiefenwirkung innerhalb der Unternehmen und im allgemeinen Wirtschaftsgebaren hinterlassen? Der auch regelmäßig in der Öffentlichkeit so geäußerte Verdacht besteht, dass es sich bei den ethischen Programmen um reine Lippenbekenntnisse handelt, die Realität des Verhaltens von Managern und Mitarbeitern allerdings oft weit davon entfernt ist.

Ideal und Realität Die Diskrepanz zwischen Wort und Tat wird neuerdings sehr genau beobachtet und öffentlich durch negative Presse sanktioniert. Es reicht also nicht (mehr), ein bestimmtes ethisches Image durch Selbstdarstellung z.B. im Internet oder mittels öffentlichkeitswirksamer Projekte zu be9

Tasso Enzweiler/Ralf Hering: »Ethik als Erfolgsstrategie«, in: Financial Times Deutschland vom 23.07.2008, S. 24. 10 Das Bild vom humanen Unternehmen sollen häufig Maßnahmen zu Nachhaltigkeit (Sustainability) und gesellschaftlicher Verantwortung (Corporate Social Responsibility) vervollständigen. Viele der DAX-Unternehmen verfügen inzwischen über eine eigene Abteilung für Corporate Governance, die sich mit der Einhaltung von Recht und Gesetz sowie verbindlichen länder- oder branchenspezifischen Richtlinien beschäftigt (Compliance). Diese ist in der Regel darüber hinaus auch für die Entwicklung der unternehmensinternen Verhaltensrichtlinien (Integrity Code, Code of Conduct) und der Unternehmenswerte sowie die Kontrolle von deren Befolgung durch alle Firmenangehörigen zuständig. 237

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haupten. Das Bemühen um ein ethisch-humanitäres Management scheitert häufig an mangelnder Konsequenz in der Umsetzung und einer daraus resultierenden Unglaubwürdigkeit. Die vom Unternehmen formulierten Handlungsprinzipien und sein tatsächliches Handeln divergieren; das Management verhält sich nicht integer. Selbstdarstellung und Fremdwahrnehmung driften auseinander; das Unternehmen wird sowohl von Außenstehenden als auch von den eigenen Mitarbeitern als nicht authentisch wahrgenommen. Besonders prekär ist dies, wenn das Unternehmen sich selbst ausdrücklich zur Integrität verpflichtet hat. Die Forderung nach Glaubwürdigkeit taucht in letzter Zeit vermehrt in der öffentlichen Meinung auf. So betonen z.B. die oben zitierten Wirtschaftsjournalisten Enzweiler und Hering, dass ein »werteorientierter Führungsansatz« nur dann »glaubwürdig nachvollziehbar« sei, wenn er gegenüber der Öffentlichkeit dokumentiert und dadurch überprüfbar werde. Es existiert also durchaus ein öffentliches Bewusstsein für das Problem. Dass dieses jedoch schon ganz zu Beginn der Wissenschaftsgeschichte der Ökonomie von Smith bearbeitet und einer Lösung zugeführt wurde, die aus der Sphäre der Kultur, nämlich des Theaters abgeleitet wurde, ist hingegen wenig bekannt. Das Problem der Authentizität11 beruht auf der anthropologischen Annahme, dass der Mensch als soziales Wesen von der Meinung anderer abhängig ist und deren positive Anerkennung benötigt.12 Diese Voraussetzung wiederum ist Teil sowohl des Herderschen als auch des Smithschen Menschenbildes. Beide sollen im folgenden Abschnitt kurz umrissen und ihre Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden, um eine theoretische Brücke zwischen Kapitalismus und Humanismus zu schlagen, auf deren Basis weitere Überlegungen zu humanistischen Werten in der Wirtschaft und deren authentische Umsetzung angestellt werden können.

11 Zur Begriffsgeschichte von ›Authentizität‹ siehe Eleonore Kalisch: »Aspekte einer Begriffs- und Problemgeschichte von Authentizität und Darstellung«, in: Erika Fischer-Lichte/Isabel Pflug (Hg.), Inszenierung von Authentizität, Tübingen, Basel: Francke 2000, S. 11-27. 12 Es handelt sich hier also um ein Wahrnehmungsproblem. Anders als Integrität, die ein konsequent den eigenen ethischen Prinzipien folgendes Verhalten bezeichnet und die nicht notwendigerweise ein Publikum benötigt, ist Authentizität ein genuin rezeptorisches Konzept. Daher ist es sinnvoll, im Zusammenhang mit dem Problem der Divergenz von Selbstdarstellung und Fremdwahrnehmung von Unternehmen, von einem Authentizitätsproblem zu sprechen, innerhalb dessen Integrität wiederum als ein Teilaspekt problematisiert werden kann. 238

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H o m o o e c o n o m i c u s ve r s u s h o m o h u m a n u s Überraschenderweise setzt Herder an die erste Stelle seiner anthropologischen Definition des homo humanus13 den Selbsterhaltungstrieb des Menschen, wie ihn Adam Smith und Thomas Hobbes als Grundlage des ökonomischen Handelns erkannt haben: »Alle Triebe eines lebendigen Wesens lassen sich auf die Erhaltung sein selbst und auf eine Teilnehmung oder Mitteilung an andre zurückführen […].«14 Insbesondere auf Smith geht das heutige Verständnis der wirtschaftlichen und sittlichen Bedeutung des Eigeninteresses zurück. Basierend auf seinem Theorem der ›unsichtbaren Hand‹ wurde Smiths Menschenbild im Laufe der Jahrhunderte, insbesondere in Deutschland, auf diesen Aspekt, auf den homo oeconomicus, reduziert. Allzu weit entfernt von Herders Grundverständnis der menschlichen Natur ist dasjenige Smiths jedoch nicht. Der zweite Primärtrieb des Menschen, den Herder den der Teilnahme beziehungsweise Mitteilung an andere(n) nennt, findet sich auch bei Smith in der Theory of Moral Sentiments, und zwar in seinem Konzept der (gefühlsmäßigen An-)Teilnahme am Mitmenschen. Gleich im ersten Satz der Theory of Moral Sentiments wird neben dem Egoismus diese zweite Facette des Menschen eingeführt: »Mag man den Menschen für noch so egoistisch halten, es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen, und die ihm selbst die Glückseligkeit dieser anderen zum Bedürfnis machen, obgleich er keinen anderen Vorteil daraus zieht, als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein.«15

Für dieses »Mitgefühl« findet Smith das Wort Sympathie (sympathy), das anders als »Mitleid« und »Erbarmen« »dazu verwendet werden kann, um unser Mitgefühl mit jeder Art von Affekten zu bezeichnen«16. Selbstinteresse und Sympathie sind bei Smith zwei gleichberechtigt ne-

13 Herders Humanismusbegriff ist bereits in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit in kondensierter Form angelegt und wurde von ihm später in den Briefen zur Beförderung der Humanität weiter ausgearbeitet. 14 J.G. Herder: IPGM, 1. Teil, IV. Buch, 6. Kapitel, S. 152. 15 Adam Smith: Theorie der ethischen Gefühle, nach d. Aufl. letzter Hand übers. u. mit Einl., Anm. u. Reg. hg. v. Walther Eckstein, mit e. Bibliogr. von Günter Gawlick, 2. Aufl., Hamburg: Felix Meiner 21977 (engl. The Theory of Moral Sentiments, 1759), S. 1. 16 Ebd., S. 4. 239

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beneinander existierende Motoren menschlichen Handelns und eng miteinander verschränkt.17 Reiner Manstetten, der sich aus philosophischer Perspektive ausführlich mit der Definition des homo oeconomicus durch die wichtigsten Ökonomen der vergangenen zwei Jahrhunderte beschäftigt und dieses Konzept Smiths Anthropologie gegenübergestellt hat, konstatiert: »In Smiths Theorie finden sich zwar die Wurzeln des Konzeptes homo oeconomicus; die Frage ›was ist der Mensch?‹ wird in ihr jedoch auf eine weit über das Ökonomische hinausreichende Weise exponiert.«18 Die Lesart Smiths in den Wirtschaftswissenschaften und darüber hinaus war jedoch über Jahrhunderte hinweg auf den Ursprung des anthropologischen Entwurfs des homo oeconomicus in Smiths Wealth of Nations beschränkt. Die Ökonomie kultivierte die Vorstellung einer kontinuierlichen Entwicklung der Wirtschaftstheorie aus diesem einseitigen Anthropologismus heraus. Smiths Menschenbild, wie er es in der Theory of Moral Sentiments entwickelt, nämlich das eines sympathiebegabten Wesens, das sich sowohl mitfühlend (fellow-feeling) in andere hineinversetzen als auch in die Rolle des inneren unparteiischen Beobachters der eigenen Handlungen (impartial spectator) schlüpfen kann, wurde als konträr hierzu betrachtet. Dieses so genannte »Adam-Smith-Problem« ist symptomatisch für eine den Menschen auf ein rein rationales Wesen reduzierende Wirtschaftswissenschaft und noch heute in vielen Köpfen fest verankert. Aus Sicht der Smith-Forschung ist es inzwischen jedoch längst obsolet. Vielmehr hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass Smith in seinem Gesamtwerk durchaus ein einheitliches Menschenbild mit verschiedenen Facetten vertritt. Manstetten gelangt in seiner Untersuchung dementsprechend auch zu der Auffassung, dass »die Annahme eines solchen Kontinuums […] nicht berechtigt« ist.19 17 Selbst wirtschaftliches Agieren kommt nach Smith, auch wenn es primär durch das Eigeninteresse motiviert ist, nicht ohne Sympathie aus, da sich die Interessen der übrigen Marktteilnehmer nur durch Einfühlung erschließen und so kalkulierbar werden. Dies wird durch folgendes berühmte Zitat aus Wealth of Nations deutlich: »Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, daß sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil […].« Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen, übers. u. eingel. v. H. Recktenwald, München: DTV 1978, I. ii. 2, S. 17 (engl. Wealth of Nations, 1776). 18 Reiner Manstetten: Das Menschenbild der Ökonomie. Der homo oeconomicus und die Anthropologie von Adam Smith, Freiburg i. Br. u.a.: Alber 2000, S. 13. 19 Ebd., S. 16. 240

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»Denn während es innerhalb der Wirtschaftswissenschaften seit 1870 eine starke Tendenz gibt, den wirtschaftenden Menschen zu einem Paradigma des ganzen Menschen zu erweitern, besteht Smiths Intention darin, von einem Entwurf des ganzen Menschen im Horizont eines umfassenden Welt- und Menschenbildes her dem Menschen als wirtschaftendem Wesen seinen Platz zuzuweisen.«20

Neben Manstetten haben in den vergangenen Jahren weitere Wissenschaftler sowohl aus den Wirtschafts- als auch den Geistes- und Kulturwissenschaften das Potential Smiths als Brücke zwischen der Ökonomie und den humanities, den Wissenschaften vom Menschen, entdeckt. So zeigt zum Beispiel der Evolutionsökonom Carsten HerrmannPillath,21 in welchem Maße die einseitige Rezeption Smiths ebenso wie die nach Smith entstandenen Wirtschaftswissenschaften ein Resultat ihrer Einbettung in die westliche Kultur sind. Die Entwicklung der rationalistischen und auf das Eigeninteresse fokussierten Ausprägung der Ökonomie sei nur auf der Basis der Individualisierungs- und Rationalisierungsprozesse seit Beginn der europäischen Aufklärung möglich gewesen. Die These der kulturellen Einbettung ermöglicht es HerrmannPillath, die Schaffung transkultureller Institutionen als einen Prozess des Diskurses zwischen den verschiedenen Kulturen zu beschreiben, der zur Definition grundlegender universeller Werte führt. Die Theaterhistorikerin Eleonore Kalisch rollt die Geschichte der Metapher der unsichtbaren Hand neu auf, indem sie sich von der Person Smiths ausgehend seiner in der Theory of Moral Sentiments aus einer Theatermetapher heraus entwickelten Idee des impartial spectator nähert, der als unbeteiligter Dritter Zuschauer, Beobachter und damit Überwacher aller sozialen Handlungen ist.22 Sie gewinnt dadurch eine erhellende und äußerst differenzierte Perspektive auf die globalisierte Wirtschaft und das Problem der Durchsetzbarkeit ethischer Standards. Die Idee eines impartial spectator impliziert, dass alle Handlungen, die von diesem beobachtet werden, im Bewusstsein ihres Darstellungscharakters gleichsam wie auf einer Bühne aus- und aufgeführt werden und damit inszeniert sein können. Die Selbstzuweisung von Verantwortung, also auch die Selbstverpflichtung, sich entsprechend bestimmter Werte zu verhalten, ist Teil der Selbstinszenierung vor den Anderen und 20 Ebd., S. 16f. 21 Carsten Herrmann-Pillath: Adam Smith and Confucius. A Tour d’Horizon Towards a Transcultural Foundation of Institutions (2007), vgl. http://ssrn.com/abstract=966033 vom 31. Dezember 2008. 22 Eleonore Kalisch: Von der Ökonomie der Leidenschaften zur Leidenschaft der Ökonomie. Adam Smith und die Actor-Spectator-Kultur im 18. Jahrhundert, Berlin: Avinus 2006. 241

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Ausdruck der eigenen Autonomie. Der Philosoph Hans Lenk23 beschreibt diesen Vorgang so: »Ich mache […] meine Verantwortung selber, ich ›stilisiere‹ mittels der Verantwortungsbildung mein Selbst oder konzipiere und konstituiere es unter dem Anspruch, den ich an mich selber stelle. […]. Das Individuum bildet sich also selbst als eine Art von Regelpersönlichkeit, als eine Art von Selbstinstitutionalisierung oder Selbstinszenierung unter diesem Gesichtspunkt der Selbstkonstitution unter Verantwortlichkeitsaspekten.«24

Lenk stellt hier also den Bezug zu einem Konzept der Identitätsbildung durch Inszenierung her und nimmt dabei auch auf Erving Goffman25 und dessen Konzept der Selbstdarstellung als oberflächliche Verbindung von Rolle und Akteur Bezug, stellt jedoch die moralische Fundierung dieser Theorie in Frage. Zu Recht, denn eine Inszenierung geht in ihrer repräsentativen Funktion zugleich immer auf ein ihr Vorgelagertes zurück. Dies sind nach einem performativen Verständnis von Identität jene verinnerlichte Werte und Normen, die in nach Außen gerichteten Handlungen performiert und damit gleichsam zur Aufführung gebracht werden. Der autonome Akt der Selbstkonstitution ist also nicht denkbar ohne einen ›Dritten‹. Er ist immer ein sozialer Akt der Kommunikation. Entscheidend für das Gelingen dieser Selbstinszenierung ist, dass diese von den ›Zuschauern‹, den anderen Teilnehmern der sozialen Performance als authentisch wahrgenommen wird. Die Bemühungen von Unternehmen, sich selbst Unternehmenswerte zu geben und diese beispielsweise im Internet öffentlich zugänglich darzustellen, können in diesem Sinne als Akte der Selbstkonstitution von Identität und der Selbstinszenierung verstanden werden. Die ›Zuschauer‹, die über die Authentizität der Selbstdarstellung entscheiden, sind in diesem Falle Kunden, Mitarbeiter, Shareholder, andere Stakeholder und die allgemeine Öffentlichkeit.

23 Lenk hat sich im Rahmen der angewandten Philosophie eingehend mit der Frage der Bedeutung einer für unsere Zeit neu zu definierenden Idee der Humanität vor dem Hintergrund des antiken Humanismus und des Neuhumanismus beschäftigt (Hans Lenk: Konkrete Humanität. Vorlesungen über Verantwortung und Menschlichkeit, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998). Er wendet sein ethisches Humanitätskonzept auf verschiedene gesellschaftliche Bereiche wie die Technik, den Sport und auch die Wirtschaft an. 24 H. Lenk: Konkrete Humanität, S. 231. 25 Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, 8. Aufl., München: Piper 82000 (engl. The Presentation of Self in Everyday Life, 1959). 242

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Au t h e n t i s c h e h u m a n e U n t e r n e h m e n s f ü h r u n g Was sind nun jedoch mit Herder und Smith gedacht die Voraussetzungen für eine authentische humane Unternehmensführung und wie hängen Authentizität und Humanität zusammen? Herder hat die Authentizität des Handelns und Denkens im vierten Buch der Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit als grundlegende Prämisse für ein humanes Verhalten identifiziert: »Ohne strenge Billigkeit und Wahrheit ist keine Vernunft, keine Humanität denkbar.«26 So wie der Mensch sich physiologisch unter allen Lebewesen durch seine aufrechte Körperhaltung auszeichnet, wird für Herder »auch im Innern das große Gesetz der Billigkeit und des Gleichgewichts«, also die aufrechte Haltung im Sinne der Aufrichtigkeit, zur »Richtschnur«. Als Leitsatz allen Handelns, an dem die Aufrichtigkeit, im heutigen Sprachgebrauch in der Wirtschaft meist Integrität genannt, gemessen werden kann, formuliert er: »Was du willst, daß andre dir nicht tun sollen, tue ihnen auch nicht; was jene dir tun sollen, tue du auch ihnen!«27 Herder fügt mit dem zweiten Teil seiner Formulierung der ›Goldenen Regel‹ dem kategorischen Imperativ Kants (»Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.«28), der den Charakter eines Gebots besitzt, eine ethische Forderung hinzu, die über das regulatorische Gesetz hinaus geht. Die Empfehlung, aktiv und nicht nur im Sinne des Unterlassens, das eigene Bedürfnis, wie man behandelt werden möchte, zur Maxime des eigenen Verhaltens gegenüber anderen zu machen, stellt eine Anleitung für einen humanen Umgang mit den Mitmenschen dar. Humanismus erscheint hier als eine freiwillige, dem Menschen zugewandte Haltung, die über das reine Erfüllen von Recht und Geboten hinausgeht.29 Um ein humanistischen Werten folgendes Verhalten zu erreichen, sind also die festgeschriebenen Regeln institutioneller Rahmenbedingungen allein nicht ausreichend. So werden auf die Ebene der Wirtschaft bezogen z.B. die Vorgaben von Finanzaufsichtsbehörden, das jeweilige Wirtschafts- und Kartellrecht der Länder oder die Regeln zur Corporate 26 J.G. Herder: IPGM, 1. Teil, IV. Buch, 6. Kapitel, S. 158. 27 Ebd., S. 157. 28 Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft (1788), Bd. 7 der Werkausgabe, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977, S. 140. 29 Lenk nennt dieses über Regeln und Gesetze hinausreichende, supererogative Verhalten »konkrete Humanität« in Abgrenzung von einer hoch abstrahierten Ethik, die den Bezug zum Leben, zum Individuum verliert (H. Lenk: Konkrete Humanität, S. 113). 243

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Governance, der sich Unternehmen freiwillig unterwerfen, inhumanes Wirtschaftsgebaren nicht verhindern können. Ebenso wenig werden auf Unternehmensebene die für alle Mitarbeiter verpflichtend einzuhaltenden Codes of Conduct oder Integrity Codes eine humanere Unternehmenskultur schaffen. Vielmehr bedarf es der inneren Überzeugung von Managern und Mitarbeitern – aus welcher Motivation heraus auch immer –, dass ein humanistisches Verhalten, das auf bestimmten vergemeinschafteten Werten beruht, das leitende Prinzip jedes unternehmerischen Handelns sein muss. Nach Lenk nimmt die Idee der Humanität eine Mittelstellung zwischen der reinen, mit Sanktionen belegten Pflichtmoral und dem willkürlichen und ergo folgenlos bleibenden individuellen Verhalten ein. Sie hat Sollens-Charakter, dessen Verpflichtung jedoch eine selbst auferlegte ist. Diese Annahme erscheint sinnvoll, wirft jedoch unmittelbar die Frage nach der Durchsetzbarkeit humanitären Verhaltens in Unternehmen auf. Denn übertragen auf die Wirtschaft bedeutet diese Uneindeutigkeit der Humanitätsidee, dass Unternehmen und ihre Mitarbeiter nicht durch Regelwerke zu humanitärem Verhalten gezwungen werden können. Sie können sich jedoch einen bestimmten humanen oder humanistischen Wertekanon selbst auferlegen und sich dann auch im Sinne der Verfehlung der selbstauferlegten Pflichten schuldig fühlen, wenn sie dem angestrebten Ideal nicht gerecht werden. Insofern sind durchaus auch »Selbstbestrafungen« des Unternehmens gegen seine eigenen Organe möglich, also Sanktionen gegenüber Mitarbeitern, die sich in ihrem Verhalten nicht an den Werten orientieren, die das Unternehmen als verbindlich ausgegeben hat. Fraglich ist, ob die Praxis der Sanktionierung tatsächlich eine nachhaltige Veränderung der Kultur ermöglicht, oder ob durch die gängige Praxis nicht vielmehr Widerstand geschürt wird. Optimal wäre es, wenn sich der einzelne Mitarbeiter und die einzelne Mitarbeiterin so weit mit seinem bzw. ihrem Unternehmen identifizierten, dass sie die selbst auferlegten Werte des Unternehmens verinnerlichten und diese zu ihren eigenen machten. Auch in Smiths Denken ist die Idee des authentischen Verhaltens als Voraussetzung für die Gewinnung der Aufmerksamkeit und Anerkennung der übrigen Teilnehmer am sozialen Spiel implizit enthalten. Der impartial spectator kann als gerechte, kontrollierende Instanz das Auseinanderdriften von Selbstinszenierung und tatsächlichem Verhalten entlarven und so den Akteur dazu zwingen, seine Handlungsweise zu korrigieren. Bedingung für die Einnahme der Rolle des impartial spectator ist die Fähigkeit, sich vom Geschehen zu distanzieren, aus dem Spiel herauszutreten und sich mittels der Sympathie in die anderen Akteure einzufühlen. Kalisch beschreibt in ihrem abschließenden Kapitel, das die 244

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Verbindung zwischen Smith und der heutigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Situation herstellt, diesen Wechsel der Rolle bezogen auf die Wirtschaft: »Wer einen Impartial-Spectator-Blick auf die Wirtschaft richten will, muss den blinden Fleck in der Nahsicht der Marktteilnehmer überwinden. Er kann seinen Standort nicht allein im Marktsystem oder allein in der gesellschaftlichen Systemumwelt des Marktes haben: Er braucht zwei Standorte, die es ihm ermöglichen, hinüber und herüber zu wechseln. Nur so ist der Perspektivenwechsel zwischen Marktsystem und gesellschaftlicher Umwelt möglich, in dem sich eine Impartial-Spectator-Funktion realisieren kann.«30

Kalisch betont im Folgenden die Bedeutung der Ausübung der Rolle des impartial spectator für die Ethisierung der Wirtschaft: »Wird fragwürdigen Akteuren das Feld überlassen, wird keine Wirtschaftsethik ihnen irgendwelche Skrupel einpflanzen können. Sie müssen durch andere Akteure in die Schranken gewiesen werden […].«31 Der impartial spectator muss also zurückwechseln in die Rolle eines aktiven Akteurs im Spiel, um seine aus der Distanz gewonnenen Erkenntnisse verändernd in dieses einzubringen. Dabei ist nach Kalischs Vorstellung die Kooperation verschiedener, sowohl systeminterner als auch -externer Akteure notwendig, um die Einrichtung von Institutionen und Schaffung von Normen voranzutreiben. Diese Akteure können zum Beispiel freiwillige Kontrollinstitutionen wie der Anti-Korruptions-Zusammenschluss Transparency International sein, dem auch einige Unternehmen wie z.B. Allianz, BASF und Daimler angehören,32 aber auch Einzelpersonen wie die Kunden, die durch ihre bewussten Kaufentscheidungen sanktionieren. Zudem kann der Staat regulierend in das Marktsystem eingreifen. Auch Herrmann-Pillath betont die über das System der Wirtschaft hinaus gehende gesellschaftliche Bedeutung, die Institutionen als kulturell eingebetteten ethisch handelnden Akteuren zukommt: »To perceive institutions not only as a tool for attaining efficiency, but as a moral project of society, is the first step towards their transcultural foundation.«33 Was in Herders zweitem Teil der ›Goldenen Regel‹ optimistisch als supererogatorische Handlungsmaxime ausgegeben wird, kann nach Smiths die Facette des homo oeconomicus einschließenden Menschenbild also nicht ohne kontrollierende Instanz funktionieren. Bringt man 30 E. Kalisch: Ökonomie der Leidenschaften, S. 420f. 31 Ebd., S. 421. 32 Vgl. http://www.transparency.de/Korporative-Mitglieder.52.0.html vom 03. Januar 2009. 33 C. Herrmann-Pillath: Adam Smith and Confucius, S. 22f.

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beide Entwürfe zusammen, entsteht ein vermutlich realistischeres Bild davon, wie humanistische Werte in der Wirtschaft durchgesetzt werden können. Es bedarf einerseits der Selbstverpflichtung zu humanistischem Handeln und deren Erfüllung, also der authentischen Selbstinszenierung von ökonomischen Akteuren, andererseits wird die Einhaltung der vorgegebenen Normen, seien sie selbstauferlegt oder von Institutionen gesetzt, nicht ohne kontrollierende Institutionen und Sanktionen durchsetzbar sein. Das kulturwissenschaftliche Paradigma der Performativität, das sich auf Smiths Idee der sozialen Interaktion als Actor-Spectator-Beziehung übertragen lässt, wird dabei zum Schlüssel für die erfolgreiche Umsetzung eines ethischen Werten folgenden Managements. Herders Forderung nach einem supererogativen Handeln kann als Teil der Selbstinszenierung innerhalb dieser Actor-Spectator-Beziehung integriert werden. Die Werte, die sich die wirtschaftlichen Akteure dabei selbst auferlegen, können sich an denen des europäischen Humanismus, wie sie beispielsweise Herder formuliert hat, orientieren.34 Die authentische Inszenierung des Unternehmens hinsichtlich seiner sich selbst auferlegten Werte muss auf vier Ebenen gewährleistet sein, um glaubhaft sein zu können: Erstens muss ein wie auch immer geartetes ethisches Programm aus der existierenden Kultur und der Geschichte des Unternehmens heraus entwickelt werden und die Möglichkeit zur Identifikation für seine Mitglieder 34 Als Gewährsmann für humanistische Theorie wurde für vorliegenden Aufsatz mit Herder ein Vertreter des deutschen Humanismus gewählt. Der europäische Humanismus ist jedoch in seiner Tradition kulturell limitiert. Entscheidend für die tatsächliche Entfaltung seiner Wirkmächtigkeit in einer globalisierten Wirtschaftswelt ist die Ausweitung des Konzepts des Humanismus auf alle Kulturen der Welt, seine Universalisierung. Dies kann nur im Dialog mit anderen humanistischen Traditionen in anderen Kulturen oder auch Religionen, wie zum Beispiel im Konfuzianismus oder Islam, geschehen. Auch wenn diese verschiedenen Traditionen in Teilen mit dem europäischen Humanismus kollidieren bzw. sich unterscheiden, bestehen doch Übereinstimmungen, die als Diskussionsgrundlage dienen können. Wie Herrmann-Pillath bereits in seiner »Tour d’Horizon« aufgerissen hat, bestehen zum Beispiel zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen dem Smithschen und dem konfuzianischen Menschenbild (C. HerrmannPillath: Adam Smith and Confucius, S. 14-20). Auch Lenk stellt die »kulturübergreifende Tradition und Verpflichtung« des Ideals der Humanität als Chance zur Verständigung heraus (H. Lenk: Konkrete Humanität, S. 87). Für die interkulturelle Verständigung über die Gemeinsamkeiten und die Schaffung eines globalen Verständnisses von humanistischen Standards in der Wirtschaft und darüber hinaus empfiehlt es sich möglicherweise, statt sich mit dem Begriff Humanismus auf den europäischen Humanismus zu beziehen, allgemeiner von Humanität zu sprechen, da dies die Integration verschiedener Konzepte erlaubt. 246

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bieten. Zweitens erfordert sie ein authentisches Führungsverhalten, das geeignet ist, Vorbild für die Handlungen aller Mitarbeiter zu sein. Drittens müssen die Unternehmenswerte Basis für die Gesamtstrategie des Unternehmens sein und konsequent in allen Geschäftsprozessen umgesetzt werden. Viertens schließlich ist eine authentische Selbstdarstellung nach innen gegenüber den eigenen Mitarbeitern sowie nach außen auf dem Markt unabdingbar. Diese vier Aspekte müssen in einer zukünftigen Untersuchung weiter konkretisiert werden. Abschließend kann festgehalten werden, dass im westlich geprägten Kapitalismus Deutschlands heute offensichtlich der Wertekanon des europäischen Humanismus nachwirkt. Auch wenn sich Unternehmen und Unternehmer selten direkt auf diese Tradition beziehen, lassen sich seine Spuren sowohl in den Ansprüchen an ethisches wirtschaftliches Handeln seitens der beobachtenden Öffentlichkeit als auch in den Selbstinszenierungen der Unternehmen verfolgen. Das Vorurteil, dass Kapitalismus und Humanismus theoretisch unvereinbar seien, konnte durch die Zusammenschau jeweils eines repräsentativen Vertreters entkräftet werden. Kapitalistisches Handeln und humanistische Werte schließen sich nicht gänzlich aus. Tatsächlich gibt es in der deutschen Unternehmenslandschaft auch positive Beispiele von Firmen, die unternehmerisches Handeln erfolgreich mit sozialer Verantwortung verbinden. Häufig handelt es sich dabei um Familienunternehmen, die durch die persönliche Philosophie ihres Gründers geprägt sind, wie etwa die Drogeriemarktkette dm oder der Turbinenhersteller Voith, die beide den anthroposophischen Werten ihrer Besitzer folgen. Wertegeleitetes Management, sei es durch Werte der humanistischen Tradition oder anderer, verwandter Traditionen, wird in Zukunft eine bedeutende Rolle im interkulturellen Zusammentreffen auf dem Weltmarkt spielen. Geglückte, friedliche soziale Interaktionen der globalen Wirtschaft erfordern nicht nur gemeinsame Regeln und Gesetze, sondern auch ein geteiltes ethisches Grundverständnis. Davon wird langfristig auch der wirtschaftliche Erfolg der Unternehmen abhängen.35 Voraussetzung für die Durchsetzung dieser gemeinsamen Wertegrundlage ist einerseits die Bereitschaft der ökonomischen Akteure, dem zweiten Teil von Herders ›Goldener Regel‹ zu folgen, sich also selbst zu ethischem Handeln zu verpflichten, und andererseits die verantwortungsvolle, aktiv gestaltende Teilnahme einzelner Akteure am Markt und ihre Wahrnehmung der Funktion des Smithschen impartial spectator.

35 Dies nachzuweisen, kann im beschränkten Rahmen dieses Aufsatzes nicht geleistet werden. 247

MAREN BORGGRÄFE

Literatur Enzweiler, Tasso/Ralf Hering: »Ethik als Erfolgsstrategie«, in Financial Times Deutschland vom 23.07.2008, S. 24. Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München: Piper 82000 (engl. The Presentation of Self in Everyday Life, 1959). Herder, Johann Gottfried: Briefe zur Beförderung der Humanität (17931797), 2 Bde., Berlin, Weimar: Aufbau 1971. Ders.: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Humanität (17841791), 2 Bde., Berlin, Weimar: Aufbau 1965. Herrmann-Pillath, Carsten: Adam Smith and Confucius. A Tour d’Horizon Towards a Transcultural Foundation of Institutions (2007), vgl. http://ssrn.com/abstract=966033 vom 31. Dezember 2008. Kalisch, Eleonore: Von der Ökonomie der Leidenschaften zur Leidenschaft der Ökonomie. Adam Smith und die Actor-Spectator-Kultur im 18. Jahrhundert, Berlin: Avinus 2006. Dies.: »Aspekte einer Begriffs- und Problemgeschichte von Authentizität und Darstellung«, in: Erika Fischer-Lichte/Isabel Pflug (Hg.), Inszenierung von Authentizität, Tübingen, Basel: Francke 2000, S. 1127. Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft (1788), Bd. 7 der Werkausgabe, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977. Lenk, Hans: Konkrete Humanität. Vorlesungen über Verantwortung und Menschlichkeit, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998. Manstetten, Reiner: Das Menschenbild der Ökonomie: Der homo oeconomicus und die Anthropologie von Adam Smith, Freiburg i. Br. u.a.: Alber 2000. Smith, Adam: Theorie der ethischen Gefühle, nach d. Aufl. letzter Hand übers. u. mit Einl., Anm. u. Reg. hg. von Walther Eckstein, mit e. Bibliogr. von Günter Gawlick, Hamburg: Felix Meiner 21977 (engl. The Theory of Moral Sentiments, 1759). Smith, Adam: Der Wohlstand der Nationen, übers. u. eingel. von H. Recktenwald, München: DTV 1978 (engl. Wealth of Nations, 1776).

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Tod und Me nsc hlic hk eit FELIX TIRSCHMANN

Abstract Humans have many different ways of dying. But what is this difference all about? In a general perspective, human death makes sense as opposed to the death of an animal. Human death is meaningful, firstly because all human beings know that they are going to die, and secondly because this specific knowledge is embedded into a manifold system of meaning. The following text starts out with some reflections on these two anthropological and cultural universalities, and shows thereby the specifics of human death as such. The last part of the article describes two contemporary ways of dealing with death and dying, which are ›assisted suicide‹ and ›living wills‹. Linking these two options to the idea of human dignity demonstrates that whereas ›assisted suicide‹ does more harm than good, ›living wills‹ are one good way for adequately dealing with death and dying.

Tod und Menschlichkeit stehen in einem ursprünglichen Verhältnis zueinander. Mit der Frage nach dem Sinn des Todes stellt sich, so unterschiedlich die Antworten auch ausfallen mögen, unmittelbar die Frage nach dem Sinn des Menschseins als solchem. Beide Begriffsfelder verweisen auf Kernbereiche des menschlichen Lebens, die seit Anbeginn der Hominisation das menschliche Denkvermögen intensiv beschäftigen und in ihren Bann ziehen.1 Denn der »Tod ist ein Problem der Leben1

Vgl. Constantin von Barloewen (Hg.): Der Tod in den Weltkulturen und Weltreligionen, Frankfurt/Main: Insel 2000; Jan Assmann/Rolf Trauzettel

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den«2 wie der Soziologe Norbert Elias pointiert und was immer der Mensch den Lebenden bedeutet, zeigt sich zugleich in den Bedeutungen, die er dem Tod beimisst. Der Begriff der Menschlichkeit verweist auf zwei verschiedene Bedeutungsinhalte. Zunächst kann Menschlichkeit wertfrei als ein Ensemble von Eigenschaften verstanden werden, das dem Menschen im Verlauf der Evolution und durch Anpassung an seine Umwelt von Natur aus gegeben ist. Menschlichkeit umfasst nicht nur das Vermögen sich zu irren, sondern neben den Fähigkeiten des aufrechten Ganges und des Sprachvermögens, auch den Gebrauch von Werkzeugen oder die Herstellung von Waffen. Daneben umfasst die zweite Bedeutung von Menschlichkeit kulturell und historisch unterschiedlich stark ausgeprägte Wertakzentuierungen, die in diesem Begriff zusammengefasst werden. Weniger als eine Summe neutraler Eigenschaften, ist Menschlichkeit in diesem Verständnis vor allem verbunden mit den Einstellungen und den handlungsleitenden Wertvorstellungen einer verbindenden und verbindlichen Humanität. Fragt man nach der Menschlichkeit des Todes, bieten sich zwei mögliche Antwortkategorien an. Einmal lässt sich die Menschlichkeit des Todes anhand von anthropologischen Eigenschaften ausweisen. Diesem Ansatz geht der erste Teil des folgenden Beitrages nach und zeigt auf, wie sich der Mensch als Einzelwesen und als Mitglied eines Sozialverbundes zu der eigenen Sterblichkeit und der Sterblichkeit der anderen verhält. Zudem lässt sich das Verhältnis von Tod und Menschlichkeit aus einer Perspektive betrachten, die eine Beschreibung des gesellschaftlichen Umgangs mit Tod und Sterben in besonderer Art und Weise ermöglicht. Menschlichkeit, in diesem wertakzentuierenden Verständnis, kann dabei als Leitkriterium angeführt werden, an dem sich die Angemessenheit der Lösungsangebote des Umgangs mit dem Problem des Todes beurteilen lässt, über die eine Gesellschaft verfügt. An den Beispielen der kommerziellen Sterbehilfe und den Diskussionen um die Notwendigkeit von gesetzlich regulierten ›Patientenverfügungen‹ wird im letzten Teil des Beitrages gezeigt, inwiefern das Ideal der Humanität, wie es paradigmatisch in der Idee der Menschenwürde zum Ausdruck kommt, zur Abschätzung und Beurteilung dieser gesellschaftlichen Entwicklungen geeignet ist.

2

(Hg.): Tod, Jenseits und Identität. Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Thanatologie, Freiburg, München: Alber 2002. Norbert Elias: Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1982, S. 10.

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An t h r o p o l o g i e d e s T o d e s Menschen und Tiere sind sterblich, darin besteht eine ihrer Gemeinsamkeiten. Beide Lebewesen sind in ihrer jeweiligen Lebensdauer zeitlich begrenzt. Ebenso sind die zum Sterben führenden Umstände nicht grundverschieden. Von anhaltenden Unterbrechungen des Stoffwechselkreislaufes über andauernde Störungen bis hin zu totalen Ausfällen der Vitalfunktionen führen diese Ursachen in nahezu allen Fällen unweigerlich zum Exitus. Stellt man hingegen die Frage nach der Menschlichkeit des Todes, ist es angebracht, nicht auf Übereinstimmungen, sondern auf Unterschiede zu achten. Was sich in den jeweiligen Verhältnissen zur Sterblichkeit ausdrückt, ist, dass sich der Mensch vor allem durch das Bewusstsein vom Instinkt geleiteten Tier unterscheidet. Während das Tier unverhofft stirbt, muss der Mensch ein Leben lang mit dem Tod rechnen. Die Gewissheit des Sterben-Müssens ist ein wesentlicher Bestandteil der conditio humana und tatsächlich unterscheidet sich der Mensch vom Tier, indem jener um seinen Tod weiß.3 Menschen sind nicht allein Wesen der Natur, sondern auch Kulturwesen. Auf diese ›ko-konstitutive‹ Kulturalität des Menschen verweist der Soziologe Max Weber, wenn er vom Menschen als einem »Kulturmenschen« spricht, »begabt und mit der Fähigkeit und dem Willen, bewusst zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen.«4 Übertragen auf das menschliche Verhältnis zum Tod bedeutet Webers Befund, dass auch das Ende des Lebens ein Ereignis darstellt, zu dem sich Menschen sinnhaft verhalten. Der Mensch bezieht gegenüber seiner Endlichkeit Stellung und überführt dadurch das factum brutum des Todes in vielfältige Formen des Wissens vom Tod. Vorgängig ist allerdings die Tatsache, dass der Mensch über ein Bewusstsein verfügt. Vielversprechend erscheint es daher, von den historisch wandelbaren Wissensformen über den Tod zunächst jenen Modus zu unterscheiden, der als anthropologische Gewissheit des Todes verstanden werden kann. Mit dieser Unterscheidung wird folgende Doppelperspektive des Phänomenbereichs nachvollzogen: Während die aus-

3

4

Dementsprechend vermerkt Voltaire in seinem Philosophischen Wörterbuch: »Die Menschen sind die einzigen Lebewesen, die wissen, dass sie sterben.« Vgl. Voltaire: Philosophisches Wörterbuch, übersetzt von Erich Salewski, Frankfurt/Main: Insel 1985 (frz. Originalausgabe 1764), S. 144. Max Weber: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher Erkenntnis« (1922), in: Johannes Winckelmann (Hg.), Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik, Stuttgart: Kröner, 5. überarbeitete Auflage 1973, S. 223.

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differenzierten Wissensformen auf den Tod dritter Person (›ein Tod‹) Bezug nehmen und in unterschiedliche Kulturalisierungsprozesse eingelassen sind, referiert die Todesgewissheit auf den Tod erster Person (›mein Tod‹).5 Der Tod ist eine Gewissheit, da der Mensch sich seines Todes bereits zu Lebzeiten bewusst ist. Zu diesem keineswegs tautologischen Schluss gelangt der Philosoph Max Scheler auf Grund einer phänomenologischen Analyse der Todesproblematik. In seinem bis heute viel beachteten Aufsatz »Tod und Fortleben«6 entwickelt er dazu folgende These: »Ein Mensch wüsste in irgendeiner Form und Weise, dass ihn der Tod ereilen wird, auch wenn er das einzige Lebewesen auf der Erde wäre; er wüsste es, wenn er niemals andere Lebewesen jene Veränderungen hätte erleiden sehen, die zur Erscheinung des Leichnams führen.«7

Zur Begründung seiner These stellt Scheler das Phänomen des Todes in einen strukturellen Zusammenhang mit dem individuellen Erleben von Lebenszeit. Die leitende Idee dabei ist, dass – obwohl der Tod selbst nicht Gegenstand eines aktiven Erlebens sein kann – er in Form einer Vorahnung im Erlebnis der Lebenszeit präsent ist. Das individuelle Bewusstwerden dieser Vorahnung beschreibt Scheler als lebensprägendes »Erlebnis der Todesrichtung«.8 Mit diesem Begriff ist der Umstand gemeint, dass von jenem Ereignis an, die eigene Lebenszeit künftig nicht mehr nur als fortlaufende, sondern insbesondere auch als ablaufende Zeit intuitiv erfahren wird.

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6 7 8

Diese Unterscheidung weist Ähnlichkeiten zu den Unterscheidungen auf, die der Philosoph Martin Heidegger in seinem Hauptwerk Sein und Zeit vornimmt. Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit (1926), Tübingen: Niemeyer 2001, S. 235-267. Heidegger unterscheidet bekanntlich zwischen dem ›Todesfall‹ und dem ›Sein zum Tode‹, um die beiden Modi des Todesphänomens begrifflich zu fassen. Mit Heideggers Todesverständnis verbinden sich allerdings problematische Wertverschiebungen, wie der Soziologe Theodor W. Adorno in seinem Buch Jargon der Eigentlichkeit kritisch herausgearbeitet hat. Vgl. Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie (1964), Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977, S. 108-136. Aus diesem Grund wird hier im weiteren Verlauf der Argumentation auf die Ausführungen Heideggers verzichtet und statt dessen mit dem Philosophen Max Scheler auf einen weniger verdächtigen, aber dennoch einschlägigen, Gewährsmann zurückgegriffen. Max Scheler: »Tod und Fortleben«, in: ders., Schriften aus dem Nachlass, Bd. 1: Zur Ethik und Erkenntnislehre, Bern: Francke 1957, S. 9-64. Ebd. S. 16. Ebd. S. 20.

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Ferner wächst die so initiierte Gewissheit des Todes proportional zur steigenden Ungewissheit der noch verbleibenden Erfahrungsmöglichkeiten. Scheler geht davon aus, dass der Mensch deshalb um seinen Tod weiß, weil er sich selbst anhand gemachter und erinnerter Erfahrungen als ein kontinuierlich in der Zeit voranschreitendes Wesen erlebt. Innerhalb dieses sukzessiven Voranschreitens ist der Tod dann letztlich der Moment, in dem alle Lebenserfahrungen zu Ende gehen. Der Zustand des Todes kann hingegen von dem Sterbenden selbst nicht wahrgenommen werden. Denn es gilt: »Solange wir da sind, ist er [der Tod; F.T.] nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr.«9 Mit dieser prominenten Sentenz formuliert der griechische Philosoph Epikur die bis heute gültige These von der grundsätzlichen Nichterfahrbarkeit des Todes. An diese Vorstellung knüpft er außerdem die Schlussfolgerung, dass jede Form der Angst vor dem Tod im Grunde genommen unbegründet ist. Da mit dem Tod auch die Wahrnehmungsmöglichkeiten des Menschen vergehen, so sein unwiderlegbares Argument, kann der Zustand des Todes selbst niemals tatsächlich als etwas Gutes oder Schlechtes erfahren werden. Der Mensch hört mit dem Verlust seiner Wahrnehmung auf zu existieren, somit existiert der Tod auch nicht für den Menschen. Kommunikationstheoretisch lässt sich Epikurs Argument dadurch begründen, dass es keine »autologische Bestimmung«10 des Todes geben kann. Der Soziologe Alois Hahn gibt hierfür folgendes Beispiel: »Wenn jemand sagt: ›Ich bin tot‹, so kann diese Behauptung zum Zeitpunkt, wo sie gesagt wurde, nicht wahr sein; denn sein eigenes ›Totsein‹ schließt eben die Möglichkeit aus, darüber zu sprechen.«11 Fraglich bleibt aber, was, trotz dieser Inkommunikabilität des Todes, über den Tod gesprochen wird. Allen empirischen Befunden nach verhält es sich so, dass gerade weil über den Tod keine Aussagen im hier gemeinten Sinn gemacht

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Epikur: »Brief an Menoikus«, in: ders., Philosophie der Freude. Eine Auswahl aus seinen Schriften, zusammengestellt und übersetzt von Johannes Mewaldt, Stuttgart: Kröner 1973, S. 39-48, hier S. 41. 10 Mit dem Verweis darauf, dass es keine ›autologische‹ Bestimmung des Todes geben kann, beschreibt der Soziologe Alois Hahn aus systemtheoretischer Perspektive den Umstand, dass kein System widerspruchsfrei sein eigenes Ende – als Selbstbeschreibung – kommunizieren kann. Vgl. Alois Hahn: »Unendliches Ende. Höllenvorstellung in soziologischer Perspektive«, in: Karlheinz Stierle/Rainer Warning (Hg.): Das Ende. Figuren einer Denkform, München: Wilhelm Fink 1996, S. 155-182, hier S. 155. 11 Ebd.

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werden können, Deutungen förmlich herausgefordert werden.12 Ein Grund hierfür mag darin liegen, dass sich die Vorstellung eines radikalen Nichts im engeren Sinne überhaupt nicht angemessen kommunizieren lässt. Der Mensch verfügt über keine entsprechenden Repräsentationsmöglichkeiten, seien diese sprachlicher oder bildhafter Natur, die ihn befähigen, einen Zustand zu beschreiben, der außerhalb von Raum und Zeit liegt. Eine Welt ohne man selbst ist denkbar – man selbst ohne Welt: unvorstellbar. Einen weiteren Grund nennt Norbert Elias, wenn er zusammenfasst, dass es offenbar »keine Vorstellung [gibt], wie seltsam sie auch sein mag, an die Menschen nicht mit inniger Liebe zu glauben bereit sind, wenn sie ihnen nur Erleichterung von dem Wissen verschafft, dass sie eines Tages nicht mehr existieren werden.«13 Das Todesphänomen öffnet sich nach zwei Seiten. Zum einen zeigt sich der Tod als ein bereits mit Bedeutung versehenes Sozialereignis, zum anderen ist er unhintergehbares Einzelschicksal. Das Verhältnis dieser beiden Eigenschaften zueinander kann folgendermaßen beschrieben werden: Dass der Tod dem Menschen etwas bedeutet, gründet einmal in der subjektiven Gewissheit des Todes, was er konkret bedeutet, ist zudem abhängig von den tradierten und archivierten Wissensbeständen, über die Menschen zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort verfügen. Für das Verhältnis zum Bedeutungsfeld der Menschlichkeit lässt sich hier bereits eine Brücke schlagen, denn die Doppelperspektive des Todes korreliert mit derjenigen der Menschlichkeit. So lässt sich Menschlichkeit als wertfreie Eigenschaft mit der anthropologisch bedingten Möglichkeit, dem Tod eine sinnhafte Bedeutung zu geben, zusammen denken. Menschlichkeit zeigt sich dabei als spezifische Fähigkeit, über das Ereignis des Todes bewusst reflektieren zu können. Des weiteren verweist Menschlichkeit als wertakzentuierende Einstellung auf das Verhältnis, das dem Tod gegenüber eingenommen werden kann. Genauer ausgedrückt, bezieht sich eine so verstandene Humanität als Einstellung auf die Einstellungen, mit denen dem Tod begegnet wird. Besonderes Gewicht erhält das Ideal der Humanität, da es sich auf die inhärente und somit jedem Menschen gegebene Wertigkeit bezieht. Als ›Einstellungseinstellung‹ schafft sie eine einvernehmliche Grundlage, die als gemeinsame Basis für alle Gesellschaftsmitglieder gelten kann und sich im Konzept der Menschenwürde artikuliert.

12 Vgl. die zahlreichen Beispiele in Jan Assmann/Franz Maciejewski/Axel Michael (Hg.): Der Abschied von den Toten. Trauerrituale im Kulturvergleich, Göttingen: Wallstein 2005. 13 N. Elias: Über die Einsamkeit der Sterbenden, S. 13. 254

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Kulturalisierung des Todes Der Mensch ist Mensch unter Menschen und das gilt auch für den Tod. Ist der Tod ein Teil unserer sozialen Wirklichkeit, dann ist er immer schon Bestandteil zwischenmenschlich hergestellter, tradierter und dadurch bedingt veränderbarer Bedeutungszusammenhänge. Aus wissenssoziologischer Sicht ist entscheidend, dass das Ereignis des Todes erst durch die Integration in gesellschaftlich objektivierte Deutungszusammenhänge seine jeweilige Vorstellungsform annimmt.14 Was der Tod den Menschen bedeutet, ist abhängig von den soziohistorisch konkreten Sinnzusammenhängen, die ihn als soziales Ereignis rahmen und einbinden. Umgekehrt provoziert der Tod reichhaltige Sinnbildungsprozesse, da er in seiner bloßen Faktizität die Menschheit seit Anbeginn ihrer Phylogenese vor die Aufgabe zu handeln stellt. Dieser wechselseitige Prozess von Handlungsdruck und Bedeutungsbildung kann als Kulturalisierung des Todes verstanden werden. Der Begriff der Kulturalisierung bezeichnet den Eingliederungsprozess eines realen oder imaginären Ereignisses in bestehende und gleichzeitig dynamische Deutungs- und Bedeutungszusammenhänge. Am Beispiel des gesellschaftlichen Umgangs mit dem Tod wird dieser Vorgang der Sinnstiftung in Grundzügen deutlich. Wie bereits erwähnt, ergibt der Tod als solcher keinerlei Sinn. Erst mit der Einbettung in intersubjektiv hergestellte und diskursivierte Sinnwelten erhält er seine entsprechende Bedeutung. Mit der Kulturalisierung des Todes wird, wie die Soziologen Thomas Luckmann und Alfred Schütz ausdrücken, folgende Übersetzungsleistung vollzogen: »Das Wissen um den eigenen Tod bleibt als Wissen, wird aber in objektive Deutungszusammenhänge versetzt.«15 Was der Mensch über den Tod weiß und wie er ihm begegnet, ist abhängig von denjenigen Wissensformen und Praktiken, die sich in der Kultur entwickelt haben, die ihn umgibt. Kultur kann somit als subjektiv hergestellter und objektiv verfügbarer Deutungs- und Bedeutungszusammenhang verstanden werden. Die Bedeutung des gesellschaftlichen Wissens für dieses Verständnis von Kultur unterstreicht der Soziologe Ilja Srubar, wenn er Kultur als »kollektiven, semiotisch objektivierten, pragmatisch materialisierten und medial präsent gehaltenen Wissensvor-

14 Vgl. Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/Main: Fischer 2002 (amerikan. Originalausgabe 1966), S. 98-112, insbesondere S. 108ff. 15 Alfred Schütz/Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, Bd. 2, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1984, S. 631.

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rat«16 definiert. Ohne auf diese einzelnen Eigenschaften näher einzugehen, ist die entscheidende Prämisse dieses Kulturverständnisses, dass Kultur nur dann das Denken, Handeln und Fühlen der Menschen maßgeblich prägt, wenn sie in Form von kollektiv geteiltem Wissen verfügbar ist. Mit diesem Verständnis verbunden ist die Vorstellung einer generellen Zeichenhaftigkeit von Kultur. Kultur als Wissensvorrat – und zwar als individuell hergestellter und kollektiv geteilter Wissensvorrat – ist auf Zeichensysteme in zweifacher Weise angewiesen. Einmal, um überhaupt in konkreten Interaktionen kommunizierbar und handlungsleitend zu sein, zum anderen, um in Archiven und Traditionsbeständen für die Nachwelt präsent zu bleiben. Das Verhältnis eines solchen Kulturverständnisses zum Phänomenbereich des Todes ist elementar, denn das Phänomen des Todes lässt sich als ein konstitutives Element jeder Kulturgenese beschreiben. Auf diesen Zusammenhang verweist der Ägyptologe Jan Assmann, wenn er dem Tod die Eigenschaft eines Kulturgenerators zuspricht und damit folgendes Basisnarrativ kulturwissenschaftlicher Thanatologie formuliert: »Der Mensch, durch sein Zuviel an Wissen aus der Ordnung der Natur herausgefallen, muss sich eine künstliche Welt erschaffen, in der er leben kann. Das ist unsere Kultur. Die Kultur entspringt dem Wissen um den Tod und die Sterblichkeit. Sie stellt den Versuch dar, einen Raum und eine Zeit zu schaffen, in der der Mensch über seinen begrenzten Lebenshorizont hinausdenken und die Linie seines Handelns, Erfahrens und Planens ausziehen kann.«17

Tod und Kultur stehen in einem originären Verhältnis zueinander. Deutlich wird dies bei dem Versuch, eine Urszene des Kulturalisierungsprozesses rekonstruktiv zu ermitteln. Diese lässt sich dort vermuten, wo sich Urmenschen erstmalig mit der konkreten Materialität des Todes konfrontiert sahen.18 Wahrscheinlich ist es der verstörende Anblick eines Leichnams gewesen, der den prähistorischen Menschen vor die 16 Ilja Srubar: »Die pragmatische Lebenswelttheorie als Grundlage interkulturellen Vergleichs«, in: ders./Joachim Renn/Ulrich Wenzel (Hg.), Kulturen vergleichen. Sozial- und kulturwissenschaftliche Grundlagen und Kontroversen, Wiesbaden: VS Verlag 2005, S. 151-172, hier S. 153. 17 Jan Assmann: Der Tod als Thema der Kulturtheorie. Todesbilder und Totenriten im Alten Ägypten, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000, S. 14. 18 Vgl. Rolf Trauzettel: »Individuelle und kollektive Todeserfahrung. Komparatistische Problemhorizonte und Forschungsperspektiven«, in: J. Assmann/R. Trauzettel (Hg.), Tod, Jenseits und Identität, S. 30-41, insbesondere S. 34.

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drängende Aufgabe stellte, die sichtlich gewordene Zustandsveränderung seines Gattungsgenossen erklärbar zu machen. Erklärungsbedürftig ist vor allem der Schrecken, den die irritierende Gegenwart eines Toten offensichtlich bis heute auslöst und der als Erfahrung einer Anwesenheit beschrieben werden kann, die zugleich in ihrer Anwesenheit auf konstitutive Art und Weise abwesend ist.19 In dieser Ambivalenz sieht der Kunsthistoriker Hans Belting die eigentliche Unheimlichkeit des Sterbens, denn »[d]er Schrecken des Todes liegt darin, dass sich vor aller Augen und mit einem Schlag in ein stummes Bild verwandelt, was gerade noch ein sprechender, atmender Körper gewesen war.«20 Der Mensch wird im Leichnam zum Abbild seiner selbst und der Anblick dieser abwesenden Lebendigkeit des Leichnams verlangt nach Antworten. Was mit dem Menschen vergeht und was von ihm bleibt, was vormals einmal war und von nun an sein wird, das sind Fragen, die sich dem menschlichen Verstand zu allen Zeiten aufdrängen. Das ursprüngliche Problem des Todes besteht aber im konkreten Umgang mit dem toten Körper. Der Leichnam ist, wie der Soziologe Arnold Gehlen betont, »ein ›Appelldatum‹ ersten Ranges.«21 In der Gegenwart des toten Körpers verspürt der Mensch den Druck zu handeln. Von der ›anwesenden Abwesenheit‹ des toten Körpers geht ein Handlungsappell aus, der allein daran deutlich wird, dass alle Kulturen konkrete Regeln zum Umgang mit Leichen entwickelt haben.22 Diese Regeln beziehen sich aber nicht ausschließlich auf den Umgang mit dem Tod, sondern haben grundlegende Auswirkungen auf andere gesellschaftliche Bereiche, denn, so beschreibt Norbert Elias diesen Zusammenhang, »Vorstellungen vom Tod und die dazugehörigen Rituale werden jeweils selbst zu einem Moment der Vergesellschaftung. Gleiche Vorstellungen und Riten verbinden Menschen, verschiedene trennen die Gruppen.«23 Tote Körper verpflichten die Hinterbliebenen zum Handeln. Dieser Handlungsdruck äußert sich in Form einer, wie Gehlen es ausdrückt, »unbestimmten Verpflichtung«.24 Unbestimmt ist dieser Handlungsimperativ, da er nicht auf eine bestimmte, d.h. zweckgerichtete Handlung 19 Vgl. zur Denkfigur der ›anwesenden Abwesenheit‹ Paul Ludwig Landsberg: Die Erfahrung des Todes, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1973, S. 14. 20 Hans Belting: »Aus dem Schatten des Todes. Bild und Körper in den Anfängen«, in: C. v. Barloewen (Hg.), Der Tod in den Weltkulturen und Weltreligionen, S. 120-177, hier S. 123. 21 Arnold Gehlen: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen (1975), Wiesbaden: AULA-Verlag 1986, S. 143. 22 Vgl. R. Trauzettel: Individuelle und kollektive Todeserfahrung, S. 30ff. 23 N. Elias: Über die Einsamkeit der Sterbenden, S. 13. 24 A. Gehlen: Urmensch und Spätkultur, S. 137.

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ausgerichtet ist. Während dem Bedürfnis zu Essen beispielsweise durch das Sammeln von Pflanzen oder dem Jagen von Tieren nachgekommen wird, braucht es zur Bewältigung der ›unbestimmten Verpflichtung‹ eine Handlungsform, die ihren Zweck streng genommen in sich selbst trägt. Solch ein selbstbezügliches Handeln, dass dem Gegenstand lediglich zugeordnet wird, ohne aber an ihm im eigentlichen Sinne etwas zu verändern, ist das rituelle Handeln.25 Rituale stiften Ordnung. Im Kontext des Todes stellen sie sicher, dass die Hinterbliebenen, trotz der zwangsläufig entstehenden Irritationen und Verlusterfahrungen zukünftig handlungsfähig bleiben. Alle Bestattungsrituale haben dabei die Funktion, den Toten aus der Gemeinschaft der Lebenden in die Gemeinschaft der Toten zu überführen. Der individuelle Handlungsdruck entlastet sich in der strengen Formalität des Bestattungsrituals und wird überführt in ein Ensemble von Regeln und Praktiken, die jedem Beteiligten eine Aufgabe zuordnen. Übergeordnetes Ziel ist dabei die langfristige Wiederherstellung der sozialen Ordnung.26 Alle Kulturen haben in der Geschichte der Menschheit lebensstrukturierende Bedeutungssysteme entwickelt, in denen der Tod als Ereignis seinen entsprechenden Platz findet. Solche Bedeutungssysteme werden von den Menschen nicht jeweils neu entwickelt, sondern verbinden sich im historischen Verlauf zu »Weltansichten«, wie Thomas Luckmann die »subjektive Aneignung des Sinnzusammenhangs, der einer geschichtlichen Ordnung innewohnt«27 in seinem Buch Die unsichtbare Religion bezeichnet. Weltansichten als – im weitesten Sinne – Religionen haben dabei die entlastende Funktion für den Einzelnen, sich in ein bestehendes Sinnsystem ›letzter Bedeutungen‹ einzufügen.28 Sie bieten jedem Individuum, das in eine bestehende Gesellschaft hineingeboren wird, ein Reservoir von Vorstellungen, die ihm helfen, mit elementaren Problemen des Lebens umzugehen, indem sie durch moralische Vorgaben sein Handeln in richtiges und falsches unterteilen. Weltanschauungen als 25 Am Beispiel des Bestattungsrituals wird diese Selbstbezüglichkeit rituellen Handelns besonders deutlich. Während das Ritual dazu dient, zunächst den Toten aus der Gemeinschaft der Lebenden auszugliedern, ihn in einem Zwischenzustand zu halten, um daran anschließend den Verstorbenen in die Gemeinschaft der Toten zu integrieren, bleibt der Tote selbst weiterhin tot und somit sein Zustand im eigentlichen Sinne unverändert. 26 Vgl. Hans-Georg Soeffner: »Zur Soziologie des Symbols und des Rituals«, in: ders., Gesellschaft ohne Baldachin. Über die Labilität von Ordnungskonstruktionen, Weilerswist: Velbrück 2000, S. 180-209. 27 Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991 (amerikan. Originalausgabe 1967), S. 89. 28 Zu diesem weit gefassten Religionsbegriff vgl. ebd., S. 77ff. 258

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komplexe Wechselverhältnisse verschiedener ›Einstellungseinstellungen‹ definieren den Bereich der alltäglichen Wirklichkeit zu einer außeralltäglichen Wirklichkeit. Rituale stellen hierbei spezielle Handlungsformen bereit, die dazu beitragen, dass der Mensch sich in einer bereits vorhandenen und von anderen vorgedeuteten Welt orientieren kann. Im Laufe der Zeit verschieben sich die Sinnhorizonte, in denen das Ereignis des Todes seine Bedeutung erlangt.29 Der Sinn des Todes ist nicht länger an ein bestimmtes Wissenssystem gekoppelt, sondern wird diesem »religiös, philosophisch, geschichtlich, kulturell in immer neuen Variationen zugeschrieben.«30 Der Umgang mit Tod und Sterben verändert sich und neue Rituale, »die dem gegenwärtigen Empfindungs- und Verhaltensstandard entsprechen«31 werden erprobt. Auffällig ist hierbei eine Tendenz zu weltlichen Trauer- und Bestattungsfeiern, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nachweislich zunehmen.32 Trauerfeierlichkeiten finden nicht mehr ausschließlich in den christlichen Gotteshäusern statt, sondern werden in Friedhofskapellen und Krematorien, oft auch ohne das Beisein eines Priesters oder einer Priesterin, ausgerichtet.33 Eine allgemeine Beurteilung der Bedeutung des Todes wird im Zuge der Pluralisierung von Weltanschauungen, die sich in unterschiedlichen Trauerkulturen ausdrückt, schwieriger. So stellt der Kulturwissenschaftler Thomas Macho fest: »Wir mögen mit den verschiedenen Todesvorstellungen leben, auch in der spätindustriellen Gesellschaft unseres Jahrhunderts. Den einen Tod gibt es nicht; und wir besitzen kein Maß, nach dem wir die Todesbilder anderer Zeiten und Kulturen beurteilen könnten.«34

29 Vgl. hierzu die materialreiche Studie von Philippe Ariès: Geschichte des Todes, München: DTV 2002 (frz. Originalausgabe 1978). 30 Hans-Georg Soeffner: »Ein Diesseits ohne Jenseits? Vom ›Sinn‹ des Todes und dem Weg zu einer Gesellschaft ohne Jenseitsvorstellungen«, in: Dominik Groß et al. (Hg.), Tod und toter Körper. Der Umgang mit dem Tod und der menschlichen Leiche am Beispiel der klinischen Obduktion, Kassel: Kassel University Press 2007, S. 201-217, hier S. 205. 31 N. Elias: Über die Einsamkeit der Sterbenden, S. 13. 32 Vgl. Norbert Fischer: »Zur Geschichte der Trauerkultur in der Neuzeit. Kulturhistorische Skizzen zur Individualisierung, Säkularisierung und Technisierung des Totengedenkens«, in: Markwart Herzog (Hg.), Geschichte und Zukunft des Umgangs mit Verstorbenen, Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer 2001, S. 41-59, hier S. 50ff. 33 Vgl. ebd., S. 50. 34 Thomas Macho: Todesmetaphern. Zur Logik der Grenzerfahrung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1987, S. 153.

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Denkt man diesen Befund allerdings mit den oben umrissenen Ausführungen zur Humanität als ›Einstellungseinstellung‹ zusammen, lassen sich die hier von Macho gezogenen Schlussfolgerungen dahingehend ergänzen, dass der tatsächlich stattfindende und mit Bedeutung versehene Tod nicht nur ein philosophisches Problem, sondern zuallererst ein sozialer Tatbestand ist. Mit diesem Wechsel der Blickrichtung verändert sich auch die sinndiffundierende Perspektive auf den Phänomenbereich und allgemeine Maßstäbe zur Beurteilung des gesellschaftlichen Umgangs mit Tod und Sterben werden formulierbar. Unter dem Blickwinkel wertakzentuierender Humanität wird der Mensch in seinem Menschsein aufgewertet zum universellen Maß, an dem sich die Einstellungen gegenüber dem Tod orientieren können. Menschlichkeit und Unmenschlichkeit sind dabei Maßeinheiten, die eine Abschätzung des gesellschaftlichen Umgangs mit Tod und Sterben ermöglichen.

Humanisierung des Todes Humanisierung in einem allgemeinen Verständnis bezeichnet den Prozess sozialen Handelns, der in seiner konkreten Ausprägung auf das Engste mit der Leitidee der Humanität verbunden ist. Humanitär ist soziales Handeln immer dann, wenn es nicht nur »seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist«35, sondern außerdem in seinem tatsächlichen Ablauf den anderen in seiner konkreten Menschlichkeit erkennt, anerkennt und respektiert. Mit der Idee der Menschenwürde und ihrer Absicherung durch die Menschenrechte, erhält die für die Humanität sozialen Handelns grundlegende »Anerkennung unter Gleichen«36 erstmalig ein gedankliches und rechtliches Fundament, wie der Historiker Jörn Rüsen betont. Von einer Humanisierung des Todes zu sprechen ist, daher immer dann angezeigt, wenn die Idee der Menschenwürde orientierenden und verpflichtenden Einfluss auf den gesellschaftlichen Umgang mit Tod und Sterben gewinnt. Gleichzeitig kann der Begriff einer Humanisierung des Todes auch zu Missverständnissen führen, denn an der radikalen Fi35 Mit dieser Formulierung definiert Max Weber bekanntlich den Begriff des ›sozialen Handelns‹. Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie (1922), 5. revidierte Auflage, besorgt von Johannes Winckelmann, Tübingen: Mohr 1980, S. 1. 36 Jörn Rüsen: »Zivilgesellschaft und Religion – Idee eines Verhältnisses«, in: ders., Kultur macht Sinn. Orientierung zwischen Gestern und Morgen, Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2006, S. 227-241, hier S. 228. 260

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nalität des Todes kann selbst in bester Absicht nicht im Geringsten etwas geändert werden. Ändern lässt sich lediglich das Verhältnis der Menschen zu ihrem Tod und dem der anderen, nicht aber das Ereignis des Todes selbst. Somit eröffnen sich erst durch eine Veränderung der Einstellungen jene Humanisierungschancen, die in der Tat mit der Hoffnung verbunden sind, wenn nicht den Tod, so doch zumindest unseren Umgang mit ihm menschlicher zu gestalten. An folgenden Beispielen lassen sich Möglichkeiten und Grenzen einer Humanisierung des Umgangs mit Tod und Sterben erläutern. Gegenwärtige Diskussionen über einen menschenwürdigen Umgang mit Tod und Sterben werden vor allem im Umfeld zweier Themenbereiche geführt.37 Einmal kreisen die unterschiedlichen Beiträge um Fragen nach den rechtlichen und moralischen Bedenken bezüglich der Beihilfe zum Suizid (›Sterbehilfe-Diskurs‹), zum anderen um die Notwendigkeit einer rechtlich verbindlichen Formulierung, die, im Fall einer ausgesprochen schweren Erkrankung, die Anwendung oder Ablehnung lebenserhaltender Maßnahmen nach dem Willen des Patienten regelt (›Patientenverfügungs-Diskurs‹). Fluchtpunkt dieser beiden Diskussionen bildet die Sorge, dass ein Sterben in Würde einerseits durch die Unmöglichkeit der Selbsttötung, andererseits durch die krankheitsbedingte Einwilligungsunfähigkeit zum Ablehnen lebenserhaltender Maßnahmen verhindert wird. Die Beihilfe zum Suizid, der sogenannte ›assistierte Selbstmord‹38, wie auch die ›Patientenverfügungen‹, also die rechtlich verbindlich ver37 Grundlage hierfür bildet eine Interneterhebung relevanter News-Groups. Zur Zeit der Erhebung zwischen Juli 2008 und März 2009 waren die beiden Themen ›Sterbehilfe‹ und ›Patientenverfügung‹, freilich mit tagesaktueller Umakzentuierung, diskursbestimmend. Die Notwendigkeit einer rechtlich verbindlichen ›Patientenverfügung‹ wurde dabei vor allem im Rahmen der Vorbereitung zweier Gesetzesentwürfe zu diesem Thema (›Stünker-Initiative‹, ›Bosbach-Initiative‹) diskutiert. Zur ›Stünker-Initiative‹ vgl. http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/084/1608442.pdf vom 1. September 2008. Zur ›Bosbach-Initiative‹ vgl. http://dip21.bundestag. de/dip21/btd/16/113/1611360.pdf vom 1. Februar 2009. Die moralische Beurteilung der Sterbehilfe fand im Kontext des sogenannten ›assistierten Selbstmordes‹ statt. Beim ›assistierten Selbstmord‹ wird Hilfe beim Selbstmord durch eine Person geleistet, die den sterbewilligen Menschen bei seinem Vorhaben unterstützt, indem sie ihm ein Tötungsmittel zur Verfügung stellt, welches dann aber selbständig und schlussendlich ohne Hilfe anderer angewendet wird. In der Schweiz wird dieses Angebot von Organisationen wie Dignitas durchgeführt, in Deutschland vom ehemaligen Justizsenator von Hamburg, Roger Kusch und dessen Sterbehilfeverein. Mittlerweile hat das Verwaltungsgericht Hamburg in einem Eilverfahren das gewerbliche Sterbehilfeangebot verboten. Vgl. http://www.zeit. de/online/2009/09/kusch-sterbehilfe-aufgabe vom 20. Februar 2009. 38 Vgl. Fußnote 37.

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fassten Willensbekundungen von Patienten, sind Lösungsansätze, die ein würdevolles Sterben garantieren sollen. ›In Würde sterben‹ ist ein Wunsch, der heute von vielen Menschen geäußert wird. Doch nicht immer wird dabei klar, was sich genau hinter diesem Wunsch verbirgt. ›In Würde sterben‹ kann vieles bedeuten, daher ist es notwendig, den Begriff der Würde näher zu bestimmen. Unübertroffen in ihrer Klarheit ist die begriffliche Grundlegung der Menschenwürde, die Immanuel Kant als führender Philosoph der Aufklärung, in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten formuliert hat: »[D]er Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muss in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen, jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden.«39

Kant spricht in diesem Zitat nicht explizit von der Würde des Menschen. Mit dem Verweis auf die vernunftbedingte Selbstzweckhaftigkeit des Menschen formuliert er aber eine gedankliche Grundlage, auf die sich die Kernidee, nämlich die Vorstellung einer normativen Qualität des Menschen, stützen kann. Kant schafft somit eine einvernehmliche Beurteilungsreferenz, an der sich bis heute jede Konzeption von Menschenwürde messen lassen muss. In diesem Sinne menschenwürdig ist jedes Handeln, dass den Menschen niemals nur als bloßes Mittel zur Erfüllung bestimmter Zwecke betrachtet, sondern immer auch die normative Qualität seiner Einzigartigkeit anerkennt. Welche Konsequenz dieser Gedanke auf den Umgang mit dem eigenen Tod hat, führt Kant am Beispiel des Selbstmordes aus. Die Möglichkeit, selbsttätig aus dem Leben zu treten, lehnt er unter allen Umständen ab, denn »[w]enn er [der Selbstmörder; F.T.], um einem beschwerlichen Zustand zu entfliehen, sich selbst zerstört, so bedient er sich einer Person, bloß als eines Mittels, zur Erhaltung eines erträglichen Zustandes bis zu Ende des Lebens.«40 Selbstmord ist, nach Kant, unvereinbar mit der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen, Sterbehilfe als ›assistierter Selbstmord‹ folglich kein probates Mittel im würdevollen Umgangs mit dem Tod. Fraglich bleibt hingegen, ob die Begriffe Selbstmord und assistierter Selbstmord hier tatsächlich ein und denselben Sachverhalt meinen. Denn obwohl der Selbstmörder sich in seinem Handeln nicht an das Gebot der Selbstzweckhaftigkeit hält, ist sein Han39 Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), hg. von Jens Timmermann, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2003, S. 43. 40 Ebd., S. 44. 262

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deln dadurch nicht zwangsläufig menschenunwürdig. »Unmenschlich kann man nur gegen andere sein«, schreibt der Philosoph und Soziologe Helmuth Plessner und folgert für den Fall des Selbstmordes: »der Selbstmörder […] löscht mit seiner Existenz und Tat seine Unmenschlichkeit, die er sich selbst zufügt, gleichsam wieder aus. Die Unversöhnlichkeit seines Tuns wird an ihm selbst getilgt, wenngleich nicht aufgehoben.«41 Der ›assistierte Selbstmord‹ als besondere Form der Sterbehilfe ist dagegen eine Tat, die sich nicht durch Selbsttilgung vom Vorwurf der Unmenschlichkeit reinwäscht. Entgegen aller öffentlichkeitswirksamen Bemühungen der kommerziellen Dienstleister auf diesem Gebiet, ihr Angebot im Gewand wahrer Menschlichkeit zu präsentieren, ist diese Form der Sterbehilfe im wahrsten Sinne unmenschlich. Etabliert sich erst einmal der geschäftstüchtig vermarktete Tod als standardisierte Lösung für alle Schwachen, Kranken, Leidenden und Einsamen, geraten all diejenigen unter Zugzwang, die versucht und geneigt sind, sich mit ihrer Situation abzufinden. Wird der von Dienstleistern angebotene Selbstmord erst einmal zum Regelfall, hat dies weitreichende gesellschaftliche Konsequenzen. Die Wertigkeit des Lebens wird unterwandert, Weiterleben im schlimmsten Fall zur begründungsbedürftigen – da kostspieligen – Ausnahme. Ganz anders verhält es sich mit der ›Patientenverfügung‹. Eben diese übernimmt für den Menschen die Funktion des willentlichen Entscheidens, falls dieser dazu krankheitsbedingt nicht mehr in der Lage sein sollte. Wird etwa nach Feststellung des Hirntodes auf die Verwendung einer Herz-Lungen-Maschine verzichtet, wie es eine zuvor formulierte ›Patientenverfügung‹ vorsieht, und der Tod eingeleitet, wäre es fatal, dieses Vorgehen moralisch zu verurteilen und rechtlich zu verbieten. Eine Ablehnung dieser legitimen Form selbstbestimmten Sterbens wäre – mehr noch – ein Verstoß gegen die Menschenwürde. So behandelt das aussichtslose Am-Leben-Halten eines bewusstlosen Menschen gegen seinen zuvor schriftlich geäußerten Willen diesen lediglich als ein Mittel, niemals aber als ein Zweck an sich selbst. Um diese Selbstzweckhaftigkeit des Menschen auch unter Umständen zu sichern, in denen dieser nicht mehr selbst entscheidungs- und einwilligungsfähig ist, sind rechtliche Regelungen, wie sie in Deutschland im Rahmen der ›Patientenverfügung‹ auf den Weg gebracht werden, dringend notwendig.42 41 Helmuth Plessner: »Unmenschlichkeit«, in: ders., Mit anderen Augen. Aspekte einer philosophischen Anthropologie, Stuttgart: Reclam 1982, S. 198-209, hier S. 206. 42 Zu diesem Ergebnis kommen auch die neun Sachverständigen, die dem Bundestag vorliegende Gesetzesentwürfe zur Regelung der ›Patientenver-

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Rechtliche und moralische Entscheidungen im Umgang mit Tod und Sterben können sich an der fundamentalen Würde des Menschen orientieren. Das Konzept der Menschenwürde formuliert ein geltungsstarkes und für Mitglieder unterschiedlicher Kulturen und Religionen annehmbares Ideal. Der Mensch ist ein Zweck an sich selbst, auch wenn gerade im langen Schatten weltumspannender Marktinteressen dies bei weitem keine Selbstverständlichkeit zu sein scheint.43 Im ständigen Dienst von Nutzen- und Profitmaximierung wird der Mensch zunehmend ein Mittel zum Zweck. Dies wirkt sich bis in den Bereich des Gesundheitssektors hinein aus und es bleibt zu erwarten, dass in Zukunft weiter wichtiges Kapital zum Ausbau von Palliativstationen und sterbebegleitender Hospizarbeit fehlen wird, jener Institutionen also, die dem Menschen ein würdevolles Sterben in Gemeinschaft und ohne Schmerzen ermöglichen. Die Hoffnung besteht, dass der seit der Industrialisierung zunehmend alle sozialen Bereiche durchdringende »Ökonomismus als Weltanschauung«44 im Zuge globaler Finanzkrisen einer grundlegenden Kritik ausgesetzt wird. Somit ergibt sich zumindest die Chance, dass wieder diejenigen »Qualitäten des Herzens« in Erinnerung gerufen werden, von denen Helmuth Plessner schreibt, dass sie jedem Kosten-Nutzen-Kalkül widersprechen: »Die außer Kraft setzende Gewalt der Ritterlichkeit gegen den Schwächeren, des Erbarmens mit der Ohnmacht«45 sind dabei jene menschlichen Eigenschaften, die auch den gesellschaftlichen Umgang mit Tod und Sterben menschlicher werden lassen und den Weg bereiten für eine Gesellschaft, in der dem Tod anders begegnet werden kann als mit bloßer Angst. Ob diese Grundpfeiler einer Kultur der Humanität ihre Wirkungsmächtigkeit auch im Zusammenhang mit Tod und Sterben entfalten können, bleibt hingegen fraglich. Wünschenswert wäre dies allemal.

fügung‹ begutachten. Dabei wurde festgestellt, dass das »Sterben in Würde und die Beachtung eines in freier Selbstbestimmung geäußerten Patientenwillens zur Menschenwürde [gehören].« Ebenso sei aber der »Beratungsbedarf für eine kompetent ausgefüllte Patientenverfügung« besonders hoch und »[e]s gelte, Patienten vor womöglich unreflektiert abgefassten Willensbekundungen zu schützen.« Vgl. http://www.bundestag.de/aktuell/ archiv/2009/23679930_kw10_recht/index.html vom 10. März 2009. 43 Ganz zu schweigen von all jenen, denen erst gar nicht der Status als Mensch zugesprochen wird. Vgl. Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002 (ital. Originalausgabe 1995), S. 127ff. 44 Hans-Georg Soeffner: »Die Kritik der soziologischen Vernunft«, in: Soziologie 38/1 (2009), S. 60-71, hier S. 64. 45 H. Plessner: Unmenschlichkeit, S. 208. 264

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Literatur Adorno, Theodor W.: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie (1964), Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977. Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002 (ital. Originalausgabe 1995). Ariès, Philippe: Geschichte des Todes, München: DTV 2002 (frz. Originalausgabe 1978). Assmann, Jan: Der Tod als Thema der Kulturtheorie. Todesbilder und Totenriten im Alten Ägypten, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000. Ders./Franz Maciejewski/Axel Michael (Hg.): Der Abschied von den Toten. Trauerrituale im Kulturvergleich, Göttingen: Wallstein 2005. Ders./Rolf Trauzettel (Hg.): Tod, Jenseits und Identität. Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Thanatologie, Freiburg, München: Alber 2002. Belting, Hans: »Aus dem Schatten des Todes. Bild und Körper in den Anfängen«, in: C. v. Barloewen (Hg.), Der Tod in den Weltkulturen und Weltreligionen (2000), S. 120-177. Berger, Peter L./Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/Main: Fischer 2002 (amerikan. Originalausgabe 1966). Elias, Norbert: Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1982. Epikur: »Brief an Menoikus«, in: ders., Philosophie der Freude. Eine Auswahl aus seinen Schriften, zusammengestellt und übersetzt von Johannes Mewaldt, Stuttgart: Kröner 1973, S. 39-48. Fischer, Norbert: »Zur Geschichte der Trauerkultur in der Neuzeit. Kulturhistorische Skizzen zur Individualisierung, Säkularisierung und Technisierung des Totengedenkens«, in: Markwart Herzog (Hg.), Geschichte und Zukunft des Umgangs mit Verstorbenen, Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer: 2001, S. 41-59. Gehlen, Arnold: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen (1975), Wiesbaden: AULA-Verlag 1986. Hahn, Alois: »Unendliches Ende. Höllenvorstellung in soziologischer Perspektive«, in: Karlheinz Stierle/Rainer Warning (Hg.), Das Ende. Figuren einer Denkform, München: Wilhelm Fink 1996, S. 155-182. Heidegger, Martin (1926): Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 2001. Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), hg. von Jens Timmermann, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2003.

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Weber, Max: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher Erkenntnis« (1922), in: Johannes Winckelmann (Hg.), Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik, Stuttgart: Kröner, 5. überarbeitete Auflage 1973.

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Utopie und Sozialismus im Werk von Otto Rühle und Alice Rühle-Gerstel LIZETTE JACINTO

Abstract

The present article is based on the biography and writings of the German-Jewish intellectual Alice Rühle-Gerstel (1894-1943). It represents an attempt to investigate her work dealing with Socialism, its connection to self-consciousness and the practice of freedom. In this context a closer look at the works of her husband Otto Rühle, the well-known German socialist and pedagogue, is indispensable for an inclusive discussion on the humanistic work developed jointly by the Rühles as a couple, which cannot be conceived separately from Alice Rühle-Gerstel’s own ideas. As critical intellectuals of their time, Alice and Otto Rühle had a strong influence in the German-speaking world in the fields of education and feminism during the 1920’s. In this article I endeavour to show that the development of socialist thought did not only follow one single pathway, namely the authoritarian one, but on the contrary, encompassed many different perspectives. A good example is the distinctive criticism developed by the Rühle couple in the 1930’s and 1940’s, which was directed not only against the authoritarian regime of Nazi-Germany, but also against the Stalinist practices in the USSR in the first half of the twentieth century.

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»Was hast du verloren? Das Leben? Du hast den Sinn des Lebens verloren; er heißt: gemeinschaftliches Werk an der Sicherung aller.«1

1. Die Utopie einer besseren Welt für alle Menschen In ihrem 1940 erschienenen Aufsatz »La nueva actitud ante la vida« (Die neue Haltung zum Leben) betont die Schriftstellerin und Individualpsychologin Alice Rühle-Gerstel (1894-1943) die Bedeutung bestimmter Aspekte des menschlichen Alltags, die verschiedene Lebensmöglichkeiten transformieren könnten. Dabei standen Begriffe wie Arbeit, Familie, Geist und Gesellschaft im Zentrum ihres gesamten Werks sowie in ihrem Streben nach einer besseren und friedlicheren Welt.2 Melancholie ist ebenfalls ein wichtiger Teil der letzten Schriften von Alice Rühle-Gerstel: In der Ferne des Exils, ohne ihre Angehörigen, dachte sie an den verlorenen Kampf gegen politische Umstände, die im Zentrum ihres Interesses standen. Die Frage danach, wie für die Frauen, für die Arbeiterklasse und vor allem für Proletarier-Kinder mehr soziale Gerechtigkeit erreicht werden kann, findet man in jeder ihrer Schriften. Der Traum von Emanzipation und Freiheit und die Rolle dieser Aspekte in der Gesellschaft bilden den Hauptkern ihres Werkes. Im 20. Jahrhundert trafen nicht nur alle möglichen politischen Positionen aufeinander, es war ebenfalls gekennzeichnet durch eine Vielzahl von herausragenden Persönlichkeiten sowie von verschiedenen sozial und politisch engagierten Gruppen und Bewegungen: die Frauenbewegung, Studentenbewegungen, der Kampf gegen die Apartheid in Südafrika und das Aufbegehren gegen soziale Ungerechtigkeit in den Vereinigten Staaten. Alice Rühle-Gerstel war ohne Zweifel eine Freidenkerin und Intellektuelle, die mit ihren Schriften auch die folgenden Generationen beeinflusste. Eines der wichtigsten Ereignisse in ihrem Leben war die Begegnung mit ihrem Mann, dem Pädagogen Otto Rühle (1874-1943). Die gemeinsame Arbeit und lebhafte Diskussionen prägten den intensiven und fruchtbaren Diskurs der beiden Intellektuellen, deren Hauptziel es 1

2

Alice Rühle-Gerstel: Der Weg zum Wir. Versuch einer Verbindung von Marxismus und Individualpsychologie, München: Reinhardt 1980, S. 137 (1. Aufl. Dresden (Buchholz-Friedewald): Am andern Ufer 1927). Alice Rühle-Gerstel: La nueva actitud ante la vida, México: Sonderheft der El Nacional 1941.

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war, Gerechtigkeit für alle Menschen zu erlangen. Alice Rühle-Gerstel schrieb: »Erst dann darf die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!«3 Sie betrachtete das utopische Ideal einer besseren Welt immer als erfüllbar. Trotzdem dachte sie am Ende ihres Lebens, dass nach dem Umbruch, den der Zweite Weltkrieg mit sich gebracht hatte, Menschen wie sie nur wenig bewirken konnten. Die Zukunft gehörte in ihren Augen den folgenden Generationen, deren Ziel die Erfüllung der »Aufgaben des Zusammenlebens, des Zusammenweiterlebens und Zusammenlebenwollens« sein musste.4 In diesem Aufsatz möchte ich zeigen, wie der Begriff des Humanismus als roter Faden dienen kann. Dies soll im Hinblick auf zwei Ebenen geschehen: Auf der Mikroebene wird der Fall des Ehepaars Rühle nachgezeichnet, während es auf der Makroebene um das historische Geschehen geht. Dies soll dazu beitragen, den Verlauf des 20. Jahrhunderts und seine Widersprüche besser nachzuvollziehen.

2 . » E r z i e h u n g u n d Au f k l ä r u n g « Alice Rühle-Gerstel und Otto Rühle waren ihr Leben lang Kritiker aller autoritären Systeme. Die Wurzeln von Otto Rühles Ablehnung des autoritären Regierungssystems liegen in seiner pädagogischen Philosophie, in der er die Wege und Formen der altmodischen Erziehung zu reformieren versuchte. Eine ihrer Komponenten war lange Jahre die Prügelstrafe. Rühles Biograph Gerd Stecklina ist der Ansicht, dass er »der Erziehungs- und Sozialwissenschaftler Nummer Eins [war], wenn es um die Situation der Arbeiterkinder geht«.5 Politik und Pädagogik bildeten in Rühles Werk zwei Seiten einer Medaille. Die vielfältigen Facetten seines Werks führt Joachim Schille auf: »Schriftsteller oder […] Sozialpädagoge, aber auch […] Pädagoge, Psychologe, Soziologe, Historiker, Kulturtheoretiker, Revolutionstheoretiker, Sozialisationsforscher. Problematisch sind aber die Antworten, die sich in der Literatur zur ideologischen Klassifikation Rühles finden: Kommunist, Anarchist, Trotz-

3 4 5

A. Rühle-Gerstel: Der Weg zum Wir, S. 78. Ebd., S. 80. Gerd Stecklina: »Zur Person Otto Rühle«, in: ders./Joachim Schille (Hg.), Otto Rühle. Leben und Werk (1874-1943), Weinheim, München: Juventa 2003, S. 17-36. 271

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kist, Sozialist, Syndikalist, Anarchosyndikalist, Tradeunioist, Rätesozialist, Rätedemokrat, scheinrevolutionärer Idealist, bürgerlicher Intellektualist.«6

Die Begriffe Erziehung und Aufklärung bezeichnen dabei die beiden Pole, um die die beruflichen Aktivitäten Otto Rühles kreisen. 1874 in Sachsen geboren, widmete er sich in den ersten Jahren seines Studiums der Weiterentwicklung pädagogischer Methoden, die er in der Praxis vervollkommnen wollte. Er setzte sich sehr intensiv mit den pädagogischen Lehren des 19. Jahrhunderts und mit zeitgenössischen Texten auseinander und erkannte, dass sich die meisten Pädagogen nicht für die Probleme der Arbeiterkinder interessierten. Deswegen setzte er sich das Ziel, pädagogische Theorien unter Berücksichtigung dieses Defizits weiter zu entwickeln.7 Aufgrund seiner Herkunft aus dem Proletariat »entschied sich Otto Rühle dafür, Pädagoge zu werden. Danach engagierte er sich in der Arbeit verschiedener Vereinigungen«.8 Während der letzten Jahre des 19. Jahrhunderts war er zunächst als Lehrer und etwas später als Redakteur bei verschiedenen Arbeiterzeitungen tätig wie z.B. beim Foster Tagblatt (1897); Zeitz (1898/1899) und der Volksstimme Chemnitz (1900-1902). Neben »der Veröffentlichung einer Vielzahl von Artikeln hielt er in diesen Jahren Vorträge und Kurse vor Arbeitern und Jugendlichen über pädagogische Probleme und zu Fragen der sozialistischen Weltanschauung«.9 Die Veröffentlichung seines Buches Das proletarische Kind markiert den Zeitpunkt, als Rühle breitere Anerkennung innerhalb der pädagogischen und politischen Kreise in Deutschland zu gewinnen begann. Über das Buch wurde sogar bei einer Versammlung des Reichstags diskutiert. Seit dem Beginn seiner politischen Karriere setzte sich Rühle intensiv mit dem Problem des Erweckens der Proletariergewissenhaftigkeit bei Arbeiterkindern und entsprechenden Lernmethoden auseinander. Klassenkampf war für ihn 6 7

8

9

Joachim Schille: »Otto Rühle – der Mensch in Zeugnissen«, in: G. Stecklina/J. Schille (Hg.), Otto Rühle, S. 37-43, hier S. 27f. Einige der Autoren und Werke, die Otto Rühle in Das proletarische Kind (1911) kritisiert, sind Günther Dehn/Berthold Sigismund, Kind und Welt (1858); Dietrich Tiedemann, Beobachtung über die Entwicklung der Seelenfähigkeiten bei Kindern (1787); Adolf Kussmaul, Untersuchung über das Seeleben des neugeborenen Menschen (1859); Bernhard Hellwig, Vier Temperamente der Kinder (1882). Vgl. Otto Rühle: Das proletarische Kind. Eine Monographie, München: Langen 1911. Alejandro Galvez Cancino: »Otto Rühle: Revolucionario y científico«, in: Otto Rühle, El alma del niño proletario, S. 6, Übersetzung L.J. Siehe auch O. Rühle: Das proletarische Kind. Horst Maneck: »Rühles Wirken für die Arbeiterbildung und die proletarische Jugendbewegung Ende des 19. Jahrhunderts bis 1916«, in: G. Stecklina/J. Schille (Hg.), Otto Rühle, S. 109-114, hier S. 110.

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der Kern seines geistigen Lebens und die Seele des modernen Proletariats.10 Otto Rühle war einer der ersten Abgeordneten der SPD, der in der Öffentlichkeit seine Unabhängigkeit verkündete. So votierten z.B. im Deutschen Reichstag 1914 nur zwei SPD-Abgeordnete gegen die Einrichtung von Kriegskrediten: Otto Rühle und Karl Liebknecht.11 Dennoch distanzierte sich Otto Rühle allmählich sowohl von der politischen Linie Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts als auch von Lenin und seiner Grundidee der Oktoberrevolution und hatte viele ideologische Auseinandersetzungen mit Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Franz Mehring, dem Hauptideologen des Spartakusbundes. Diese politische Distanzierung sollte er Jahre später jedoch bereuen. Bereits in den ersten Jahren der Weimarer Republik entschied er sich, in verschiedenen Arbeiter-Vereinigungen mitzuarbeiten: »Rühle entwickelt ab Anfang der 20er Jahre einen kompromisslosen LinksKommunismus, der nur die Arbeiterunion (AAU, AAUE) und Betriebsorganisation (BO) als legitime Institutionen der politischen Willensbildung der Arbeiterbewegung propagiert.«12 Im Rückblick beschreibt Rühle seine politische Entwicklung wie folgt: »Nachdem ich die Sozialdemokratische Partei (SPD) verlassen hatte, gründete ich mit anderen die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD), dort blieb ich bis 1919, als ich wegen politischer Auseinandersetzungen ausgeschlossen wurde. Später widmete ich mich z.B. Vorträgen, Konferenzen und Kursen über meine sozialistische Ideologie, um Bücher und Faltblätter zu schreiben. Aufgrund meiner linken ideologischen Haltung und meiner revolutionären Ideen verfolgte mich das NSDAP-Regime.«13

10 Otto Rühle: El alma del niño proletario, México: Ediciones Orbe 1987, S. 42. 11 Vgl. Liebknecht, Karl: »Zur Kriegssitzung des Reichstages. Liebknechts Ablehnung der Kriegskredite« http://www.marxistsfr.org/deutsch/archiv/ liebknechtk/1914/12/reichstag.htm vom 09.05.2009. 12 O. Rühle: El alma del niño proletario, S. 117. 13 Otto Rühle: Brief an La H. Secretaría de Relaciones Exteriores vom 27. Mai 1938, Archivo Genaro Estrada, Secretaría de Relaciones Exteriores México, Mexiko. Übersetzung L.J. 273

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3 . Am a n d e r n U f e r : O t t o R ü h l e u n d Al i c e Rühle-Gerstel oder »Subalternities in der Geschichte des 20. Jahrhunderts« Zwanzig Jahre Altersunterschied zwischen Otto Rühle und Alice RühleGerstel konnten nicht verhindern, dass das Ehepaar eine außerordentlich koordinierte, durch gemeinsame Sorgen und Interessen eng verbundene Zusammenarbeit praktizierte. In diesem Zusammenhang werde ich das Ehepaar Rühle hier parallel darstellen. Wie bereits erwähnt war Otto Rühle erklärter Marxist, ein in Deutschland bekannter und respektierter Pädagoge. Besonders anerkannt war sein Werk Das proletarische Kind, aber auch andere Monographien, die ihn als einen Experten im Bereich Kindererziehung in den kapitalistischen Gesellschaften auszeichneten.14 Alice Rühle-Gerstel wurde ihrerseits zu einer prominenten Theoretikerin im Bereich der Individualpsychologie.15 Zusammen gründeten sie 1922/23 den Verlag Am Andern Ufer in Friedewald-Buchholz. Otto Rühle konzentrierte sich auf den Entwurf der sozialistischen Ausbildung der Proletarierkinder, die später die Verantwortung für den Aufbau der zukünftigen sozialistischen Gesellschaft übernehmen sollten. Deshalb plädierte er für eine »unautoritäre Erziehung« in selbst initiierten Erziehungsgemeinschaften, deren Ziel der »selbsttätige, hochqualifizierte, gemeinschaftsfähige Mensch«16 war. Eine der Hauptaufgaben der Rühles im Rahmen der Verlagstätigkeit war die Veröffentlichung von Das proletarische Kind. Monatsblätter für proletarische Erziehung (1925/1926). Jana Mikota merkt an, dass für die Rühles eine starke Ablehnung der Familie als Erziehungsinstanz charakteristisch war. Sie analysierten in ihren Schriften die Konflikte um 14 Jana Mikota sagt, dass »die Rühles […] vor einem politischen Umbruch die Persönlichkeit der Mensch durch ihr ›antiautoritäres‹ Erziehungskonzept modifizieren [wollen]. Sie appellieren an die Erziehungsberechtigten, ihre Erziehungsmuster zu verändern und autoritäre Strukturen abzubauen […].« Jana Mikota: Alice Rühle-Gerstel. Ihre kinderliterarischen Arbeiten im Kontext der Kinder- und Jugendliteratur der Weimarer Republik des Nationalsozialismus und des Exils, Frankfurt/Main: Peter Lang 2004, S. 38. 15 Der Österreicher Alfred Adler (1870-1937) begründete in Wien die Individualpsychologie. Dieses Wissensgebiet unterscheidet sich von der Psychologie in der Idee, dass alle Individuen an einem Minderwertigkeitskomplex leiden, der sich gleichzeitig mit einem Organ verbinden lässt (Organminderwertigkeit). Siehe Alfred Adler: Studie über Minderwertigkeit von Organen, Wien: Urban und Schwarzenberg 1907. 16 Gerd Stecklina: »Zeitlebens für Souveränität«, in: Dresdner Universitätsjournal 5 (2002), S. 4. 274

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Macht und Autorität in den proletarischen Familien und erklärten ihre Entstehung dadurch, dass die Eltern (fast in allen Fällen) ihre Kinder so erziehen, wie sie es bei ihren Eltern erlebt hatten.17 Darüber hinaus stieß Otto Rühle über die Vermittlung von Alice auf die Individualpsychologie Alfred Adlers und nutzte sie zur Erweiterung seiner sozialpädagogischen Konzeption der Entwicklung zentraler Erziehungsgrundsätze, zu denen die Erziehung zur Solidarität, zum Klassenbewusstsein oder zur Gemeinschaft gehört.18 Alice Rühle-Gerstel begann ihrerseits ihre Doktorarbeit in Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Sie promovierte 1921 mit einer Dissertation über Friedrich Schlegel und Chamfort. In München machte sie eine Therapie bei ihrem Freund, dem Individualpsychologen Leonhard Seif, der sie in die Theorie des österreichischen Psychologen Alfred Adlers einführte. Während der zwanziger Jahre widmeten sich die Rühles nicht mehr der Ausgabe von marxistischen Texten, sondern wollten vielmehr ihr theoretisches Wissen in praktische Erfahrung transformieren. So gründete Alice Rühle-Gerstel in Dresden eine Erziehungsgemeinschaft, in der auch die Individualpsychologie eine wichtige Rolle spielte. Darüber hinaus hielt sie Vorträge auf Konferenzen und Vorlesungen in Universitäten und trat in verschiedenen Rundfunk-Sendungen auf. Sie konzentrierte sich dabei auf die Untersuchung des Frauenproblems mit dem Werkzeug der Individualpsychologie. Ferner schrieb Rühle-Gerstel die Monographie Freud und Adler, in der sie eine Kritik sowohl an Alfred Adler als auch an Sigmund Freud entwickelte.19 Der Einfluss des Pädagogen und Marxisten Otto Rühle auf seine Ehefrau spiegelt sich in ihrem gesamten Werk. Das Ergebnis dieses Einflusses waren die Veröffentlichungen zur Individualpsychologie, in denen sie dieses Konzept in Verbindung mit dem Marxismus brachte; ein zentrales Beispiel dafür ist die Monographie Der Weg zum Wir. Für Alice Rühle-Gerstel war der Kapitalismus die Epoche der Menschheitsgeschichte, in der das gesamte Menschenleben zum Wirtschaftsleben

17 Vgl. J. Mikota: Alice Rühle-Gerstel, S. 66. 18 Vgl. Klaus Ravenberg: »Die Verhältnisse machen den Menschen, aber der Mensch macht die Verhältnisse«, in: G. Stecklina/J. Schille (Hg.), Otto Rühle, S. 115-133, hier S. 115. 19 Alice Rühle-Gerstel: Freud und Adler. Elementare Einführung in Psychoanalyse und Individualpsychologie, Dresden (Friedewald-Buchholz): Am andern Ufer 1924, Neuauflage Zürich: Kopernikus 1984. 275

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und alle Dinge, Begriffe, Worte und Gefühle zu Waren geworden waren.20 Ebenso versuchte sie, mit den kognitiven Werkzeugen der Individualpsychologie tiefer in das Schicksal der Frau einzudringen.21 Die Ergebnisse ihrer Befragungen (sie arbeitete auch empirisch), brachten die schlimme Lebenswirklichkeit proletarischer Frauen zum Vorschein, die durch ihre ›Klassengenossen‹ oft misshandelt wurden. Alice RühleGerstel erkannte, dass das Problem der Frauenrolle in der Gesellschaft nicht genug diskutiert wurde. Daraus entstand die Frage: Ist die Frau in erster Linie Frau oder in erster Linie Mensch? Sie versuchte zunächst, ausgehend von der Individualpsychologie, das weibliche Minderwertigkeitsgefühl zu erklären. In der Individualpsychologie von Alfred Adler fand Rühle das methodische Instrumentarium für eine Erklärung der Übernahme von bürgerlichen Handlungsmustern und Verhaltensweisen durch Proletarier.22 In ihrem Buch Das Frauenproblem der Gegenwart stellte sie das Problem der weiblichen Sexualität dar, indem sie die traditionelle Rolle der Frau in der Gesellschaft untersuchte wie z.B. die Rolle der Frau in der Ehe, als Lehrerin, als Hausfrau, als Prostituierte, als Krankenschwester und insbesondere die Rolle der Frau als Mutter mit ihren verschiedenen Facetten. Ein großer Teil der Frauen-Probleme, die Alice Rühle-Gerstel untersuchte, wurde später von sehr anerkannten Autorinnen wieder aufgegriffen, u.a. von der französischen Philosophin Simone de Beauvoir.23 Schon 1930 mussten die Rühles wegen finanzieller Schwierigkeiten ihr Haus in Buchholz-Friedewald einem engen Familienfreund verkaufen. In der Zwischenzeit war Otto Rühle zum ersten Mal nach Mexiko gereist, wo Tochter Grete und ihr Mann Friedrich Bach mit ihren zwei Kindern lebten. Zu dieser Zeit arbeitete Alice Rühle-Gerstel an der Technischen Universität Dresden, wo sie ein Seminar über Individualpsychologie leitete.24 Kurz vor dem 31. Januar 1933, dem Tag, an dem Adolf Hitler an die Macht kam, verließen die Rühles Deutschland, ohne zu wissen, dass das für immer sein würde. In der ersten Phase ihres langen Exils reisten sie nach Prag, wo sie die folgenden drei Jahre verbrachten. Am 10. Mai 20 A. Rühle-Gerstel: Der Weg zum Wir, S. 17. 21 Vgl. Alice Rühle-Gerstel: Das Frauenproblem der Gegenwart. Eine psychologische Bilanz, Leipzig: Hirzel 1932. 22 Gerd Stecklina: Otto Rühle und die Sozialpädagogik. Ein biographischsozialwissenschaftlicher Zugang, Dresden: Technische Universität Dresden 2002, S. 37. 23 Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht, Hamburg: Rowohlt 1951. 24 Marta Marková: Auf ins Wunderland! Das Leben der Alice Rühle-Gerstel, Innsbruck: Studien Verlag 2007, S. 143-145. 276

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1933, der als Tag der Bücher-Verbrennung bekannt wurde, standen sowohl Otto Rühles als auch Alice Rühle-Gerstels Namen auf der Liste der verbotenen und durch das Nazi-Regime geächteten Autoren. Die pädagogischen Texte von Otto Rühle erlebten eine Wiedergeburt, als in den sechziger Jahren die antiautoritäre Pädagogik aufkam. Alice RühleGerstel kannte man bis vor ein paar Jahren nur in engen germanistischen und psychologischen Fachkreisen, obwohl sie eine der bekanntesten Autorinnen in den 1920er Jahren im deutschsprachigen Raum war. Eines der wichtigsten Werke von Rühle-Gerstel, das inhaltlich stark autobiographisch geprägt ist und die Zeit vor dem zweiten Weltkrieg und während ihres Exils porträtiert, ist der Roman Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit. Dieser Roman bringt zum Ausdruck, wie wichtig für sie Werte wie die Freiheit eines jeden Menschen waren. RühleGerstel begann damit während des Exils in Prag und beendete den Roman am 15. Mai 1938, dem Tag, an dem die deutschen Truppen in ihre Geburtsstadt Prag einmarschierten. Die Rühles widmeten ihr gesamtes Werk und ihre intellektuelle Entwicklung zwei wichtigen Gruppen, die in der Gesellschaft noch nicht anerkannt waren: immer wieder tauchen Kinder und Frauen als soziale Figuren in den gemeinsamen Werken des Ehepaars auf.

4. Humanismus oder die Befreiung der Menschen Erich Fromm, der bekannte humanistische Philosoph, Psychologe und ein naher Freund des Ehepaars Rühle, schrieb: »Wie können wir ein glückliches, produktives, erfülltes Leben leben – innerlich und äußerlich frei, aus uns selbst heraus und mit uns identisch, unsere wichtigsten Bedürfnisse befriedigend, unsere Fähigkeiten und Potentiale entfaltend in Arbeit, Liebe und Vernunft? Und zwar so, dass wir das Private nicht vom Öffentlichen trennen, dass wir aktiv teilnehmen am gesellschaftlichen Leben und mitbestimmen in Politik und Wirtschaft? Wie können wir mündige, reife Menschen werden, ohne Verdrängungen und Rationalisierungen?«25

Mit ähnlichen Fragen setzten sich auch die Rühles auseinander, sie glaubten an die Notwendigkeit, die kommende Generation zu erziehen und damit eine bessere Welt für alle zu schaffen. Sie waren sich be25 Gerd Meyer: Freiheit wovon, Freiheit wozu? Politische Psychologie und Alternativen humanistischer Politik bei Erich Fromm, Opladen: Leske und Budrich 2002, S. 12f. 277

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wusst, dass eine Zeit der Widersprüche und Gewalt unvermeidbar war, wie sie sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigte. Es gab keine Möglichkeit der Umkehr, dennoch gab es die Hoffnung, dass die nachfolgenden, besser gebildeten Generationen mit einem reinen Klassengewissen möglicherweise in der Lage sein würden, das fürchterliche soziale Panorama der Epoche zu ändern, um eine bessere Zukunft für alle zu erreichen. Das war der Hauptgedanke der Rühles als Erzieher und Humanisten. In den Texten der Rühles geht es um eine bessere Welt, die die Menschen eines Tages schaffen werden. Die Schaffung einer Gesellschaft mit gleichen vielfältigen Möglichkeiten für alle Mitglieder war mehr als ein bloßer Traum für das Paar, sie war ihr Ziel: »Neben dem Bereich der Erziehung zur Solidarität, formuliert er [Otto Rühle, L.J.] die Erziehungsziele Klassenbewusstsein und Gemeinschaft. Er richtet seine Aufmerksamkeit vor allem auf die kommenden Generationen. Die erwachsenen Proletarier scheinen ihm hoffnungslos ›verbürgerlicht‹. In seinen Schriften orientiert er sich nun hauptsächlich an der Entwicklung der Arbeiterkinder und Arbeiterjugendlichen und versucht, daraus Alternativen zu den bürgerlichen Verhaltensnormen und autoritären Mustern der Über- und Unterordnung, der Ausgrenzung und Anpassung zu entwickeln. Für ihn bedeutet eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse auch die Vernichtung aller bürgerlichen Normen und Werte in der Lebensweise der Arbeiter und die Entwicklung einer neuen sozialistischen Lebensweise.«26

Die gleichen Gedanken findet man in den letzten Schriften von Alice Rühle-Gerstel, vor allem in ihrem Vortrag »La nueva actitud ante la vida« an der Universität von Morelia in Mexiko. Alice Rühle-Gerstel ist ein musterhaftes Beispiel für eine Autorin, die ihr ganzes Leben dem Streben nach einer besseren Zukunft für die kommenden Generationen widmete. Das grundlegende Prinzip ihrer Werke bestand darin, dass verschiedene Sphären eines Individuums wie Familie, Arbeit, Gesellschaft und Geist von einem konformistischen Verhalten in ein revolutionäres Verhalten umgestaltet werden müssen. 26 Klaus Ravenberg: Die Verhältnisse machen den Menschen, S. 127: »Unsere Seele ist autoritäre Seele, unsere Mentalität eine autoritär orientierte Mentalität geworden. Das Proletariat […] hat Schulen durchlaufen, die autoritäre Schulen sind; es hat unter dem Zwange der Wehrpflicht den autoritären Schliff militärischer Disziplin kennen gelernt […]. Das Verhältnis zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern, Großen und Kleinen, Alten und Jungen, im Grunde nur ein Verhältnis des Anders-geartet-seins, ist ein Verhältnis des Über-geordnet-seins, ist […] ein Verhältnis, das seine tiefste Verankerung und Orientierung findet im Prinzip der Autorität […].« 278

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Diese Veränderung hängt von der Freiheit des Individuums in der Gesellschaft ab und kann durch Harmonie zwischen dem Individuum und der Erziehung durch die Institutionen erreicht werden, in denen es eine aktive Rolle übernehmen muss.27 Darüber hinaus versuchte sie, bei der Tagung in Morelia 1940 den Jugendlichen eine Lehre vom Leben zu vermitteln. Sie sprach über die sozialen Verhältnisse in einer Epoche der Krise, in der die Gesellschaft neurotisch geworden ist. Laut RühleGerstel war es sehr wichtig, den Sozialismus nicht als eine Religion zu behandeln. Sie versuchte, ihren Schülern eine kritische Haltung zu vermitteln, insofern, dass jeder eine bewusste Reproblematisierung der Probleme vornehmen muss. Darüber hinaus sind Kooperation und Planung einer besseren Zukunft zwei wichtige Merkmale dieser Haltung.28 Die kommunistischen Kämpfe für die Verteilung des Reichtums an alle Mitglieder der Gesellschaft repräsentieren bloß einen ökonomischen Blickpunkt, während die sozialistisch geprägten Pädagogen nach der gleichen Ausbildung für alle Gesellschaftsmitglieder strebten, und dies insbesondere für die sozial Schwächeren und Ungeschützten, die keine guten Ausgangsbedingungen hatten. Eine Ausbildung sollte es ermöglichen, dass der Mensch trotz der autoritären Systeme geistige Freiheit erreichen kann. Paul Mattick charakterisierte 1945 den politischen Standpunkt von Otto Rühle wie folgt: »Wegen seines umfassenden Standpunktes den Lebensproblemen gegenüber geriet er des Öfteren in Verdacht, ein Renegat zu sein, jedoch er starb, wie er lebte – als Sozialist im wahren Sinne des Wortes.«29 Der kommunistische Pädagoge Hoernle definierte Rühle als einen scheinrevolutionären Idealisten, der zuerst den Menschen verändern wollte und dann die Gesellschaft.30 Erziehung war der Schlüssel für die Befreiung der Menschen, der er sein ganzes Leben widmete, Freiheit das Ziel. Es ist verständlich, dass für die Rühles dieser Freiheitsdiskurs notwendig war, nämlich durch die enge Verknüpfung des marxistischen Ansatzes mit der Idee der Befreiung. 31 Den Vorstellungen des Ehepaars Rühle gemäß wird die Befreiung der Menschheit, die Emanzipation, durch Erziehung und solidarische

27 28 29 30

Vgl. A. Rühle-Gerstel: La nueva actitud ante la vida, S. 43-53. Ebd., S. 78. Vgl. J. Schille: Otto Rühle – der Mensch in Zeugnissen, S. 38. Vgl. J. Schille: »Die Rühle-Rezeption im pädagogischen Schrifttum der DDR«, in: G. Stecklina/J. Schille (Hg.): Otto Rühle, S. 209-218, hier S. 211. 31 Vgl. Robert Lederer: Freiheit und Sozialismus, Münster: Lit Verlag 2000. 279

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Verhältnisse gelingen. Die Idee der Befreiung der kommenden Generationen bedeutete für die Rühles ihren Beitrag zur Entwicklung aller Gesellschaften.

5. Innerer Humanismus eines intellektuellen Ehepaares Die autoritären Regimes von Hitler und Stalin waren nicht die einzigen, mit denen sich die Rühles in ihren Werken intensiv auseinandersetzten. So findet man bei Otto Rühle auch eine scharfe Kritik am italienischen Faschismus, dessen Auswirkungen die Kriegszeit prägten.32 Allerdings fokussierten die Rühles die beiden ersten Regimes, weil diese ihr Leben besonders stark geprägt hatten und für ihre Verfolgung verantwortlich waren. Eine der wichtigen Prämissen eines autoritären Regimes ist die Abwesenheit von Freiheit. Normalerweise ist es die Regierung, die ihre Kraft aus dem autoritären Regierungssystem bezieht. Eines der Durchführungsprinzipien ist das der »Ordnung«. Der Staat, der per definitionem das Gewaltmonopol besitzt, besitzt ebenfalls alle Mittel und Instrumente, um zunehmend bestimmte Fälle von Repressionen zu decken. Das autoritäre Regierungssystem kann in jeder Einrichtung oder sozialen Organisation gegenwärtig sein. Otto Rühle stellt fest, dass »die Aufgabe der Intellektuellen innerhalb der Arbeiterbewegung […] nicht in der politischen und organisatorischen Führung [liegt], sondern vornehmlich in der Vermittlung von Wissen und Erkenntnissen, in der Aufklärung.«33 Der Autoritarismus duldet keine Verschiedenartigkeit, weder von Gedanken, noch Geschmäckern. Das autoritäre System wird vom Schweigen genährt, und seine Ohren hören nur, was sein eigenes System, Propaganda und Monopol stützt. Diskussionen über seine Programme oder Veränderung seiner Klauseln gibt es nicht. Das autoritäre Regime ist taub und blind, es profitiert von Ahnungslosigkeit, sozialer Furcht sowie von materieller und intellektueller Armut. Freiheit und Emanzipation verwandeln sich in die Schleuder, die es David ermöglicht, den großen Goliath zu besiegen. »Die autoritären Regimes durchdringen das Leben der Gesellschaft. Sie verhindern – auch mit Gewalt – die politische Artikulation bestimmter Gruppeninteressen«.34 32 Vgl. Jerzy W. Borejsza/Klaus Ziemer (Hg.): Totalitarian and Authoritarian Regimes in Europe. Legacies and Lessons from the Twentieth Century, Warschau: Berghan Books 2006, S. 7. 33 Vgl. K. Ravenberg: Die Verhältnisse machen den Menschen, S. 119. 34 Vgl. Juan J. Linz: Totalitäre und autoritäre Regime, Berlin: Berliner Debatte Wissenschaft Verlag 2003. 280

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Einer der wesentlichen Punkte der allmählichen politischen Isolierung der Rühles, ihrer Entfernung bzw. ihres Rückzugs aus verschiedenen politischen und intellektuellen Organisationen war ihre Ablehnung jeder Form autoritärer Regierungssysteme. Besonders vehement kritisierten sie Hitler und Stalin als Repräsentanten der mächtigsten autoritären Regimes in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In ihrem mexikanischen Exil wurden die Rühles mit anderen Exilkreisen konfrontiert, die den kulturellen Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Deutschland repräsentierten. Trotz der anti-nationalsozialistischen Haltung waren diese Widerstandskräfte in der Mehrheit Pro-Stalinisten. Mit diesem Widerspruch mussten sich die Rühles in ihrem alltäglichen Leben während ihres mexikanischen Exils stets auseinandersetzen.35 Das Exil könnte man möglicherweise als eine der schlimmsten Auswirkungen der autoritären und totalitären Regimes bezeichnen (neben Verfolgung, Tod und Sterben). In der Tat bedeutet Exil nichts anderes als die Kehrseite des Humanismus, den Inhumanismus. Hundertausende Menschen mussten im Laufe des 20. Jahrhunderts auswandern und als Flüchtlinge in verschiedenen Ländern um Asyl bitten. Mit der Auswanderung sind verschiedene Folgen verbunden: Erlernen neuer Sprachen, Beantragung einer neuen Staatsbürgerschaft, Bildung neuer Freundeskreise und vor allem der Beginn eines neuen Lebens. Diese Erfahrung mussten auch die Rühles machen, als sie 1935/1936 nach Mexiko kamen. Obwohl Alice Rühle-Gerstel eine der bedeutendsten Intellektuellen im Prager deutsch-jüdischen Milieu war, konnte sie in Mexiko ihre akademische Laufbahn nicht fortsetzen.36 Otto Rühle wurde seinerseits wegen seiner Zugehörigkeit zur Commission Dewey als Trotzkist gebrandmarkt und allmählich politisch isoliert. Die letzten Jahre des Ehepaars Rühle standen im Schatten großer finanzieller Schwierigkeiten. Das Exil kann viele Ausprägungen annehmen, von einem neuen Sonnenaufgang bis hin zum Tod. Am 24. Juni 1943 starb Otto Rühle unerwartet an einem Herzinfarkt. Nur zwei Stunden später wählte Alice Rühle-Gerstel im Alter von 49 Jahren den Freitod. Alice, die bereits seit vielen Jahren über ihren eigenen Selbstmord geredet hatte, starb in Übereinstimmung mit ihren Ideen. Meiner Meinung nach hatte der Akt des Selbstmords möglicherweise eine besondere Bedeutung für sie in Bezug auf die Freiheit des Menschen. War letzten Endes alles nur eine Illusion? Können wir über einen allgemeinen Humanismus sprechen, der bis in alle Ecken der Menschheit reicht, oder geht es nur um die Erfah35 Wolfgang Kießling: Exil in Lateinamerika, Leipzig: Reclam 1980. 36 M. Marková: Auf ins Wunderland!, S. 11. Siehe auch Lizette Jacinto: »Auf ins Wunderland! Das Leben der Alice Rühle-Gerstel von Marta Marková«, in: Modern Austrian Literature 41/2 (Sommer 2008), S. 87-89. 281

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rung konkreter Individuen, die widersprüchlich versuchen, Freiheit, Emanzipation und Erziehung für alle zu erreichen und nur mit Isolierung und Tod belohnt werden? Im Fall der Rühles kann man eine kohärente humanistische Entwicklung beobachten, die beide Eheleute ihr Leben lang pflegten. Deswegen kann das Leben beider, dessen Essenz die vielfältigen Bestrebungen nach Freiheit, Emanzipation und solidarischen Verhältnissen ausmachte, auf die humanistische Tradition bezogen werden. Die Rühles schrieben: »Leben in seiner erfolgreichen Totalität ist eben Ergebnis einer Gemeinschaftsleistung. Ist die Gemeinschaft mangelhaft oder hört sie auf, so ist das Leben nicht mehr lebbar. Es endet in den Neurosen im Verbrechen, in der Perversion, in der Krankheit, im Selbstmord – in irgendeiner Konsequenz letzter Gemeinschaftsunfähigkeit.«37

Der Tod von Otto Rühle und der Selbstmord von Alice Rühle-Gerstel im Exil sind nicht nur individuelle Todesfälle. Sie deuten vielmehr auf die sozialen Umstände hin, die zu diesem fatalen Ergebnis führten. Was kann man aus diesen zwei Schicksalen lernen? Vielleicht, dass Kooperation und Solidarität – die zentralen Elemente ihres Werks –immer noch die Menschheit retten können. Der Beitrag der Rühles zur Humanismusfrage besteht darin, Kohärenz und Kontinuität etabliert zu haben zwischen der intellektuellen Ebene und der alltäglichen Praxis. Humanismus, wie sie ihn besonders in seiner sozialen Dimension verstanden, bedeutet nichts anderes als Solidarität, Selbstbewusstsein, Freundschaft in der Not zu erhalten und zu praktizieren. Im Fall des Ehepaars Rühle steht Humanismus stets im Zusammenhang mit dem Kampf für eine bessere Welt. Dennoch müssen wir auch berücksichtigen, dass der Wandel hin zu einer solchen nur möglich werden kann durch einen inneren Humanismus, d.h. durch den kritischen Blick in unser eigenes Innere. »Es ist nicht die Zeit, wo jeder seine idealistische Welt alleine strukturieren kann, wir müssen alle gleichzeitig, zusammen dafür arbeiten. […] Wir sind die Architekten und Handwerker einer besseren Zukunft.«38

37 Alice Rühle-Gerstel/Otto Rühle: Sexual-Analyse. Psychologie des Liebesund Ehelebens, Rudolfstadt i. Th.: Greifenverlag 1929, S. 158. Zitiert nach M. Marková: Auf ins Wunderland!, S. 445. 38 Vgl. A. Rühle-Gerstel: La nueva actitud ante la vida, S. 78, Übersetzung L.J. 282

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Literatur Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen, Wien: Urban und Schwarzenberg 1907. Beauvoir, Simone de: Das andere Geschlecht, Hamburg: Rowohlt Verlag 1951. Borejsza, Jerzy W./Ziemer, Klaus (Hg.): Totalitarian and Authoritarian Regimes in Europe. Legacies and Lessons from the Twentieth Century, Warschau: Berghan Books 2006. Galvez Cancino, Alejandro: »Otto Rühle: Revolucionario y científico«, in: Otto Rühle, El alma del niño proletario (1987), S. 9. Jacinto, Lizette: »Auf ins Wunderland. Das Leben der Alice RühleGerstel von Marta Marková«, in: Modern Austrian Literature 41/2 (Sommer 2008), S. 87-89. Kießling, Wolfgang: Exil in Lateinamerika, Leipzig: Reclam 1980. Lederer, Robert: Freiheit und Sozialismus, Münster: Lit Verlag 2000. Liebknecht, Karl: »Zur Kriegssitzung des Reichstages. Liebknechts Ablehnung der Kriegskredite« http://www.marxistsfr.org/deutsch/ archiv/liebknechtk/1914/12/reichstag.htm vom 09.05.2009. Linz, Juan J.: Totalitäre und autoritäre Regime, Berlin: Berliner Debatte Wissenschaft Verlag 2003. Maneck, Horst: »Rühles Wirken für die Arbeiterbildung und die proletarische Jugendbewegung Ende des 19. Jahrhunderts bis 1916«, in: G. Stecklina/J. Schille (Hg.), Otto Rühle (2003), S. 109-114. Marková, Marta: Auf ins Wunderland! Das Leben der Alice RühleGerstel, Innsbruck: Studien Verlag 2007. Meyer, Gerd: Freiheit wovon, Freiheit wozu? Politische Psychologie und Alternativen humanistischer Politik bei Erich Fromm, Opladen: Leske und Budrich 2002. Mikota, Jana: Alice Rühle-Gerstel. Ihre kinderliterarischen Arbeiten im Kontext der Kinder- und Jugendliteratur der Weimarer Republik des Nationalsozialismus und des Exils, Frankfurt/Main: Peter Lang 2004. Ravenberg, Klaus: »Die Verhältnisse machen den Menschen, aber der Mensch macht die Verhältnisse«, in: G. Stecklina/J. Schille (Hg.), Otto Rühle (2003), S. 115-133. Rühle, Otto: El alma del niño proletario, México: Ediciones Orbe 1987. Ders.: »Die Räte«, in: Frits Kool (Hg.), Die Linke gegen die Parteiherrschaft, Olten, Freiburg i. Br.: Walter-Verlag 1970, S. 534-537. Ders.: Brief an La H. Secretaría de Relaciones Exteriores vom 27. Mai 1938, Archivo Histórico Genaro Estrada, Secretaría de Relaciones Exteriores México, México. 283

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Ders.: Das proletarische Kind. Eine Monographie, München: Albert Langen Verlag 1911. Rühle-Gerstel, Alice: Freud und Adler. Elementare Einführung in Psychoanalyse und Individualpsychologie, Dresden (FriedewaldBuchholz): Am andern Ufer 1924, Neuauflage Zürich: Kopernikus 1984. Dies.: Der Weg zum Wir. Versuch einer Verbindung von Marxismus und Individualpsychologie, München: Ernst Reinhardt 1980. 1. Aufl. Dresden (Buchholz-Friedewald): Am andern Ufer 1927. Dies.: La nueva actitud ante la vida, México: Sonderheft der El Nacional 1941. Dies.: Das Frauenproblem der Gegenwart. Eine psychologische Bilanz, Leipzig: Hirzel 1932. Dies./Rühle, Otto: Sexual-Analyse. Psychologie des Liebes- und Ehelebens, Rudolfstadt i. Th.: Greifenverlag 1929. Schille, Joachim: »Otto Rühle – der Mensch in Zeugnissen«, in: G. Stecklina/ders. (Hg.), Otto Rühle (2003), S. 37-43. Ders.,: »Die Rühle-Rezeption im pädagogischen Schrifttum der DDR«, in: G. Stecklina/J. Schille, Otto Rühle (2003), S. 209-218. Stecklina, Gerd: »Zur Person Otto Rühle«, in: ders./J. Schille (Hg.), Otto Rühle (2003), S 17-36. Ders.: Otto Rühle und die Sozialpädagogik. Ein biographischsozialwissenschaftlicher Zugang, Dresden: Technische Universität Dresden 2002. Ders.: »Zeitlebens für Souveränität«, in: Dresdner Universitätsjournal 5 (2002), S. 4. Ders./Schille, Joachim (Hg.): Otto Rühle. Leben und Werk (1874-1943), Weinheim, München: Juventa 2003.

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AU T O R I N N E N

UND

AU T O R E N

André de Melo Araújo, in Brasilien geboren, hat Kommunikationswissenschaft und Geschichte an der Universität von São Paulo studiert. Er promoviert an der Universität Witten/Herdecke mit einem DAADStipendium und ist assoziiertes Mitglied im Graduiertenkolleg des Humanismusprojekts am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen. Die Promotion zum Thema »Spuren der Menschheit in der deutschen Spätaufklärung« wird betreut von Prof. Dr. Jörn Rüsen. Er ist Gastwissenschaftler der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Seine Forschungsinteressen sind Historiographiegeschichte, Geschichtstheorie, Spätaufklärung und Universalgeschichtsschreibung. Arthur Assis ist Historiker. Er hat an der Universität Witten/Herdecke promoviert. Sein Studium hat er an der Universität Brasília bzw. an der Föderalen Universität von Goíás – beide Brasilien – absolviert. Forschungsschwerpunkte: Geschichte des historischen Denkens und Geschichtstheorie. Aslı Aymaz, Studium der Germanistik, Geschichte und Pädagogik an der Ruhr-Universität Bochum. Stipendiatin der Heinrich-Böll-Stiftung. Zurzeit Dissertation zum Thema »Die Anthropologie des jungen Wilhelm von Humboldt [Arbeitstitel]« bei PD Dr. Benedikt Jeßing. Forschungsinteressen: Literarische Anthropologie, Ästhetik und Anthropologie um 1800, Geschichts- und Bildungstheorien der Aufklärung. Katja Bendels ist Lektorin beim Suhrkamp Verlag Frankfurt und promovierte an der Universität Duisburg-Essen zum Thema »White Africans? Negotiating Identity in White South African Writing«. 285

HUMANISMUS POLYPHON

Maren Borggräfe studierte Theaterwissenschaft und Germanistik an der Freien Universität Berlin und am University College London. Studium der Erwachsenenpädagogik mit Schwerpunkt Personalentwicklung an der Humboldt-Universität zu Berlin. Nach einigen Jahren Tätigkeit in der Wirtschaft promoviert sie zurzeit über Unternehmenskultur in Witten/Herdecke und ist seit 2006 Koordinatorin des Forschungsverbunds »Theater und Fest in Europa« an der Freien Universität Berlin. Diana Brenscheidt gen. Jost studierte Musikwissenschaft, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften sowie Politikwissenschaft an der Universität zu Köln und der University of Chicago. Sie promoviert zurzeit am KWI mit einer Arbeit zum Thema Kulturaustausch in der Moderne unter dem Arbeitstitel »Uday Shankar – Dance, Art, and Aesthetics between India and the West«. Susanne Buckesfeld hat Kunstgeschichte, Germanistik und Pädagogik studiert und ist zurzeit Doktorandin bei Prof. Richard Hoppe-Sailer am Kunsthistorischen Institut und bei Frau Prof. Christel Adick, Vergleichende Erziehungswissenschaften am Institut für Pädagogik, RuhrUniversität Bochum. Sie arbeitet zudem als freiberufliche Kunstvermittlerin. Chih-hung Chen ist 1974 in Chia-yi, Taiwan geboren. Er hat Geschichte an der Staatlichen Universität Taiwan (Taipeh, Taiwan) studiert und promoviert zurzeit an der Universität Witten/Herdecke. Kira Funke ist Mitglied des Graduiertenkollegs im Humanismusprojekt des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen (KWI). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Konstruktivistische Erziehungswissenschaft, Cultural Studies, Paulo Freire und Fragen zu Migration und Zivilgesellschaft. Sie leitet im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) ein bundesweites und europäisches Projekt zum Thema bürgerschaftliches Engagement und aktive gesellschaftliche Teilhabe junger MigrantInnen. Dr. Aarón Grageda Bustamante ist seit 2007 Professor für Globale Geschichte an der Universität von Sonora, Mexiko und Mitglied des Nationalen Forschungssystems Mexikos. Zu seinen Forschungsgebieten gehören Theorie der Geschichte und Globalisierung. Er war u.a. Gastwissenschaftler am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig.

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AUTORINNEN UND AUTOREN

Shadia Husseini studierte Geographie, Arabistik und Islamwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Forschungsschwerpunkte: Orient- und Migrationsforschung, Neue Kulturgeographie, Postcolonial und Translation Studies. Dr. Olga Iljassova-Morger ist Lehrbeauftragte an der Universität Duisburg-Essen im Fachbereich Germanistik. Sie promovierte 2008 an der Universität Duisburg-Essen zum Thema »Von der interkulturellen zur transkulturellen literarischen Hermeneutik«. Lizette Jacinto, geboren in Mexiko Stadt, ist Historikerin, lebt in Köln und arbeitet als Dozentin und Koordinatorin des Programms »Mehrsprachige Kompetenz« in der Iberischen und Lateinamerikanischen Abteilung der Universität Köln. Sie war DAAD-Stipendiatin und promoviert zurzeit bei Prof. Jörn Rüsen am Kulturwissenschaftlichen Institut, Essen. Gala Rebane hat Romanistik, Kunstgeschichte und Anglistik in SanktPetersburg, Siena und Chemnitz studiert. Seit 2006 promoviert sie am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen zum Thema »Of Celts and other ancestors. The contemporary Italian historical novel as a cultural reflection of processes of collective identity building in the context of European integration and globalisation«. Zu ihren Forschungsinteressen gehören italienische Literatur der Gegenwart, Identität und populäre Medien. Nina Riedler studierte Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft, Anglistik und Philosophie an der Universität Essen, Magisterarbeit zum Thema »Faszination des Fremden. Isabelle Eberhardt und Thomas Edward Lawrence«. Studien- und Sprachaufenthalte in England, USA und der Türkei. Mitglied des Graduiertenkollegs des Humanismus-Projekts am KWI seit April 2006. Sie arbeitet an einer Dissertation mit dem Thema »Ein neues Menschenbild für Europa? Die Wiederentdeckung der Renaissance in der europäischen Literatur um 1900«. Ihre Forschungsinteressen sind literarische Anthropologie, Identität und Reiseliteratur. Felix Tirschmann ist Stipendiat im Graduiertenkolleg des Humanismus-Projekts am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen und Mitglied der Forschungsgruppe Wissenssoziologie an der Universität Konstanz. Lehraufträge u.a. an der Universität Erlangen-Nürnberg. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte sind: Kulturwissenschaftliche Thanatologie, Hermeneutische Wissenssoziologie und Visuelle Soziologie. 287

2008-05-27 12-26-20 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02a8179786122216|(S.

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