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German Pages [268] Year 2008
Hormone und Hochleistung
Klaus Latzel Lutz Niethammer (Hg.)
Hormone und Hochleistung Doping in Ost und West
§ 2008 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch die Jenapharm GmbH & Co. KG
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
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Inhalt 7
Vorwort
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Einleitung Klaus Latzel
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Einfuhrung zum Workshop „Doping in Ost und West" Lutz. Niethammer
I. Strukturen, Beteiligte, Verantwortung 37
Aus ärztlicher Sicht. Erwünschte und unerwünschte Wirkungen anabol-androgener Steroide Holger Gabriel
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Doping in der Bundesrepublik Deutschland: Historische und soziologische Aspekte abweichenden Verhaltens im Spitzensport Andreas Singler, Gerhard Treutlein
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Entstehung und Funktionsweise des DDR-Zwangsdopings: Doping in einem geschlossenen System und die Grenzen der biologischen Leistungsfähigkeit Giselher Spitzer
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Freiheitsspielräume in einem staatlichen Dopingsystem? Nikolaus Knoepfßer
97
Pharmabetriebe in der Planwirtschaft Ekkehard Schönherr
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Doping und die pharmazeutische Industrie in der DDR. Vorläufige Ergebnisse und Forschungsprobleme Klaus Latzel
Inhalt
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Doping in der Endphase der D D R und im Prozess der Wende 1989/90 Hans Joachim Teichler
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„Dopen für Deutschland" - Die Diskussion im vereinten Sport
1990-1992 Jutta Braun
II. Kulturwissenschaftliche Perspektiven 173
„Ich finde, ich hatte keine andere Wahl" - Doping und Biografie Anke Delow
193
Doping als Beziehungsproblem. Psychologische Aspekte von Sport, Schmerz und Grenzen Kirsten Kaya Roessler
205
A m Rande der Vollkommenheit. Aspekte einer Geschichte sowjetischer Körperoptimierung Nikolaus Katzer
231
Fünfzig Jahre Doping und die Pharmakologisierung des Alltagslebens John Hoberman
245
Doping und das Problem des Maßes einer „natürlichen" Eigenleistung des Menschen Volker Caysa
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Autorinnen und Autoren
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Inhalt
Vorwort Der vorliegende Band ist aus dem Workshop „Doping in Ost und West 19601990. Erkenntnisse, Probleme und Perspektiven der Forschung" hervorgegangen, der vom 30.11.-2.12.2006 im Alten Schloss Dornburg bei Jena stattfand. Eingeladen hatte das am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena angesiedelte Forschungsprojekt „.Unterstützende Mittel' - Doping im Sportsystem der DDR und die Rolle der pharmazeutischen Industrie". Die Veranstaltung wurde in Kooperation mit dem Jena Center. Geschichte des 20. Jahrhunderts organisiert. Die Konferenz und die Drucklegung dieses Bandes wurden durch die Förderung durch die Jenapharm GmbH ermöglicht, die auch Drittmittelgeberin des Forschungsprojekts war. Ihr sei ebenso gedankt wie all den hilfreich engagierten Personen, die vor oder hinter den Kulissen zum Gelingen der Veranstaltung beigetragen haben, genannt seien hier insbesondere Sabine Wolfram und Philipp Heß. Weiterhin gilt unser Dank den Sektionsleiterinnen, die angesichts der nicht immer akademisch-moderat ablaufenden Diskussionen teils über das übliche Maß hinaus beansprucht wurden: Prof. Dr. Bruno Hildenbrand, Prof. Dr. Jürgen John (beide Jena), Prof. Dr. Michael Krüger (Münster), Prof. Dr. Lorenz Peiffer (Hannover), PD Dr. Silke Satjukow, Prof. Dr. Rudi Schmidt (beide Jena), sowie allen Referentinnen. Klaus Latzel
Lutz Niethammer
Vowort
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Einleitung Mit dem Zusammenbruch der staatssozialistischen Gesellschaften und dem Ende des Kalten Krieges sind zwar „Ost" und „West" als politgeographische Orientierungsmarken verschwunden, nicht aber das Doping im Hochleistungssport - im Gegenteil. Es wäre müßig, dafür auf aktuelle Ereignisse respektive „Doping-Skandale" zu verweisen, denn wenn dieser Band erscheint, werden sie längst von neuen abgelöst sein. Möglicherweise sind der Ausstieg der Deutschen Telekom aus dem Sponsoring des Radsports 2007 und der punktuelle Verzicht von Fernsehanstalten auf die Live-Übertragung von dessen jährlichem Höhepunkt in Frankreich jedoch Anzeichen für eine neue Qualität der Dauerkrise, durch die sich der internationale Spitzensport und dessen Nutznießer - Publikum, Massenmedien, Wirtschaft und Politik - seit nunmehr Jahrzehnten lavieren. Noch ist offen, ob wir das letzte Aufbäumen vor der endgültigen Kapitulation vor dem Dopingsport oder bereits diese selbst erleben. Von einer Chance zur Umkehr mag man dagegen kaum sprechen. Es wären die eben genannten Profiteure des dopinggestützten Spitzensports, welche die von ihnen selbst im einverständigen Zusammenwirken erzeugte Dopingdynamik einzuhegen hätten. Wer sich die bis heute mustergültigen Analysen von Karl-Heinrich Bette und Uwe Schimank zu diesem Thema vor Augen führt, findet darin wenig Grund zum Optimismus.1 Als der „Osten" verschwand, wanderte das auf staatliche Anordnung in den einschlägigen Forschungsinstituten und Sporteinrichtungen der D D R generierte Doping-Know-How in Gestalt von Sportmedizinern und Trainern in den ehemaligen „Westen", um dort meist mit offenen Armen empfangen zu werden. Offensichtlich wuchs hier zusammen, was, wenn auch nicht nach den äußeren Formen, so doch nach den darin entwickelten Mentalitäten, schon lange zusammengehörte. 2 Der Ost-West-Konflikt war weder Ursache noch Anlass des Dopings. Der Imperativ der unbegrenzten Leistungssteigerung, der den modernen Spitzensport kennzeichnet und den Griff zur Spritze oder Tablette nahelegt, ist älter als der Einsatz von Anabolika. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurde mit Stimulantien wie Koffein, Strychnin oder Kola-Nüssen, auch mit Alkohol und Tabak gedopt. Zwischen den Weltkriegen, als die pharmakologische Unterstützung des Leistungswahns ihren ersten Durchbruch erlangte, griff man auch zu Phospha-
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ten und Analeptika, seit den vierziger Jahren zu Amphetaminen. Zugleich bildete sich die Konstellation heraus, die bis heute den modernen Hochleistungssport kennzeichnet: ein Ensemble von Interessengruppen im und am Spitzensport, bestehend aus Sportlern und Trainern, Vereins- und Verbandsfunktionären, Sportmedizinern und Physiotherapeuten, Massenpublikum und Massenmedien sowie Akteuren aus Politik und Wirtschaft.3 Ihre endgültige Ausprägung fand diese Konstellation in den fünfziger und sechziger Jahren. All die Akteure im engeren oder weiteren Umfeld der Athleten sind an deren höchster Leistungsfähigkeit interessiert; sie bilden das „soziale Kraftfeld"4, in dem sich diese bewegen, und sie tragen entscheidend dazu bei, die Eskalationsdynamik des Leistungssports und damit auch des Dopings zu entfesseln. Nachdem die Sowjetunion in den dreißiger Jahren ihre Pläne für eine Rote Sportinternationale wieder aufgegeben5 und in den fünfziger Jahren wie dann auch die übrigen Ostblockstaaten die Sportkonkurrenz mit dem ideologischen Rivalen aufgenommen hatte, wurden die internationalen sportlichen Großereignisse zugleich zu Schauplätzen der Systemkonkurrenz. Seit den sechziger Jahren stand das Doping in Ost wie West vor allem im Zeichen des Einsatzes anabol-androgener Steroide, also des Sexualhormons Testosteron und seiner Abkömmlinge. In den achtziger Jahren wurde das Angebot unter anderem durch Peptidhormone wie Wachstumshormon (HGH) und Erythropoietin (EPO) ergänzt.6 Auch wenn der Kalte Krieg also nicht am Ursprung des Dopings stand7, verhalf die politisch-propagandistische Indienstnahme des Spitzensports unter seinen Vorzeichen den Sportverbänden nicht nur zu erhöhten staatlichen Subventionen, sondern sie verschärfte zugleich den Druck zur Leistungssteigerung und damit auch die Tendenzen zu deren pharmakologischer Unterstützung um ein weiteres. Die verwendeten Substanzen waren hüben wie drüben die gleichen, doch wie die Organisations- und Rekrutierungsformen des Hochleistungssports unterschieden sich auch die Formen des Dopings beiderseits des „Eisernen Vorhangs".8 Die politischen, institutionellen und organisatorischen Aspekte des Dopings sind insbesondere für die DDR eingehend untersucht worden. Die infolge ihres Zusammenbruchs zur Verfugung stehenden Quellen boten trotz Vertuschungsversuchen und Aktenvernichtung Möglichkeiten der Forschung, die sich in dieser Form kaum wieder einstellen werden. Dies hat bis heute einen deutsch-deutschen Ost-West-^/kf zur Folge, der sich bereits im 1991 erschienenen Band „Doping Dokumente"9 von Brigitte Berendonk zeigte, der vornehmlich der Darstellung des Dopings in der DDR galt. Sie schöpfte in erster Linie aus der überwiegend geheimen Fachliteratur zum Einsatz von Dopingmitteln in der
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DDR, entstanden am Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport, Leipzig, sowie an verschiedenen Universitätsinstituten und Instituten der Akademie der Wissenschaften der DDR und bot Einsichten insbesondere in sportmedizinische und sportwissenschaftliche Aspekte des Dopings, vor allem auch über die Vergabe von virilisierenden Substanzen an (häufig minderjährige) Sportlerinnen. Auf weitgehend gleicher Quellenbasis beruhte Werner Frankes Beitrag zu den Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", die 1995 vom Deutschen Bundestag herausgegeben wurden.10 Die erste Monographie zum Thema „Doping in der DDR" legte 1998 Giselher Spitzer vor.11 Sie stützte sich weitgehend auf Stasi-Akten, ergänzt durch weitere Quellen, die sich meist ebenfalls in der Überlieferung des Ministeriums für Staatssicherheit fanden. Spitzer stellte hier erstmals ausfuhrlich die politische und institutionelle Entwicklung und Ausprägung des Dopingsystems als staatlich organisiertes „Zwangsdoping" dar. In einer weiteren Monographie, die sich der Rolle der Stasi im DDR-Spitzensport widmet, hat Spitzer die „Dopingverdeckung als Aufgabe des MfS" noch einmal eigens thematisiert.12 Jüngst legte er eine explorative Studie und Dokumentation über die gesundheitlichen Folgeschäden des Dopings vor, die die Stimmen von 52 Betroffenen (24 Frauen, 28 Männer) in vollständig oder in thematischen Ausschnitten wiedergegebenen Interviews versammelt.13 Durch den „extrem ungleichgewichtigen Zugang zum Quellenmaterial"14 sind entsprechende Untersuchungen zum Doping in der Bundesrepublik auf archivalischer Grundlage in näherer Zukunft nicht zu erwarten. Gleichwohl gelang es Andreas Singler und Gerhard Treutlein, auf der Grundlage von 45 Zeitzeugeninterviews, tausender von Zeitungsartikeln sowie wissenschaftlicher Literatur die Formen und Praktiken des Dopings in der Bundesrepublik vor allem am Beispiel der Leichtathletik herauszuarbeiten. Im Gegensatz zur DDR wurde hier nicht auf zentrale Anordnung, sondern in hohem Maße eigenverantwortlich gehandelt. Sportmediziner, Sportfunktionäre, Apotheker, Trainer, Athleten und Schwarzmarkthändler wirkten in konspirativen Netzwerken zusammen. Das konnte auf der Ebene konspirativer Kleingruppen, aber auch auf Vereins- und sogar auf Verbandsebene geschehen.15 Singler und Treutlein kombinierten in diesem sowie in einem weiteren Band16 historische, sozialwissenschaftliche und auch pädagogische Zugänge. Generell sind jedoch, gerade wenn man über den deutschen Tellerrand hinausblickt, zeithistorische wissenschaftliche Arbeiten zum Doping im Kalten Krieg kaum anzutreffen.17 Es handelt sich vielmehr vornehmlich um Chronologien, Materialsammlungen oder Nachschlagewerke, die bei aller Fülle an SachinforEinleitung I 11
mationen, die darin versammelt ist, doch eine Einbettung in historische Kontexte jenseits von biochemischen, (sport-)medizinischen oder pharmakologischen Entwicklungen meist vermissen lassen. 18 Dennoch scheint die Forschungslage im Hinblick auf die ehedem westlichen Staaten vergleichweise komfortabel, misst man sie an den nur punktuellen Kenntnissen, die über Organisation und Praktiken des Dopings in der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten vorliegen. 19 Nicht zuletzt wegen der Schwierigkeiten des Quellenzugangs ist mit einer Geschichte des Dopings in Ost «WWest auf der Höhe der zeithistorischen Forschung, also etwa mit einer Doping-„Beziehungsgeschichte" der wechselseitigen „Konkurrenz", „Abgrenzung" und „Verflechtung" zwischen den Blöcken, in absehbarer Zeit nicht zu rechnen. 20 Eine allein bipolare Geschichte des Dopings im Kalten Krieg wäre freilich auch allzu schematisch angelegt, denn das sportliche Konkurrenzverhältnis bestand keineswegs nur zwischen den Blöcken, sondern auch innerhalb dieser, wie etwa die Kontroverse zwischen der Sowjetunion und der in dieser Hinsicht unbotmäßigen D D R anlässlich der drohenden Einführung von Doping-Trainingskontrollen zeigte. 21 Zudem konnte die Sportkonkurrenz für politische Manifestationen genutzt werden, die sonst keinen Weg an die Öffentlichkeit gefunden hätten; die dramatischen Eishockey-Spiele zwischen der Sowjetunion und der C S S R Ende der sechziger Jahre legen dafür ein lebhaftes Zeugnis ab. 22 Auch der dem vorliegenden Band vorausgegangene Workshop „Doping in Ost und West" erhob aus den genannten Gründen nicht den Anspruch, eine die feindlichen Lager vergleichend in den Blick nehmende Zeitgeschichte des Dopings im Kalten Krieg anzustreben. Seine Konzeption ergab sich - bescheidener - aus dem Bedürfnis des Forschungsprojekts „Unterstützende Mittel", seine enge, nämlich auf die Rolle der pharmazeutischen Industrie im Dopingsystem der D D R beschränkte Fragestellung 23 in weitere Kontexte zu stellen und diese aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven beleuchten zu lassen. Diese Kontexte umfassen nicht nur räumlich mehr als die D D R und zeitlich mehr als den Kalten Krieg, sondern auch inhaltlich mehr als den Einsatz von leistungssteigernden Mitteln im Spitzensport, nämlich den gesamten Wissensraum „Endokrinologie" beziehungsweise genauer: „Sexualhormone". Dessen im 20. Jahrhundert international akkumulierte Erkenntnisse und Praktiken changierten seit j e zwischen ärztlich ausgerichteter Therapie von Krankheiten und biomedizinischer „Verbesserung" des Menschen. Die Elemente, die diesen Wissensraum ausmachten: Erkenntnisse über chemische, pharmakologische oder molekularbiologische Zusammenhänge, Ansichten über legitime oder illegitime Eingriffe in den menschlichen Körper, Vorstellungen des Wünschbaren und des
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Machbaren, diese Elemente lagen als implizit oder explizit präsente Wissensstrukturen den Wahrnehmungen und Handlungen derer voraus, die sich in diesem Raum bewegten und ihn durch ihre Arbeit ihrerseits konstituierten.24 Die Erforschung hormonell gesteuerter physiologischer Abläufe richtete sich schon Jahrzehnte bevor die Anabolika auf den Trainings- und Wettkampfstätten des Hochleistungssports heimisch wurden immer auch auf Möglichkeiten der Beeinflussung dieser Vorgänge im Sinne von „Veijüngung", Leistungssteigerung, Potenzsteigerung und körperlicher „Optimierung" jedweder Art. Der Versuch, über das Verständnis des endokrinen Systems in die Körperfunktionen einzugreifen, zielte sowohl auf therapeutische wie auf nicht-therapeutische Indikationen. Nicht-therapeutisch meint hier alle Zielsetzungen jenseits von Diagnose, Therapie, Prävention und Palliation. Diese Grenze ist nicht exakt nach naturwissenschaftlichen oder medizinischen Kriterien zu ziehen, sondern diese sind ihrerseits (in Grenzen) interpretationsoffen. Plädiert man für die „Wiederherstellung und Bewahrung der Gesundheit" als Ziel ärztlichen Handelns, dann wird der Begriff der Gesundheit und mit ihm der Begriff der Krankheit zum bioethischen oder medizinethischen Streitgegenstand. Krankheit impliziert die Pflicht zum ärztlichen Handeln, aber ob ein bestimmter Befund als Krankheit zu bewerten ist, ist ihm allein nicht abzulesen, sondern kulturell und historisch variabel.25 Es ist dieser Umstand, aus dem beispielsweise die noch andauernde Auseinandersetzung über Sinn oder Unsinn der „Anti-Aging"Medizin resultiert. Seit in den dreißiger Jahren die Synthese von Sexualhormonen gelungen war, zählten insbesondere Substitutionstherapien zu deren therapeutischen Anwendungsfeldern. Der nicht-therapeutische Einsatz von Sexualhormonen umfasste seit Ende der fünfziger Jahre in Ost wie West die hormonelle Kontrazeption, die Anwendung als Dopingmittel im Hochleistungssport und als Rationalisierungsmittel in der industriellen Tierproduktion. 26 Der Einsatz von Sexualhormonen als Dopingmittel lässt sich mit der Kategorie „Enhancement" fassen. Er teilt mit der hormonellen Kontrazeption wie mit dem Einsatz in der Tierproduktion die nicht-therapeutische Indikation, zeichnet sich aber zusätzlich dadurch aus, dass er auf eine Verbesserung der Eigenschaften und Fähigkeiten des menschlichen Körpers im Sinne der Leistungssteigerung abzielt.27 „Enhancement" ist nicht auf den Bereich des Spitzensports beschränkt. Die biotechnische Industrialisierung der Körper, die Vorstellungen von deren Optimierung und Perfektionierung, die modernen „Körperutopien" der Überschreitung natürlicher Grenzen 28 haben längst in weitere gesellschaftliche Bereiche Einzug gehalten; davon wird in einigen Beiträgen dieses Bandes die Rede sein. Zudem weist manches daraufhin, dass diese Befunde zu den generellen, Ost und
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West übergreifenden Entwicklungstendenzen moderner Industriegesellschaften zählen.29 Damit ist der Rahmen abgesteckt, in dem sich die Beiträge dieses Bandes, die aus dem Workshop „Doping in Ost und West" hervorgingen, bewegen.30 In seiner Einfuhrung, die hier zu Dokumentationszwecken wörtlich wiedergegeben wird, stellt Lutz Niethammer das Forschungsprojekt „.Unterstützende Mittel' Doping im Sportsystem der DDR und die Rolle der pharmazeutischen Industrie", das diesen Workshop ausrichtete, näher vor. Er beschreibt zunächst, wie es vor dem Hintergrund der juristischen und publizistischen Auseinandersetzungen um die Forderung des Vereins „Dopingopfer-Hilfe" nach einer finanziellen Entschädigung dopinggeschädigter ehemaliger Sportlerinnen der DDR durch die Firma Jenapharm (deren Vorgänger, der VEB Jenapharm, den größten Teil der einschlägigen Präparate hergestellt hatte) zu diesem Projekt kam. Anschließend umreißt er dessen Fragestellungen - die „Verantwortungsfrage" und die „Wahrnehmungsfrage" -, Methoden und Ziele, und er erläutert die Möglichkeiten und Grenzen historischer Forschung in derartigen Konfliktfallen auf der Grundlage seines Verständnisses von Zeitgeschichte als „einer gesellschaftlichen Dienstleistung zur Aufklärung über den Erfahrungsraum der Mitlebenden", die sich weder gegen die Interessen von Doping-Opfern richte noch die juristischen Interessen der Pharma-Firma unterstütze. In einem Postskriptum geht Niethammer kurz auf die Medienkampagne ein, die nach dem Workshop anhob, um diese Veranstaltung als einseitige Alibiveranstaltung zugunsten Jenapharms und den Projektleiter als korrumpiert zu denunzieren, und er beschreibt, wie es kurz nach der Konferenz Ende 2006, auch durch seine Vermittlung, zur Einigung Jenapharms mit dem Verein „Dopingopfer-Hilfe" über eine Entschädigungszahlung kam. Der erste Teil der nun folgenden Beiträge steht unter den Stichworten Strukturen, Beteiligte, Verantwortung. Am Beginn erläutert Holger Gabriel die Wirkungen und Nebenwirkungen anabol-androgener Steroide und ihre klinischen Einsatzgebiete. Gabriel betont, dass die schädlichen Nebenwirkungen schon seit Beginn der Hochzeit des Anabolikadopings in den sechziger Jahren in Ost wie West bekannt waren. Er konstatiert ferner, dass es sich bei der Verwendung dieser Präparate nicht um ein auf den Leistungssport beschränktes Problem handele, sondern dass die medikamentös gestützte Leistungssteigerung weite Bereiche der Gesellschaft ergriffen habe, und er unterstreicht schließlich die sportärztliche Pflicht und Verantwortung, sich allen Formen des Einsatzes der anabol-androgenen Steroide zu Dopingzwecken entgegenzustellen.
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Andreas Singler und Gerhard Treutlein nehmen die Formen und Praktiken des Dopings in der Bundesrepublik im hier interessierenden Zeitraum in den Blick. Sie beschreiben die Anfange des Anabolikamissbrauchs zunächst in den Kraftsportarten, hauptsächlich vermittelt durch Vorbilder aus den USA, beleuchten die sportmedizinische Verharmlosung von Anabolika, das Leugnen schwerer Nebenwirkungen, die Verzögerung des Anabolika-Verbots im bundesdeutschen Sport, die zunehmend abstrusen medizinischen Legitimierungsversuche des Dopings als „Substitutionstherapie" sowie die staatlichen Versäumnisse in der Dopingbekämpfung zwischen Duldung und Unterstützung des Dopings. In einem zweiten, soziologischen Zugang analysieren Singler und Treutlein sodann kommunikationsbezogene Techniken der Neutralisierung, der Verschleierung und Tabuisierung von Doping, verweisen auf die mögliche Selbstzerstörung des Spitzensports durch dopingbedingten dropout; geben Einblicke in die nicht intendierten Folgen der Redeweisen von Dopingkritikern und Dopingapologeten und unterstreichen schließlich, dass die überwiegende Mehrzahl der Sportlerinnen und Sportler defensives Doping betreibe: Doping zur Nachteilsvermeidung, „Doping wider Willen". Es folgt eine Reihe von Beiträgen, die sich unter verschiedenen Aspekten mit dem Doping in der DDR beschäftigen. Giselher Spitzer wirft auf der Grundlage seiner umfangreichen einschlägigen Forschungen Schlaglichter auf das „komplexeste Dopingsystem der Geschichte". Er beschreibt die Strukturen eines meist ohne Kenntnis der Athletinnen erfolgenden „Zwangsdopings". Dessen angestrebte Bürokratisierung und Zentralisierung wurde durch einzelne Organisationsinteressen immer wieder durchbrochen. Spitzer nennt weitere zum Doping eingesetzte Wirkstoffe, die dopinglegitimierenden Positionen der Sportmedizin (Indikation „Leistungssport"), und er verweist darauf, dass sich die Athletinnen trotz des immensen Aufwandes von Ressourcen schließlich an der biologischen Grenze der Leistungsfähigkeit bewegten. Er erläutert die physischen und psychischen Schädigungen ehemaliger Leistungssportlerinnen durch Doping, die Mechanismen der Geheimhaltung, und er verweist auf eine „dominierende Rolle" der Staatssicherheit im Dopingsystem. Spitzer betont die Bedeutung des VEB Jenapharm für die Erforschung und Produktion von als Medikament zugelassenen wie nicht zugelassenen Dopingmitteln, die dem Dopingsystem der DDR gegenüber dessen Konkurrenten einen „Vorlauf von 15 bis 20 Jahren" ermöglicht habe, er weist auf die Zusammenarbeit leitender Wissenschaftler des Betriebes mit der Stasi hin und aktualisiert die Frage nach der Verantwortung Jenapharms im Hinblick auf eine Positionierung der deutschen Pharmaindustrie angesichts jüngster Dopingfalle.
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Auf andere Weise reflektiert Nikolaus Knoepjfler die Frage nach der Verantwortung. Er fragt nach den Handlungs- beziehungsweise „Freiheitsspielräumen im Dopingsystem des totalitären DDR-Regimes", nach der ethischen Bewertung des Verhaltens in diesem System und nach möglichen Folgerungen fur heute. Zur Beantwortung bindet er seine Argumentation an das berühmte Milgram-Experiment zurück und gelangt dadurch zu einer differenzierten Abstufung von Freiheits- und damit Verantwortungsspielräumen im Hinblick auf die Beteiligten. Keinerlei Spielräume besaßen danach diejenigen Sportlerinnen, die ohne ihr Wissen gedopt wurden, anders dagegen sah es bei denjenigen aus, die Bescheid wussten. Noch stärker in der Verantwortung standen die Trainer, die ihre Fürsorgepflicht, und die Sportmediziner, die den hippokratischen Eid verletzten. Diejenigen Wissenschaftler Jenapharms, die über die Dopingverwendung ihrer Produkte informiert waren, könnten möglicherweise als vom eigentlichen Ort des Geschehens entfernte „Schreibtischtäter" angesehen werden, die ihre Karriere nicht gefährden wollten. Hier wie im Falle der Politiker, die den Erfolg des Sozialismus über die Gesundheit stellten, sei eine ethische Bewertung jedoch besonders schwer vorzunehmen. Generell ergibt sich so eine Differenzierung der sterilen Opfer-Täter-Dichotomie. Für die Gegenwart und Zukunft komme alles darauf an, die „Anreizsituation", die Rahmenbedingungen, die das Doping nahelegen, durch konsequente Gesetzgebung und den Verzicht auf die Fernsehübertragung dopingdurchsetzter Sportarten zu verändern. Die beiden folgenden Beiträge stammen aus dem Projekt „Unterstützende Mittel". Ekkehard Schönherr ruft einige in der öffentlichen Debatte um die Rolle des VEB Jenapharm im Dopingsystem der D D R gern vergessene Grundlagen zum Verständnis der pharmazeutischen Industrie der D D R und des staatssozialistischen Wirtschaftssystems in Erinnerung. Er beschreibt zunächst die Einbindung der Volkseigenen Betriebe in die Organisation der zentral gelenkten Planwirtschaft und erläutert die Verteilung der Entscheidungskompetenzen, die Bedeutung des für die dopingbezogenen Aufgaben der pharmazeutischen Industrie einschlägigen Staatsplans Wissenschaft und Technik und der darin prioritären Staatsplanthemen. Anschließend gibt er einen Uberblick über die Entwicklung der pharmazeutischen Industrie in der DDR, um sodann die im Zusammenhang des Dopingsystems wichtigen Betriebe V E B Jenapharm und VEB Arzneimittelwerk Dresden, deren Bereiche Forschung und Entwicklung und Produktlinien vorzustellen, ergänzt um das mit Jenapharm eng kooperierende Zentralinstitut für Mikrobiologie und experimentelle Therapie (ZIMET). Schönherr bilanziert, dass die einzelnen Betriebe kaum Einfluss auf die wesentlichen Planpositionen, schon gar nicht auf die geheimen Staatsplanthemen, dagegen aber ein starkes ökonomisches Interesse an der Planerfüllung und an
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den dafür nötigen materiell-technischen Voraussetzungen hatten, die sich wiederum über Staatsplanthemen leichter erlangen ließen. Die ökonomische Bedeutung des Doping-Staatsplanthemas selbst sei dagegen äußerst gering gewesen, ohne dass mit diesem Befund eine moralische Bewertung einher gehe. Anschließend wird auch der Workshop-Vortrag von Klaus Latzel zu Dokumentationszwecken unverändert wiedergegeben.31 Es geht darin um die Vorstellung vorläufiger Ergebnisse des Projekts „Unterstützende Mittel". Im ersten Teil fasst Latzel die Stellung des VEB Jenapharm im Dopingsystem der DDR sowie seine Aufgaben bei der Erforschung, Entwicklung und Produktion von Dopingmitteln im Staatsplanthema 14.25 zusammen. Es folgen Hinweise auf die Mengen der hergestellten und an das Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport in Leipzig gelieferten, teils nicht als Medikamente zugelassenen Präparate, auf die Finanzierung der Arbeiten im Staatsplanthema, auf die eingesetzten personellen und materiellen Ressourcen sowie auf die Probleme ihrer Ermittlung. Im Hinblick auf die Verantwortung Jenapharms verweist Latzel auf die Komplexität des Dopingsystems und spricht von einer „Diffusion der Verantwortlichkeit", insofern die Arbeitsteiligkeit zwischen politischen, wissenschaftlichen, medizinischen, sportlichen und industriellen Akteuren „die Verantwortlichkeit im Kollektiven beließ", während die persönliche Verantwortung im Einzelfalle kaum auszumachen sei. Die Staatsicherheit habe für die Aufgaben im Staatsplanthema bei Jenapharm nur eine geringe Rolle gespielt. Unter dem Stichwort „Selbstmobilisierung" folgen Beispiele für konzeptionelle Zuarbeiten eines leitenden Wissenschaftlers für das sowie materielle Eigeninteressen des Betriebes am Dopingsystem. In einem zweiten Teil umreißt Latzel knapp kulturelle Kontexte der Hormonproduktion, Vorstellungen von Vermännlichung, Verweiblichung und Verjüngung im 20. Jahrhundert, deren utopischer Überschuss sich auf die Steuerung von Lebensprozessen richtete. Die innere Verwandtschaft der in der praktischen Umsetzung dieser Vorstellungen sowohl in der Rationalisierung der Tierproduktion wie im Zugriff des Dopingsystems auf die Körper der Sportlerinnen greifbaren, hypertrophen Hoffnungen auf Machbarkeit, Planbarkeit und Perfektionierung sei offensichtlich. Das Dopingsystem in der Endphase der DDR und im Prozess der Wende 1989/90 schildert Harn Joachim Teichler. Er beobachtet verschiedene „Frontlinien", an denen Institutionen wie der Deutsche Turn- und Sportbund und der Sportmedizinische Dienst angesichts erster Doping-Enthüllungen ihre Rückzugsgefechte führten, schildert Strategien der Desinformation und Geheimhaltung, verweist auf die Reduzierung des Dopingprogramms und auf den Konflikt der DDR mit der Sowjetunion über die Einführung von Trainingskontrollen. Das
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„Schweigekartell", so Teichler, funktionierte solange, wie die Regierung Modrow im Amt war, erst anschließend brach eine Flut von Veröffentlichungen und Zeugenaussagen über das sich vereinigende Deutschland herein. In ihrer Untersuchung der Doping-Diskussionen im nunmehr vereinten Sport 1990-1992 konstatiert Jutta Braun eine gegenläufige Entwicklung: Zunächst wurden nicht nur die Abgründe der Dopingpolitik des SED-Regimes aufgedeckt, sondern ein gleichermaßen kritischer Blick richtete sich auch auf die alte Bundesrepublik. Bald jedoch trugen sowohl die Ost-West-Asymmetrie der Doping-Aufarbeitung als auch eine ostdeutsche Neigung, sich als Opfer westdeutscher Kampagnen wahrzunehmen, dazu bei, dass das Dopingproblem die Nation erneut entzweite. Braun kann jedoch an der Frage der Weiterbeschäftigung dopingbelasteter Trainer, Sportfunktionäre und -mediziner die „Komplexität von Interessenlagen und Nutzenverschränkungen" zeigen, die die Konfliktlinien nicht nur einfach zwischen Ost und West verlaufen ließen. Während eine grundsätzliche Kritik am bundesdeutschen Sportsystem unterblieb, rangierte in den Augen der Sportfunktionäre die Sicherung gesamtdeutscher internationaler Konkurrenzfähigkeit durch den Zugriff auf auch zweifelhafte ostdeutsche personelle Ressourcen und Kompetenzen vor der von manchen Sportlerinnen angemahnten „Selbstreinigung"; vor dem „politischen Aufklärungswillen" stand allemal der Wille zum Sieg. Der zweite Teil der Beiträge steht unter der Überschrift Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Der Fokus der Untersuchungen wird nunmehr international erweitert, und die Perspektiven, die hier eingenommen werden, richten sich in unterschiedlichen Zugriffen auf kollektiv konstruierte, öffentlich verhandelte oder individuell-biographisch realisierte Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmuster, auf individuelle oder kollektive Orientierungen, Hoffnungen und Utopien, die sich teils auf die pharmakologisch unterstützte Leistungssteigerung und Körperoptimierung im Spitzensport, teils in der modernen Gesellschaft insgesamt beziehen. Anke Delow fragt nach den Spielräumen von Spitzensportlern, ihren Beruf regelkonform, also dopingfrei auszuüben. Sie nähert sich der Antwort auf der Grundlage von Interviews mit ehemaligen Leistungssportlern aus der DDR, deren Aussagen aber durchaus verallgemeinerbar seien. Auf dem Wege einer Typologie der Sozialisation im Spitzensport unter den Bedingungen des Konkurrenzmodus und der Tendenz zur „Totalinklusion" untersucht Delow das Spannungsverhältnis zwischen Autonomie und Heteronomie von Athletinnen im Umgang mit Doping, differenziert nach drei Typen biographischer Identität und damit verbundenen Wahrnehmungsmustern der Bedeutung des Sports im
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eigenen Leben: Spitzensport als „Lebensperspektive", als „Lebensabschnitt", als „Subsinnwelt". Während erstere sich dem Code von Sieg und Niederlage bedingungslos verschrieben hätten und dementsprechend zur Verdrängung oder Rechtfertigung des Dopings neigten, eröffneten sich letzteren erheblich größere Möglichkeiten zu dessen Ablehnung. Gleiche Unterschiede zeigten sich für die retrospektive Wahrnehmung eigener Dopingpraktiken, wobei allerdings insbesondere die Konfrontation mit den physischen oder psychischen Spätfolgen des Dopings einen Wandel in der Wahrnehmung bewirken könne. Gleichwohl lautet das skeptische Fazit, dass die subjektiv realisierbaren Spielräume zur Ablehnung von Doping für viele Spitzensportler gering bis nicht vorhanden seien. Kirsten Kaya Roessler nähert sich Dopingerfahrungen aus einer sozialphänomenologisch informierten psychologischen Perspektive und benutzt den Schmerz als Sonde, um etwas über die damit verbundene psychologische Bedeutung des Dopings herauszufinden. Anhand von Interviews betrachtet sie (schmerzhafte) Störungen in der Beziehung zum eigenen Selbst und zum eigenen Körper sowie in den Beziehungen zu den Anderen. Im Verhältnis des Sportlers zu seinem Körper unterscheidet sie zwischen („gutem") Trainingsund Wettkampfschmerz und („schlechtem") Verletzungsschmerz, in dem der Körper zum Feind wird. Doping dient nicht nur dazu, den überlasteten, schmerzenden Körper schneller wiederherzustellen, sondern es erlaubt gleichzeitig die Erweiterung der Körpergrenzen und der Grenzen des Selbst, es steigert die Möglichkeiten der Sinnfindung, die im Sport gesucht werden, bis hin zur lustvollen Grenzüberschreitung im Leistungsrausch, im Gefühl, unüberwindbar zu sein. Im Hinblick auf die Anderen beschreibt Roessler an verschiedenen Beispielen Doping als Ausdruck einer Beziehung zu den Mitsportlern, zu einem (und sei es kriminellen) Netzwerk oder zur Gesellschaft insgesamt. Insbesondere in Gruppen, zu deren Kohäsionskräften die Vergemeinschaftung über Dopingpraktiken zählt, besteht im Falle der individuellen Ablehnung dieser Praktiken das Risiko der (wiederum schmerzhaften) Dissonanz, die diese Ablehnung nicht eben leichter macht. Nikolaus Katzer verlagert anschließend den Blick von Individuen und Gruppen auf die politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Kontexte „der Leistungsoptimierung und der Vorstellungen körperlicher Perfektibilität" in der Sowjetunion, die er unter ausgewählten Aspekten betrachtet. Er rekurriert auf die russisch-sowjetischen Körperutopien seit Beginn des 20. Jahrhunderts, die Idealtypen des Neuen Menschen zwischen Biomechanik, Hormonbehandlung und Voluntarismus im Hinblick auf Veijüngung und Leistungssteigerung und die Uberwindung natürlicher Grenzen entwarfen, die sodann in
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staatlichen Großprogrammen in die Lebenspraxis umgesetzt werden sollten, zu der auch der Sport zählte. Katzer beschreibt die (von der psychologischen Kriegführung geprägte) Sportberichterstattung westlicher Medien über sowjetische „Monster", in denen der „.Übermensch' der utopischen Konzepte der Zwischenkriegszeit ... zum Steroiden Hybrid" mutierte. Die Anwendung leistungssteigernder Mittel fand ihren Weg von der Militärmedizin in den zivilen Sport, so wie der sowjetische Sport selbst aus dem Militärischen entstand. Katzer betont, dass hier jedoch noch erheblicher Forschungsbedarf bestehe, ebenso zur Frage, wie das Doping in der Sowjetunion politisch-institutionell organisiert war, und er diskutiert ausfuhrlich die Plausibilität der Bezeichnung „Staatsdoping" für den Fall der Sowjetunion. Zumindest habe die Politik Rahmenbedingungen und Zwänge geschaffen, um Körperoptimierung planmäßig herzustellen; die Sportmedizin wurde zum Großforschungsbereich. Uber konkrete Dopingfalle und Praktiken wisse man noch vergleichsweise wenig. Schließlich konstatiert Katzer, dass die hochfliegenden sowjetischen „Bioutopien" im Verlaufe des Jahrhunderts im Alltag der internationalen Sportwettkämpfe auf Normalmaß schrumpften, da sich trotz Dopings die körperlichen Leistungsgrenzen nicht nach Belieben verschieben ließen. John Hoherman führt im folgenden Beitrag über „Fünfzig Jahre Doping und die Pharmakologisierung des Alltagslebens" in die Gegenwart der Vereinigten Staaten. Er macht an einer Fülle von Beispielen aus den unterschiedlichsten Bereichen deutlich, in welchem Maße leistungssteigernde Mittel mittlerweile in die Gesellschaft diffundiert sind, und er fragt nach den Erkenntnissen, die eine Analyse der Pharmakologisierung des Sports über die Gesellschaft liefern kann, und vice versa. Für Hoberman verkörpert sich in der Dopingkultur des Hochleistungssports der biomedizinische Ehrgeiz der modernen Naturwissenschaften; der olympische Sport veranstalte ein „gigantisches Experiment" zur Ausweitung der Grenzen menschlicher Leistungsfähigkeit. Der Hochleistungssportler werde zum medizinischen Vorbild, zum Pionier, zur gesellschaftlichen Avantgarde, und der Sportmediziner, der verbotene Dopingmittel verschreibt, zum entrepreneur, zum profitorientierten Unternehmer sowie zum Prototyp des Mediziners, der Hormonersatztherapien für die Normalpatienten anbietet. Prozac als Psycho-Energizer, Laseraugenchirurgie bei Golfprofis und Baseballspielern, Anabolika zur Steigerung von Körperkraft, Aggressivität und Selbstbewusstsein bei Polizei, Militär und im Bodybuilding, Ritalin bei Studenten, Testosteron zur Behandlung sexueller Funktionsstörungen bei Frauen und Viagra bei beiden Geschlechtern, Anti-Aging-Therapien mit Sexualhormonen: die medizinischen Ansprüche von Normalbürgern unterschieden sich kaum von denen im Spitzensport, beide verbunden durch das Kriterium des Erfolgs. The-
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rapeutische und leistungssteigernde Ziele konvergieren, und Hoberman sieht keine kulturellen Muster oder Normen, die dieser Entwicklung wirksam Einhalt gebieten könnten. Auch Volker Caysa nennt in seinem abschließenden Beitrag das Doping in der Moderne ein „gigantisches biologisches Experiment" zur Verwirklichung der Utopie, die Grenze der „natürlichen", der „echten" Eigenleistung ins Unendliche zu überschreiten. Auch er betont, dass Doping mit seiner Tendenz zur Perfektionierung und Effektivierung des Körpers nicht nur ein Problem des Spitzensports, sondern der gesamten Gesellschaft sei, und er verweist auf eine normative „Ästhetik der Machbarkeit" sowie auf technologische Mittel der Körperstilisierung, die in den Alltag vorgedrungen seien. Der Gebrauch biotechnologischer Mittel zur Leistungssteigerung in der Gesellschaft sei nichts anderes als die „Demokratisierung" des Dopings im Spitzensport, die sich mit Hilfe des Enhancements (durch Viagra, Prozac, Ritalin) vollziehe. Caysa versteht die Dopingkrise des Sports als Anzeichen einer „möglichen bioethischen Krise", die mit der Verunsicherung darüber verbunden sei, was angesichts der Körperindustrialisierung noch als „natürliche Eigenleistung" des Menschen gelten könne. Die mit der Rationalisierung, Effektivierung und Standardisierung des Körperkapitals einhergehende Verunsicherung durch die scheinbare Machbarkeit von allem und jedem berge jedoch auch die Chance einer Erneuerung des Verhältnisses zum Körper, aus dem sich auch Möglichkeiten ergäben, Grenzen fur dessen Veränderung zu bestimmen. Caysa entwirft dafür eine kulturalistische Auffassung von Natur und damit einhergehender „Rechte des Körpers", die im Sinne der Idee eines common body zugleich als kulturrelativ und historisch wie als normativ und anthropologisch-universell aufgefasst werden. Diese Position versteht sich als „Statthalter der Autonomie des Individuums" gegenüber „Körperkonservativen" wie „Körperfuturisten". Verfehlten erstere das „Wesen sportiver Eigenleistung", indem sie diese allein aus angeborenen Fähigkeiten des Körpers entstehen sehen wollen, so letztere, indem sie, wie es in der DDR der Fall war, die Körper tendenziell den Imperativen des biotechnologisch Machbaren unterordnen. Unabhängig von den unterschiedlichen disziplinaren Zugriffen auf das Thema Doping verweisen die einzelnen Beiträge und auch die Diskussionen des Workshops auf Problemfelder, von denen die mir am forschungsträchtigsten erscheinenden abschließend noch einmal hervorgehoben seien: Zum einen die Bedeutung des Dopings im Spitzensport als Pionier- oder Avantgardepraxis für generelle Entwicklungstendenzen der modernen Erfolgs-, Leistungs- und Perfektionierungsgesellschaften sowie die damit eng verknüpfte Frage nach dem Wandel im Verhältnis zum Körper und seinen Grenzen, nach den normativen Gren-
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zen seiner Instrumentalisierung und nach der Verschiebung dieser Grenzen. Generell befindet sich die historische Forschung dazu, wie Nikolaus Katzer hervorhebt, erst am Anfang, und angesichts der augenfälligen Rolle von Sexualhormonen im inner- wie außersportlichen Enhancement ist hier zudem das Defizit an geschlechtergeschichtlichen Perspektiven - auch unser Workshop kann sich davon nicht ausnehmen - umso erstaunlicher. Zum anderen zeigt sich im Hinblick auf die Frage nach der Verantwortung für die konkreten Dopingpraxen in Ost und West die Notwendigkeit der Ausdifferenzierung der polaren Kategorien „Täter" und „Opfer". Die Diskussion über Verantwortungsfragen während des Workshops litt zudem erheblich unter einem weiteren kategorialen Defizit, das auch die öffentliche Diskussion immer wieder kennzeichnet: Der wie selbstverständlich vorausgesetzte Begriff von Verantwortung ist zwar moralisch aufgeladen, inhaltlich aber meist unterbestimmt. Solange die angesichts des Standes der wissenschafts- und technikethischen Diskussion32 unabdingbaren, grundlegenden Mindestunterscheidungen zwischen personeller und korporativer Verantwortung nicht zur analytischen Erschließung verwendet, sondern gegeneinander ausgespielt werden, solange werden hier Einsichten jenseits von Skandalisierung oder Apologie auf sich warten lassen.
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Karl-Heinrich Bette/Uwe Schimank, Doping im Hochleistungssport, Frankfürt/M. 1995, 2., erw. Aufl. 2006. John Hoberman, The Reunification of German Sports Medicine, 1989-1992, in: Quest 45 (1993), S. 277-285; siehe auch den Beitrag von Jutta Braun in diesem Band. Ausfuhrlich dazu Bette/Schimank, Doping, S. 62-116. Ebenda, S. 118. Andre Gounot, Die Rote Sportintemationale 1921-1937. Kommunistische Massenpolitik im europäischen Arbeitersport, Münster 2002. Das Folgende nach John Hoberman, Sterbliche Maschinen. Doping und die Unmenschlichkeit des Hochleistungssports, Aachen 1994, S. 157ff; Wilhelm Schänzer, Die medizinische Revolution. Über die Effizienz von Dopingkontrollen und die Nebenwirkungen verbotener Substanzen, in: Michael Gamper u.a. (Hg.), Doping. Spitzensport als gesellschaftliches Problem, Zürich 2000, S. 191-218. So auch Andreas Singler/Gerhard Treutlein, Doping im Spitzensport. Sportwissenschaftliche Analysen zur nationalen und internationalen Leistungsentwicklung, 3. Überarb. Aufl. Aachen 2006, S. 311£ Vgl. dazu jetzt Rob Beamish/Ian Ritchie, Totalitarian regimes and Cold War sport: steroid .Übermenschen' and .ball-bearing females', in: Stephen Wagg/David Andrews (Hg.), East Plays West. Sport in the Cold War, London 2006, S. 11-26; Paul Dimeo, Good versus evil? Drugs, sport and the Cold War, in: ebenda, S. 149-162.
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Brigitte Berendonk, Doping Dokumente. Von der Forschung zum Betrug, Berlin u.a. 1991. Der Band erschien 1992 in aktualisierter und erweiterter Form auch als Taschenbuch: Brigitte Berendonk, Doping. Von der Forschung zum Betrug, Reinbek bei Hamburg 1992. Werner W. Franke, Funktion und Instrumentalisierung des Sports in der DDR: Pharmakologische Manipulationen (Doping) und die Rolle der Wissenschaft, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", Bd. m/2, hg. v. Deutschen Bundestag, Baden-Baden 1995, S. 904-1143.1997 folgten in Koautorenschaft von Berendonk und Franke noch zwei kürzere Zusammenfassungen ihrer Arbeiten: Hormonal doping and androgenization of athletes: a secret program of the German Democratic Republic government, in: Clinical Chemistry 43 (1997), 7, S. 1262-1279; dies., Hormondoping als Regierungsprogramm. Mit Virilisierung von Mädchen und Frauen zum Erfolg, in: Grit Hartmann, Goldkinder. Die DDR im Spiegel ihres Spitzensports, Leipzig 1998, S. 166-187. Demgegenüber nichts Neues brachte Steven Ungerleider, Faust"s Gold. Inside the East German doping machine, New York 2001. Giselher Spitzer, Doping in der DDR. Ein historischer Überblick zu einer konspirativen Praxis, Köln 1998 (4. Aufl. 2004). Spitzer flankierte diese Veröffentlichung mit einer ganzen Reihe von Aufsätzen zu Teilaspekten des Dopings in der DDR, genannt seien etwa: Giselher Spitzer, Doping in der DDR als nachhaltiges Modell, in: H. Digel/H.-H. Dickhuth (Hg.), Doping im Sport. Ringvorlesung der Universität Tübingen. Tübingen 2002, S. 166191; ders., Doping in der DDR. Lehren aus der Analyse eines devianten Systems, in: W. Hartmann/C. Müller-Platz (Red.): Sportwissenschaftler und Sportwissenschaftlerinnen gegen Doping, Köln 2002, S. 37-48; ders., Doping in the former G D R in: C. Peters u.a. (Hg.), Biomedical Side Effects of Doping. Project of the European Union, Köln 2001, S. 115-125; ders., Doping with Children, in: ebenda, S. 127-139. Giselher Spitzer, Sicherungsvorgang Sport. Das Ministerium für Staatssicherheit und der DDR-Spitzensport, Schorndorf2005, S. 137-190. Bereits 1994 hatte der „Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR" die Dokumentation „MfS und Leistungssport. Ein Recherchebericht", Berlin (Reihe A: Dokumente 1/1994) vorgelegt, deren Dokumentenanhang im zweiten Teil dem Thema Doping galt. Giselher Spitzer, „Wunden und Verwundungen": Sportler als Opfer des DDR-Dopingsystems. Eine Dokumentation, Köln 2007. Eine Zusammenfassung wichtiger Ergebnisse der Studiefindetsich in Spitzers Beitrag in diesem Band. Als weitere Beiträge zum Doping in der DDR sollen zumindest noch erwähnt werden: Hans Joachim Teichler, Das Schweigekartell. Die Dopingdiskussion im Prozeß der Wende, in: ders./Klaus Reinartz (Hg.), Das Leistungssportsystem der DDR in den 80erJahren und im Prozeß der Wende, Schorndorf 1999, S. 557-578; bemerkenswert schludrig in den historischen Abschnitten Karl-Josef Ulmen, Pharmakologische Manipulation (Doping) im Leistungssport der DDR. Eine juristische Untersuchung, Frankfurt/M. 2000; mit deutlich apologetischen Tendenzen die unveröffentlichte und hierzulande nicht rezipierte US-amerikanische Dissertation von Barbara Carol Cole, The East German Sports System: Image and Reality, Texas Tech University 2000, insbesondere S. 202-317. Eine Mischung aus journalistischen und wissenschaftlichen Beiträgen zum Doping in der DDR bieten Grit Hartmann, Goldkinder, und Hans-Joachim Seppelt/Holger Schück (Hg.), Anklage: Kinderdoping. Das Erbe des DDR-Sports, Berlin 1999. Eine so reflektierte gesellschaftstheoretische Konzeption des Dopings, wie sie Bette und Schimank mit ihrem Band „Doping im Hochleistungssport" auf systemtheoretischer Grundlage vorlegten, ist für die staatssozialistischen
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Gesellschaften trotz erster Überlegungen von Jürgen Baur/Giselher Spitzer/Stephan Telschow, Der DDR-Sport als gesellschaftliches Teilsystem, in: Sportwissenschaft 27 (1997), 4, S. 369-390, nirgends in Sicht. Uta Andrea Baibier, Kalter Krieg auf der Aschenbahn: Der deutsch-deutsche Sport 19501972, Paderborn u.a. 2007, S. 20. Singler/Treutlein, Doping im Spitzensport, insbes. S. 177-314. Andreas Singler/Gerhard Treutlein, Doping - von der Analyse zur Prävention. Vorbeugung gegen abweichendes Verhalten in soziologischem und pädagogischem Zugang, Aachen 2001. Im weiteren Sinne sozialwissenschaftliche Untersuchungen liegen dagegen in größerer Zahl vor; vgl. die Angaben in Jürgen Schiffer, Beiträge zu historischen, philosophischen und sozialwissenschaftlichen Aspekten des Dopings. Eine kommentierte Bibliographie, Köln 2001, 5. 116-163; femer etwa: Barrie Houlihan, Dying to Win: Doping in Sport and the Development of Anti-Doping Policy, Straßburg 1999; Ivan Waddington, Sport, Health and Drugs. A Critical Sociological Perspective, London 2000; Ruud Stokvis, Moral Entrepreneurship and Doping Cultures in Sport, ASSR Working paper 03/04, November 2003; Patrick Laure, Dopage et societe, Paris 2000; ders., Histoire du dopage et des conduites dopantes: Les alchimistes de la performance, Paris 2004. Genannt seien hier etwa Jan Todd/Terry Todd, Significant events in the history of drug testing and the Olympic movement 1960-1999, in: Wayne Wilson/Edward Derse (Hg.), Doping in elite sport.The politics of drugs in the Olympic movement, Champaign/Ill. 2001, S. 65-128; Terry Todd, Anabolic Steroids: The Gremlins of Sport, in: Journal of Sport History 14 (1987), S. 87-107; ders., A History of the Use of Anabolic Steroids in Sport, in: Jack W. Berryman/RobertaJ. Park (Hg.), Sport and Exercice Science: Essays in the History of Sports Medicine, Champaign/Ill. 1992, S. 319-350; Jean-Pierre de Mondenard, Drogues et dopages. Sport et sante, Paris 1987; ders., Dopage aus Jeux Olympiques. La triche recompense, Paris 1996; ders., Dictionnaire du dopage: Substances, precedes, conduites, dangers, 2. Aufl. Paris 2004. Jim Riordan, Rewriting Soviet Sports History, in:Journal of Sport History 20 (1993), Nr. 3, S. 247-258; Bruce Kidd/Robert Edelman/Susan Brownell, Comparative Analysis of Doping Scandals: Canada, Russia, and China, in: Wilson/Derse (Hg.), Doping, S. 153-188; Ivan Waddington, The Development of Sports Medicine, in: Sociology of Sport Journal 13 (1996), S. 176-196; siehe auch den Beitrag von Nikolaus Katzer in diesem Band. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete am 16.8.2006 über einen Artikel der Prager Zeitung JVDada fronta Dnes", wonach nunmehr freigegebene „Geheimdokumente" auf ein angeblich mit der DDR vergleichbares „Staats-Doping in der Ö3SR" hinwiesen. So die Kategorien, die Uta Andrea Baibier im Anschluß an Überlegungen Christoph Kleßmanns ihrer Untersuchung „Kalter Krieg auf der Aschenbahn" zugrunde gelegt hat (Baibier, Kalter Krieg, S. 14-17). Vgl. fur das deutsch-deutsche Verhältnis auch Jutta Braun/Hans Joachim Teichler (Hg.), Sportstadt Berlin im Kalten Krieg. Prestigekämpfe und Systemwettstreit, Berlin 2006. Hans Joachim Teichler, Die Doping-Kontroverse zwischen der Sowjetunion und der DDR 1988, in: Hans-Joachim Seppelt /Holger Schück (Hg.), Anklage: Kinderdoping. Das Erbe des DDR-Sports, Berlin 1999, S. 299-306; siehe auch den Beitag von Teichler in diesem Band. Jörg Ganzenmüller, Bruderzwist im Kalten Krieg. Sowjetisch-tschechoslowakische Länderspiele im Umfeld des „Prager Frühlings" in: Arie Malz/Stefan Rohdewald/Stefan Wieder-
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kehr (Hg.), Sport zwischen Ost und West. Beiträge zur Sportgeschichte Osteuropas im 19. und 20. Jahrhundert, Osnabrück 2007, S. 113-130. Vgl. ausführlich zu diesem Projekt die Einfuhrung von Lutz Niethammer. Vgl. für dies und das Folgende John Hoberman, Testosterone Dreams. Rejuvenation, Aphrodisia, Doping, Berkeley/Los Angeles 2005; Nelly Oudshoorn, Beyond the Natural Body. An Archeology of Sex Hormones, London/New York 1994; Heiko Stoff, Ewige Jugend. Konzepte der Verjüngung vom späten 19. Jahrhundert bis ins Dritte Reich, Köln u.a. 2004; Victor Cornelius Medvei, The History of Clinical Endocrinology. A Comprehensive Account of Endocrinology from Earliest Times to the Present Day, 2., revised and updated edition, Carnforth, Lanes, u.a. 1993. Michael Fuchs u.a., Enhancement. Die ethische Diskussion über biomedizinische Verbesserungen des Menschen, Bonn 2002, S. 15-20; Dirk Lanzerath, Krankheit und ärztliches Handeln. Zur Funktion des Krankheitsbegriffes in der medizinischen Ethik, München 2000, S. 255-267; für weiter ausgreifende medizin- und kulturhistorische Problematisierungen vgl. Cornelius Borck (Hg.), Anatomien medizinischen Wissens. Medizin Macht Moleküle, Frankfiirt/M. 1996. Hoberman, Testosterone Dreams; ders., Sterbliche Maschinen; Oudshoorn, Beyond the Natural Body; L.E. McDonald, Veterinary Endocrinology and Reproduction, 4. Aufl. Philadelphia/London 1989. Fuchs u.a., Enhancement; siehe auch den Beitrag von Volker Caysa in diesem Band. Zu deren Problematik vgl. Robert Gugutzer, Die Fiktion des Natürlichen. Sportdoping in der reflexiven Moderne, in: Soziale Welt 52 (2001), S. 219-238, sowie den Beitrag von Volker Caysa in diesem Band. Volker Caysa, Körperutopien. Eine philosophische Anthropologie des Sports, Frankfurt/New York 2003; Nikolaus Katzer, „Neue Menschen" in Bewegung. Zum Verhältnis von Sport und Moderne in Russland im 20. Jahrhundert, in: Malz/Rohdewald/Wiederkehr (Hg.), Sport zwischen Ost und West S. 349-369. Es fehlen hier die beim Workshop gehaltenen Vortrage von Werner Franke (Heidelberg) mit dem Titel „Doping Ost wie Doping West - zu Beitrag und Schuld von Wissenschaftlern und Ärzten" (Franke ignorierte leider die mehrfachen Anfragen bezüglich einer Veröffentlichung) sowie von Stefan Wiederkehr (Warschau) mit dem Titel „Wer ist .olympisch gesehen eine Frau? Geschlechtertests und Dopingbekämpfung als Themen der westlichen Sportpresse zur Zeit des Kalten Krieges". Der Endbericht des Projekts wird 2008 veröffentlicht (siehe auch die Hinweise im Beitrag Latzel, Anm. 1). Vgl. dazu etwa Kurt Bayertz (Hg.), Verantwortung. Prinzip oder Problem? Darmstadt 1995; Kurt Lenk, Konkrete Humanität. Vorlesungen über Verantwortung und Menschlichkeit, Frankfurt/M. 1998. Ausführlich wird dieses Problem im Abschlussbericht des Projekts „Unterstützende Mittel" diskutiert.
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Einführung zum Workshop „Doping in Ost und West" Wir sind mitten in einem verhältnismäßig kleinen Forschungsprojekt mit dem Titel „uM" (dies steht für „unterstützende Mittel", wie die leitende Arbeitsgruppe der an der Produktion von Doping-Substanzen in der DDR Beteiligten hieß). Es soll die Rolle der Pharmazeutischen Industrie beim Doping im Rahmen der staatlichen Förderung und Verwaltung des Hochleistungssports in der DDR klären. Diese speziellere politik- und wirtschaftsgeschichtliche Fragestellung, die wir mit der Kompetenz der allgemeinen Zeitgeschichte angehen und um die Frage der seinerzeitigen Wahrnehmung des Dopings erweitern wollen, ist also nur ein kleiner, aber nicht unwichtiger Ausschnitt aus der Doping-Problematik in der Geschichte der DDR und über sie hinaus. Deshalb müssen wir unsere Forschung auf den interdisziplinären Fragenkreis zu dieser Problematik in Ost und West beziehen, zu dem ja bereits Beiträge aus vielen Fachern geleistet worden sind. Darum haben wir hier Mediziner und Philosophen, Sportwissenschaftler und Kulturhistoriker eingeladen und Kolleginnen und Kollegen mit besonderer Kompetenz für den Osten und den Westen Deutschlands, ja Europas und der USA zusammengeführt, um ein Projekt, das erst vor fünfviertel Jahren begonnen wurde, noch als „work in progress" vorstellen und noch in einer plastischen Phase aus Ihren Anregungen und Kritiken lernen zu können. Wir sind Ihnen deshalb sehr dankbar, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind, dieses eng zugeschnittene Thema in einen weiteren Horizont zu stellen, und ich hoffe, dass auch Sie aus dieser Konferenz Anregungen für Ihre weitere Arbeit beziehen werden. Das Thema ist ja aktueller geblieben, als irgend jemandem lieb sein kann. Ich möchte Ihnen zu Beginn kurz berichten, wie es zu unserem Projekt gekommen ist, was es untersucht und welche Hoffnungen wir mit diesem Workshop verbinden. Im Frühjahr 2005, als ich gerade emeritiert wurde, aber wegen der Betreuung einer Reihe von Doktoranden und Drittmittelprojekten vornehmlich zur ostdeutschen Geschichte noch in der Hochschule aktiv blieb, informierte mich unser Rektor, dass die Direktorin der damals erst seit kurzem zum Schering-
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Konzern gehörenden (und mittlerweile vom Bayer-Konzern übernommenen) Firma Jenapharm, Isabel Rothe, die mögliche Verstrickung des Vorgängers der Firma, des VEB Jenapharm, beim Doping von Hochleistungssportlern der DDR untersuchen lassen wolle, weil sich das Unternehmen mit Entschädigungsforderungen von Doping-Opfern konfrontiert sehe, und sich mit diesem Forschungsbegehren an die örtliche Hochschule gewandt habe. Der Rektor meinte, ich sei die richtige Adresse, da ich in der Vergangenheit eine ganze Reihe von Forschungsprojekten gerade auch zur S B Z / D D R geleitet oder beraten hatte. Darüber hinaus hatte ich um die Jahrhundertwende das Bundeskanzleramt zwei Jahre lang intensiv in der Frage der Entschädigung der im Dritten Reich nach Deutschland verschleppten Zwangsarbeiter historisch beraten und sah in Frau Rothes Begehr ein erfreuliches Zeichen einer neuen und unterstützungswürdigen Unternehmenskultur, die Frage geschichtlicher Verantwortung von Vorgängereinrichtungen in der Diktatur nicht von vornherein einfach zu leugnen oder juristisch zu bestreiten, sondern zuvörderst erst einmal historische Aufklärung über den Sachzusammenhang zu suchen. Jenapharm war damals bereits das zweite Mal nach 1990 von einem westlichen Unternehmen übernommen worden, und seither war Frau Rothe, einer Managerin mit arbeitspsychologischem Hintergrund aus dem Schering-Konzern, die Geschäftsführung des Jenaer Bereichs übertragen worden. Sie suchte auch deshalb historische Aufklärung, weil beim heutigen Unternehmen Jenapharm keine in Forschung und Produktion verantwortlichen Mitarbeiter aus der fraglichen Zeit der DDR mehr arbeiten und der größte Teil der schriftlichen Überlieferung in den „Wende"-Zeiten anscheinend vernichtet worden oder jedenfalls abhanden gekommen ist. Da ich einem Verständnis von Zeitgeschichte als einer gesellschaftlichen Dienstleistung zur Aufklärung über den Erfahrungsraum der Mitlebenden anhänge, wurden wir uns schnell einig, dass ein solches, mit begrenzten Mitteln und wegen des aktuellen Informationsbedarfs auch unter einem gewissen Zeitdruck durchzuführendes Forschungsprojekt die inner- und außerhalb des Betriebs noch verfugbaren Quellen zu seiner Beteiligung am Doping-System der DDR historisch aufarbeiten und die Ergebnisse öffentlich zugänglich machen sollte. Frau Rothe sagte uns zu, alle einschlägigen Uberlieferungen und Uberlieferungssplitter in ihrem Unternehmen einsehen zu können und machte uns keinerlei Auflagen, außer dass sie als erste über unsere Ergebnisse informiert sein wollte. Das ist übrigens auch im Vorfeld dieses Workshops eingehalten worden und wird auch beim Endbericht, den wir im Laufe des nächsten Jahres zu erstatten haben, so praktiziert werden.
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Bei unseren Untersuchungen geht es um zwei zentrale Fragen: Erstens, was kann man über die Verantwortung des VEB Jenapharm innerhalb der Planwirtschaft der D D R und genauerhin bei den staatlichen Sonderprogrammen zur Produktion und Entwicklung sogenannter „unterstützender Mittel" für den Hochleistungssport der D D R herausfinden, und zweitens, wie wurden solche pharmazeutischen Mittel zur Leistungssteigerung von den Beteiligten im Laufe der Jahre - wir reden hier über den Zeitraum von den 60er bis zu den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts - wahrgenommen? Lassen Sie mich diese beiden forschungsleitenden Fragen des „uM"-Projekts, die ich im folgenden die Verantwortungs- und die Wahrnehmungsfrage nennen werde, etwas erläutern, wobei ich dem eingehenden Bericht von Dr. Klaus Latzel über unsere bisherigen Forschungen und ihre Zwischenergebnisse nicht vorgreifen möchte. Nach dem Stand der Literatur, zu dem mehrere von Ihnen j a so Wichtiges beigetragen haben, ist es unstrittig, dass der V E B Jenapharm die Masse der Doping-Substanzen hergestellt hat, die in der D D R auf Wunsch der Staats- und Parteiführung eingesetzt wurden, um die Erfolge des Leistungssports dieses kleinen Teil-Landes, dem es an anderen Grundlagen politischer Legitimation mangelte, zu puschen, und dass diese Ersatzlegitimation der D D R eher durch Spiele als durch Brot in der Ära Honecker nach innen und außen weitaus erfolgreicher war als die von ihr beanspruchten (staats-) sozialistischen oder antifaschistischen Grundlagen. Nun wissen wir aber spätestens seit dem Untergang der DDR, dass dieses Doping, das seinerzeit auch im Westen praktiziert wurde, allerdings nach dem heutigen Kenntnisstand nicht auf Drängen der politischen Klasse und auch nicht aufgrund von gezielten Spezialanfertigungen der privatkapitalistischen Pharmaindustrie, in zweierlei Hinsicht unrecht war: Erstens - und dies ist die heute in der Aktualität oft im Vordergrund stehende, aber eigentlich weniger bedeutsame Frage - unterlief die Doping-Praxis die durch internationale Ubereinkunft festgelegten Regeln für sportliche Wettkämpfe und brachte Sportlerinnen aus der D D R (und damit auch der DDR-Führung) regelwidrige Erfolge und Vorteile. Dabei muss man hinzusetzen, dass es dabei nicht primär um eine Systemfrage im Kalten Krieg geht, sondern um die Stellung der D D R sowohl zu ihren westlichen wie östlichen Nachbarn, denn auch gegenüber den letzteren ging die brüderliche Solidarität keineswegs so weit, auch sie am ostdeutschen Pillenwesen genesen zu lassen. Das Doping wurde nicht exportiert. Zweitens - und dieses Unrecht wird mit den Langzeitfolgen bei den Betroffenen immer sichtbarer und dramatischer - wurden diese Erfolge erkauft durch Nebenfolgen (übrigens j a auch bei denen, die gar keine Erfolge erzielten), die
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aus naivem Technikvertrauen, zynischer Siegesversessenheit, aus Unkenntnis, Unachtsamkeit oder einem menschlichen Mangel an umsichtiger Professionalität kurzfristig in Kauf genommen und erst langfristig für viele Beteiligte zu einer persönlichen Katastrophe wurden. Historisch ist dies die eigentliche Dopingfrage hinsichtlich der DDR, aber sie stellt sich erst, seitdem ihr Verursacher, die DDR als Herrschaft und als kollaborierendes gesellschaftliches System, nicht mehr greifbar ist. Also wird die Frage nach verbliebenen Teil-Verantwortlichen gestellt, die fiir den Schaden aufkommen könnten, und da es der Staat bei hartherzig bemessenen Entschädigungspauschalen belässt und Jenapharm, das im Osten das Monopol auf die Pille hatte, zu den nicht eben vielen Firmen gehört, denen die Umstellung vom VEB zur Marktwirtschaft gelang und die in der Folge sogar von zahlungskräftigen kapitalistischen Konzernen aus dem Westen aufgekauft werden sollten, richten sich die Erwartungen von Doping-Opfern auf die Verantwortlichkeit des Vorgängers und auf die Zahlungskraft der Rechtsnachfolger dieses Unternehmens. Das kann man durchaus verstehen, aber die Frage ist, ob dieser Hoffnungsstrahl auch trägt, oder ob er sich, nachdem er den neuen Staat aus der residualen Gesamthaftung für den alten befreit haben könnte, nicht nach einer gerichtlichen Prozedur als eine fata morgana herausstellen könnte. Wie sich das in der Abwägung der Mitverantwortlichkeiten und im Übergang zwischen den Systemen verhält, ist letztlich entweder eine juristische oder eine politische Frage, und zu beiden können Historiker, die nicht über die aktuellen Handlungskriterien verfugen, nichts Entscheidendes beitragen, außer dass sie einen Beitrag zur Aufklärung der zugrunde liegenden, vergangenen Verhältnisse leisten können. Dieser bescheidenen Dienstleistung sind wir verschrieben, denn unabhängig vom Ausgang des aktuellen Interessengeschiebes von Normanwendung und Entschädigungsmaß bleibt die Einsicht in die verursachenden Verhältnisse, soweit sie denn quellengesättigt rekonstruiert werden können, ein Wert an sich und oft, wie ich aus anderen Fällen weiß, ä la longue die einzig haltbare. Was nun die Wahrnehmungsfrage betrifft, so haben wir sie mit dem Selbstaufklärungsimpuls der Jenapharm verbunden, weil wir gerne herausfinden würden, wie sich die Einstellungen zur medikamentösen Leistungssteigerung, zur Verdrängung ihrer Nebenfolgen und allgemeiner der kulturelle Zusammenhang von Hochleistung und Drogen und die Erwartung einer pharmakologischen Steuerbarkeit des Menschen in der Berichtszeit unseres Projekts unter den Beteiligten entwickelt haben. Als kulturwissenschaftlich orientierte Historiker interessiert uns diese Wahrnehmungsfrage besonders, und wir versprechen uns von der zweiten Hälfte dieses Workshops hier Anregungen und Vernetzungen zu erfahren. Aber ich muss auch gestehen, dass wir bisher sehr viel weniger
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Quellen zur Schärfung dieser Wahrnehmungsfrage gefunden haben als zur Präzisierung der Verantwortungsfrage. Das Projekt richtet sich nicht gegen die Interessen von Doping-Opfern und dient auch nicht dazu, Schering bzw. jetzt Bayer bei etwaigen einschlägigen juristischen Auseinandersetzungen zu munitionieren. Das Projekt ist auch nicht, wie einige Kommentatoren wegen meiner früheren Tätigkeit auf dem Gebiet zeithistorischer Befragungen geglaubt haben, ein Oral History Projekt, das die Wahrheit über Verantwortungszusammenhänge durch Interviews bei den Schuldigen suchte. Ganz so methodisch naiv sind wir wirklich nicht; vielmehr basiert es auf der Aufarbeitung aller verfugbaren archivalischen Quellen. Hierzu ist festzustellen, dass der größere Teil der archivalischen Uberlieferungen des VEB Jenapharm im Zuge der sogenannten Wende abhanden gekommen ist, nicht nur zu dem hier interessierenden Fragenkomplex, sondern überhaupt. Innerhalb des Unternehmens existieren nur noch wenige und zersplitterte Akten; die Hauptaufgabe für das Projekt besteht darin, in öffentlichen Archiven das noch zu ermittelnde Material (über das von den Herren Kollegen Franke und Spitzer z.T. schon erschlossene Stasi-Material hinaus) zu sammeln und auszuwerten. Der dem Umfang nach wichtigste Teil dieser Akten liegt im Bundesarchiv und im Thüringischen Staatsarchiv Rudolstadt, aber auch in einer Vielzahl anderer Archive. Das Projekt ist auf zwei Jahre angelegt. Die Personal- und die Reisekosten für die Archivforschungen wie übrigens auch die Kosten dieses Workshops werden der Hochschule in einem ganz normalen Drittmittelverfahren von Jenapharm ersetzt. In der pharmazeutischen und medizinischen Industrieforschung ist es üblich, dass auch der leitende Hochschullehrer ein Honorar erhält; da dies bei uns Geisteswissenschaftlern nicht oder weniger üblich ist, habe ich Frau Rothe gebeten, dieses Honorar nicht an mich auszuzahlen, sondern an einen gemeinnützigen Verein zur Unterstützung von wissenschaftlichem Nachwuchs zu spenden, was auch geschehen ist. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, warum dieses kleine Projekt, das aber mehr mediale Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat als andere unserer vielen Projekte zur Geschichte der DDR, nicht auch das Schicksal von Geschädigten der bei Jenapharm produzierten Substanzen untersucht. Der Grund ist einfach: Mit historischen Mittel allein könnten wir zwar Betroffene nach ihren Erfahrungen befragen und deren Auskünfte dokumentieren, aber wir können ihre Auskünfte nicht zuordnen oder bewerten. Hierzu wären sehr viel aufwendigere medizinische und auch kriminalistische Forschungen nötig, um den Wirkungs- und Verursachungszusammenhang wissenschaftlich haltbar zu etablieren. Ich möchte
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aber persönlich betonen, dass ich das, was ich über das Projekt der Sportwissenschaftler an der Humboldt-Universität zu Berlin „Wunden und Verwundungen"1 in den letzten Tagen in der Presse gelesen habe, als einen wichtigen Beitrag zur Veranschaulichung von Dopingfolgen einschätze und im Vorfeld einer genaueren Kenntnis der Studie selbst die Anwesenheit von Herrn Kollegen Spitzer auf dieser Tagung als eine Möglichkeit zur aktuellen Vernetzung aller ernsthaften Forschungen zum Doping in der DDR besonders begrüße.
Postskriptum 2 0 0 7 Soweit der Text, mit dem ich die internationale Konferenz auf Schloss Dornburg, deren Beiträge in ausgearbeiteter Form in diesem Band veröffentlicht werden, am 30. November 2006 eröffnet habe. Diese Veröffentlichung gibt mir Gelegenheit, noch einmal kurz auf das erstaunliche Medienecho unseres Workshops zurückzukommen. Es war nicht nur sehr breit und lautstark, sondern in den meisten Fällen auch einfach Ausdruck einer Skandalisierungs-Kampagne, in der die Berichtspflicht der Medien gleich zweimal mit Füßen getreten wurde. Eine ganze Reihe von Journalisten nahm ganz oder zeitweise an der Konferenz teil, und an ihrem zweiten Tag fand eine stark besuchte Pressekonferenz statt, auf der wir unser Projekt und seine Zwischenergebnisse noch einmal in populärerer Kurzform darstellten. Daraufhin wurde ich mit der offenbar einzigen, die meisten anwesenden Journalisten wirklich interessierenden Frage konfrontiert, nämlich ob ich der Jenapharm die Entschädigung der Opfer empfehlen würde. Ich sagte, dass mir eine solche öffentliche Empfehlung aufgrund historischer Befunde nicht zukomme, ließ jedoch anklingen, dass ich mit dem Gedanken einer Zuwendung an die Opfer des Zwangsdopings sympathisierte. Aber auf solche Zwischentöne wurde von den meisten Medienvertretern nicht geachtet und schon gar nicht recherchiert. Mit wenigen Ausnahmen (bemerkenswerterweise die Lokalpresse, das Regionalfernsehen und ein medizinisches Fachblatt), die sachlich berichteten, fand das Gros der Medienvertreter, meistens Sportjournalisten von überregionalen Blättern und Rundfunkstationen, nur sein Vorurteil bestätigt, dass unsere Forschungen und eine solche Konferenz nur dem Zweck dienen könnten, der Öffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen und die emotional aufgeputschte Kampagne für eine Entschädigung der DopingOpfer, für die man endlich in einem westdeutschen Chemie-Konzem einen zahlungskräftigen Adressaten gefunden zu haben meinte, akademisch zu zerreden. Offenbar konnte sich wohl kaum einer vorstellen, dass historische Forschung eine klärende Funktion haben könnte und gerade dann, wenn sie sich nicht in den
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Dienst der einen oder anderen Vorurteile nehmen ließ, auch zu moralischen Einsichten und Entscheidungen helfen könnte. Jedenfalls war sich der Blätterwald am nächsten Tag in einem seltenen interfraktionellen Konsens einig, dass die Vernebelung der Verantwortung der Zweck unserer Forschungen und ich - wie es eine sonst eher betuliche und hoch angesehene Zeitung mit einer unverkennbar antisemitischen Anspielung formulierte - „ein gedungener Schriftgelehrter" sei. Tatsächlich war es die unmittelbare Folge unseres Projekts, dass die Beteiligung des VEB Jenapharm an dem komplexen Verantwortungsgewebe in der DDR, das deren skandalöse und menschenverachtende Doping-Praktiken in der Ära Honecker ermöglicht hatte, ebenso klar wurde wie die Tatsache, dass die kapitalistischen Rechtsnachfolger damit zwar eine moralische Verantwortung, aber keine nach Herkunft und Ausmaß klar definierbare Schuld ererbt hatten. Diese Einsicht stärkte die Kräfte im Unternehmen, die glaubten, dass es dieser Verantwortung entsprechen und aus eigenen Stücken auf den Verband der DopingOpfer zugehen und die vom Staat bereits eingeleitete, vom obersten Sportgremium jüngst erweiterte Entschädigung noch einmal um eine industrielle Komponente erweitern sollte. Die damalige Geschäftsfiihrerin der zunächst von Schering und dann kürzlich von Bayer übernommenen Jenapharm, Isabel Rothe, eine Psychologin, die mittlerweile der obersten Bundesbehörde für Arbeitsschutz vorsteht, war alsbald die wichtigste und überzeugendste Trägerin dieser Einsicht, und sie konnte sich - with a little help of her friends - auch im schwierigen Terrain des neuen Mutterkonzerns durchsetzen und innerhalb kürzester Zeit eine für alle Seiten tragbare Entschädigungslösung erzielen, die mittlerweile bereits ausbezahlt ist. Die Weichenstellung war aufgrund unserer Zwischenergebnisse wenige Tage vor und nach unserer Konferenz ins Auge gefasst und der entscheidende Hebel binnen Wochen auch tatsächlich umgelegt worden - ich kann das bezeugen, da ich an einigen der dafür notwendigen Gespräche und Brückenschläge persönlich beteiligt war. Forschung, Einsicht und Verantwortung hatten die vormalige fruchtlose Konfrontation überwunden, dem Unternehmen Selbstbewusstsein und Ansehen und den Opfern Anerkennung und Hilfe gebracht. Aber viele Zeitungen meinten offenbar, die alte Journalistenregel „bad news are good news" einfach umdrehen und noch ein Schippchen drauflegen zu können: „good news are no news". Sie ließen es allenfalls bei Drei-Zeilen-Meldungen bewenden, dass die Jenapharm nun endlich doch gezahlt habe. Die zweite Verletzung der Berichtspflicht war weniger auffällig, aber genauso schlechtes Handwerk. Manchmal kann gutes Handwerk in der Forschung etwas bewirken. Es kann pragmatische Entscheidungen nicht vorwegnehmen, aber es kann das Terrain klären, auf dem sie gefallt werden müssen.
W o r k s h o p „ D o p i n g in Ost und W e s t "
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Anmerkung 1
Die Studie liegt mittlerweile vor: Giselher Spitzer, „Wunden und Verwundungen". Sportler als Opfer des DDR-Dopingsystems. Eine Dokumentation, Köln 2007.
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Aus ärztlicher Sicht Erwünschte und unerwünschte Wirkungen anaboi-androgener Steroide
Die Einnahme von anabol-androgenen Steroiden mit dem Ziel der Leistungssteigerung ist nicht auf die ärztliche Verschreibung als Medikament beschränkt. Es ist davon auszugehen, dass 1-5 % der Jugendlichen mindestens einmal in ihrem Leben solche Substanzen eingenommen haben. Dabei sind verlässliche Angaben über Prävalenzen außerordentlich schwierig zu erhalten, da sie auf der wahrheitsgemäßen Beantwortung von Fragen beruhen. Die vorliegenden empirischen Untersuchungen lassen jedoch den Schluss zu, dass es sich bei der Einnahme von anabol-androgenen Steroiden keineswegs um eine auf den Leistungssport beschränkte Verhaltensweise, sondern um ein Problem von weitaus größerem, quasi alltäglichem Ausmaß handelt.1 Das Ziel der medikamentös unterstützten Leistungssteigerung ist in verschiedenen Berufsgruppen und Freizeitbeschäftigungen weit verbreitet und zeigt beispielsweise bei medienträchtigen Berufen im Show- und Filmgeschäft breite Vorbildwirkung. Wesentliche Motivationen zur Einnahme von anabol-androgenen Steroiden sind die physische Leistungssteigerung und subjektive Faktoren wie verbessertes Aussehen und gesteigertes Körper- und Lebensgefuhl. Bei anabol-androgenen Steroiden handelt es sich um Wirkstoffe, die sich letztendlich vom männlichen Sexualhormon Testosteron ableiten lassen. Wie die Bezeichnung „Hormon" es ausdrückt, ist Testosteron ein im menschlichen Organismus hergestellter Boten- und Wirkstoff - und zwar bei Mann und Frau. Er wird hergestellt in den Hoden des Mannes und in den Nebennieren und in geringen Mengen in den Ovarien der Frau. Die Wirkungen sind2: •
Entwicklung der männlichen Sexualorgane vor der Geburt Entwicklung der sekundären männlichen Geschlechtsmerkmale in der Pubertät in der Wachstumsphase: vorzeitiger Abschluss des Knochenwachstums in der Pubertät • Aufrechterhaltung der Funktion der Sexualorgane bei Männern erhöhte Libido und Potenz
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• psychische Veränderungen, z.B. erhöhte Aggressivität • gesteigerte Eiweiß- und Nucleinsäuresynthese (anabole Wirkung) • verstärkte Talgproduktion • bei genetischer Veranlagung: Haarverlust • Wachstum von Organen, z.B. der Prostata. Anabole Steroide unterbrechen das Wachstum von Kindern und Jugendlichen, fuhren zu Geburtsfehlern, Vermännlichung von Frauen, Hodenatrophie, vermindertem Blutspiegel der Gonadotropine3 und des im Körper hergestellten Testosterons bei Männern. Darüber hinaus geht die orale Einnahme von anabolen Steroiden mit Leberfunktionsstörungen, Leberkrebsentstehung, Peliosis hepatis (Blutzysten in der Leber), Stimmungsveränderungen und gestörter Libido einher. Veränderungen des sogenannten Lipidprofils mit einer Abnahme des gefaßgünstigen HDL-Cholesterins bin hin zum vollständigen Verschwinden sind regelmäßig nachweisbar. Die Folgen sind Arterienverkalkungen, die nicht selten disseminiert, also weit verstreut sind. Die unerwünschten Wirkungen anaboler Steroide sind nur selten akut lebensbedrohlich, da Leberveränderungen und Arteriosklerosefolgen wie Herzinfarkt, Nierenversagen und Schlaganfall häufig erst Jahre bis Jahrzehnte später, jedoch aus medizinischer Sicht vorzeitig auftreten.4 Forschung über den klinischen Einsatz anaboler Steroide ist keineswegs neu, da insbesondere die anabole und damit muskelaufbauende Wirkung bei verschiedenen konsumierenden Erkrankungen, beispielsweise Krebserkrankungen, seit den 1950er Jahren Erfolg versprechend schien. Im klinischen Einsatz reduzierte sich ihr Gebrauch wegen ausbleibender Erfolge, d.h. Muskelzuwachs und alltagsrelevanter körperlicher Leistungssteigerung, weitgehend. Ein verbliebenes Einsatzgebiet sind sogenannte Hormonersatztherapien oder Einsatz bei Hauterkrankungen. Seit langem wird dabei in einer Vielzahl von Originalarbeiten und Ubersichten auf die erwünschten und unerwünschten Wirkungen anaboler Steroide, insbesondere auch der Präparate, die im Leistungssport eingesetzt wurden oder werden, hingewiesen.5 Die unerwünschten Wirkungen anaboler Steroide waren gerade in den Zeiten, in denen ihr Einsatz im Sport in Zeiten des Kalten Krieges im Osten und Westen erprobt oder systematisch durchgeführt wurde, zweifelsfrei bekannt. Beispielsweise wurden 1975 in der weltweit zugänglichen wissenschaftlichen Zeitschrift Medicine and Science in Sports and Exercise aus gesundheitlicher Sicht unerwünschte Wirkungen von anabolen Steroiden beschrieben6, die in unveröffentlichen Arbeiten aus dem Einsatz mit Leistungssportlern, aber auch der Dokumentation in medizinischen Akten in der sportmedizinischen Betreuung teilweise noch eindrucksvoller dokumentiert waren. Ärzte, insbesondere auch Sportärzte
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können sich seit den 60er Jahren des vergangen Jahrhunderts, insbesondere jedoch aufgrund der einschlägigen Erfahrungen bei Sportlern seit den 1970er Jahren nicht auf Unwissen bezüglich der gesundheitlichen Wirkungen berufen. Diese waren im Detail bekannt, wurden jedoch später insbesondere durch die Wirkungen auf das Gefäßsystem ergänzt, da manche Krankheitsfolgen erst Jahrzehnte nach dem systematischen Einsatz anaboler Steroide auftraten. Es muss also andere als medizinische Gründe gegeben haben und geben, um anabole Steroide bei gesunden Menschen einzusetzen. Der zweifelhafte und gesundheitlich brisante „Siegeszug" der anabolen Steroide als Schönheits- und Fitnessdroge über die beiden letzten Jahrzehnte wahrscheinlich zu einem Milliardengeschäft belegt dies zweifelsfrei. Was aus ärztlicher und gesundheitlicher Sicht inakzeptabel ist, findet trotzdem im großen Stil bei Menschen Anklang. Dazu kann die Betrachtung einer - sicher unvollständigen - Auswahl von Gründen fiir die Einnahme anaboler Steroide hilfreich sein: muskuläre Höchstleistungen (im sportlichen Wettkampf oder Showveranstaltungen) Geldverdienst (Konsument und Dealer) Selbstdarstellung und Körperkult Erpressung, Betrug, Abhängigkeiten (bezogen auf Einzelpersonen, Gruppen, Systeme) Unwissen, Halbwissen • Anerkennung in persönlich wichtigen sozialen Gefiigen • psychische, sexuelle und finanzielle Abhängigkeit (Prostitution, Pornographie) militärische und geheimdienstliche Gründe • verbesserte Gesundheit i.S. der Salutogenese (Sinnhaftigkeit, Machbarkeit, Verstehbarkeit) • Therapie und Rehabilitation nach Unfällen, Operationen und Krankheit Hormon(ersatz)therapie. Die Herstellung und der Handel mit anabolen Steroiden gehen mit Geldflüssen von nicht unerheblichem Ausmaß einher. Der Zugang zu anabolen Steroiden ist denkbar einfach - über das Internet und über fliegende Händler, meist außerhalb des medizinischen oder Sportsystems. Die Informationen zur Einnahme sind ebenfalls denkbar einfach, mit Halbwahrheiten durchsetzt und aus ärztlicher Sicht denkbar gefahrlich, nämlich lebensgefahrlich. Nicht zu unterschätzen ist die Vielfalt der Anreizstrukturen und des Bedrohungspotentials in diesem Feld, die in Teilen durchaus auch mit den Mustern organisierter Kriminalität agieren.
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Die Varianten von Angebot und Nachfrage, auch von Einnahme und Verabreichung anaboler Steroide sind äußerst vielfaltig: von harmlos bis lebensgefahrlich, von legal und notwendig bis hin zu illegal und überflüssig, von bewusst bis böswillig hinters Licht führend. Aus ärztlicher Sicht ist und bleibt keine andere Möglichkeit, als sich an den Empfehlungen der wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften zu orientieren und danach zu handeln. Aus ärztlicher, insbesondere auch sportärztlicher Sicht ist der Einsatz von anabolen Steroiden nicht nur bei Sportlern allein aus Gründen der Leistungssteigerung oder zweifelhafter „Schönheit" unerwünscht. Aufgrund der Vielzahl der gesundheitlich unerwünschten Wirkungen war dies auch spätestens seit den 1960er Jahren der Fall. Mehr noch: dem Einsatz von anabolen Steroiden ist aus ärztlicher Sicht und durch Ärzte aktiv entgegen zu wirken. Auch hier spielen die Sportärzte eine besondere Rolle und sind im Rahmen ihrer Möglichkeiten in der Pflicht. Im Einzelfall kann der Einfluss entscheidend und groß sein, im weltweiten Gesamtsystem des Geschäfts mit anabolen Steroiden ist die Einflussnahme aber wohl eher gering.
Anmerkungen 1
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5
6
I. Thiblin/A. Petersson, Pharmacoepidemiology of anabolic androgenic steroids: a review, in: Fundamental and Clinical Pharmacology 19 (2005), 1, S. 27-44; B. Wanjek/ J. Rosendahl/H. Gabriel, Doping, drugs and drug abuse among adolescents in the state ofThuringia (Germany): Prevalence, knowledge and attitudes, in: International Journal of Sports Medicine 28 (2007), S. 340-345. E. Mutschier u.a., Arzneimittelwirkungen, 8. Aufl., Stuttgart 2001, S. 451. Auf die Keimdrüsen wirkende Hormone. Thiblin/Petersson, Pharmacoepidemiology; Wanjek/Rosendahl/Gabriel, Doping; Mutschier u.a., Arzneimittelwirkungen, S. 451; D.R. Lamb, Anabolic steroids in athletics: how well do they work and how dangerous are they? In: The American Journal of Sports Medicine 12 (1984), 1, S. 31-38; F.L.Johnson, The association of oral androgenic-anabolic steroids and life-threatening disease, In: Medicine and Science in Sports and Exercise 7 (1975), 4, S. 284-286; H.A. Haupt u.a., Anabolic steroids: A review of the literature, in: The American Journal of Sports Medicine 12 (1984), S. 469-486. Z. Laron/S. Gitter, Anabolic Steroids: their clinical use and specific dangers in pediatrics, in: Clinical Pediatrics (Philadelphia) 2 (1963), S. 594-600; F.L.Johnson, The association of oral androgenic-anabolic steroids and life-threatening disease. F.L.Johnson, The association of oral androgenic-anabolic steroids and life-threatening disease.
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Doping in der Bundesrepublik Deutschland Historische und soziologische Aspekte abweichenden Verhaltens im Spitzensport
1. Einführung: Politik, Doping und Leistungsentwicklung Doping im Spitzensport ist eine Problematik, die auf bemerkenswerte Weise mit politischen Entwicklungen korrespondiert. Spitzensportliche Erfolge werden zur positiven nationalen Repräsentation genutzt. Dabei weisen demokratische Systeme häufig ein Interesse an olympischen Medaillen und Spitzenleistungen auf, das zumindest nicht deutlich unter dem Interesse totalitärer Systeme anzusiedeln ist. So hat im geteilten Deutschland die spezielle politische Konstellation des Ost-West-Konfliktes das Dopingproblem bis 1990 auf weltweit wohl einzigartige Weise angeheizt. Für die lange Zeit frappierendsten Leistungsverbesserungen sorgten weltweit und natürlich auch im Spitzensport der DDR sowie der B R D die anabolen Steroide. Sie werden seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts missbräuchlich verwendet und haben mehr als jede noch so intelligente trainingsmethodische Errungenschaft für Leistungsfortschritte im Kraft- und Schnellkraftsport gesorgt. Sie sind wegen ihrer regenerationsfördernden Wirkung auch im Ausdauersport eingesetzt worden, wo die messbaren Fortschritte in den Leistungsentwicklungen allerdings weniger spektakulär ausfielen. Erst die Methoden des Blutdopings haben in diesen Bereichen seit den 70er Jahren und insbesondere mit der Verbreitung des Einsatzes von Erythropoietin (EPO) seit etwa 1994 Leistungsentwicklungen auf ebenso auffällige Weise beeinflusst wie Jahrzehnte zuvor Anabolika. Zur spezifischen Situation des Dopings in der Bundesrepublik Deutschland führten die Autoren eine breit angelegte Untersuchung durch, in deren Verlauf statistische Methoden der Analyse von Leistungsverbesserungen mit Methoden historischer und sozialwissenschaftlicher Forschung kombiniert wurden.1 In einem weiteren Schritt wurden aus soziologischen Analysen Schlussfolgerungen für eine pädagogisch orientierte Dopingprävention gezogen.2 Durch die von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg geförderte Untersuchung konnte das
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Bild vom Doping im Westen wesentlich erweitert und präzisiert werden. Insbesondere in qualitativer Hinsicht gelang eine wesentliche Erweiterung des Erkenntnishorizontes. Die Autoren interviewten damals 45 Zeitzeugen mit unterschiedlichen Funktionen im Sport, von denen 13 bei zugesicherter Anonymität erklärten, früher einmal zu Dopingmitteln (Anabolika) gegriffen zu haben. Die Erkenntnisse, die wir dank dieser interdisziplinär ausgerichteten Untersuchung mit dem Schwerpunkt Doping in Westdeutschland gewinnen konnten, reichen weit über den damals ins Auge gefassten Untersuchungszeitraum hinaus. Sie sind in vergleichbaren Gesellschaftssystemen auch fur die Analyse des aktuellen oder zukünftigen Dopinggeschehens aussagekräftig. Daher ist die Beschäftigung mit dem Doping in der Bundesrepublik Deutschland im Zeitraum vor der deutschen Wiedervereinigung in hohem Maße bedeutsam fur Verständnis und Wissen um das Doping von heute und morgen.
2 . H i s t o r i s c h e A s p e k t e d e r D o p i n g p r o b l e m a t i k in W e s t d e u t s c h l a n d 2 . 1 . A n f ä n g e des A n a b o l i k a m i s s b r a u c h s in der B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d
Einer der Zeitzeugen, den die Autoren interviewten, begann das Gespräch mit den Worten: „Ich bin der erste Gedopte Deutschlands!" Dieser ehemalige Leichtathlet, der später die Funktionärslaufbahn einschlug, will bereits 1956 von zwei Ärzten in einem bekannten deutschen sportmedizinischen Zentrum Anabolika erhalten haben. Es solle sich dabei um ein zu diesem Zeitpunkt noch im Test befindliches Anabolikum gehandelt haben, das in Westdeutschland 1960 unter dem Namen Dianabol auf den Markt kam. Solchen Berichten ist allerdings mit großer Vorsicht zu begegnen, auch wenn es grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden kann, dass die in Basel beheimatete Herstellerfirma von Dianabol (CIBA-Geigy) anabole Substanzen auch im westdeutschen Sport auf ihre Effektivität hin überprüfen ließ und hierfür in manchen Sportmedizinern willige Helfer fand. Für eine solche Annahme würde sprechen, dass die Firma CIBA in den 50er Jahren in den USA in Bezug auf Testosteron und in Bezug auf Dianabol den US-Sportarzt John Ziegler um eine solche Anwendung im Gewichtheben ersuchte.3 Letztlich beweisbar sind solche Behauptungen indessen nach dem derzeitigen Forschungsstand nicht. Allerdings sind grundsätzlich Manipulationen mit dem Ziel der Erforschung leistungssteigernder Medikamente z.B. in Freiburg schon für den Zeitraum ab 1952 belegt.4 Im gleichen Zeitraum gab es Versuche mit Testosteron bei Ruderern, die aber als gescheitert betrachtet werden können.5
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Wie auch immer es sich mit solchen frühen Einsätzen von anabolen Steroiden im Sport verhielt, eine wirklich bedeutsame Rolle im westdeutschen Leistungssport haben Anabolika auf breiterer Ebene wohl ab Mitte der 60er Jahre gespielt. Zunächst waren es hauptsächlich Betreiber von solchen Sportarten und Disziplinen, in denen die Maximalkraft eine bedeutsame Rolle spielte. Die Verbreitung des Wissens um die Existenz und die Wirkungsweise von muskelaufbauenden Medikamenten erfolgte dabei auf unterschiedlichen Wegen. Zum einen wurden westdeutsche Sportler spätestens Mitte der 60er Jahre durch radikale körperliche Veränderungen bei amerikanischen Athleten auf das AnabolikaPhänomen aufmerksam. Erste Veränderungen dieser Art wurden schon 1960 bei den Olympischen Spielen in Rom wahrgenommen.6 Zum anderen wurden deutsche Athleten, die in diesen Jahren an US-Universitäten studierten, auf den dort offenbar völlig selbstverständlichen Missbrauch von Dianabol aufmerksam. Deren eigene Leistungsverbesserungen wiederum ließen deutsche Konkurrenten aufhorchen. Die Hauptschiene der Wissensverbreitung von Anabolika in den westdeutschen Sport kommt also von den USA her. Eine zweite Schiene fuhrt dagegen in Europa und Deutschland selbst in traditionell einschlägig dopingbelastete Sportarten wie den Radsport, wo Mediziner seit 1960 mit Anabolika zur Leistungssteigerung gearbeitet haben sollen.7 Bis 1968 und zu den Olympischen Spielen in Mexico City war Anabolikamissbrauch westdeutscher Athleten zu einem weit verbreiteten Phänomen in bestimmten Disziplinen und Sportarten geworden. Der Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV), Dr. Max Danz, ging 1968 davon aus, Anabolika seien nicht schädlich und würden nur den Organismus stimulieren.8 Eigene Erfahrungen und solche Äußerungen haben die deutsche Diskuswerferin und Kugelstoßerin Brigitte Berendonk nach den Olympischen Spielen in Mexico City 1969 zu einem kritischen Artikel über den verbreiteten Anabolikamissbrauch in der Zeitschrift Die Zeit bewegt.9 Der ehemalige Sprinter und Weitspringer Manfred Steinbach publizierte 1968 eine (ethisch fragwürdige) Studie an 125 Jugendlichen und einigen Spitzenathleten seines Klubs USC Mainz über die Wirkungsweise von Anabolika. Diese Studie vermittelt einen vielsagenden Eindruck der damaligen Situation um Anabolikamissbrauch im westdeutschen Leistungssport: „Viele der besten Sportler glauben ziemlich fest daran, dass manche aufsehenerregende Leistung unserer Tage unter Beteiligung entsprechender Präparate erzeugt ist, zumal in Einzelfallen auch schier unfassbare Aufbesserungen im Körperbau imponieren. In erklärlicher Sorge, nun ins Hintertreffen zu geraten, wird der Sportarzt ständig mit entsprechenden Wünschen von den Athleten angegangen." 10
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2.2. Das Problem des verzögerten Verbots von Anabolika
Zu den großen Problemen im Kampf gegen den immer stärker um sich greifenden Missbrauch anaboler Steroide zur Leistungssteigerung zählte die lange Zeit verschleppte Einordnung der muskelaufbauenden Hormone als Dopingmittel. Viele Sportmediziner in Westdeutschland verstanden unter Doping nur die aktuelle Aufputschung von Leistungen im Wettkampf. Die im Training langfristig erzielte, langanhaltende Leistungsverbesserung durch anabole Steroide wurde von vielen nicht als Doping angesehen. Diese paradoxe Weigerung, eine viel effizientere Methode zur Leistungsverbesserung nicht als Doping zu etikettieren, scheint indessen eine Strategie von Medizinern und Funktionären gewesen zu sein, mit der eine verhältnismäßig lange Verwendung solcher Steroide möglich wurde. Dahinter dürfte zumindest teilweise auch eine falsch verstandene Sorge um die Gesundheit der Sportler gestanden haben: Während verschiedene Todesfalle im internationalen Radsport der 60er Jahre die aktuell lebensbedrohliche Wirkung von Aufputschmitteln vor Augen führten, wurden Anabolika lange Zeit für ungefährlich gehalten und dienten daher als willkommene Alternative. Dass die Verwendung anaboler Steroide langfristig schwere schädliche Nebenwirkungen zeitigen und ebenfalls - nur eben sehr viel später - zum Tod führen kann, wurde lange Zeit vehement geleugnet. Während Sportärzte wie der Österreicher Ludwig Prokop11 schon 1962 Anabolika zu den Dopingmitteln zählten und sie sogar den am häufigsten verwendeten Dopingmitteln zuordneten12, benötigten die führenden deutschen Sportmediziner für ihre nur widerwillig vorgenommene Kurskorrektur etwa 15 Jahre länger. Prokop warnte Anfang der 60er Jahre bereits vor den möglichen schädlichen Nebenwirkungen, auch darin war er vielen deutschen Kollegen um einen noch sehr viel längeren Zeitraum voraus. Immerhin schloss der westdeutsche Sportarzt Manfred Steinbach seine wissenschaftliche Anabolika-Untersuchung 1968 ebenfalls mit der Einordnung von anabolen Hormonen als Dopingmittel: „Anabolica zählen nun einmal zum Doping, darum und aus Gründen der aufgezählten Schädigungsmöglichkeiten kann der Athlet nicht genug vor der Einnahme derartiger Präparate gewarnt werden, insbesondere wenn er in der Annahme, es mit absolut harmlosen Substanzen zu tun zu haben, kritiklos und über lange Zeit unzuträgliche Dosierungen auf eigene Faust riskiert."13
In der Leichtathletik erfolgte das Verbot von anabolen Steroiden 1970.14 Eine den Missbrauch verhindernde Wirkung hatte dieses durch den Weltverband IAAF und den Deutschen Leichtathletik-Verband verhängte Anabolikaverbot
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jedoch nicht, da zu diesem Zeitpunkt noch kein Kontrollverfahren etabliert war. Die ursprünglich von Medizinern wie Joseph Keul vertretene Meinung, dass es sich beim Missbrauch von anabolen Steroiden nicht um Doping handele, erwies sich zudem als erstaunlich langlebig. Sie hielt sich auch noch weit über das in der Bundesrepublik erst 1977 fur alle Sportarten verhängte Anabolikaverbot des Deutschen Sportbundes und des Nationalen Olympischen Komitees hinaus. Mit den 1977 in Kraft getretenen neuen Dopingbestimmungen war Westdeutschland bereits deutlich zu spät, denn das Internationale Olympische Komitee hatte Anabolika im Hinblick auf die Olympischen Spiele 1976 in Montreal schon 1974 auf die Dopingliste gesetzt - und nicht erst 1976 oder gar noch später, wie bisweilen fälschlicherweise behauptet wird. Einiges spricht für die Annahme, dass deutsche Mediziner wie Joseph Keul und Funktionäre wie der damalige Präsident des DLV und Vorsitzende des Bundesinstituts fur Sportwissenschaft (BISP), August Kirsch, sich in den internationalen Gremien im Zeitraum bis 1976/77 für eine Herauslösung von Anabolika aus der Dopingliste eingesetzt haben. So hat Keul einen von Ludwig Prokop formulierten AntiDoping-Appell 1974 aufgrund der Kritik am Anabolikadoping eigenmächtig abgeschwächt.15 Kirsch, einer der am meisten dopingbelasteten Funktionäre Westdeutschlands, hat in seiner Funktion als Vizepräsident des Nationalen Olympischen Komitees nach den Angaben des früheren Dopingkontrolleurs Horst Klehr 1976 bei den Olympischen Winterspielen die Verteilung einer AntiDoping-Broschüre verhindert: Anabolika wurden darin der Regel gemäß als Dopingmittel gekennzeichnet.16 Auch in seiner Eigenschaft als Präsident des DLV, der Anabolika als einer der ersten Verbände überhaupt explizit verboten hatte, leugnete Kirsch noch nach 1976, dass Anabolika Dopingmittel seien.17 Ein von den Autoren befragter Zeitzeuge berichtet, dass westdeutsche Funktionäre in internationalen Gremien in jenen Jahren Stimmung gegen das Anabolikaverbot gemacht hätten.18 Obwohl Anabolika 1976 bereits auf allen wichtigen internationalen Dopinglisten standen, sprachen sich die deutschen Sportmediziner auf dem Kongress des Deutschen Sportärztebundes und der Arbeitsgemeinschaft der Verbandsärzte noch 1977 in Freiburg nahezu geschlossen für ihre Verwendung unter einer so genannten ärztlichen Kontrolle aus. Dirk Ciasing19, der Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der Verbandsärzte, erklärte: „Den Sportlern sollen Wirkstoffe (Medikamente) nicht vorenthalten werden, die zur Leistungsoptimierung dienen können, vorausgesetzt, dass die endgültigen Dopingbestimmungen des Deutschen Sportbundes 20 eingehalten werden und den Sportlern durch diese Maßnahme nicht geschadet wird. [...] Wenn die Ärzte ,Nein' sagen, dann
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gibt es überhaupt keine Kontrolle. Es ist deshalb doch besser, mitzugehen, zu steuern und sinnvoll zu helfen als zu sagen: ,Wir sind völlig dagegen!' - gegen Substanzen möglicherweise, die nicht einmal unbedingt schaden."21 Ahnlich äußerte sich der spätere Präsident des Internationalen Verbands der Sportmedizin, Prof. Dr. Wildor Hollmann: „Es gibt nur drei denkbare Lösungen: Entweder wir verbieten die Verwendung der Anabolika völlig; damit würden wir bedingungslos vor dem Ostblock kapitulieren, oder das IOC streicht die dopingbelasteten Sportarten vom Olympischen Programm (meiner Meinung nach 18 der 21) oder wir bemühen uns, den Athleten zu helfen, indem wir den Athleten Anabolika verschreiben als unterstützende Therapie, ohne auch im geringsten ihrer Gesundheit zu schaden."22
2.3. Sportmedizin zwischen Schadensvermeidung und Verharmlosung
Die befürwortende Haltung der Sportmedizin zum Anabolikamissbrauch ist bei einer Reihe von Ärzten sicherlich Ausdruck einer ernst zu nehmenden Sorge um die Gesundheit der Sportler. Das dabei entstehende ethische Dilemma von Sportärzten zwischen Heilungsauftrag und der eigentlich unärztlichen Anabolikabefurwortung wird aufgelöst, indem die Befürwortung des Anabolikadopings gerade als Ausdruck ärztlicher Fürsorge angesehen wird. Ein inzwischen verstorbener bekannter westdeutscher Sportmediziner beschreibt das Dilemma, in dem viele Arzte sich verstrickt sehen, wie folgt: „Ich habe einen Fall gehabt, einen bekannten Athleten mit sechs verschiedenen anabolen Steroiden [...] Dann habe ich ihm das aufgelistet. Er hatte auch pathologische Veränderungen an der Leber, und dann habe ich ihm gesagt, wenn du überhaupt etwas nehmen willst, dann kannst du es nur in der und der Konstellation machen, alles andere ist für deine Gesundheit schädlich und bringt auch gar keinen Leistungsvorteil. [...] Ich weiß genau, wenn er raus geht, nimmt er's, deshalb hat es gar keinen Sinn zu sagen: Nimm gar nichts!"23 U m Überdosierungen zu vermeiden, nahmen Arzte wohl nicht selten mäßigend eine Beraterfunktion ein, in der aber schließlich die Rolle des Behüters von der der treibenden Kraft nicht mehr zu unterscheiden war. Die Annahme vieler Mediziner, dass Sportler ohne ihre Beratung in der Auswahl der Medikamente und ihrer Dosierung zu weitaus höheren und damit schädlichen Mengen gegrif-
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fen hätten, erscheint zumindest teilweise vorgeschützt. Die von uns befragten Zeitzeugen, die eigene Dopingpraktiken zugegeben haben, berichten von grundsätzlich vorsichtigeren Dosierungen auch ohne „ärztliche Kontrolle". Erst wenn ärztliche Beratung ins Spiel kam, stiegen die Dosierungen bei Athleten aus „gemäßigten" Sportarten, wie die Aussage eines Zeitzeugen belegt: „Ich hatte maximal 2 0 bis 2 5 Milligramm, wenn ich mich recht entsinne, fünf Pillen pro Tag, nur ein paar Tage lang und dann wieder monatelang nichts. Und da hatte ich schon gedacht, das ist aber viel. Mir war damals - nicht aus moralischen, sondern aus gesundheitlichen Gründen - immer sehr unwohl dabei. Professor ... [Name des Sportmediziners], auf den ich damals sehr gebaut hatte, hat immer abgewunken und gesagt, alle nehmen viel mehr." 2 4
Die Haltung, dass Dopingmaßnahmen zu unterlassen seien, wenn man deren Fernwirkungen nicht abschätzen könne, war führenden westdeutschen Sportärzten fremd. Schädigungen, die nicht beweisbar seien, wurden als Argument gegen den Anabolikaeinsatz zurückgewiesen. So plädierte der aus der DDR geflüchtete Sportmediziner Alois Mader fur Anabolikadoping, weil „eine Schädigung der Gesundheit [...] nicht direkt und mit ausreichender Wahrscheinlichkeit nachzuweisen (ist)".25 Ähnlich drückten es auch der zu diesem Zeitpunkt seit Jahren mit Anabolikaforschung befasste Joseph Keul und Mitarbeiter aus: „Aus medizinischen Gründen gibt es derzeit fur den Mann keine gesicherten Einwände gegen die Einnahme von anabolen Hormonen, falls therapeutische Dosen verwendet werden. [ . . . ] Ein Verbot von anabolen Hormonen mit dem Hinweis auf eine Schädigung, die nicht bewiesen ist, lässt die ärztliche Beratung bzw. den Arzt selbst fragwürdig erscheinen und ist daher nicht empfehlenswert." 2 6
Auch Alois Maders Mentor Wildor Hollmann aus Köln, der langjährige Präsident des Welt-Sportärztebundes, tat sich in der Verharmlosung der Schädigungsmöglichkeiten von Anabolika hervor. Vor dem Sportausschuss des Deutschen Bundestages erklärte Hollmann: „Wenn aber diese Hormone in derselben Größenordnung von außen zugeführt werden, wie sie sonst nur durch Trainingsbelastung im Körper in Freiheit gesetzt werden, so fallt es schwer, hierzu den Beweis der Schädlichkeit zu erbringen." 27
Auch in Bezug auf eine Verwendung von Anabolika bei Frauen hatte Hollmann keine größeren grundsätzlichen Bedenken:
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„Wer hat bisher davon gesprochen, dass Millionen von Frauen in Deutschland und in der Welt regelmäßig unter Umständen über mehrere Jahre hinweg die Antibabypille nehmen mit weitaus größeren hormonellen Konsequenzen im gesamten Organismus, als es bei einer nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten verabfolgten anabolen Steroid-Komponente der Fall ist?" 28
2.4. Doping als „Substitution", „Therapie" und „Regenerationsförderung" Nachdem sich die westdeutsche Sportmedizin 1976 für die Verwendung von Anabolika im Leistungssport „unter ärztlicher Kontrolle" ausgesprochen hatte, erwies sich eine solche Freigabe als politisch nicht durchsetzbar. Die Folge war ein rasches Umschwenken der Sportärzte auf die Linie eines offiziellen Anabolikaverbots, wie es durch das Nationale Olympische Komitee und den Deutschen Sportbund 1977 mit der „Grundsatzerklärung für den Spitzensport" erfolgte. Offiziell unterstützten die Mediziner dieses Verbot, auf anderen Wegen wurde es jedoch vielfach übergangen. Um Anabolikadoping im Spitzensport weiter durchführen zu können, verfielen die Mediziner auf den Gedanken, es als Maßnahme der Substitution, einer Therapie im weitesten Sinne bzw. als Regenerationsförderung zu kaschieren. Joseph Keul hatte die angebliche Notwendigkeit einer hormonellen Substitution für Hochleistungssportler 1977 vor dem Sportausschuss des Deutschen Bundestages in die Diskussion eingeführt: „Wahrscheinlich ist es so, daß es bei Menschen, die maximal trainieren, d.h. pro Tag sechs Stunden oder mehr, nicht mehr zu einer ausreichenden körpereigenen Testosteronproduktion kommt. Das heißt, daß der Organismus unter diesen enormen Trainingsbelastungen nicht mehr in der L a g e ist, seine eigene Testosteronproduktion aufrecht zu erhalten. Es kommt zu einem Absinken der einzelnen Testosteronspiegel im Laufe des Trainingsprozesses, so daß der Spiegel niedrig bleibt. Durch die Gabe von anabolen Steroiden wird dann bei dem, der maximal trainiert, eine Wiederherstellung herbeigeführt. Man könnte hier von einer Substitution sprechen, weil damit der Testosteronspiegel mit künstlichen Mitteln, mit anabolen Steroiden - man könnte das auch mit körpereigenem Testosteron machen - erhöht wird." 29
Die immensen Trainingsbelastungen wurden häufiger als Argument für die angebliche Notwendigkeit des Einsatzes von Anabolika im Spitzensport ins Feld geführt. Dass diese für ungedopte Sportler wohl völlig überzogenen Vorstellungen von Trainingsumfangen erst durch den Einsatz von Anabolika möglich geworden waren, haben Keul und viele andere Anhänger jener Substitutions-
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theorie immer verschwiegen. Stattdessen verbreiteten sie ihre Haltung von der angeblichen Notwendigkeit des Einsatzes von Dopingmitteln zur Bewältigung der unmenschlich gewordenen Trainingsbelastungen - also gewissermaßen zur Konstitutionsfbrderung - tief in die Kreise der Sportler, der Trainer, der Funktionäre bis hin in die auf Expertenmeinungen vertrauende Öffentlichkeit. Übrigens war es dann Joseph Keul selbst, der wiederum vor dem Sportausschuss des Deutschen Bundestages 1987 die ureigene Theorie eines anabolen Substitutionsbedarfs ins Reich der Fabeln verwies. Dagegen vertrat der Sportmediziner Heinz Liesen auch 1987 noch diese These 30 - was kein gutes Licht auf viele von ihm betreuten Sportler und Mannschaften wirft. Liesen war z.B. in den 80er Jahren und bis zum Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft 1990 ärztlicher Betreuer der deutschen Nationalmannschaft. Stellten sich viele Personen im Sport nach 1977 hinter das Anabolikaverbot, so unterstützten sie doch den Einsatz anaboler Steroide, sobald auch nur im weitesten Sinne ein therapeutischer Gedanke, eine medizinische Indikation, damit in Verbindung zu bringen war. Welcher Natur solche „Indikationen" sein konnten, verdeutlichte die polizeiliche Vernehmung des Sportmediziners Armin Klümper im Zusammenhang mit dem Tod der Siebenkämpferin Birgit Dressel im April 1987. Klümper, der in den 80er Jahren von einem Großteil der deutschen Spitzenathleten aufgesucht wurde, offenbarte bei dieser Vernehmung eine Vorstellung von Anabolika-Indikation, die von Doping praktisch nicht mehr zu unterscheiden war. Klümper erklärte, „dass ANABOLICA durchaus in das Therapiespektrum meines Instituts gehören, z.B. in Regenerationsphasen, nach Operationen usw. ...", ferner nach Knochenverletzungen. Im Fall von Birgit Dressel sah der Arzt auch im Fall eines Trainingsausfalls nach einer Kieferhöhlenentzündung „im weiteren Sinne" eine Indikation für den Anabolikaeinsatz gegeben.31 Vieles spricht dafür, dass westdeutsche Sportmediziner die 1977 entgangene große Freigabe anaboler Steroide in den 80er Jahren mit der Kultivierung des Therapiegedankens zumindest in Form einer „kleinen" Freigabe von Dopingmitteln ausglichen. So berief sich Klümper bei seinen Rechtfertigungen etwa auf eine Erklärung des Deutschen Sportärztebundes aus dem Jahr 1988: „Die zeitlich limitierte Gabe von Anabolika zum Wiederaufbau atrophierter Muskulatur nach Immobilisierung oder langdauernden Verletzungen stellt eine therapeutische Maßnahme dar und erfüllt nicht den Tatbestand des Dopings." 32
Aber bereits vor dem Zeitpunkt der Abgabe dieser dubiosen und nicht exakt eingrenzbaren Erklärung wurde die Therapiefreiheit des Arztes zum Doping miss-
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braucht. Entsprechende „Indikationen" lagen bisweilen bereits bei Trainingspausen oder Gewichtsverlusten vor. Da aber z.B. Schwerathleten wie Werfer in der Leichtathletik alleine in Einnahmepausen von Dopingmitteln einen teilweise eklatanten Gewichtsverlust zu verzeichnen hatten, geriet in dieser abstrusen medizinischen Logik bereits das Absetzen von Dopingmitteln zu einem medizinisch vertretbaren Grund für die Einnahme solcher Mittel. Therapie und Doping waren so praktisch ein und dasselbe. Ohnehin scheinen sich bestimmte Arzte fur die Dopingbestimmungen der Sportverbände nicht interessiert zu haben - nicht einmal, wenn sie an der Entwicklung dieser Bestimmungen beteiligt waren, wie der langjährige Olympiaarzt Joseph Keul: „Nach den Vorstellungen vieler Trainer und Athleten steht dem Arzt und Sportmediziner nicht das Recht zu, die Einnahme von Medikamenten zu verbieten. Sie sehen die Aufgabe in der Beratung und Untersuchung. Von ärztlicher Seite ist dem voll beizupflichten, da das Dopingverbot mit all seinen Randerscheinungen Aufgabe der Fachverbände ist."33
2 . 5 . S t a a t l i c h e V e r s ä u m n i s s e in d e r D o p i n g b e k ä m p f u n g
Es gab in der Bundesrepublik Deutschland bis zur Wiedervereinigung 1990 viele Personen und Institutionen, die das im Spitzensport weit verbreitete Phänomen des Dopings direkt oder indirekt, aktiv oder passiv unterstützt haben. Dabei zeigte sich die Bundesregierung mehrfach an Forschungsmaßnahmen zu leistungssteigernden Maßnahmen interessiert. Ihrer Verwendung stand aus Sicht der Regierung nichts im Wege, so lange diese gesundheitlich unbedenklich seien. Wann dieses der Fall sei, wurde vollständig den Sportärzten überlassen. Grundsätzlich war eine aktive Unterstützung des Staates für das Doping aber nicht zwingend notwendig. Es genügte vollkommen, dem dopingwilligen Sport seine im Grundgesetz festgeschriebene Autonomie unangetastet und diesem die Lösung der Dopingfrage weitgehend selbst zu überlassen. Umgekehrt wurde staatliches Eingreifen von Sportfuhrern wie dem langjährigen NOK-Präsidenten Willi Daume immer wieder mit dem Hinweis auf die angeblichen „Selbstreinigungskräfte" des bundesdeutschen Sports abgelehnt. Das Beispiel der 1987 auch an den Folgen ihrer Dopingpraktiken gestorbenen Leichtathletin Birgit Dressel macht deutlich, wie Doping durch Passivität außersportlicher Institutionen begünstigt wurde. Die Duldung des Dopings durch solche Institutionen entsprach nicht den Ansprüchen der Väter des Grundgesetzes. Desinteresse an der Aufdeckung von Dopingpraktiken auf Kos-
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ten der Allgemeinheit legte nach 1987 beispielsweise die Sozialministerin des Bundeslandes Rheinland-Pfalz, Ursula Hansen, an den Tag. Sie weigerte sich, Hinweisen auf einen wahrscheinlichen Abrechnungsbetrug bei einer Krankenkasse im Zusammenhang mit der Verschreibung von Anabolika durch Arzte nachzugehen. Kaum anders als mit Bestürzung kann die Haltung der Mainzer Staatsanwaltschaft zum Dopingproblem aufgenommen werden, die flir die Haltung vieler Staatsanwaltschaften in der Bundesrepublik vor 1990 stehen dürfte. Die Staatsanwältin Gütebier stellte im Zusammenhang mit Birgit Dresseis Tod ein nie ernsthaft aufgenommenes Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt34 wegen des Verdachts der Körperverletzung ein, weil sie bei den dieser Strafanzeige zugrunde liegenden Dopingvorwürfen eine Sittenwidrigkeit ärztlichen Dopings nicht zu erkennen vermochte: „Von entscheidender Bedeutung ist darüber hinaus, daß selbst eine nachweisbare Gesundheitsbeschädigung durch die Einwilligung der Verletzten gerechtfertigt gewesen wäre. Anhaltspunkte dafür, daß das Verabreichen von leistungssteigernden Medikamenten im Tatzeitraum (also vor April 1987) als sittenwidrig anzusehen wäre, liegen nicht vor. Ein Verstoß gegen die guten Sitten liegt nämlich nur dann vor, wenn allgemein gültige Wertmaßstäbe, die vernünftigerweise nicht anzweifelbar sind, zu einem eindeutigen Sittenwidrigkeitsurteil fuhren [...]. Dies lässt sich zumindest für die Zeit vor dem tragischen Tod von Birgit Dressel nicht mit Sicherheit feststellen. Es spricht vielmehr vieles dafür, daß erst nach diesem spektakulären Todesfall ein Wandel in der öffentlichen Meinung eingesetzt hat, so daß heute der Einsatz von Dopingmitteln zunehmend negativ beurteilt wird. Für die strafrechtlich relevante Zeit vor dem Todesfall lässt sich eine derart eindeutige Ablehnung von leistungssteigernden Medikamenten im Sport dagegen nicht mit Sicherheit feststellen, so daß zu Gunsten der behandelnden Ärzte von einer rechtsgültigen Einwilligung auszugehen ist." 35
Diese Einschätzung der mit der Strafanzeige befassten Staatsanwältin kommt einer rückwirkenden Legitimierung des in der Bundesrepublik praktizierten ärztlichen Dopings gleich. Dabei ist die Weigerung der Staatsanwaltschaft, im Doping eine sittenwidrige Handlung zu erkennen, nicht nachvollziehbar. Die umfassende und ablehnende öffentliche Dopingdiskussion in den 70er Jahren hat deutlich gemacht, wie entschieden die Einstellung der Öffentlichkeit gegen Doping war. Immerhin mussten die Sportärzte aufgrund dieser kritischen Diskussion ihre beinahe kollektive Befürwortung des Anabolikaeinsatzes im Spitzensport aufgeben. Dass Dopingdiskussionen anschließend kaum noch gefuhrt wurden, hing mit dem Verschwinden westdeutscher Dopingpraktiken in den
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Nebel der Heimlichkeit und unter dem Deckmantel von Therapie und Substitution zusammen. Daraus aber eine stillschweigende Zustimmung der Bevölkerung zu Dopingpraktiken herauszulesen, ist unzulässig.
2.6. Aktive staatliche Unterstützung des Dopings Die Rolle des Staates ist beim Doping in der Bundesrepublik Deutschland wohl in erster Linie als die eines passiv Beteiligten zu sehen, der es dem Sport weitgehend selbst überließ, wie er seine Probleme zu lösen versuchte. Eine Rolle des Staates beim Doping, die jener in der DDR vergleichbar wäre, kann für Westdeutschland nicht festgestellt werden. Dennoch haben unterschiedliche Bundesregierungen zu verschiedenen Zeiten für den Einsatz von Dopingmitteln bzw. für die Erforschung ihrer Wirkungsweise plädiert. Bestes Beispiel fiir eine aktive staatliche Unterstützung von Doping sind die mit 300 000 DM vom Bund geförderten Testosteronversuche in den 80er Jahren. Der deutsche Sport behauptet bis heute, es habe sich bei den „Regenerationsversuchen" mit Testosteron um eine „klassische und wirksame Anti-Doping-Maßnahme"36 gehandelt. Man habe beweisen wollen, dass Testosteron im Ausdauersport keine positiven Auswirkungen auf das Regenerationsverhalten habe. Aus einer 1991 von der damaligen Bundesregierung gegebenen Antwort auf eine Kleine Anfrage einer Abgeordnetengruppe geht indessen etwas ganz anderes hervor: „Durch den hier in Rede stehenden Forschungsauftrag sollte festgestellt werden, ob die defizitausgleichende Gabe kleiner Dosen von Testosteron die Qualität der Regeneration verbessert und damit einen wesentlichen Beitrag zur gesundheitlichen Stabilisierung der Spitzensportler leistet." 37
Nicht also die Absicht, die Sportler mit dem Hinweis auf die angebliche Unwirksamkeit von Testosteron im Ausdauersport von dieser Form des Dopings abzubringen, stand bei den Versuchen mit Testosteron im Mittelpunkt - sondern Doping, auch wenn die Regierung es so nicht bezeichnen wollte. Es existiert in der Sprache des Regelwerks im Sport für solche Verabreichungen von anabolen Steroiden an Leistungssportler jedoch kein anderes Wort. Dass Testosteron auf der Dopingliste steht, sei allen Beteiligten an dieser Untersuchung klar gewesen, erklärte die Bundesregierung. Aber man habe „ausreichend Abstände zu Wettkampfphasen für den Untersuchungszeitraum festgelegt". Für Testosteron habe man sich entschieden, weil diese Substanz „beim gesunden erwachsenen Mann in der eingesetzten Dosierung" für nebenwirkungsfrei gehalten wurde.38
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Joseph Keul, der nach Bekanntwerden der Testosteronversuche das Krisenmanagement für den heftig kritisierten deutschen Sport übernahm, erklärte der Öffentlichkeit, Ziel und Ergebnis der Untersuchungen sei die Feststellung der angeblichen Wirkungslosigkeit von Testosteron im Ausdauersport gewesen. Aber das stimmte nicht. In der Publikation von Jakob et al. 1988, auf die sich CoAutor Keul dabei immer bezog, steht nichts dergleichen.39 Keul hatte damit wissenschaftliche Ergebnisse in der Öffentlichkeit verfälscht. Zwar wurde ein verbessertes Regenerationsverhalten bei Athleten des Nordischen Skilanglaufs nicht festgestellt, die Autoren gaben in Wirklichkeit jedoch auch zu bedenken, dass für die Feststellung eines solchen positiven Effekts der Untersuchungszeitpunkt falsch gewählt gewesen sein könnte: „Die auch in der Kontrollgruppe nicht festgestellte Leistungssteigerung dürfte in erster Linie mit dem weniger intensiven und umfangreichen Training in der frühen Vorbereitungsperiode der Skilangläufer, welche als Probanden zur Verfügung standen, in Zusammenhang stehen. Während dieser Trainingsperiode ist die Erholungsfahigkeit möglicherweise nicht limitierend gewesen. Unter einem intensiveren Training als dem in der ersten Etappe der Vorbereitungsperiode der Skilangläufer kommt es erfahrungsgemäß auch häufiger zu Uberforderungs- und Übertrainingssituationen, in welchen eine katabole Stoflwechselsituation überwiegt, die im dargestellten Experiment in keinem Fall vorlag. Es bleibt daher offen, ob unter einer katabolen Ausgangslage durch die pharmakologische Beeinflussung mit exogenen Testosterongaben ein beschleunigtes Regenerationsverhalten zu erwarten ist."40
Die Testosteronversuche in der Bundesrepublik wurden merkwürdigerweise nie komplett veröffentlicht. Dabei wären die Resultate sicherlich interessant gewesen. Wie aus einem Zwischenbericht der von Heinz Liesen durchgeführten „Untersuchungen über den Einfluss von oraler Gabe von Testosteron auf die Regenerationsfahigkeit nach intensiven Belastungen" hervorgeht, wurden nämlich positive Effekte des Dopingmittels durchaus festgestellt: „Die bisherigen Ergebnisse weisen daraufhin, dass bei sehr starker kataboler Belastung durch die Gabe von Testosteron die Regenerationsfähigkeit für die beanspruchten Strukturen verbessert werden kann."41
Gegenüber dem Sportausschuss des Deutschen Bundestages gab Heinz Liesen sich 1987 als Befürworter des systematischen Anabolikaeinsatzes im Spitzensport - unter dem Deckmantel der angeblichen Gesunderhaltung - zu erkennen: Doping in der Bundesrepublik Deutschland
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„... wir versuchen schon wirklich, den Sportler umfassend zu betreuen, das heißt also auch, seine Persönlichkeitsstruktur mitzuentwickeln. [...] Dazu gehört z.B. auch, festgestellte Defizite, die wir immer wieder beobachten - und das ist im Bereich der Spurenelemente und Vitamine relativ einfach, im Bereich der hormonellen Regulation relativ schwierig -, substituieren zu können, um hier den Menschen auch wirklich im Hochleistungssport komplex entwickeln zu können, damit er die Möglichkeit hat, das Pensum, das heute im Training erforderlich ist, um international bestehen zu können, gesund und ohne Schaden für sein weiteres Leben bewältigen zu können."42 Die Ende der 80er Jahre immens erfolgreichen Athleten der Nordischen Kombination waren für Heinz Liesen, dessen Forderungen nach Lockerungen der Dopingbestimmungen v o m Geist einer „totalen Sportmedizin" zeugten, ein Musterbeispiel für eine erfolgreiche „hormonelle Regulation". Dies teilte er den Mitgliedern des Sportausschusses des Deutschen Bundestages 1987 überraschend offen mit, wobei der Begriff der Persönlichkeitsentwicklung gemäß d e m vorangegangenen Zitat auch als Synonym fiir die Versorgung des Athleten mit anabolen Hormonen zu verstehen ist: „Es ist ja unser Ziel der permanenten Trainingssteuerung zu versuchen, fur jeden einzelnen herauszubekommen, wo sein Optimum für das Training liegt, um ihn nicht zu überfordern, um ihn individuell zu fördern und ihn zur Persönlichkeit zu entwickeln. So ist es auch nur zu verstehen - ich darf das hier einmal als ganz konkretes Beispiel bringen -, dass es uns gelungen ist, bei den Nordisch-Kombinierten aus wirklich absolut durchschnittlich talentierten Athleten über Jahre hinweg Welt-Spitzenathleten zu bekommen, indem man versucht hat, sie in ihrer Persönlichkeit zu entwickeln und sie im Trainingsprozess individuell zu steuern."43
3 . S o z i o l o g i s c h e A s p e k t e d e s D o p i n g s in W e s t d e u t s c h l a n d 3 . 1 . K o m m u n i k a t i o n über D o p i n g
Semantische Umcodierung Ahnlich wie das bei den Sportmedizinern oder den Politikern bereits zu beobachten war, empfindet kaum eine andere Personengruppe ihr Verhalten im Zusammenhang mit unerlaubter Manipulation wirklich folgerichtig als Doping. Athleten, Trainer oder Ärzte entwickeln eine Sichtweise, die es ihnen erlaubt, Dopingmittel zu verwenden, ohne sich dabei einer abweichenden Verhaltensweise schuldig fühlen zu müssen. Mit einem Repertoire an Techniken der Neutralisierung4
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wird Doping so bagatellisiert und eigenes Fehlverhalten heruntergespielt. Die durch das Doping verletzte Ethik des Sports oder der unterschiedlichen Berufsgruppen wird durch solche Techniken wieder durch die Hintertür eingeführt. Athleten sagen, sie würden durch ihr eigenes Verhalten angesichts des weit verbreiteten Dopings die Chancengleichheit überhaupt erst wieder herstellen. Trainer argumentieren in pädagogischer Manier mit dem Selbstbestimmungsrecht des Athleten, das es zu respektieren gelte. Arzte erklären, sie würden Schlimmeres verhindern oder gerade mit dem Einsatz von Dopingmitteln der Gesunderhaltung der Athleten dienen. Und Politiker schließlich stimmen Dopingprogrammen in der Annahme zu, sie würden damit einen humanen Leistungssport unterstützen. Die meisten am Doping beteiligten Personen sind sich keinerlei Schuld bewusst. Daher hat sich eine Dopingbekämpfung aus pädagogischer Sicht an der detaillierten Widerlegung solcher Techniken der Neutralisierung zu orientieren. Das fehlende Unrechtsbewusstsein ist einer der Gründe, warum sich in Westdeutschland (und nicht nur hier!) eine spezielle Sprache des Dopings entwickelt hat. Vorsicht gegenüber Personen, deren Zustimmung zum Doping man sich nicht immer sicher sein konnte, ist eine zweite Ursache für die Entstehung einer solchen Semantik des Dopings. Ein westdeutscher Wurftrainer, der in den 80er Jahren versuchte, einen jungen Werfer zum Doping zu bewegen, tat dies, ohne dieses Wort oder den Begriff Anabolika explizit verwenden zu müssen: „Und da war ich mal auf ein Trainingslager eingeladen, und da kam das halt irgendwann mal zur Sprache so zwischen Tür und Angel, ob ich nicht mal Interesse hätte, leistungsfbrdernde Maßnahmen zu machen .. ," 45
Die Verwendung von Anabolika wurde zum Synonym fur „Leistungsforderung". Athleten, die sich weigerten, zu Dopingmitteln zu greifen, wurde die für einen Spitzensportler notwendige Leistungsbereitschaft häufig abgesprochen. Man müsse den Sport „mit allen Konsequenzen" ausüben, hieß es häufig. Wenn ein Trainer wie der über viele Jahre hinweg deutsche Sprinterinnen zum Anabolikadoping anhaltende Wolfgang Thiele bei einem Heimtrainer auf das Thema Doping zu sprechen kommen wollte, fragte er nach dem Ernährungsverhalten der Athletin.46 Dopingmittel kamen so in den harmlosen Geruch simpler Nahrungsergänzung - ähnlich dem Begriff „unterstützende Mittel" in der DDR. Doping ah
Tabuthema
Uber die Einnahme von Anabolika wurde zu keinem Zeitpunkt wirklich offen kommuniziert. Erstaunlicherweise auch nicht zu einem Zeitpunkt, an dem die
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Einnahme von Anabolika noch gar nicht explizit verboten war. Damals noch scheinen nicht wenige Athleten ein individuelles Gefühl der Illegitimität gehabt zu haben, wie der folgende, Mitte der 60er Jahre erstmals Anabolika einnehmende Zeitzeuge berichtet: „Man hat ein Mittel benutzt, das in dem Geruch war, nicht legal zu sein bzw. sich am Rande der Legalität zu bewegen. Illegal in dem Sinn, dass man es verschwiegen hat, dass man es nicht mitgeteilt hat. Ich habe selbst nie mitgeteilt, dass ich das nehme, während der ganzen Karriere war das so, und es war immer unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit, wenn es jemand genommen hat. Man hat einfach eine ethische Einstellung zum Leistungssport gehabt, dass fur die Leistung das Training und das Talent die entscheidenden Dinge darstellen. [...] Es gab schon ein Unrechtsbewusstsein. Man hat j a mit Mitteln gearbeitet, die außerhalb des anerkannten Spektrums lagen, obwohl nicht ausdrücklich verboten. Das war einfach dieses Ethos, das man damals gehabt hat, und das ist dadurch in Frage gestellt worden." 47
Es gab von Anfang an viele Gründe, zum Doping und insbesondere zum Doping mit anabolen Steroiden zu schweigen. Umso dringlicher wurde dieses Schweigen des westdeutschen Sports zum Dopingproblem, je mehr darüber an die Öffentlichkeit drang und je mehr die Öffentlichkeit die erstmals 1976 einem breiten Beobachterspektrum bewusst gewordenen Manipulationspraktiken kritisch beurteilte. In der Folge war die den Sport bewegende Frage jedoch nicht, wie über Doping zu kommunizieren sei. Die entscheidende Frage bestand darin, wie man Kommunikation über Doping am besten verhindern könnte, um sich der öffentlichen Kritik zu entziehen. Dies gelang über die Errichtung eines Kommunikationstabus. Tabuthemen entstehen, wenn der „zu unterstellende fehlende Konsens [...] sie aus geselliger Kommunikation ausschließt], da sie deren Grundlagen gefährdet".48 Von einem fehlenden Konsens konnte nach einer umfangreichen und öffentlich geführten Doping- und Manipulationsdebatte 1976/77 sehr wohl die Rede sein. Einflussreiche Kräfte aus Sportmedizin und Sportpolitik, die an einer „Rehabilitierung" der längst zu Dopingmitteln erklärten Anabolika arbeiteten, stießen innerhalb und insbesondere außerhalb des Sports auf harte Kritik. Auch politisch, dies zeigte etwa die Anhörung vor dem Sportausschuss des Deutschen Bundestags 197749, war die in Westdeutschland von diesen Kräften angestrebte Anabolikafreigabe nicht durchsetzbar. Die Parlamentarier waren hier viel kritischer und ablehnender als zuständige Vertreter der Bundesregierung. Schließlich erteilte Willi Daume, der Präsident des Nationalen Olympischen Komitees, ein Schweigegebot zum Thema Doping, das sich in der Folge als erstaunlich
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wirksam erweisen sollte. Erstaunlich deshalb, weil das erwünschte Schweigen in einer für eine freiheitliche Demokratie außergewöhnlichen Weise durchgehalten wurde - nämlich bis zum Tod von Birgit Dressel und mehr noch bis zur Entlarvung von BenJohnson 1988: „So nützlich öffentliche Diskussionen sind, der Blick zurück im Zorn nützt hier wenig. Wir hätten gern früher das Bekenntnis oder den Rat jener gehört, die nun Oberschiedsrichter der Nation sein wollen, denn das Problem des durch Pharmaka manipulierten Athleten liegt seit Jahren auf dem Tisch. [...] Am allerwenigsten aber sind Beschimpfungen und fragwürdige Denunziationen hilfreich. Nötig dagegen sind Gelassenheit und wissenschaftliche Exaktheit. Frei von Emotionen und Profilneurosen sollten sich jetzt Sportler, Mediziner und Medien darauf konzentrieren, die Arbeit der zur Lösung dieser Frage eingesetzten Fachgremien zu unterstützen und das Ergebnis abzuwarten. Wir wissen, daß Eile geboten ist." 50
Der Deutsche Leichtathletik-Verband ergänzte die Ausführungen von Willi Daume, was zeigt, wie das Schweigegebot von oben an die Basis weitergeleitet wurde: „Um Missverständnisse in der Öffentlichkeit zu vermeiden, halten wir es jedoch für besser, die Diskussion intern im Bereich des DLV zu fuhren. Wir sind überzeugt, mit Ihnen gemeinsam eine vertretbare Lösung für die Zukunft erarbeiten zu können." 51
Einzelne Formulierungen der Stellungnahme von Willi Daume machten deutlich, was Kritikern des Dopings, die ihre Haltung weiter öffentlich zu machen suchten, fortan drohte: Sie wurden als Denunzianten und Profilneurotiker diskreditiert, ihnen wurde die Fähigkeit zur sachlichen Diskussion und wissenschaftlich objektiven Betrachtungsweise des Dopingproblems abgesprochen. Auf diese Weise wurden sie aus dem Kreis der kompetenten Diskussionsteilnehmer ausgeschlossen. Schließlich wurden öffentliche Debattenbeiträge, falls es sie denn überhaupt gab, fast nur noch von solchen Personen abgegeben, die pro Doping eingestellt waren - auch wenn sie ihr Handeln nicht Doping nannten.
3.2. Selbstzerstörung des Hochleistungssports durch dopingbedingten Dropout Dem Phänomen des Talentverlustes wird im deutschen Sport seit langem große Aufmerksamkeit geschenkt. Dieser Dropout gefährdet langfristig die Produktion
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von Leistung und droht, den angestrebten Status als große Sportnation zu gefährden. Verblüffenderweise aber wurde in der Diskussion des Sports wie auch der Sportwissenschaft um das Phänomen des Dropouts im westdeutschen Spitzensport die Rolle des Dopings völlig ausgeblendet. Der westdeutsche Sport hätte sich schließlich eingestehen müssen, dass er ein erhebliches Dopingproblem hat. Lagen vereinzelt einmal wissenschaftliche Erkenntnisse zum Thema Doping vor, wurden sie ignoriert. Dass das Problem des Dropouts im westdeutschen Hochleistungssport durchaus durch Doping bedingt sein konnte, wurde 1988 durch Holz et al. in einer Studie zur Situation des Spitzensports in der Bundesrepublik Deutschland verdeutlicht. Daraus ging klar hervor, dass bestimmte Sportarten wie die Leichtathletik oder das Gewichtheben ein Dopingproblem hatten.52 In den meisten Sportarten (nicht aber im Gewichtheben) sahen Athleten die Notwendigkeit, zu manipulativen Maßnahmen wie Anabolikadoping greifen zu müssen, als wichtigsten denkbaren Grund an, aus dem Spitzensport auszusteigen. Dieser Befund dürfte nicht lediglich von einem theoretischen Vorhaben bei vielen Sportlern zeugen, einem mit Doping verseuchten Spitzensport den Rücken zuzukehren. Bei genauerer Beobachtung war in der westdeutschen Sportpraxis seit Anfang der 70er Jahre das Ausscheiden vieler dopingunwilliger Athleten aus dem Hochleistungssport zu erkennen gewesen. Gespräche mit Zeitzeugen und ein umfassendes Quellenstudium untermauern die von den Autoren in die Diskussion eingeführte Theorie des dopingbedingten Dropouts im westdeutschen Spitzensport. Dieser Dropout betraf nicht nur die Ebene der Athleten, sondern alle Rollenträger im Sport: Trainer, Arzte, Funktionäre usw. Ein frühes Beispiel für einen dopingbedingten Dropout in der westdeutschen Leichtathletik stellt der ehemalige Sprinter Eckart Brieger dar, der einmal Mitinhaber des Hallen-Europarekords über 60 Yards war. 1971 unterhielt sich Brieger mit dem späteren westdeutschen Diskuswurf-Bundestrainer Karlheinz Steinmetz (seit den frühen 90er Jahren Trainer von Diskuswurf-Olympiasieger Lars Riedel), wobei dieser seine zu diesem Zeitpunkt in der Leichtathletik bereits verbotene Anabolikaeinnahme zugegeben habe: „Ich kann mich an dieses Gespräch deshalb so gut erinnern, weil es mich sehr betroffen gemacht hat und mit ein wichtiger Grund dafür war, dass ich etwa ein dreiviertel Jahr später den Leistungssport aufgegeben habe."53
Eine frühe Form des Dropouts war in Westdeutschland im Fall der Kugelstoßerinnen zu beobachten, die nicht für die Olympischen Spiele 1972 in München nominiert wurden - obwohl sie im Gegensatz zu Kollegen aus verschiedenen
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anderen Disziplinen die zuvor festgesetzten „Richtwerte" erfüllt hatten. Da in der Zeit zwischen 1968 und 1972 vor allem im osteuropäischen Frauensport die Verabreichung von Anabolika üblich und insbesondere ab 1970/71 (also dem Zeitpunkt des Verbotes durch den Leichtathletik-Weltverband IAAF) diese Form des Dopings vor allem im Frauen-Kugelstoßen praktiziert wurde, wurde die Disziplin in verhältnismäßig kurzer Zeit international anabol „revolutioniert". Der damalige Bundestrainer Hansjörg Kofink machte den Deutschen Leichtathletik-Verband auf die Anabolikaproblematik aufmerksam. Dennoch wurde keine seiner Athletinnen für die Olympischen Spiele im eigenen Land dem Nationalen Olympischen Komitee überhaupt nur vorgeschlagen. Die Folge: Die Athletinnen hörten unmittelbar oder mittelbar mit dem Kugelstoßen auf, und auch Trainer Kofink, der später über zehn Jahre als Vorsitzender des Deutschen Sportlehrerverbandes wirken sollte, beendete seine Trainerkarriere.54 Insgesamt trug Dropout durch Doping wohl nicht nur in der Bundesrepublik zu einer sich selbst permanent verschlimmernden Situation bei: Die Zahl der im Spitzensport verbleibenden Dopinggegner reduzierte sich durch das Ausscheiden solcher Personen auf allen Ebenen, die Zahl der Befürworter nahm dagegen prozentual und absolut immer mehr zu. Der durch Doping bedingte Dropout kostete den Sport wertvolle menschliche Ressourcen. Daher ist anzunehmen, dass ein einseitig auf „Leistung um jeden Preis" ausgerichtetes Spitzensportsystem sich langfristig selbst schädigt. Es läuft Gefahr, sich selbst zu zerstören.
3.3. Widersprüchlichkeiten bei Kritikern und Befürwortern des Dopings In Dopingdiskussionen kann man bisweilen eine überraschende Feststellung treffen: Personen, die strikt gegen diese Form des abweichenden Verhaltens im organisierten Sport eingestellt sind, schätzen die Zahl der dopenden Sportler zumeist bedeutend geringer ein als Personen, die sich pro Doping aussprechen. Dass Dopinggegner das Problem für weniger schwerwiegend halten als Dopingbefurworter erscheint zunächst als ein kurioser Befund. Aber beide Parteien, von denen die eine das Problem möglicherweise unter-, die andere wiederum überschätzt, haben plausible Motive für ihre jeweiligen Vermutungen. Der Dopingkritiker etwa ist häufig ein Mensch, der sich unter hohem Einsatz von Zeit, Kraft und auch Geld für den Sport engagiert und einer traditionellen Sportmoral anhängt. Er will den Sport vor Schaden bewahren und kämpft daher engagiert gegen Doping, das er unter dem Aspekt des Betruges und des eines Sportsmannes unwürdigen Verhaltens einschätzt. Dabei geht er auch soziale Risiken ein, kann er doch als „Nestbeschmutzer" beschimpft, als „Don
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Quichotte" verlacht und von der Gemeinschaft ausgegrenzt werden. Gerade der Typus des Dopinggegners aber benötigt, um sein Engagement innerhalb des Leistungssports überhaupt guten Gewissens aufrechterhalten zu können, das Gefühl, dass sein Engagement gegen Doping nicht vergebliche Liebesmüh' ist. In einem durch und durch verdorbenen Sport könnte sich dieser idealistische Förderer nicht mehr reinen Gewissens betätigen. Er braucht den Glauben daran, dass nicht alle Sportler von der „Seuche" des Dopings befallen sind. So sind die ersten Dopinggegner paradoxerweise mitunter auch die ersten Dopingverharmloser. Die Kämpfer gegen Manipulation tragen so ungewollt zu einer Verschleierung der tatsächlichen Ausmaße des Problems bei. Wie im Spitzensport tätige Personen dopingkritisch eingestellt sein und gleichzeitig beträchtliche Verharmlosungsformeln entwickeln können, die ein Verweilen im Spitzensport guten Gewissens ermöglichen, zeigt das Beispiel eines nachfolgend zitierten Sportfunktionärs. Verstrickt im Dilemma zwischen angebrachtem Misstrauen und notwendigem Vertrauen in eine gewisse Seriosität des Sports findet der Funktionär, so dopingkritisch er auch sein mag, Beschwichtigungsformeln (Techniken der Neutralisierung), die dabei helfen können, den komplizierten Spagat zu bewerkstelligen. Zwar zweifelt dieser Funktionär einerseits bestimmte Weltklasseleistungen an, andererseits baut er sich mit der Vorstellung, grundsätzlich sei jede menschliche Leistung erbringbar, eine Brücke zurück in einen suspekt gewordenen Hochleistungssport: „Ich vertrete grundsätzlich die Auffassung, dass jede Leistung, die Menschen erbringen, auch ohne Anabolika möglich ist, aber sie ist erstens nicht in dieser Breite möglich und kann schon gar nicht von so vielen Athleten erbracht werden und kann nur sehr selten erbracht werden. Das sind eben so sensationelle Jahrhundertleistungen, das zeigt sich in der Menschheitsentwicklung, diese außergewöhnlichen individuellen Sonderleistungen. Unter diesem Gesichtspunkt meine ich, man sollte Spitzenleistungen nicht unter Verdacht stellen, man sollte sie prinzipiell als Spitzenleistung anerkennen, aber man sollte in dem Moment, in dem der Nachweis (der Manipulation) erbracht ist, in aller Deutlichkeit für die Sanktionen sorgen und die Zeichen setzen." 55
Am gegenüberliegenden Pol befindet sich die Gemeinschaft der Dopingbefiirworter. Auch ihr Verhalten ist durch Widersprüche und Paradoxien gekennzeichnet. Es würden sich ohnehin alle dopen und wenn man es nicht kontrollieren könne, solle man Doping doch lieber gleich freigeben, dann herrsche wieder Chancengleichheit - so ist aus ihrem Lager zu hören. Während die Gegner der pharmakologischen Manipulation die wahren Ausmaße des Problems möglicherweise unterschätzen (was auch daran liegen kann, dass sie als Kritiker von
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Insiderinformationen abgeschnitten sind), tragen die Befürworter einer Dopingfreigabe sehr wahrscheinlich bisweilen eher etwas zu dick auf. Diese Personen neigen häufig dazu, alles und jeden zu verdächtigen, vor allem aber die Dopingkritiker selbst, denen man gerne Heuchelei und Doppelmoral unterstellt. Kriminalsoziologisch wird hier von „Verdammung der Verdammenden" gesprochen. Auch fur dieses Verhalten gibt es naheliegende Gründe. Solche Personen sind häufig selbst mit Doping in Berührung gekommen. Wenn nun tatsächlich alle dopen würden und man sich selbst durch Doping sozusagen die Chancengleichheit lediglich „zurückgeholt" hätte, wäre das eigene regelwidrige Verhalten weniger als Abweichung denn als Anpassung zu begreifen. Die meisten Athleten, die zu Dopingmitteln greifen, tun dies sicherlich nicht mit der Vorgabe, sich einen betrügerischen Vorteil verschaffen zu wollen. Diese Athleten begründen ihr Verhalten zumeist als Strategie der Nachteilsvermeidung. In Gesprächen mit Zeitzeugen, die in früheren Jahrzehnten zur sportlichen Leistungssteigerung Anabolika eingenommen haben, wird von den interviewten Personen nicht selten die Forderung nach Freigabe von Anabolika mit den einschlägig bekannten Argumenten erhoben: Chancengleichheit, Selbstbestimmung, Recht auf Selbstschädigung. Betrachtet man diese Aussagen indessen genauer, lässt sich der Eindruck nicht verhehlen, dass solchen ehemaligen Sportlern mit der von ihnen betriebenen Schwarzmalerei („es dopen ja sowieso alle") eine exakte Beschreibung der Realität ebenso wenig gelingen will, wie dem sich weiterhin dem Leistungssport verschreibenden und sich dabei selbst „in die Tasche lügenden" Dopingkritiker. Wie das Beispiel eines Befürworters der Dopingfreigabe zeigt, wird zur Reduzierung des eigenen schlechten Gewissens alles schlecht gemacht - und somit die eigene Schuld an unerfreulichen Entwicklungen geschickt reduziert. Dieser zweite Zeitzeuge, ein ehemaliger Werfer der deutschen LeichtathletikNationalmannschaft, geht in Bezug auf das Doping mit anabolen Steroiden von einer flächendeckenden Verwendung im bundesdeutschen Sport für alle Bereiche schon Ende der 60er Jahre, also zu seiner aktiven Zeit, aus. Insbesondere glaubt er, dass solche Personen, die sich in späteren Jahren als Dopingkritiker profiliert haben, selbst Anabolika eingenommen hätten. Auf die Frage, ob er sich heute als Athlet genauso verhalten würde wie früher, gibt der befragte Zeitzeuge überraschend zu erkennen, dass er sich insgeheim mitschuldig fühlt an einer in den 60er Jahren in Gang gekommenen verhängnisvollen Entwicklung, obwohl Anabolika damals noch gar nicht explizit auf der Dopingliste vermerkt waren: „Wenn die Verhältnisse so wären wie damals, würde ich wahrscheinlich alles wieder so machen. Ich würde aber vielleicht nicht das Gefühl haben, dass ich mich als Wegberei-
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ter einer solchen Sache hergeben würde. Aber das hängt auch immer davon ab, inwieweit man eine solche Situation antizipieren kann, und das kannst du ja nicht. Ich würde auf jeden Fall auf eine andere Disziplin oder auf einen anderen Sport ausweichen." 56
Empfundene Mitschuld an der Entstehung einer verhängnisvollen Entwicklung kann ebenso zu einer dopingbefurwortenden Haltung fuhren, wie ein anderes Phänomen, das man als „enttäuschte Liebe" zum Sport bezeichnen könnte. Innerlich den nach wie vor vom Sport propagierten Werten wie Chancengleichheit, Fairplay, Natürlichkeit oder Zweckfreiheit verpflichtet, schlägt diese Haltung rasch ins extreme Gegenteil um, wenn an eine Verwirklichung dieser wünschenswerten Zustände nicht mehr zu denken ist. Auch das Phänomen der „enttäuschten Liebe" wird bei dem angesprochenen Zeitzeugen deutlich: „Ich messe der Sache [Dopingbekämpfung] keinen durchschlagenden Erfolg bei. Man ist heute in einer ganz anderen Richtung, der Mainstream ist die Kommerzialisierung und Zerstörung des Sports in seinem früheren Anspruch, und das Doping ist eine notwendige Begleiterscheinung. [...] Der Sport wird zunehmend zum Vehikel des Kommerzes und des Profits. [...] 99 Prozent der Leichtathletik-Fans wollen nicht begreifen, dass 95 Prozent der Athleten gedopt sind."
Haben sich viele ehemalige Sportler, anscheinend wegen ihrer insgeheim verspürten Mitschuld an dem sich ausbreitenden Dopingphänomen, auf eine zumeist wenig reflektierte Freigabepostulierung eingeschworen, so erscheint bei nicht wenigen aktiven Leistungssportlern die Sache keineswegs so eindeutig. Es gibt begründete Zweifel daran, dass die dopende Athletenschaft ihr abweichendes Verhalten als Angriff auf das Dopingverbot interpretiert. Viel mehr spricht einiges dafür, dass viele Leistungssportler sich Verhältnisse, in denen ihr Doping nicht „notwendig" wäre, förmlich herbeisehnen. Hier wäre somit von äußerer Abweichung bei innerer Konformität zu sprechen. So forderten in einer italienischen Studie von Scarpino und Mitarbeitern 82 Prozent der befragten Athleten Dopingkontrollen im Training, die es zum Zeitpunkt der Untersuchung Ende der 80er Jahre noch nicht gab. 57 Gerade die hohe Zahl an dopenden Athleten in Italien (in der Studie von Scarpino: Amphetaminmissbrauch 27 Prozent, Anabolika 26, Blutdoping 25) könnte diesen Wunsch nach Veränderung bei vielen Athleten selbst befördert haben. Dieses Phänomen wird von uns als Doping wider Willen bezeichnet und ist Ausdruck einer Nachteilsvermeidungsstrategie. Es ist ein weiteres scheinbares Paradox in der Diskussion um Dopinggegnerschaft und Dopingbefurwortung allerdings eines, das den Gegnern Mut machen sollte. Denn die Dopingbekämp-
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fung erscheint durchaus im Sinne der Athletinnen und Athleten zu sein - selbst dann, wenn diese sich dopen.
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Andreas Singler/Gerhard Treutlein, Doping im Spitzensport. Sportwissenschaftliche Analysen zur nationalen und internationalen Leistungsentwicklung, 4. Aufl., Aachen 2007. Andreas Singler/Gerhard Treutlein, Doping - von der Analyse zur Prävention, Aachen 2001. John D. Fair, Isometrics or steroids? Exploring new frontiers of strength in the early 1960s, in:Journal of Sport History 20 (1993), 1, S. 1-24. Erik Eggers, Doping-Schatten auf Josy Barthel, in: Leichtathletik 48 (28.11.2006), S. 10-11. Singler/Treutlein, Doping im Spitzensport, S. 181. Ebenda, S. 183. Jean-Pierre de Mondenard, Drogues et dopages, Serie Quel Corps, Paris 1987, S. 114. L'Equipe, 29.07.1968. Brigitte Berendonk, Züchten wir Monstren? In: Hilde Barisch (Hg.), Sportgeschichte aus erster Hand, Würzburg 1974, S. 333-338. Manfred Steinbach, Über den Einfluß anaboler Wirkstoffe auf Körpergewicht, Muskelkraft und Muskeltraining, in: Sportarzt und Sportmedizin 1 (1968), S. 485-492, S. 486. Ludwig Prokop vermutete schon damals bei der ärztlichen Unterstützung des Dopings eine häufig zum Zuge kommende „nationale Indikation", vgl. Ludwig Prokop, Doping im Sport, in: Herbert Groh (Hg.), Sportmedizin, Stuttgart 1962, S. 248-252. Ebenda, S. 249f. Steinbach, Einfluß anaboler Wirkstoffe, S. 490. Leichtathletik, 27.10.1970. Treibende Kraft fur ein Verbot im Bereich des Deutschen Leichtathletik-Verbandes dürfte der DLV-Arzt Karl-Heinz Mellerowicz gewesen sein, dessen Bemühungen später allerdings durch die Anabolika befürwortende Haltung Joseph Keuls konterkariert wurden; siehe hierzu Karl-Peter Knebel (Hg.), Biomedizin und Training, Berlin u.a. 1972, S. 101. Süddeutsche Zeitung, 21.3.1994. Persönliche Mitteilung Klehrs. Liesel Westermann, Es kann nicht immer Lorbeer sein, Wien u.a. 1977, S. 143. Singler/Treutlein, Doping im Spitzensport, S. 208. Ciasing prägte in Bezug auf die ärztliche Begleitung des Anabolikadopings den Begriff der „praktischen Toleranz" (Zeit und Welt, Nr. 17, 22. 1.1977). Anabolika standen zu diesem Zeitpunkt noch nicht explizit auf der Liste des Deutschen Sportbundes. Zudem verstärkt die gewählte Formulierung den Verdacht, dass die westdeutsche Sportmedizin auf eine Herauslösung der Anabolika aus den einschlägigen Dopinglisten hinarbeitete. Zeit und Welt, Nr. 17, 22.1.1977. L'Equipe, 28.10.1976.
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23 Alle nachfolgenden wörtlichen Zitate von Zeitzeugen aus Singler/Treutlein, Doping im Spitzensport, hier S. 203. 24 Ebenda, S. 197. 25 A. Mader, Anabolika im Hochleistungssport, in: Leistungssport 7, (1977) 2, S. 145. 26 Joseph Keul/M. Deus/W. Kindermann, Leistungsfähigkeit und Schädigungsmöglichkeit bei der Einnahme von Anabolika, in: Medizinische Klinik 71 (1976), 12, S. 497-503, S. 502. 27 Deutscher Bundestag, Stenographisches Protokoll über die Anhörung von Sachverständigen in der 6. Sitzung des Sportausschusses am Mittwoch, dem 28. September 1977, Bonn 1977, S. 109. 28 Ebenda. 29 Ebenda, S. 50. 30 Deutscher Bundestag (Hg.), Humanität im Spitzensport: öffentliche Anhörung des Sportausschusses des Deutschen Bundestages am 14. Oktober 1987, Bonn 1988, S. 91f. 31 Protokoll der Zeugenvernehmung durch das 1. Kommissariat Mainz am 15.5.1987 (Singler/Treutlein, Doping im Spitzensport, S. 287). 32 Zitiert nach der Eidesstattlichen Erklärung Armin Klümpers vom 26.10.1991 (liegt den Autoren vor). 33 Joseph Keul in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.3.1977. 34 Die Strafanzeige durch den Dopingrechtsexperten Dr. Joachim Linck richtete sich gegen Birgit Dresseis behandelnden Arzt Armin Klümper, der ihr auch Dopingmittel auf Kosten der Krankenkasse und damit zu Lasten der Solidargemeinschaft der Beitragszahler verschrieben hatte. 35 Einstellungsverfügung der Mainzer Staatsanwaltschaft vom 8.3.1989 (Singler/Treutlein, Doping im Spitzensport, S. 281). 36 Joseph Keul in: Süddeutsche Zeitung, 28.10.1991. 37 Deutscher Bundestag, Drucksache 12/1781 vom 11.12.1991, Bonn 1991, S. 1-11, S. 2f. 38 Ebenda; siehe auch Singler in: Süddeutsche Zeitung, 5.7.2001. 39 E. Jakob/R. HofFman/V. Fuchs/J. Stüwe-Schlobies/M. Donike/J. Keul, Testosteronapplikation und Leistungsfähigkeit bei Skilangläufern, in: Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin 39, Sonderheft (1988), S. 41-45. 40 Ebenda, S. 44. 41 Bundesinstitut für Sportwissenschaft, BISp-Jahrbuch 1985, Köln 1986, S. 265f. 42 Deutscher Bundestag, Humanität im Spitzensport, S. 91f. 43 Deutscher Bundestag, Humanität im Spitzensport, S. 93. 44 Zur Theorie der Techniken der Neutralisierung vgl. Gresham M. Sykes/David Matza, Techniken der Neutralisierung. Eine Theorie der Delinquenz, in: Fritz Sack/Rene König (Hg.), Kriminalsoziologie, Frankfurt 1968, S. 360-371. 45 Singler/Treutlein, Doping im Spitzensport, S. 253. 46 Siehe hierzu ebenda, S. 253 ff. 47 Zeitzeugenaussage (die Verschriftung liegt vor). 48 Alois Hahn, Rede- und Schweigeverbote, in: Kölner Zeitschrift flir Soziologie und Sozialpsychologie 43 (1991), S. 86-105, S. 88. 49 Singler/Treutlein, Doping im Spitzensport, S. 227 ff. 50 Zitiert nach dem Schreiben des Deutschen Leichtathletik-Verbandes „An die Athleten der DLV-Nationalmannschaft" vom 31.3.1977 (Singler/Treutlein, Doping im Spitzensport, S. 220).
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51 Diese Formulierung (ebenda, S. 221) ist in höchstem Maße irritierend, denn zu jenem Zeitpunkt war die Frage der Anabolikaverwendung für den Bereich der Leichtathletik seit fast sieben Jahren eindeutig in Form eines Verbots geklärt - auch wenn sich Präsident Kirsch davon immer wieder distanzierte. 52 Peter Holz (Red.), Spitzensportlerinnen und Spitzensportler der Bundesrepublik Deutschland 1986/87: ihre soziale Situation, Probleme, Motive und Einstellungen, Manuskript, 1988, S. 75. 53 Zeugenvernehmung Briegers vor der 3. Zivilkammer des Landgerichts Heidelberg am 13.11.1991 in der Streitsache Steinmetz/Berendonk, Aktzenzeichen 3 0 244/91. 54 Siehe hierzu Singler/Treutlein, Doping im Spitzensport, S. 197ff. und Singler/Treudein, Doping - von der Analyse zur Prävention, S. 21. 55 Interviewaussage (die Verschriftung des Interviews liegt vor). 56 Zeitzeugenaussage (die Verschriftung liegt vor). 57 V. Scarpino u.a., Evaluation of prevalence of „doping" among Italian athletes, in: Lancet London 336 (1990), S. 1048-1050.
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Entstehung und Funktionsweise des DDR-Zwangsdopings Doping in einem geschlossenen System und die Grenzen der biologischen Leistungsfähigkeit
Prolog aus dem Profi-Radsport Der Radrennfahrer Sinkewitz wurde in der Vorbereitung auf die Tour de France des Jahres 2007 positiv getestet. Laut Frankfiirter Allgemeine Zeitung schilderte er auch, „wie er den Missbrauch beging - ohne dabei jedoch auf mögliche Hintermänner oder auch auf seine Vergangenheit als Radrennfahrer einzugehen. ,Ich hatte mir Testogel besorgt, das von der Firma Jenapharm als Mittel zum Ausgleich von Testosterondefiziten angeboten wird. Es soll gerade bei harten Trainingseinheiten einer besseren Erholung dienen.'" 1 Haftet ein Hersteller für den Missbrauch seines Produkts? Wie verhält er sich, wenn Abusus oder Off-labeluse eines sich gut am Markt behauptenden Heilmittels die Regel wird? Die herausragende deutsche pharmazeutische Industrie kann sich zukünftig positionieren, auch in Zusammenarbeit mit kritischen Wissenschaftlern im Feld der Doping-Prävention.
1. Geschichtspolitische und methodologische Fragen Im Folgenden soll ein Uberblick über die verschiedenen Facetten einer Dopingentwicklung gegeben werden, die nach wie vor als das komplexeste Dopingsystem der Geschichte anzusehen ist. Auch eine Gewichtung des enormen zeitlichen Vorlaufs der verbundenen, totalitären Dopingforschung und -anwendung wird skizziert.2 Vieles kann aus Raumgründen nur angerissen werden, zur näheren Information stehen genügend leicht zugängliche Titel zur Verfügung. 3 Diese längeren Darstellungen gehen auf intensive Quellenstudien sowie eine Vielzahl von Zeitzeugenbefragungen zurück. In den letzten Jahren war es nämlich immer besser möglich geworden, von Doping-Geschädigten genauere, beispielsweise medizinische, Daten zur wissenschaftlichen Verwendung zu erlangen. So wurde
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unter anderem die Dokumentationsstudie „Wunden und Verwundungen"4 ermöglicht, die zum ersten Mal Gesundheitsdaten einer großen Gruppe erhebt und dadurch Aussagen über die schädlichen Nebenwirkungen von Dopingmitteln zulässt. Trends der Studie wurden zum ersten Mal anlässlich der Tagung vorgestellt. Die deutsche Anti-Doping-Diskussion ist jedoch von der Brisanz der Gefahrdung der öffentlichen Gesundheit noch gar nicht ausreichend erfasst worden. Sie ist auf Seiten des Gesetzgebers wie der Prävention immer noch sehr stark mit Ethik- und Kriminalitätsargumenten befasst. Die Gefahren des Dopings für die individuelle Gesundheit und die Sozialsysteme haben jedoch inzwischen eine Dimension erreicht, die an die Alkohol-, Rauschdrogen- und AIDSBekämpfung erinnern sollte. Das DDR-Doping taugt deshalb als doppeltes Studienobjekt: Seine Untersuchung ermöglicht die Erhellung der Funktionsweise hoch differenzierter organisierter Devianz gesellschaftlicher Subsysteme ebenso wie die Risikofolgenabschätzung regelhafter Abweichung von der sportlichen Fairness-Regel. Fehlt nämlich wie in der totalitären DDR die gleichzeitige Rückkopplung zum Gesundheitssystem, werden die aktiv oder ohne Wissen Gedopten erst am Ende ihrer Karriere auffällig: durch ihre Gesundheitsschäden. Deren anschließende Rückbindung an deviante Praktiken des Staatsdopings führt dann doch zur Bewertung der physio-psycho-sozialen Folgen dieser Menschenrechtsverletzungen.5 Über Zugänge epidemiologischen Zuschnitts kann das heute auch nachvollzogen werden, wobei auffallig ist, dass auch in der DDR, in der Doping im Sport gleichsam Pflicht war, in hohem Maß „zusätzlich", also nach individuellen Plänen von Trainern oder Ärzten, gedopt wurde. Vor 1990 stellten die Erzeugnisse des VEB Jenapharm trotz der vielen Zukäufe von Doping-Produkten und Vorläufersubstanzen im sogenannten kapitalistischen Ausland die Basis des so gefahrlichen wie betrügerischen Systems der „unterstützenden Mittel" dar, wie Doping intern bezeichnet wurde. Die folgenden Angaben zum VEB Jenapharm wurden aus bereits veröffentlichten Abhandlungen entnommen, um die Argumentation zur Verantwortung des damaligen Produzenten von missbrauchten Heilmitteln und für den Gebrauch am Menschen nicht zugelassener Substanzen der STS-Klasse („Steroid-TestSubstanz") pointiert vortragen zu können. Die laut Einführungsreferat von Prof. Dr. Lutz Niethammer (Jena) ergebnisoffen betriebene Forschungstätigkeit des vom heutigen Wirtschaftsunternehmen finanzierten Jenaer Projektes wird in ihrem Abschlussbericht vermutlich zu ähnlichen Ergebnissen kommen. Sollten sich Differenzen ergeben, wäre noch einmal und im Detail nach Verflechtungen und Verantwortung zu fragen. Auf diese Weise würde der Erkenntnisprozess in dieser sens'iblen Materie vorangetrieben, denn anschließend ist zu diskutieren,
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welche Interpretation den ausgewählten Quellen folgend Gültigkeit beanspruchen kann.6 Der Vorgang der Rekonstruktion ist von großer Bedeutung: Die Historikerzunft erinnert sich gut an Studien zur Rolle der deutschen Industrie in der NSZeit, wobei die unterschiedlichen Darstellungen zu einem großen Stuttgarter Autohersteller herausragen, die auf ihre Weise Geschichte geschrieben haben.7 Wenn auch im kollektiven Gedächtnis zum aktuellen Casus die noble Geste einer Spende an Dopinggeschädigte haften geblieben ist, so ist doch die Reaktion von Jenapharm und des Mutterkonzerns auf die öffentlichen Vorwürfe erst im Licht der Ergebnisse des Projekts zu bewerten: Als Leistung oder Fehlleistung deutscher Spitzenmanager, die cum grano salis heute vor ähnlichen Problemen stehen, wie der Prolog ausweist. Leserin und Leser sehen schon, dass der Zeithistoriker hier den Elfenbeinturm verlässt, denn es sind drängende Zeitfragen und soziale Probleme berührt, in die der große europäische Hormonproduzent Jenapharm nolens volens involviert ist. Die Bemerkungen zur Quellenkritik der MfS-Akten müssen hier nicht wiederholt werden.8 Auch gibt es inzwischen sogar presserechtliche Bewertungen der wissenschaftlichen Aufarbeitung wie ihrer Umsetzung in publizistische Ergebnisse durch deutsche Obergerichte, was Maßstäbe gesetzt hat.9 So gab es in der Zeitgeschichte durchaus nicht übliche Uberprüfungen wissenschaftlicher Forschungen durch ordentliche Gerichte. Im Fall der Klage der ehemaligen Verbandsärztin des DDR-Turnverbandes ergab sich beispielsweise: Beide Instanzen - Landgericht wie Kammergericht Berlin - gestatteten dem Verf. seine angegriffene Aussage zur Dopingverstrickung dieser Humanmedizinerin und ihrer Beteiligung an Menschenexperimenten. Nach den Regeln der Wissenschaft entstandene Feststellungen können selbst dann geäußert werden, wenn die Betroffenen den Wahrheitsgehalt in Abrede stellen. Das Kammergericht Berlin urteilte sogar (und erwartungsgemäß), es sei nicht zu erwarten, die Zeitzeugen würden in diesem Themenfeld objektiv antworten, weshalb sie nicht gehört werden müssten. 10 Im Urteil wurde festgehalten, dass die Klägerin, die Ärztin Dr. med. Gudrun Fröhner „[...] teilweise - wenn auch nach ihrem Vortrag aus medizinischen Gründen - Mittel verabreicht hat [sie], die in der Dopingliste aufgeführt seien." Ebenso habe ihre Prozessbevollmächtigte „eingeräumt", dass dabei „das in der ehemaligen DDR nicht zugelassene Mittel STS 646 gewesen sein könnte".11 „STS 646" wurde nach Quellenlage ausschließlich beim VEB Jenapharm hergestellt und vertrieben. Bevor auf Hinweise zur Verantwortung dieses VEB eingegangen wird, ist die historische Entwicklung des Dopingsystems der DDR zu betrachten.
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2. O D R - D o p i n g s t r u k t u r e n 1 9 6 3 - 1 9 9 0 Pointiert gesagt: Solange es vertrauliche schriftliche Quellen von Sportmedizinern fiir den Staatssicherheitsdienst gab, solange finden sich darin Reflexe auf Doping, beispielsweise der Fußball-Nationalmannschaft der 1960er Jahre in der Phase vor Einfuhrung der männlichen Sexualhormone.12 Medikamentenmissbrauch zur Leistungssteigerung war zwar prinzipiell kein Monopol der DDR, aber sie perfektionierte ihn durch Nutzung aller staatlichen Ressourcen und Verdeckung gegenüber den eigentlichen Produzenten der sportlichen Performance, den Athletinnen und Athleten. Die maßlose „Absicherung" des ungesetzlichen Geschehens durch den terroristischen Geheimdienst „Ministerium für Staatssicherheit" beeindruckt noch heute.13 In einem Prozess der Verbürokratisierung suchte die Sportführung eine Zentralisierung des Dopings durchzusetzen. Das gelang allerdings nur begrenzt, da es starke individuelle oder konkurrierende Organisations-Interessen gab. Idealtypisch kann das System im nebenstehenden Schema dargestellt werden.14 Die Dopingstrukturen im geheimen Sektor des DDR-Hochleistungssports waren sehr beständig und hatten von spätestens 1974 bis zum Ende der DDR Gültigkeit.15
Drei historische Phasen des DDR-Zwangsdopingsystems Anfangs kann eine präanabole Phase angenommen werden, die mit der Gründung des Sportmedizinischen Dienstes der DDR (SMD) ihren Aufschwung nahm. Die medikamentöse Basis bestand aus (häufig importierten) Aufputschmitteln wie Amphetaminen. Sie hatten den Vorteil leichter Zugänglichkeit und schnellster Wirkung, selbst wenn sie nur vor oder während des Wettkampfs eingenommen wurden; allerdings waren und sind diese Mittel sehr stark suchterzeugend und finden sich deshalb unter den Betäubungsmitteln der Industriestaaten - der Besitz ist in Deutschland strafbar.16 Es folgte eine (zunächst dezentrale) anabole Phase·. Sie wurde 1964 durch den Leipziger Sportwissenschaftler und späteren Leiter des dortigen, für Dopingforschung hauptverantwortlichen Forschungsinstituts für Körperkultur und Sport (FKS), Dr. paed. Hans Schuster, eingeleitet. Nachdem der zivile Sport seiner Initiative zur Verwendung anaboler Steroide nicht gefolgt war, war Schuster in seiner Funktion als Inoffizieller Mitarbeiter des MfS mit dem Decknamen GMS „HANS" an den Minister für Staatssicherheit Erich Mielke herangetreten, den er laut Akten für das neuartige Hormondoping interessieren konnte. Es folgte die Erprobung der Steroide (Testosteron in reiner Form sowie dessen Derivate, die
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Sportminister Erbach Dienstaufsicht und Mitwirkung
Sportzuständiger Sekretlr des ZK der SED Beauftragung und Kontrolle
Manfred Ewald (DTSB/SED) Gesamtverantwortung und Entscheidungsbefugnis in allen Dopingfragen Ewald (DTSB) - Hippner (SMD) - Lehnert (FKS) bestimmen "RICHTLINIE U M " füir 4 Jahre und genehmigen "ANWENDUNGS-
ΚΟΝΖΕΡΠΟΝΕΝ" der DTSB-Verbände für 1 Jahr nach Vorarbeiten von DTSB und Sportmedizin für alle Sportclubs nach gleichen Regeln: Beschaffung und Finanzierung der Mittel durch Sportminister und zugehörigen SMD der DDR - LSK der DDR (ASK und SVD kennen über eigenen Apotheken weitere Dopingmittel ohne zentrale Kenntnis und Genehmigung beschaffen und anwenden).
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HBppner (SMD)-Lehnert (FKS) Verbandslrzte Verbandstrainer verfassen alle 4 Jahre die "Richtlinie UM" und erarbeiten jährlich die "Anwendanglkonzeptionen" der DTSB-Verbände für 1 Jahr
Buggel (SKS>-Akademie der Wissensch. -Fachminister Pro-Doping-Forschung und Produktion von nicht als Medikament zugelassenen Stoffen mit nachgewiesener Wirksamkeit (illegale Medikamente).
Höppner (SMD) übergibt in Berlin gegen Quittung zugelassene und ungesetzliche Präparate an Verbandsärzte oder Vertreter diese transportieren Mittel und Namenslisten mit Dosierungsanweisung persönlich in die Sportärztlichen Hauptberatungsstellen. M Abteilungsleiter Leistungssport" als Stellvertreter des SHB-Leiters Übergeben "UM" und Dosierungsanweisungen an die rund 200 in den Sportclubs eingesetzten "Sektionsärzte" diese übergeben sie im Sportclub dem "Trainer" Beide legen gemeinsam die Dosierung für die einzelnen Sportler fest und überprüfen nach jedem "Zyklus" Wirkungen und Gesundheitszustand.
Sportier erhielten ohne spezifische Aufklärung über Wirkungsweise, Risiken und Nebenwirkungen zugelassene und ungesetzliche Präparate "aus der Hand" der Trainer oder Sektionsärzte (Spritzen) Fragen zu Dopingmitteln waren nicht erwünscht und führten zur Ausdelegierung. Nur dort, wo Mitwirkung ein Sachzwang war, gab es Teil- oder Ganzinformation der Opfer. Dies war mit "Schweigeerklärungen" verbunden. Bei Menschenexperimenten Verletzung einschlägiger Vorschriften (Aufklärung, Einverständnis, Mindestalter). Lebensweit Einerseits: Die Sportler/innen hatten viele Anlässe, die Verwendung von Dopingmitteln anzunehmen. Bei konkreten Fragen gab es negative Auswirkungen, die Anpassung erzwangen. Andererseits: Kinder und Jugendliche fühlten sich durch Aufnahme in den Kreis derjenigen, die die "Blauen" (Turinabol) erhielten, eÄöht und in der Leistung bestätigt.
Das Zwangsdopingsystem
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fur Muskelaufbau und Vermännlichung verantwortlichen anabol-androgenen Steroide) in der von Mielke seit Gründung präsidierten Sportvereinigung „Dynamo". Diese Sportorganisation von Stasi, Polizei und Zoll verfolgte Separatinteressen und zeigte zumindest auf nationaler Ebene unbedingtes Dominanzstreben. 17 Die praktische Erprobung erfolgte unter Leitung des Zivilangestellten des Staatssicherheitsdienstes Dr. med. Heinz Wuschech. Spätestens 1968 kam es im ganzen Hochleistungsbereich des Deutschen Turn- und Sportbundes D T S B aufgrund des nachgewiesenen Erfolges zur lawinenartig zunehmenden Verbreitung sowohl im Winter- als auch im stärker beachteten olympischen Sommersport. Die sportpolitischen und wissenschaftlichen Zentralen bemühten sich um verbindliche Rahmenrichtlinien, was lediglich der Effektivität sportlichen Trainings geschuldet war, nicht etwa gesundheitlichen Bedenken oder etatistischen Gedanken einer irgendwie gearteten sozialistischen Sparsamkeit hinsichtlich der für den überbordenden „Leistungssport" nötigen, explodierenden Kosten. Als bei besonders wichtigen Wettkämpfen unabhängige Dopingkontrollen fur erstplatzierte Sportlerinnen und Sportler drohten, begann um 1974, nachdem die Steroide zunächst geächtet und spätestens 1974 disziplinübergreifend sogar verboten waren, die zentrale anabole Phase. Durch eine Zentralisierung von Einkauf, Distribution, Anwendung, Vergabe und „Forschung" sollten auf der Vorderbühne geordnete Verhältnisse entstehen, die die zu befürchtende Detektion bei internationalen Wettkämpfen vermeiden sollten. Auf der Hinterbühne ereignete sich jedoch eine weitere Schlacht in der unerbittlich ausgetragenen Auseinandersetzung zwischen Diplom-Sportlehrer, NOK-, D T S B-Chef und ZK-Mitglied Manfred Ewald, ehemaliger HJ-Streifenfuhrer und vermutlich ranghöchster Ex-Nazi in der DDR-Regierung 18 , und seinem Konkurrenten Mielke. Die medikamentöse Basis waren zwar weiterhin anabole Steroide, Testosteron sowie Ostrogen im Frauenbereich (Missbrauch der Antikonzeptivafiir Dopingzwecke). Gleichzeitig gab es jedoch eine weltweit wohl einzigartige Suchforschung nach zusätzlichen Dopingmitteln, an der der VEB Jenapharm nach Aktenlage aufgrund seiner Kompetenz in Forschung und Produktion im Bereich der Hormonprodukte entscheidenden Anteil hatte. 19 Auch das Abrechnungskonto im „Komplex 08", das so bekannt gewordene „Staatsplanthema 14.25", versammelte diese Dopingforschungsvorhaben (nur ein verschwindend kleiner Teil betraf beispielsweise die Ernährung). Die postanabole Phase wurde in Antizipation der seit 1976 als Reaktion besonders auf die mit „normalem" Training nicht erklärbare Prädominanz von D D R Aktiven entwickelten, unangemeldeten Trainingskontrollen eingeleitet. Der Sinn dieser Trainingskontrollen bestand darin, jede Anabolika-Anwendung in der Phase des Leistungsaufbaus zwischen Wettkämpfen durch unangemeldetes
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Erscheinen der Kontrolleure zu verhindern bzw. zu entdecken. Diese mit der Antizipation des nun auch auf dem Boden der DDR drohenden unangemeldeten Trainingskontrollsystems eingeleitete postanabole DDR-Periode sollte eigentlich die leicht nachweisbaren Anabolika und Aufputschmittel ablösen. Der mögliche erzwungene Verzicht auf die „bewährten" Anabolika sollte neue Praktiken erbringen. Mit der nun einsetzenden Suche nach neuen, „alternativen" Betrugsmöglichkeiten hatte gerade der VEB Jenapharm erneut besondere Bedeutung erhalten, wie beispielsweise die erhalten gebliebenen Unterlagen in der IM-Akte von Prof. Michael Oi/fe/belegen.20 Triebkraft des geplanten Ersatzes der Anabolika war jedoch eindeutig nicht der Gesundheitsschutz, sondern die Vermeidung der Detektion durch verbesserte Kontrollen. Neue Dopingmittel, besonders Psychopharmaka, aber beispielsweise auch exogen zugefuhrte Opiate sollten Verwendung finden. Anabole Niedrigdosierung in Kombination mit Eiweißkonzentraten (Prä-Kreatin) sollten die „bewährten" Steroid-Rezepte ersetzen. Weiter wurden Dopingformen wie das primäre Blutdoping angedacht. Der Einsatz von Plasma-Expandern der Notfallmedizin wurde 1986 geprüft, um die Sauerstoff-Versorgung des Blutes zu verbessern, was eine Form des verbotenen Blutdopings darstellt.21 Wachstumshormone wurden erstmal 1983 im Radsport nachgewiesen. Interessanterweise scheiterte das ursprünglich als Alternative zu Anabolika angelegte Hypoxietraining (Training in sauerstoffarmer Luft) an den mangelnden materiellen Ressourcen. Es sollten beispielsweise 1982 „[...] in der Perspektive auch die Probleme der Kopplung UM-Einsatz und Hypoxie [U-Halle] verstärkt Beachtung finden". Hier beständen „Reserven" gegenüber Langstrecklern aus Äthiopien.22 Es ist müßig, darüber zu entscheiden, ob diese Reaktion auf verbesserte Kontrollen der einzige Grund für solche geheimen Diskurse in der Pro-Doping-Forschungspolitik war oder ob dasfaktische Erreichen der Grenzen der biologischen Leistungsfähigkeit des Menschen durch die m. E. letztlich inhumanen Trainingspraktiken das Screening nach neuen Dopingpräparaten und -methoden befeuerte. Wie sehr die Abflachung der individuellen und kollektiven Wachstumskurven von Sportergebnissen nun zum Tragen kam, zeigen zwei Schlaglichter. Sportpolitisch ist zu zeigen: In Seoul 1988 erreichte die gesamte DDR-Nationalmannschaft gerade einmal so viele Medaillen, wie allein der Mannschaftsteil der Dynamosportler ursprünglich fur sich allein geplant hatte. Trainingsmethodisch hingegen zeigt sich die Endlichkeit dieser Drogenpolitik im Sport daran, dass in den 1980er Jahren im Schwimmen das ursprünglich gebannte Amphetamin im Trainingseinsatz wieder verwendet wurde. Für Kenner der Materie wahrlich ein Menetekel. In einem Exkurs soll der Wichtigkeit wegen gezeigt werden, dass das ungehinderte Leistungswachstum wegen der Bedrohung durch unangemeldete, buch-
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stäblich überraschende Trainingskontrollen auf DDR-Boden seit 1988 begrenzt werden musste. Der erste und überraschende Test durch den bundesdeutschen Kontrolleur Peter führte zu konspirativer, hektischer Verbringung der Aktiven an andere Orte - Peter konnte keine Spitzensportler im Frankfurter Club finden. Trotzdem wurde der Verlauf der unangemeldeten Trainingskontrollen geheim fur äußerst bedrohlich gehalten, wie ein IM einschätzte, „zumal die Gefahr besteht, dass eine nochmalige unangemeldete Kontrolle durch die internationale Gewichtheberfbderation erfolgt, die für die D D R katastrophale Auswirkungen hätten, weil dann bei allen Kadern die Überprüfungs-Ergebnisse positiv wären." 23 Um das Risiko der Entdeckung zu minimieren, wurde die Zahl der Dopingprogramme 1988/89 daraufhin auf das aus DDR-Sicht unbedingt Notwendige vermindert, auf etwa ein Drittel. Zugleich sanken die Dosierungen, jedenfalls auf der Normebene der zentralen Steuerungsversuche (individuelle Devianz von Trainern und Ärzten war nun einmal ein Dauerproblem im Subsystem Sport, erklärt allerdings nur einen Teil der Prävalenz des Zwangsdopings). Immerhin - dieser Befund ist für die Verhältnis-Prävention (also die Schaffung von dopingbehindernden institutionellen Bedingungen) wichtig, denn das historische Exempel zeigt: Angesichts der Gefahr des Ausschlusses aus dem Weltsport beeinflussen unangemeldete Trainingskontrollen auch geschlossene, totalitäre Systeme. Dies ist immerhin ein hoffnungsvoller Ausblick, der sich aus der Analyse des so abgründigen und devianten DDR-Hochleistungssportsystems ergibt. Eine verbesserte Analytik, sprich effektivere Dopingkontrollen hätten allein bei den Olympischen Sommerspielen 1980 zur Aberkennung von 38 D D R Medaillen gefuhrt, davon 20 Goldene (annähernd 10 % aller j e für die D D R gewonnenen Medaillen). Erst heute kann die Wirkungsweise der geheimen DDR-Sportmedizin analysiert werden. Dabei kam es zu vielen Entgrenzungen hinsichtlich der persönlichen Verantwortung. Neuartige Pro-Dopingethiken lassen sich feststellen, die zugleich eine Versuchung für die Gegenwart darstellen dürften. Sie bot dem anpassungsbereiten Arzt oder der Ärztin, die das „Nil nocere" im SED-Auftrag relativieren mochten, Argumente, indem sie nicht weniger als fünf klinische Indikationen für Anabolika-„Gabe" benannte. Dazu gehörte zum Beispiel der Morbus „Scheuermann" mit einer Prävalenz von etwa 18% der Sportler. Die geheime DDR-Sportmedizin erfand jedoch noch eine weitere Indikation für den Einsatz von Dopingmitteln: den Leistungssport als solchen. Neben der Indikation „Leistungssport" gab es auch das Konstrukt „sportbedingte Morbidität": Dies sei „[...] ein Zustand, der außerhalb des Leistungssports als Krankheit oder Schädigung verstanden wird, im L S [Leistungssport] aber normal ist". 24
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Sieht man solche Argumentationen, so wundert es nicht, dass die DDRSportmedizin als Teil des Sportministeriums vom allgemeinen Gesundheitswesen streng abgekoppelt war. So wurde staatlicherseits verhindert, dass das differenzierte Gesundheitswesen Kenntnis von den Zuständen im Sport bekam und diesen kruden Theorien widersprechen konnte. Umgekehrt zeugt es von der ethisch-moralischen Substanz des Humanmediziners und der Humanmedizinerin, dass in den 1980er Jahren jährlich fast 10% des Personals im SMD den Dienst quittierten und Privilegien Privilegien sein ließen, angesichts der materiellen Versuchungen der aktiven oder duldenden Dopingmitwirkung ein bemerkenswerter Befund.
Besonderheiten des DDR-Dopingsystems Im Regelfall erfolgte das Zwangsdoping lediglich aufgrund der Kaderzugehörigkeit. Alle ausgewählten Aktiven einer Dopingsportart wurden gedopt - eine Verweigerung war nicht möglich. Mitwissen und Mitwirken der Aktiven war die Ausnahme, allein schon wegen des niedrigen Einstiegsalters und des Elternsowie des Strafrechts. Zwangsdoping stand andererseits unter staatlicher Aufsicht; Dopingpraktiken waren faktisch juristisch freigegeben; neben die Selbststeuerung durch den Sport trat die Überwachung durch den Geheimdienst. Zentrale Doping-Richtlinien und -Pläne der Sportverbände regelten die Dosierung für den einzelnen Athleten. Geheimdienst und Streitkräfte sowie eine politische Partei (SED) ermöglichten jenseits zentraler Normen die zusätzliche Versorgung mit Dopingmitteln; sie entwickelten und finanzierten eigene Praktiken (mithin gab es drei Wege der Versorgung). Ein erheblicher Anteil der Dopingmittel bestand aus illegalen Experimentiersubstanzen (geschätzt 25%) mit nicht geklärten Nebenwirkungen und Spätfolgen, was auf eine weitere zentrale Fragestellung hinsichtlich der Verantwortung der Pharmaindustrie verweist. Auf diese Weise hatten DDR-Athleten wegen des Doping-Beginns mit Erreichen des Schwellenwerts im Juniorenalter (in Turnen und Eiskunstlauf, Gewichtheben und Schwimmen seit dem Kindesalter) eine vergleichsweise lange Dopingkarriere vor sich.
Doping im Freizeit- und Breitensport Um im allgemeinen Thema des Workshops zu bleiben, muss bereits an dieser Stelle ergänzt werden: Heute setzt sich erst langsam die Erkenntnis durch, dass
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Doping nicht nur ein Problem des Hochleistungssports ist. Es diffundiert seit Jahrzehnten in den Breitensport (Sandro Donati, Rom: „The silent drama"), wird zu einem globalen Wirtschafts- und Kriminalitätsfaktor und bedroht seit längerem auch die Jugendkultur. Auch werden die nächsten Jahre zeigen, ob der Markt vom organisierten Drogenhandel kontrolliert werden wird oder ob es überhaupt noch eigenständige Vertriebswege des Sportdopings geben wird. Daten aus Italien legen nahe, dass bestehende Netzwerke die Kontrolle übernehmen werden, zumal die im Vergleich zum Drogenhandel weniger strafbewehrten Anti-Doping-Gesetze den Handel immer noch vergleichsweise risikoarm machen.25 In der DDR ist dieser Diffusionsprozess ebenfalls feststellbar, sogar vergleichsweise früh, was auf die extreme Dopingpräsenz im Hochleistungssport zurückzuführen ist. Besonders im Bereich der „Körperkulturistik", so bezeichnete die klassenkämpferische und abgrenzungsbemühte DDR-Begrifflichkeit das Bodybuilding im Sozialismus, wurden Anabolika verwendet. Doping diffundierte in andere Bereiche des DDR-Sports, wie im Tauchsportverband der Gesellschaft für Sport und Technik. Die Vertriebswege waren nach Stasi- und Zeitzeugen-Berichten hauptsächlich: Kriminelle Trainer, die durch Trainingsausfall ungenutzte Tabletten erkrankter Sportler verkauften, bedenkenlose oder korrupte Arzte und Apotheker. Unsubstantiiert wird durch die Stasi sogar von Todesfällen im Ost-Berliner Bodybuilding berichtet.26 Welche Rolle der VEB Jenapharm im Breitensport spielte, ist bislang nicht zu erhellen. Dass Drogen fiir den Freizeit- und Erholungssport in DDR-Bezirken abgefordert wurden, diente wohl mehr der Tarnung des illegalen Gebrauchs außerhalb der Norm im Hochleistungssport. Die auch in offenen Gesellschaften durch Gesetzesbrecher mögliche Beschaffung von Dopingdrogen durch falsche Rezeptierung (Arzte) oder Verkauf (Apothekennetz; Pharmaindustrie und -distribution) spielte im Breitensport nach Quellenlage vermutlich eine dominierende Rolle.
3. Industrielle Produktion und In-Verkehr-Bringen: VEB Jenapharm Aus Raumgründen sollen hier nur exemplarisch Beziehungen zwischen dem VEB Jenapharm und dem Sport sowie dem Staatssicherheitsdienst herausgearbeitet werden 27 Schließlich liegt hier eine Kernaufgabe des Projektes, das von der heutigen Jenapharm GmbH & Co. KG an die Universität Jena vergeben wurde. Den Ergebnissen soll nicht vorgegriffen werden. Wie mittlerweile allerdings nicht mehr bezweifelt wird, wurden die meisten zu Dopingzwecken
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genutzten Präparate durch den VEB Jenapharm bzw. das Pharmazeutische Kombinat GERMED Dresden hergestellt. Sowohl systematischer und riskanter Off-label-use mit zugelassenen Heilmitteln als auch Menschen-Experimente mit nicht zugelassenen Stoffen wurden dadurch möglich. MR Dr. med. Manfred Höppnerlzitete den mit Doping befassten SMD-Bereich „Leistungssport II" und führte die der Leistungssportkommission zugehörige „Zentrale Arbeitsgruppe .Unterstützende Mittel'". Höppner, 2000 wegen Beihilfe zur Körperverletzung zu einer hohen Bewährungsstrafe verurteilt, war zugleich fur den Staatssicherheitsdienst als IM „TECHNIK" aktiv. Seine Berichte an die Stasi erhellen viele Strukturen des Dopings in der DDR. So genannte (und unverzichtbare) „Kooperationspartner" wurden im Apparat in Verantwortung des Sportministers (diesen Rang hatte das selbständige „Staatssekretariat für Körperkultur und Sport" SKS unter Prof. Dr. paed. Günter Erbach auf europäischer Ebene nun einmal) und in Abstimmung mit der „Leistungssportkommission der DDR" eingeworben (die „LSK" wurde von Manfred Ewaldbis zu seiner Entmachtung durch die Stasi gefuhrt). Zu nennen ist besonders das „Zentralinstitut für Mikrobiologie und experimentelle Therapie" (ZIMET) Jena. Es wurde nach der Wende bis 1994 von Prof. Dr. Michael Oettel geleitet, der laut Aktenlage 1979-1981 Forschungsdirektor bei Jenapharm, 19821989 Forschungsdirektor beim Kombinat GERMED/Stammbetrieb Arzneimittelwerk Dresden und zugleich IM „WOLFGANG MARTINSOHN" sowie HVA-Helfer war. Der Leiter des „Zentralen Gutachterausschusses" (ZGA) drängte hingegen auf gesetzliche Verfahren, da viele Dopingmittel gar nicht für den Gebrauch am Menschen zugelassen waren. Das STS 646 ragt hier heraus. Es wurde mit Unterstützung des Sport-Staatssekretariats benutzt und weiter von Jenapharm in Verkehr gebracht.28 Gab es ernsthafte Störgrößen im Produktionsbereich? In der zwielichtigen STS-646-Episode mag Verf. dem mit der Stasi kooperierenden Akteur Dr. med. Hartwich alias IM „KLINNER" in der Diskussion der Quellen und der eigenartigen Konstellationen skrupulöse Motive nicht zuweisen. Im wichtigen - häufig übersehenen - Bereich der Pharmaproduktion in Jena ist auf „Tamoxifen" abzuheben. Der Punkt der „Nachentwicklung" von Tamoxifen erscheint unter „F/E - .Komplex 08'" in einem Treffbericht desselben IMS „KLINNER", der doch zeitweise die Weitergabe von STS 646 an den Sport blockieren wollte: Die Nachentwicklung von Tamoxifen wurde nach Uberzeugung des Verfassers eben nicht zur Krebsbehandlung der Frau vorgenommen, sondern sollte der Dopingfolgenverhinderung (Bildung von Krebsgeschwülsten in den degenerierten, weiblich erscheinenden Brüsten der „starken Männer") beim männlichen Hochleistungssportler dienen. Das teure und aggressive Präparat, das aus dem Westen sowie
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unter dem Namen „Novaldex" aus Ungarn bezogen wurde, ist demnach als Teil des DDR-Dopings im Männer-Bereich zu verstehen. Dr. Hartwich, zunächst ehrenamtlicher Agent der Hauptverwaltung „Aufklärung" (HVA) und danach IMS „ K L I N N E R " der Bezirksverwaltung Gera des MfS, war seit 1980 im Hauptberuf Abteilungsleiter für Klinische Forschung beim VEB Jenapharm. Damit war Hartwich auch für den „Komplex 08" - „Staatsplanthema 14.25" zuständig. Der Stasi-Treffbericht vom 6. November 1987 dokumentiert beispielsweise zwei Verbindungen zwischen Sport und Jenapharm: „2 Steroide befinden sich noch in der Prüfung, dürfen nicht vorher an Sportler verabreicht werden [...] Versuche werden zur Testung gegenwärtig im Hinblick auf Olympiade gezielt durchgeführt" 29 . Gegenüber dem Plan scheint es auch Störgrößen gegeben zu haben: So haben wir an zusätzliche Dopingmittelversorgung am Beispiel Jena zu denken. Geheimdienst und Streitkräfte sowie eine politische Partei (SED) ermöglichten jenseits zentraler Normen die zusätzliche Versorgung mit Dopingmitteln; sie entwickelten und finanzierten dabei eigene Praktiken (drei Wege der Dopingmittel-Versorgung). Laut Stasi-Berichten soll es zunehmend eine Abgabe von Dopingsubstanzen an SED-Vertreter aus den Bezirken gegen haben. Im Boxen tauchte sogar Epi-Testosteron auf, obwohl es dort nicht angewandt werden sollte. Als Quelle für illegale Weitergabe wurde vom Staatssicherheitsdienst Jenapharm selbst ermittelt. Aber auch Berichte über Doping-Experimente in einer Trainingsgruppe um eine herausragende Werferin sind erhalten, bei denen die örtliche S E D finanziell half. 30 Besonderheiten aus dem Bereich der Pharmaindustrie sollen wiederum exemplarisch angeführt werden. So geriet der bereits genannte Prof. Michael Oettel, IMS „ W O L F G A N G M A R T I N S O H N " und HVA-Gutachter der Pharmaindustrie, in den Fokus amtlicher Diskurse des Staatssekretariats für Körperkultur und Sport. Gerade in Sicherheitsfragen waren dienstliche Mitteilungen auf der jeweiligen Stufe des Geheimnisschutzes zu behandeln; hier war es eine Doping-Angelegenheit, die vom FKS-Leiter Prof. Hans Schuster als „Vertrauliche Dienstsache" (VD) an den stellvertretenden Sport-Staatssekretär Prof. Dr. Edelfrid Buggel gemeldet wurde. Oettel habe bei einem Symposium in Weimar Anfang Oktober 1984 gefragt: „Welche Möglichkeiten bestehen, um den Virilisierungserscheinungen bei Sportlerinnen unter Anabolikagabe mittels Antiestrogenen entgegenzuwirken? Diese Frage wurde von ihm sofort zurückgenommen". 31 Der berichtende FKS-Direktor Schuster kritisierte gegenüber Buggel: Dies sei „[...] kein der Geheimhaltung von Problemen im Staatsplanthema 14.25 dienendes Verhalten". Laut Quelle wurde das Symposium vom Z I M E T Jena ausgerichtet. Zu Gast seien unter anderem Teilnehmer aus den USA sowie der
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Bundesrepublik Deutschland gewesen. Dies unterstreicht die Brisanz der sicherlich verräterischen Frage. Andere Besonderheiten der DDR-Pharmaindustrie sind bei demselben Prof. Oettel auszumachen, der laut Akten eine zentrale Position im Bereich des Dopings bzw. im „Staatsplanthema 14.25" hatte. So zeigen handgeschriebene Pläne Daten zur Produktion u.a. der STS 646 und anderer illegaler (nicht klinisch getesteter) Anabolika. 32
4. D D R - Z w a n g s d o p i n g und F o l g e - S c h ä d e n
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Rückkoppelungseffekte vs. Systemeffektivität D o p i n g - N e b e n w i r k u n g e n w a r e n im S y s t e m b e k a n n t
Gleichsam von der ersten Stunde an waren Nebenwirkungen erkennbar. D a deren Bekanntwerden im politischen System längerfristig sicher zu einem Verbot des Dopings geführt hätte oder zumindest in seinen Folgen nicht abschätzbar war, blieben kurzfristige wie lang dauernde Schäden außerhalb des Fokus des institutionalisierten Umgangs. Dieser Mangel an ethischen Orientierungen ist kennzeichnend für das DDR-Staatsdoping. Interne oder individuelle Opposition erstickte, wie sogar der Fall des FKS-Direktors Schuster zeigt. Er, der Begründer des Anabolika-Dopings, sprach nach vorübergehenden Skrupeln 1985 von Doping als der „Reserve der 80er Jahre". 33 Die Typen der zeitweise aufscheinenden Skrupel sind folgendermaßen zu interpretieren: Trainer, Wissenschaftler oder Mediziner schreckten aufgrund von Erfahrungen zurück. Die Inoffiziellen Mitarbeiter des MfS „zur politisch-operativen Durchdringung und Sicherung" unter ihnen nahmen in einigen wenigen Fallen Kontakt zu den Führungsoffizieren auf. Nichtverstrickte äußerten ihre Kritik in geheimen Zirkeln, allerdings in informeller Weise. Ein offener Antrag über die Gefährlichkeit des Dopings war theoretisch nicht möglich, denn wie alles im Staats-Sozialismus war j a auch das Modell des DDR-Dopings, sprich der zentral organisierte Einsatz „Unterstützender Mittel", angeblich wissenschaftlich fundiert und durch die SED-Politik kontrolliert. Musterhaft erscheint, dass Prof. Dr. med. Siegfried Israel', selbst einmal Anhänger des institutionalisierten Dopings, in seinen Gutachten zu „UM" zu einem bestätigenden Ergebnis kam. Wer allerdings darin geübt ist, Texte zu interpretieren, namentlich aus der Produktion in totalitären Systemen, kann an mehreren Punkten Ablehnung herauslesen. 34 Die Folgen individueller Formen der Ablehnung des Dopings konnten nur sein: Abschaffung des Dopings an sich, Dosiserniedrigung oder Ignorieren der
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Information bei den Gesprächspartnern im Staatssicherheitsdienst, bei der SED, in der Sportorganisation oder der Wissenschaftseinrichtung. Die starke Abwehr gegen solche Art von Kritik am Doping ist leicht erklärbar: Am naheliegendsten war, dass das Strafrecht drohte, falls Vorwürfe laut würden. Dazu kam, dass der hochspezialisierte Arbeitsplatz an sich oder die Gratifikation gefährdet wäre, wenn Doping untersagt würde. Es ist sogar einzuwenden, dass die hauptberuflich am Doping Beteiligten möglicherweise ihre Chancen gefährdet sahen, einen alternativen Arbeitsplatz auszufüllen, der nicht mit der bequemen Drogenvergabe an unwissende Sportler verbunden war, sondern Transparenz bei der Kontrolle der beruflichen Tätigkeit der Trainer, Mediziner und Wissenschaftler bedeutete. Hätte es jedoch halbwegs ernsthafte, institutionalisierte Rückkoppelungseffekte hinsichtlich der Folge-Schäden des DDR-Zwangsdopings gegeben - die angebliche SystemefFektivität wäre obsolet gewesen, ebenso wie die ideologische Grundlegung humanistischen Handelns auch im „Leistungssport" einen Kurswechsel erzwungen hätte. Die Angst der Täter vor Verfolgung wegen der Schäden und Rechtsverstöße ist denn auch in vielen Quellen spürbar. In diesem Feld ist übrigens einmal mehr die in Wirklichkeit dominierende Rolle der Stasi deudich: Der Auftrag der Verdeckung wurde ausgefüllt durch (wie immer sehr kostenintensive) Verheimlichung der Dopingkosten wie der -Schäden. Noch 1990 schützte das System sein Doping gegen Kritiker: Systemimmanenter Widerstand blieb erfolglos, als der Sportarzt von Zinnowitz die unnatürliche Leistungssteigerung durch schnelle und billige Mittel wie das JenapharmProdukt Oral-Turinabol beschrieb. Das Schriftstück war bei Ministerpräsident Dr. Hans Modrxrw aufgelaufen, der jedoch aus seiner Zeit in Dresden, wo das Dopinglabor der DDR stand, Mitwisser des konspirativen Systems gewesen sein dürfte. Der mit der Klärung beauftragte Dr. Buggel klärte den Fall nicht auf. Hier hätten „Glasnost" und „Perestroika" einmal in der DDR greifen können. Aber die neue Regierung ignorierte ihre Opfer, indem der Bock zum Gärtner gemacht wurde: Buggel war in seiner Funktion engstens mit der Erforschung und Anleitung des Dopings verbunden. Er hat sich nicht beim Generalstaatsanwalt der DDR angezeigt (und sich nach 1990 in Zusammenarbeit mit Göttinger Sportwissenschaftlern um Prof. Dr. Arnd Krüger und Dr. Wolfgang Btiss mit der Erforschung des Breitensports in der DDR befasst35).
Mit dem Z w a n g s d o p i n g einhergehende S c h ä d e n
In einer im Auftrag der „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur" durchgeführten zweijährigen Studie konnten direkte organische, psychische und soziale
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Schäden dokumentiert werden. Die geschichtete Stichprobe36 ist als leistungsstark anzusehen: Gut jeder vierte Geschädigte war Olympiakandidat oder Olympiateilnehmer mit oder ohne Medaillengewinn. Fast zwei Drittel waren Teilnehmer an .Jugendwettkämpfen der Freundschaft". Hier soll nur eine kurze Auswahl von Schäden erfolgen. 52 Sportler wurden interviewt, davon waren 24 weiblichen Geschlechts. Der Medianwert für das Alter der ersten Vergabe an die 52 Geschädigten, die jeweils ohne Wissen und Information Dopingmittel erhielten, liegt in der Gruppe 14 bis 15 Jahre. Kein Aktiver wurde erstmals mit 18 gedopt. Neben den primären Dopingschäden für Organe usw. gibt es sekundäre, die als vorzeitiger Verschleiß des Bewegungsapparates durch künstliche Überlastung verstanden werden sollen. Daneben gab es Nebenwirkungen auf die Keimbahn: Behinderungen der Kinder Gedopter. Funktionsstörungen mit beruflichen Einschränkungen im Bewegungsapparat gab es im Stehen bei 27 von 52 Gesprächspartnern. Die Zahlen für das Heben lauten 26, für Laufen 25, Tragen 21, Gehen 19 und Sitzen 8. Psychische Probleme haben weiter mehr als die Hälfte der Befragten (32). Gut ein Drittel der Gruppe ist außerdem gefährdet, Selbstschädigung bis hin zum Suizid zu begehen. Unter Krebserkrankungen leiden oder haben 13 Sportler gelitten, jeder vierte in der Stichprobe. Kreislauferkrankungen liegen bei 18 Sportlern, also mehr als einem Drittel, vor, direkte Herzerkrankungen bei 12 Gesprächspartnern, also fast bei jedem Vierten. Bei 9 Befragten sind Lebererkrankungen entstanden, die letztlich tödlich wirken können. Erkrankungen des Magens (8), der Lunge (7), Allergien (6) und Hauterkrankungen (6) sowie Anfallsleiden (5) und Darmkrankheiten (5), ferner Thrombosen (5) treten ebenfalls gehäuft auf. Geschlechtsspezifische Unterschiede treten hinzu. Die geschlechtliche Identität bzw. das Selbstbild der Sportlerinnen und Sportler mit andersgeschlechtlich wirkender äußerer Erscheinung wurde erheblich beeinträchtigt. Unter gynäkologischen Erkrankungen litt jede zweite Frau. Von Bulimie war etwa jede vierte Frau betroffen. An Virilisierungserscheinungen litten 10 Frauen. Andrologische Erkrankungen gab es bei 8 Männern. Gynäkomastie, also Herausbildung einer weiblichen Brust beim Mann, wurde bei 3 Gesprächspartnern festgestellt. Dem epidemiologischen Ansatz folgend ist der parallel erhobene Gesundheitsstatus von Geschwistern und Eltern von sehr hoher Aussagekraft. Bei Geschwistern, die keinen Hochleistungssport betrieben haben, sind die genannten Erkrankungen mehrheitlich nicht auffindbar (nein: 42, ja: 8). Die Schädigungen dürften also auf den Hochleistungssport unter Dopingbedingungen zurückgehen.37
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In ähnlicher Weise kann eine Auswahl von Schäden der 69 überlebenden leiblichen Kinder geschädigter Sportler vorgenommen werden. Die perinatale Sterblichkeit kann so beschrieben werden: 6 von 42 dopinggeschädigten Eltern hatten zusammen 15 Fehlgeburten. Dies ist ein Vielfaches mehr, als in der Normalbevölkerung Ostdeutschlands zu erwarten gewesen wäre. Drei Kinder wurden tot geboren, was gegenüber den Fehlgeburten eine geringere Fallzahl darstellt. Wenn man trotzdem hochrechnet, so spricht das ebenfalls für eine vielfach erhöhte Quote von Totgeburten. Mehr als jedes vierte der 69 überlebenden Kinder hatte Allergien. Jedes vierte Kind litt an Hauterkrankungen unter Einschluss von Neurodermitis. Fast jedes vierte Kind hat Lungenkrankheiten und jedes zehnte Kind hat verkrüppelte Glieder. Ein etwas kleinerer Anteil hat Stoß1 wechselkrankheiten und etwa jedes siebzehnte Kind muss mit geistigen Behinderungen leben. Auch hier gilt im Vergleich zur Kontrollgruppe der Nichtsportier-Geschwister: Die Schäden bei den Kindern der Leistungssportler sind zahlreicher als bei den Kindern der Geschwister, soweit diese nicht auch im Dopingsport engagiert waren. 37 Kinder wurden durch mindestens 2 Erkrankungen beeinflusst. 17 Kinder sind mehrfach geschädigt, beispielsweise durch Allergien, Neurodermitis und Stoffwechselerkrankungen oder geistige und körperliche Behinderung. Dies gilt besonders für die Kinder der weiblichen Dopingopfer, die erheblich häufiger und außerdem häufiger mehrfach erkrankt oder geschädigt sind als Kinder der männlichen gedopten Sportler.
5. B e w e r t u n g
Der VEB Jenapharm half dabei, dem Dopingbereich im DDR-Sport gegenüber den anderen Sportnationen einen Vorlauf von 15 bis 20 Jahren zu ermöglichen. Das ist ein Faktum. Art und Ausmaß der Beteiligung mögen im Jenaer Projekt bestimmt werden, so dass ein wissenschaftlicher Diskurs beginnen kann. Die außergerichtlichen Vergleiche mit einer kleinen Gruppe Dopinggeschädigter sind weit gediehen. Einerseits ist zu danken, andererseits ist das Ergebnis für den Kenner der Materie unbefriedigend. Vielleicht gibt es aber noch weitere Hilfeleistungen wie Beratungen oder in Einzelfallen materielle Zuwendungen. An dieser Stelle muss der aktuelle Hinweis erfolgen: Die genannten Schädigungen sprechen eindeutig für ein Dopingverbot aus Gründen des Gesundheitsschutzes, jenseits aller sportethischen Argumente wie der Chancengleichheit oder der Fairness. Weiter ist Vorsicht geboten: Es wird kein Generalverdacht gegenüber dem ehemaligen Personal des Zwangsdopingsystems aus-
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gesprochen, aber ein effektives Kontrollsystem ist nötig. In einem dopingbegünstigenden Milieu ist schließlich jederzeit eine Wiederaufnahme illegaler Praktiken möglich. Der VEB Jenapharm war in die Forschung, Produktion und Distribution von fur Doping genutzten oder dazu bestimmten Mitteln und Präparationen eingebunden. In einer modernen Pharmaindustrie, die zwischen Marktbeobachtung (prognostizierter Umsatz) und dem Vorhalten ihrer leicht verderblichen Produkte die günstigste Route einschlagen muss, gab es vermutlich mehr Mitwissen, als die bisher veröffentlichten Quellen über eine Verstrickung in das Dopingsystem verraten. Selbst wenn „nur" Abteilungsleiter oder Spitzenmanager Kenntnis vom Ganzen hatten - wer trägt die Verantwortung? Verantwortung veijährt nun einmal nicht, und die Jenapharm GmbH & Co. KG ist vor die interessante Aufgabe gestellt, ein Erbe anzutreten und für die deutsche Industrie in vorbildlicher Weise ihrer Verantwortung nachzukommen, Hilfe zu leisten, und auch heute im Sinne des Prologs mit Jenapharm-Produkten - Stellung zu beziehen. Auch muss die Verantwortung des DDR-Konzerns in einer viel weiteren Perspektive gesehen werden: Doping am Menschen ist ein Aspekt, das vom Verfasser im Rahmen der verdienstvollen Jenaer Tagung beklagte, mit hoher Wahrscheinlichkeit betriebene und europaweit geächtete Schweine-Doping („Ebermast") mit Steroiden und anschließendem Verkauf des Hormonfleisches in das kapitalistische Ausland38 harrt der Aufarbeitung.
Anmerkungen 1 2 3
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Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31.7.2007: Sinkewitz gesteht Doping. Als wäre er von großer Reue beseelt, von Rainer Seele. Dieser Beitrag ist der leicht überarbeitete Text für die Tagung „Doping in Ost und West 1960-1990". Vom Verfasser wurden zuletzt vorgelegt: Abschlussberichte zu MfS und Doping: Giselher Spitzer, „Sicherungsvorgang Sport". Das Ministerium für Staatssicherheit und der DDR-Spitzensport, Schorndorf 2005 (Schriftenreihe des Bundesinstituts für Sportwissenschaft, Bd. 97); ders., Doping in der DDR. Ein historischer Überblick zu einer konspirativen Praxis. Genese - Verantwortung - Gefahren, Köln 1998 (Wissenschaftliche Berichte und Materialien des Bundesinstituts für Sportwissenschaft 1998/3), 3. Aufl. 2004 (4. Auflage erscheint Ende 2008). Das Fehlen von Unterlagen des eh. VEB dokumentiert ein Brief von Dr. Taubert an den Verfasser. Giselher Spitzer, „Wunden und Verwundungen": Sportler als Opfer des DDR-Dopingsystems. Eine Dokumentation, Köln 2007, gefördert durch die „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur".
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Verfl fühlt sich dem weiten GesundheitsbegrifF der WHO verpflichtet, der sich nicht allein auf „Abwesenheit von Krankheit" bezieht, sondern den Zustand des Gesundseins meint und auch die Dimensionen des Sich-Wohlfühlens und der sozialen Gesundheit einschließt. Auf die Kritik an Angaben des Projektleiters über die Akzeptanz des Vorgetragenen bei den Teilnehmern während der Pressekonferenz, die im Rahmen der Tagung, aber ohne Einladung der Referenten durchgeführt wurde, wurde bereits mehrfach hingewiesen, siehe Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. und 4.12.2006, Süddeutsche Zeitung und Freies Wort vom 4.12.2006. Vgl. zuletzt die heterogenen Beiträge in: G. Hauch (Hg.), unter Mitarbeit von P. Gutschner und B. Kirchmayr, Industrie und Zwangsarbeit im Nationalsozialismus. Mercedes Benz-VW-Reichswerke Hermann Göring in Linz und Salzgitter, InnsbruckWien-Bozen-München 2003 (Studien zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte, Bd. 13). - Nachzutragen ist: Die AG hat sich an Entschädigungszahlungen für Zwangsarbeiter beteiligt. Zuerst: Giselher Spitzer, Die Akten des Ministeriums für Staatssicherheit als „ReserveArchiv" des DDR-Sports? Quellenkritische und methodologische Bemerkungen, in: Ders./Harald Braun (Hg.), Der geteilte deutsche Sport. Sozial- und Zeitgeschichte des Sports in Deutschland nach 1945, Köln 1997 (Wissenschaftliche Berichte und Materialien des Bundesinstituts für Sportwissenschaft, Bd. 1997/3), S. 117-154. Siehe allgemein aus presserechtlicher und strafprozessualer Sicht: Johannes Weberling/Giselher Spitzer, Virtuelle Rekonstruktion „vorvernichteter" Stasi-Unterlagen. Technologische Machbarkeit und Finanzierbarkeit - Folgerungen für Wissenschaft, Kriminaltechnik und Publizistik, Berlin 2006 (Schriftenreihe des LStU Berlin, Bd. 21). Siehe zum Doping sowie einigen Rechtsfragen: Spitzer, „Wunden und Verwundungen". Vgl. Kammergericht Berlin, Urteil vom 12. Februar 1999 (AZ 9 U 4797/98). Zur STS-Problematik siehe den entsprechenden Abschnitt in Spitzer, Sicherungsvorgang Sport, S. 183-189. Die Ärztin fand trotz des Richterspruches weiter am Institut für Angewandte Trainingswissenschaft (LAT) Leipzig Beschäftigung, das aus dem Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport hervorging, an dem die Klägerin vor 1989 tätig war. Giselher Spitzer, Die Sonderrolle des Spitzen-Fußballs in der DDR: Funktionalisierungen Identitäten Konkurrenzen, in: Wolfgang Pyta (Hg.), Der lange Weg zur Bundesliga. Zum Siegeszug des Fußballs in Deutschland, Münster 2004 (Geschichte des Fußballs, Bd. 4), S. 241-281. Dessen offizielle, aber tatsächlich unpopuläre Abkürzung lautete „MfS", DDR-Bürgerrechtler sprachen dagegen von der „Stasi"; der Totalitarismustheorie folgend wurde in der Bundesrepublik Deutschland meist vom „SSD", also „Staatssicherheitsdienst" der DDR gesprochen. Aufgrund der hohen Popularität und der intensiven Leistung des an der friedlichen Revolution führend beteiligten Ulrich Mühe wurde das Thema „Stasi" aus der Innensicht des Apparates in eindrücklicher Inszenierung im Academy-Awards prämierten Spielfilm „Das Leben der anderen" (Regie/Buch: Florian Henckel von Donnersmarck) auch international in das öffentliche Bewusstsein transportiert. Ohne die intensive Darstellungskunst von Ulrich Mühe kritisieren zu wollen, besteht doch die Gefahr, dass im kollektiven Erinnern seine Besetzung der Rolle eines zuletzt zweifelnden Stasi-Offiziers die nüchterne, verbrecherische Realität der „tschekistisch" verschwo-
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renen Truppe überlagert. Die Geschichte des Dopings zeigt eine ganz andere Seite bei der Rolle der Stasi, die den Einzelnen nie vor den Gefahren schützte, obwohl sie die Macht dazu gehabt hätte. Aus: Spitzer, Doping in der DDR, S. 416. Quelle und ausfuhrliche Diskussion bei Spitzer, Doping in der DDR, bes. S. 83-99 sowie 179-218. Siehe zum Beispiel im Fußball: Giselher Spitzer, „Verrückt nach Captagon", in: Schweriner Volkszeitung vom 31.7.2007, sowie ders., Doping in Deutschland, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. Mai 2005. Am 17. September 2005 mit dem Sparkassenpreis für Sportjournalismus in Köln für die Sportredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in der Kategorie „Besondere Redaktion" fur die achtteilige Artikelserie zur „Doping-Szene Deutschland" ausgezeichnet. Erstmals: Giselher Spitzer, Fronten zwischen D T S B und Armeesportvereinigung sowie Dynamo, in: ders./Hans Joachim Teichler/Klaus Reinartz (Hg.), Schlüsseldokumente zum DDR-Sport. Ein sporthistorischer Überblick in Originalquellen, Aachen 1998, S. 205-211; Andreas Ritter, Wandlungen in der Steuerung des DDR-Hochleistungssports in den 1960er und 1970er Jahren, Potsdam 2003 (Potsdamer Studien zur Geschichte von Sport und Gesundheit, Bd. 1). An der Humboldt-Universität Berlin ist eine Dissertation über die Entstehung des Konfliktes in den 1950er Jahren in Vorbereitung. Giselher Spitzer, Vom Alt-Nazi zum fuhrenden SED-Funktionär. Neue Fakten zum Leben und Wirken von Sport- und Dopingchef Manfred Ewald. Das falsche Bild vom Widerstandskämpfer wird revidiert; ders., Manfred Ewald habe „den richtigen hitlerischen Führungstyp verkörpert"; ders., Auch LAAF-Präsident Paulen stützte DDR-Staatsdoping. Stasi-Akten belegen Manfred Ewalds Zynismus, in: Die Welt vom 12., 13. und 14.7.2000; ders., Berliner Dopingprozess vor neuer Ausgangslage? DDR-SportchefManfred Ewald als Nazi entlarvt, in: Neue Züricher Zeitung vom 24.5.2000. Vgl. bspw. das Kapitel Kooperationspartner in Spitzer, Doping in der DDR, S. 123-135. Giselher Spitzer, Die PDS soll ihr Verhältnis zum Doping ordnen. Forderung während einer Vortragsreihe in ostdeutschen Städten zur DDR-Vergangenheit, in: Süddeutsche Zeitung v. 26. April 2001. Giselher Spitzer, Blutdoping als Domäne im Wintersport. Eine Therapie, die in der DDR der Leistungsmanipulation seit 1972 gebräuchlich war, in: Neue Züricher Zeitung vom 16.3.2002. V-IM „BÖHM", BStU ASt Lpz MfS Abt. XX 00002, S. 131ff. Auch andere Quellen legen nahe, dass diese ursprünglich alternativ angelegte Theorie in der totalitären Praxis tatsächlich mit Zufuhrung von Anabolika kombiniert worden wäre. Auch soll ein Teil der Versuchsgruppe ohne Wissen Anabolika erhalten haben. Zu dieser unglaublich erscheinenden Episode aus Stasi-Sicht: Treffbericht vom 10.10.1986 handschriftlich; „Bericht über den Einsatz unterstützender Mittel (uM)", beide in: BStU MfS Neubrandenburg A 123/89, IMS „ H E I N Z H A G E N " (Dr. Dieter FISCHER), Teil II, Bd. 1, S. 332-335,338f., 342-344. Forschungsinstitut fur Körperkultur und Sport, Forschungsgruppe Zusätzliche Leistungsreserven, Vertrauliche Verschluss-Sache [„gelöscht"]. L R 1/122-23/82, 6 Ausfertigungen, 3. Ausfertigung, 55 Blatt: Zur Anwendung von unterstützenden Mitteln im Trainingsprozeß sowie bei der Vorbereitung von Wettkämpfen (Materialien für die Weiterbildung von Ärzten und Trainern). Leipzig, Mai 1982. Genaueres dazu in Giselher
E n t s t e h u n g und F u n k t i o n s w e i s e des D D R - Z w a n g s d o p i n g s
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Spitzer, Doping in the former GDR, in: C. Peters/T. Schulz/H. Michna (Hg.), Biomedical Side Effects of Doping. Project of the European Union. Bundesinstitut fur Sportwissenschaft, Wissenschaftliche Berichte und Materialien, Bd. 13, Köln 2001, S. 115-125. Siehe auch ders., Doping with Children, in: ebenda, S. 127-139. Giselher Spitzer, Eine neue Volkskrankheit. Doping im Fitnesssport und die Rolle von Alessandro Donati, in: Neue Züricher Zeitung vom 28.12.2002. Vgl. die Beiträge in Uberblicksdarstellungen, zuletzt in Giselher Spitzer (Hg.), Doping and Doping control in Europe, Oxford/Aachen 2006; Wolfgang Knörzer/Giselher Spitzer/Gerhard Treutlein (Hg.), Dopingprävention in Europa, Aachen 2006. Auch die Berichterstattung der Printmedien greift den wirtschaftlichen Aspekt zunehmend auf. Giselher Spitzer, DDR-Taucher heimlich gedopt. Rekonstruierte Stasi-Akte belegt: Anabolika-Einsatz auch im nicht-olympischen Sport, in: Schweriner Volkszeitung vom 25. April 2007. Bereits Brigitte Berendonk kritisierte in „Dopingdokumente" die Produktentwicklung beispielsweise der STS-Gruppe und deren Bedeutung für das DDR-Doping - 1991! Vgl. Spitzer, Sicherungsvorgang Sport, S. 181-191 u.ö. BStU, ASt Gera, MfS Sign. X 231/83, IMS „KLINNER", TeÜ I, Bd. 1, und Teü II, Bd. 1 (S. 136) Während des Symposiums wurde erst auf Nachfrage bekannt, dass zu dieser Zentralfigur bis Dezember 2006 noch kein Zeitzeugen-Interview stattgefunden habe. Es ist deshalb interessant, welche Statements Dr. Hartwich geben wird, der gegenüber ARD-Magazinen bereits in pointierter Form die Verantwortung des VEB Jenapharm genauer bestimmt hat: im belastenden Sinn, versteht sich. Obwohl durch die jahrelange Spitzeltätigkeit als Inoffizieller Mitarbeiter des MfS kompromittiert, ist das Zeugnis von Dr. Hartwich, wenn in rechtlich überzeugender Form vorgetragen (Erklärung an Eides Statt vor einem Richter) doch von hoher Bedeutung. Zur Bewertung und den Hintergründen: Spitzer, Sicherungsvorgang Sport, besonders S. 181-191. Spitzer, Doping, S. 357ff.; ferner: Giselher Spitzer, Die PDS soll ihr Verhältnis zum Doping ordnen. Forderung während einer Vortragsreihe in ostdeutschen Städten zur DDR-Vergangenheit, in: Süddeutsche Zeitung vom 26.4.2001. Frau Dr. Fuchs, MdB, versuchte daraufhin, gerichtlich gegen Äußerungen solcher Art vorzugehen, zog aber ihre Klage kurzfristig zurück, ebenso wie die Kläger „Täve" Schur und Klaus Koste. Spitzer, Sicherungsvorgang Sport, S. 657. Siehe u.a. ebenda, S. 661-667. Es konnte inzwischen sogar nachgewiesen werden, dass Anabolika äußerlich den harmlosen Vitamintabletten nachgeformt wurden, so dass Mitkenntnis (Mitschuld) der Sportler in diesen Fallen auszuschließen ist. Das entsprechende Präparat wird von einer Staatsanwaltschaft aufbewahrt (ebenda, S. 151). Vgl. dazu Spitzer, Doping, S. 383-388. Vgl. Giselher Spitzer, Zur Kontrolle des Leistungssports sowie der Sportwissenschaft durch das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR, in: Norbert Gissel (Hg.), Sportliche Leistung im Wandel. Jahrestagung der dvs-Sektion Sportgeschichte vom 22.-24.9.1997 in Bayreuth (Schriften der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft Bd. 94), Hamburg 1998, S. 125-143. W. Buss/C. Becker (Hg.) unter Mitarbeit von E. Buggel, S. Güldenpfennig, A. Krüger, P. Kunath, L. Peiffer, G. u. I. Wonneberger, Der Sport in der SBZ und frühen DDR: Genese - Strukturen - Bedingungen (Schriftenreihe des Bundesinstituts für Sportwis-
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senschaft, 109), Schorndorf 2001; W. Buss/C. Becker (Hg.), Aktionsfelder des DDRSports in der Frühzeit 1945 bis 1965, Köln 2001. 36 Alle Angaben nach Spitzer, „Wunden und Verwundungen". Die Stichprobe wurde aus über 300 namentlich bekannten Fällen gebildet, die zunächst in drei Gruppen eingeteilt wurden: leichte, mittlere und schwere Schäden. Damit sollte verhindert werde, dass es eine Schieflage in eine Richtung gibt. Diese drei Gruppen sind in der Stichprobe vertreten. 37 Die Tendenz fiir die Eltern ist ähnlich. 38 Die bereits herangezogene IM-Akte „MARTINSOHN" lässt diesen Schluss zu.
Entstehung und Funktionsweise des DDR-Zwangsdopings
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Freiheitsspielräume in einem staatlichen Dopingsystem? Einführung Im DDR-Sport wurde systematisch gedopt. Das System war vollständig durchorganisiert und praktisch perfekt. Die verantwortlichen Politiker wünschten mit aller Macht den sportlichen Erfolg, um damit die Überlegenheit des sozialistischen Systems gegenüber dem kapitalistischen Westen nachzuweisen. Zugleich wollten sie im eigenen sozialistischen Lager möglichst weit vorn liegen. In diesem Beitrag möchte ich den Fragen nachgehen, welche Freiheitsspielräume fiir die einzelnen Betroffenen in einem derartigen staatlich organisierten Dopingsystem bestanden und welche ethische Bewertung in diesem Zusammenhang angemessen ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass dieser Staat kein freiheitlicher Rechtsstaat, sondern ein totalitärer Staat gewesen ist, bei dem auch der Sport dem Anspruch der Partei unterworfen war. Abschließend werfe ich einen Blick auf heutige Entwicklungen und stelle die Frage, ob wir aus den Erfahrungen mit dem DDR-Doping fiir heute etwas lernen können. Dabei gehe ich in meiner ethischen Bewertung davon aus, dass als gemeinsames Band der meisten ethischen Ansätze die Achtung vor der Menschenwürde und damit verbunden den Menschenrechten einschließlich der Freiheitsrechte fungiert. Jeder Mensch gilt als gleiches Subjekt von Rechten, unabhängig von seiner religiösen und politischen Einstellung, unabhängig von seinem Geschlecht und seiner Herkunft.1 Auch nehme ich sportethisch zum Ausgangspunkt, dass Doping einen Verstoß gegen die Fairness bedeutet. Der Grund hierfür ist zweifach: 1. Doping stellt einen Verstoß dar, weil sich alle Beteiligten im Geschehen öffentlich verpflichtet haben, nicht zu dopen, und das heißt konkret, bestimmte leistungssteigernde Substanzen nicht zu gebrauchen. Wer dopt, verletzt damit also seine öffentlich gegebene Verpflichtung. Er betrügt. 2. Wer dopt, schafft zudem Anreize, dass sich auch die Konkurrenz dopt. Da die derzeitigen Dopingmittel die Gesundheit schädigen, schafft er Anreize zu einem die Gesundheit schädigenden Verhalten. Dies ist unfair.
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Dazu kommt noch ein nicht mehr direkt der Kategorie „Fairness" zuzuordnender, aber dennoch ethisch sehr bedeutsamer weiterer Punkt: Wer dopt, gibt jungen, noch leicht verfiihrbaren Menschen ein schlechtes Vorbild. Er spielt so die Rolle eines Verführers der Jugend. 2
Die Frage nach den Freiheitsspielräumen im Dopingsystem des totalitären DDR-Regimes Einer der zentralen normativen Grundsätze jeder Ethik lautet: Ultra posse nemo tenetur. Frei übersetzt heißt dies: Jenseits dessen, was jemand vermag, besteht keine moralische Verpflichtung. Angewendet auf unsere Fragestellungen bedeutet dies: Nur dann, wenn es überhaupt Freiheitsspielräume im staatlichen Dopingsystem der D D R gegeben hat, besteht die Möglichkeit, die betreffenden Sportler, Sportmediziner und beteiligten Unternehmen moralisch in die Pflicht zu nehmen. Andernfalls bliebe nur eine allgemeine „moralische" Schelte des totalitären Regimes übrig, denn wo keine Freiheit, da gibt es auch keine Möglichkeit, moralische Handlungen zu setzen. Kantisch gesprochen: Die Freiheit ist die ratio essendi (Wesensgrund) des moralischen Gesetzes. 3 So lautet die erste entscheidende Frage: Hat es im staatlichen Dopingsystem der D D R überhaupt die Möglichkeit zu freien Entscheidungen gegeben? Um diese Frage zu beantworten, sei auf ein psychologisches Experiment zurückgegriffen, das unter dem Namen seines Versuchsleiters, Prof. Stanley Milgram, als Milgram-Experiment weltweit Bekanntheit erlangt hat.4 In diesem Experiment, das Milgram Anfang der Sechziger Jahre durchführte, geht es um das Verhältnis des Einzelnen zur Autorität. Die Probanden rekrutierten sich aus allen Bevölkerungsschichten, im Ursprungsexperiment aus dem Gebiet um die Universität Yale herum. Ihnen wurde erklärt, dass es sich um ein Experiment handele, bei dem überprüft werden solle, ob der Lernerfolg durch Strafe erhöht werden kann. Der Prüfling solle Wortreihen lernen. Bei der Versuchsanordnung bestand das Team aus dem Versuchsleiter, der Autorität, und dem Probanden, der als Lehrer auch die Strafen austeilen musste, nämlich einen Schalter betätigen, um dem Prüfling einen Elektroschock zu geben. Diese Strafen stiegen bei jeder falschen Antwort des Prüflings um 15 Volt, beginnend mit einem milden Elektroschock von 15 Volt bis zu einem schweren Schock von 450 Volt. Zwar betonte der Versuchsleiter, dass auch der höchste Schock nicht die Gesundheit gefährden würde, die Instrumententafel dagegen signalisierte klar das extrem hohe Risiko dieses Stromschlags. Der Prüfling war bei diesem Experiment wie der Versuchsleiter in das Experiment eingeweiht, in den Augen des Probanden
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jedoch ebenso wie dieser selbst ein Proband, da der Prüfling ihm als Mitproband vorgestellt und die Rollen von Prüfling und Lehrer per manipuliertem Losverfahren vergeben wurden. Der Proband musste also subjektiv davon ausgehen, er hätte genauso Prüfling sein können. Der Prüfling wurde auf einem Stuhl in einer Weise angeschnallt, die Assoziationen an den elektrischen Stuhl wachrufen konnte. Durch ein Kommunikationssystem konnte der Proband hören, wie sich der Prüfling über die immer stärker werdenden Stromschläge beschwerte (er hatte zwar keine Schmerzen, da in Wirklichkeit kein Strom floss, aber simulierte diese für das Experiment). Zur Überraschung Milgrams und seines Teams waren ca. zwei Drittel der Probanden bereit, dem Prüfling, der sich verabredungsgemäß als sehr lernschwach zeigte, den höchsten Schock zu verabreichen, den die Apparatur allerdings im Gegensatz zu den Beschwichtigungen des Versuchsleiters, also der Autorität, als lebensbedrohend ausgab. Dies taten sie, obwohl sie hören konnten, wie der Prüfling ab der Höhe von 135 Volt mehr und mehr vor Schmerzen schrie, die Einstellung des Experiments forderte und schließlich überhaupt nicht mehr antwortete, weil sie dem Befehl des Versuchsleiters Folge leisteten. Interessanterweise waren dabei alle Probanden bereit, dem Prüfling zumindest einen mittleren Schock zu geben. Dieses Experiment wurde weltweit in unterschiedlichen Settings wiederholt. Es zeigte jedoch praktisch überall ein ähnlich bestürzendes Resultat. Zwei Drittel normaler Menschen sind bereit, einen anderen Menschen, den sie kaum kennen, schwer zu verletzen, und zwar nur deshalb, weil die Autorität dies befiehlt. Uberträgt man dieses Experiment auf das Staatsdoping der DDR, so lässt sich unschwer im Blick auf die Hauptgruppen in diesem „Zusammenspiel" erkennen: Da die politische Autorität es befahl, hat insbesondere Jenapharm betreffende Produkte entwickelt. Sportmediziner haben daran mitgewirkt, die verharmlosend „leistungsfbrdernde Mittel" genannten Dopingsubstanzen den jeweiligen Athleten zum Gebrauch zu verabreichen. Die Trainer haben ebenfalls mitgespielt. Aber auch Athleten haben trotz ihres Wissens um der Autorität und des Erfolgs willen mitgemacht. Freilich wurden sie in nicht wenigen Fallen auch ohne jedes Wissen gedopt. Hatten sie, die Grundfrage sei nochmals wiederholt, überhaupt Freiheitsspielräume? Waren nicht alle drei Gruppen nichts anderes als manipulierte Marionetten in den Händen einer erfolgsgierigen politischen Clique? Die Frage lässt sich eigentlich nur eindeutig im Blick auf diejenigen DDR-Sportler beantworten, die wirklich nichts von ihrem Gedoptsein wussten. Sie hatten in der Tat keine Freiheitsspielräume, sich gegen das Dopen zu wehren. Da sie nichts davon wussten, standen sie nicht einmal vor der Alternative, aus dem Dopingsystem auszusteigen. Sie wussten nicht einmal, dass sie ein Teil dieses Systems waren. Insofern mögen sie zwar an rechtswidrigen Handlungen
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im sportlichen Sinn beteiligt gewesen sein, eine eigene Schuld haben sie nicht gehabt. Sie sind vielmehr ausschließlich Opfer des Systems. Anders verhält es sich bereits mit den Sportlerinnen und Sportlern, die um die Einnahme der leistungsfördernden Mittel und den Regelverstoß dieser Einnahme wussten, ohne freilich die gesundheitlichen Schäden abschätzen zu können. Allerdings lässt sich vor dem Hintergrund des genannten Experiments und vor dem Hintergrund des Wissens um die menschliche Psyche sehr gut verstehen, warum so viele Sportler nicht den heroischen Mut hatten, aus dem System auszusteigen. Sie hätten nicht nur materielle Vorteile (Reisen, andere Privilegien) verloren. Sie hätten auch auf den sportlichen Erfolg verzichtet. Vor allem aber hätten Sie sich gegen die Autoritäten stellen müssen, die für sie so wichtig waren, die Trainer und - abgeschwächt - die das Ganze bagatellisierenden Sportmediziner. Dennoch ist es schwierig, sie kollektiv von jeder Schuld freizusprechen. Wenn sie um den Sportbetrug durch diese Mittel wussten, wenn sie wussten, dass sie die Fairnessregeln des Sports verletzten, dann können sie sich nicht von jeder Schuld freisprechen lassen. Sie haben einerseits die Zuschauer und die Öffentlichkeit betrogen und andererseits durch dieses Dopen zugleich einen Anreiz geschaffen, damit sich auch die Konkurrenz dopt, um zumindest im Ausgangspunkt wiederum Chancengleichheit herzustellen. Dies lässt sich spieltheoretisch formulieren: Wenn ich als Sportler weiß, dass die Konkurrenz dopt und damit einen entscheidenden Vorteil hat, habe ich nur die Möglichkeit von vornherein den Sieg abzuschreiben oder aber auch zu dopen, um sozusagen wieder Chancengleichheit herzustellen. Wenn ich aber nicht weiß, ob die Konkurrenz dopt, dann stelle ich mich durch Doping, was den Erfolg angeht, in jedem Fall besser. Dopt die Konkurrenz, dann ziehe ich zumindest gleich (ohne Doping verliere ich), dopt sie nicht, habe ich beste Gewinnchancen. Eindeutig die Fairnessregel verletzt der Sportler erst, wenn er weiß, dass die Konkurrenz nicht dopt, er selbst aber zum Doping greift, um sich bessere Chancen zu verschaffen.5 In jedem Fall aber ist er durch sein Tun, wenn es bekannt wird, ein schlechtes Vorbild für die jungen Menschen. Dazu kommt - zumindest unter der Voraussetzung einer Verantwortung für die eigene Gesundheit -, dass dieses Verhalten auch selbstschädigend ist. Noch mehr in der Verantwortung stehen freilich die Trainer, die nicht nur die sportlichen Fairnessregeln, sondern auch ihre Schutzpflicht gegenüber ihren Schützlingen verletzt haben. Es lassen sich hier ebenfalls vor dem Hintergrund eines totalitären Regimes, einer tief verwurzelten Autoritätsgläubigkeit und eines klaren Erfolgshungers viele Entschuldigungsgründe finden. Dennoch können die betreffenden Trainer nicht völlig exkulpiert werden, solange wir davon ausgehen, dass es überhaupt so etwas wie Freiheitsspielräume gibt, solange wir
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also davon ausgehen, dass wir nicht nur Marionetten unserer Geschichte sind, sondern diese selbst aktiv mitgestalten. Am schwierigsten stellt sich die ethische Analyse des Verhaltens der beteiligten Sportmediziner dar. Auch sie waren natürlich in dem autoritären System verfangen. Auch sie standen unter dem hohen Erwartungsdruck der Führung. Auch sie wollten zumindest indirekt am Erfolg der Schützlinge und deren Privilegien partizipieren. Aber ein wesentlicher Unterschied zeichnete sie doch aus: Für sie gab es eine zweite Autorität: das Nichtschadensprinzip des Hippokratischen Eids, ihre ärztliche Verantwortung. In den verschiedenen Variationen des Milgram-Experiments zeigte sich mit großer Klarheit: Sobald ein zweiter Versuchsleiter auftrat und dem Befehl des ersten Versuchsleiters, die Schockstufe zu erhöhen und mit dem Experiment fortzufahren, widersprach, brachen die meisten Probanden das Experiment ab. Sie waren nicht mehr bereit, den Prüfling zu bestrafen. Für die Sportmediziner hätte es also ungleich leichter sein können, sich mit Berufung auf ihr ärztliches Ethos dem Zwangssystem zu entziehen und sich dem Doping zu verweigern. Warum haben sie dennoch mitgemacht? Ein Grund über die oben genannten hinaus lautet: Die Gesundheit schädigende Wirkung des Dopings wurde verharmlost, und zwar nicht nur im Osten, sondern auch im Westen. Doch spätestens Mitte der achtziger Jahre fiel dieser Grund weg, da medizinische Untersuchungen beispielsweise keinen Zweifel mehr an der die Gesundheit schädigenden Wirkung anaboler Steroiden ließen. Sehr schwierig ist auch die Bewertung von Unternehmen wie Jenapharm, weil sich die Verantwortlichkeiten schwer zuordnen lassen. Wer im Unternehmen hat überhaupt davon gewusst, für wen die Produkte waren? Hier lassen sich in den Besprechungen immer wieder bestimmte Namen aus dem Unternehmen finden. Diese sind die klassischen Schreibtischtäter im Sinne des Milgram-Experiments in der Fassung, dass es mit dem Prüfling, hier dem Sportler, weder eine Berührungsnähe noch eine akustische Rückkoppelung gab. Man war ein Rädchen im Getriebe. Und dennoch lässt sich fragen: Warum hat „man" als Rädchen mitgespielt? Vermutlich, um die eigene Karriere nicht zu gefährden. Doch genügt dies für eine Entschuldigung? Was heißt dies letztlich auch für die involvierten Politiker, die eigentlichen Repräsentanten des Regimes? Inwieweit hatten diese Menschen Freiheitsspielräume? Muss man unterstellen, dass sie ideologisch derart verblendet gewesen sind, dass sie überhaupt nicht mehr das - objektiv gesehen - Verbrecherische ihres Tuns wahrnahmen, nämlich die Bereitschaft, sich mittels Sportbetrug und unter bewusster Verletzung der Gesundheit der beteiligten Sportlerinnen und Sportler Erfolg zu erkaufen? Oder hatten nicht auch sie die Möglichkeit, die Schuld ihres Tuns zu begreifen?
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Als Ergebnis möchte ich festhalten: Es gab eine Zunahme von Freiheitsspielräumen, selbst in einem totalitären System wie dem der DDR. Während manche Sportler reine Opfer dieses Systems waren, müssen andere mit der Gewissheit leben, in ihrer Person zugleich Opfer und Täter gewesen zu sein. Trainer und noch mehr Sportmediziner stehen bei ihrer Mitwirkung noch deutlicher auf der Täterseite, zumal sie auch in einem deutlich höheren Alter gewesen sind und damit wohl noch klarer die Folgen ihrer Taten hätten übersehen können. Komplizierter verhält es sich mit den beteiligten Unternehmensvertretern und Politikern, bei denen auf Grund ihrer vermuteten Ideologisierung die Beurteilung der subjektiven Schuld extrem schwierig ist. Vermutlich besteht die eigentliche Schuld dann darin, die Ideologie selbst nicht hinreichend hinterfragt zu haben.
Ausblick Das Täter-Opfer-Verhältnis bleibt auch heute nach dem Ende der DDR zumindest im Leistungssport nicht einfach zu fassen. Ein gutes Beispiel hierfür ist der mittlerweile aufgekommene Dopingskandal des Teams Telekom und anderer Radsportteams. Nach sehr erfolglosen Jahren drohte dem Team Telekom das Aus. Sponsoren überlegten, sich zurückzuziehen. Die deutsche Medienlandschaft verhöhnte teilweise die „schwachen" Sportler. Doch dann kam die (durch Doping erzielte) Leistungsexplosion und schließlich 1996 und 1997 der riesige Erfolg bei der Tour de France mit Rijs (1996) und Ullrich (1997) als Sieger. Sponsoren stiegen ein. In der Presse wurde das Team Telekom bejubelt. Der Radsport in Deutschland gewann enorm an Popularität und durch die Breitenwirkung freuten sich auch die ganz normalen Radgeschäfte über höhere Umsätze. Als 2007 herauskam, dass der Erfolg durch Doping erzielt wurde, war die Betroffenheit groß. Doch auch hier stellt sich wieder die Frage: Wer war eigentlich Täter, wer Opfer? Auf den ersten Blick würde man sagen: Die Radfahrer des Teams Telekom sind die Täter. Sie haben gedopt. Mittäter sind die Sportmediziner. Sie haben die Tat erst möglich gemacht. Doch so einfach ist der Sachverhalt nicht, denn die Dopingfalle der anderen Teams zeigen, dass Doping schon lange eine große Rolle im Radsport spielte und bis heute spielt (Doping von Landis, Dopingvorwürfe gegen Armstrong). Wenn also ein Radsportler erfolgreich sein wollte, so „musste" er dopen, denn er konnte davon ausgehen, dass auch die Konkurrenz dopte.6 Diese Problematik verschärft sich durch die immer realistischer werdende Möglichkeit des Einsatzes gentechnologischer Verfahren, der sog. gentechnischen Substitutionsbehandlung und der somatischen Genbehandlung, am Men-
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sehen. So zeigten somatische Genbehandlungen an Ratten mit einem synthetischen Gen, das jahrelang im Körper bleibt und hohe Dosen eines natürlich vorkommenden, Muskel bildenden Hormons wie das insulinähnliche Wachstumshormon IGF-1 erzeugt, dass diese Ratten deutlich schwerere Lasten schleppen konnten.7 Dabei zeigen die ersten Forschungen, dass dieses Gendoping eventuell sogar einen therapeutischen Nebeneffekt haben könnte, nämlich dem Verlust von Muskelmasse vorzubeugen, der aufgrund von Alterungsprozessen unausweichlich ist. Dieses durch synthetische Gene erzeugte Wachstumshormon ist von dem natürlich vorkommenden Wachstumshormon nicht durch Bluttests oder Urinuntersuchungen unterscheidbar. Es ließe sich nur denken, dass derartiges Gendoping durch die Festlegung von Obergrenzen des Hormons begrenzbar wäre oder die Vektoren (Carrier), mit denen die Gene in den Körper eingebracht wurden, entdeckt werden oder neue Verfahren etabliert werden, mit denen sich Spuren transgener DNA nachweisen lassen. Perikles Simon, Leiter des Molekularbiologischen Labors der Tübinger Sportmedizin, ist gerade dabei, derartige Verfahren zu entwickeln und auf ihre Praxistauglichkeit zu untersuchen. Auch lassen sich Substanzen gentechnisch herstellen, die eine körpereigene Stimulation der Synthese von Hormonen bewirken wie ζ. B. von Erythropoietin oder anabolen Wirkstoffen. Da hier keine Vektoren nötig sind, keine sog. gentechnische Impfung, kann in diesem Fall nur mit Hilfe von Obergrenzen an der Einschränkung dieser Anwendung gearbeitet werden. Diese Möglichkeiten verstärken nochmals die oben in der skizzierten spieltheoretischen Betrachtung angedeutete Problematik: Die Anreizsituation zu dopen nimmt weiter zu, je schwerer das Dopen nachweisbar und je geringer die gesundheitlichen Risiken sein könnten (ein sportmedizinisch sehr wichtiges und zu diskutierendes Thema). Dann wird es aber gerade vor dem Hintergrund des niedrigen Alters vieler Sportler noch schwieriger, diese einfach zu Tätern zu machen. Der Erwartungsdruck, die Anreize durch möglichen Erfolg (Ansehen, finanzielle Möglichkeiten) und nicht zu unterschätzen das Vertrauen in Autoritäten, die zum (Gen-)Doping direkt oder indirekt auffordern, machen es schwer, den Täterbegriff rasch auf den dopenden Sportler anzuwenden. Dennoch sollen die Sportler nicht vollständig exkulpiert werden. Vielmehr ist vor dem Hintergrund der Fairness ihr Verhalten eindeutig als Fehlverhalten zu klassifizieren, das andere nicht-dopende Sportler zu reinen Opfern gemacht und auch die Öffentlichkeit betrogen hat. Will man das sich durch die Möglichkeiten des Gendopings noch weiter verstärkende und in der ethischen Bewertung kompliziertere Dopingproblem in den Griff bekommen, so wird es nötig sein, in einem ersten Schritt die Grenzen
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a n z u e r k e n n e n : D i e derzeitigen R a h m e n b e d i n g u n g e n s c h a f f e n A n r e i z e z u m D o p e n für alle B e t r o f f e n e n . N u r eine klare außersportliche D o p i n g g e s e t z g e b u n g v e r b u n d e n mit e i n e m völligen Verzicht öffentlich-rechtlicher M e d i e n a n s t a l t e n a u f v o n D o p i n g durchsetzte S p o r t a r t e n mit einer g e w i s s e n Frist bietet eine M ö g lichkeit, die Anreizstrukturen zu verändern. A u ß e r d e m sollte i n s b e s o n d e r e im J u g e n d b e r e i c h sehr g e n a u in der s p o r t m e d i z i n i s c h e n B e t r e u u n g d a r a u f g e a c h tet w e r d e n , die J u g e n d l i c h e n vor D o p i n g z u schützen. Ärzte, die hier v e r b o t e n e S u b s t a n z e n verabreichen, sollten s o s c h w e r bestraft w e r d e n , d a s s es für S p o r t m e d i z i n e r keine A n r e i z e gibt, sich a u f d a s D o p e n einzulassen. Selbst w e n n n ä m lich g e w i s s e F o r m e n d e s G e n d o p i n g s nicht schädlich wären, stellen sie unter der Voraussetzung, d a s s sie als v e r b o t e n e s D o p i n g zählen, d o c h ein Betrugsdelikt dar, weil sich j e m a n d durch die V o r g a b e einer angeblich „ s a u b e r e n " L e i s t u n g Vorteile verschafft.
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Vgl. Nikolaus Knoepffler, Menschenwürde in der Bioethik, Berlin 2004, S. 7-29. Vgl. dazu die empirische Studie von Berit Wanjek, Doping, Drogen und Medikamente im Sport - Determinanten des Substanzkonsums bei Thüringer Jugendlichen, Dissertation, Jena 2006 (unveröffentlicht). Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Praktischen Vernunft, in: AA V (Akademie-Textausgabe), Berlin 1968, S. 4: „Damit man hier nicht Inconsequenzen anzutreffen wähne, wenn ich jetzt die Freiheit die Bedingung des moralischen Gesetzes nenne und in der Abhandlung nachher behaupte, daß das moralische Gesetz die Bedingung sei, unter der wir uns allererst der Freiheit bewußt werden können, so will ich nur erinnern, daß die Freiheit allerdings die ratio essendiAes moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendider Freiheit sei. Denn wäre nicht das moralische Gesetz in unserer Vernunft eher deutlich gedacht, so würden wir uns niemals berechtigt halten, so etwas, als Freiheit ist (ob diese gleich sich nicht widerspricht), anzunehmen. Wäre aber keine Freiheit, so würde das moralische Gesetz in uns gar nicht anzutreffen sein." Stanley Milgram, Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität, 14. Auflage, Hamburg 1997. Vgl. auch die Beschreibung des ursprünglichen Experiments: Stanley Milgram, Behavioral study of obedience, in: Journal of Abnormal and Social Psychology 67 (1963), S. 371-378. Vgl. dazu ausfuhrlich in den vielfältigen Facetten der spieltheoretischen Möglichkeiten Reyk Albrecht, Bewusstes Doping im Wettkampfsport und Eingriffe in den freien Wettbewerb. Eine ethische Untersuchung, Dissertation, Jena 2007 (Manuskript, erscheint voraussichtlich bei Alber 2008). Vgl. dazu die obigen spieltheoretischen Überlegungen. Vgl. das klassische Paper von E. R. Barton-Davis et al., Viral mediated expression of insulin-like growth factor I blocks the aging-related loss of skeletal muscle function, in: Proceedings of the National Academy of Sciences 95 (Dec. 22,1998), S. 15603-15607.
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Ekkehard Schönherr
Pharmabetriebe in der Planwirtschaft 1. Einleitung Zu den Besonderheiten der DDR gehörte die große Wertschätzung, die in diesem Land dem Leistungssport entgegengebracht wurde. Der Sport war der einzige gesellschaftliche Bereich, in dem es der DDR tatsächlich gelungen war, die Bundesrepublik zu überflügeln und mit den Großmächten USA und UdSSR gleichzuziehen. Das „Weltniveau", an dem sich das kleine Land so gern maß und das, abgesehen von Einzelleistungen, nur in den Ergebnissen seiner Sportler erreicht wurde, basierte auf einer ganzen Reihe von sportfördernden Maßnahmen. Neben der landesweiten, straff organisierten Jugendarbeit, die über Betriebssportgemeinschaften, Trainingszentren und schließlich die Kinder- und Jugend-Sportschulen auch noch das letzte sportliche Talent im Einzugsbereich herausfischte, war es gerade der Zugriff einer sportbegeisterten Führungsschicht auf die intellektuellen und industriellen Ressourcen eines ganzen Landes, der das Sportwunder möglich machte. Über den Staatsplan Wissenschaft und Technik (SPWT) initiierten die Sportbürokratie und die staatlichen Leitungsorgane der Wirtschaft eine Reihe von Forschungsarbeiten, die den Körper der Sportler zum Gegenstand hatten oder der materiell-technischen Ausstattung des Leistungssports zugute kommen sollten.1 Das Staatssekretariat für Körperkultur und Sport konnte sich darüber hinaus mit seinen Bestellungen an die Industrieministerien wenden, die wiederum eigene Arbeitsgruppen „Leistungssport" unterhielten, um den Entwicklungs- und Produktionsforderungen gerecht zu werden.2 Vor diesem Hintergrund ist die Einbindung eines Betriebes der chemischen Industrie der DDR in die Sportförderung an sich nichts Ungewöhnliches. Auch die „Körperschranke", die die Entwicklung neuer, leistungssteigernder Sportgeräte von der direkten körperlichen Manipulierung des Athleten unterscheidet, war durch die Verabreichung von Vitamin- und Mineral-Präparaten schon vor der Vergabe anaboler Steroide überschritten worden. Diese Verflechtung aus politischen Interessen und industrieller bzw. sportlicher Entwicklung stellt sich als ein Gesamtkomplex dar, dessen unmittelbares Ziel die Steigerung der sportlichen Leistungsfähigkeit, dessen politisches Ziel
P h a r m a b e t r i e b e in der P l a n w i r t s c h a f t
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jedoch die Legitimation der DDR war. Dabei trat, in einem allgemein wissenschaftsgläubigen Umfeld, die Vorstellung möglicher sportlicher Leistungssteigerung in den Kontext technischer Machbarkeit. Der technokratische Umgang mit den Körpern von Sportlern, ihr Ausbau zu Leistungsmaschinen, läßt sich auf diese Weise als Element allgemeinerer Vorstellungen von einem umfassend beherrschbaren Mensch-Maschine-System verstehen, innerhalb dessen das Steroid-Doping nur einer von mehreren leistungssteigernden Faktoren ist. Das bedeutet nicht, dass Doping nicht als besonders heikles Element dieses Komplexes begriffen werden konnte, das es noch über die allgemein grassierende Geheimhaltung hinaus nachrichtendienstlich abzusichern galt. Dass es sich bei den betroffenen Sportlern häufig um Jugendliche handelte, an deren unausgereiften Körpern manipuliert wurde, macht diese Sicht nur beklemmender. Im Rahmen der Forderung nach Schadensersatz, die im letzten Jahrzehnt von Seiten der Doping-Opfer an die Jenapharm GmbH, den Nachfolger des Volkseigenen Betriebes (VEB) Jenapharm, herangetragen wurde, ging die Sicht auf diese Einbindung des Betriebs in den größeren wirtschaftlichen und politischen Zusammenhang manchmal verloren. Die von Seiten der Doping-Opfer und einer mit ihnen sympathisierenden Presse für den VEB Jenapharm benutzte Bezeichnung „Dopingbetrieb" rekurrierte zwar zu Recht darauf, dass der größte Teil der DDR-Dopingmittel in diesem Betrieb hergestellt wurde. Gleichzeitig verkennen aber die Fokussierung auf die Doping-Produktion und die implizierte Unterstellung, der VEB Jenapharm habe eigenständig und aus profitorientiertem Eigeninteresse gehandelt, dass der VEB ein staatlich gelenkter Industriebetrieb war, in dem die Produktion von Dopingmitteln nur einen Bruchteil der Gesamtproduktion ausmachte und dass nur ein äußerst geringer Prozentsatz der Mitarbeiter in diesen Vorgang eingebunden war.3 Zudem waren die Eigeninteressen und Spielräume von Betrieben in der sozialistischen Planwirtschaft anders als in der Marktwirtschaft gelagert. Deshalb soll hier an die grundlegenden Prinzipien erinnert werden, nach denen die DDR-Volkswirtschaft organisiert war. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass geringe ökonomische Bedeutung noch keine moralische Bewertung impliziert. Die im Doping-System des DDR-Sports eingesetzten Substanzen wurden im wesentlichen von zwei Betrieben produziert, die in den achtziger Jahren zum Pharmazeutischen Kombinat GERMED gehörten. Dabei entfiel der größte Anteil, die Produktion anaboler Steroide, auf den in Jena angesiedelten VEB Jenapharm, ein geringerer auf den VEB Arzneimittelwerk (AWD) Dresden. In Dresden wurden insbesondere das die körpereigene Testosteronbildung anregende Gonabion und das Neuropeptid Oxytocin als Arzneimittel hergestellt, die im
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Leistungssport angewendet wurden. Diese beiden Betriebe sollen im Folgenden vorgestellt werden. Hinzu kommt, wegen seiner engen Verflechtung mit dem VEB Jenapharm, das Zentralinstitut für Mikrobiologie und experimentelle Therapie (ZIMET) der Akademie der Wissenschaften der DDR, ebenfalls in Jena.
2. Die E i n b i n d u n g der v o l k s e i g e n e n B e t r i e b e in die P l a n w i r t s c h a f t der D D R
Die zentralistische Planwirtschaft der sozialistischen Länder hatte zwei grundsätzliche Voraussetzungen. Zum einen mußte den Lenkungsinstanzen der Zugriff auf alle wesentlichen Elemente der Wirtschaft des jeweiligen Landes möglich sein, zum anderen hätten sie fähig sein müssen, aufgrund realistischer Daten mit einem konsistenten Plan realistische Planvorgaben zu erstellen, deren Erfüllung den Möglichkeiten und Interessen der einzelnen Betriebe entsprach. Wie das planwirtschaftliche System der DDR durch sein Scheitern eindrucksvoll belegt hat, war es nicht in der Lage, diese Voraussetzungen zu erfüllen. Während etwa die einheitliche Durchstrukturierung der „volkseigenen" Industrie mit einem Schematismus durchgeführt wurde, der ökonomischer Zweckmäßigkeit erheblich zuwider laufen konnte, haben andererseits moderne Volkswirtschaften eine Komplexität erreicht, die in ihrer Gesamtheit wohl schon prinzipiell nicht mehr planerisch zu beherrschen ist, unter den Bedingungen des „real existierenden Sozialismus", in dem regelmäßig politischen vor ökonomischen Entscheidungen der Vorrang eingeräumt wurde, jedoch gleich gar nicht. Die Volkswirtschaft der DDR kannte neben dem als „Volkseigentum" deklarierten staatlichen Eigentum auch andere Formen von Eigentum an Produktionsmitteln. Doch ob es sich um den privaten Handwerksbetrieb handelte, der die verschiedenen Enteignungswellen überstanden hatte, oder ob es um eine landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft ging, mit dem Volkseigenen Betrieb (VEB) hatten sie gemein, dass ihre Produktion staatlicher Planung unterlag. Darin unterschieden sich die über Lieferverträge in die Planung eingebundenen Privatbetriebe kaum von der Industrie, die 1950 bereits zu 76,5 und fünfJahre später zu 85,5 Prozent ihres Produktionsumfangs verstaatlicht war.4 Ende der achtziger Jahre erwirtschafteten die volkeigenen Betriebe, um die es im Folgenden gehen soll, über 97 Prozent der Industrieproduktion der DDR. 5 Die Einführung der Planwirtschaft in der SBZ und später der DDR hatte allgemein-ideologische, aber auch situative und strukturelle Gründe, denen sich unmittelbar nach dem Kriege selbst konservative und liberale Politiker nicht ver-
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sagt hatten. Während sich die Kommunisten von der zentralen Planung prinzipiell eine krisenfreie Wirtschaft erhofften, die „Vollbeschäftigung garantiere und allen Teilhabe am Wohlstand ermögliche"6, schien es angesichts der Kriegszerstörungen zunächst auch den bürgerlichen Parteien CDU und LPD nicht unvernünftig, den Wiederaufbau mit einer durch Planung koordinierten Wirtschaft anzugehen. Jedoch kam schon 1948 die Zustimmung dieser Parteien zum ersten Zweijahresplan nur auf erheblichen Druck der SED - und erst nachdem die hartnäckigsten Verfechter der Marktwirtschaft die S B Z verlassen hatten zustande.7 Nach den umfassenden Enteignungen der vorangegangenen Jahre und nachdem 1948 die Deutsche Wirtschaftskommission (DWK) auch faktisch die Wirtschaftskompetenz aus der Hoheit der Länder übernommen hatte8, war mit dem Zweijahresplan und den Volkswirtschaftsplänen von 1949 und 1950 die Entscheidung zugunsten einer zentral geleiteten Planwirtschaft nach sowjetischem Vorbild gefallen. Die folgenden zwei Jahrzehnte waren von häufigen Umbildungen der Organisationsstruktur der zentralgeleiteten Industrie9 und von einer hohen Fluktuation innerhalb des industriellen Führungspersonals geprägt. Eine Stabilisierung sowohl der Organisationsstruktur als auch des Kaderbestandes setzte erst im Verlauf der sechziger Jahre ein.10 Die fortgesetzten Umstrukturierungen der Wirtschaftslenkung änderten nichts an der hierarchischen Unterstellung der volkseigenen Betriebe unter die Entscheidungen der jeweiligen zentralen Leitung. Lediglich das „Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft" (NÖS), eine Reaktion der Regierung Ulbricht auf die Versorgungskrise von Anfang der sechziger Jahre, erlaubte den Betrieben ab 1963 innerhalb von der Staatlichen Plankommission (SPK) vorgegebener Eckdaten ein gewisses eigenständiges, gewinnorientiertes Agieren.11 Doch bereits mit der Einfuhrung des „Ökonomischen Systems des Sozialismus", das erneut das Instrument „strukturbestimmender Planung" nutze, wurden ab 1968 die marktwirtschaftlichen Elemente der Reformen wieder eingeschränkt.12 Unter dem Eindruck des Scheiterns der Ulbrichtschen Wachstums- und Technologiepolitik, die die Versorgungslage im Lande erneut verschlechtert hatte, beendete die SED-Spitze mit ihrem neuen Ersten Sekretär Erich Honecker 1971 die Phase der wirtschaftlichen Reformen. Zur Durchsetzung der auf dem VIII. Parteitag der SED formulierten neuen „Hauptaufgabe", nämlich der „Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes", unterwarf sie die Betriebe erneut den Lenkungsmechanismen des Plans. Daran änderte sich bis 1989 nichts mehr. Zwischen das für den jeweiligen Wirtschaftszweig zuständige Industrieministerium und den einzelnen VEB traten auf der mittleren Leitungsebene die
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Vereinigungen Volkseigener Betriebe ( W B ) und (später) „Kombinate". Die W B waren Verwaltungsinstanzen ohne wirtschaftliche Autonomie und fungierten als „Administrativorgane der Ministerien".13 Im Verlauf der siebziger Jahre wurde in der Industrie eine dreigliedrige Lenkungsstruktur durchgesetzt, wobei die bestehenden Kombinate konzentriert bzw. neu gegründet wurden und die W B schließlich weitgehend ersetzten. Kombinate waren ein Zusammenschluß volkseigener Betriebe, deren Produktionszweige sich technologisch oder ökonomisch ergänzten. Die Betriebe wurden um einen Stammbetrieb herum organisiert und blieben „im Rahmen ihrer Einordnung in den Reproduktions- und Leitungsprozeß des Kombinats ökonomisch und juristisch selbständige Einheiten"14. Kombinate wurden von einem Generaldirektor geleitet, der meist auch der Direktor des Stammbetriebes war. Verglichen mit den W B hatten die Kombinatsleitungen erheblich erweiterte wirtschaftliche Kompetenzen.15 Idealiter sollte der Generaldirektor „über Planvorgaben, Verfugung über betriebliche Ressourcen und Verwendung der erwirtschafteten Mittel, Zusammenlegungen und Verlagerungen der Kapazitäten, Zentralisierung bestimmter Fonds bei der Kombinatsleitung" entscheiden.16 Mit der Durchsetzung des Kombinatsprinzips Ende der siebziger Jahre mußte jeder VEB zu einem Kombinat gehören, was in der Praxis zu Kombinaten fuhren konnte, die aus einem Mischmasch sehr verschiedener Betriebe oder einer unüberschaubar großen Anzahl kleinerer VEB bestanden.17 Als letztlich tonangebende Säule der Wirtschaftslenkung trat neben die staatliche Wirtschaftsbürokratie der SED-Parteiapparat. Grundsatzentscheidungen wurden im Politbüro des ZK der SED gefallt und von der staatlichen Wirtschaftsbürokratie umgesetzt. Die Dominanz des Parteiapparats über die Wirtschaft beschränkte sich aber nicht nur auf die Zentrale, sondern zog sich durch alle Ebenen der Wirtschaftslenkung. Die Generaldirektoren der Kombinate waren den SED-Leitungen deijenigen Kreise und Bezirke rechenschaftspflichtig, in denen Kombinatsbetriebe lagen, und Betriebsdirektoren unterstanden der Kontrolle durch die Betriebsparteileitung. Der Einfluß der Partei auf die Wirtschaft wurde noch dadurch verstärkt, dass die große Mehrheit des wirtschaftlichen Führungspersonals Mitglied der SED war. „Alles in allem", stellt Andre Steiner fest, „war die Wirtschaftsbürokratie vom Parteiapparat abhängig", auch wenn sich das „infolge von Personalfluktuationen zwischen beiden Machtsäulen nicht immer so einfach darstellte."18 Während marktwirtschaftliche Wirtschaftssysteme auf Konkurrenz, der Marktregulierung über Angebot und Nachfrage sowie auf beweglichen Preisen und außerdem auf dem „Profitstreben", also der Gewinnorientierung, von Unternehmen basieren, schalteten die sozialistischen Planwirtschaftler diese Faktoren
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weitgehend aus, um eine vermeintlich harmonisierte, krisenfreie und effektive Wirtschaft zu erreichen. Konkurrenzsituationen wurden über den Volkswirtschaftsplan und die Bildung von Monopolen verhindert und die Preise verloren, durch staatlich bestimmte Festpreise und eine Vielzahl von Subventionen, jede Aussagekraft über den Wert eines Produktes.19 Auch die betrieblichen Gewinne unterstanden nicht der Verfugung der Betriebe, sondern mußten zum größten Teil an den Staat abgeführt werden, der damit, unter anderem, auch unrentable Betriebe „am Leben" erhielt. Während die Betriebe bis Mitte der fünfziger Jahre ihre Gewinne nahezu vollständig abzuführen hatten20, wurde der betriebliche Gewinn im Neuen Ökonomischen System der sechziger Jahre zum Hauptmerkmal wirtschaftlichen Erfolges und löste damit kurzzeitig die Planerfüllung in dieser Funktion ab. Doch mit dem Ende des NOS und dem erneut verstärkten Eingriff des staatlichen Lenkungssystems in die betriebliche Planung wurde die Erfüllung des Produktionsplans ab Anfang der siebziger Jahre wieder zum entscheidenden Maß fur betrieblichen Erfolg. Von der Planerfüllung (und nicht vom Gewinn) hingen neben der Zuteilung an materiellen und finanziellen Ressourcen im Folgejahr auch die Prämienzahlungen an die Belegschaft und damit mittelbar der Betriebsfrieden ab.21 Der Gewinn wurde zu einer im Plan vorab festgelegten Größe, von der dem Betrieb „gerade so viel Finanzierungsmittel belassen (wurden), wie er zur Durchführung der geplanten Aufgaben sowie zur Realisierung der geplanten Investitionen bei den von den Banken bewilligten planmäßigen Krediten benötigte."22 Ungeplante Mehrgewinne verblieben zur Hälfte beim Betrieb. Ihre Verwendung war jedoch reglementiert, so dass „beim Betrieb kaum nennenswerte Antriebskräfte zur Übererfüllung der realen Planziele und damit auch des durch sie bestimmten Soll-Gewinns ausgelöst wurden."23 Faßt man das bisher Gesagte zusammen, so bleibt (hier in einer Formulierung Andre Steiners) der Schluß, dass in der DDR-Wirtschaft der Zugriff der staatlichen Lenkungsinstanzen auf den Betrieb ein Ausmaß erreichte, das diesem kaum mehr als einige, stark individualisierte Verfügungsrechte über die betrieblichen Ressourcen beließ, denn: „Alle wesentlichen, den Wirtschaftsprozeß insgesamt und die Existenz des Betriebes beeinflussenden Fragen wurden zentral entschieden: die Gründung oder Schließung von Betrieben, deren Produktionsprofil und dessen Änderung, die Allokation der Ressourcen, die Aufteilung zwischen Konsumtion und Investitionen, die Investitionsverteilung und einzuführende technische Entwicklungen, Ex- und Importe, Preis- sowie Finanzprobleme." 24
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Die Erarbeitung des Volkswirtschaftsplans Das wichtigste Instrument der Wirtschaftslenkung war der „Jahresplan der Volkswirtschaft". Da er die wirtschaftlichen Beziehungen des ganzen Landes, einschließlich der privaten Betriebe, der Landwirtschaft und der Kommunen, erfaßte und koordinierte, handelte es sich beim Volkswirtschaftsplan um ein sehr umfangreiches Dokument, dessen Erstellung erheblichen Aufwand erforderte. Idealtypisch durchlief seine jährliche Formulierung drei Etappen. Auf der Basis längerfristiger Zielstellungen und der Daten des Voijahres entwarf die Staatliche Plankommission (SPK) zunächst ein Planprojekt, das nach Bestätigung durch die Führungsgremien der SED und den Ministerrat auf der Ministerienund Kombinatsebene fur die einzelnen Betriebe aufgeschlüsselt und gegebenenfalls durch weitere Planaufgaben ergänzt wurde. Dann wurden die jeweils relevanten Teile des Planprojekts an die Betriebe weitergereicht, die ihre Planung konkretisieren und mit der Belegschaft diskutieren sollten. Im Anschluß an die innerbetriebliche „Diskussion" gelangten die Planentwürfe der Betriebe über die Kombinats- und Ministerienebene, wo sie aufeinander abgestimmt und aggregiert wurden, wieder zur Plankommission. Diese erarbeitete einen zusammenfassenden Plan, der erneut dem Politbüro und dem Ministerrat vorgelegt wurde. Hatten diese den Jahresplan beraten und beschlossen, wurde er, zusammen mit dem Staatshaushaltsplan, Anfang Dezember der Volkskammer zur Verabschiedung vorgelegt. Mit der Bestätigung durch die Volkskammer hatte der Jahresplan Gesetzeskraft25 und wurde erneut stufenweise auf die einzelnen Kombinate und Betriebe aufgeschlüsselt, die er nun in Form verbindlicher Planauflagen erreichte.26 Das beschriebene Vorgehen bei der Planerstellung sollte der Belegschaft das Gefühl geben, ein Eigentümer- und damit Mitspracherecht am „volkseigenen" Betrieb zu haben. Aber in der Praxis war die Ablehnung der staatlichen Aufgabenformulierung auf Betriebsebene nicht vorgesehen und die erwartete Mitbestimmung beschränkte sich auf akklamatorische Zustimmung und Selbstverpflichtungen der Belegschaft, die Vorgaben noch zu überbieten. Zwischen den Betrieben und der Zentrale bestand im Prozeß der Planausarbeitung ein unüberbrückbarer Interessenkonflikt. Einerseits waren die Betriebe an der Erfüllung der Planvorgaben interessiert, da von dieser die Prämienzahlungen, die weithin den Charakter eines alljährlich gezahlten „13. Monatsgehalts" angenommen hatten, und die Zuteilung von Grundstoffen für die Produktion abhingen. Unter den Bedingungen eines andauernden Mangels an Ressourcen27 sahen sie sich aber gleichzeitig mit Zielvorstellungen konfrontiert, die auf die politischen Erwartungen und Versprechungen der SED-Führung abzielten
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und die wirtschaftlichen Realitäten des Landes allenfalls nachgeordnet berücksichtigten. In dieser Situation hatten die Betriebe ein Interesse an „weichen", erfüllbaren Plänen und gestalteten ihre Plankorrekturen entsprechend. Daneben begannen sie schon sehr früh, nichtbilanzierte Ressourcen zu horten, um die eigene Produktion abzusichern oder um sie im Naturaltausch mit anderen Betrieben als Zahlungsmittel einsetzen zu können. Der Zwang zur Planerfüllung hatte so ein Netz von zwischenbetrieblichen Tausch- und Handelsbeziehungen zur Folge, die außerhalb der Mechanismen des Planes lagen. Lothar Fritze spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem „Quasi-Markt der Beziehungen und der Bestechung".28 Der Zentrale war das ebenso bekannt wie die Tendenz der Betriebe, die eigenen wirtschaftlichen Fähigkeiten zu verschleiern. Sie reagierte darauf mit erhöhten Planvorgaben, die wiederum in den Betrieben als unrealistisch empfunden wurden. Durch die enorme Zentralisierung der Entscheidungskompetenz ging im Planungsverlauf die Kompetenz der betrieblichen Basis verloren. Während der Plan die gesamte Volkswirtschaft, ein äußerst komplexes Gefüge wirtschaftlicher Beziehungen, umfaßte, wurden die grundsätzlichen wirtschaftspolitischen Entscheidungen im Politbüro des ZK der SED getroffen, von einer ausgesprochen kleinen Personengruppe also, innerhalb derer der Generalsekretär Erich Honecker und der Sekretär fur Wirtschaft Günter Mittag die Linie bestimmten. Die in den monatlichen Berichten über den Stand der Planerfüllung anfallenden Datenmengen 29 ließen sich von Einzelpersonen längst nicht mehr verarbeiten, so dass den Entscheidungsträgern hoch aggregierte Berichte vorgelegt werden mussten, die etwa ein Promille des relevanten Datenbestandes umfaßten. Die Lenkung der Volkswirtschaft erfolgte so auf der Basis „extrem vereinfachter Modelle", „welche die Wirklichkeit nur unzureichend oder sogar falsch wiedergaben." 30 Der von der Volkskammer beschlossene Volkswirtschaftsplan mit den Staatlichen Planauflagen für das Folgejahr erreichte die Betriebe noch im Dezember. Aufbau und Inhalt des Planes hatten für die Betriebe und Kombinate der Industrie und des Bauwesens einheitlich zu sein.31 Der Betriebsplan enthielt zehn Planteile, die wiederum in insgesamt 95 Einzelpläne aufgegliedert waren. Planteil 3 „Wissenschaft und Technik", also der Planteil, über den auch die Produktion der Dopingmittel für den DDR-Sport organisiert wurde, bestand aus vier Einzelplänen: dem Plan der Forschung und Entwicklung, dem Plan der technischen und organisatorischen Maßnahmen (TOM-Plan), dem Plan der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation und dem Plan der Neuerertätigkeit.32
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Der Plan Wissenschaft und Technik war insofern etwas besonderes, als er ein Gebiet erfaßte, dessen Ergebnisse weniger planbar waren als etwa die Produktion der Betriebe. Außerdem betraf er übergreifend die Forschungseinrichtungen der verschiedenen Ministerien und zentraler Einrichtungen wie der Akademie der Wissenschaften, die dem Ministerrat unterstellt war. Die Ausarbeitung des Plans Wissenschaft und Technik lag in der Verantwortung des Ministeriums für Wissenschaft und Technik (MWT) und erfolgte in Abstimmung mit der SPK. 33 Das M W T legte zunächst den Staatsplan Wissenschaft und Technik vor, in dem die Staatsaufträge und Staatsplanaufgaben34 formuliert waren. Dann durchlief der Plan im geschilderten Modus die Ministerien sowie die Kombinatsund Betriebsebene. Die Kombinate und Betriebe hatten dabei das Recht, eigene Planthemen zu formulieren, so dass der Plan neben den Staatsplanaufgaben, die die volkswirtschaftliche Ebene betrafen, auch Kombinats- und Betriebsthemen enthielt. Allerdings genossen Staatsplanaufgaben in diesem Prozess Vorrang vor den Themen der anderen Bereiche, um „das Primat der volkswirtschaftlichen vor den betrieblichen Aufgaben" abzusichern.35 Die Kompetenzen des Ministers für Wissenschaft und Technik bei der Erstellung des Staatsplans und die Vorrangstellung der Staatsplanaufgaben waren in der „Ordnung für die Arbeit mit Staatsaufträgen Wissenschaft und Technik" festgeschrieben. So hatten der Minister für Wissenschaft und Technik und der Vorsitzende der SPK unter anderem „das Recht, Ministern und Leitern anderer zentraler Staatsorgane Aufträge zur Mitwirkung bei der Vorbereitung und Ausarbeitung von Staatsaufträgen zu erteilen und von ihnen die Mitarbeit von Kombinaten und wissenschaftlich-technischen Einrichtungen ihres Verantwortungsbereiches zu fordern." 36
Die Minister und Leiter zentraler Organe, die Präsidenten der AdW und die Generaldirektoren der Kombinate waren für die Erfüllung der Staatsaufträge verantwortlich und dem Minister für Wissenschaft und Technik über den Stand der Erfüllung rechenschaftspflichtig.37 Sie hatten außerdem zu sichern, dass „die ihnen übertragenen Aufgaben aus Staatsaufträgen in die entsprechenden Teile der Pläne ihrer Kombinate und Einrichtungen vorrangig eingeordnet werden sowie ihre Durchführung straff geleitet und ständig kontrolliert wird".38 Die Ordnung schrieb explizit sowohl die vorrangige Einarbeitung der Staatsaufträge in den Fünfjahres- und den Volkswirtschaftsplan39 als auch die vorrangige materielle Absicherung der Durchführung der Staatsaufträge vor, die im Aufgabenbereich des Vorsitzenden der Plankommission lag.40 Für die Betriebe, die in
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ständigem Wettstreit um die Zuteilung von Ressourcen standen, war wohl vor allem eine Passage gegen Ende des Dokuments interessant, verhieß sie ihnen doch „vorrangigen" Zugang zu „Materialien, Maschinen und Ausrüstungen".41 Damit wurde der Plan Wissenschaft und Technik für die Betriebe zu einem Instrument, mit dem sich unter Verweis auf den „Vorrang" der Staatsplanaufgaben von den Kombinaten und Ministerien materielle Ressourcen einfordern ließen.
3. Die pharmazeutische Industrie der DDR Nach dem Krieg gestaltete sich die Versorgung der SBZ mit Arzneimitteln ausgesprochen schwierig. Dem aufgrund der Kriegsfolgen sehr schlechten Gesundheitszustand der Bevölkerung stand eine Arzneimittelproduktion gegenüber, deren Leistungsfähigkeit aus strukturellen und politischen Gründen erheblich eingeschränkt war. Zum einen lagen die traditionellen Zentren der deutschen Pharmaindustrie in den westlichen Besatzungszonen, zum anderen waren auch die vergleichsweise wenigen pharmazeutischen Betriebe der SBZ von der Demontagepolitik der sowjetischen Besatzung in den ersten Nachkriegsjahren betroffen. Die vorhandenen Großbetriebe wurden seit 1946 treuhänderisch verwaltet, um dann 1948 enteignet und in „Volkseigentum" überfuhrt zu werden. 1950 gab es neben den 43 volkseigenen Betrieben, die die Basis beim Aufbau einer volkseigenen Arzneimittelindustrie bildeten, 175 private Arzneimittelhersteller. Das waren meist kleinere Betriebe, die vor allem pflanzliche Arzneimittel produzierten.42 Zwischen den Verstaatlichungen 1948 und dem Zusammenbruch 1989 durchlief der Pharmasektor, wie die gesamte DDR-Industrie, einen Konzentrationsprozeß, der in mehreren Schüben erfolgte. Zunächst wurde ein Teil der pharmazeutischen Betriebe über die W B „Pharma" verwaltet, ab 1958 dann über die neu gegründete W B „Pharmazeutische Industrie". Gleichzeitig erfolgten Betriebzusammenlegungen, in denen bisher selbstständige Betriebe als Betriebsteile in andere Betriebe eingegliedert wurden. 1970 schließlich wurden nahezu alle Arzneimittelbetriebe in die beiden neuen KombinateJenapharm und Arzneimittelwerk Dresden eingegliedert. Der VEB Berlin-Chemie, der zunächst noch eigenständig war, ging nach der Auflösung der W B Pharmazeutische Industrie zusammen mit den beiden Kombinaten in Jena und Dresden im 1979 gebildeten VEB Pharmazeutisches Kombinat G E R M E D auf, als dessen Stammbetrieb das Arzneimittelwerk Dresden fungierte.43 Als Generaldirektor des neuen Kombinates wurde der Direktor des AWD Winfried Noack berufen, der diese Funktion bis 1990 ausübte.
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Der Großkonzern GERMED, der fast die gesamte Pharmaindustrie der DDR umfasste44, hatte Ende der achtziger Jahre 16.000 Mitarbeiter und einen Umsatz von 5 Mrd. Mark. 23% seiner Produktion wurden, vor allem in die sozialistischen Länder, exportiert.45 Zu diesem Zeitpunkt wurden 80% des Arzneimittelbedarfs der DDR aus eigener Produktion gedeckt.46 Obwohl die Gesamtzahl der in der DDR zugelassenen Präparate recht niedrig war47, war der Pharma-Monopolist G E R M E D ein Konzern mit ausgesprochen breiter Produktpalette. Die Zahl der hier hergestellten unterschiedlichen Medikamente übertraf diejenige vergleichbarer westlicher Konzerne um das Zehnfache.48 Die zunehmende Konzentration innerhalb der Betriebsstrukturen ging mit einer Konzentration sowohl der Produktpalette als auch der Standorte der Konfektionierung, also der Verarbeitung der reinen Wirkstoffe zu Medikamenten, einher. Die Politik, Doppelentwicklungen und Konkurrenzsituationen zu vermeiden, führte so in der Pharmaindustrie zur Spezialisierung der einzelnen Betriebe auf bestimmte, nach Indikationsgruppen definierte Produktgruppen und auf spezielle Applikationsformen.49 Als wichtiges Instrument zur Steuerung der Arzneimittelpalette fungierte seit 1950 der Zentrale Gutachterausschuß für Arzneimittelverkehr (ZGA), der dem Minister fur Gesundheitswesen die Zulassung oder Streichung von Arzneimitteln empfahl.50 Die Produkte der DDR-Pharmaindustrie waren in der großen Mehrzahl Generika. Zwischen 1951 und 1989 wurden nur 50 innovative Entwicklungen von Pharmabetrieben der DDR zugelassen.51 Die Betriebe der pharmazeutischen Industrie hatten unter denselben schlechten Bedingungen zu arbeiten wie die übrigen Industriebetriebe der DDR. Das geschilderte Planungssystem war nicht nur autoritär und inflexibel, sondern letztlich auch innovationsfeindlich.52 Hinzu kam die personelle Unterbesetzung im Bereich der klinischen Entwicklung, die auf die wenig innovative Konzentration auf Generika und das für Mediziner niedrige Gehaltsniveau in der pharmazeutischen Industrie zurückzuführen war.53 Auch die materiellen Defizite teilten die Pharma-Betriebe mit den übrigen Betrieben der DDR. Der hohe Verschleißgrad der Anlagen, der marode Zustand der Gebäude sowie die schlechten allgemeinen Arbeits- und Hygienebedingungen ließen das Institut für Arzneimittelwesen der DDR (IFAR) in seinem Jahresbericht 1988 feststellen: „Gebäude und Anlagen sind in vielen Betrieben in einem nicht akzeptablen Maße verschlissen (mit Ausnahme eines Werkteiles des SSW 5 4 , des Galeniktechnikums des V E B AWD und des Zentralinstitutes fur Kernforschung Rossendorf der AdW ist kein Arzneimittelbetrieb für ausländische Inspektoren inspektionsfähig). [...] Es gibt
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gegenwärtig keinen Betrieb des VEB PKG Dresden, der die GMP-Empfehlungen55 der WHO komplex einhalten kann."56
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Der VEB Jenapharm wurde zum 1. Januar 1950 gegründet. Er ist aus dem „Institut fur Mikrobiologie" hervorgegangen, das seit Ende 1944 von dem Jenaer Optik-Unternehmen Carl Zeiss und dem Glaswerk Schott & Gen. betrieben worden war. „Gründungsvater" des so genannten Schott-Zeiss-Instituts war der Mediziner Dr. Hans Knöll, der 1938 aus Frankfurt nach Jena geholt worden war, um die Qualität der im Glaswerk Schott hergestellten Mikrobenfilter zu verbessern. Seit 1942 beschäftigte sich Knöll auch mit der Synthese von Penicillin. Die guten Ergebnisse Knölls und der große Bedarf an dem neuen Antibiotikum führten noch kurz vor Kriegsende zur Gründung des Instituts für Mikrobiologie. Hauptaufgabe des Schott-Zeiss-Instituts war die Forcierung der Jenaer Penicillin-Forschung mit dem Ziel einer fabrikmäßigen Produktion des Antibiotikums.58 Tatsächlich konnte, nachdem das Institut sowohl der Evakuierung durch die Amerikaner als auch der Demontage durch die Sowjets entgangen war, im Juli 1948 mit der Produktion eines Penicillin-Wundpuders begonnen werden. Von Anfang an wurden die Produkte des „Instituts für Mikrobiologie" unter dem Markennamen „Jenapharm" vertrieben.59 Der neue Betrieb wuchs mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Hatte das Institut für Mikrobiologie bei seiner Gründung noch 8 Mitarbeiter gehabt, so waren es bei Aufnahme der Penicillin-Produktion schon 340 Beschäftigte. Im Gründungsjahr 1950 hatte der VEB Jenapharm 1100 Mitarbeiter, deren Zahl sich bis 1955 noch einmal verdoppelte. In den folgenden Jahrzehnten blieben die Beschäftigtenzahlen in etwa auf diesem Niveau. Zum Jahreswechsel 1989/90 hatte Jenapharm 2.572 Beschäftigte, davon 1.659 in Jena. Die übrigen verteilten sich auf Betriebsteile in Erfurt, Gotha, Naumburg und Magdeburg.60 Damit war Jenapharm, mit erheblichem Abstand hinter Schott und Zeiss, der drittgrößte Industriebetrieb der thüringischen Universitätsstadt Jena. Der neu gegründete Betrieb Jenapharm war zunächst der W B Pharma zugeordnet worden, wurde aber schon nach einem Jahr der Hauptverwaltung Chemie im Ministerium für Schwerindustrie unterstellt. Ab dem 15. März 1953 gehörte der Betrieb zur Hauptverwaltung Pharmazie im Ministerium für Gesundheitswesen, nach deren Auflösung wurde er 1958 der neu gegründeten W B Pharmazeutische Industrie zugeordnet.61
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Bis 1960 wurden dem Betrieb Unternehmen in Gotha, Rudolstadt, Erfurt und Naumburg eingegliedert, die neben der Herstellung von Kräuterpillen und Pflastern vorzugsweise die Konfektionierung der in Jena produzierten Substanzen übernahmen. Dem Kombinat Jenapharm, das am 01. Januar 1970 seine Tätigkeit aufnahm, gehörten Betriebe an zehn verschiedenen Standorten an, deren Produktion vom Stammbetrieb in Jena aus koordiniert wurde.62 Zum 1. Januar 1980 ging das Kombinat im neu gegründeten Pharmazeutischen Kombinat G E R M E D auf, als dessen Stammbetrieb das Arzneimittelwerk Dresden fungierte. G E R M E D war eines von 14 Kombinaten, die dem Ministerium für Chemische Industrie unterstellt waren. Es hatte bei seiner Gründung 12 Kombinatsbetriebe, darunter Jenapharm. 63 Die Leitungsstruktur der einzelnen Kombinatsbetriebe war 1980 fur alle Kombinate vom Minister für Chemische Industrie, Günter Wyschofsky, verbindlich festgelegt worden. Jenapharm als Betrieb vom Typ Α (Kombinatsbetriebe mit mehr als 1.500 Beschäftigten am Standort) hatte unterhalb des Betriebsdirektors, dem direkt 8 Stabsorgane unterstanden, 8 Direktorate, darunter den Bereich Forschung und Entwicklung.64 1980 beschäftigte Jenapharm mit 2800 Personen 20% der Arbeitskräfte des Kombinats und realisierte 25% der Produktion von G E R M E D . Der Bereich Forschung und Entwicklung hatte 356 Mitarbeiter, was 24% der kombinatsweit in der Forschung Beschäftigten entsprach.65 Hatte der Umsatz des Betriebes 1969 noch bei 270,2 Millionen Mark gelegen, so erwirtschaftete Jenapharm 1989 mit 1,25 Milliarden Mark Jahresumsatz ein Viertel des Umsatzes der gesamten DDR-Pharmaindustrie.66 Innerhalb der Ausrichtung der Betriebe auf einzelne Produktgruppen waren Jenapharm die Hauptlinien Antibiotika, Vitamine und Steroid-Hormone zugeordnet. Die Steroidproduktion begann 1950 mit der Synthese von 10 kg Vitamin D2. Steroidhormone, nämlich das Gestagen Progesteron und das Kortikoid DCA (Desoxycorticosteronacetat) wurden seit 1954 produziert. In den Sechzigern wurde die Steroidproduktion zu einem weiteren Schwerpunkt des Betriebes ausgebaut. Ab 1965 konnte Jenapharm mit „Ovosiston" als erster Betrieb im Ostblock eine Antibaby-Pille anbieten. Seit Anfang der siebziger Jahre stieg der Absatz der so genannten „Wunschkindpille" deutlich an und Jenapharm konzentrierte sich bei der Entwicklung neuer Arzneimittel zunehmend auf hormonelle Kontrazeptiva. Die 1987 erarbeitete, letzte langfristige Entwicklungskonzeption sah schließlich eine weitere Konzentration auf die Steroidproduktion und das Auslaufen ehemals wichtiger Produkte wie Oxytetracyclin, Streptomycin und Ascorbinsäure vor. 1989 hatte der Betrieb sieben verschiedene Kontrazeptiva auf dem Markt.67 Das ein Testosteron-Derivat enthaltende Oral-Turinabol wurde 1965 als Medikament u.a. während der Rekonvaleszenz nach schweren Verletzungen
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oder Operationen bzw. bei Knochenschwund zugelassen. Es war die erste innovative Entwicklung des Generika-Herstellers Jenapharm. Sehr umfangreich wurde der Einsatz von Steroidhormonen in der „industriellen Tierproduktion" der DDR erprobt. Bis zur Zulassung gelangten aber nur zwei Präparate zum Frühträchtigkeitsnachweis von Sauen und zur Brunstsynchronisation von Färsen.68 Im Bereich Forschung war der wichtigste Kooperationspartner Jenapharms das Jenaer Zentralinstitut fur Mikrobiologie und experimentelle Therapie (ZIMET) der Akademie der Wissenschaften (AdW) der DDR. Weitere Kooperationspartner, gerade auch im Steroid-Bereich, waren die Institute für Pharmakologie, Chemie und Medizin der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seit Ende der sechziger Jahre wurde verstärkt mit einer ganzen Reihe von Einrichtungen in verschiedenen Städten der DDR zusammen gearbeitet. Im Zusammenhang mit der Entwicklung von Kontrazeptiva betraf das etwa die maßgeblichen Frauenkliniken der DDR, u.a. in Berlin, Greifswald und Rostock. International gab es Vereinbarungen mit Partnerinstituten in Budapest, Moskau, Prag, Sofia, Warschau, Havanna und Suchumi.69 Gegenstand der internationalen Zusammenarbeit im Bereich Steroide war in den achtzigerJahren schwerpunktmäßig die Entwicklung von Verfahren, die die Produktion von Glukokortikoiden, Gestagenen und Androgenen auf der Basis einheimischer Rohstoffe ermöglichen und die Abhängigkeit von Westimporten verringern sollten.70
Das Arzneimittelwerk Dresden AWD Wie der VEB Jenapharm wurde auch das Arzneimittelwerk Dresden (AWD) erst in der DDR gegründet. Anders als jener war es aber keine Neugründung, sondern entstand durch die Zusammenlegung traditionsreicher Chemie- und Pharma-Unternehmen, die seit vielen Jahrzehnten ihren Sitz in Dresden bzw. dem nahe gelegenen Radebeul hatten. Zum 1. April 1951 wurden zunächst die ehemaligen Chemischen Werke Gehe & Co. in Dresden und die ehemalige Firma Dr. Madaus & Co. Radebeul, die seit ihrer Enteignung 1948 als Pharmazeutische Werke Gehe bzw. Pharmazeutische Werke Madaus Radebeul-Dresden gefuhrt worden waren, zum neuen VEB Arzneimittelwerk Dresden vereinigt. Im Januar 1952 wurde der VEB Wecustawerke Dresden, die ehemalige Firma Cuypers & Stalling, eingegliedert. Am 1. Januar 1961 kam schließlich die ehemalige Chemische Fabrik von Heyden AG hinzu, die seit 1948 der VEB Chemische Fabrik von Heyden gewesen und 1958 aus markenrechtlichen Gründen in VEB Chemische Werke Radebeul umbenannt worden war.71 1961 hatte das
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AWD knapp 3000 Beschäftigte, als Stammbetrieb des Kombinates G E R M E D belief sich die Zahl seiner Beschäftigten dann Ende der achtziger Jahre auf etwa 3600. 72 Die Betriebsstruktur des AWD wurde vom Ministerium für Chemische Industrie bestimmt und entsprach der des VEB Jenapharm.73 Das Arzneimittelwerk Dresden hatte die größte betriebliche Forschungsabteilung des Kombinates GERMED. Anfang 1988 hatte der Bereich Forschung und Entwicklung des AWD 651 Mitarbeiter, denen bei Jenapharm 375 und bei Berlin-Chemie 318 Mitarbeiter gegenüberstanden.74 Bei Madaus & Co., einem Hersteller von Heilpflanzen-Präparaten und Homöopathika, waren seit 1944 Untersuchungen zur Herstellung von Penicillin angestellt worden. Als nach dem Krieg die Demontagen durch die sowjetische Besatzung die Produktion pflanzlicher Präparate unmöglich machten, trat an deren Stelle der Aufbau der mikrobiellen Penicillin-Produktion.75 Nach der Gründung des AWD war Penicillin dessen wichtigstes Erzeugnis, was zunächst zu einer engen Zusammenarbeit mit dem VEB Jenapharm auf dem Gebiet der Penicillin-Forschung und -Produktion führte. Ihm Rahmen der Produktionskonzentration wurde die Fertigung von Penicillin-Produkten später ganz an Jenapharm abgegeben.76 Innerhalb der Ausrichtung der Pharmabetriebe auf bestimmte Indikationsgruppen waren dem AWD Antiepileptika, orale Antidiabetika, Koronartherapeutika, Psychopharmaka (darunter Nootropika) sowie die Applikationsformen Ampullierung und Lyophylisierung zugeordnet.77
Das Zentralinstitut für Mikrobiologie und experimentelle Therapie ZtMET in Jena Wichtigster Kooperationspartner Jenapharms im Forschungsbereich war das ZIMET, das Zentralinstitut für Mikrobiologie und experimentelle Therapie in Jena. Die enge Zusammenarbeit, die auch in einem starken personellen Austausch ihren Ausdruck fand, hatte auch institutionelle Gründe, denn das ZIMET war 1954 als Institut für Mikrobiologie und experimentelle Therapie (IMET) aus dem VEB Jenapharm ausgegründet worden. Neben Hans Knöll, dem Vater der Penicillinforschung in Jena und ersten Werkleiter, wechselten dabei 60 Fachkräfte aus dem Forschungs- und Entwicklungsbereich des Betriebes in das neue Forschungsinstitut. Nach seiner Gründung unterstand das IMET zunächst dem Ministerium für Gesundheit. 1956 wurde es der Akademie der Wissenschaften (AdW) der DDR unterstellt78 und im Zuge der Strukturreform der Akademie 1970 in den Rang eines Zentralinstituts erhoben. Mit etwa 1000 Beschäftigten
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war das Z I M E T schließlich das größte biowissenschaftlichen Forschungszentrum der DDR. 7 9 Zunächst hatte das I M E T Aufgaben der Grundlagen- und der aktuellen Zweckforschung, daneben aber auch die Ausbildung des wissenschaftlich-technischen Nachwuchses für Jenapharm und die anderen Jenaer Großbetriebe übernommen. Nach der Übernahme des Instituts durch die Akademie der Wissenschaften wurden die am Institut bearbeiteten Themen systematisch ausgebaut, so dass es schließlich ein Profil erlangte, das sich durch eine starke Interdisziplinarität auszeichnete.80 1990 hatte das Institut 10 wissenschaftliche Bereiche mit insgesamt 658 Mitarbeitern, davon waren 236 Wissenschaftler. Der Bereich Steroidforschung hatte 74 Mitarbeiter, darunter 35 Wissenschaftler.81 In den achtziger Jahren betraf die von einer ständigen Arbeitsgruppe geplante und kontrollierte Zusammenarbeit zwischen Jenapharm und dem Z I M E T schwerpunktmäßig die biotechnologische Verfahrensoptimierung mit den Zielen, das Antibiotika-Sortiment zu erweitern bzw. die Produktion von Steroidwirkstoffen und ihrer Zwischenprodukte auf der Basis einheimischer Rohstoffe zu sichern. Dabei hatte das Z I M E T grundlegende Forschungsarbeiten zur Prozesssteuerung von Fermentationsprozessen zu erstellen, die Jenapharm in die Lage versetzen sollten, die mikroelektronische Steuerung der Fermentation auszubauen. Außerdem sollte eine ganze Reihe weiterer Verfahren optimiert werden, um die Ausbeute des gewünschten Produktes zu erhöhen. 82 Ein weiterer Forschungskomplex betraf die „Entwicklung neuer halbsynthetischer ß-Lactamantibiotika" mit dem Ziel, die Importe aus dem Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet (NSW) zu begrenzen, Forschungsvorlauf für den gerade im Aufbau befindlichen Fermentationsbetrieb Neubrandenburg FBN zu erreichen, die Antibiotikapalette abzurunden und neue Exportmöglichkeiten zu erschließen.83 Im Bereich Steroide sollten Verfahren entwickelt werden, mit deren Hilfe ßSitosterol, das in der Zellstoffindustrie als „Sekundärrohstoff" anfiel, für die Produktion von Steroiden erschlossen werden konnte. Auch hier ging es darum, von NSW-Importen unabhängig zu werden.84 Andere Kooperationsprojekte betrafen die Erprobung verschiedener Steroide mit dem Ziel der Entwicklung neuer Kontrazeptiva wie der „Pille danach", der „Pille für den Mann", der „Wochenpille", eines Antiklimakteriums bzw. eines nicht weiter spezifizierten Androgensubstituts bei Testosteronmangel und zur physischen und psychischen Leistungsstimulierung.85 Gerade im Bereich der Steroidforschung war die Zusammenarbeit des Z I M E T mit Jenapharm so stark ausgeprägt, dass zentrale Forschungsaufgaben der Jenapharm ohne das Institut nicht mehr durchführbar gewesen wären.86 Die Arbeitsgruppe Biowissenschaften und Medizin des Wissenschaftsrates, die das
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Z I M E T Anfang 1991 evaluierte, bewertete die Folgen dieser intensiven Zusammenarbeit kritisch. Während sie die Arbeit der Kernbereiche des Instituts als „wissenschaftlich gut bis sehr gut" einstufte87, bescheinigte sie dem Bereich Steroidforschung zwar immerhin „gute und solide organisch-chemische Methoden", jedoch waren ihr „in Bezug auf innovative und originelle Forschungsansätze [...] in der Vergangenheit und fur die Zukunft keine überzeugenden Konzepte erkennbar."88 Diese Konzeptionslosigkeit führte sie direkt darauf zurück, dass „im Bereich der Steroidforschung [...] in der Vergangenheit im wesentlichen industrielle Dienstleistungen in Zusammenarbeit mit Jenapharm vorgenommen" worden waren.89 Terminologische Spuren dieser engen Zusammenarbeit finden sich noch im Zentrum des DDR-Dopingsystems, denn die Bezeichnung „STS" für einige der im Doping verwendeten bzw. erprobten Substanzen, etwa für das erstmals 1935 beschriebene Mestanolon90 (STS 646), verweist auf Synthese oder Nachsynthese beim ZIMET. In der Nomenklatur des Instituts bedeutet „STS" „Steroidtestsubstanz".91 Diese Bezeichnung wurde beibehalten, auch als der Umgang mit der Substanz längst den Mauern des Z I M E T entwachsen war.
4. Schlussfolgerungen
a) Die Betriebsleitungen der VEB hatten prinzipiell nur einen eingeschränkten Zugriff auf den Inhalt des für sie verbindlichen Betriebsplanes. Sie konnten im Verlauf der Planbildung zwar verhandeln, im Zweifel bestimmte aber die Zentrale über die einzelnen Kennziffern des Plans. Das galt in verstärktem Maße für die Aufgaben im Staatsplan Wissenschaft und Technik, die vorrangig zu bearbeiten waren, besonders aber für die geheimen Sport-Themen des SPWT. b) Auch wenn die Betriebe nur sehr eingeschränkte Verantwortung für die Planpositionen hatten, so hatten die Verantwortlichen doch ein starkes Interesse an der Erfüllung des Planes, da davon die Prämien und damit das eigene Einkommen, aber auch die Loyalität der Beschäftigten abhingen. Hier wurde beträchtliche Eigeninitiative entfaltet, die sich in erheblichem Ausmaß auf Wirtschaftsbeziehungen erstreckte, die neben dem Plan lagen. Innerhalb der Betriebe lag hier durchaus persönliche Verantwortung für die Bewältigung der Planaufgaben. c) Für die volkseigenen Betriebe der DDR bemaß sich betrieblicher Erfolg nicht am erwirtschafteten Gewinn, sondern an der Erfüllung des Plans.92 Die Planerfüllung war aber direkt von der ausreichenden Verfügung über materielle
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Ressourcen wie Grund- und Rohstoffe, Maschinen und Anlagen abhängig. Die Frage nach dem Zugriff auf ausreichende Ressourcen wurde so zur Schicksalsfrage der Planerfüllung. Will man die Bedeutung eines einzelnen Produkts fur einen Betrieb bewerten, wird in diesem Kontext wichtig, welche Rolle es bei der Erfüllung des Plans hat, welchen Einsatz von Ressourcen es erforderte bzw. ob es Zugang zu materiellen Ressourcen ermöglichte. Die Produktion der Doping-Mittel bei Jenapharm war für den Betrieb von geringer wirtschaftlicher Bedeutung. 93 Angesichts der gesetzlich fixierten vorrangigen Bearbeitung von Aufgaben des Staatsplans Wissenschaft und Technik, die sich mit dem Interesse des Betriebes an der Planerfüllung kreuzte, ist also davon auszugehen, dass ein betriebliches Interesse an dem geheimen Staatsplanthema 14.25 in dessen Potenz lag, den Zugriff auf die Zuteilung materieller Ressourcen zu vergrößern.
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Neben dem Doping-Forschungsprogramm 14.25 gab es im Staatsplan Wissenschaft und Technik noch andere geheime „Sportthemen", die sich mit dem „Stütz- und Bewegungssystem" (14.26), der „Gleitreibung" an den Kufen von Wintersportgeräten (14.27) und „Bildmeßverfahren" (14.28) beschäftigten. Für das Ministerium für Chemische Industrie vergleiche: Anforderungsprogramm des Staatssekretariats für Körperkultur und Sport für den Leistungssport der DDR an das Ministerium für Chemische Industrie im Zeitraum bis 1995, Stand: November 1988, sowie als Beispiel: Protokoll der 13. Beratung der Arbeitsgruppe „Leistungssport der chemischen Industrie", vom 02.04.1987, in: Bundesarchiv Berlin DG 11, 6824. Gegenstand der Beratung der Arbeitsgruppe „Leistungssport" am 28.01.1987 war u.a. die Entwicklung bzw. Produktion von Ski-Werkstoffen, Hochleistungsmunition, Torwarthandschuhen, Rennrad-Schlauchreifen und -Sätteln, von Turnsprungmatten und Boxermundschutz. Vergleiche hierzu den Beitrag von Klaus Latzel. Wolfgang Mühlfriedel, Herausbildung und Entwicklungsphasen des „Volkseigentums", in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", Bd. II/3, hg. v. Deutschen Bundestag, Baden-Baden 1995, S. 2218-2286, S. 2260. Zur Einführung in die DDR-Volkswirtschaft allgemein: Andre Steiner, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, München 2004, sowie Jörg Roesler, Die Wirtschaft der DDR, Erfurt 2002 oder ausfuhrlicher: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung Berlin (Hg.), Handbuch DDR-Wirtschaft 4., erweiterte und aktualisierte Auflage, Reinbek 1984 (zit.: Handbuch DDR-Wirtschaft). Staatliche Zentralverwaltung für Statistik (Hg.), Statistisches Jahrbuch 1989 der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1989, S. 99. Roesler, Wirtschaft der DDR, S. 6.
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Ebenda, S. 9ff. Hierzu vgl. Steiner, Plan, S. 52f. Zwischen das oberste Leitungs- und Planungsorgan (nacheinander DWK, Ministerium für Planung, Staatliche Plankommission [SPK], Wirtschaftsrat und wieder SPK) und die untere Leitungsebene (VEB) trat dabei allein im Zeitraum von 1948 bis 1962 die obere Leitungsebene (mal in Form eines einzelnen Ministeriums für Industrie, mal in Form verschiedener Industrieministerien und Hauptverwaltungen, mal als Abteilungen bzw. Sektoren der SPK), zu der über weite Strecken eine mittlere Leitungsebene (in Form der Vereinigungen Volkseigener Betriebe [ W B ] ) hinzu kam (vgl. dazu Jörg Roesler, Die Herausbildung der sozialistischen Planwirtschaft in der DDR. Aufgaben, Methoden und Ergebnisse der Wirtschaftsplanung in der zentralgeleiteten volkseigenen Industrie während der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus, Berlin/DDR 1978, S. 30-40, vor allem Abb. S. 33). Andre Steiner, Betriebe im DDR-Wirtschaftssystem, in: Renate Hürtgen/Thomas Reichel (Hg.), Der Schein der Stabilität. DDR-Betriebsalltag in der Ära Honecker, Berlin 2001, S. 53-67, S. 54. Steiner, Plan, S. 130ff. Vgl. ebenda, S. 142ff. Lothar Fritze, Panoptikum DDR-Wirtschaft. Machtverhältnisse, Organisationsstrukturen, Funktionsmechanismen, München 1993, S. 20. Zu den W B (um 1960) vgl. auch Steiner, Plan, S. 100, sowie (zu den W B im NÖS) ebenda, S. 130. Verordnung über die volkseigenen Kombinate, Kombinatsbetriebe und volkseigenen Betriebe vom 8. November 1979, in: Gesetzblatt der DDR, 1/1979, S. 355-366 (zit.: Verordnung über die volkseigenen Kombinate), S. 356 (auch in: Wolfgang Seiffert, Wirtschaftsrecht der DDR. Berlin 1982, S. 108-135). Fritze, Panoptikum, S. 21. Handbuch DDR-Wirtschaft, S. 89-92, Zitat S. 90. Zur detaillierteren Information: Werner Klein, Das Kombinat - Eine organisationstheoretische Analyse, in: Gernot Gutmann (Hg.), Das Wirtschaftssystem der DDR. Wirtschaftspolitische Gestaltungsprobleme. Stuttgart, New York 1983, S. 79-101. Zur Bildung der Kombinate und ihrer zweifelhaften Zweckmäßigkeit vgl. Fritze, Panoptikum, S. 19-26. Skeptisch in Bezug auf die von der Kombinatsbildung erwarteten Effekte schon Klein, Kombinat, S. 96. Steiner, Betriebe, S. 55-57, Zitat Ebenda, S. 56. Zum Einfluß der Partei auf die Wirtschaft vgl. auch die sehr plastische Darstellung im Kapitel „Störgröße .Partei'" bei Fritze, Panoptikum, S. 77-84. Überschneidungen ergaben sich, wenn ein Wirtschaftsfunktionär Funktionen innnerhalb der Parteiführung übernahm. Wolfgang Biermann etwa, der Generaldirektor des Kombinats Carl-Zeiss-Jena, war gleichzeitig Mitglied des ZK der SED und in dieser Doppelfunktion so etwas wie der machtvolle Gegenentwurf zu den eher schwachen Figuren an der Spitze des VEB Jenapharm. Steiner, Plan, S. 95f. Ebenda, S. 96. Ihre zentrale Bedeutung machte die Planerfüllung so zum „Fetisch des sozialistischen Wirtschaftens" (Fritze, Panoptikum, S. 38). Vom „Fetisch" Plan spricht ganz ähnlich auch Steiner, Plan, S. 95. Hartmut Zimmermann/Horst Ullrich/Michael Fehlhauer: DDR Handbuch, 2 Bde., 3.,
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überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1985 (zit.: DDR-Handbuch), S. 569. 23 Ebenda. 24 Steiner, Betriebe, S. 59. 25 Die von der Volkskammer verabschiedeten Volkswirtschafts- und Staatshaushaltspläne wurden im Dezember jeden Jahres im Gesetzblatt der DDR veröffentlicht. Beide Dokumente des Jahres 1980 beispielhaft auch in Seiffert, Wirtschaftsrecht, S. 323ff (Volkswirtschaftsplan) und 337ff. (Staatshaushaltsplan). 26 Handbuch DDR-Wirtschaft, S. 92-96. Einen Eindruck von der Komplexität, der Reichweite und dem zeitlichen Ablauf der Planfestlegung vermittelt die meist im Mai eines Jahres von der Staatlichen Plankommission getroffene „Anordnung über den terminlichen Ablauf der Ausarbeitung des Volkswirtschaftsplanes" (zugänglich als jährliche Veröffentlichung im Gesetzblatt der DDR, z.B.: Anordnung über den terminlichen Ablauf der Ausarbeitung des Volkswirtschaftsplanes und des Staatshaushaltsplanes 1983 sowie der Vorbereitung des Volkswirtschaftsplanes 1984 vom 11. Mai 1982, in: Gesetzblatt der DDR 1/1982, S. 397-403.). 27 Zum Begriff des Mangels, seinen Erscheinungsformen und Auswirkungen auf die Wirtschaft vgl. einführend Roesler, Wirtschaft der DDR, S. 41-52. 28 Steiner, Betriebe, S. 67; Fritze, Panoptikum, S. 40. 29 Jeden Monat hatten 23.000 Betriebe in ca. 250 Berichterstattungen über den Stand der Planerfüllung Rechenschaft abzulegen, wobei pro Betrieb bis zu 8000 Kennziffern zu ermitteln waren (Markus Güttier, Die Grenzen der Kontrolle. Das statistische Informationssystem und das Versagen zentralistischer Planwirtschaft in der DDR, in: Richard Bessel/Ralph Jessen [Hg.], Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR, Göttingen 1996, S. 253-273, S. 261). 30 Ebenda, S. 264. 31 Hanswalter Thiele/Siegfried von Känel/Siegfried Otto (Hgg.), Handbuch der Planung für Kombinate und Betriebe. Industrie, 2., überarbeitete Auflage, Berlin-Ost 1988, S. 37. 32 Ebenda, S. 38f. Die einzelnen Planteile des Betriebsplans waren: Planteil 0: Koordinierende Pläne, Planteil 1: Produktion, Planteil 2: Absatz, Planteil 3: Wissenschaft und Technik, Planteil 4: Grundfondsreproduktion, Planteil 5: Materialökonomie, Planteil 6: Arbeitsproduktivität und Arbeitskräfte, Planteil 7: Arbeits- und Lebensbedingungen, Planteil 8: Finanzen und Kosten, Planteil 9: Transport. 33 Ordnung über die Arbeit mit Staatsaufträgen Wissenschaft und Technik vom 18. Februar 1982, in: Gesetzblatt der DDR, 1/1982, S. 181-183: Ziff. 3 und 4, S. 181f. 34 Zur Terminologie: Staatsaufträge gliederten sich in verschiedene zu ihrer Erfüllung erforderliche Forschungs- und Entwicklungsaufgaben auf. Neben den Staatsaufträgen enthielt der Staatsplan Wissenschaft und Technik aber auch selbständige Staatsplanaufgaben, die Einzelprojekten galten (Wolfgang Heyde, Die Ökonomie der betrieblichen Forschung und Entwicklung, Berlin-Ost 1987, S. 129). 35 Ebenda, S. 128f. 36 Ordnung für die Arbeit mit Staatsaufträgen, Ziff. 3, S. 182. 37 Ebenda, Ziff. 5, S. 183; zur Rechenschaftspflicht auch Ebenda, Ziff. 4, S. 182. 38 Ebenda, Ziff. 5, S. 183. 39 Ordnung für die Arbeit mit Staatsaufträgen, Ziff 1, S. 181; Verordnung über die volkseigenen Kombinate, Kombinatsbetriebe und volkseigenen Betriebe von 1979, § 34, Abs. 3, S. 364.
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40 Ordnung fur die Arbeit mit Staatsaufträgen, Ziff. 4, S. 183. Bestimmungen zur „vorrangigen materiell-technischen Sicherung der Aufgaben des Staatsplanes Wissenschaft und Technik" durch die Generaldirektoren der Kombinate und die Betriebsleiter auch in: Verordnung über die volkseigenen Kombinate (Generaldirektoren: § 12, Abs. 3, S. 358; Betriebsdirektoren: § 34, Abs. 3, S. 364). 41 Ordnung für die Arbeit mit Staatsaufträgen, Ziff. 5, S. 183. 42 Gerhard Alcer, Zum Konzentrations- und Spezialisierungsprozeß in der pharmazeutischen Industrie der DDR, in: H. Krug/H.-W. Marquart (Hg.), Zeitzeugenberichte - Chemische Industrie. Tagung „Industriekreis" der GDCh-Fachgruppe Geschichte der Chemie 20.-22. November 1996 in Merseburg, Frankfurt/M. 1998, S. 87-104, S. 88ff. 43 Die Auflösung der W B Pharmazeutische Industrie erfolgte zum 30. Juni 1979 und die Bildung des VEB Pharmazeutisches Kombinat GERMED zum 01. Juli 1979 (Anweisung 11/79 über die Auflösung der W B Pharmazeutische Industrie, und: Anweisung 10/79 über die Gründung des VEB Pharmazeutisches Kombinat GERMED Dresden des Ministers für Chemische Industrie Günther Wyschofsky, beide vom 29. Juni 1979, in: Bundesarchiv Berlin, DG 11, 6151). 44 Vereinzelt gab es Betriebe, in denen Arzneien nur einen kleinen Teil der Produktion ausmachten und die entsprechend ihrer Hauptausrichtung zu anderen Kombinaten gehörten. Obwohl diese Betriebe also eigentlich nicht zum Kombinat GERMED gehörten, wurde auch ihre pharmazeutische Produktion unter dem Warenzeichen GERMED vertrieben (Alcer, Konzentrations- und Spezialisierungsprozeß, S. 99). 45 AWD.pharma GmbH & Co. KG (Hg.), Geschichte des Arzneimittelwerkes Dresden, Dresden 2002 (zit.: AWD.pharma 2002), S. 143. 46 Michael Oettel/Erhard Göres, Beitrag zur Entwicklung der pharmazeutischen Industrie in der DDR, in: Die Pharmazeutische Industrie 51 (1989), 12, S. 1347-1355, S. 1350. 47 Zum Vergleich: Während in der DDR nur knapp 2000 Arzneimittel zugelassen waren (s.u.), waren in der Bundesrepublik 1990 rund 122.000 Fertigarzneimittel im Verkehr (U. Schwabe/D. Paffrath, Arzneiverordnungen in den neuen Bundesländern im Jahre 1990, in: Arzneiverordnungs-Reportjg. 7 (1991), S. 475-509, S. 479. 48 Oettel/Göres, Entwicklung, S. 1350. 49 Alcer, Konzentrations- und Spezialisierungsprozeß, S. 95f., hier auch eine Liste der wichtigsten Pharmabetriebe der DDR und der ihnen zugeordneten Produkte. Ebenda, S. 97 eine entsprechende Aufstellung der Zuordnung der Applikationsformen auf die einzelnen Betriebe. 50 Ebenda, S. 91. Zu den Aufgaben und der Zusammensetzung des ZGA vgl.: Statut des Zentralen Gutachterausschusses für Arzneimittelverkehr, in: Gesetzblatt der DDR, 11/1964, S. 505-508. Zur Zulassungspraxis des ZGA vergleiche H. Neide, Zur Entwicklung der pharmazeutischen Industrie in der DDR, in: Pharmazeutische Praxis, (1975), 4, S. 91-93, S. 93. 51 Oettel/Göres, Entwicklung, S. 1351f. 52 Es gab keine Macht gegen die Macht. Gespräch mit Dr. Günther Wyschofsky, Berlin, 2.9.1993, in: Theo Pirker u.a., Der Plan als Befehl und Fiktion. Wirtschaftsführung in der DDR. Gespräche und Analysen, Opladen 1995, S. 189-211, S. 202. 53 Michael Oettel, Kooperation zwischen Grundlagenforschung und Industrie auf dem Gebiet der Arzneimittelentwicklung, in: Veröff. Med. Ges., Heft 39 (2002), S. 55-57, S. 55f.
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54 VEB Sächsisches Serumwerk Bernburg. 55 GMP = Good Manufacturing Practices, Richtlinien der W H O mit Qualitätsstandards fur die pharmazeutische Produktion (Dagmar Fischer/Jörg Breitenbach [Hg.], Die Pharmaindustrie. Einblick - Durchblick - Perspektiven, 2. Aufl., München 2007, S. 134f.). 56 Jahresbericht 1988 des Instituts für Arzneimittelwesen der DDR zur Entwicklung der Qualität bei Arzneimitteln, diesen gleichgestellten Erzeugnissen und Gesundheitspflegemitteln, 14.3.1989, in: Sächsisches Wirtschaftsarchiv Leipzig, AWD Altreg. 9621, S. 2, 4. Von einer „weitgehend moralisch und materiell verschlissenen Ausrüstung" beim VEB Jenapharm sprach auch IM „Klinner" in einer „Information .Situation im VEB Jenapharm'" vom 24.1.1988 (BStU Gera X 231/83, Teil II, Bd. 1, S. 110). 57 Größere Betriebsgeschichten wurden anläßlich des dreißigsten und des funfeigsten Betriebsjubiläums herausgegeben: Jenapharm GmbH & Co. KG (Hg.), 50 Jahre Jenapharm 1950-2000, Jena 2000 (zit.: Jenapharm 2000); BPO der SED (Hg.), Drei Jahrzehnte VEB Jenapharm, Berlin 1981. Daneben gibt es eine Reihe kleinerer Beiträge zu den ersten Fünf-Jahres-Jubiläen sowie Artikel zur Betriebsgeschichte in der Betriebszeitung Jenapharm-Spiegel, die meist von ehemaligen Betriebsangehörigen verfasst wurden. 58 Jenapharm 2000, S. lOff. 59 Jenapharm 2000, S. 20. 60 Jenapharm 2000, S. 167,171. 61 Silvia Jäckel/Ulrike Sperbert, Die ökonomische Entwicklung des VEB Jenapharm von den Anfangen 1950 bis zum Jahr 1977 anhand der wichtigsten Kennziffern, Belegarbeit, Jena 1978, S. 2; vgl. auch: Jenapharm 2000, S. 28. 62 Jenapharm 2000, S. 28, 40, 66. 63 Mit der Gründungsanweisung war die Auflösung von sieben weiteren Betrieben verbunden, die zu Betriebsteilen v.a. des AW Dresden und des Ankerwerkes Rudolstadt gemacht wurden (Anweisung 10/79 über die Gründung des VEB Pharmazeutisches Kombinat GERMED Dresden des Ministers für Chemische Industrie Günther Wyschofsky vom 29. Juni 1979, in: Bundesarchiv Berlin, DG 11, 6151). 64 Richtlinie Nr. 1/80. Rahmenstruktur für die Leitung der Kombinate und Kombinatsbetriebe des Ministeriums für Chemische Industrie vom 14.7.1980, in: Bundesarchiv Berlin, DG 11, 6151. Eigene Direktorate gab es für Ökonomie, Forschung und Entwicklung, Produktion, Technik, Beschaffung und Absatz, Kader und Bildung, Kultur und Sozialwesen, Rechnungsführung und Finanzkontrolle. 65 VEB Jenapharm Jena, Direktionsbereich Forschung: Langfristige Forschungskonzeption (Stand per 30.06.1980), in: Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt, Zentralinstitut für Mikrobiologie und experimentelle Therapie Jena (ZIMET), Nr. A 188, S. 5. 66 Jenapharm 2000, S. 73. 67 Jenapharm 2000, S. 63f„ 73. 68 Ebenda, S. 76f. Daneben fand die innovative Entwicklung Suisynchron, ein Nicht-Steroid, breiten Einsatz in der Brunstsynchronisation von Jungsauen. 69 Jenapharm 2000, S. 74f. 70 Vgl. VEB Jenapharm Jena, Direktionsbereich Forschung: Langfristige Forschungskonzeption (Stand per 30.06.1980), in: Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt, Zentralinstitut für Mikrobiologie und experimentelle Therapie Jena (ZIMET), Nr. A 188. 71 AWD.pharma 2002, S. 9-53.
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72 AWD.pharma 2002, S. 143. 73 Vgl. Verfugung 7/80 über die Anwendung der Richtlinie 1/80 „Rahmenstruktur für die Leitung der Kombinate und Kombinatsbetriebe des Ministeriums fur Chemische Industrie" vom 14. Juli 1980, in: Bundesarchiv Berlin, DG 11, 6151. 74 Entscheidungsvorlage zur Direktorenberatung am 28.08.1989, Thema: Stand der klinischen Forschung, in: Sächsisches Wirtschaftsarchiv Leipzig, AWD Altreg. 9630. 75 AWD.pharma 2002, S. 17ff. 76 AWD.pharma 2002, S. 43f„ 71. 77 Alcer, Konzentrations- und Spezialisierungsprozeß, S. 95, 97. 78 Jenapharm 2000, S. 34f. 79 Arbeitsgruppe Biowissenschaften und Medizin des Wissenschaftsrats, Stellungnahme zu den außeruniversitären Forschungseinrichtungen in der ehemaligen DDR im Bereich „Biowissenschaften und Medizin", in: Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt, ZIMET, Nr. A 616, S. 131. 80 Kurz zum Auf- bzw. Ausbau des ZIMET: Axel Stelzner, Der Jenaer Beutenberg und sein Campus. Historische und aktuelle Berichte, Notizen, Reflexionen und persönliche Erfahrungen zur Entwicklung des Jenaer Wissenschafts-Campus am Beutenberg, Schriftenreihe der Ernst-Abbe-Stiftung Heft 24, Jena 2006. 81 Arbeitsgruppe Biowissenschaften, Stellungnahme, S. 134. Die Reihenfolge der Aufzählung so im Original. 82 Gemeinsame langfristige Forschungskonzeption fur den Zeitraum 1981-1990 vom 31.3.1981, in: Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt, Zentralinstitut für Mikrobiologie und experimentelle Therapie Jena (ZIMET), Nr. A 610, S. 5-8. 83 Ebenda, S. 9-11. 84 Ebenda, S. 12-14. 85 Ebenda, S. 15-20. 86 So stellte Forschungsdirektor Michael Oettel 1980 in einer langfristigen Forschungskonzeption fest, dass das Forschungspotential von Jenapharm zu 80% durch mittelfristige Vorhaben, die schwerpunktmäßig Antibiotika, Kontrazeptiva und Östrogene betrafen, gebunden sei. Die langfristigen Themen .Glukokortikoide' und ,Herzaktive Steroide' seien deshalb „nur im Rahmen ausgedehnter Kooperationen mit dem ZIMET und der FSU" zu bewältigen." (VEB Jenapharm Jena, Direktionsbereich Forschung: Langfristige Forschungskonzeption [Stand per 30.06.1980], in: Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt, Zentralinstitut für Mikrobiologie und experimentelle Therapie Jena [ZIMET], Nr. A 188, S. 10). 87 Arbeitsgruppe Biowissenschaften, Stellungnahme, S. 145. 88 Ebenda, S. 144. 89 Ebenda, S. 148. 90 L. Ruzicka u.a., Herstellung des 17-Methyl-testosterons und anderer Androsten- und Androstanderivate. Zusammenhänge zwischen chemischer Konstitution und männlicher Hormonwirkung, in: Helvetica Chimica Acta 18 (1935), S. 1487-1498. 91 Zuerst bei Jenapharm synthetisierte Substanzen wurden mit „J" gekennzeichnet. 92 Priorität besaßen hierbei die Plan-Kennziffern „Stückzahl" und „Industrielle Warenproduktion" (Fritze, Panoptikum, S. 38). 93 Vergleiche hierzu den Beitrag von Klaus Latzel.
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D o p i n g und die p h a r m a z e u t i s c h e I n d u s t r i e in der D O R V o r l ä u f i g e E r g e b n i s s e und F o r s c h u n g s p r o b l e m e 1
Ich werde Ihnen zunächst einen Überblick über das Quellenmaterial geben, mit dem wir in unserem Forschungsprojekt arbeiten. Anschließend will ich anhand einiger zentraler Fragen des Projekts unsere bisherigen Einsichten und noch bestehende Unklarheiten im Hinblick auf das Problem der Verantwortung speziell des VEB Jenapharm im Dopingsystem der DDR näher erläutern. Gemeint sind 1. die Frage nach der Stellung Jenapharms in der Struktur von Erforschung, Entwicklung und Produktion von Dopingmitteln unter dem Stichwort „Staatsplanthema 14.25"; 2. die Frage nach der Verantwortlichkeit und nach den Handlungsspielräumen innerhalb dieser Struktur; 3. die Frage nach der Bedeutung der Staatssicherheit für diese Arbeiten bei Jenapharm, und 4. die Frage nach Formen der Selbstmobilisierung, der Eigeninitiative Jenapharms in diesem Zusammenhang. Ich werde mich dabei auf den VEB Jenapharm konzentrieren und kaum über das Arzneimittelwerk Dresden sprechen, den Stammbetrieb des Kombinats G E R M E D . Das hat zum einen Zeitgründe, ist aber auch dadurch gerechtfertigt, dass die Forschungen in Dresden nicht die Bedeutung flir das Doping in der DDR erlangt haben wie die Aktivitäten des VEB Jenapharm. Gleichwohl gehören sie zum Inhalt unseres Projekts. Will man die Frage nach der Verantwortung für das Handeln in bestimmten Strukturen nicht losgelöst von den seinerzeit Handelnden diskutieren, dann muss auch die Frage nach der damaligen Wahrnehmung dieser Strukturen und Handlungen gestellt werden. Ich werde darum in einem zweiten, kürzeren Teil einige Überlegungen formulieren zu den kulturellen Kontexten der Hormonproduktion sowie zu den mit der „Chemisierung" des Alltags, wie es damals hieß, verbundenen Hoffnungen, zur Bedeutung des Einsatzes von Pharmazeutika als „Biotechnika", so eine weitere Formulierung der Zeit.
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Der zweite Teil des Vortrags ist also thematisch gleichzeitig eine Brücke zum zweiten Teil unseres Workshops. Meine Überlegungen in diesem Teil bewegen sich auf unsicherem Gelände, was auch heißt, dass wir hier um so mehr auf die Expertise, die Anregungen, die Phantasie der hier Versammelten hoffen. Im Untertitel meines Vortrags heißt es: vorläufige Ergebnisse. Sie hören hier also ausdrücklich keinen Abschlussbericht, sondern ich werde Ihnen einen Einblick in den gegenwärtigen, zum Teil noch unsicheren Stand der Dinge und in offene Fragen und Probleme geben. Quellenübersicht
Bei Jenapharm selbst sind noch Splitterbestände der Akten aus dem Bereich Forschung und Entwicklung vorhanden, die zwischen 1975 und 1990 im Zusammenhang der Arbeiten zum Staatsplanthema 14.25 angefallen sind. Man kann sie getrost als Sammelsurium bezeichnen, in dem man unter anderem Folgendes findet: Schriftverkehr zwischen den Abteilungen, Notizen, vereinzelte Korrespondenz mit im Staatsplanthema aktiven Institutionen, Prämienlisten, Honorarverträge, Synthesebeschreibungen, Laborvorschriften und Prüfvorschläge fur bearbeitete Substanzen, vereinzelte pharmazeutische, toxikologische und klinische Gutachten und anderes mehr. Diese Quellensplitter sind ganz offensichtlich unvollständig, darum können wir allein daraus die einzelnen Arbeiten im Staatsplanthema nicht zureichend rekonstruieren. Zudem sagen sie nichts über die Einbindung des VEB Jenapharm in den Gesamtkomplex des Staatsplanthemas aus. Wir haben darum versucht, möglichst umfassend weitere Archivalien heranzuziehen. Dazu gehören die Bestände des Betriebsarchivs des VEB Jenapharm im Thüringischen Staatsarchiv Rudolstadt. Diese Uberlieferung wird allerdings ab Ende der 60er Jahre rapide dünner; sie ist für die allgemeine Geschichte des Betriebs interessant, für das Staatsplanthema aber ohne Befund. Das gilt bislang auch für unsere Recherchen in der Uberlieferung des Arzneimittelwerks Dresden im Sächsischen Wirtschaftsarchiv Leipzig, auch wenn sie in den 70er und 80er Jahren dichter als die des VEB Jenapharm ist. Anders dagegen die Bestände des ZIMET, die ebenfalls in Rudolstadt liegen. Sie enthalten unter anderem einige Forschungsberichte aus dem Staatsplanthema und Teile der Berichterstattung des ZIMET über die Erfüllung seiner Aufgaben in diesem Komplex. In den Akten der SED-Bezirksleitung Gera, der Kreisleitungjena und der Grundorganisation VEB Jenapharm sind wir dagegen zum Staatsplanthema bislang nicht fundig geworden, hier stehen allerdings noch Recherchen aus.
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Im Bundesarchiv Berlin sind von den am Staatsplanthema 14.25 beteiligten Stellen umfangreiche Bestände der Staatlichen Plankommission, der Ministerien für Wissenschaft und Technik, für Chemische Industrie, für Gesundheitswesen sowie für Hoch- und Fachschulwesen, des Staatssekretariats fur Körperkultur und Sport, des Sportmedizinischen Dienstes und des Deutschen Turn- und Sportbundes verwahrt. Insbesondere in den Beständen des Ministeriums fur Chemische Industrie, aber auch der Ministerien für Wissenschaft und Technik und für Gesundheitswesen ergaben sich für das Staatsplanthema 14.25 aufschlußreiche Funde hinsichtlich Planung und Berichterstattung. Das gilt nicht für die SED-Akten in Berlin; wir haben darin bislang vor allem in den Beständen der ZK-Abteilungen Sport und Gesundheitspolitik recherchiert. Sie enthalten allerdings eine Fülle von Akten zur Leistungssportforschung, sportpolitische Grundsatzpapiere usw. In fast allen der genannten Archive sind unsere Recherchen noch zu ergänzen. Es gibt darüber hinaus noch kleinere Bestände in weiteren thüringischen Staatsarchiven, im Landesarchiv Berlin und im Universitätsarchiv Jena, die wir noch nicht durchgesehen haben. Die noch vorhandenen Sitzungsprotokolle des Zentralen Gutachterausschusses beim Institut für Arzneimittelwesen der DDR, der seinerzeit für die Zulassung neuer Medikamente zuständigen Stelle, brachte keine Funde zu unserem Thema. Diese Unterlagen liegen mittlerweile beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in Bonn; sie sind, wie so viele andere auch, mittlerweile stark ausgedünnt worden, zuletzt beim Umzug des Bundesinstituts von Berlin nach Bonn. Schließlich die Stasi-Akten. Die Bestände, die die Birthler-Behörde uns mit Bezug auf unser Thema vorlegen konnte, sind im Zusammenhang der bisherigen Veröffentlichungen zum Thema Doping in der DDR zum größten Teil bereits bekannt, wenn auch nicht schwerpunktmäßig zum Staatsplanthema 14.25 und der pharmazeutischen Industrie ausgewertet worden. Einen bemerkenswerten Recherchebefund will ich hier schon nennen: Nach Behördenauskunft war zu unserem speziellen Thema in den Beständen der Zentralen Arbeitsgruppe Geheimnisschutz in Berlin nichts zu finden. Unsere Arbeit basiert fast ausschließlich auf den genannten Archivalien. Wir haben allerdings bisher zusätzlich Interviews mit fünf ehemaligen leitenden Mitarbeitern des VEB Jenapharm geführt. Diese Gespräche waren nicht als lebensgeschichtliche Interviews im Sinne der Oral History angelegt, sondern es ging vor allem darum, Hintergrundinformationen über betriebliche Abläufe sowohl im Blick auf das Staatsplanthema als auch generell über den Forschungs- und Entwicklungsbereich des VEB Jenapharm zu erlangen. Wir werden diese Hin-
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tergrundgespräche mit weiteren Personen fortsetzen. Einige unserer Gesprächspartner haben uns auch mit zusätzlichen schriftlichen Quellen versorgt.
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Jenapharm und das Dopingsystem der DDR
Der VEB Jenapharm im Staatsplanthema 14.25 Einen Schwerpunkt unseres Projekts bildet die Frage nach der Stellung des VEB Jenapharm in der Hierarchie der Verantwortlichkeiten im Rahmen von Sportpolitik, zentraler Planwirtschaft; und staatlichem Geheimnisschutz. Wir wollten wissen, wie Jenapharm für das Staatsplanthema 14.25 in diese Struktur einbezogen wurde, welche Position es darin innehatte und welche Arbeiten Jenapharm darin durchführte. Ich möchte Ihnen dazu ein Schaubild zeigen, auf das ich manchmal zurückkommen werde, denn diese institutionelle Seite ist kompliziert, und zwar in Wirklichkeit noch komplizierter als dieses Schema. Es zeigt die Konstellation, in der sich der VEB Jenapharm in den 80er Jahren bei seinen Arbeiten zum Staatsplanthema 14.25 bewegte, also das Dopingsystem der DDR, aber zugeschnitten auf unsere Fragestellung. Der jährliche Volkswirtschaftsplan enthielt als Bestandteil den Staatsplan Wissenschaft und Technik. Dieser umfaßte auch staatliche Planauflagen mit hoher Priorität. Unter diesen staatlichen Planauflagen wiederum gab es solche mit „besonderen Geheimhaltungsbedingungen". Zu diesen zählte auch das Staatsplanthema 14.25, „unterstützende Mittel". Jenapharm wurden die Aufgaben dieses Staatsplanthemas über das Ministerium für Wissenschaft und Technik, das Ministerium für Chemische Industrie und das Kombinat GERMED zugeteilt. Sie wurden als Vertrauliche Verschlusssache behandelt; im übrigen war die Einbindung des VEB Jenapharm in die Hierarchie der staatlichen Wirtschaftsbürokratie bei 14.25 dieselbe wie bei allen anderen Planaufgaben. Das Staatsplanthema 14.25 enthielt einzelne Aufgaben, auf deren Inhalt ich gleich zu sprechen komme. Im Hinblick auf die Bearbeitung dieser einzelnen Aufgaben warJenapharm Auftragnehmer des Forschungsinstituts für Körperkultur und Sport in Leipzig. Dort war das Forschungsvorhaben „Aufdeckung zusätzlicher Leistungsreserven" (ZL oder ZuLei) angesiedelt, das zentrale Forschungsprojekt im Dopingsystem der DDR. Das Leipziger Institut arbeitete bei diesem Forschungsvorhaben als Auftraggeber mit einer Reihe von Kooperationspartnern aus Instituten der Akademie der Wissenschaften, aus den Univer-
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Politbüro und Sekretariat des ZK der SED
BV Leipzig BV Gera KO Jena KD DresdenLand
AG Wissenschaft derLSK Leitung: Prot EOelfhed Bugge)
darin uΛ.:
Ministerium für Staatssicherheit Zentrale AG Geheimnteschutz HA XVIII HA XX
Leistungssportkommission des ZK Leitung: Manfred Ewald
Deutscher Turn- und Sportbund (DTSB) Präsident: Manfred Ewald
AG .unterstützende Mittel" der AG Wiss. Leitung: Dr Mantnd Hoppner
Sportverbände
Staatliche Plankommission
Staatssekretariat für Körperkultur und Sport (Stellvertr. E. Buggel)
ZK-Abt Sport Hellmann Ministerien für: Wissenschaft und Technik
Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) Leipzig Fachgruppe »unterstützende Mitter Abteilung Endokrinologie
Volksbildung Gesundheit Verteidigung Staatssicherheit
Sportmedizinischer Dienst (SMD) steüvertr Direktor für Bereich Leistungssport Dr Manfred Höppner
Sportärztliche Hauptberatungeetellen in Bezirken
•JZ SeWKxisarzte dor Sponclubs
Zentrales DopingKon troll-Labor Kreischa
Leistungssportler Chemische Industrie
SED Bezirfcsleitungen Dresden Gera Kreisleitungen Dresden Jena
VEB PK GERMED/ VEB Arzneimittelwerk Dresden
VEB Jenapharm
Betriebsdirektor
Betriebsdirektor
Direktor Forschung u. Entwicklung
Direktor Forschung u. Entwicklung
Zentralinstitut fOr Mikrobiologl« und experimsntelle Therapie (ZIMET) Jena
Abteilungsleiter Chemie Pharmakologie Galenik Klinische Forschung
Staatliches Versorgungskoritor für Pharmazie und Medizlntechnik
Der VEB Jenapharm im Dopingsystem der DDR, Konstellation der 80er Jahre. Vereinfachte Darstellung; die am Dopingsystem beteiligten Institutionen sind nicht vollständig aufgeführt.
sitäten und aus der pharmazeutischen Industrie zusammen. Die Aufgaben dieser Kooperationspartner wurden unter der Bezeichnung „Komplex 08" zusammengefaßt. Jenapharm war bei der Erfüllung der Aufgaben des Staatsplanthemas 14.25 also planungshierarchisch der staatlichen Wirtschaftsbürokratie verpflichtet, auftragsbezogen dem Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport.
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Welche Aufgaben hatte der VEB Jenapharm im Staatsplanthema 14.25 zu erfüllen? Die ersten Aufträge des Leipziger Instituts in den Jahren ab 1975 umfassten die Bereitstellung von anabolen Substanzen aus der Arzneimittelforschung des VEB Jenapharm sowie die Erarbeitung von Laborvorschriften; diese Aufgaben standen im Zusammenhang des Versuchs, in Leipzig ein Nachweisverfahren fur anabole Steroide (Radioimmunoassay - RIA) zu entwickeln. Als Teil der Staatlichen Planauflagen sind diese Aufgaben seit 1978 dokumentiert. Seit 1976 gab Jenapharm kleinere Mengen der Steroidsubstanzen STS 646,648 und 482 an das Forschungsinstitut in Leipzig ab. Sie wurden dort an Mitarbeitern im Selbstversuch und bald auch an Sportlern getestet. Seit 1983 lieferte Jenapharm Testosteronpropionat (zur Injektion) nach Leipzig; eingesetzt wurde es im Leistungssport zum Überbrückungsdoping. Ebenfalls seit 1983 stellte der VEB Jenapharm für den Auftraggeber Epitestosteron her. Diese Substanz hatte keinen möglichen pharmazeutischen Nutzen, sondern wurde ausschließlich fur die Verdeckung des Dopings durch künstlich zugeführtes Testosteron verwendet. Ab Mitte der 80er Jahre stellte Jenapharm Androstendion (Vorläufer des Testosteron) für Leipzig bereit, das ebenfalls für Mitarbeiterexperimente und für den Einsatz an Sportlern verwendet wurde. Neben dem umfangreichsten Beitrag zum Doping in der DDR, der Produktion des Oral-Turinabol (dazu sogleich mehr) nahmen die seit 1979 und dann über die ganzen 80erJahre laufenden Forschungs- und Entwicklungsarbeiten zu den Substanzen STS 646 und Substanz 12 als Anabolika für den Einsatz im Leistungssport größeren Raum ein. Es handelte sich dabei um chemisch-synthetische und galenische Arbeiten, präklinische und klinische Untersuchungen, teils in Zusammenarbeit mit dem ZIMET. Dabei führte das Z I M E T insbesondere die in der ersten Hälfte der 80er Jahre angestellten Untersuchungen zur Substanz 12 durch, der VEB Jenapharm seit Mitte der 80er Jahre die meisten der Untersuchungen zur STS 646. Die STS 646 wurde dann von Jenapharm auch im Hinblick auf ihre Eignung als Geriatrikum erforscht. Beide Substanzen wurden für das Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport bereitgestellt, davon die STS 646 in erheblichen Mengen. Die Herstellung der STS 646 erfolgte Ende der 70er Jahre vor allem beim ZIMET, seit vermutlich 1982 vor allem beim VEB Jenapharm; unsere Quellen sind hier noch nicht eindeutig. Beide Substanzen waren nicht als Arzneimittel in der DDR zugelassen. Außer den genannten Präparaten war aber vor allem das ebenfalls vom VEB Jenapharm hergestellte Anabolikum Oral-Turinabol beim Doping in der DDR im Einsatz, seit Mitte der 60er Jahre. Dieses zugelassene Medikament wurde auf dem für Medikamente üblichen Weg an das Staatliche Versorgungskontor für Pharmazie und Medizintechnik geliefert, das jeweils den Jahresbedarf anjena-
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pharm übermittelte. Das gleiche gilt für Testosteron-Ampullen. Der Sportmedizinische Dienst, über den die Weitergabe des Oral-Turinabol bis zu den Trainern und Sportlern lief, richtete seine Bestellungen an das Versorgungskontor, nicht an den VEB Jenapharm. Im Rahmen des Staatsplanthemas 14.25 stellte Jenapharm also anabol-androgene Steroide her, leistete galenische Arbeiten und führte präklinische und klinische Untersuchungen durch. Diese Arbeiten wurden für Dopingzwecke in Leipzig bzw. durch den Sportmedizinischen Dienst genutzt. Dies ist bereits aus diversen Veröffentlichungen bekannt. Unsere Quellen erlauben bislang, den zeitlichen Umfang dieser Aufgaben über die bisherigen Kenntnisse hinaus zu präzisieren und die einzelnen Arbeiten genauer zu belegen. So zeichnet sich zum Beispiel ab, dass wir am Ende unserer Untersuchungen zu genaueren numerischen Angaben über die Menge der hergestellten bzw. gelieferten Substanzen oder Präparate kommen werden. Ich will hier einige vorläufige Hinweise dazu geben und dabei zugleich die Schwierigkeiten zeigen, die sich uns bei der Auswertung der Quellen stellen. Welche quantitativen Verhältnisse lassen sich für die vom VEB Jenapharm hergestellten Präparate feststellen? Nehmen wir das Beispiel des Oral-Turinabol und der STS 646 als der beiden quantitativ am stärksten ins Gewicht fallenden Mittel. Zur Zeit bietet sich folgendes Bild: Aus einer retrospektiven Übersicht, die 1991 im Forschungsbereich bei Jenapharm angefertigt wurde, lassen sich für die STS 646 Angaben über die nach Leipzig gelieferten Mengen entnehmen. Für uns sind diese Angaben allerdings erst dann hinreichend valide, wenn wir sie mit primären, also zeitgleich vor 1989 entstandenen Quellen abgleichen können. Dies ist bisher anhand der weiteren Jenapharm-Uberlieferung nur zum Teil der Fall. Darum können wir jetzt auch keine vollständigen Zahlenreihen über die Jahre vorlegen. Ich will Ihnen aber einige Größenverhältnisse nennen, zuerst zum Oral-Turinabol: Nach unserem bisherigen Überblick machte das für Dopingzwecke vom Sportmedizischen Dienst beim Staatlichen Versorgungskontor bezogene Oral-Turinabol über die 80er Jahre gesehen weniger als 3 Prozent der insgesamt produzierten Menge dieses Medikaments aus. Die Menge der STS 646 wiederum, die in den 80er Jahren nach Leipzig geliefert wurde, scheint nach bisherigem Erkenntnisstand weniger als die Hälfte dessen auszumachen, was vom Oral-Turinabol ins Dopingsystem ging. Wie wurden die Entwicklungsarbeiten im Staatsplanthema finanziert? Bislang liegen uns darüber nur wenige Hinweise vor. Sie besagen, dass die Mittel für die Entwicklungsarbeiten aus dem betrieblichen Fonds Technik von Jenapharm stammten und dass ab 1984 die Aufwendungen für die Herstellung der
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STS 646 und der Substanz 12 von Leipzig bezahlt wurden; in den 70er Jahren wurden auch Honorarverträge zwischen Jenapharm und dem Auftraggeber in Leipzig abgeschlossen. Dies ist unser vorläufiger Kenntnisstand. Die Finanzierung der Forschungen ist weiter abzuklären, die Ministeriumsakten aus Berlin müssen wir dazu noch auswerten. Wie groß waren die personellen Ressourcen, die bei Jenapharm für die Forschungen im Staatsplanthema 14.25 eingesetzt wurden? Dazu liegen uns bisher ebenfalls nur wenige Zahlen vor. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In einer bei Jenapharm angefertigten Übersicht aus dem Jahre 1988 sind für dieses Jahr insgesamt 6,6 sogenannte Vollbeschäftigungseinheiten (also volle Stellen) angegeben, davon 3,6 Hoch- und Fachschulkader. Zur gleichen Zeit arbeiteten im Bereich Forschung und Entwicklung rund 330 Personen, davon etwa 150 Hoch- und Fachschulkader. Auch wenn die Zahl der beschäftigten Personen immer geringfügig höher war als die der vollen Stellen, ist doch die Dimension klar: Die fur die Aufgaben des Staatsplanthemas 14.25 eingesetzten Arbeitskräfte im Bereich Forschung und Entwicklung machten 1988 zwei Prozent von dessen Kapazitäten aus. Unsere Untersuchungen haben ferner erbracht, dass Jenapharm keine Suche nach neuen Wirkstoffen im Staatsplan 14.25 durchführte, auch wenn die Bezeichnungen der Aufgaben des Staatsplanthemas dies fälschlicherweise nahelegen, wie z.B. 1979 die „Entwicklung eines neuen Anabolikums". Gemeint war die Substanz 12, die jedoch bereits in den 60er Jahren im Zusammenhang der Arbeiten an Oral-Turinabol gefunden worden war. Die STS 646 (Mestanolon) war noch länger bekannt. Auch Epitestosteron, das Maskierungsmittel für die exogene Zuführung von Testosteron, ist keine Etfindung]ena\>h.axms, sondern wurde im Rahmen des Staatsplanthemas von Jenapharm hergestellt. Hierzu liegen uns allerdings bislang nur wenige Zahlen vor. Weiter zu klären sind die Wege der Ubergabe. Die bereitgestellten Substanzen wurden, soweit sich das bislang rekonstruieren lässt, üblicherweise von Mitarbeitern des Leipziger Instituts in Jena abgeholt. Dafür, dass etwa der Betriebsdirektor von Jenapharm Präparate aus dem Staatsplanthema unkontrolliert direkt an den FC Carl Zeiss abgegeben habe - so die Sorge der Stasi-Bezirksverwaltung Gera im Juni 1981 - haben wir bisher keine Belege gefunden. Und schließlich müssen wir noch klären, wann welche präklinischen und klinischen Untersuchungen in der Entwicklung insbesondere der Substanz 12 und der STS 646 vornehmlich vom ZIMET und von Jenapharm durchgeführt wurden. Auch hier sind unsere Unterlagen noch lückenhaft.
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Die Diffusion der Verantwortlichkeit im Kollektiven
Ich habe den VEB Jenapharm im Zusammenhang des Staatsplanthemas 14.25 als doppelt verpflichtet bezeichnet, nämlich gegenüber der staatlichen Wirtschaftsbürokratie und gegenüber dem Auftraggeber in Leipzig. Die Praxis war jedoch komplizierter. Das Dopingsystem der DDR bestand aus einem verwirrenden Komplex zusammenwirkender Institutionen. Diese Komplexität des Dopingsystems läßt sich als Form der Arbeitsteilung beschreiben, mit der eine Diffusion der Verantwortlichkeit einherging. Ich will dafür ein Beispiel geben: die, wie es im Staatsplanthema in den 80er Jahren hieß, „Erzeugnisentwicklung der STS 646". „Erzeugnisentwicklung" bedeutete in der pharmazeutischen Industrie neben synthetischen und galenischen Arbeiten die Durchführung vorklinischer pharmakologischer und toxikologischer Untersuchungen. Nach dem Arzneimittelgesetz der DDR waren diese Untersuchungen die Voraussetzung für die klinische Prüfung eines potentiellen Medikaments am Menschen. Für die STS 646 wurden die entsprechenden Gutachten der vorklinischen Untersuchungen nach unseren bisherigen Erkenntnissen hauptsächlich vom VEB Jenapharm erstellt. Mit diesen Untersuchungen wurde 1985 begonnen, die meisten wurden 1986 durchgeführt, die klinische Prüfung der letzten Stufe (im Hinblick auf die Eignung als Geriatrikum, so das betriebliche Interesse von Jenapharm) erst 1990 mit negativem Ergebnis beendet. Seit 1976 aber wurde diese Substanz bereits in Leipzig an Sportlern erprobt. Wenn also der Leiter der Klinischen Abteilung des VEB Jenapharm, Rainer Hartwich, im Dezember 1987 in seiner Eigenschaft als IM „Klinner" in einer „Information" gegenüber der Stasi warnte, dass von Jenapharm Substanzen „an den Auftraggeber geliefert wurden und [...] dort zur Anwendung am Menschen gelangten", für die „nicht die grundlegendsten pharmazeutischen, pharmakologischen und toxikologischen Grundregeln eingehalten" wurden, dann läßt sich dies auch für die STS 646 behaupten. Hartwich sagte allerdings im gleichen Zusammenhang: „Arzneifertigwaren, die eindeutig als .nicht für die Anwendung am Menschen freigegeben' deklariert waren, wurden vom FKS an den S M D [Sportmedizinischen Dienst] zur Anwendung weitergeleitet." Die Pointe dabei ist, dass es nun wiederum der VEB Jenapharm war, der diese Präparate als „nicht freigegeben" und zudem als „Versuchsmuster" deklariert hatte. Mit dieser Deklaration hat sich Jenapharm durchaus korrekt verhalten. Aus damaliger Sicht war für die weitere Verwendung der Präparate das Leipziger Institut verantwortlich. Gleichwohl lassen die Größenordnungen, in denen die STS 646 nach Leipzig ging, die Frage stellen: Waren die gelieferten Mengen mit der Annahme vereinbar, dort würde die STS
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646 fiir klinische Untersuchungen verwendet? Der Schluss liegt nahe, dass dies schon seinerzeit eher wenig wahrscheinlich war. Einige der leitenden Wissenschaftler Jenapharms wussten zwar, dass die STS 646 an Sportlern getestet wurde, Quellen dafür sind bereits veröffentlicht. Nicht bekannt ist allerdings der Umfang ihrer Kenntnisse. Für eine Kenntnis bei Jenapharm, dass die STS 646 von Leipzig weiter an den Sportmedizinischen Dienst geliefert wurde, liegen uns bisher keine Evidenzen vor. In einem Bericht des Leipziger Forschungsinstituts vom 10. Juni 1976 heißt es, der Einsatz dieses Präparats an Sportlern erfolge in „Absprache mit dem Institut für Arzneimittelwesen und dem Sekretär des Zentralen Gutachter-Ausschusses Dr. K. Gerecke". Derselbe wird in einer Auflistung, die die Bezirksverwaltung Leipzig zu den Forschungsthemen des Staatsplans 14.25 aus dem Jahre 1979 anfertigte, als Kooperationspartner fiir das von Jenapharm zu bearbeitende Thema „Uberprüfung der Synthesemöglichkeiten für die STS 646" angeführt. Damit sind zwei weitere Beteiligte im Dopingsystem genannt, zuständig fiir die Prüfung und Zulassung von Arzneimitteln, und, wie das Ministerium für Gesundheitswesen selbst, in die Arbeiten zum Staatsplanthema 14.25 eingebunden. Die Hinweise, die sich dafür unter anderem in den Akten des Ministeriums fur Chemische Industrie und der Leipziger Stasi finden, sind in ihrer Aussage allerdings nicht immer eindeutig. Sicher ist, dass das Ministerium für Gesundheitswesen spätestens seit 1985 an den halbjährlichen Planberatungen teilnahm, die zu den sogenannten Sportkomplexen, darunter zum Staatsplanthema 14.25, im Ministerium für Wissenschaft und Technik abgehalten wurden. Der stellvertretende Vorsitzende des Zentralen Gutachterausschusses, Prof. Hansgeorg Hüller, Direktor des Instituts fiir Klinische Pharmakologie der Charite, war Kooperationspartner des Forschungsinstituts fiir Körperkultur und Sport und Geheimnisträger im „Komplex 08" und nahm auch an den regelmäßigen Beratungen zum Staatsplanthema beim Staatssekretariat fiir Körperkultur und Sport teil. Es gibt noch weitere dieser Hinweise. Sie zeigen, dass diejenigen Institutionen, die im Interesse des Gesundheitsschutzes die Entwicklung und Anwendung von Arzneimitteln sicherzustellen hatten, selbst in die fragwürdigen Forschungsvorhaben eingebunden waren, die sie überwachen sollten. Die Rolle des Ministeriums fiir Gesundheitswesen, des Instituts für Arzneimittelwesen und des Zentralen Gutachterauschusses im Zusammenhang der Forschungen von Jenapharm bleibt weiter zu klären. Nimmt man zusätzlich den gesamten Komplex von der Leistungssportkommission über deren Arbeitsgruppen „Wissenschaft" und „unterstützende Mittel", das Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport, den Sportmedizinischen Dienst, den Deutschen Turn- und Sportbund und die beteiligten Ministerien in den Blick, dann bietet sich uns die
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Situation im Hinblick auf die Verantwortlichkeit derzeit wie folgt dar: Alle genannten Institutionen leisteten auf je ihre Weise ihren Beitrag zur Herstellung und Erforschung oder zur Anwendung von Doping-Präparaten: durch sportpolitische Entscheidungen, durch die Erstellung von Einsatzkonzeptionen fur die „unterstützenden Mittel", durch deren Vergabe, durch die Vergabe von Arbeitsaufträgen, durch deren Ausführung. Inwieweit die Beteiligten aus der pharmazeutischen Industrie seinerzeit den Überblick über die Dimensionen dieses kollektiven Unterfangens „Doping im Leistungssport" besaßen, lässt sich im Einzelnen kaum feststellen. Qualifizierungen, wie sie sich in Sicherheitskonzeptionen der Staatssicherheit finden, dieser oder jener Wissenschaftler verfuge über umfassende Kenntnisse oder nur über eingeschränktes Wissen, mögen Hinweise geben, aber sie sind scheinkonkret, solange nicht andere Quellen diesem Wissen Substanz verleihen. Bislang bleibt der Eindruck vorherrschend, dass die Arbeitsteiligkeit des Dopingsystems die Verantwortlichkeit im Kollektiven beließ. Ein wesentlicher Bestandteil dieser kollektiven Struktur, die umfassenden Anstrengungen zur Geheimhaltung, war geeignet, diese Diffusion der Verantwortlichkeit im Kollektiven noch zu verstärken.
Die Bedeutung der Stasi beim V E B J e n a p h a r m
Für die SED-Herrschaft insgesamt ist von Lutz Niethammer die These formuliert worden, die Stasi sei nicht deren „Kern", wohl aber ihre „notwendige Randbedingung" gewesen, als Organ der Observation und des Terrors.2 Welche Bedeutung kam der Staatssicherheit im Zusammenhang der Staatsplanarbeiten beim VEB Jenapharm zu? Die Absicherung der Geheimhaltung und die Überwachung der damit verbundenen Forschungs- und Entwicklungsarbeiten in der pharmazeutischen Industrie war zweifellos eine wichtige Funktion der Stasi. Für die Überwachung der Volkswirtschaft war die Hauptabteilung XVIII zuständig, bezogen auf den VEB Jenapharm war es die Abteilung XVIII der Stasi-Bezirksverwaltung Gera mit der Kreisdienststelle Jena. Wer allerdings die Vorstellung hegen sollte, die Forschungen zum Staatsplanthema 14.25 beim VEB Jenapharm seien mehr oder weniger direkt stasigesteuert gewesen, sieht sich bald vor einem bemerkenswerten Befund. Dazu bedarf es einer kurzen Erläuterung. Der VEB Jenapharm besaß, wie jeder größere Betrieb in der DDR, eine VS-Stelle (Verschluss-Sachen). Diese war zuständig für die Sicherung geheimzuhaltender Dokumente und für die sogenannte Geheimverpflichtung deijenigen Mitarbeiter, die in als geheimhaltungsbedürf-
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tig klassifizierten Projekten arbeiteten. Auch die fur die Aufgaben im Staatsplanthema 14.25 eingesetzten Wissenschaftler von Jenapharm wurden, auf Antrag des Forschungsdirektors, beim VS-Beauftragten des Betriebes per Unterschrift zur Geheimhaltung verpflichtet und über die Strafbarkeit einer Verletzung ihrer Geheimhaltungspflicht belehrt. Zwischen 1975 und 1989 wurden auf diese Weise insgesamt 16 Direktoren, Abteilungsleiter sowie Arbeitsgruppen-, Sektions- und Themenleiter für das Staatsplanthema geheimverpflichtet. Von diesen waren zwar 6 als Inoffizielle Mitarbeiter bzw. als Gesellschaftliche Mitarbeiter Sicherheit der Stasi tätig: der bereits genannte Prof. Michael Oettel, Forschungsdirektor 1979-1981 bei Jenapharm und dann bis 1989 in gleicher Funktion im Arzneimittelwerk Dresden IMS „Wolfgang Martinsohn"; der Abteilungsleiter Pharmakologie, Dr. Chemnitius - IM „Platte"; der Abteilungsleiter Galenik, Prof. Hüttenrauch - IMS „Schneider" resp. „Weiß"; der Abteilungsleiter Klinische Forschung, Dr. Hartwich - IM „Klinner"; der Betriebsdirektor seit 1987, Dr. Taubert - GMS „Alexander", sowie ein Arbeitsgruppenleiter - IM „Klaus Weber". Nur zwei von diesen sechs hatten allerdings die Aufgabe, zum Staatsplanthema 14.25 zu berichten, und zwar Oettel und Hartwich. Oettel, seit 1979 als IM tätig, war zudem Auswerter von wissenschaftlich-technischen Unterlagen, die von der Hauptverwaltung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit aus dem Westen beschafft worden waren. Der Forschungsdirektor des VEB Jenapharm berichtete seinem Führungsoffizier über den Stand der Arbeiten zum Staatsplanthema, über mögliche Gefahrdungen der Geheimhaltung, über Arbeitstreffen beim Staatssekretär für Körperkultur und Sport oder mit Vertretern des Leipziger Forschungsinstituts und gab Einschätzungen über am Staatsplanthema beteiligte Wissenschaftler ab. Als Oettel 1981 zum Kombinat G E R M E D nach Dresden wechselte, war Hartwich der einzige Mitarbeiter des VEB Jenapharm, der noch zum Staatsplanthema berichtete. Hartwich, 1980 von der FSU Jena zu Jenapharm gekommen, um dort die Abteilung Klinische Forschung aufzubauen, war 1980-1982 bei der Hauptverwaltung Aufklärung als IM gefuhrt worden; 1983 wurde er von der Kreisdienststelle Jena als Vorlauf-IM gefuhrt und nach etlichen Kontaktgesprächen 1984/85 dann 1985 als IM geworben. Er war eine zentrale Figur unter anderem bei den Arbeiten an der Substanz 12 und an der STS 646. Hartwich äußerte sich bei den Treffen mit seinem Führungsoffizier zwar auch zu Fragen des Geheimnisschutzes im Betrieb, er hat diese Treffen aber vor allem dazu genutzt, seine Kritik an der Vergabe von ungeprüften Arzneimitteln an Sportler durch das Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport zu formulieren. Er kritisierte dabei nicht prinzipiell die Anwendung von „unterstützen-
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den Mitteln", sondern er verwies auf die politische Brisanz im möglichen Falle der Entdeckung eines durch Doping bewirkten Körperschadens bei einem Sportler, verlangte aber, daneben „der Sicherheit der angewendeten Methoden für den betroffenen Sportler erste Priorität einzuräumen", und er drängte auf die peinlich genaue Einhaltung der Bestimmungen des Arzneimittelgesetzes. Hartwichs - mittlerweile auch mehrfach veröffentlichte - Versuche, diese Kritik über die Kanäle der Stasi nach oben durchzustellen, blieben allerdings erfolglos. 1987 wurde Hartwich Chefarzt in der Klinik Weißeneck im Kreis Rudolstadt. Damit war nun auch der letzte der für dieses Thema von der Stasi Verpflichteten aus dem Betrieb gegangen. Hartwich blieb zwar durch Vertragsforschung, auch zum Staatsplanthema 14.25, weiter an den VEB Jenapharm gebunden. Dennoch ist es offensichtlich, dass die Stasi bei den Staatsplanaktivitäten des VEB Jenapharm kein zentraler Faktor war.
Selbstmobilisierung Die Forschung zu den europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts jeglicher Couleur fragt in der jüngeren Zeit verstärkt nach den Formen der Selbstmobilisierung der Bevölkerung, da weder das Maß an gesellschaftlicher Energie, das zumindest einige dieser Regimes freisetzen konnten, noch die Formen des inneren Zusammenhalts, die sie trugen, durch die Wirkung äußeren Zwangs allein zureichend zu verstehen sind. Eben das meint auch die Rede von der Stasi als „notwendiger Randbedingung", nicht aber Kern der SED-Herrschaft: Sie öffnet den Blick für die Wege des Arrangements mit dieser Herrschaft, sie erlaubt die Frage nicht nur nach den Restriktionen repressiver Strukturen, sondern auch nach den Handlungsmöglichkeiten, die diese gleichwohl boten, nach den Alltagsformen der Existenz zwischen Engagement und Kontrolle, in unserem Falle: nach der eigenen Initiative, die den Vorgaben von oben durch die im Staatsplanthema 14.25 Engagierten entgegengebracht wurde. Ich will dies wiederum an Beispielen darlegen. Konzeptionelle Arbeiten Die letzte Entscheidung über die Sportpolitik der DDR und den damit verbundenen Einsatz eines umfangreichen Dopingprogramms lag bei der Parteiführung, angefangen mit den Vieijahresplänen des Spitzensports im Rhythmus der Olympiaden, also den Leistungssportbeschlüssen des Politbüros von 1976,1980 usw. Die Initiative zum zentral gesteuerten Doping in der DDR ging eindeutig von der Sportführung der DDR aus. Aber sobald die staatlichen Aufträge ihren
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Weg nach unten nahmen, waren sie, was die konkreten Bearbeitungsschritte, Handlungsabläufe usw. anging, immer schon mehr als nur verbindliche Weisungen. Sie erforderten und ermöglichten die eigene Initiative der Beteiligten: wissenschaftliche Forschung und Entwicklung bedurften der Expertise, der Erfahrung, der Ideen, der konzeptionellen Fähigkeiten der darin Involvierten. Außer den bereits genannten Besprechungen im Ministerium fiir Wissenschaft und Technik oder im Staatssekretariat fiir Körperkultur und Sport gab es eine Vielzahl von regelmäßigen oder unregelmäßigen Arbeitsbesprechungen und Koordinierungstreffen. Diese sind keineswegs alle dokumentiert, aber es finden sich manche Hinweise auf solche Treffen zwischen Mitarbeitern des Leipziger Instituts und/oder des Staatssekretariats und des Sportmedizinischen Dienstes, an denen auch leitende Wissenschaftler des VEB Jenapharm teilnahmen. Leider ist der Inhalt solcher Treffen nur selten dokumentiert. Eine solche Ausnahme ist das folgende Beispiel, an dem ich zeigen möchte, wie ein leitender Wissenschaftler der pharmazeutischen Industrie der ursächlichen Initiative der Sportfiihrung beim Staatsplanthema 14.25 konzeptionell entgegenkam. Wir können zum gegenwärtigen Zeitpunkt aber nicht sagen, ob oder inwiefern dieses Beispiel verallgemeinert werden kann. „Zusammenfassende Darstellung von Folgerungen für die langfristige experimentelle Zusammenarbeit mit dem FKS auf dem Gebiet zentralnerval wirkender Pharmaka" heißt eine im Rahmen von 14.25 verfaßte Studie aus dem Jahre 1980.3 Zu deren Vorbereitung fanden Arbeitstreffen in Dresden, Jena und Dornburg statt; an ihrer Erarbeitung waren leitende Mitarbeiter des Instituts in Leipzig (u.a. Winfried Schäker), des Kombinats G E R M E D und Jenapharms (u.a. Michael Oettel), des Z I M E T (Kurt Schubert) und des Instituts fiir Wirkstofforschung (u.a. Peter Oehme) beteiligt. In der Studie sollten der „Entwicklungsstand und die Entwicklungsrichtung auf den Gebieten der Neuropeptide und Steroide" eingeschätzt und „die weiteren gemeinsamen Aufgaben auf der Grundlage einer wissenschaftlich begründeten Konzeption" festgelegt werden. Es folgte eine Liste der anzustrebenden Wirkungen im Leistungssport, von der „Beeinflussung von Lern- und Gedächtnisleistungen" bis zur „Unterstützung des kampfbestimmenden Verhaltens"; ferner wurden die „sportartspezifische Optimierung von Kontrazeptiva" und die „Vermeidung bzw. Aufhebung von Virilisierungserscheinungen" genannt. Unter „Arbeitsaufgaben Steroide" legte die Studie die „Erarbeitung eines Ablaufplanes zur Testung unterschiedlicher Ostrogen/Gestagen-Kombinationen" fest; verantwortlich: der VEB Jenapharm, als Kooperationspartner wurde Prof. Göretzlehner (Direktor der Universitäts-Frauenklinik Greifswald) angegeben.
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Der in der Studie angekündigte Ablaufplan findet sich in Oettels Stasi-Akten. Es wird darin eine Reihe von Grundlagenforschungen genannt, um „durch geeignete Ostrogen/Gestagenkombinationen bzw. Sequenzpräparate eine Leistungssteigerung bei Spitzensportlerinnen zu erreichen", für die das Institut in Leipzig verantwortlich zeichnen werde. Von Jenapharm sollten für verschiedene einschlägige Präparate Dosierungsvorschläge unterbreitet werden. „Das Ziel ist der Beginn entsprechender klinischer Erprobungen ab 06/82." In diesen Dokumenten zeigt sich, wie konkret sportbezogen und wie detailliert bis hin zu den Dosierungsvorschlägen die konzeptionellen Arbeiten sein konnten, an denen der VEB Jenapharm, hier in Gestalt seines Forschungsdirektors, beteiligt war. Mit anderen Worten: Die allgemeine Struktur der Wirtschaft der DDR und speziell die staatlichen Auflagen im Staatsplan 14.25 können auch als Gelegenheitsstrukturen angesehen werden, die so oder so von den darin Handelnden ausgefüllt werden konnten; je höher sie in der Betriebs- oder Kombinatshierarchie angesiedelt waren, desto größer waren ihre Möglichkeiten, sich die Vorgaben des Staatsplans nicht nur als Ausfuhrende, sondern auch als Mitgestaltende zu eigen zu machen. Materielle Interessen Auch der VEB Jenapharm hatte mit einem für die Wirtschaft der DDR typischen Problem zu kämpfen: Mit der Abhängigkeit von aus dem westlichen Ausland zu importierenden Rohstoffen, Zwischenprodukten, Maschinen oder Technologien, für die meist die Devisen fehlten. Die hohe Priorität, die die Erledigung von Staatsplanthemen genoss, bot hin und wieder die Möglichkeit, solche Engpässe zu überwinden. Als Beispiel sei der erste Hochleistungsflüssigkeits-Chromatograph (HPLC) genannt, den Jenapharm 1989 beschaffen konnte, ein Gerät, mit dem man sowohl Substanzen trennen als auch identifizieren und in genauer Konzentration bestimmen kann. Das Zentrum für wissenschaftlichen Gerätebau der Akademie der Wissenschaften hatte sich nicht in der Lage gesehen, eine derartige Anlage mit den geforderten Parametern zur Verfügung zu stellen und deren Import empfohlen. Der Verwendungszweck im Importantrag lautete: „für spezielle Aufgaben im Staatsplan Wissenschaft und Technik, Komplex 08". Nach einigen Problemen bei der Auswahl der Herstellerfirma wurde der Import realisiert. „Im Falle des Sports", so ein ehemaliger Forschungsdirektor des VEB Jenapharm, wurde das Gerät akzeptiert; „in den meisten anderen Fällen wurde zwar versprochen, aber nicht gehalten, was einen dann immer in ganz große Schwierigkeiten gebracht hat." Der Generaldirektor des Kombinats GERMED, Noack, bedankte sich seinerzeit in seiner Berichterstattung zum Staatsplanthema
D o p i n g u n d d i e p h a r m a z e u t i s c h e I n d u s t r i e in d e r D D R
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14.25 an den Minister fur Chemische Industrie im September 1989 bei den „verantwortlichen Genossen" des Ministeriums für Chemische Industrie, fur Wissenschaft und Technik, des Staatssekretariats für Körperkultur und Sport sowie des Leipziger Forschungsinstituts für die Unterstützung bei der „Valutamitteleinordnung" für diese Anlage. Die Prioritäten des Dopingsystems ließen sich auf diese Weise für die Zwecke des Betriebes nützlich machen. Das Engagement des VEB Jenapharm für seine materiell-technische Ausstattung traf sich mit dem Interesse der politischen Führung an der Realisierung der Forschungsaufgaben im Staatsplanthema.
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„ S t e u e r u n g der L e b e n s p r o z e s s e "
Menschen handeln nicht nur in politischen und institutionellen Zusammenhängen, sondern auch in kulturellen. Die Handlungen in der pharmazeutischen Industrie sind um die Stoffe zentriert, die dort entwickelt, synthetisiert, standardisiert und auf ihre gewünschten und nicht gewünschten Wirkungen getestet werden. Für die mit den anabol-androgenen Steroiden STS 646, 648, 482 und Substanz 12 befaßten Arbeitsgruppen in der chemischen, der galenischen, der pharmakologischen und der klinischen Abteilung des VEB Jenapharm waren die damit verbundenen Arbeitsvorgänge dieselben, die sie auch in anderen Zusammenhängen ausführten. Die Stoffe, mit denen sie zu tun hatten, zählten zum Fundus dessen, worüber Jenapharm als auf die Hormonproduktion spezialisierter Betrieb bereits seit längerem verfügte. Die Frage nach den kulturellen Kontexten läßt sich zunächst als Frage nach der kulturellen Bedeutung der Hormonproduktion stellen. Es gibt mittlerweile Studien über die Vorstellungen von Vermännlichung, Verweiblichung und Veijüngung seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, die sich an die Erkenntnisse über die Sexualhormone knüpften, ich nenne hier die Arbeiten von John Hoberman und von Heiko Stoff.4 Solche Vorstellungen besaßen immer einen utopischen Uberschuss, der sowohl in den mit entsprechenden Forschungen befassten Milieus als auch in den öffentlichen Legitimationen der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen zutage trat. In der DDR war es lange die Chemie, die als Leitwissenschaft aufgefasst wurde. Ich möchte am Beispiel eines populärwissenschaftlichen Buches, das 1979 in der DDR erschien, einen Eindruck von den zeitgenössischen Hoffnungen und Utopien geben, die mit dem pharmazeutischen Zweig der chemischen Industrie verbunden wurden. „Kurz und bündig könnte man sagen", so heißt es dort im Abschnitt über den Einsatz von Hormonen: „Strategisches Ziel ist die
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Steuerung der Lebensprozesse." Die „Beherrschung der Enzym- und Hormonchemie" biete Möglichkeiten, „die Aufbau-, Abbau- und Umbauprozesse in lebenden Organismen vollständig nach dem Willen des Menschen zu lenken", Möglichkeiten, die in ihren Auswirkungen noch gar nicht zu übersehen seien. Sodann werden die Fortschritte auf dem Gebiet der Empfängnisverhütung gepriesen und auch die Pille fur den Mann angekündigt, um schließlich ein Zukunftsszenario zu entfalten, das das Leben vom anderen Ende her ins Visier nimmt: Die Biotechniker würden sich bereits „mit dem Ende aller Lebensprozesse" beschäftigen, und das „natürlich, um es länger hinauszuschieben. Die Hoffnung vieler ist deshalb bei einigen Optimisten schon zur Gewißheit geworden: Der Tod wird überlistet werden!"5 Die Steuerung der Lebensprozesse durch den Eingriff in den Organismus verweist auf zwei Aspekte, die mir in unserem Zusammenhang wichtig erscheinen. Die hormonellen Kreisläufe und Rückkopplungsprozesse im Organismus wurden seit dem Siegeszug der Kybernetik in der DDR in den sechziger Jahren gern als „biokybernetisches Regelsystem" beschrieben. Nun stand in der DDR nicht nur das genannte „strategische Ziel" der „Steuerung der Lebensprozesse" auf dem Programm, sondern zuoberst die Planerfüllung. Was lag also näher, als die beiden Ziele zu verbinden? Wir finden diese Verbindung sowohl auf dem Gebiet der industriellen Tierproduktion wie auf dem der Medaillenproduktion. Die Stoffe der Human- und der Veterinärpharmazie sind dieselben: Androgene, Östrogene und Gestagene, die beim Doping verwendet wurden, waren auch bei einem Vorhaben im Einsatz, das den Titel „Brunstsynchronisation" trägt. Die pharmazeutische Industrie führte dabei (in Ost und West) seit den sechziger Jahren Forschungen zur Rationalisierung der Tierproduktion durch mit dem Ziel, den Zeitpunkt von Brunst und Ovulation bei Schweinen, Schafen usw. zu vereinheitlichen, damit alle folgenden Arbeitsgänge wie Impfen, Absetzen, Umstallen und Mast ebenfalls synchron abgewickelt werden konnten. Der damalige Jenapharm-Direktor Karl Zörger machte sich in diesem Sinne 1969 für „die Forderung nach einem planbaren und steuerbaren Reproduktionsgeschehen" stark. Die „gelenkte Reproduktion des Tierstapels" benötige „spezifisch wirksame Substanzen", die über eine „optimale Applikationstechnologie" in das „biokybernetische Regelsystem eingreifen".6 Liest man dies nicht als fachliche Aussagen eines Arzneimittelherstellers, sondern als sprachlich verfasste Wahrnehmungsmuster, dann, so scheint mir, erweist sich der Zugriff auf die Tiere in seinen hypertrophen Vorstellungen von Machbarkeit, Planbarkeit und Perfektionierung als eng verwandt mit dem Zugriff des Sportsystems der DDR auf die Körper der Athleten.
Doping und die pharmazeutische Industrie in der DDR
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M i t d e m Kontext, den ich hier v e r s u c h s w e i s e a u f g e s p a n n t habe, ist allerdings n o c h nicht die E b e n e d e s Alltags in der p h a r m a z e u t i s c h e n Industrie betreten. A u f dieser E b e n e stellt sich die Frage, w i e die Profession, w i e der B e r u f s a l l t a g d e n Blick auf die diversen involvierten K ö r p e r p r ä g t e : a u f die K ö r p e r der landwirtschaftlichen Nutztiere, a u f die K ö r p e r der Versuchstiere präklinischer U n t e r s u c h u n g e n , a u f die K ö r p e r der P r o b a n d e n v o n klinischen U n t e r s u c h u n g e n , und, via M e d i e n , a u f die K ö r p e r der Athleten. O d e r inwiefern der professionelle Blick zugleich ein geschlechtlich differenzierter war, griffen hier d o c h meist männlic h e Wissenschaftler p e r P h a r m a k a auf weibliche K ö r p e r zu. Wir k ö n n e n d i e s e F r a g e n zur Zeit nicht b e a n t w o r t e n . Ihr Sinn liegt in d e m Wunsch, zu wissen, o b u n d inwiefern die alltäglichen professionellen W a h r n e h m u n g s w e i s e n v o n Wissenschaftlern in der p h a r m a z e u t i s c h e n Industrie der D D R die W a h r n e h m u n g v o n Verantwortung g e g e n ü b e r der G e s u n d h e i t v o n L e i s tungssportlern erleichterten o d e r erschwerten. O d e r a n d e r s formuliert: O b u n d inwiefern u n s e r e F r a g e n a c h der Verantwortung a u c h ihre F r a g e war.
Anmerkungen 1
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Der folgende Text gibt wörtlich das Manuskript des Vortrage in Dornburg wieder, um zu dokumentieren, worauf sich die anschließende Presseberichterstattung bezog. Um den Vortragscharakter beizubehalten, wird auf Einzelnachweise der weitgehend aus archivalischen Quellen erhobenen Befunde verzichtet, Nachweise in Fußnoten beschränken sich auf zitierte Veröffentlichungen. Der Endbericht des Projekts, der 2008 als Monographie veröffentlicht wird, enthält neben einer minutiösen quantitativen und qualitativen Darstellung und Diskussion der Arbeiten Jenapharms im Staatsplanthema 14.25 u.a. deren umfassende Einbettung in die sportpolitischen und - auf den Wissensraum „Sexualhormone" bezogenen - kulturhistorischen Kontexte sowie eine ausführliche Diskussion der Problematik individueller und korporativer Verantwortung. Lutz Niethammer, Die S E D und „ihre" Menschen. Versuch über das Verhältnis zwischen Partei und Bevölkerung als bestimmendem Moment innerer Staatssicherheit, in: Siegfried Suckut/Walter Süß (Hg.), Staatspartei und Staatssicherheit. Zum Verhältnis von S E D und MfS, Berlin 1997, S. 307-340, hier S. 308. Ich danke Prof. Oettel für die Überlassung dieses Dokuments. John Hoberman, Testosterone Dreams. Rejuvenation, Aphrodisia, Doping, Berkeley/Los Angeles 2005; Heiko Stoff, Ewige Jugend. Konzepte der Veijüngung vom späten 19. Jahrhundert bis ins Dritte Reich, Köln u.a. 2004. Siegfried Poller, Chemie auf dem Weg ins dritte Jahrtausend, Leipzig 1979, S. 234-238, Zitate S. 234, 235, 238. Karl Zörger, Begrüßung, in: Tierische Produktion und Reproduktion. I. internationales Symposium des VEB Jenapharm zu „Fragen der Steuerung und Regulierung der Reproduktion landwirtschaftlicher Nutztiere", Weimar, 21. bis 23. Mai 1969, hg. v. K.-H. Chemnitius, o.O. 1969 (Schriftenreihe des VEB Jenapharm, Nr. 2), S. 13f., hier S. 13.
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Doping in der Endphase der DDR und im Prozess der Wende 1 9 8 9 / 9 0 In der Erinnerung an den Sommer des geschichtsträchtigen Jahres 1989, die von der Öffnung des eisernen Zauns zwischen Ungarn und Osterreich und zahlreichen Botschaftsflüchtlingen dominiert wird, spielt heute der Komplex DDRDoping kaum noch eine Rolle, obwohl es eines der Hauptthemen des journalistischen Sommerlochs war. Die Dopingenthüllungen des Skisprung-Weltmeisters und Olympiasiegers Hans-Georg Aschenbach, der sein Insiderwissen als Sportarzt des Armeesportklub (ASK) Oberhof (1985-1988) und als Arzt der Springer-Nationalmannschaft preisgab, lösten nach seiner „Republikflucht" in die Bundesrepublik ein erhebliches publizistisches Echo aus. Bild titelte am 26. Juni 1989 „DDR = Deutsche Dopingrepublik" und begann in gewohnter Manier eine „Enthüllungsserie".1 Seriöse Presseorgane zogen nach: „Die DDR - ein Doping-Paradies"2, „Die Bekenntnisse ehemaliger DDR-Athleten schockieren die Öffentlichkeit"3. Die Schwere der Vorwürfe löste im Westen und auch im Osten heftige Reaktionen aus. In einem Artikel des Pressesprechers des Nationalen Olympischen Komitees (NOK) der DDR Volker Kluge, der unter dem diffamierenden Titel „Erst der Verrat und nun die Lüge" wortgleich in mehreren DDR-Zeitungen erschien, wurden die Vorwürfe Aschenbachs pauschal abgestritten.4 Auf der wenige Tage nach den ersten ß/£/-Vorwürfen stattfindenden Tagung des Bundesvorstandes des Deutschen Turn- und Sportbundes der DDR (DTSB) bekräftigte dessen Präsident Klaus Eichler die offizielle Anti-Doping-Position der DDR („Die DDR ist gegen jede Art von Doping im Sport und tritt für ein weltweites Verbot ein.") und führte weiter aus: „Was die miesen Attacken in der Bundesrepublik, in der Bild-Zeitung, gegen uns betrifft: Ohne den Verräter Aschenbach noch interessanter zu machen, werden wir morgen im Sportecho und in der Jungen Welt Kommentare von Sportlern aus der D D R und aus dem Ausland veröffentlichen. [...] Kristin Otto überdenkt morgen in der Presse laut eine Zivilklage." 5
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Die Dementi- und DifFamierungsstrategie hatte aber auch ungewollte Nebenwirkungen. Über diesen Umweg erfuhr auch der normale DDR-Zeitungsleser, dem die westlichen Print-Medien nicht zugänglich waren, von den westlichen Dopingvorwürfen. Selbst an der Deutschen Hochschule für Körperkultur und Sport (DHfK) Leipzig - so ein Stimmungsbericht des DHfK-Rektors für das Staatliche Komitee für Köperkultur und Sport (StKS) - gingen Studenten von einem möglichen Wahrheitsgehalt aus, was der Rektor auf „mangelnde Sachkenntnis zur medizinischen Betreuung" zurückführte.6 In einem Bericht über die Stimmung im DTSB vom 27. Juli 1989 wurde die Meinung zahlreicher Mitglieder der Hochschule festgehalten, „daß sportliche Spitzenleistungen überhaupt nur noch über künstliche Mittel erreicht werden können und daß das vor DDR-Sportlern nicht halt macht".7 Die gesellschaftliche Akzeptanz des DDR-Leistungssports hatte im Sommer 1989 einen Tiefpunkt erreicht, was auf der Basis empirischer Daten wie ζ. B. der Analyse von Eingaben, der Auswertung der gesunkenen Sporteinschaltquoten im DDR-Fernsehen sowie durch ansteigende Delegierungsverweigerungen zu den Kinder- und Jugendsportschulen (KJS) überzeugend belegt worden ist.8 Der DTSB hatte bereits im Frühjahr 1989 beschlossen, auf die Dopingdiskussion mit einer differenzierten Öffentlichkeitsarbeit zu reagieren, deren wesentliche Punkte nur stichwortartig aufgezählt werden sollen: -
Teil-Öffnung der bislang hermetisch abgeriegelten Kinder- und Jugendsportschulen, - Aufbau von größerem Vertrauen in medizinisches Personal und Ärzte, - Betonung der Rolle des Trainings fur die sportliche Leistung, - Würdigung der Anti-Doping-Politik der DDR, - Aufklärung der Allgemein-Mediziner über die gesundheitliche Betreuung der Sportler, damit sie die Fragen der Jugendlichen und ihrer Eltern „sachkundig" beantworten können.9 Gleichzeitig erfolgte eine Reduzierung des Dopingprogramms auf600 Spitzenathleten.10
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Um zu zeigen, dass es sich bei der Behauptung, die DDR habe stets eine klare Anti-Doping-Politik verfolgt, um eine gezielte Desinformationskampagne handelte, muss noch einmal der bereits an anderer Stelle11 geführte Gegenbeweis angetreten werden.
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So berichtete ζ. Β. der stellvertretende Direktor des Sportmedizinischen Dienstes ( S M D ) und Chefarzt Leistungssport II, M R Dr. Manfred Höppner bzw. „IMV Technik", dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) am 3. März 1977, dass anabole Hormone (Steroide) „im Leistungssport angewandt" wurden, „insbesondere in verstärktem Maße während der Vorbereitung der Olympischen Spiele 1972 und 1976". Sie würden in fast allen olympischen Sportarten und bei „allen Nationalmannschaftskadern" und bei „fast allen Kaderkreisen I und II" auf der Basis bestätigter Grundkonzeptionen angewendet. 1 2 In einem Bericht aus dem Jahr 1975 bezifferte die zuständige MfS-Hauptabteilung X X / 3 die Zahl der mit „Anabolen" versorgten Sportler auf ca. 2.000 in der „Leistungsstufe III und teilweise der Leistungsstufe II".13 Höppner maß dem Honnondoping einen entscheidenden, letztlich ausschlaggebenden Anteil bei der Erzielung von Weltklasseleistungen zu: „Sportliche Spitzenleistungen oder ihre Weiterentwicklung ist [sie] durch alleinige trainingsmethodische Maßnahmen heute nicht mehr möglich. In Sportarten mit meßbaren Leistungen läßt sich diese Tatsache durch Meter, Sekunden oder Kilogramm eindeutig nachweisen. In anderen Sportarten ist die Realisierung höherer Belastungen im Training ohne diese Mittel nicht möglich. Dazu einige wenige Beispiele. Die Leistungen konnten mit Unterstützung dieser Mittel innerhalb von 4 Jahren wie folgt gesteigert werden (diese Entwicklungsraten waren in den vergangenen vorherigen olympischen Perioden mit reinen Trainingsmaßnahmen nicht möglich gewesen). Kugelstoßen (Männer Kugelstoßen (Frauen) Diskuswurf (Männer) Diskuswurf (Frauen) Hammerwurf Speerwurf (Frauen) Fünfkampf (Frauen) 400 m Frauen 800 m Frauen 1.500 m
2,5-4 m 4,5-5 m 10-12 m 11-20 m 6-10 m
8-15 m
eine ca. 20 °/oige Steigerung 4-5 Sek. 5-10 Sek. 7-10 Sek. Beim [sie] 100 m Lauf der Frauen unter 11,2 Sek. ohne die Anwendung von unterstützenden Mitteln wird von allen Fachleuten als ausgeschlossen betrachtet. Im Schwimmsport der Frauen wurden ebenfalls erhebliche Steigerungsraten mit Unterstützung dieser Mittel registriert. Weitere Beispiele könnten aus allen Sportarten gebracht werden."14
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Höppner thematisierte in seinen Berichten aber auch trainingsmethodische und sportmedizinische Probleme des Dopings, wie zum Beispiel - die Vernachlässigung des Männertrainings, bei dem die Leistungssteigerung durch das Hormondoping geringer als bei den Frauen sei, - falsche Talentauswahl im Nachwuchsbereich durch die hohen Effekte der erstmaligen Anwendung anaboler Hormone, - „irreversible Schäden" und „unerwünschte Nebenwirkungen" beim Frauendoping. Ein wesentliches Motiv der intensiven Berichterstattung Höppners an das MfS war die Gewährleistung des Geheimnisschutzes des Dopingprogramms. Wie groß der Kreis der beteiligten Mediziner schon im Frühstadium war, geht aus einem IM-Bericht Höppners aus dem Jahre 1973 hervor: „In Absprache mit dem Präsidenten des DTSB wurde ab Dezember 1972 festgelegt, dass es notwendig ist, künftig auch die Sektionsärzte der einzelnen Sportclubs in die Verfahren mit anabolen [Steroiden] einzubeziehen. Diese Maßnahme macht sich erforderlich, da einmal die Verbandsärzte nicht in der Lage sind, bei jedem Aktiven individuell Einfluss zu nehmen und Kontrollen durchzuführen, zum anderen führte es in verschiedenen Fallen zu Fehldiagnosen und Fehldosierungen durch die Sektionsärzte in Unkenntnis der angewandten Mittel und betroffenen Aktiven. Die Sektionsärzte haben ab Dezember die Namen der Aktiven erhalten und die entsprechenden Dosierungen, verabreichen diese und üben Kontrollen aus. [...] Gegenüber den bisherigen ca. 20 Verbandsärzten wurden zusätzlich 100 Sektionsärzte durch die Maßnahme einbezogen und entsprechend in die Vertraulichkeit dieser Angelegenheit eingewiesen."15
1 9 8 7 : V e r s t ä r k t e s B e m ü h e n um die G e h e i m h a l t u n g
Seit vielen Jahren waren „alle mit der konkreten Anwendung und Untersuchung u.M.16 vertrauten, berechtigten Mitarbeiter des Sportmedizinischen Dienstes" auf eine rigide Geheimhaltungspraxis verpflichtet worden.17 Selbst im internen Schriftverkehr des SMD mit der Klassifizierung „Vertrauliche Dienstsache" vermied man es, von Doping zu sprechen. Dies gilt auch für den Schriftwechsel des .geheimen' „Forschungsinstituts für Körperkultur und Sport" (FKS) in Leipzig mit dem StKS. Dort wird nur an einigen Stellen unverfänglich das „Staatsplanthema 14.25" erwähnt18; seit den Veröffentlichungen von Brigitte Berendonk und Werner W. Franke ist bekannt, dass diese bürokratische Staatsplanziffer für das geheime Dopingforschungsprogramm der DDR steht.19 Dort, wo aus haushalts-
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technischen Gründen ein Verwendungszweck für den Einsatz staatlicher Finanzmittel angegeben werden musste, verwandte man Kürzel oder Tarnbegriffe, wie z.B. das bereits erwähnte „Staatsplanthema 14.25" oder „Hormonelle Regulation"20. Diese überaus strenge Geheimhaltung selbst im internen Dienstverkehr deutet daraufhin, dass sich die Verantwortlichen sehr wohl darüber im Klaren waren, dass sie nicht nur gegen „Sportgesetze" verstießen. So gehörte folgerichtig die Fähigkeit zur „Wahrung von Partei- und Staatgeheimnissen" neben der Aufforderung zur „unbedingten Treue zur Arbeiterklasse, ihrer Partei und zum Marxismus/Leninismus" zu einem der wichtigsten Kriterien flir die Auswahl der „Kaderreserve"21 des SMD. Der Kreis der .Mitwisser' war aber inzwischen so groß geworden, dass es immer wieder zu „besonderen Vorkommnissen" kam. Ein solches Vorkommnis innerhalb des DTSB veranlasste den DTSB-Vizepräsidenten Dr. Thomas Köhler, den SMD zu bitten, „1. Forschungskonzeptionen und Anwendungskonzeptionen zukünftig ohne namendiche Angaben des Ausfertigers und Empfängers handschriftlich in [nur] einer Ausfertigung herstellen zu lassen. [...] 2.
Alle bisher angefertigten Forschungskonzeptionen aufzulisten und weitgehends zu vernichten." 22
Die Antwort des SMD entsprach nicht dem gesteigerten Geheimnisschutzbedürfnis des DTSB-Vizepräsidenten: Unter Hinweis auf „die Sicherung unseres bisherigen Erkenntnisgewinnes" und auf die Vielzahl der betroffenen Einrichtungen und Personen („Sportärztliche Hauptberatungsstellen, Forschungseinrichtungen auf dem Gebiet der Körperkultur und des Sports und außerhalb, im Prinzip alle [sie!] Arzte und Trainer etc.") riet der Stellvertreter des Direktors des SMD davon ab, eine „übereilte Aktion" durchzuführen.23
1 9 8 8 : B r u d e r z w i s t an der D o p i n g - F r o n t Als die S o w j e t u n i o n die D D R an den P r a n g e r s t e l l e n w o l l t e
Bevor nun die Dopingpolitik und Dopingpraxis im Prozess der friedlichen Revolution erörtert wird, muss auf eine zweite überraschende und vergessene Frontlinie hingewiesen werden, an der die DDR-Doper im Jahr 1988 zu kämpfen hatten. Besorgt über das bessere Doping-Know-how der DDR, welches drohte, den sowjetischen Sport langfristig ins Hintertreffen zu befördern, spielte auf einmal der sowjetische Sportminister Gramow die Karte der „unangemeldeten Trai-
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ningskontrollen" aus. Grund flir diesen Spielzug im internationalen Dopingpoker war vermutlich die Überlegung, dass dieses Instrument die räumlich kleinere D D R härter treffen musste als die Sportler im Riesenreich der Sowjetunion. Ort des Uberraschungscoups war die 37. Konferenz der „Leiter der sozialistischen Sportorganisationen" in Budapest Mitte November 1988. Nachdem sich sowohl die D D R als auch Rumänien gegen eine von Ungarn eingebrachte Resolution gewehrt hatten, in welcher das I O C aufgefordert worden war, eine internationale Expertenkommission zu schaffen, „die in allen Ländern der Welt zu jeder Zeit Dopingtests durchführen soll" 24 , hatte der sowjetische Sportminister und NOK-Präsident gedroht, „die destruktive Haltung der D D R und Rumäniens im Kampf gegen das Doping öffentlich zu machen" 25 . Ursache des DDR-Widerstandes war die Forderung, dass die Dopingkontrolleure von den kommunistischen Ländern mit einem Dauervisum zur jederzeitigen und unangemeldeten Einreise ausgestattet werden sollten. Obwohl diese Maßnahme das DDR-System des durch Ausreisekontrollen abgeschirmten Dopings empfindlich gestört hätte, blieb der Delegation der D D R in Budapest nichts anderes übrig, als offiziell der Resolution zuzustimmen. Intern wurde allerdings vereinbart, trotz der Budapester Unterschrift gegenüber dem I O C die Auffassung zu vertreten, „daß die Dopingkontrollen in der nationalen Verantwortung liegen" und der „Einfuhrung internationaler Dopingkontrollen [...] nur zugestimmt werden [kann], wenn die grundsätzlichen Verfahrensweisen allgemein anerkannt und vom I O C und den internationalen Sportförderationen verabschiedet werden". 26
Nachdem die Gramow-Drohung via dpa doch noch an die Öffentlichkeit gelangt war, lancierte die SED-Führung eine Meldung im Neuen Deutschland, wonach für die Grenzen der D D R nicht Herr Gramow, sondern das Außenministerium der D D R zuständig sei.27 Ohne auf weitere Einzelheiten dieser Episode einzugehen 28 , weist der Umstand, dass die DDR-Führung in der Doping-Frage sogar einen begrenzten Konflikt mit der Führungsmacht des Ostblocks riskierte, auf die zentrale Bedeutung des Dopings für den Erfolg des DDR-Leistungssports hin.
Dopingpolitik im Prozess der friedlichen Revolution: w e i t e r e Lügen, Teilgeständnisse und Fortsetzung der „ b e w ä h r t e n " Praxis Um sich der einzelnen Schritte und Entwicklungen der Behandlung der Dopingfrage in den Monaten der friedlichen Revolution 1989/1990 zu vergewissern, ist zunächst eine chronologische Darstellung hilfreich.
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Unmittelbar vor dem „40. Geburtstag der Republik" setzte am 4. Oktober 1989 einer der Hauptverantwortlichen des flächendeckenden Dopings in der DDR, der Direktor des Sportmedizinischen Dienstes, M D Dr. Dietrich Hannemann, vor seiner Reise zur „2. Weltkonferenz über Anti-Doping im Sport" mit einem Artikel im Deutschen Sportecho „Entschieden gegen Doping - für die Gesundheit"29 die offizielle Politik des Leugnens fort. Mit der Schlagzeile „Lieber verlieren als betrügen" führte das DeutscheSportecho am nächsten Tag die Vertuschungskampagne weiter. Aufgerüttelt durch die Montagsdemonstrationen und die große Kundgebung in Ost-Berlin auf dem Alexanderplatz am 4. November leitete der SMD eine vorsichtige, kleine „Wende" in der Dopingpolitik ein und berichtete ohne (!) Namensnennungen von 14 positiven Fallen in der D D R im Jahr 1988. Die Notiz gelangt über das FDJ-Organ Junge Weiß0 und das Deutsche Sportechii31, welche über eine Besichtigung im Doping-Kontroll-Labor in Kreischa berichteten, am 8. November 1989 an die Öffentlichkeit. Der Mauerfall am Tag danach sorgte allerdings dafür, dass in der D D R fast niemand von dieser Mini-Wende der offiziellen Anti-Doping-Politik, die bislang jegliches Doping in der DDR geleugnet hatte, Notiz nahm. Dem Mauerfall folgte am 9. und 10. November ein Krisengipfel der Hauptakteure von DTSB und SMD mit dem Ergebnis: „... die speziellen sportmedizinischen Maßnahmen sind weiterzuführen".32 Während die hochrangigen DTSB-Teilnehmer der Krisengespräche am 9. und 10. November im Verlaufe des Wendeprozesses ihre Amter verloren oder zurücktraten,33 blieb die Leitung des SMD unangefochten im Amt. Der erste namentlich bekannt gemachte Dopingfall in der D D R betraf bezeichnenderweise keinen Sportler aus den besonders geförderten .olympischen' Sportarten, sondern eine weibliche Kraftsportlerin der BSG Tiefbau Berlin, die bei einem Body-Building-Turnier in Sofia positiv getestet worden war.34 Das Schweigekartell der unmittelbar in den Dopingprozess involvierten SMD- und DTSB-Angehörigen gegenüber der Öffentlichkeit funktionierte, solange die Regierung Modrow im Amt war. So wurde am FKS noch am 8. Dezember 1989 eine „Dissertation B" (Habilitationsschrift) angenommen, in der das Doping im Bereich der Ausdauersportarten in der Vorbereitung auf die Olympischen Spiele 1988 Forschungsgegenstand war 35 Selbst als der Präsident der Gesellschaft für Sportmedizin der DDR, Prof. Kurt Tittel (DHfK), am 15. Februar 1990 öffentlich einräumte, es seien im DDR-Sport Dopingmittel gebraucht worden, „weil von der Sportleitung der DDR Druck von oben ausgeübt wurde"36, gab es weder vom DTSB noch vom SMD öffendiche Reaktionen. Die neue DTSB-Führung wollte offensichtlich zunächst einen Schlussstrich
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unter das Dopingkapitel ziehen. In den „Thesen zu einem künftigen Sportgesetz in der DDR", die im Auftrag des DTSB-Arbeitsausschusses von einer Gruppe von Sportwissenschaftlern und Juristen erarbeitet worden waren, hieß es dementsprechend apodiktisch: Jeglicher Vertrieb und die Verwendung von Dopingmitteln ist im Sport untersagt. Zuwiderhandlungen unterliegen strafrechtlicher Verantwortung."37 Im Schlussentwurf aber, der dem Außerordentlichen Turnund Sporttag Anfang März vorgelegt wurde, war diese Passage nicht mehr enthalten.38 Im Rechenschaftsbericht der Ubergangsfuhrung wurde das Thema mit einem einzigen Satz abgehandelt. Der Vorsitzende des Arbeitsausschusses, Prof. Hans-Georg Herrmann, knüpfte an die offizielle Anti-Doping-Programmatik des DTSB an, ohne auch nur den Versuch einer selbstkritischen Aufarbeitung der inzwischen aufgedeckten Dopingvergangenheit zu unternehmen.39 Auch der S M D hielt sich nach dem Vorstoß des Präsidenten der Gesellschaft fur Sportmedizin der DDR bedeckt: Der SMD hatte gerade bekannt gegeben, dass seine Beratungsstellen nicht länger nur dem Leistungssport vorbehalten blieben, sondern nun für jedermann zugänglich sei sollten.40 Offensichtlich wollte man sich nicht mit „Erblasten" beschäftigen, überdies unterlagen viele Beteiligte noch der Pflicht zur Wahrung von Staatsgeheimnissen. Im DTSBSekretariat war noch am 5.12.1989 ein Beschluss „zur weiteren Erhöhung des Geheimnisschutzes" gefasst worden. Darin hieß es: „Die Arbeit mit den Geheimnisträgern ist qualitativ zu verbessern, um ihren Geheimhaltungswillen zu festigen."41 Als am 28. Februar 1990 die Auflösung der VS-Stellen in den Bezirksvorständen, Sportclubs und im DTSB-Bundesvorstand beschlossen wurde, waren die VS- bzw. WS-Materialien entweder „zu vernichten oder neu (Dienstsache) einzustufen".42
Keine Reaktion der Regierung M o d r o w Die Regierung Modrow, der spätestens durch die Eingabe eines DDR-Sportmediziners aus Zinnowitz vom 19. Januar 1990 alle Einzelheiten des menschenverachtenden Dopings im DDR-Sport bekannt waren („Es musste schnell, billig und wirksam gehen, bekannte gesundheitliche Schäden wurden in Kauf genommen"43), ließ die Vernichtung belastender Materialien zu und setzte die bekannte Vertuschungspolitik bis zu ihrem Ende, welches auch das Ende der alten DDR war, fort. Der in der Eingabe geäußerte strafrechtlich relevante Vorwurf, dass Jugendliche „unwissentlich mit den als UM (unterstützende Mittel) bezeichneten Dopingmitteln von zentraler Stelle aus versorgt" wurden, löste auch in der .gewendeten' DDR keine staatsanwaltschaftliche Untersuchung aus.
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Erst das (voraussehbare) Ende der Modrow-Regierung am 18. März 1990 löste die Zungen zahlreicher wichtiger Zeitzeugen (u.a. Dr. Claus Clausnitzer, Leiter des Doping-Kontroll-Labors in Kreischa, und Michael Regner, Schwimm-Trainer beim Armeesportklub Potsdam) und führte zu einer Flut neuer Veröffentlichungen in der Presse. Als „Enthüllungen von Scheinheiligen"44 qualifizierte die Frankfarter Rundschau diese plötzliche Bekenntnisbereitschaft. Dieser Einschätzung ist nichts hinzuzufügen.
Anmerkungen 1
Größte Gemeinheit: Kinder Doping, Bild, 27.6.1989; DDR gesteht Doping. Gebt die Goldmedaillen zurück! Bild, 29.6.1989. 2 Stuttgarter Zeitung, 28.6.1989. 3 Der Spiegel, 17.7.1989. 4 Junge Welt, 27.8.1989. Die in dem Artikel erhobenen menschlichen Vorwürfe gegen Aschenbach provozierten einen Kommentar der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Einer für alle, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.7.1989). 5 Wortprotokoll der 14. Tagung des Bundesvorstandes des DTSB am 29.6.1989, Bundesarchiv Berlin, SAPMO DY12/12383. Die später von mir schriftlich befragte Kristin Otto (sechsfache Goldmedaillengewinnerin bei den Olympischen Spielen in Seoul 1988) wusste davon nichts oder wollte von der ihr zugedachten Rolle als Klägerin nichts wissen. 6 Rektor DHfK an Staatssekretär fur Körperkultur und Sport. Leipzig, 4. 7.1989, Bundesarchiv Berlin, DR 5/1231. Zur Aussagekraft der Leiterinformationen der DHfK: Hans Joachim Teichler, Die Leiterinformationen der dem StKS unterstellten Einrichtungen am Beispiel der DHfK, in: Norbert Gissel/Jochen Rühl/Hans Joachim Teichler (Hg.), Sport als Wissenschaft. Jahrestagung der dvs-Sektion Sportgeschichte vom 19.-21.4.1996 im Schloss Rauischholzhausen, Hamburg 1997, S. 133-150. 7 Vorlage für das Sekretariat des Bundesvorstandes, Nr. 241/4/89: Information zur Lage in der Sportorganisation". Berlin, 27. 7.1989, Bundesarchiv Berlin, SAPMO DY 12/Sekr. 89 (2). 8 Thomas Fetzer, Die gesellschaftliche Akzeptanz des Leistungssportsystems, in: Hans Joachim Teichler (Hg.), Sport in der DDR. Eigensinn, Konflikte, Trends, Köln 2003, S. 273-357. 9 Vgl. Vorlage fur das Sekretariat des Bundesvorstandes des DTSB, Nr. 223/2/89: Konzeption zum weiteren Vorgehen im Kampf gegen Doping, Berlin 7. 3. 1989, Bundesarchiv Berlin, SAPMO Abt. Sport des ZK der SED, vorl. AZN 417 und Bundesarchiv Berlin, SAPMO DY 12/Sek. 89 (1). 10 Giselher Spitzer, Doping in der DDR. Ein historischer Überblick zu einer konspirativen Praxis, Köln 1998, S. 204. Auf der Basis der Auswertung von Akten des Ministeriums fur Staatssicherheit wird im Kapitel „Krise der Dopingpolitik und Untergang" die hier nur angerissene Problematik durch Spitzer ausfuhrlich dargestellt. 11 Vgl. Hans Joachim Teichler, Das Schweigekartell - Die Ausblendung des Themas „Doping" im Prozeß der Wende, in: Ders./Klaus Reinartz (Hg.), Das Leistungssportsys-
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tem der DDR in den 80er Jahren und im Prozeß der Wende, Schorndorf 1999, S. 557-594, hier S. 573ff. Vgl. BStU, MfS 1MB „Technik" Teil II, Bd. 2, XV 2672/65, S. 243. Recherche durch G. Spitzer. Vgl. Sicherheitsanalyse der HA XX/3 J u n i 1975, in: BStU, Zur Tätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit im Leistungssport der DDR. Ein vorläufiges Rechercheergebnis, Berlin 1994, Dokumentenanhang, S. 118 f. Die Zahl der Mitwisser wurde in diesem Dokument mit ca. 300 Personen angegeben. BStU, MfS, 1MB „Technik" Teil II, Bd. 3 XV 2672/65, Recherche G. Spitzer. BStU, MfS, 1MB „Technik", Teil II, Bd. 2, S. 131. Das Kürzel „u.M." steht für „unterstützende Maßnahmen" bzw. „unterstützende Mittel", die unter die internationalen Dopingbestimmungen fallen. Vgl. Weisung Nr. 3/83 des Direktors des Sportmedizinischen Dienstes zur Absicherung der Sondermaßnahmen bei der sportmedizinischen Betreuung unserer Sportler - Sondermaßnahmen -, Bundesarchiv Berlin, DR 5/2183. So z.B. im Planteil Forschung für den Volkswirtschaftsplan, FKS 1986, S. 11, Bundesarchiv Berlin, DR 5/1525. Vgl. Brigitte Berendonk, Doping Dokumente, Berlin, Heidelberg, New York 1991; dies., Doping. Von der Forschung zum Betrug, Reinbek 1992. Vgl. Volkswirtschaftsplan FKS 1984, Bundesarchiv Berlin, DR 5/1553. Kaderprogramm des Sportmedizinischen Dienstes für den Zeitraum 1986-2000, S. 21, Bundesarchiv Berlin, DR 5/1624. Dieser programmatische Anspruch stimmte mit der Lebenswirklichkeit nicht überein. Dies zeigen vereinzelte „Republikfluchten" von SMD-Angehörigen in den 70er und 80er Jahren und die „Leiterinformationen" des SMD aus den Jahren 1988/89, in denen von Parteiaustritten und Ausreiseanträgen die Rede ist, Bundesarchiv Berlin, DR 5/1231. Laut Antwortbrief OMR Dr. Höppner (SMD, Stellvertreter des Direktors) an Vizepräsidenten Dr. Th. Köhler, Berlin, 10.4.1987, Bundesarchiv Berlin, SAPMO DY 12/12339, abgedruckt in Teichler/Reinartz, Leistungssportsystem, S. 581. Vgl. ebenda. Vgl. Günter Deister, Gramow zwingt DDR und Rumänien auf eine gemeinsame Doping-Linie, dpa-Hamburg, 15.11.1988. Vgl. ebd. Vgl. Krenz an Honecker. ZK-Hausmitteilung vom 16.11.1988, Bundesarchiv Berlin, SAPMO DY 30/IV2/2.039/248. Neues Deutschland, 17.11.1988, S. 2. Vgl. Hans Joachim Teichler, Die Doping-Kontroverse zwischen der Sowjetunion und der DDR 1988, in: Hans-Joachim Seppelt /Holger Schück (Hg.), Anklage: Kinderdoping. Das Erbe des DDR-Sports, Berlin 1999, S. 299-306. Deutsches Sportecho, 4.10.1989. Junge Welt, 8.11.1989. „Die Doping-Polizei" lud ein, Deutsches Sportecho, 8.11.1989, S. 2. Vgl. Vorschläge zur Sicherstellung erforderlicher sportmedizinischer Maßnahmen in den Sportverbänden und SC/FC, Bundesarchiv Berlin, SAPMO DY 12/12383. Abgedruckt als Dokument in Teichler/Reinartz, Leistungssportsystem, S. 583.
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33 Vgl. Teichler, Der DTSB im Prozeß der Wende, in: Teichler/Reinartz, Leistungssportsystem, S. 405-556. 34 Deutsches Sportecho, 29.11.1989. 35 Es handelte sich um die Arbeit von G. Rademacher, Wirkungsvergleich verschiedener anaboler Steroide im Tiermodell und auf ausgewählte Funktionssysteme von Leistungssportlern und Nachweis der Praxisrelevanz der theoretischen und experimentellen Folgerungen. Vgl. Werner W. Franke, Funktion und Instrumentalisierung des Sports in der DDR: Pharmakologische Manipulation (Doping) und die Rolle der Wissenschaft, in: Materialien der Enquete-Kommission Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland, Bd. ΙΠ/2, Baden-Baden 1995, S. 904-1143, S. 965f. 36 Vgl. DDR-Sportmedizin im Umbruch: Erblast und Neuorientierung, Deutsches Sportecho, 15.2.1990, S. 7. 37 Vgl. Bundesarchiv Berlin, DR 5/1242. Die Thesen wurden über den Sportinformationsdienst verbreitet, vgl. sid-Beilage C vom 2.2.1990. 38 Entwurf: Vorschlag des DTSB für ein Sportgesetz der DDR. Vorlage zum Außerordentlichen Turn- und Sporttag des DTSB am 3./4.3.1990. Bundesarchiv Berlin, SAPMO DY 12/12359. 39 Vgl. Wortprotokoll, S. 6f. Bundesarchiv Berlin, SAPMO DY 12/12359. 40 Vgl. Deutsches Sportecho, 14.2.1990, S. 7. 41 Vgl. Protokoll der 258. Sitzung des Sekretariats des Bundesvorstandes des DTSB, TOP 3: Ergebnisse der Inventur auf dem Gebiet der Arbeit mit den Staatsgeheimnissen, Bundesarchiv Berlin, SAPMO DY 12/12355. 42 Vgl. Protokoll der Sitzung des Arbeitssekretariats des Bundesvorstandes des DTSB am 26. 2.1990, TOP 5, Bundesarchiv Berlin, SAPMO DY 12/ Prä 88/89 (VS - „Verschlußsache", W S - „Vertrauliche Verschlußsache"). 43 Die Eingabe, der zahlreiche Dokumente beigefugt waren, ist abgedruckt in Teichler/Reinartz, Leistungssportsystem, S. 584ff. 44 DDR: Enthüllungen von Scheinheiligen, Frankfurter Rundschau, 19.3.1990.
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„Dopen für Deutschland" Die Diskussion im vereinten Sport 1990-1992
Der Weg in die Sporteinheit stand unter schlechten Vorzeichen, das erkannte der „Chronist der Deutschen" Walter Kempowski sofort. Auf der zentralen Feier zum Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 beobachtete er den zunehmend wütender werdenden Willi Daume kurz vor Beginn eines Fernseh-Interviews auf dem Weimarer Festplatz. Der Chef des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland (NOK) grollte, weil man ihm als Gesprächspartnerin eine mehrfache Goldmedaillengewinnerin aus der DDR versprochen hatte, die jedoch überraschend absagte.1 Dieser misslungene öffentliche Schulterschluss von westlichem Sportfunktionär und ostdeutscher Athletin kann als böser Vorbote der Krise aufgefasst werden, die den zusammenwachsenden deutschen Sport nur einen Monat später in seinen Grundfesten erschüttern sollte. Innerhalb kürzester Zeit wurde zunächst die hässliche Kehrseite vieler ostdeutscher Medaillen, das staatlich verordnete Zwangsdoping, in ihren Konturen erkennbar, bald darauf griffen gleich einem Flächenbrand die Enthüllungen auch auf die bisherige Leistungsmanipulation in der Bundesrepublik über. Schlagzeilen wie „Dopen für Deutschland"2 bestimmten die kommenden Monate - eine gesamtdeutsche Verallgemeinerung, wie sie sich bundesdeutsche Funktionäre und Politiker nicht vorgestellt hatten, als sie seit Frühjahr 1990 das Bild der künftigen Einheit im Sport beschworen.3 Was fur Willi Daume, der den bundesdeutschen Sport ebenso wie den deutsch-deutschen Sportverkehr wie kein anderer Funktionär von seinen Anfangen bis zur Uberwindung der staatlichen Teilung in verantwortlicher Position begleitet und geprägt hatte4, zu einem krönenden Abschluss seiner Laufbahn hätte werden sollen, gestaltete sich zu einer der heikelsten Perioden seiner Amtszeit. Im Folgenden ist zu untersuchen, wie sich der Sport der „Dopingkrise" stellte, vom Zeitpunkt des organisatorischen Zusammenschlusses bis zur Bewältigung der ersten überragenden sportlichen Herausforderung, der Olympischen Spiele von Albertville und Barcelona 1992, der ersten gesamtdeutschen seit dem Jahr 1964.5 Hierbei sind zwei charakteristische Entwicklungen zu verfolgen: Wie in keinem anderen gesellschaftlichen Bereich sorgte der Vereinigungsprozess im Sport dafür, nicht allein die Untaten des SED-
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Regimes aufzudecken, sondern ebenso die Abgründe eines illegalen Schattenbereichs im westdeutschen System sichtbar zu machen. Doch mündete die Bewältigung der ost- und westdeutschen Skandalgeschichten nicht in eine gemeinsame Aufbruchstimmung. Vielmehr war nach anderthalb Jahren der Doping-Aufarbeitung, kurz vor den Olympischen Sommer-Spielen 1992, das Ost-West-Verhältnis im Sport derart gespannt, dass der Deutschlandfunk den Titel eines Diskussions-Forums in die Frage kleidete: „Entzweit das Dopingproblem die deutsche Sportnation?" 6
Das Jahr der Kommissionen - Von der Vereinigung im Sport ( 1 5 . 1 2 . 1 9 9 0 ) zum R i c h t h o f e n - R e p o r t ( 1 4 . 1 2 . 1 9 9 1 ) Im November 1990 fiel nicht zum ersten Mal ein Schlaglicht auf die Doping-Praxis in Ost- und Westdeutschland. Die Bundesrepublik konnte bereits auf einige Wegmarken der öffentlichen Auseinandersetzung mit der eigenen DopingProblematik zurückblicken, die jedoch im Wesentlichen kurzlebig und vor allem nahezu folgenlos geblieben waren. 7 Während die D D R keine öffentliche Diskussion ihres geheimen Zwangsdopings zuließ, waren immerhin seit den 1970er Jahren zahlreiche Hinweise im Westen aufgetaucht, in der Regel überbracht von sportlichen Uberläufern. 8 Seit der SED-Staat im Jahr 1989 fortschreitende Auflösungserscheinungen zeigte, häuften sich diesbezügliche Geständnisse von DDR-Sportlern, die mittlerweile im Westen lebten, und wirbelten in der bundesdeutschen Presse einigen Staub auf.9 Dennoch erreichte die Diskussion eine völlig neue Qualität, als sich Dr. Manfred Höppner, Vizechef des Sportmedizinischen Dienstes (SMD) der DDR, Ende November 1990 zum Gespräch mit Reportern des stern auf dem Sofa eines Hotels in Berlin niederließ. Das Novum bestand nicht allein in der Tatsache, dass erstmals ein hochrangiger ostdeutscher Sport-Funktionär den Rubikon überschritt und die Dopingpraxis in erstaunlicher Offenheit einräumte. Entscheidend war, dass er detaillierte Unterlagen mitbrachte, die der stern ihm für eine fünfstellige Summe abgekauft hatte. 10 Sie belegten in exakten Milligramm-Angaben die Höhe der individuellen Anabolika-Dosis, unter deren Einfluss zahlreiche DDR-Spitzenstars in der Vergangenheit Training und Wettkampf bestritten hatten, hierunter Idole wie die Leichtathletin Heike Drechsler und die Schwimmerinnen Kristin Otto und Dagmar Hase. 11 Mitten in die Empörungswelle über die nun für jeden nachlesbaren Manipulationen des einstigen Sportwunderlandes D D R platzte wenige Tage später Der Spiegel mit einem Artikel, der massive Dopingverstöße im bundesdeutschen
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Sport ebenfalls nicht nur mit Zeugenaussagen, sondern auch mit schriftlichem Beweismaterial untermauerte. Die westdeutsche Athletin Claudia Lepping, eine der wesentlichen Initiatorinnen der Spiegel-Publikation, hatte sich aus Frustration über die Untätigkeit westdeutscher Dopingkontrolleure und angesichts der Enthüllungen über das DDR-Doping zu diesem Schritt ermutigt gefühlt.12 Für die bundesdeutsche Sportfuhrung konnte der Zeitpunkt dieser Veröffentlichungen nicht ungünstiger ausfallen, wollte man doch auf dem Bundestag des Deutschen Sportbundes (DSB) am 15. Dezember 1990 in Hannover feierlich die organisatorische Vereinigung des Sports vollziehen.13 Nach der Ankündigung, zu diesem Anlass keinen „Doping-Bundestag" begehen zu wollen, räumte DSBPräsident Hans Hansen in seiner Ansprache der Dopingproblematik nur einen nachgeordneten Rang ein.14 Kurz zuvor hatten Sportbund und Nationales Olympisches Komitee allerdings die Einsetzung einer so genannten „Unabhängigen Untersuchungskommission" beschlossen. Dieses nach ihrem Vorsitzenden Prof. Heinrich Reiter, Präsident des Bundessozialgerichts und erfolgreicher Schlichter in Arbeitskämpfen der Druckindustrie, auch als „Reiter-Kommission" bekannt gewordene Gremium15 stand von Beginn an in dem ungünstigen Ruf, nur ein „Papiertiger"16 zu sein. Nach ihrer Konstituierung am 24. Januar 1991 war es Aufgabe der Kommission, in verschiedenen Anhörungen ein Bild von der Dopingszene in Ost und West zu gewinnen.17 Ihren Abschlussbericht legte die Reiter-Kommission am 18. Juni 1991 vor. Die wichtigste Empfehlung betraf eine Generalamnestie für alle bekennenden Athleten, nicht aber für andere beteiligte Parteien. Auf diesem Weg hoffte man durch einen Mechanismus ähnlich der Kronzeugenregelung an die „Hintermänner" unter Trainern, Funktionären und Ärzten zu gelangen. Die gegenüber der bisherigen Sportpolitik der Bundesrepublik kritischste Passage des Berichts lautete: „Die Kommission geht davon aus, dass die Verantwortlichen im deutschen Sport spätestens seit 1976 Vermutungen und auch Kenntnisse vom Anabolika-Missbrauch im deutschen Leistungssport hatten. [... Man hätte sich mit einer Vielzahl von Resolutionen begnügt, die] im Nachhinein als Alibi-Vorgehen bezeichnet werden müssen." 18
Angesprochen war hier Willi Daume, der schon 1976 als NOK-Präsident gemeinsam mit dem damaligen DSB-Präsidenten Willi Weyer eine Untersuchungskommission zur Doping-Problematik berufen hatte, deren Erkenntnisse in eine 1977 veröffentlichte Anti-Doping-Charta des deutschen Sports eingeflos-
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sen waren. Volker Grabow, Aktivensprecher und Mitglied der Reiter-Kommission, hatte bereits wenige Tage nach der Vereinigung im Sport Willi Daume direkt angegriffen, er habe die Doping-Diskussion jahrelang „massiv blockiert". Hinter verschlossenen Türen hätten in der Vergangenheit Athleten häufig ihm gegenüber „das Problem angesprochen", jedoch ohne Erfolg. Offen kritisierte Grabow auch die Neuwahl des DSB-Präsidiums, man hätte dies verschieben müssen „bis geklärt ist: Wie weit waren die Vorstandsherren in Doping verstrickt?"19 Unter dem Eindruck der Anwürfe führte Daume im Januar 1991 ein weiteres „Hintergrund-Gespräch" mit Volker Grabow und ließ sich anschließend mit der Erkenntnis zitieren, dass die Leistungsmanipulation doch wesentlich tiefer ginge, als er bislang geahnt habe.20 Allerdings musste Grabow wenig später bei einer Anhörung Daumes vor der Kommission erneut die übliche „Mauer des Schweigens" konstatieren.21 Das persönliche Mitglied des NOK, der Dreispringer Peter Bouschen, forderte kurz darauf Daume zum Rücktritt auf seine Vorwürfe glichen denen von Volker Grabow.22 Konkrete Rücktrittsforderungen erhob die Reiter-Kommission in ihrem Abschluss-Bericht hingegen nicht. Hinsichtlich des Westens könne man „keine exakten Angaben" über das Ausmaß persönlicher Verstrickungen machen. Für den Osten nannte Reiter immerhin eine Schätzung, so ging er von Rücktritten betroffener Trainer und Funktionäre in dreistelliger Höhe aus.23 Entscheidender war jedoch, welche Konsequenzen der Bundesausschuss Leistungssport (BAL) aus dem Reiter-Papier ziehen würde. Nach einer sechsstündigen Verhandlung Mitte Juli 1991 empfahl der BAL-Vorstand den Fachverbänden, den Forderungen der Reiter-Kommission zu folgen und „eine Amnestie für Athleten zu erlassen, die vor dem 1. Januar 1991 gegen Dopingbestimmungen verstoßen haben". Bei (Heim-)Trainern sollte auf Untersuchungen verzichtet werden „wenn kein belastendes Material vorliegt und die Garantie auf eine korrekte Arbeit in der Zukunft gegeben ist."24 An dieser Stelle muss auf die Bedeutung dieser geforderten positiven „Zukunftsprognose" verwiesen werden - sie sollte wenige Monate später einigen Trainern und Verbänden dazu dienen, eine Weiterbeschäftigung in kritischen Fallen zu rechtfertigen, obgleich durchaus belastendes Material vorlag. Während der Aspekt der „günstigen Prognose" also verbal und faktisch zunehmend aufgewertet wurde, trat das Kriterium der Belastungsfreiheit immer weiter in den Hintergrund. Viele, die die begrenzte Reichweite der Reiter-Kommission bedauerten, setzten ihre Hoffnungen auf ein anderes neu gebildetes Gremium: die so genannte „ad-hoc-Kommission" unter der Leitung des Präsidenten des Landessportbundes von Berlin, Manfred von Richthofen. Sie konstituierte sich nahezu zeitgleich zur Reiter-Kommission im Januar 1991, legte ihren Bericht aber erst ein halbes
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Jahr später, im Dezember 1991 vor.25 Gedacht war sie laut von Richthofen als Forum, in dem „Sportler berichten können", er selbst sah sich als „Beichtvater mit begrenztem Zeitaufwand."26 Das Gremium tagte unter konspirativen Umständen, Zeit und Ort der Sitzungen blieben geheim, um die Identität der Bekenntniswilligen zu schützen.27 Anders als die Reiter-Kommission, die mit dem Anspruch aufgetreten war, repräsentative Befragungen durchzufuhren, zielte von Richthofen auf die Klärung der Verantwortlichkeit einzelner Personen und ihre Entlassung aus dem Amt.28 Auch wartete der Berliner Sportchef nicht mit der Weitergabe seiner Erkenntnisse bis zur Vorlage des Abschlussberichts, sondern ließ in einzelnen Fallen entweder den Verbänden vertrauliche Hinweise zukommen oder sorgte durch gezielte Presseerklärungen dafür, Druck auszuüben.29 Als traditionell besonders dopinganfallige Sportarten standen vor allem Schwimmen und Leichtathletik im Zentrum seiner Kritik. Der Deutsche Schwimmverband {DSV) war der erste Verband, den eine Empfehlung der adhoc-Kommission kurz vor seinem Verbandstag am 9. Mai 1991 in Münster erreichte. Neben der Feststellung, „daß im DDR-Schwimmsport flächendeckend gedopt worden ist und hierüber alle Trainer in den Sportclubs und bei den Nationalmannschaften sowie die verantwortlichen Funktionäre bei Sportclubs und Schwimm-Verband informiert waren und hierfür verantwortlich sind" 30 ,
wurde angemahnt, diese Tatsache bei Neuwahlen des Vorstands zu berücksichtigen. Die Bemerkung war, auch wenn dies nicht offen ausgesprochen wurde, gemünzt auf die Kandidatur von Prof. Gerhard Hoecke, Präsident des Landesverbandes von Thüringen, für das Amt des Vizepräsidenten im DSV?1 Trotz der gegenteiligen Empfehlung wurde Hoecke gewählt - eine Entscheidung, die sogar von Sportminister Schäuble kritisiert wurde.32 Von Richthofen zeigte sich äußerst verärgert über diese Zuwiderhandlung, so gehe „es nun wirklich nicht"33, es folgte eine offene Konfrontation zwischen ihm und Schwimmverbandspräsident Bodo Hollemann in einer Sitzung des BAL im Juni 1991. Mit seiner Argumentation, dass für den betroffenen Funktionär nach rechtsstaatlichen Prinzipien die Unschuldsvermutung gelten müsse, legte Hollemann den Finger auf die Wunde des gesamten Doping-AufklärungsProzesses. Selbst wenn Hinweise eindeutig schienen, waren sie auch gerichtsfest? Ebenso argumentierte der Leichtathletikverband, der kurz darauf von der ad-hoc-Kommission aufgefordert wurde, sich von einem Trainer aus der DDR zu trennen. Zum einen fühlte sich der Verband „ungebührlich unter Druck „Dopen für Deutschland"
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gesetzt", zum anderen verwies er auf die notwendige arbeitsgerichtliche Klärung.34 Auch DSB-Präsidiumsmitglied Prof. Helmut Digel zweifelte öffentlich die rechtliche Grundlage der Arbeit der Richthofen-Kommission an.35 Im Juli musste von Richthofen einräumen: „Die Beweise, die uns vorliegen, sind schlüssig im Sport. Doch ob sie auch öffentlichrechtlich haltbar sind, wird noch die Frage sein. Außerdem können wir nichts mehr tun, wenn ein Verband unsere Empfehlungen missachtet."36
Am 14. Dezember 1991, fast genau auf den Tag ein Jahr nach der organisatorischen Vereinigung im Sport, wurde der ad-hoc-Bericht dem Hauptausschuss des DSB präsentiert. Die Erkenntnisse beruhten auf elf ganztägigen Anhörungen, in denen 34 Athleten, Trainer, Funktionäre und Arzte befragt worden waren. Anders als bei seiner Einsetzung angekündigt, nannte der Bericht öffentlich „weder Ross noch Reiter".37 Man müsse sonst „bis zum Sankt Nimmerleinstag prozessieren" erklärte von Richthofen.38 Selbst die Präsidiumsmitglieder des DSB erhielten die Dokumentation erst einen Tag vor der Veröffentlichung, auch sie erfuhren keine Namen. Uber die konkreten Falle informiert wurden hingegen die Fachverbände per Brief - insgesamt 43 „Verdächtige"39 hatte von Richthofen ausgemacht.40 Erneut wurde betont, das Material sei unvollständig und vielfach nicht gerichtsfest. Doch war dies nicht der einzige Makel. Vielmehr stellte sich heraus, dass der ad-hoc-Report vor allem die Schwerpunkte der Dopingpraxis in der DDR und ihre institutionellen Voraussetzungen analysiert, jedoch kaum den Blick nach Westen gerichtet hatte 41 Von Richthofen selbst verwies auf diesen Schwachpunkt: „Uns ist nicht wohl bei dem Gedanken, dass jetzt der Finger nur auf den Osten des Landes gerichtet wird." Dort sei Doping aufgrund seiner Systembedingtheit jedoch leichter nachweisbar gewesen. Auch DSB-Präsident Hans Hansen bedauerte die „Schlagseite des Berichts" aufgrund der „besseren Beweislage" im Osten.42 Wer in der DDR als Verbandstrainer, Verbandsarzt, Generalsekretär oder in vergleichbaren Spitzenfunktionen tätig war, solle grundsätzlich aus dem deutschen Sport ausscheiden, sofern er nicht nachweisen könne, am Dopingsystem nicht beteiligt gewesen zu sein. Während der Bericht also für die DDR die Verantwortlichkeiten recht konkret benannte, blieben die Hinweise für den Westen erneut im Ungefähren. Ähnlich wie der Reiter-Bericht stellte man zwar fest, dass „einige Funktionäre von DSB, NOK und von Spitzenverbänden sowie Politiker seit 1977 mehr oder weniger genaue Hinweise daraufhatten, dass unerlaubte Dopingmittel angewandt wurden."43
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Doch wurde ebenso betont, dass für den Bereich der alten Bundesländer ein „organisiertes System des Einsatzes von Dopingmitteln" nicht erkennbar sei.44 Bereits hier deutete sich an, dass die künftige Dopingdiskussion sich vor allem auf die DDR-Vergangenheit und das aus Ostdeutschland übernommene Personal konzentrieren, die Aufklärung der vielfach zweifelhaften Praxis in der alten Bundesrepublik demgegenüber in den Hintergrund treten würde. Die Autoren Ritchie und Beamish haben in einer Gesamtschau des Ost-West-Konflikts im Sport konstatiert, dass das Image der „Steroid-Monster" nach dem Ende des Kalten Krieges vornehmlich an osteuropäischen Sportlern hängen geblieben sei, obgleich in westlichen Staaten ebenfalls gravierende pharmakologische Eingriffe bei Athleten nachgewiesen wurden.45 In ähnlicher Weise dominierte im vereinten Deutschland sehr bald die Debatte über das Erbe des ostdeutschen Sports, während eine grundsätzliche Kritik an den zurückliegenden jahrelangen Verfehlungen innerhalb des bundesrepublikanischen Systems weitgehend fehlte. Insbesondere unterblieb eine gründliche Reflexion, inwieweit auch der bundesdeutsche Sport einen strukturellen Zwang auf seine Athleten ausübte, zu verbotenen Mitteln zu greifen. Zwar kritisierten zahlreiche Aktive, dass überhöhte Qualifizierungsnormen für Wettbewerbe ohne Dopingeinnahme nicht mehr zu erfüllen seien. Die DSB-Fiihrung signalisierte daraufhin sogar kurzzeitig Reformwilligkeit46, schließlich jedoch blockte der BAL ein Abgehen von der bisherigen Verfahrensweise, des Nachweises der so genannten „Endkampfchance", kategorisch ab.47 Auch auf Verbandsebene blühte 1990/1991 das Kommissionswesen48, als besonders engagiert zeigte sich die Anti-Doping-Kommission des DLV. Dominiert wurde das Gremium durch den Präsidenten des Landesverbandes Nordrhein, Theo Rous, sowie die bundesdeutschen Sportstars Harald Schmid und Heide Ecker-Rosendahl.49 Am 22. Dezember 1990 hatten die Leichtathleten als erster Fachverband das Prinzip flächendeckender Trainingskontrollen eingeführt.50 Doch bald stellte sich die Lückenhaftigkeit auch des neuen Systems51 ebenso wie die offenkundige Unwilligkeit des Verbands heraus, die neuen Regularien gewissenhaft umzusetzen. Zu den Verdiensten des Trios Rous, Schmid und Rosendahl in dieser Zeit gehörte es, derartige Missstände konsequent anzuprangern. So monierte Rous in einer Aktennotiz an Leichtathletik-Präsident Helmut Meyer die Erlebnisse des ehrenamtlichen Kontrolleurs Dieter W. Er war 250 km nach Darmstadt gefahren, um in der Verbands-Geschäftsstelle mit 200 Flaschen und Prüfformularen ausgestattet zu werden, erhielt jedoch lediglich 12 Fläschchen. Wenn er mehr brauche, so beschied ihn die Geschäftsstelle, solle er sie sich selber kaufen. Die Formulare könne er bei der Firma Hornberger in Waldfischbach bestellen. „Ich enthalte mich jeden Kommentars" schrieb der
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erzürnte Rous an Meyer „um Beleidigungsklagen zu vermeiden, bis auf eines: Ist es theoretisch denkbar, dass sich sensiblere Mitarbeiter als Dieter W. verarscht vorkommen?"52 Der Eklat um die unzureichenden Kontrollen eskalierte derart, dass Mitte September 1991 Harald Schmid und Theo Rous von ihren Ämtern zurücktraten, da sie ihre Kommission „getäuscht" sahen.53 Sie taten dies allerdings nicht, ohne das Präsidium des DLF seinerseits zum Rücktritt aufzufordern, um dem Leichtathletikverband „die Chance zur personellen Erneuerung zu geben." Die unter Druck geratene Verbandsspitze beschloss, auf einem Außerordentlichen Verbandstag in Darmstadt die Vertrauensfrage zu stellen.54 Entgegen der öffentlichen Erwartung gelang es der Führung am 6. Oktober 1991, zwei Drittel der Delegierten aus den 18 Landesverbänden erneut hinter sich zu versammeln.55 Doch Zündstoff gab es nicht nur in der Leichtathletik. Eine ähnlich restaurative Tendenz erlebten die Reformwilligen im Deutschen Schwimmverband (DSV) : Hier hatte sich ebenfalls eine verbandsinterne Anti-Doping-Kommission konstituiert und mit dem Olympiasieger Michael Groß ein populäres Aushängeschild gefunden. Als sich jedoch der Schwimmverband bereit erklären sollte, den Empfehlungen der Kommission verpflichtend zu folgen, aber statt dessen nur eine „soll"- Formulierung unterschreiben wollte, verließ Michael Groß medienwirksam das Gremium mit der Begründung, das „Kasperletheater" mache er nicht mehr mit.56
Wahrheitsfindung, Utilitarismus und V e r t u s c h u n g - Die Frage der W e i t e r b e s c h ä f t i g u n g belasteter Personen Da die Generalamnestie die Gruppe der Sportler weitgehend aus der Schusslinie der öffentlichen Diskussion genommen hatte, war der Dreh- und Angelpunkt kommender Auseinandersetzungen vor allem die Frage, inwieweit als belastet geltende oder zumindest verdächtige Trainer, aber auch Funktionäre und Mediziner Weiterverwendung im gesamtdeutschen Sport finden könnten. Am Beispiel des Jahres 1991 soll gezeigt werden, welch höchst unterschiedliche Strategien Verwendung fanden, um - pauschale ebenso wie konkrete - Anschuldigungen von den Betroffenen abzuwenden und so ihre weitere Mitarbeit im gesamtdeutschen Sport sicherzustellen. Zur Jahreswende 1990/1991 begann eine kurze Phase, in der Schwimmer wie auch Leichtathleten hofften, der Verunsicherung mit Hilfe von „Ehrenerklärungen" Herr werden zu können. Im Leichtathletikverband ging es hierbei vor allem um das Schicksal von Sportmedizinern. So erläuterte der leitende Ver-
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bandsarzt des DLV, Wilfried Kindermann, Mitte Dezember 1990 in der Sportschule Kienbaum den rund 30 Kollegen aus dem alten Verbandsgebiet und den neuen Landesverbänden, jeder ärztliche Mitarbeiter des DLV habe die Verpflichtung, sich frei vom Doping-Verdacht zu halten. Entscheidend sei nun, ob jeder einzelne sich bislang etwas vorzuwerfen habe: J e d e r soll gut nachdenken und bis zum Monatsende antworten." Die Frankficrter Allgemeine Zeitung benannte den sich daraus ergebenden Umkehrschluss: Wer dabei sein will, darf es nicht zugeben. 57 Nach einem ähnlichen Prinzip der Vergangenheitsbewältigung handelte der Deutsche Schwimm-Verband. Nur nach Unterzeichnung einer Eidesstattlichen Erklärung durften Trainer, Arzte, Physiotherapeuten und Betreuer sich dem nationalen Team anschließen, das bei der Weltmeisterschaft im Januar im australischen Perth antrat. Allerdings drohten im Falle einer Falschaussage keinerlei rechtliche Sanktionen, da die Erklärungen nicht vor Gericht abgegeben wurden. 58 Prompt tauchten bald Anschuldigungen auf, die etwa den Wahrheitsgehalt der Erklärung eines Ost-Berliner Trainers bezweifelten. 59 Umstritten war auch die Ehrenbezeugung eines ehemaligen Potsdamer Sportmediziners, der bis zur Wende fur die Schwimmer des Armeesportklubs Potsdam zuständig und in den Ruf geraten war, mindeijährigen Mädchen ohne deren Wissen Anabolika verabreicht zu haben und deshalb lange Zeit keine Anstellung fand. Nachdem er in der Eidesstattlichen Erklärung versichert hatte, in der „Vergangenheit keine Dopingmittel gegeben" zu haben, avancierte er prompt zum offiziellen Mannschaftsarzt in Perth. 60 Noch im Januar 1991 geriet auch der Deutsche Ski verband (DSV) in die Kritik, ob er „in Sachen Trainerauswahl mit der nötigen Sorgfalt nach der Vergangenheit gefragt oder den schnellen Erfolg gewählt" habe. 61 Der ostdeutsche Biathlet Jens Steiningen aus Sachsen, der soeben zweimal Erster bei der Deutschen Meisterschaft in Oberstorf geworden war, warf dem früheren D D R Coach Kurt Hinze sowie zwei weiteren Trainern vor, in ihrer ehemaligen Funktion als DDR-Verbandstrainer die Sportler zum Doping gezwungen zu haben, man habe ihn selbst seit September 1986 hierzu regelrecht gedrängt. 62 Der Deutsche Zoll, neben Bundesgrenzschutz und Bundeswehr bevorzugter Arbeitgeber der schießenden Skilangläufer, intervenierte, um weitere Bekenntnisse Steiningens zu unterbinden: Der Chef der Zollsportler in der Oberfinanzdirektion München versuchte noch auf dem Münchner Flughafen, Steinigen und seinen ebenfalls beim Zoll angestellten Trainer Wolfgang Pichler von dem Flug zu einem Auftritt im Aktuellen Sportstudio abzuhalten. 63 Im Zollausreisebüro des Terminal 1 dauerten die Einschüchterungsversuche laut Pich-
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ler bis eine Viertelstunde vor Abflug. Doch der Auftritt fand statt und die Vorwürfe fanden weitere Bekräftigung durch den Weltmeister Jürgen Wirth sowie die Skilangläufer Uwe Bellmann und Holger Bauroth.64 D5F-Sportwart Detlef Braun warnte daraufhin seine Aktiven, „dass es für die Öffentlichkeit nicht mehr interessant ist, wenn jetzt nacheinander immer wieder einer kommt." Er wollte diese Bemerkung allerdings als „Schutzfaktor" und nicht als „Maulkorb" verstanden wissen.65 ZXS^-Referent Peter Bayer erläuterte die Verbandslogik: „Wir können uns nicht leisten, Leute wie den Hinze" aus dem Team „rauszuschmeißen." Schließlich lauere die Konkurrenz der anderen Länder66 nur auf solche Fachkräfte, die deutschen Biathleten würden sich mit diesem Vorgehen selbst schaden.67 Auch die Leichtathleten standen bald erneut im Fokus der Kritik: Auf Empfehlung einer vom Verband selbst eingesetzten Juristen-Kommission wurden Ende November 1991 insgesamt 24 umstrittene ostdeutsche Trainer mit neuen Verträgen ausgestattet, da ihnen eine „günstige Zukunftsprognose" bescheinigt wurde.68 Harald Schmid warf dem Verband vor, insgesamt sogar mindestens 36 Trainer zu beschäftigen, die als Doping-belastet galten.69 In der öffentlichen Begründung fur diese Entscheidung argumentierte der Sportdirektor des DLV, Horst Blattgerste, in ähnlicher Weise wie der Z)«S7^Vertreter Beyer, dass nämlich die internationale sportliche Konkurrenzfähigkeit wichtiger sei als Aspekte der Selbstreinigung: „Wir diskutieren über Doping, die anderen Länder über ihre Olympia-Vorbereitung."70 Die öffentliche und sportinterne Diskussion bei den Leichtathleten kulminierte aber vor allem immer wieder im Fall des ehemaligen DDR-Cheftrainers Bernd Schubert, der seit Januar 1991 als Cheftrainer im DL^fungierte und ebenfalls eine Vertragsverlängerung erhalten hatte. Bei der Europameisterschaft in Split 1990 hatte er mit der DDR-Nationalmannschaft: einen grandiosen Erfolg gefeiert und stand deshalb auch im Westen schnell hoch im Kurs. Er war vor allem durch die Recherchen von Brigitte Berendonk ins Zwielicht geraten.71 Manfred von Richthofen hatte es sich nicht nehmen lassen, bei der Vorstellung des ad-hoc-Berichts auf die Personalie Schubert konkret hinzuweisen: „Schubert ist bei uns aktenkundig und der DLVweiß das".72 Wenige Tage zuvor hatte Schubert zudem einen Rechtsstreit gegen Frau Berendonk verloren; die 3. Zivilkammer des Heidelberger Landgerichts verfugte, Schubert dürfe „ausgewiesener Fachdoper" und „aktiver Teilnehmer am Anabolika-Doping" genannt werden.73 Am 7. Februar 1992 zog der Verbandsrat der Leichtathleten Schubert aus der vordersten Linie der damals fünf Cheftrainer zurück - jedoch nur für kurze Zeit. Gerade nachdem ihn der DLV einige Monate später kommissarisch wieder an die Spitze geholt hatte74, gestand Schubert überraschend eine „Mitschuld" am
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DDR-Doping ein. Er düpierte damit auch auf einen Schlag die Verbandsfuhrung, da er gleichzeitig offenbarte, die DLV-Gremien bereits lange zuvor über diese Tatsache informiert zu haben. DLF-Generalsekretär Jan Kern musste diesen Umstand öffentlich zugeben - so dass am Ende des Jahres 1992 die Glaubwürdigkeit nicht nur des Trainers Schubert, sondern auch des Verbands weitgehend in Scherben lag.75 Doch stellten sich nicht allein Verbandsfunktionäre vor umstrittene Trainer. Im Falle der Schwimmer rebellierte im Juli 1991 der Athleten-Kader kurz vor der Europameisterschaft in Athen. Zuvor hatte es verbandsinterne Gerüchte gegeben, dass der DSV einige ostdeutsche Trainer und Mediziner wegen Dopingverdächtigungen nicht berücksichtigen werde. Freistil-Olympiasieger Uwe Dassler aus Potsdam und andere Spitzenathleten drohten offen mit einem Boykott der EM. Nach einer Telefonkonferenz der Präsidiumsmitglieder gab Präsident Bodo Hollemann die Entwarnung, dass „Trainer, Arzte und Physiotherapeuten aus Ostdeutschland vor der EM keine Sanktionen zu befurchten hätten", Konsequenzen aus Doping-Uberprüfungen sollten erst nachher gezogen werden.76 Hatten sich hier also die Athleten solidarisch mit ihren Trainern gezeigt, waren es Ende des Jahres 1991 zahlreiche ostdeutsche Schwimmtrainer selbst, die in die Offensive gingen. Anfang Dezember wurde eine Erklärung von zwanzig Trainern, datiert auf den 18. November 1991, bekannt, in der sie die Dopingpraxis im Schwimmsport der DDR bestätigten. In dem Schriftstück gaben die Unterzeichner darüber hinaus zu, dass sie über den Einsatz von Dopingmitteln Bescheid wussten. Für die Zukunft würden sie solche Methoden indes strikt ablehnen. Die Verträge der Trainer sollten am 31. Dezember 1991 auslaufen, offenkundig war die Erklärung von dem Wunsch bestimmt, ebenso wie zuvor die Leichtathleten eine „positive Sozialprognose" zu erhalten.77 Die Initiative für diese „kollektive Selbstbezichtigung" ging allerdings auf Präsidiumsmitglied Harm Beyer zurück, der es als sein Ziel formulierte, den Trainern, die sich der „notwendigen Aufarbeitung der Vergangenheit positiv stellen, eine Integration in die Arbeit des vereinigten deutschen Schwimmsports zu ermöglichen". Handlungsleitend war auch für ihn der Wunsch nach dem Erhalt „fachlicher Kompetenz".78
Ost-West-Konflikt und neue Dopingfälle Nicht überall war das Einverständnis zwischen Ost und West so groß wie zwischen einigen bundesdeutschen Funktionären und ostdeutschen Trainern. Besonders auf der Ebene der Athleten regten sich immer wieder Anzeichen einer Ost-West-Verstimmung. Diese rührte zum Teil aus Unterschieden in der „Dopen för Deutschland"
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Mentalität, so ärgerte sich Heike Henkel über Trainer Schubert und dessen „Befehlston, als stünde die Mauer noch."79 Oder bundesdeutsche Leichtathleten wie Silvia Rieger und Claudia Lepping zeigten sich enttäuscht, dass keiner der Stars aus der ehemaligen DDR der Anti-Doping-Initiative „Saubere Leichtathletik" beitreten wollte.80 Auch hatten die DDR-Spitzenstars bei ihren Westkollegen an Ansehen eingebüßt, so bemerkte die Aktivensprecherin im DLV, Gabi Lesch, hinter ostdeutsche Rekorde müsse man wohl immer eine Klammer mit Anabolikamengen setzen.81 Harald Schmid bezweifelte die Kompetenz von Trainern wie Thomas Springstein, „ihre Disziplin gesamtdeutsch zu verwalten".82 Und Heide Ecker-Rosendahl beklagte in ihrer Funktion als DLV-Kommissionsmitglied, es gebe immer noch ostdeutsche Athleten und Trainer, die es fur unnötig hielten, bei Kontrollen zu kooperieren, wobei sie explizit die Sprinterinnen Katrin Krabbe und Grit Breuer angriff.83 Besonders angespannt war die Lage im Schwimmsport. So konterte der Münchner Trainer Georg Weinzierl das Bekenntnis der zwanzig ehemaligen DDR-Trainer mit einer Unterschriftenaktion, in der sich die westdeutschen Kollegen strikt gegen eine Weiterbeschäftigung der Trainer aus dem Osten aussprachen.84 In einem „Offenen Brief" erklärten sie: „Wir glauben nicht, dass alle, die jahrelang zum Teil menschenverachtend mit unerlaubten Mitteln gearbeitet haben, damit aufhören." Die Presse vermutete, dass nicht allein die Abscheu vor dem DDR-Doping für diese Erklärung maßgeblich war, sondern ebenso der in Aussicht stehende Kampf um reduzierte Trainerstellen nach den Olympischen Spielen in Barcelona 1992.85 Bis Dezember 1991 hatten sich der WeinzierlAktion 14 West-Trainer angeschlossen.86 Zu Beginn des Jahres 1992 erreichten die Spannungen zwischen Ost und West im Sport einen Siedepunkt. Angeheizt waren sie durch Verlautbarungen von Funktionären, die leichtfertig mit dem Argument des nationalen Anliegens personelle Fragen verknüpften. So erklärte Leichtathletik-Präsident Helmut Meyer im Januar 1992, es sei nun für jeden „Deutschen wichtig, die Integration von Ost und West voranzutreiben", im Umkehrschluss sei es ungerecht, dass „wir die ostdeutschen Trainer wegen ihrer Vergangenheit verfolgen" - eine Äußerung Meyers, die im Kontext seiner Bemühungen, Bernd Schubert zu halten, gesehen werden muss.87 Angeblich wäre es „im Osten missverstanden worden", wenn Schubert keinen neuen Vertrag erhalte.88 Die ostdeutsche Presse beteiligte sich kräftig an dieser Stimmungsmache. Als Brigitte Berendonk erste Verdachtsmomente gegenüber Leistungsmanipulationen bei Katrin Krabbe und Grit Breuer äußerte, setzte sich etwa die Magdeburger Zeitung hiermit nicht in sachlicher Weise auseinander, sondern behauptete, hier werde „ein Ost-West-Gegensatz wieder aufgebaut, den Sportler, Trainer
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und Funktionäre und auch Politiker gerade mit viel Behutsamkeit abzubauen bemüht sind."89 Einen Tag vor Eröffnung der Olympischen Winterspiele in Albertville (8.-23.2.1992), dem 7. Februar 1992, wurde bekannt, dass Krabbe und Breuer tatsächlich aufgrund einer manipulierten Urinprobe vom DLV suspendiert werden mussten.90 Die Debatte verließ nun endgültig den sportfachlichen Boden. Krabbes Trainer Thomas Springstein wollte darin ein „politisches Komplott gegen Ossis" sehen.91 Und auch ostdeutsche Regional- wie Bundespolitiker nutzten die Gelegenheit, um die Affäre in ihrem politischen Sinne zu deuten. Der Oberbürgermeister von Krabbes Heimatort Neubrandenburg, Klaus-Peter Bolick (CDU), vermutete westdeutsche Neidgefühle als Auslöser der Sperre für die Athletinnen92, der CDU-Bundestagsabgeordnete von Chemnitz Klaus Reichenbach sah die „Ossis auf allen Ebenen weggedrückt."93 Als einen Skandal bezeichnete der PDSVorsitzende Gregor Gysi den Vorgang und war sich sicher, einen Doping-Nachweis könne es nicht geben.94 Der Ehrenvorsitzende der PDS schließlich, Hans Modrow, schrieb einen Brief an Krabbe und ihre Mannschaftskolleginnen und ermutigte sie, dem vermeintlichen Druck zu widerstehen, mit dem jede Erinnerung an die DDR in den Schmutz gezogen" und „ausgemerzt" werden solle.95 Somit ergab sich im Februar 1992 ein sehr ambivalentes Bild der deutschen Sportnation: Einerseits präsentierte sich bei den Winterspielen in Albertville die Bundesrepublik endlich wieder strahlend als vereinte, gesamtdeutsche Olympiamannschaft. Und damit nicht genug, gelang es ihr, sich erstmals überhaupt auf Platz 1 der Medaillenwertung zu schieben - ein überragender Erfolg, der vor allem der Leistung der ostdeutschen Teammitglieder zu verdanken war. Das Doping-Problem wurde zur gleichen Zeit in Deutschland mit dem Fall Krabbe jedoch zum Ost-West-Konflikt stilisiert. Das geschürte Ressentiment sollte von dauerhafter Wirkung sein: Es geriet in den folgenden Monaten zum rhetorischen Stereotyp, das Aufdecken neuer ostdeutscher Dopingsünden als ein Aufreißen der „Gräben zwischen Ost und West" zu sehen.96 Während der Olympischen Sommerspiele des gleichen Jahres in Barcelona (25.7.-9.8.1992) war erneut das Thema Katrin Krabbe akut, obgleich sie nicht an dem Wettbewerb teilnahm. Willi Daume bestätigte am 5. August, dass in einem Trainingslager in Zinnowitz entnommene Dopingproben von Krabbe und Breuer positiv seien.97 In Windeseile verlor Krabbe daraufhin ihre Attraktivität als „Heldin des Ostens", besonders, nachdem auch ihr Trainer Springstein einräumen musste, seinen Sportlerinnen das Kälbermastmittel Clenbuterol verabreicht zu haben.98 Dennoch waren auch die Spiele von Barcelona durch einen melodramatischen Ost-West-Schlagabtausch geprägt. Kurz nachdem sie eine Goldmedaille errungen hatte, brach die Schwimmerin Dagmar Hase aus Magdeburg im TV„Dopen für Deutschland"
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Olympiastudio vor Moderator Günther Jauch in Tränen aus. Zum einen widmete sie ihre Medaille ihrer Magdeburger Freundin und Schwimm-Kollegin Astrid Strauß," die wegen eines Dopingverdachts in Barcelona nicht hatte antreten dürfen.100 Gleichzeitig monierte sie eine vermeintliche Ungerechtigkeit bei der Behandlung von West- und Ostsportlern in der Dopingfrage und zieh den Dopingbeauftragten des DSV, den Hamburger Amtsrichter und langjährigen Schwimmverbandsfiinktionär Harm Beyer, der „Frechheit". Dieser trat kurz darauf von seinem Amt zurück.101
Doping zwischen Ost und West Am 20. April 2007, anlässlich der 50.Wiederkehr des Gründungstages des Deutschen Turn- und Sportbundes der DDR, beklagte der Festredner Täve Schur anlässlich einer Feierstunde in Berlin, es sei „seit 1990 viel Geld" ausgegeben worden, um den Ruf des DDR-Sports zu ruinieren: „Der ohrenbetäubendste Kreuzzug wurde unter den Dopingfahnen geritten."102 Diese Behauptung des ostdeutschen Radsportidols verkennt, wie sämtliche Unterstellungen der Vorwurfs-Kategorie „bundesdeutsche Sieger-Justiz", die Komplexität von Interessenlagen und Nutzenverschränkungen im zusammenwachsenden Deutschland. Wie hier gezeigt wurde, verliefen die Konfrontationslinien in der Dopingdiskussion zu Beginn der 1990er Jahre durchaus nicht streng entlang der ehemaligen innerdeutschen Demarkation. Vielmehr wurden im Prozess der Doping-Debatte zunächst ganz andere Konstellationen wirkungsmächtig: Westdeutsche Athleten, die sich schon lange Zeit über die Doppelmoral im bundesdeutschen Sport geärgert hatten, nutzten die Gunst der Stunde, um gegen westdeutsche Funktionäre aufzutreten. Bundesdeutsche Verbandsfunktionäre wiederum freuten sich über das ihnen in den Schoß gefallene DDR-Potential und verbündeten sich mit als belastet geltenden ostdeutschen Trainern. Die zentrale Sinnkategorie des Hochleistungssports, der Sieg im Wettkampf dominierte hierbei deutlich gegenüber dem politischen Aufklärungswillen. Während der DDR-Leistungssport ein strahlendes Aushängeschild der SEDDiktatur gewesen war, entdeckten ostdeutsche Politiker anderthalb Jahre nach der Wende die „Goldkinder" als immer noch mobilisierbares ostdeutsches Identifikationsobjekt wieder: Dieses mal jedoch nicht als überlegene Sieger im Klassenkampf auf der Aschenbahn, sondern als Opfer westlicher Niedertracht. Dieses Wahrnehmungsmuster sollte sich umso mehr verstärken, je deutlicher ein weiteres dunkles Phänomen des ostdeutschen Sports an die Oberfläche drang: die Infiltration mit Mitarbeitern des Ministeriums fur Staatssicherheit.103
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Obgleich das MfS mit dem Dopingsystem in engstem Zusammenhang stand 104 , wurde es im behandelten Zeitraum nur vergleichsweise selten öffentlich thematisiert.105 Bis heute verlief die Aufklärung der Stasi-Verstrickungen im Sport eher schleppend und widerwillig und konnte sich deshalb zu einem - nach wie vor existenten - Dauer-Problem des vereinten deutschen Sports ausweiten. Aber das ist ein Kapitel fiir sich.
Anmerkungen 1
Walter Kempowski, Hamit. Tagebuch 1990, München 2006, S. 316. Kristin Otto ließ sich wegen Krankheit entschuldigen. 2 Dopen fiir Deutschland, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.12.1990. 3 Zu den Etappen der Vereinigung im Sport vgl. Michael Barsuhn/Jutta Braun/Hans Joachim Teichler, Chronik der Sporteinheit. Vom Mauerfall bis zur Aufnahme der fünf neuen Landessportbünde in den DSB, Frankfurt am Main 2006. 4 Willi Daume (1913-1996); von 1950 bis 1970 Präsident des Deutschen Sportbundes (DSB); von 1961 bis 1992 Präsident des N O K fiir Deutschland. 5 Von 1956 bis 1964 traten deutsche Athleten aus Ost und West auf Weisung des IOC in einer gesamtdeutschen Olympiamannschaft an. 6 Öffentliches Forum des Deutschlandfiinks und der Mitteldeutschen Zeitung am 9.6.1992 in Halle (Gefahr der Spaltung zwischen Ost und West, Mitteldeutsche Zeitung, 11.6.1992). 7 Als wichtigste Stationen benennen die Soziologen Bette und Schimank: die Veröffentlichung von Brigitte Berendonk über den Gebrauch von Anabolika im bundesdeutschen Leistungssport in der Zeit vom 5.12.1969, die Skandale um die deutsche Olympiamannschaft von Montreal 1976 sowie den Tod von Birgit Dressel 1987 (Karl Heinrich Bette/ Uwe Schimank, Doping im Hochleistungssport. Anpassung durch Abweichung, 2. erw. Aufl., Frankfürt am Main 2006, S. 294). 8 Schon 1972 sprach der frühere DDR-Radpräsident Werner Scharch über „Experimente mit Doping"; im gleichen Jahr brachte Renate Neufeld bei ihrer Flucht Doping-Substanzen mit in den Westen; 1973 berichtete der Kugelstoßer Joachim Krug über die Wirkung von „Kraftpillen"; 1979 beklagte die Ex-Schwimmweltrekordlerin Renate Vogel, DDRAthleten seien „Versuchskaninchen"; 1988 enthüllte der ehemalige Gewichthebertrainer Friedhelm Jung den Grund, weshalb trotz Anabolikaeinnahme kaum DDR-Athleten bei Kontrolle auffielen: Am Tag vor der Abreise zum Wettkampf erfolgte ein finaler Dopingtest, bei einem positiven Bescheid wurde eine Verletzung simuliert. 9 Der Ruderer Matthias Schumann, früher bei Dynamo Berlin und seit 1982 in der Bundesrepublik, berichtete über die Vertuschung von Doping durch fingierte Unfälle (DDR: Lange Einstiche über dem Ärmel, Quick, 5.7.1989). Die Schwimmerin Christiane Knacke-Sommer, seit Jahren in Österreich lebend, schilderte Methoden des Anabolikadopings unter Anleitung des Trainers Rolf Gläser (DDR-Schwimmerin gesteht Doping, Die Welt, 11.7.1989). 10 Die Enthüllungsreportage war auf Initiative Dr. Manfred Höppners zustande gekommen. Interview mit rfirw-Reporter Teja Fiedler, 5.1.2008.
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11 Wie die DDR Sieger machte, Stern, 29.11.1990; „Ich stehe heute noch dazu", Stern, 29.11.1990. 12 Im Mittelpunkt standen die Machenschaften von Leichtathletik-Bundestrainer Jochen Spilker in Hamm. Er sollte Athletinnen schriftliche Gebrauchsanweisungen für Anabolika-Kuren geliefert haben (Der Spiegel, 4.12.1990). Vgl. zu diesem Fall Andreas Singler/Gerhard Treutlein, Doping im Spitzensport. Sportwissenschaftliche Analysen zur nationalen und internationalen Leistungsentwicklung, Aachen 2000, S 257ff. 13 Die neu gebildeten fünf Landessportbünde der neuen Bundesländer traten dem DSB bei. 14 Vorrang hatten die Themen Wachstumszahlen, Steuerpolitik, Wirtschaft, Marketing, Sportwissenschaft, Lärmschutz und deutsches Sportmuseum (Deutsche Spitzensportler fordern Kontrolle zu jeder Zeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.12.1990). 15 Mitglieder der Kommission waren außerdem: Volker Grabow, Ruderer und Aktivensprecher; Prof. Hans Erhard Bock, langjähriger Präsident der Gesellschaft fur Innere Medizin und ehem. Leiter der Tübinger Universitätsklinik; Prof. Helmut Kirchgässner, Diplompsychologe und Interims-Rektor der Deutschen Hochschule fur Körperkultur und Sport in Leipzig; Prof. Hans Kuno Kley, Chefarzt des Städtischen Krankenhauses Singen, Steroid· und Hormonforscher und Endokrinologe; Prof. Christiane Stange-Voss, Rektorin der Sporthochschule Köln und ehemaliges Mitglied der Leichtathletik-Nationalmannschaft; Prof. George Turner, ehemaliger Wissenschaftssenator von West-Berlin (Unabhängige Doping-Kommission nominiert, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.1.1991). 16 Papiertiger, Frankfurter Rundschau, 11.1.1991. 17 Geladen waren u.a. Sportmediziner wie Prof. Donike und Prof. Hollmann, Dr. Manfred Höppner und NOK-Chef Willi Daume. 18 Unabhängige Doping-Kommission, Bericht, in: Karl-Heinrich Bette (Hg.), Doping im Leistungssport - sozialwissenschaftlich beobachtet, Stuttgart 1994, S. 199. 19 Wegen Doping! Daume in der Schusslinie, Express, 23.12.1990; „Willi Daume hat die Doping-Diskussion massiv blockiert." Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.12.1990. 20 Späte Erkenntnis für Daume, Süddeutsche Zeitung, 12.1.1991. 21 Auch der letzte Phantast soll wissen: Wir wollen Konsequenzen, Welt am Sonntag, 7.4.1991. 22 Er habe Willi Daume über die Doping-Verbreitung berichtet und sei darauf als „dummerjunge" bezeichnet worden (Bouschen fordert Rücktritt von Willi Daume, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.6.1991). 23 Klare Windrichtung, Märkische Allgemeine, 20.6.1991. 24 Nur wer regelmäßig kontrolliert wird, startet bei Olympia, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.7.1991. 25 Weitere Mitglieder waren: als Geschäftsführer und Justitiar Jochen Kühl aus Frankfürt, der auch im DSB als Justitiar fungierte; Harm Beyer aus Hamburg, der Amtsrichter und lange Jahre Präsident des DSV war, sowie der Hammerwerfer Heinz Weis aus Leverkusen als Aktivensprecher des DLV (Der DSB bildet zwei Anti-Doping-Kommissionen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.1.1991). 26 Auch der letzte Phantast soll wissen: Wir wollen Konsequenzen, Welt am Sonntag, 7.4.1991. 27 Für teures Geld dem Doping auf der Spur, Stuttgarter Zeitung, 6.3.1991. 28 „Unser Schlussbericht muss auslösen, dass es zur Verabschiedung von einigen, darunter auch bekannten Sportmedizinern kommt. Er muss das Ende der Tätigkeit einiger Trai-
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ner bedeuten, und es ist zum dritten der Versuch, einige Funktionäre zum Aufhören zu bewegen" (Sportler offenbaren umfassendes Doping, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.6.1991). „Sonst wäre mir das alles zu flach." Süddeutsche Zeitung, 29.1.1991. DDR-Trainer waren über Doping informiert, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.5.1991. Ebenda. Auf den Fall Hoecke angesprochen, erklärte Schäuble: „Ich kann mir Sportverbände denken, über die ich lieber diskutieren würde als über den Schwimmverband" (Schäubles Warnung wider die Sorglosigkeit, Süddeutsche Zeitung, 24.5.1991). Sportler offenbaren umfassendes Doping, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.6.1991. Leichtathletik-Verband fühlt sich ungebührlich unter Druck, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.6.1991. Digel kritisierte: „Da fahndet immer noch eine ad-hoc-Kommission nach Schuldigen, ohne dass klar ist, wie eindeutige Beweise erbracht werden können und wie es zu rechtskräftigen Ausschlüssen kommen könnte." Hätte die Kommission Erfolg, müsste sie „einen Flächenbrand der Denunzierung auslösen, der von keinem verantwortungsbewussten Sportfunktionär erwünscht sein kann" (Digel fordert Generalamnestie für den Sport, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.6.1991). Ein Arbeitspapier zieren wolkige Beschlüsse, Süddeutsche Zeitung, 20.7.1991. Hansen hatte dies für die Publikation des Berichts zum Jahresende angekündigt (Hansen will im Doping „Ross und Reiter nennen", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.5.1991). DLV schickt seinen Cheftrainer in Urlaub, Berliner Morgenpost, 11.12.1991. Es wurde bekannt, dass einer von ihnen der langjährige und erfolgreiche Box-Cheftrainer der DDR, Günter Debert war, der seit dem 1. Januar 1991 als Leistungssport-Koordinator im Deutschen Amateur-Box-Verband verantwortlich zeichnete (Verdacht gegen Boxchef, Süddeutsche Zeitung, 5.12.1991). Zum Jahresende trennte sich der Verband von ihm (Debert zieht Konsequenz, Die Welt, 17.12.1991). Von Richthofen wandelt auf schmalem Grat, Stuttgarter Zeitung, 14.12.1991. Der Bericht unterschied drei Kategorien von Sportarten gemäß ihrer Dopinganfalligkeit: Kategorie eins betraf Eisschnelllauf Gewichtheben, Kanu, Leichtathletik, Radfahren, Schwimmen, Skilanglauf, hier sei flächendeckend und systematisch gedopt worden. In einer zweiten Kategorie mit den Sportarten Boxen, Bobsport, Fechten, Handball, Judo, Rudern und Turnen erfolgte Doping zeitweilig und experimentierend; Kategorie 3 betraf Sportarten, in denen Doping bisher nicht feststellbar sei, so sei es im Fall der Segler „zu 100 Prozent ausgeschlossen" (Verdacht gegen 43 Personen, aber Namen wurden nicht genannt, Die Welt, 16.12.1991). Keine gemeinsame Elle, Sächsische Zeitung, 16.12.1991. Der Grauschleier reißt nur stellenweise auf, Süddeutsche Zeitung, 16.12.1991. Ebenda. Rob Beamish/Ian Ritchie, Totalitarian Regimes and Cold War sport: steroid "Übermensch" and "ball-bearing females", in: Stephen Wagg/David L. Andrews (Hg.), East plays West. Sport and the Cold War, New York 2007, S. 11-26, S. 21ff. So sprach sich Hans Hansen dafür aus, dass noch im Frühjahr 1991 die Qualifikationskriterien für internationale Meisterschaften und Olympische Spiele erleichtert werden sollten (DSB-Präsident Hansen fordert erleichterte Wettkampfnormen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.1.1991).
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47 Dem Nominierungskriterium der „nachgewiesenen Endkampfchance" fugte der BAL lediglich eine Gummiformel hinzu, der zufolge „im Zweifel zugunsten der Athleten und im Einzelfall individuell entschieden" werden solle (Ein Arbeitspapier zieren wolkige Beschlüsse, Süddeutsche Zeitung, 20.7.1991). 48 Eine dritte beim DSB angesiedelte Kommission, die hier nicht weiter behandelt werden kann, stand unter der Leitung des ehemaligen Freiburger Bundestagsabgeordneten Hans Evers und war angetreten, die Dopingkontrolleure zu kontrollieren. Auf Fachverbandsebene erhielten auch die Amateurboxer im Oktober 1991 eine eigene AntiDoping-Gruppe (Um alle möglichen Angriffe zu klären, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.10.1991). 49 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.1.1991. 50 Nicht nur die Vergangenheit, auch die Gegenwart bewältigen, Süddeutsche Zeitung, 14.9.1991. 51 Vgl. die Pressemitteilung der Kommission, dass bei einer Reihe von Α-Kadern Trainingskontrollen abbrachen und erst nach 4 Wochen wieder einsetzten (Das Vier-WochenLoch beim DLV, Süddeutsche Zeitung, 11.6.1991). 52 Der Skandal nach dem Skandal, Stern, 25.4.1991. 53 Stämmige Zwerge für Olympia, Der Spiegel, 16.9.1991. 54 Belastetes Präsidium wird die Vertrauensfrage stellen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.9.1991. 55 Die Missstimmung gegen den Präsidenten Helmut Meyer wurde dadurch aufgefangen, dass sich das Präsidium en bloc der Abstimmung stellte (Eine Zweidrittel-Mehrheit für den Vorstand, Süddeutsche Zeitung, 7.10.1991). 56 Michael Groß: Austritt aus der Doping-Kommission, Berliner Zeitung, 9.8.1991. 57 Kindermann unterzieht Mediziner einem Dopingtest, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.12.1990. 58 Dementsprechend ging auch die Wirkung einer demonstrativen Aktion der bundesdeutschen Hochspringer Heike Henkel und Carlo Thränhardt ins Leere, die vor einem Europacupfinale im Juni 1991 eine Eidesstattliche Versicherung bei einem Notar abgaben, sie hätten nie gedopt. Auf „Meineid stehe ja immerhin Gefängnis" erklärte Thränhardt, musste sich aber etwas hämisch von der FAZ belehren lassen, dass auch im Fall einer Falschaussage hier für die beiden wohl „im Kittchen kein Zimmer frei sei" (Eidesstattliche Versicherung gegen Doping, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.6.1991; Im Kittchen ist kein Zimmer frei, Ebenda). 59 Dr. Wolfgang Bringmann, der Leiter des Instituts und der Poliklinik für Sport- und Präventivmedizin im Osten Berlins äußerte sich entsprechend in einem Beitrag des SFB (Auf Ehr und Gewissen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.12.1990). 60 Delikate Frage, Spiegel, 4.2.1991. 61 Die Doping-Geständnisse drängten den Sport aus der Spur, Frankfurter Rundschau, 28.1.1991. 62 Kommandieren statt Führen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.1.1991. 63 Nach den Doping-Vorwürfenjens Steiningens: Skiverband steht zu seinen Biathlontrainern, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.1.1991. 64 Doping: Die Vergangenheit jagt nun auch die deutschen Ski-Jäger, Die Welt, Bonn, 21.1.1991.
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65 Die Doping-Geständnisse drängten den Sport aus der Spur, Frankfurter Rundschau, 28.1.1991. 66 Allein in Österreich arbeiteten im Oktober 1991 vier ehemalige Cheftrainer der DDR, die als dopingbelastet galten, darunter der später verurteilte Rolf Gläser (Es werden Wunder geschehen, Der Spiegel, 7.10.1991). 67 Schäubles Warnung wider die Sorglosigkeit, Süddeutsche Zeitung, 24.5.1991. 68 Vieldeutiger Rückzug, Süddeutsche Zeitung, 29.11.1991. 69 „Fachdoper" Schubert unterwegs in höchstes Traineramt, Der Tagesspiegel, 9.10.1992. 70 Alle Trainer entlastet und weiterbeschäftigt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.11.1991. 71 Von nicht zu unterschätzender Bedeutung sowohl für die Arbeit der Richthofen-Kommission als auch für den Verlauf der öffentlichen Debatte war die im September 1991 erschienene Publikation „Doping-Dokumente" der ehemaligen Athletin Brigitte Berendonk. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Heidelberger Forscher und Professor Werner Franke, hatte sie Dopingvergehen in Ost- wie Westdeutschland recherchiert und dokumentiert. Anders als die von der Richthofen-Kommission gesammelten Aussagen stellte sich das Material von Frau Berendonk wiederholt als „gerichtsfest" heraus (vgl.: Gericht gibt Berendonk Recht, Süddeutsche Zeitung, 28.11.1991). 72 Der deutsche Sport will auf belastete Funktionäre verzichten, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.12.1991. 73 Auch Schubert und Klümper unterliegen. Einstweilige Verfügungen gegen das Berendonk-Buch weitestgehend abgelehnt, Süddeutsche Zeitung, 5.12.1991. 74 Schubert-Vertrag „unverantwortlich", Süddeutsche Zeitung, 23.11.1992. 75 Bernd Schubert gesteht „Mitschuld am Doping in der DDR-Leichtathletik", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.12.1992. 76 Zeitspiel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.7.1991. 77 Ost-Schwimmtrainer bestätigen DDR-Doping, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.12.1991. 78 Kollektive Selbstbezichtigung, Süddeutsche Zeitung, 3.12.1991. 79 Einfach alle rausschmeißen, Der Spiegel, 11.2.1991. 80 Zwanzig Mitglieder der Initiative waren bei den ersten gesamtdeutschen Meisterschaften im Juli in Hannover mit einem weißen Leibchen angetreten, auf dessen Vorderseite zu lesen war: Leichtathletik ohne Doping. Die Gruppe verstand sich vor allem als Anlauf- und Beratungsstelle für Jugendliche (Die Angst vor dem Mittelmaß, Rheinischer Merkur, 2.8.1991). 81 Kein Vertrauen in die Repräsentanten, Süddeutsche Zeitung, 25.10.1991. 82 So herrsche zu Springstein nach Neubrandenburg „absolute Funkstille", das gleiche gelte für den Erfurter Eberhard König, der für Nachwuchs über 400m Hürden zuständig zeichnete („Ich sehe keine Hoffnung", Frankfurter Rundschau, 13.12.1990). 83 Auch der letzte Phantast soll wissen: Wir wollen Konsequenzen, Welt am Sonntag, 7.4.1991. 84 Doping-Folgen, Berliner Morgenpost, 9.12.1991. 85 Trainer in Konfrontation, Berliner Zeitung, 10.12.1991. 86 West kontra Ost, Süddeutsche Zeitung, 19.12.1991. 87 Neue Doping-Vorwürfe gegenüber Katrin Krabbe, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.1.1992. 88 Beruhigender Blick auf andere schwarze Schafe, Süddeutsche Zeitung, 12.2.1992.
„Dopen für Deutschland"
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89 Berendonks Bärendienst, Magdeburger Zeitung, 9.1.1992. 90 Startverbot für Katrin Krabbe, Silke Möller und Grit Breuer, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.2.1992. 91 Katrin Krabbe und der Wettlauf mit den Doping-Jägern, Stuttgarter Zeitung, 15.2.1992. 92 Doping-Sperre belastet Ost-West-Verhältnis, Frankfurter Rundschau, 18.2.1992. 93 Modrows herzlicher Gruß an Katrin Krabbe, Die Welt, 22.2.1992. 94 Hetzjagd soll Erinnerungen an DDR-Sport tilgen, Neues Deutschland, 17.2.1992. 95 Ebenda. 96 So erklärte Klaus Dieter Malzahn, Präsident des LSB Sachsen-Anhalt bei einer öffentlichen Diskussion im Juni 1992, wenn die „Praktiken bei der Aufarbeitung von Dopingfällen nicht schnellstens angeglichen" würden, werde dies neue Gräben zwischen Ost und West errichten. Hans Hansen erinnerte ihn daraufhin an laufende Verfahren gegen westdeutsche Athleten wie den Kanuten Detlef Hofmann und die Marathonläuferin Iris Biba (Gefahr der Spaltung zwischen Ost und West, Mitteldeutsche Zeitung, 11.6.1992). 97 Chronik des Falles Katrin Krabbe, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.8.1992. 98 Faule Tricks von Trainer „Trickstein" sind aufgeflogen, Neue Zeit, 7.8.1992. Trotz des Skandals im Jahr 1992 fand Thomas Springstein den Rückweg in den organisierten Sport, im Jahr 2002 wurde er sogar zum Leichtathletik-Trainer des Jahres gekürt. Erst erneute Anschuldigungen und eine Verurteilung im März 2006 u.a. wegen der Weitergabe von Dopingmitteln an Mindeijährige in einem besonders schweren Fall setzten seiner Karriere ein Ende. Zum Fall Springstein vgl. Werner Franke/Udo Ludwig: Der verratene Sport, Gütersloh 2007, S. 41-88. 99 Astrid Strauß hatte trotz umstrittener Testergebnisse das Mitleid von Teilen der Öffentlichkeit auf ihrer Seite, eine Folge ihres Auftritts bei der Schwimm-Meisterschaft in München im Juni 1992. Sie wurde vor dem Start vom Publikum minutenlang ausgebuht und erfuhr erst nach dem Rennen, dass sie bereits vom Verband gesperrt war. Die Verfolgung durch Kamerateams in der Schwimmhalle tat dann ein übriges zur Komplettierung der entwürdigenden Situation (Tränen und Tumulte, Die Welt, 1.6.1992). 100 Mehr Spaß an der Pflicht, Thüringer Allgemeine, 15.10.1992. 101 Er betonte jedoch, nicht wegen Hases Anwürfen, sondern wegen des unklaren Kurses des Schwimmverbandes in der Dopingfrage diesen Schritt unternommen zu haben (Billiger Triumph kann teuer zu stehen kommen. Süddeutsche Zeitung, 1.8.1992). 102 50. Jahrestag der Gründung des DTSB. „Wen wir grüßen...". Rede von Gustav-Adolf Schur, in: Beiträge zur Sportgeschichte 24,2007, S. 5-12, S. 10. 103 So erklärte der Thüringer CDU-Landtagsabgeordnete Michael Heym, er habe den Eindruck, dass man versuche, Sportereignisse im Osten „auf diese Art und Weise kaputt zu machen." Er reagierte damit auf Forderungen im Vorfeld der Biathlon WM 2004, die Stasi-Vergangenheit im Thüringer Sport aufzuklären. Politiker Heym: Sportereignisse im Osten sollen kaputt gemacht werden, Netzzeitung, 31.3.2003). 104 Noch Ende Dezember 1991 äußerte Hansen die Fehleinschätzung, es gebe keinen direkten Zusammenhang zwischen der Doping- und der Stasi-Problematik (Hansen: Sport muss Altlasten Doping und Stasi bewältigen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.12.1991). Vergleiche demgegenüber die Forschungsergebnisse von Giselher Spitzer, SicherungsvorgangSport, Schorndorf2005, S. 137-190. 105 Die Weltwoche fasste im Juni 1992 die bis dahin bekannt gewordenen Stasi-Falle zusammen (Wo ein Zeigefinger ist, da ist auch ein Spitzel, Die Weltwoche, Zürich, 6.2.1992).
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Ich finde, ich hatte keine andere Wahl" 1 Doping und Biografie
Doping gehört zum modernen Spitzensport. Das Jahr 2007 hat dies einmal mehr unmissverständlich gezeigt. Mit der Überführung von mehreren Radrennfahrern sowie den Dopingeingeständnissen im Vorfeld der Tour de France sind erneut schwerwiegende Indizien zur Verstrickung von Doping in den Sport der Gegenwart aufgetaucht. In ungekannter Dramatik geht es um die Zukunft des Spitzensports. Viele der beteiligten Akteure und Organisationen melden sich unter diesem Eindruck zu Wort und entwerfen Ihre Vorstellungen von einer Neuorganisation des Sportsystems, die Doping-Auswüchse verhindern soll. Sportverbände sind darauf bedacht, Aufklärung und Wachsamkeit zu demonstrieren. Die Dopingkontrollinstanzen werden umstrukturiert und wechseln ihr Personal. In der Politik geht es um öffentliches Geld und die Legitimation, es für .diesen' Spitzensport auszugeben. Die Medien präsentieren sich als hin- und hergerissen zwischen Informationsanspruch und Einschaltquoten. Sponsoren springen ab oder investieren weiter - Aktivismus in vielerlei Gestalt und unter bisher kaum vorstellbarem Druck. Die Situation der Sportler2 selbst und der Kontext ihres Sportengagements bleiben jedoch vage, ihr Verhalten gibt höchstens Anlass zur Fassungslosigkeit. Was, glaubt Patrik Sinkewitz, nehmen wir ihm ab an Nachlässigkeit?3 Warum geht ein Mikael Rasmussen davon aus, dass er unbeachtet von irgendjemand in Europa trainieren kann?4 Hat Alexander Winokurow riskiert, sich zu ,irren', was die Nachweisbarkeit von Eigenblutdoping angeht?5 Die Sportler - so scheint es - geben die größten Rätsel auf, wenn es um Doping geht. In diesem Text soll es gerade um sie gehen, diejenigen, die sich im Wettkampf messen, die ihre Lebensführung auf diesen Wettkampf hin ausrichten, sich psychisch und physisch möglichst optimal vorbereiten, um Sieger zu werden und die teilweise dafür - die Beweise sprechen eine deutliche Sprache - über die Grenzen des Erlaubten hinausgehen. Bjarne Riis, ehemaliger Tour-de-France-Sieger, sagt: „Ich finde, ich hatte keine andere Wahl". Stimmt das? Welche Spielräume haben Spitzensportler der Gegenwart, ihrem Hauptlebensinhalt nachzugehen, ohne das geltende Regelwerk zu verletzen? Dieser Beitrag soll anhand einer Typologie des Aufwachsens
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im Spitzensport Autonomie und Heteronomie von Leistungssportlern im Umgang mit Doping beleuchten. Dazu werde ich in einem ersten Schritt die wichtigsten Ergebnisse meiner Dissertation zur Sozialisation im Spitzensport referieren. Anhand der verschiedenen Varianten des Zugangs zum Sport und Spitzensport und ihrer Ausprägung während der Persönlichkeitsentwicklung innerhalb des Sportsystems treten Wahrnehmungs-, Handlungs- und Deutungsmuster zu Tage, mit denen sich die Heranwachsenden und jungen Erwachsenen in ihrer Welt bewegen und aktiv werden. Wenn Doping zu dieser Welt gehört - und davon müssen wir ausgehen -, werden sie sich auch dazu in je spezifischer Weise positionieren müssen. In einem zweiten Schritt lege ich mein Augenmerk also auf den Umgang mit Doping-Zumutungen entlang von differenzierenden Linien zwischen den zuvor beschriebenen Akteurstypen. Daran anknüpfend werde ich einige Bemerkungen zum retrospektiven Umgang mit Doping machen, die wiederum dazu fuhren, abschließend die Leistungen biografischer Zugänge zu Doping als Phänomen der Zeitgeschichte zu skizzieren.
1 . S p i t z e n s p o r t b i o g r a f i e n und ihre A u s g a n g s k o n s t e l l a t i o n e n
Um Handlungsmuster von Spitzensportlern in ihrer Genese beschreiben und verstehen zu können, ist ein fallrekonstruktiver Ansatz empfehlenswert. Dazu habe ich lebensgeschichtliche Interviews gefuhrt und das darauf basierende biografische Material fallrekonstruktiv ausgewertet. Ein solches Herangehen hat den Vorteil, dass die Gestalt der Fallstrukturen in ihrer Auskunftsfahigkeit zu den dahinter liegenden institutionellen Wirkmechanismen erhalten bleibt. Betreibt man dann die Arbeit an Einzelfallen nicht isoliert, sondern gestaltet das Sampling theoriegeleitet und strebt nach Typologien, welche das untersuchte Feld umfassend darstellen, ist auch dem Anspruch der Soziologie, Generalisierungen zu treffen, Genüge getan. Die im Folgenden nachzuvollziehende Typologie zum Aufwachsen im Spitzensport gibt in diesem Sinne mit den „biografischen Identitäten" die wesentlichen Spielarten an, den Spitzensport in die Lebensplanung zu integrieren. Ergänzend werden diese „biografischen Identitäten" in Beziehung gesetzt zu Dispositionen zum Sport bzw. Spitzensport, die Zugang und dauerhaftes Engagement begründen. Beide Teilaspekte der Hauptthesen enthalten Verbindungslinien zum Umgang mit Doping, denen später nachgegangen wird.
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Studiendesign
Bevor Ergebnisse präsentiert werden, soll jedoch das Forschungsdesign der Studie kurz umrissen werden.6 Im Zuge meines Projektes habe ich einundzwanzig lebensgeschichtliche Interviews mit Spitzensportlern geführt.7 Diese enthielten immer Haupterzählung und Nachfrageteil8 sowie die Erstellung eines Genogramms9. Für die Interpretation des Datenmaterials ist es dann unabdingbar, zwischen den Ebenen des Erlebens, des Erinnerns und des Wiedergebens zu unterscheiden.10 Weiterhin geht es darum, den Fall als Typus sichtbar zu machen. Die Dimensionen, an denen sich Typen festmachen lassen, werden dabei erst aus dem Forschungsprozess heraus den realen Strukturen des untersuchten Feldes nachmodelliert.11 Zur Steuerung der Erhebung und Auswertung dient die Methode des Theoretical Sampling, welche durch die Suche nach maximalen und minimalen Kontrasten zwischen den Fallen sichert, dass alle wesentlichen Dimensionen des Feldes erfasst werden.12 Im Ergebnis liegt eine Feldtheorie zum Aufwachsen im Spitzensport vor, welche anhand von sieben Fallmonografien ausfuhrlich ausbuchstabiert wurde.13 Im Folgenden werde ich die grundlegenden Merkmale der jeweiligen Typen „biografischer Identität" und die ihnen zugrunde liegenden Dispositionen skizzieren. Typen „biografischer Spitzensport als Identität" Lebensperspektive
Spitzensport als Lebensabschnitt
Spitzensport als Subsinnwelt
biografische Dispositionen
körperbezogene Kompensationen
soziale Kompensationen
Sport als familiale Subsinnwelt
Spitzensport als elterliche Delegation
Leistung als elterliche Delegation
Sozialisatorische Muster im Leistungssport unterscheiden sich durch die ihnen zugrunde liegenden Dispositionen und bringen spezifische Modi der Einbindung des Leistungssports in die Biografie hervor. Die Einordnung des Leistungssports als Sinnsystem in die Lebensplanungen der Sportler steht in engem Zusammenhang zu sozialisatorischen Dispositionen, die den Zugang zum Sport bzw. Leistungssport initiieren. Hier vorgefundene Konstellationen legen bereits Spurungen für den weiteren Lebensweg innerhalb der Institution des Leistungssports und darüber hinaus.
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Spitzensport als Lebensperspektive Leistungs- bzw. Spitzensport stellt fur eine erste Gruppe von Sportlern die wesentliche Lebensperspektive dar. Sie sind in ihrer Identität während der Sportkarriere und darüber hinaus an diese Lebensperspektive gebunden. Der Leistungssport ist hier der dominierende Identitätsanker. Wie kann es zu einer solchen eindimensionalen Anlage der Identität kommen? Dafür gibt es zwei Ausgangsdispositionen. Zum ersten prägen Sportler den Leistungssport als Lebensperspektive aus, die ihn aus einem Bedürfnis nach körperlichen Kompensationen heraus für sich entdecken und betreiben. Das Bedürfnis nach körperlicher Kompensation entsteht zum Beispiel aus der Erfahrung von Misshandlung, Missbrauch, Verletzung und Krankheit.14 Der Sport stellt für den Umgang mit solchen Erfahrungen ein fast konkurrenzloses Feld dar, weil es jeweils um den Körper geht. Ein ,symbiotisches' Hineinwachsen in den Spitzensport wird forciert, wenn hier körperbezogene Verlusterfahrungen wirkungsvoll bearbeitet werden können und sich der Körper mit neuem Sinn erfüllt. Körperbezogene Kompensationsbedürfnisse setzen daneben auch an der Herausbildung des Geschlechterbildes innerhalb der Sozialisation an. Treten in Bezug auf diesen Prozess Irritationen auf, bietet der Sport Orientierungen an, zum Beispiel im Angebot sozial anerkannter männlicher bzw. weiblicher Handlungsmuster und Körperbilder in spezifischen Sportkulturen und -arten. Auch die sozial anerkannte Vermittlung der .Weiblichkeit' in der Darbietung und der .Männlichkeit' des Leistungsstrebens 15 in etlichen Frauendisziplinen stellt ein Potenzial für körperbezogene Kompensationen im Spitzensport dar. Zum zweiten kann die Fassung des Leistungs- bzw. Spitzensports als Lebensperspektive einer elterlichen Delegation 16 zum Spitzensport entspringen. Die Prozesse der Delegation basieren auf den Loyalitätsverhältnissen der Heranwachsenden gegenüber ihren Eltern, auf welche sie besonders in den frühen Phasen der Kindheit körperlich existenziell angewiesen sind. Wird ein Kind .ausgesendet', um das Ideal einer erfolgreichen Sportkarriere zu erfüllen, so bleiben ihm kaum offene Räume außerhalb des Leistungssports, in denen es sich orientieren kann. Die kindliche Loyalität den Eltern gegenüber setzt einen Verlauf in Gang, dem das Kind nicht mit eigenen Relevanzen begegnen kann und der durch die Institution befördert wird. Spitzensport als Lebensabschnitt Die Sozialisation im Leistungssport kann für eine zweite Gruppe von Akteuren dazu führen, dass der Leistungssport als Lebensabschnitt in ihre biografischen Pla176 I Anke Delow
nungen integriert wird. Die Sportler gehen für eine bestimmte Zeit ihres Lebens auf das identifikatorische Angebot der Institution des Leistungssports ein und akzeptieren die entsprechenden Handlungsregeln. Diese Identifikation mit der Institution erlangt allerdings keine umfassende Geltung fur die Biografie. Geht das Passungsverhältnis zwischen der persönlichen Disposition und dem Sport auf solche Bedürfnisse zurück, sind (eher als bei körperbezogenen Dispositionen) alternative Felder greifbar, auf denen sich die Auseinandersetzung mit ihnen abspielen kann. Auch fur die Ausprägung des Spitzensports als Lebensabschnitt lassen sich zwei charakteristische Dispositionen aufzeigen. Der Leistungssport kann sich zum ersten als Lebensabschnitt etablieren, wenn die Affinität zu ihm Ausdruck des Bedürfnisses nach sozialer Kompensation 17 ist. Hier geht es beispielsweise um Handlungsmuster, mit denen Heranwachsende auf eine sozialisatorische Umwelt reagieren, die den kindlichen Bedürfnissen nicht angemessen entspricht, die sich aber als vorteilhaft für eine bestimmte Sportart oder den Leistungssport allgemein erweisen. 18 Eine andere Spielart sozialer Kompensation liegt in der Suche nach der Verlässlichkeit der Institution .Spitzensport', mit der Heranwachsende auf einen dementsprechenden Mangel in ihrem Herkunftsmilieu bzw. ihrer Herkunftsfamilie reagieren. 19 Der Sport in seiner organisierten Form, mit seinen übersichtlichen Funktionsmechanismen und verlässlichen Regelsystemen bietet diesen Kindern und Jugendlichen Halt und bringt eine stabile Integration hervor. Soziale Kompensationen liegen darüber hinaus vor, wenn sich im Spitzensportengagement das Streben nach sozialem Aufstieg ausdrückt. Zum zweiten gründet sich die Fassung des Spitzensports als Lebensabschnitt auf eine Variante von Delegationen, die den familiären Auftrag auf dem Feld der Leistung ansiedeln. 20 Eine Disposition zum Sport, welche auf einer Delegation beruht, muss demzufolge nicht explizit mit dem Leistungsnorm verbunden sein. Bezieht sich der Auftrag der Familie auf das universell auslegbare Moment der Leistung, so wird diese umfassendere Möglichkeit, der Delegation nachzukommen, von vornherein in das Bewusstsein von sich selbst mit aufgenommen. Gemeinsam ist den Dispositionen zum Spitzensport als Lebensabschnitt, dass für die Zeit nach dem Spitzensport Alternativen bestehen, die ein Fundament der langfristigen Lebensplanung abgeben können. Die lebenszeitliche Begrenztheit des Leistungssports stellt kein unlösbares Problem dar. S p i t z e n s p o r t als S u b s i n n w e l t
Eine dritte Möglichkeit, Leistungssport und Biografie in Verbindung zu bringen, besteht in einem Erleben des Leistungssports als Subsinnwelt,21 Hier gelingt es den
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Akteuren, den Leistungssport als eine von mehreren Teilzeitwelten in ihren Alltag zu integrieren und ihre Identität vielfaltiger zu fundieren. Sie sind in ihrer Existenz nicht auf die Rolle des Leistungssportlers angewiesen, sondern beziehen ihre Souveränität aus dem Zusammenspiel verschiedener Handlungsfelder und Sinnwelten. Die innere Logik der Institution des Leistungssports steht der Ausprägung solcher Auslegungsformen des Leistungssports entgegen. Sie fordert den .ganzen' Menschen. Die meisten der Akteure handeln entsprechend dieser Erwartung. Nur einem kleinen Anteil der Sportler kann es gelingen, die Handlungsregeln des Leistungssports fur sich teilweise außer Kraft zu setzen. Die Freiheit, die sie sich dabei nehmen, basiert auf ihren vielfaltig angelegten Kompetenzen und Identitätsankern. Eine solche Fassung des Leistungssports als Subsinnwelt kann sich zum Beispiel in weniger trainings (zeit) intensiven Sportarten oder in der Endphase einer Karriere ergeben, oder sie kann einer Erfahrung im familiären Milieu entstammen und in den Leistungssport .mitgenommen' werden. Der Typus einer „biografischen Identität", die den Leistungssport als Subsinnwelt fasst, muss demnach als Sonderfall gelten, der den Eigenheiten der entsprechenden Akteure entspringt und nicht auf die Funktionsmechanismen der Institution zurückzufuhren ist. Die innere Logik der Institution, vor allem der Konkurrenzmodus und der sozialisatorische Zugriff auf die entsprechenden Akteure im Kindesalter, kann zusammenfassend bemerkt - zum Modus der „Totalinklusion"22 fuhren, der systematisch andere Sinnwelten aus der Wahrnehmung drängt und die biografische Endlichkeit des Spitzensports als Lebensphase ignoriert. Spitzensport präsentiert sich - pointiert ausgedrückt - als „totale Institution"23. Als im System angelegter Integrationsmodus des Spitzensports etabliert sich die „Totalinklusion", welche insbesondere auf diejenigen Dispositionen zugreift, welche ihn als Lebensperspektive wahrscheinlich machen. Befördert wird die Geltungsmacht dieses Integrationsmodus' durch die Bedeutung (spitzen-)sportlicher Betätigung für die Persönlichkeitsentwicklung. Der kindliche und jugendliche Drang nach körperlicher Bewegung, die Suche der Heranwachsenden nach Bestätigung im Erwerb von Fähigkeiten und Fertigkeiten und die Genugtuung, im Sporterfolg die sich ausbildende Identität zu stützen, finden im Leistungssport eine Heimstatt und fördern die Bindung an die Institution. Hinzu kommt die kurz- und mittelfristige Dynamik der Sportkarriere. Uber die im Erfolgsfall wachsende alltägliche zeitliche Beanspruchung durch den Sport werden mögliche alternative Handlungsfelder Schritt für Schritt verdrängt, parallel dazu vollzieht sich eine soziale Schließung der Kontaktkreise auf das sportliche Unterstützungsumfeld, so dass der Spitzensport sich immer mehr als sinnstiftendes Zentrum der Lebensführung etabliert.24
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Widerstände gegen die Bestrebungen der Institution, die Akteure „total" an sich zu binden, können lediglich diejenigen entwickeln, die dafür bereits aus dem Herkunftskontext Dispositionen mitbringen. In der Institution selbst sind sie nicht angelegt.
2. T y p i s c h e H a n d l u n g s m u s t e r in B e z u g a u f D o p i n g
Doping gehört zum Spitzensport, dafür existieren hinreichende Belege. Der sachliche Entscheidungskontext zu Doping als Handlungsmuster lässt sich systematisch erfassen 25 : Es verschafft im sportlichen Konkurrenzkampf vieler Sportarten unmittelbare Vorteile, welche als Motive für Doping ins Feld geführt werden können. Relativ wenig ist jedoch darüber bekannt, welche Beweggründe die Sportler haben, Doping zu akzeptieren, obwohl auch die Risiken bekannt und erfahrbar sind. Wie nehmen Sportler während ihrer Sportkarriere Doping wahr und bilden diesbezügliche Handlungsmuster aus? Einige Hinweise lassen sich meinem Interviewmaterial und anderen Quellen entnehmen. Diese sollen jetzt unter Berücksichtigung der eben ausgeführten „biografischen Identitäten" im Spitzensport und den vorgelagerten Dispositionen verfolgt werden.
Verdrängen
Es muss konstatiert werden, dass die Identifikation mit dem geltenden binären Code von Sieg oder Niederlage so hoch sein kann, dass Doping akzeptiert wird. Es gibt Sportler, denen die Risiken, die sie mit Doping für sich eingehen, nicht so wichtig sind, dass sie es ablehnen. Doping als Handlungsmuster wird dann auf unterschiedliche Weise bewusst und eigentheoretisch gefasst. Welche Spielarten der Hinnahme von Dopingpraktiken gibt es also? Die Manipulation am eigenen Körper unterliegt teilweise - zumindest als zeitliche Durchgangsphase - einem tirdrängungsprozess. So formuliert einer meiner Gesprächspartner, hier Klaus (40 Jahre, Gewichtheben) 26 genannt, folgendermaßen: Interviewerin: „und kannst du dich noch erinnern, wie das das erste Mal war, als du überhaupt damit in Berührung gekommen bist?" Klaus: „du, das ist ein fließender Prozess, das ist nicht irgendwie, das ist so toctoctoctoctoc, denn kriegst du ein paar Pillen, denn nimmst du die, fragst zwar, was das ist,
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ja, na gut, nehm' ich, ich habe mir da also keine gewaltigen Gedanken darüber gemacht ich hab' auch nie hinterfragt, was ich nehmen sollte und was man da jetzt alles fragen sollte, da machst du dir mit achtzehn keine Gedanken darüber, ich hab' mir darüber keine Gedanken gemacht, das war ein Teil von mir und aus".27
Der Modus der Verdrängung erscheint umso wahrscheinlicher, je jünger die Sportler sind. Der Grad der Reflexion wächst mit der Reife der Person, mit zunehmendem Alter sollten die Athleten daher dazu übergehen müssen, Dopingzumutungen als solche zu erkennen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Bei den Dispositionen, die den Spitzensport als Lebensperspektive nahelegen, ist dafür allerdings mit stärkeren Widerständen zu rechnen.
Lässt sich die Verdrängung nicht mehr aufrechterhalten, kommen rhetorische Strategien ins Spiel, die bereits von Karl-Heinrich Bette und Uwe Schimank zusammengefasst wurden.28 Stufen
Neutralisierungsrhetorik
Defensive Bagatellisierung
Sprachliche Verharmlosung
Sich-Herausreden
Behauptung der Nachteilsvermeidung Kontrolldefizit-These Vergeblichkeitsannahme Idee einer gerechten Kompensation Berufimg auf höhere Instanz Zurückweisung der Verantwortung Neutralisierung durch Problemverschiebung
Offensive Legitimation
Freiheits- und Selbstschädigungsforderung Verneinung des Unrechts
Obwohl Doping als Tatsache sich selbst gegenüber nicht mehr geleugnet werden kann, werden jetzt verschiedene Etikettierungen und Begründungen entworfen, um das zu rechtfertigen, was als moralisch verwerflich bewusst ist. Anfallig für diese Handlungsmuster sind solche Athleten, die in ihrer Identität bedin180 I AnkeDelow
gungslos auf den Spitzensport angewiesen sind, auch hier also wieder diejenigen, die ihn als Lebensperspektive verstehen. Folgende Varianten der Neutralisierungsrhetorik lassen sich auffinden: Doping wird teilweise in legitimatorisch defensiver Manier bagatellisiert. Ein Beispiel fur diese sprachliche Verharmlosung gibt wiederum Klaus: „ich hab' das also - sagen wir mal - ich hab's nicht als schlimm empfunden, weil, wir haben uns in Sportlerkreisen darüber unterhalten und das haben alle genommen, naja, da sag' ich, dann kann das ja nicht so schlimm sein".
Der gleichen Strategie folgte der Euphemismus der „unterstützenden Mittel" im Vokabular des DDR-Leistungssports, welcher den Sportlern von ihrem sozialen Umfeld geradezu ,in den Mund gelegt' wurde. Das Argument der Nachteilsvermeidung liegt zum Beispiel der offiziellen Genehmigung von Medikamenten zu Grunde, die Sportler aus medizinischer Sicht nötig haben. Ohne Kortisonbehandlung hätte Lance Armstrong seine Karriere nach seiner Krebserkrankung wohl nicht fortsetzen können. Dass die entsprechenden Substanzen auch leistungssteigernde Wirkung haben, wird in diesem Zusammenhang vernachlässigt. Doping soll aber auch ganz allgemein Nachteile ausgleichen, wenn es über kurzfristige Schwächephasen, etwa nach Verletzungen, hinweghilft. Noch allgemeiner argumentiert macht Doping überhaupt erst konkurrenzfähig und stellt in diesem Zusammenhang die unmittelbare Handlungssituation nach - nämlich die Auseinandersetzung mit dem Entscheidungsdilemma: auf Doping zu verzichten, wenn die begründete Vermutung besteht, dass Doping geschieht, bringt Zugzwang hervor, weil Erfolgsaussichten dann - so muss der Athlet vermuten - fast auf Null fallen.29 In eine ähnliche Richtung gehen die offiziellen Verlautbarungen von DopingBeschuldigten, wenn sie davon sprechen, niemanden betrogen zu haben. Es wird suggeriert, dass beim Doping die moralische Kategorie des Betrugs für die Beurteilung heranzuziehen sei, während die formale Regelverletzung nicht zur Diskussion stehe. Eine weitere Option der Rechtfertigung liegt darin, sich auf Kontrolldefizite zu berufen, wie Erik Zabel es auf den Punkt brachte: „Ich habe gedopt, weil es ging".30 Ahnlich angelegt ist der Rückgriff auf die Aussichtslosigkeit des Kampfes gegen Doping. In den Worten von Klaus: „und denn hat man wieder andere Wege gefunden, solange es Leistungssport gibt, wird man immer Wege finden, um - sagen wir mal - diese Nachweismethoden, oder
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schneller zu sein, als die Nachweismethode, es wird immer jemand geben, der versucht, diese Nischen zu greifen". Dirk (34 Jahre, Fußball) wiederum schildert im folgenden Zitat das Ausgeliefertsein und weist damit Verantwortung fur das Geschehen zurück: „das ist teilweise unter Zwang sogar passiert, wo der Arzt wirklich daneben gestanden hat und es fast in dich reingeprügelt hat und dann der Doktor solange stand, bis du's auch wirklich genommen hast, ich hab' halt auch öfter versucht, weil, ich hab' tierische Angst vor diesen Nebenwirkungen gehabt, ich hab' versucht, das irgendwo auszuschummeln, das hat halt nicht immer geklappt, aber ich hab' halt versucht jetzt, wenn die da diese Tabletten da, wenn die da kamen, irgendwo im Mund zu verstecken, aber es hat halt nicht immer geklappt und. weil, ich hatte tierischen Schiss, weil es ging ja nicht nur fur den Wettkampf sondern es ging ja nach dem Wettkampf weiter. Deine Regeneration, die war, du warst so dermaßen hochgezogen, du hast die Regeneration, die nächsten zwei, drei Tage, die waren die Hölle, du hast noch Gliederschmerzen gehabt, du hast Kopfschmerzen gehabt ohne Ende". Auch Klaus weist daraufhin, dass er nicht ausweichen konnte: „ach naja, weißt du ja, im, wer einmal, oder wer Leistungssport macht, kommt unwiderruflich31 mit dem Zeug in Berührung". Neben den bis hierher defensiv angelegten Rechtfertigungsversuchen, in denen noch der moralische Konflikt aufscheint, gibt es auch das Muster der offensiven Legitimation. Athleten befürworten Doping, indem sie zum Beispiel die Unrechtmäßigkeit nicht anerkennen. Klaus räumt im Interview Dopingpraktiken ein, schließt aber gleichzeitig ein Vergehen aus: „klar, ich hab's auch genommen, (sicher), war ja nichts Unlegales in dem Sinne, wenn es danach, im Nachherein illegal erklärt wird, bitteschön, muss man damit leben, zum Beispiel Anabolika steht - glaub' ich seit 76 auf der Dopingliste, davor war's ja nicht, war's im Prinzip erlaubt", „für uns als Sportler war immer maßgebend, was steht auf der Liste und was steht nicht auf der Liste, wenn es jetzt, in drei Jahren später, auf die Liste kam, nur weil eben die Mediziner wesentlich schneller schon wieder waren, als die, die es nachweisen müssen, hat man's genommen".
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Die Spielarten, Doping zu rechtfertigen, sind vielfaltig, verfolgen aber alle das Ziel, im System zu verbleiben und den Erfolg wahrscheinlicher zu machen, auf den viele Sportler aus ihren Dispositionen zum Spitzensport heraus angewiesen sind. Spitzensport als Lebensperspektive bedeutet, sich dem Code von Sieg oder Niederlage bedingungslos hinzugeben - dabei auf Doping zurückzugreifen, wenn es hinreichend sicher vor Entdeckung bleibt, ist sehr wahrscheinlich. Aber auch Sportler, die den Spitzensport ,nur' als Lebensabschnitt verstehen, können in diesen Sog geraten, wenn sie Erfolgsaussichten durch Doping vergrößern können und die Risiken gleichzeitig für überschaubar halten.
Ablehnen Sich Doping zu verweigern, bedeutet die Unsicherheit, auf Gegner zu treffen, die sich unlautere Vorteile verschaffen, und es vergrößert damit die institutionell angelegte Unsicherheit bezüglich der eigenen Siegchancen. 32 Dies ist die Situation, mit der jeder Athlet, der nicht wissentlich dopt, ständig konfrontiert ist. Hinzu kommt als weiterer Unsicherheitsfaktor die immer nur unvollständige Kontrolle darüber, was im eigenen Umfeld geschieht, wie zum Beispiel Janette (23 Jahre, Skilanglauf) es ausdrückt: „also ich weiß genau, dass ich, also ich hoff s, also wirklich, ich geh' davon aus, dass ich nichts gekriegt hab'".
.Uber den Dingen stehen' dann nur diejenigen, die auch ohne Doping siegreich sind. Wer nicht dazu gehört und sich trotzdem gegen die diversen Unsicherheiten behauptet und im Spitzensport engagiert, muss mit hinteren Platzierungen und den mit ihnen gekoppelten sozialen Bewertungen leben können. Er braucht also eine gewisse Freiheit gegenüber dem Leistungsmotiv des Spitzensports. Über diese Freiheit verfügen allerdings aus den beschriebenen Gründen nur wenige Spitzensportler. Hierfür kommen zum Beispiel Dispositionen zum Sport in Frage, die sich auf ein bestimmtes Bewegungsmuster beziehen. Da die Institution Spitzensport aber auf ihrem binären Code von Sieg oder Niederlage beruht, kann eine konsequente Ablehnung von Doping nur den Rückzug aus dem System nahelegen. So rigoros wiederum kann nur vorgehen, wer auf den Spitzensport nicht existenziell angewiesen ist, mit anderen Worten Sportler, die in ihrer Identität und für ihre Lebensplanung Alternativen zum Spitzensport besitzen. Wird Spitzensport als eine von mehreren Möglichkeit gesehen, dem Leistungsmotiv zu folgen und soziale Anerkennung zu erringen, dann gibt es die
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Chance, abseits des Sports Erfolg zu finden. Ist Spitzensport als eine von mehreren Subsinnwelten präsent, dann kann der Fokus gewechselt werden und abseits des Sports nach Befriedigung gestrebt werden. Es gibt also durchaus Sportler, die Doping, so wie es im Regelwerk jeweils definiert ist, erkennen, die die gesundheitlichen Risiken wahrnehmen und die darüber auch öffentlich sprechen. In der DDR war damit der sofortige Ausschluss aus dem System verbunden. Karen König und Jens Steiningen haben sich Doping verweigert, nachdem sie es erkannt hatten, und wurden mit gravierenden Nachteilen in Bezug auf ihre weitere Lebensplanung in der DDR-Gesellschaft bestraft.33 Aber auch im aktuellen Spitzensport berichtet zum Beispiel Uwe Raab von der Entscheidung, die Karriere zu beenden, die u.a. darin begründet lag, dass er Doping nicht mittragen wollte.34 Es ist klar, dass eine solche Abkehr vom Spitzensport als Hauptlebensinhalt nur aktiv von Sportlern ausgehen kann, die eine gefestigte Identität und eine stabile soziale Basis besitzen, so dass trotz der Verlusterfahrung neue Lebensperspektiven erschlossen werden können.
3. R e t r o s p e k t i v e r U m g a n g mit D o p i n g
Doping als Handlungsproblem während der Sportkarriere ist eine Seite der Betrachtung. Für eine Reihe von Sportlern ändert sich allerdings auch im Rückblick nicht viel. Besteht die Loyalität zum System weiter, zum Beispiel wenn der Spitzensport Lebensperspektive ist, bleibt es in der Regel beim Bestreiten von Doping, beim Ausblenden des Themas, bei pauschalen Verurteilungen bzw. beim Leugnen gegenüber der Öffentlichkeit, so zum Beispiel bei Dirk: „also .ja gut, öffentlich würd' ich's immer bestreiten, ist ja ganz klar".
Als Beispiel fur die Strategie der Bagatellisierung kann folgender Interviewauszug gelten: Interviewerin: „hast du dann also, nachdem du es dann halt nicht mehr genommen hast, irgendwie an Dir selber etwas gemerkt?" Klaus: „nein, ich sehe' immer noch so aus, ich hab' Kinder und hab' gesunde Kinder, ich fühl mich so wohl, nein, ich hab' eigendich nichts Negatives, verstärkten Bartwuchs hatt' ich schon immer, also ich hab' damit keine Probleme".
Sportler, deren Identität eng an das Sportler-Sein und an den Erfolg gebunden ist, greifen auch nach Karriereende weiter auf den Kanon der Neutralisierungs-
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rhetorik zurück und stellen die Institution und das eigene Handeln nicht in Frage. Dies gilt natürlich umso mehr, solange noch sport- oder sogar strafrechtliche Sanktionen zu erwarten sind. Der retrospektive Umgang mit Doping belässt also teilweise alles beim Alten, indem er die defensive Grundstrategie beibehält. Auf .bewährte' Strategien können daneben auch Akteure zurückgreifen, die sich bereits als aktive Sportler gegen Doping ausgesprochen haben und ihre Loyalität gegenüber einem mit Doping verseuchten Spitzensport bereits während ihrer Sportkarriere aufgekündigt hatten. Dann kann weiterhin offen gesagt werden, was man erlebt und beobachtet hat, wie es zum Beispiel König und Steiningen getan haben.35 Und wenn während der Sportkarriere der Grad an Autonomie so gewachsen ist, dass Doping nicht (mehr) zur Debatte stand, lässt sich auch das nachträglich darstellen, wie es zum Beispiel Dirk tut: „ich bin j a auch später damit konfrontiert worden, und da könnt' ich mir's halt aussuchen, da hab' ich's halt rigoros abgelehnt und bin halt, weiß nicht, (unverständlich) waren die ersten Dopingkontrollen, und da ist das halt strikt, da war's strikt vorbei".
Die Retrospektive muss die Gegenwartsperspektive in den Prozess des Erinnerns und Darstellens einbinden. Damit bietet sie auch die Chance - entlastet vom ursprünglichen Handlungsdruck - neue Zugänge zum eigenen Handeln zu entwickeln. Gewachsene Reflexivität, erst recht, wenn auch mehr und neue Informationen zugänglich sind, kann den Blick verändern. Angesichts der körperlichen, psychischen und sozialen Spätfolgen von Doping wird eine nachträgliche Auseinandersetzung sogar teilweise fast erzwungen. Das Erleiden des Verlustes der körperlichen Unversehrtheit kann zum Aufkündigen der ursprünglichen Loyalität gegenüber der Institution fuhren und die Bereitschaft zur Veröffendichung des reflexiven Geschehens erzeugen. Dafür sprechen die Interviews mit DDR-Dopingopfern, welche innerhalb eines Projektes der „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur" gefuhrt wurden.36 Einige DDR-Dopingopfer sind den Weg der Klage gegangen, um Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen 37 Von nachträglicher Auseinandersetzung zeugt auch der Dokumentarfilm „Katharina Bullien - und ich dachte ich wär' die Größte"38, in dem eine erfolgreiche DDR-Sportlerin im Rückblick schildert, was sie im Moment des Erlebens nicht verstehen und auf sich beziehen konnte.
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4. Fall rekonstruktive Biografieforschung und Doping als Forschungsgegenstand
Biografische Materialien stellen eine wesentliche Datenquelle für historische Arbeiten dar. Beim Zugriff auf die jüngere Geschichte können solche Materialien auch als Ergebnis lebensgeschichtlicher Interviews entstehen. Wenn die interessierenden Themen - wie zum Beispiel das Doping im Spitzensport - allerdings Opfer- und Täterdimensionen enthalten, erscheint das mündliche Interview als Erhebungsmethode problematisch. Für eine Reihe von Akteuren gibt es erhebliche Widerstände, Doping sich selbst gegenüber und erst recht gegenüber der Öffentlichkeit zu thematisieren. Diese Widerstände erwachsen der biografischen Bedeutung, die der Spitzensport für bestimmte Akteure besaß und teilweise immer noch besitzt, und sie erwachsen aus der Gefahr der sport- und strafrechtlichen Verfolgung. Ist es also aussichtslos, narrative Verfahren zur Beschreibung und Herleitung von Dopingphänomenen im Spitzensport anzuwenden? Ich plädiere fur eine differenzierte Sicht. Die Nutzung narrativer Erhebungsverfahren zu Doping ist möglich und sinnvoll. Es gibt zum ersten eine Reihe von Akteuren, welche aus verschiedenen Konstellationen heraus Doping offen thematisieren und die damit ihr Expertenwissen zur Verfugung stellen können. Zum Teil ist dies schon geschehen, das entsprechende Material sollte der Forschung zugänglich gemacht werden. Daneben stünden, wie wir gesehen haben, Zeitzeugen zur Verfügung, die aus ihrer Geschichte heraus bereit sind, über ihre Erfahrungen mit Doping zu sprechen. Hier ließen sich fallbezogene Materialien erheben, die über die Rekonstruktion der Falle der Beschreibung und Erklärung der Reproduktionsmechanismen der Institution dienen können. Lebensgeschichtlich angelegte Verfahren haben zudem den Vorteil, dass sie Zugang zum Prozesscharakter und der historischen Genese der Phänomene verschaffen können. Fallbezogene Darstellungen leisten im Vorfeld von Studien gute Dienste zur Hypothesengenerierung und können im Nachgang die nachhaltige Präsentation von Ergebnissen gestalten helfen. Fallbezogene Daten sollten aber auch im Sinne einer Methoden-Triangulation mit anderen Datensorten abgeglichen werden und auf diese Weise zur Substanz von Forschungsprojekten wesentlich beitragen. Der soziologische Anspruch feldbezogener Theorien kann so auch dann erfüllt werden, wenn nicht alle wesentlichen Akteurstypen sich selbst explizit zu Doping geäußert haben. Wie ebenfalls hergeleitet wurde, werden wir im Spitzensport auf viele Akteure treffen, die sich einer offenen und öffentlichen Thematisierung von Doping verweigern. Damit muss man sich aber nicht begnügen. Die Durchfuh-
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rang lebensgeschichtlicher Interviews ist auch mit diesen Akteuren möglich. Die Rekonstruktion der Fallstruktur ermöglicht es dann, die jeweilige Art und Weise der Selbstdarstellung und damit auch den vorgefundenen Umgang mit Dopingphänomenen zu erklären. Doping als Forschungsthema ist eine methodische Herausforderung, auf die narrative und lebensgeschichtliche Verfahren einzugehen in der Lage sind. Das Feld kann über Interviews mit ausgewählten Vertretern aller relevanten Akteursgruppen, also mit Sportlern, Trainern, Funktionären, Ärzten u.a.m. erschlossen werden. 39 Indem Anonymisierung zugesichert wird, lassen sich Widerstände teilweise ausräumen. Der Feldzugang sollte aus dem gleichen Grund nicht vordergründig über das Interesse an Doping hergestellt werden. Erzählinterne und -externe Nachfragen sind im Verlaufe des Interviews geeignet, das sich aufbauende Vertrauensverhältnis dazu zu nutzen, sich dem Thema Doping doch zu nähern. Aber auch wenn Doping letztlich nicht explizit zur Sprache kommt, sind Daten nicht per se wertlos. Über die Triangulation mit anderen Datensorten und Erhebungsmethoden lassen sich Informationslücken schließen. Die fallrekonstruktive Auswertung, das Theoretical Sampling und die Typenbildung geben das Procedere vor, Erkenntnisgewinn hervorzubringen, obwohl das Feld sich nicht selbst erklärt. Aber genau das schließlich soll Soziologie j a leisten. Es erscheint aussichtsreich, Doping mit Hilfe lebensgeschichtlicher Erhebungsmethoden anzugehen, da die fallrekonstruktive Biografieforschung die Rekonstruktion von Ereignisdaten und Präsentationsmustern aufeinander bezieht und so auch Verdrängungs-, Bagatellisierungs-, Rechtfertigungs- und Befiirwortungsmodi in ihrer Genese beschreiben und erklären kann. Erst recht sind dann die ebenfalls vorhandenen offenen Thematisierungen des Dopings geeignet, die Reproduktionsmechanismen des Spitzensportsystems zu rekonstruieren und sich dem Thema in seiner historischen Genese zu nähern.
5. D o p i n g als R e s u l t a t von i n s t i t u t i o n e l l e n A u s h a n d l u n g e n
Doping und Biografie als Thema - das bedeutet für mich die Herausarbeitung von Autonomie und Heteronomie der Athleten im Umgang mit Doping. Dabei habe ich zwischen der unmittelbaren Handlungsebene und der retrospektiven Darstellung unterschieden. Es zeigt sich, dass nur ein Teil der Athleten Chancen besaß und besitzt, sich Doping-Zumutungen des Sportsystems zu entziehen. 40 „Ich finde, ich hatte keine andere Wahl"41 - viele Spitzensportler hatten und haben in der Tat keine oder keine großen Spielräume, Doping ohne gravierende
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Verunsicherung ihrer Identität abzulehnen. 4 2 Sojedenfalls muss das Fazit lauten, w e n n m a n die fallrekonstruktive Sichtweise auf typische Spitzensportbiografien ernst nimmt. 4 3 Es lohnt sich, d e m P h ä n o m e n D o p i n g weiter empirisch nachzugehen, dies sollte auch und gerade mit d e m Blick auf die verschiedenen Akteursgruppen und unter Berücksichtigung ihrer subjektiven Sicht auf das G e s c h e h e n erfolgen. D i e Soziologik des Phänomens, w e l c h e als Ergebnis präsentiert w e r d e n sollte, speist sich ein in den Diskurs über die Zukunft des Spitzensports, der in v o l l e m G a n g e ist. Was wir zurzeit erleben, sind die entsprechenden Aushandlungsprozesse, vorerst mit u n g e w i s s e m A u s g a n g und mit der Tendenz, immer wieder neu auf die Tagesordnung zu k o m m e n .
Anmerkungen 1
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Bjarne Riis, zitiert nach all/sid/dpa, Tour-de-France-Sieger gesteht Doping, in: SPIEGEL ONLINE 25.5.2007, http://www.spiegel.de/sport/sonst/0,1518,485062,00. html, Absatz 8, Zugriff 17.6.2007. Akteursbezeichnungen werden im Interesse der Lesbarkeit im Folgenden generell in ihrer männlichen Form angegeben, ohne damit die männlichen hervorheben und die weiblichen herabsetzen zu wollen. Patrik Sinkewitz: „Ohne nachzudenken bzw. schlichtweg in großer Dummheit hatte ich mir im Trainingslager in Frankreich am Abend vor der Dopingkontrolle heimlich Testogel auf den Oberarm aufgetragen. Dies tat ich instinktiv und ohne an die möglichen Folgen zu denken", zitiert nach Thomas Kistner, Instinktiv zur Tube gegriffen. Das Sinkewitz-Geständnis im Wortlaut, in: sueddeutsche.de 31.7.2007, http://www.sued deutsche.de/ sport/weitere/artikel/215/126022/2/, Absatz 2, Zugriff 2.8.2007. Jörg Rasmussen-Rauswurf. Edelhelfer sauer auf Rabobank-Kapitän, in: SPIEGEL ONLINE 26.7.2007, http ://www.spiegel.de/sport/sonst/0,1518,496728,00.html, Absatz 3, Zugriff 2.8.2007. Alexander Winokurow: „Bei all der Aufmerksamkeit um das Thema Doping wärst du doch verrückt, so etwas zu machen. Und ich bin nicht verrückt", zitiert nach sid, Auch B-Probe positiv. Radprofi Alexander Winokurow gilt nach Auswertung der B-Probe als Dopingsünder überführt, in: sueddeutsche.de 28.7.2007, http://www.sueddeutsche.de/ sport/weitere/special/329/122165/index.html/sport/weitere/artikel/791/125602/ article.html, Absatz 5, Zugriff 2.8.2007. Ausführlichere Bemerkungen an anderer Stelle: Anke Delow, Untersuchungsgegenstand Biographie. Fallrekonstruktive Sozialforschung in der Sportwissenschaft, in: Sozial- und Zeitgeschichte des Sports 14 (2000), S. 26-56. Aus der Einbindung in ein Graduiertenkolleg zu „Konflikt und Konsens im Transformationsprozess mittel- und osteuropäischer Gesellschaften" (Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für Soziologie, gefördert durch die Hans-Böckler-Stiftung) stammte die Ausrichtung auf DDR-Spitzensportler. Die Regelhaftigkeiten in Bezug auf die Einordnung des Spitzensports in die Biografie zeichnen sich jedoch durch ihre universelle Geltung aus.
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Die Interviewfuhrung erfolgte in Anlehnung an die Regeln des narrativen Interviews, wie sie von Fritz Schütze, Zur Hervorlockung und Analyse thematisch relevanter Geschichten im Rahmen soziologischer Feldforschung, in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.), Kommunikative Sozialforschung, München 1976, S. 159-260, entwickelt wurden. Die offen gehaltene Eingangsfrage lautete: „Ich möchte Dich bitten, mir Deine Lebensgeschichte zu erzählen. Du kannst Dir dabei so viel Zeit lassen, wie Du brauchst und alles erzählen, was Dir dabei wichtig ist. Ich werde Dir zuerst einmal nur ganz interessiert zuhören und mir nur ein paar Notizen machen, damit ich am Ende nachfragen kann, wenn ich etwas nicht genau verstanden habe." Das gesamte Interview wurde aufgezeichnet und später in eine Textform gebracht, die der wortgenauen Form des Interviews folgt. „Genogramme zeichnen in graphischer Form Informationen über eine Familie auf, ermöglichen einen raschen Uberblick über komplexe Familienstrukturen und bilden eine reichhaltige Quelle zur Hypothesenbildung sowohl über die Verknüpfimg eines klinischen Problems mit der Familienstruktur als auch über die historische Entwicklung dieser Struktur und der mit ihr verbundenen Probleme" (M. Mc Goldrick/R. Gerson, Genogramme in der Familienberatung, Bern, Stuttgart, Toronto 1990, S. 1). Gabriele Rosenthal, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte, Frankfurt am Main 1995. Wolfram Fischer-Rosenthal, Zum Konzept der subjektiven Aneignung von Gesellschaft, in: Uwe Flick u.a. (Hg.), Handbuch Qualitative Sozialforschung, München 1991, S. 7889, S. 81. Barney G. Glaser/Anselm Strauss, The discovery of grounded theory. Strategies for qualitative research, Chicago 1967. Anke Delow, Leistungssport und Biographie. DDR-Leistungssportler der letzten Generation und ihr schwieriger Weg in die Moderne, Münster 2000. Die körperbezogene Kompensation als Disposition zum Sport und Spitzensport lässt sich nachvollziehen anhand eines Falles, bei dem die Erfahrung von Misshandlung durch den Vater im Kleinkindalter zu einer Distanzierung vom eigenen Körper führte. Der betroffene Junge zeigte sich im Ergebnis als äußerst konsequent im Befolgen trainingsmethodischer Ansprüche. Härte gegenüber dem eigenen Körper und die Bereitschaft, hohe körperliche Risiken einzugehen, verschafften ihm Vorteile im sportlichen Wettkampf und speziell im Skispringen. Verletzungen begegnete er mit dem höchstmöglichen Maß an Nichtachtung (Delow, Leistungssport und Biographie, S. 52-72). Lotte Rose, Das Drama des begabten Mädchens. Lebensgeschichten junger Kunstturnerinnen, Weinheim, München 1991. Das Delegationskonzept (Ivan Boszormenyi-Nagy/G. Spark, Unsichtbare Bindungen, Stuttgart 1973, S. 66-84; Helm Stierlin, Delegation und Familie. Beiträge zum Heidelberger familiendynamischen Konzept, Frankfurt am Main 1978) erfasst, „wie in der Intimität frühkindlicher Abhängigkeit lebensbestimmende Aufträge vermittelt werden" (Stierlin, Delegation und Familie, S. 73). Auch die Disposition der sozialen Kompensation ist eng an körperliche Vorgänge geknüpft, stellt die Abgrenzung zwischen körperlich und sozial angelegten Kompensationsbestrebungen doch lediglich eine analytische Vereinfachung dar. Sie kann zwar empirisch belegt werden, darf aber nie als absolut gesetzt werden. Körperliche und soziale Identität sind besonders eng während der frühen Kindheit, aber auch darüber hinaus und über die gesamte Lebensspanne miteinander verquickt.
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18 Rekonstruiert wurde ein Fall, bei dem das Erleiden von Ausgrenzung in ein autonomes Muster des Rückzugs in eine eigene Welt gewendet wurde, welches sich wiederum beim Sportschießen als hochgradig funktional erwies. Da das Muster des Rückzugs nicht allein im Sportschießen zu verfolgen ist, kam es zur Fassung des Spitzensports als Lebensabschnitt (Delow, Leistungssport und Biographie, S. 110-143). 19 Spitzensport aus dem Bedürfnis nach sozialer Kompensation heraus wurde bei einem Fall rekonstruiert, in dem die Sportart Ringen sich als institutioneller Rahmen für einen Familien- und Vaterersatz erwies. Organisiertheit und Regelhaftigkeit des Sports waren anders als die erlebte Familienkonstellation von hoher Verlässlichkeit geprägt, die männlich konnotierte Sportart stellte Bezugspersonen zur Verfügung und ging damit auf den fehlenden Vater ein (Delow, Leistungssport und Biographie, S. 78-109). 20 Leistung als Delegationsinhalt ist zu finden, wenn zum Beispiel in einer Unternehmerfamilie der sportliche Erfolg als ein Modus der Handlungsorientierung aufgefasst und dem Heranwachsenden zurückgemeldet wird. Diese Handlungsorientierung stellte sich als im Laufe des Lebens und für andere Familienmitglieder modifizierbar und anders auslegbar dar (Delow, Leistungssport und Biographie, S. 150-174). 21 Der Spitzensport als Subsinnwelt konnte rekonstruiert werden für eine Familie, für die der Wassersport über Generationen einen Teil des Lebens ausmachte. Uber das Segeln und das Leben am Wasser konnten die Bedürfnisse nach Erholung, Integration der Familie, Naturerfahrung und sportlicher Auseinandersetzung in wechselnden Ausmaßen befriedigt werden, ohne das Segeln zum Hauptlebensinhalt zu machen. Diese Konstellation ermöglichte es der Tochter, ihren Sport einerseits als Spitzensport, aber andererseits sehr spielerisch und damit wiederum erfolgreich zu betreiben (Delow, Leistungssport und Biographie, S. 177-206). 22 Karl-Heinrich Bette/Uwe Schimank, Doping im Hochleistungssport. Anpassung durch Abweichung, Frankfürt am Main 1995, S. 114. 23 Erving Goffinan, Uber die Merkmale totaler Institutionen, in: Ders. (Hg.), Asyle. Uber die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt am Main 1961, S. 13-124. 24 Bette/Schimank, Doping im Hochleistungssport, S. 114. 25 Ebenda, S. 183. 26 Sämtliche Interviewzitate entstammen meinem Dissertationsprojekt (Delow, Leistungssport und Biographie). Namen und andere Rahmendaten der Interviewpartner sind verändert - eine Grundvoraussetzung für die Arbeit mit fallbezogenen Daten. 27 Die Interviews wurden wortgenau verschilftet, im Interesse einer besseren Lesbarkeit für den vorliegenden Text jedoch aus der Transkriptionsform so weit wie möglich in eine hochsprachliche Form gebracht. Einzig übernommene Transkriptionsregeln: eine Sekunde Pause zwei Sekunden Pause drei Sekunden Pause 28 Bette/Schimank, Doping im Hochleistungssport, S. 216. 29 Nachvollziehen lässt sich das Entscheidungsdilemma anhand einer entsprechenden Matrix, hergeleitet durch Bette/Schimank, Doping im Hochleistungssport, S. 216. 30 Erik Zabel, zitiert nach dpa/kas, Erik Zabels Geständnis im Wortlaut, in: Welt online 22.7.2007, http://www.welt.de/sport/article894261/Erik_Zabels_GestaendnisJm_ Wortlaut.html, Absatz 6, Zugriff 11.7.2007.
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31 Gemeint ist ohne Zweifel „unausweichlich". Aus der Perspektive der Objektiven Hermeneutik ist die Semantik von „unwiderruflich" an dieser Stelle allerdings auch hoch bemerkenswert. 32 Bette/Schimank, Doping im Hochleistungssport, S. 216. 33 Jens Steiningen, zitiert nach Jutta Heess, Hört die Signale, in: DIE ZEIT, http:// www.zeit.de/2004/07/Sport_2fDoping, 05.02.2004, Absatz 1, Zugriff 11.7.2007. 34 Uwe Raab, zitiert nach dpa, Doping-Diskussion um das Telekom-Team, http:// sport.ard.de/sp/radsport/news200705/25/vorwuerfe_uwe_raab_teamleitung.jhtml, Absatz 2, Zugriff 11.7.2007. 35 Michael Mielke, DDR-Sportarzt verteidigt Doping-Praxis, in: Welt online 6.5.2000, http://www.welt.de/print-welt/article513139/DDR-Sportarzt verteidigt_DopingPraxis.html, Zugriff 11.7.2007. 36 Elk Franke/Birgit Boese/Giselher Spitzer, „Wunden und Verwundungen". Dokumentation der Dopingschäden bei DDR-Sportlern als Folge des Hochleistungssports der SED-Diktatur, 2006. Bei der „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur" sind die im Projekt erhobenen autorisierten Interviews im Umfang von 2000 Seiten dokumentiert. Zitiert nach Elk Franke, Dokumentation der Doping-Schäden bei DDR-Sportlern, Pressemitteilung der Humboldt-Universität zu Berlin Nr. 170/2006, 18.11.2006, URL http://www3.hu-berlin.de/rs/show.php4?NT=7&L= 4&G=-1&R=-1&A=2905, Zugriff 10.7.2006. 37 Mit großer Ausdauer und unter ausdrücklicher Einbeziehung der Öffentlichkeit sind zum Beispiel Catherine Menschner und Birgit Boese als Klägerinnen gegen Dopingverantwortliche aufgetreten (Mielke, DDR-Sportarzt verteidigt Doping-Praxis). 38 Katharina Bullien - Und ich dachte ich wär' die Größte, Produzent Marcus Welsch, Erstausstrahlung Berlinale 2006. 39 Es ließe sich zusätzlich an Pharmazeuten und Zulieferer denken, für den DDR-Kontext auch an Staatssicherheitsmitarbeiter. 40 Dies gilt erst recht fur den DDR-Leistungssport unter Berücksichtigung der dort zu beobachtenden Totalinklusion als Integrationsmodus für die involvierten Akteure. 41 Riis, Tour-de-France-Sieger gesteht Doping. 42 Ob Bjarne Riis eine Wahl gehabt hätte, lässt sich allein anhand der Medienberichterstattung nicht beurteilen. 43 Ulrike Weber stellt darüber hinausgehend dar, dass auch von den Familien heranwachsender Spitzensportler Widerständigkeit nur begrenzt zu erwarten ist. Auch sie befinden sich - strukturell gesehen - eher in der Situation, die Funktionsmechanismen der Institution akzeptieren zu müssen und können kaum von den eigenen Bindungen an das System abrücken (Ulrike Weber, Familie und Leistungssport, Schorndorf2003, S. 294ff).
D o p i n g als B e z i e h u n g s p r o b l e m
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Doping a l s B e z i e h u n g s p r o b l e m P s y c h o l o g i s c h e Aspekte von Sport, S c h m e r z und Grenzen
„Stellen Sie sich eine glückliche Gruppe Schwachsinniger vor, die emsig bei der Arbeit ist. Sie tragen Ziegelsteine auf einen offenen Platz. Sobald sie alle Ziegelsteine an einem Ende des Platzes aufgestapelt haben, transportieren sie sie ans gegenüberliegende Ende [...]. Eines Tages hält einer der Schwachsinnigen lange genug inne, um sich zu fragen, was er da tut. Er fragt sich, welchen Zweck es hat, die Ziegelsteine zu tragen. Und von diesem Augenblick an ist er nicht mehr ganz so zufrieden mit seiner Beschäftigung, wie er es vorher war. Ich bin der Schwachsinnige, der sichfragt,warum er die Ziegel trägt."1
Leistungssportler fragen sich normalerweise nicht, warum sie Ziegelsteine von der einen auf die andere Seite tragen. Ziegelsteine zu tragen gehört zum Alltag. Nopain, no gain. Erst wenn ihnen die Ziegel auf die Füße fallen und einen bohrenden Schmerz hinterlassen, werden sie nachdenklich. Aber nicht unbedingt. „Um besser zu werden, trainiert man die ganze Zeit an der Schmerzgrenze. Ich glaube, man überschreitet diese Grenze oft, weil sich die Toleranzschwelle verschiebt. Ich will so hart trainieren, wie es überhaupt möglich ist. Ich glaube, meine Schmerzschwelle ist höher als die von anderen Menschen; ich mache weiter, obwohl es wehtut" (Fechter, 26 Jahre).2
Der Sportler ist chronisch verletzt und er hat Schmerzen. Gleichzeitig hat er Lust zu trainieren und Wettkämpfe zu absolvieren. Das Risiko, schmerzvolle Verletzungen zu bekommen, ist im Leistungssport allgegenwärtig. Das Risiko, die Schmerzen medizinisch wegzudrücken, statt sie zu kurieren, auch. Die World-Anti-Doping-Agency (WADA3) definiert Doping als das Vorkommen von einem oder mehreren Übertretungen der Anti-Doping-Regeln. Doping beinhaltet im offiziellen Sprachgebrauch das Erzielen der Leistungssteigerung durch die Einnahme verbotener Substanzen oder die Anwendung verbotener Methoden. Im Mittelpunkt der Dopingsprache stehen also Begriffe wie Leistung, Regeln, Substanzen und Methoden.4
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Die Leistungssteigerung wird dabei durch die Anwendung (Einnahme, Injektion oder Verabreichung) von Substanzen der verbotenen Wirkstoffgruppen oder durch die Anwendung verbotener Methoden (ζ. B. Blutdoping) erreicht. Die Liste der verbotenen Substanzen ist reichhaltig und umfasst Stimulanzien, Narkotika, anabole Substanzen, Diuretika, Alkohol, Sedativa, Psychopharmaka oder Betablocker. Man kann sich dem Thema Doping jedoch auch von einer ganz anderen Seite her annähern. Die Forschung ist im Allgemeinen vor allem auf die physischen und medizinischen Seiten des Dopings gerichtet und weniger auf die psychologischen Aspekte. Angesichts der zunehmenden Begeisterung der Normalbevölkerung fur extreme Belastungen (z.B. Marathonlaufen) und fiir körperliche Fitness kann man sich dem Thema Doping vom Thema Missbrauch oder Schmerz her annähern. Schmerz ist ein Maßstab fiir das menschliche Wohlbefinden. Er ist Anlass zur kritischen Selbstbefragung und Ausgangspunkt medizinischer Forschung. Im Folgenden soll das Thema Doping von einem psychologischen Ansatz her angegangen werden, der Störungen als ein Resultat von Kränkung ansieht.5 Der Mensch ist dabei auf verschiedene Weisen kränkbar: in seinem Selbst, in seinem Körper und vor allem in seinen Beziehungen zu anderen. Ich möchte zwei Ebenen der Kränkbarkeit einander gegenüberstellen, nämlich das Selbst und den Körper auf der einen und die Beziehung auf der anderen Seite. Selbst
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Körper
Beziehung
1 . D e r K ö r p e r - und seine G r e n z e n
Der Körper ist gerade im Leistungssport extremen Belastungen und Erfahrungen ausgesetzt, die ihn verletzlich werden lassen. Diese Verletzlichkeit äußert sich als Mangelerleben, als Müdigkeit, als Schmerz oder als Verletzung. Der Körper ist aber auch der Ort, an dem sich das Erleben, der Reiz des Sportes äußert. „Wenn ich an einem Januartag fünf Stunden Rad gefahren bin, 150 bis 160 Kilometer, und es waren Minusgrade, so dass ich die letzten vier Stunden nichts trinken konnte. Ich komme nach Hause und bin total grün im Gesicht, ich weiß nicht mehr, wo vorne und hinten ist - und dann habe ich es am allerbesten. Wenn ich mich aufs Sofa setze und total
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erledigt bin, dann habe ich es gut - obwohl mir alles wehtut. In den Perioden, wo ich nicht trainiere, vermisse ich wirklich den Schmerz, bei dem man total zerstört wird."6
Der Körper ist für die Spitzensportler einerseits eine Maschine, d.h. ein Ding, das funktionieren soll, und das man reparieren kann.7 Der Körper ist aber andererseits auch der Ort der erhöhten, geradezu nervösen Uberaufmerksamkeit. Er ist das Kind, das versorgt wird, an dem neue Ernährungsstrategien ausprobiert werden, das gehätschelt, aber auch gespritzt wird. Doping ist auf viele Weise ein Eingriff oder ein Zugriff auf diesen Körper. Es werden ihm meist körperfremde Substanzen zugeführt, als Pillen oder durch Spritzen. „Der Schweiß lief mir herunter. Plötzlich sollte ich eine Nadel in mich stechen. Das fühlt sich an, als ob man in eine Wand rennen soll oder sich selber schlägt. Das ist, als ob man sich selbst Gewalt antut." 8 „Ich hatte totale Angst, mir selbst die Spritze zu geben. Ich saß im Hotelzimmer und schaute eine halbe Stunde die Nadel an, bevor ich sie mir in den Arm stach. Später wurde es dann Routine." 9
Es geht hier vor allem um die Spritze, weniger um das Präparat, das sich in der Spritze befindet. Christiansens junge Radfahrer geben Ausdruck fur die Grenze, die es fiir sie darstellt, den Widerstand der Haut zu überwinden. Eine Spritze symbolisiert für sie auch eher Doping als beispielsweise Tabletten. „Im Rückspiegel gesehen wirkte das halt mehr wie Doping. Vitaminpillen sind ja nie verboten, aber Vitamine in der Spritze, das wirkte schon eher wie Doping. Man fühlte sich an der Grenze zum Legalen, auch wenn es sich nur um Vitamin C handelte." 10
Hat man erst einmal gelernt, sich selbst zu spritzen, ist Doping als Möglichkeit nicht mehr so fern. Christiansen beschreibt am Beispiel der von ihm untersuchten Radfahrer, dass es hier auch kulturelle Unterschiede gibt. In Italien ist es offenbar weit verbreitete Praxis, sich selbst und seine Kinder medizinisch mit Spritzen zu behandeln.11 Diese Praxis ist in Dänemark - und erst recht in Deutschland - vor allem Ärzten vorbehalten. Doping wird oft als die einzige Chance gesehen, den überlasteten und schmerzenden Körper schneller wieder herzustellen. „Dieser Sport ist so hart und anstrengend, und um besser zu restituieren, hat er [ein dänischer Radfahrer] eben Doping genommen. Aber das war nicht systematisch, sondern um es überhaupt über die Runden zu schaffen. Das finde ich auf eine Weise in
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Ordnung. Wenn man keine Grenze hat, wie viele Läufe ein Fahrer eigentlich pro Jahr fahren darf dann ist das ja fast der einzige Ausweg. Er nimmt ja keine Stoffe, um besser zu werden oder schneller zu fahren. Er nimmt die Sachen nur, um nicht schlechter zu werden."12
Bei den jungen dänischen Radsportlern, die selber kein Doping nehmen, herrscht Verständnis dafür, dass einige ihrer Idole des Dopings überfuhrt worden sind. Radsport zu betreiben erfordert eine so große Ernsthaftigkeit und einen solchen Zeitaufwand, dass auch das Wissen um Doping den Idolen nichts von ihrem Glanz nimmt. Die Radfahrer beschreiben ebenso wie andere untersuchte Athleten, dass Sporttreiben und Trainieren wehtun kann.13 Nach dem richtig harten Training tut alles weh, aber man weiss, dass man seine Leistung verbessert hat. Die Sportler, die „total erledigt auf dem Sofa hängen", oder denen es „gut geht mit dem Schmerz, der auf eine harte Trainingsphase folgt14", geben ihren individuellen Empfindungen Ausdruck. Die meisten Sportler teilen ihre Schmerzen in gute und schlechte Schmerzen ein. Der Verletzungsschmerz ist unbehaglich und schlecht, und er soll verschwinden. Im Verletzungsschmerz wird der Körper zu einem anderen, im schlimmsten Falle zum eigenen Feind. Aber der Schmerz, der mit hartem Training oder mit dem Wettkampf verbunden ist, ist gut. Zwar nicht immer angenehm, oft sogar im Gegenteil, aber gut. Dieser Schmerz und die Atemlosigkeit bedrohen und kränken weder Selbst noch Körper. Die Sportler verleihen aber auch dem Ausdruck, und das ist gerade für den Bereich des Dopings zentral, dass diese extremen Leistungen in einem bestimmten Milieu erzeugt werden. Es gibt Milieus, in denen das Sich-selbst-Zwingen ein Gruppengefühl darstellt und die Menschen, die sich diesen Belastungen aussetzen, verbindet. Doch dazu später. Der Körper tritt also als Maschine auf, die Unterstützung zur Wiederherstellung braucht. Er tritt auch auf als etwas, dessen Grenzen überschritten werden, indem man ihn zum Beispiel mit Spritzen konfrontiert.
2. Das Selbst - und der Sinn Warum setzen sich Sportler dem Doping aus, warum setzen sie sich dem Schmerz aus, warum erleben sie beides als etwas, das mit zum Spiel gehört? Doping wird in unserem strafrechtlichen System als Delikt des einzelnen juridisch verfolgt. Die Frage ist also, welcher Sinn sich für den einzelnen ergibt.
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Der freie Wille und die Suche nach dem Sinn als bewusste existentielle Wahl stehen historisch der Freudschen Vorstellung eines triebgesteuerten Menschen gegenüber, der mit der Entwicklung seiner psychischen Instanzen Ich und UberIch versucht, die Macht über sein Unbewusstes, sein Es, zu gewinnen.15 Dieser Prozess geht nicht ohne Traumata vor sich, kann dieses Es doch nur mit Hilfe von Abwehrmechanismen in Schach gehalten werden. Der Mensch befindet sich - psychoanalytisch gesehen - konstant in Triebkonflikten, die jedoch produktiv sein können. Die interessante Frage beim Doping ist, welche Instanzen Ich und Es repräsentieren. Ist das verbrecherische System oder der leistungsorientierte Trainer das Über-Ich, das von einem verantwortlichen Ich bekämpft wird, welches „nein zu Drogen" sagt? Oder hat der Trainer die Rolle des verantwortlichen Ichs, das die Es-Impulse des Sportlers nach Siegesrausch oder Geld unter Kontrolle hält? Die Suche nach dem Sinn kann als Leistung, als Streben nach Gesundheit oder als Wunsch nach dem Rausch beschrieben werden. Wenn der Bergsteiger Reinhold Messner seinen Rucksack packt, ist das fiir ihn ein „Hantieren, das die Sinnlosigkeit aufliebt"16 Im Vergleich zu Freuds Zeiten sind Menschen heute wohl weniger sexuell frustriert als vielmehr existentiell frustriert. Sie leiden mehr am Problem eines existentiellen Vakuums. In früheren Zeiten sagte die Tradition, was man sollte, heute geht es mehr darum, was man will}1 Sportler scheinen oft den Wunsch nach Sinn mit großer Energie zu realisieren, sei es auf Bergetappen, bei Waldläufen oder im Fitness-Studio. Sie versuchen einen Rekord zu übertreffen, eine Gewichtsverminderung zu bewirken oder einen neuen Berggipfel zu erklimmen. Der Psychologe Abraham Maslow spricht in diesem Zusammenhang von menschlichen Wachstumsbedürfnissen. Der Mensch hat den Wunsch, sich selbst zu aktualisieren und nicht nur seine Mangelbedürfnisse zu befriedigen. Er ist nicht nur wie im Freudschen Verständnis von Trieben geleitet, sondern strebt nach Verwirklichung.18 „Ich habe seit neun Monaten kein Bier angerührt, war nicht in der Kneipe, habe keine Schokolade gegessen, ich habe gar nichts gemacht neun Monate lang. Alles war auf das Radfahren und das Training abgestimmt."19
Der Sport bietet die Möglichkeit zur Sinnfindung an, sei es als Hingabe an eine Aufgabe oder an ein Team. Der Sportler fordert sich eine Leistung ab, die er unter Verzicht erreicht. Er schüttet „Inseln der Askese"20 auf. Doch inwiefern hängen nun Sinn und Doping zusammen?
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Der Sport ist eines der wenigen Felder, auf dem der Schmerz und auch die illegale Leistungssteigerung freiwillig aufgesucht werden. Doping kann dabei als eine Art Selbsterweiterung entstehen und verstanden werden. Die jungen Männer (und Frauen), die in Fitness-Studios mit Gewichten trainieren, verfugen über eine breite Palette von Proteinpulvern bis zu Anabolika als zusätzliche „Aufbauprodukte". Es gibt dabei ein Kontinuum, das von einer individuellen Wahl bis zu einer gestörten Abhängigkeit reicht. Die magersüchtigen Turner oder Skispringer, die Abfuhr- und Entwässerungsmittel konsumieren, sind dabei mehr in Gefahr als die Freizeitläufer, die ihre körperlichen Grenzen testen. „Ich sehe Sport als eine beherrschte Form von Schmerz. Sport ist eine Bewusstmachung der Schmerzgrenzen. Wie weit kann ich gehen, bevor ich mich längerfristig oder dauerhaft verletze? Ich lerne mein Potential kennen, psychisch und physisch. Sport zeigt mir die Grenzen für das, was ich aushalten kann" (Läufer, 33 Jahre).
Hingabe und Selbstüberwindung im Namen der Leistungssteigerung sind ein Credo des Leistungssports, aber auch der Freizeitmarathonläufer. Ausdauerathleten beschreiben Laufen als Rausch. Die Körpergrenze wird aus Lust aufgesucht, aus Neugier, wie weit man sich über die eigenen Grenzen hinaus treiben kann, wie weit man über sich selbst hinauswachsen kann. Es scheint, als ob der Schmerz Indikator fur die Selbsterweiterung darstellt. Im Ziel ist die Selbstfindung erreicht. Die befragten Sportler beschreiben oft die schmerzvolle Suche nach den körperlichen Grenzen als eine Suche nach Identität. Sportler erzählen immer wieder, dass es darum geht, „sich selbst zu überwinden" und in einem klar abgesteckten Raum den „guten" Schmerz zu erleben, Grenzen zu testen und zu kontrollieren. „Sport gibt einem Körperbewusstsein und zeigt dir die Grenzen deines Körpers. Plötzlich passiert etwas, ich komme über eine Schwelle und habe das Gefühl, im Schmerz zu ,ruhen'. Wenn ich dieses Stadium erreiche, kann ich das Gefühl bekommen, unüberwindbar zu sein" (Marathonläuferin, 25 Jahre).
Sowohl im Abschnitt über den Körper als auch über das Selbst haben wir Doping als ein individuelles Problem betrachtet, als Überschreitung von Körpergrenzen und als individuelle Selbsterweiterung. Beim Doping wie bei den extremen Belastungen des Körpers im Schmerz handelt es sich jedoch nicht um ein individuelles Phänomen, sondern um den Ausdruck einer Beziehung.
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3. Die Beziehung Die Individualisierung des Phänomens entspräche zwar der juridischen Praxis, den Menschen als Einzelnen haftbar zu machen - und damit den Einzelnen zu produzieren. Aber sie weist zugleich über den Einzelnen hinaus. Der Sinn - ob als Leistung, als Rausch, als milieukonforme Entfaltung oder als Achten des Trainers - ist mehr als eine Kreation des Individuums. Doping hat eine epistemologische Gemeinschaft mit dem Schmerz. Doping wird, wie bereits erwähnt, fast immer als individuelles Problem dargestellt, behandelt und strafrechtlich verfolgt. Das ist eine juridische Notwendigkeit. Auch der Schmerz erscheint zunächst als eine Sache des Einzelnen, die am Einzelnen zu behandeln ist. Er drückt ein individuelles Verhältnis zu einem individuellen Körper aus. Diese Sicht folgt einer medizinischen Notwendigkeit. Aber Schmerz und Missbrauch haben auch gemeinsam, dass sie Ausdruck ästhetischer Dimensionen, gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen und psychologischer Milieus sind. Doping kennzeichnet eine Beziehung zu den Mitsportlern, zu einem Netzwerk oder zur Gesellschaft. Die Verführung der „Masse" Freud hat in seinem Buch über die Massenpsychologie beschrieben, wie sich in einer Gruppe das einzelne Individuum einer Masse unterordnet und wie sich die Gruppenstimmung fur den Einzelnen als Mitglied eines „Stammes, eines Volkes, einer Kaste, eines Standes, einer Institution oder als Bestandteil eines Menschenhaufens" 21 organisiert. „.Fern seiner Vereinzelung war er vielleicht ein gebildetes Individuum, in der Masse ist er ein Barbar, das heißt ein Triebwesen' [...]. Die Masse ist impulsiv, wandelbar und reizbar."22
Das Individuum erlangt in der Masse einer Gruppe Macht und ist zu Handlungen oder Gefühlen fähig, die es als Einzelner nicht entwickeln würde. Man hat die Massenpsychologie benutzt, um zum Beispiel Hooliganismus, aber auch die Faszination des Faschismus psychologisch zu erklären. In Bezug auf Doping kann der Einzelne als Teil einer Gruppe oder eines Systems gesehen werden. Analysen des systematischen Medikamentenmissbrauchs in Sportsystemen arbeiten mit diesen Ansätzen. Der Einzelne ist dabei verführt worden. Sport wird politisch, wenn er als Symbol fur die Überlegenheit eines Systems eingesetzt werden soll. Dies ist besonders deutlich geworden bei der
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Rolle, die der Sport im Dritten Reich, in der DDR und der Sowjetunion gespielt hat. Aber auch kapitalistisch-demokratische Länder oder traditionelle Kulturen setzen ihre Spiele und den Sport zielgerecht ein.23 In diesem Zusammenhang gewinnt auch der Schmerz des Einzelnen eine überindividuelle Bedeutung. Er kann einer höheren Sache dienen, er kann Ausdruck für die individuelle Hingabe an diese Sache sein, oder er kann bewusst in Kauf genommen werden - so wie der Athlet die schädlichen Spätfolgen von systematischem Doping in Kauf nimmt. Doping und Ballett
Der Einzelne kann aber auch zu einer Gruppe gehören, in der die extreme Leistung und die Einnahme von Mitteln zur alltäglichen Kommunikation zählen. Als Beispiel sei hier das Ballett erwähnt. „Als Tänzerin beginnt man mit sechs bis acht Jahren, das heißt, man hat fast sein gesamtes Leben getanzt und gelernt, mit dem Schmerz zu leben. Als Kind tut es nicht so weh, da ist Ballett vor allem lustig, der Schmerz kommt erst später [...] Aus dem Schmerz erwächst das Schöne" (Rose Gad, Tänzerin am königlichen dänischen Ballett).
Tanz und Ballett sind Bewegungsformen, bei denen Menschen sich ständig am Rande ihrer Schmerzgrenze bewegen - um Schönheit oder starke Gefühle auszudrücken. Der Schmerz wird in seiner Beziehung zu den Zuschauern zum Vermittler von Intensität. Die Tänzerin, die den Schmerz sublimiert hat, verzaubert ihr Publikum und vereint es in atemloser Bewunderung. Man sieht den Schmerz oder den Missbrauch nicht, er liegt - unausgesprochen und in der Biographie des einzelnen Tänzers versteckt - hinter den Bewegungen. Würde das königliche Ballet in Kopenhagen den Dopingbestimmungen der WADA unterliegen, dann müsste man es wahrscheinlich schließen. Auch für professionelle Musiker gehört die Einnahme von stark beruhigenden Medikamenten wie Beta-Blockern zum Alltag. „Es ist nicht gratis, diese Form von Kunst zu produzieren" (Rose Gad). D a s Milieu
„In einem Umkleideraum mit zwanzig Personen sitzen alle mit ihren Pillendosen und Spritzen. Es gibt keine Geheimnisse. Auch wenn du für eine konkurrierende Mannschaft fährst, sitzt man nicht und verbirgt etwas. Und sollst du vor dem Start eine
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Spritze haben und die Toilette ist besetzt, dann nimmst du sie eben, wo du gerade sitzt, um es überstanden zu haben. In meiner Zeit als professioneller Radfahrer habe ich keinen erlebt, der nicht gedopt war, oder der sich nicht hat dopen lassen. Doch, ja, einen, aber der führ auch danach."24
Im Radsport hat es gerade in Verbindung mit der Tour de France, z.B. in Verbindung mit dem Festina-Skandal, Indizien gegeben, die darauf schließen lassen, dass sich hinter der Organisation von Doping kriminelle Netzwerke verbergen. Hier soll es vor allem um die psychologischen Aspekte der Gruppe gehen. Die Gruppenkohäsion
Die Kohäsion, der Zusammenhang in einer Gruppe, ist die Summe aller Kräfte, die auf alle Gruppenmitglieder so einwirken, dass sie in der Gruppe bleiben. Die Kohäsion ist die Anziehungskraft, die eine Gruppe auf ihre Mitglieder ausübt. Die Gruppenmitglieder, denen es in einer Gruppe gut geht - fühlen sich von den anderen Gruppenmitgliedern akzeptiert, - haben eine Ähnlichkeit unter den Gruppenmitgliedern festgestellt, - fühlen sich von spezifischen Personen in der Gruppe besonders beeinflusst.25 Die anfanglich erwähnten Beispiele der dänischen Radfahrer erscheinen so in neuem Licht. Es geht nicht nur um ihre Körpergrenzen, die mit Spritzen überwunden werden, es geht vor allem um bestimmte Regeln und Rituale in einer Gruppe, die auch eine Wertgemeinschaft ist. Wie stark der Einzelne von seinem Ansehen in der Gruppe beeinflusst wird und wie weit er das Bezugssystem der Gruppe benutzt, ist von mehreren Faktoren abhängig: - von der Bedeutung, die die Gruppe für ihn hat, - von der Häufigkeit und Spezifität der Kommunikation, die die Gruppe ihm in Bezug auf sein Ansehen zukommen lässt, - davon, welche Bedeutung diese Vorgänge für ihn haben.26 Zu Beginn der 1980er Jahre habe ich selbst modernen Fünfkampf gemacht, eine Sportart, die aus Schwimmen, Fechten, Laufen, Schiessen und Reiten besteht. Bei dieser Sportart wurden von Anfang an Mittel (zu Beginn Alkohol, später BetaBlocker) verwendet, um die Nervosität beim Schiessen zu verringern. Kolportiert wurden die Geschichten russischer Athleten, die vollkommen betrunken an den Schießstand geführt wurden und mit ruhiger Hand 20 Schüsse auf die Scheibe des Nachbarn abgaben. Auch existierten Erzählungen über Schwimmer, die sich Luft in den Darm pumpten, um eine bessere Wasserlage zu haben. In unserem Team sprachen die 14jährigen männlichen Jugendlichen über Beta-Blocker vor dem Schiessen wie über Pausenbrote. Das „gehörte dazu" und wurde weder vom
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Trainer noch von den Athleten in Frage gestellt. So war es halt. Dieser Praxis wurde allerdings bereits seit Ende der 80er Jahre ein Riegel vorgeschoben, indem man Schiessen und Schwimmen unmittelbar aufeinander folgen ließ. Je stärker ein Individuum sich von der Gruppe angezogen fühlt, desto höher achtet es das Urteil der Gruppe. Entsteht ein Missverhältnis zwischen seinem Ansehen und seiner Selbsteinschätzung, dann kommt es zu einer Dissonanz, die der Einzelne zu überwinden sucht. Eine Möglichkeit mit der Diskrepanz fertig zu werden ist die Abwertung der Gruppe, dies fuhrt dann zu deren Verlassen. Eine andere Möglichkeit ist es, sich den Regeln der Gruppe anzupassen. In einer therapeutischen Gruppe problematisiert man die Rollen der einzelnen Mitglieder, das Verhältnis zum Therapeuten und die Konflikte, die in der Gruppenarbeit entstehen. In einer Gruppe im Leistungssportmilieu ist dies nicht immer einfach oder angemessen und kann auch zum Ausschluss aus dem Milieu führen. „Es ist eine kleine Welt, wo du die Regeln kennen musst. Kennst du sie nicht, musst du schweigen. Wenn du die Regeln brichst, kann dich keiner leiden. Wenn du die anderen irritierst, kannst du deinen J o b verlieren." 27
Die Mitglieder einer kohäsiven Gruppe unterscheiden sich von denen nichtkohäsiver Gruppen. Sie - versuchen intensiver, andere Gruppenmitglieder zu beeinflussen, - sind von anderen Mitgliedern stärker beeinflussbar, - sind eher bereit, andere zu akzeptieren, - erleben in der Gruppe mehr Geborgenheit, - schützen die Gruppennormen und üben Druck auf den Einzelnen aus, der von diesen Normen abweicht.28 Ein Sportmilieu bietet den einzelnen Mitgliedern Schutz und Akzeptanz. Es kann aber auch dazu fuhren, dass problematische Verhaltensweisen sich im Alltag in einer Gemeinschaft etablieren. Will man sich dem Phänomen Doping also von einer psychologischen Seite her annähern, dann geht es vor allem darum, die Wirkungsweisen der jeweiligen Gruppe, des Milieus und des Netzwerkes aufzuschlüsseln. Es ist ein Unterschied, ob Doping als Kohäsion in einem Milieu entsteht, ob es mit autoritären Strukturen von Gesellschaft, Trainern oder Ärzten zusammenhängt, oder ob es Resultat individuellen Leistungsstrebens ist. Doping im Sport lässt aus psychologischer Sicht also verschiedene Deutungen zu. Der Körper, das Selbst und die Beziehungen zu Anderen sind die Orientierungspunkte, die zur Strukturierung des Phänomens im Sport dienen können.
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Der Schwachsinnige, der die Ziegelsteine trägt, ist nicht allein. Er ist Teil einer Gruppe. Sonst hätte er vielleicht schon früher seine Tätigkeit eingestellt.
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Irvin Yalom, Existentielle Psychotherapie, Köln 1989, S. 495. Alle Zitate sind, wenn nicht anders angegeben, meinem Buch „Sport und Schmerz" entnommen (Kirsten Kaya Roessler, Sport und Schmerz. Ein sportpsychologischer Ansatz zur Schmerzforschung, Immenhausen 2004). Soweit bekannt, habe ich jeweils das Alter der Interviewten angegeben. www.wada-ama.org. Ivan Waddington, Drugs, Health and Sport - A critical sociological perspective, London 2000. Klaus Dörner/Ursula Plog, Irren ist menschlich. Lehrbuch der Psychiatrie/Psychotherapie, Bonn 1986. Nach Ask Vest Christiansen, Ikke for pengenes skyld. Et indblik i moderne cykelsport, Odense 2005, S. 67. Alle dänischen Zitate sind von mir ins Deutsche übersetzt worden. Roessler, Sport und Schmerz, S. 109. Christiansen, Ikke for pengenes skyld, S. 82. Ebenda, S. 86. Ebenda, S. 87. Ebenda, S. 80. Ebenda, S. 96. Vgl. Roessler, Sport und Schmerz, sowie Kirsten Kaya Roessler, Sport auf Rezept. Gesundheit, Psychologie, Bewegung, Köln 2006. Roessler, Sport und Schmerz, S. 147. Sigmund Freud, Darstellungen der Psychoanalyse, Frankfürt a.M. 1976. Ulrich Aufmuth, Zur Psychologie des Bergsteigens, Frankfurt 1992, S. 197. Viktor Frankl, Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn, München 1985, S. 16. Abraham Maslow, Die Psychologie des Seins, Frankfurt 1968. Christiansen, Ikke for pengenes skyld, S. 54. Frankl, Der Mensch, S. 87ff. Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, Frankfurt a.M. 1993, S. 34. Ebenda, S. 40. Freud zitiert hier im ersten Satz Gustave LeBons „Psychologie der Massen". Klaus Heinemann, Sport und Gesellschaften, Schorndorf2002. Brian Dahlgaard im dänischen Radio, zit. nach Christiansen, Ikke for pengenes skyld, S. 102. Irvin Yalom, Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie, München 1989, S. 61ff. Ebenda, S. 61ff. Christiansen, Ikke for pengenes skyld, S. 117. Yalom, Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie, S. 80.
A s p e k t e einer Geschichte sowjetischer K ö r p e r o p t i m i e r u n g
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Am Rande der Vollkommenheit Aspekte einer Geschichte sowjetischer Körperoptimierung
Einleitung
Die Geschichte des sowjetischen Sports erschöpft sich nicht in einer Geschichte des (Hoch-) Leistungssports, und die Geschichte des sowjetischen (Hoch-) Leistungssports erschöpft sich nicht in einer Geschichte des Dopings. Als eines der erfolgreichsten Produkte des Sowjetkommunismus zog das Sportsystem nach dem Zweiten Weltkrieg keineswegs nur Misstrauen wegen vermuteter unlauterer Methoden und Mittel auf sich. Vielmehr rangen Serienrekorde und Medaillenregen Respekt oder gar Bewunderung ab. Zwar häuften sich in einzelnen Sportarten die Indizien fiir Manipulationen, doch fehlte es an geeigneten Kontrollmöglichkeiten und damit am untrüglichen Nachweis systematisch verabreichter, die Leistung steigernder Substanzen. Mit dem Eintritt der Sowjetunion und nach ihrem Beispiel der übrigen Ostblockstaaten in die internationale Sportkonkurrenz erfuhren Olympische Spiele, Europa- und Weltmeisterschaften eine beispiellose mediale Aufwertung. Auf Regierungen und Verbänden, Trainern und Athleten lastete ein stetig wachsender Druck, nicht zu versagen. Die Einnahme unterstützender Mittel war in der Geschichte des Sports nicht neu. Seit die Wettkämpfe aber zum Merkmal der Leistungsfähigkeit eines Landes bzw. politischen Systems stilisiert wurden, sich eine expansive mediale Öffentlichkeit ihrer bemächtigte, Gesellschaften, Kollektive und Individuen sie als Gradmesser der Modernität akzeptierten und ihre Häufung das Problem der verfugbaren personellen und materiellen Ressourcen sowie der körperlichen Belastbarkeit der Vorzeigesportler aufwarf, wurden die Planung des Erfolgs, die Systematik der Vorkehrungen und die Effektivität von Rekrutierung, Training, Ernährung und medizinischer Betreuung immer dringlicher. Die zentralistische Struktur des Sowjetsystems, die Fixierung der herrschenden Partei auf den messbaren Erfolg und die Diktatur des Prinzips der „Überlegenheit" verlangten einerseits ein straffes Modell der Entscheidungsfindung, das andererseits aber wegen ungeklärter Kompetenzen zwischen den Instanzen der Verantwortung, wegen
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paralleler Abläufe im Staatsapparat und in der Sportadministration und wegen des Zwangs zur Geheimhaltung fur den Historiker schwer zu rekonstruieren ist. Was später „Staatsdoping" genannt wurde, umschreibt den Vorgang schon deshalb unzureichend, weil es Zuständigkeiten anonymisiert, die Verschränkung von politischen Instanzen und persönlichen Netzwerken verschleiert, mögliche Unterschiede zwischen einzelnen Ländern nivelliert und nicht zuletzt die gesellschaftliche Dimension und die Perspektiven der unterschiedlichen Akteure ausblendet. Der Sport erbrachte den Nachweis, dass die Sowjetunion auf einem wichtigen Feld der modernen Kultur international nicht nur ebenbürtig und damit konkurrenzfähig geworden war, sondern die Führung beanspruchte. Während im Rüstungsbereich das atomare Patt festgeschrieben wurde und in der Raumfahrt nach den Anfangserfolgen der fünfziger Jahre der technologische Vorsprung rasch wieder verloren ging, schienen die sowjetischen Supermänner und Superfrauen das Versprechen einlösen zu können, mit vergleichsweise geringen Kosten den Supermachtstatus zu wahren. Es lag in der Logik des sowjetischen Selbstverständnisses, als einzig legitime und wahrhaft humane Alternative zur kapitalistischen Welt und zur bürgerlichen Kultur gleichsam zum Erfolg verdammt zu sein. Moralische Überlegenheit sollte messbar sein. Eine Kultur der Niederlage oder eine Philosophie des Scheiterns hatte hier ebenso wenig Platz wie eine kritische Auseinandersetzung mit den angewandten Methoden und den Kosten des Siegens um jeden Preis. Selbst die Herkunft dessen wurde verleugnet, was vom Ausland, namentlich von Amerika, entlehnt worden war, um „siegen zu lernen". Doch stieß das sowjetische Modell, das unter den verbündeten Staaten am eindrucksvollsten in der DDR variiert wurde, aufgrund der rasanten Entwicklung des internationalen Sports, und zwar schneller als zunächst zu erwarten, an Wachstumsgrenzen. Nicht zurückzufallen bedeutete, jene Bereiche auf EfFektivitätsreserven erforschen zu müssen, die in dem immer näher zusammenrückenden Leistungsfeld die entscheidenden Sekunden, Zentimeter und Gramm ausmachten. An den Verfahren der Bestenauslese in umfassenden betrieblichen, lokalen, regionalen und landesweiten Ausscheidungswettkämpfen ließ sich kurzfristig wenig ändern. Die erprobten konventionellen Trainingsmethoden mochten hinreichen, Talente an die nationale Leistungselite heranzufuhren, nicht aber, sie dort zu etablieren oder sogar die internationalen Standards zu diktieren. Es blieben somit die Körper der Männer und Frauen im Sportdress übrig, auf die sich mehr und mehr die Aufmerksamkeit der Funktionäre, der Pharmazeuten und der Mediziner richtete. Die prinzipielle Eignung für den Leistungssport vorausgesetzt und nach der Ausschöpfung
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vermeintlich aller technologischen Möglichkeiten der „Trainingswissenschaften", schien allein noch die Zufuhr ausgesuchter Nahrungsmittel, Ersatzstoffe und Medikamente bei den Athleten eine Optimierung von Ergebnissen zu erlauben. Die Geschichte technologischen Denkens und Experimentierens und die interdisziplinäre Wissenschaftsgeschichte sind in vielfacher Weise mit dem modernen Sport verzahnt. Sie bilden unverzichtbare Bausteine jedes Erklärungsansatzes fur die Leistungsexplosion sowjetischer und nichtsowjetischer Athleten nach dem Zweiten Weltkrieg. Da schwerlich anzunehmen ist, dass das Doping im Westen aus dem Ostblock importiert werden musste, sollte eine vergleichende Forschung weniger nach Kausalitäten, als vielmehr nach Wechselbeziehungen und Transfers fragen. In je spezifischer Weise müsste erkundet werden, welche Motive und Interessen mitwirkten, als die Grenzen der Leistungsunterstützung im internationalen Leistungssport Schritt fur Schritt vorgeschoben wurden. Welche Rolle spielte auf der einen Seite die Kommerzialisierung, auf der anderen Seite die Prämierung und gesellschaftliche Privilegierung des Sports? Erzeugte die ständig wachsende Medialisierung des Sports in Ost und West ähnliche Zwänge bei der Anpassung der Leistungsoptimierung? Solche Fragen verweisen auf die gesellschaftlichen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Kontexte der Leistungsoptimierung und der Vorstellungen von körperlicher Perfektibilität. Aus Interdependenzen der Dopingsysteme könnte sich ergeben, dass die gegensätzlichen politischen und ideologischen Normative weniger bedeutsam waren als die verbindende Tendenz zur Verwissenschaftlichung des Alltags und der Lebensverhältnisse in aufstrebenden oder entwickelten Industriegesellschaften. Im Folgenden soll das vielschichtige Thema anhand ausgewählter Aspekte erörtert werden. Ausgehend von der Biomechanik und den Strategien individueller und kollektiver Willens- und Bewusstseinsbildung, die als heterogene Grundlagen des stalinistischen Körperkultes und als Voraussetzungen der pharmakologisch-medizinischen Wende im Leistungssport gelten können, werden die Verquickung von Empirie und Skandal in der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Doping zur Zeit des Kalten Krieges, danach der Zusammenhang zwischen Militärmedizin und leistungssteigernden Mitteln bzw. zwischen Sportmedizin und „Staatsdoping" untersucht. Am Ende steht eine knappe Bilanz und Bewertung des sowjetischen Dopings vor dem Hintergrund der umfassenderen Geschichte der Körperoptimierung im 20. Jahrhundert.
Aspekte einer Geschichte sowjetischer Körperoptimierung
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Ob die Sowjetunion tatsächlich die Spirale der verbotenen künstlichen Körperoptimierung durch systematisches Doping in Gang gesetzt hat, ist nach derzeitigem Wissen noch keineswegs zu entscheiden.1 Zum einen fehlt es an grundlegenden empirischen Studien über die Anfänge, Hintergründe, Verfahren und Ausmaße des sowjetischen Dopings. Dies unterscheidet den sowjetischen Fall ganz wesentlich von dem der DDR. Uber deutsch-russische Kooperationen oder Rivalitäten sind bislang lediglich einige episodische Details zutage gefördert worden.2 Zum anderen steht die historische Forschung, welche die Entwicklungen von Körperkultur, Biomechanik, Biochemie und Medizin im 20. Jahrhundert konsequent mit dem Wandel kollektiver und individueller Gewohnheiten im Umgang mit Drogen bzw. allgemein leistungssteigernden Substanzen in Beziehung setzt, erst am Beginn.3 Jede historische Auseinandersetzung mit dem sowjetischen Doping nach 1945 ist nur mittels Rekursen auf die russischsowjetischen Körperutopien seit Beginn des 20. Jahrhunderts zu leisten. In diesen „ganzheitlichen" anthropologischen Konzepten bündeln sich veränderliche ideologische, ökonomische, militärische, naturwissenschaftliche und kulturelle Postulate politischer und gesellschaftlicher Interessengruppen. Sie kreisen um Unsterblichkeit und Selbstschöpfung des Menschen, um die Überwindung natürlicher Grenzen und die Erneuerung des Kosmos durch Menschenhand.4 Einen zentralen Platz nahmen in dieser weit ausgreifenden frühsowjetischen interdisziplinären Debatte wissenschaftliche Experimente zur Rationalisierung von Bewegungsabläufen bzw. zur Perfektionierung der Koordination von Körper, Nervensystem und Geist ein. Kaum überschätzt werden kann dabei die Bedeutung des russischen Naturwissenschaftlers und Nobelpreisträgers Ivan P. Pavlov (1849-1936), dessen Institut für Experimentelle Physiologie in Leningrad zur Keimzelle einer spezifisch sowjetischen Lebenslehre wurde.5 Furore machten auch die Versuche des Dichters Aleksej K. Gastev (1882-1941) am Zentralinstitut fur Arbeit in Moskau, menschliche und maschinelle Bewegungsabläufe zu harmonisieren, um die Voraussetzungen für die Konstruktion eines zukünftigen Roboterwesens zu schaffen.6 Nikolaj A. Ladovskij (1881-1941) wiederum, ein Architekt und Pädagoge, erforschte an seinem Laboratorium für Psychotechnik in Moskau mittels eines selbst entwickelten Verfahrens die menschliche visuelle Wahrnehmung mit dem Ziel, die rezeptiven Fähigkeiten zu schulen.7 Der Philosoph, Arzt, Schriftsteller und Begründer der linksbolschewistischen Kulturbewegung des Proletkul't Aleksandr A. Bogdanov (1873-1928) war überzeugt, an seinem Moskauer Institut für Bluttransfusionen den Nachweis erbringen zu können, dass der regelmäßige Blutaustausch zwischen jüngeren und
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älteren Testpersonen zu einer Stabilisierung und Stärkung des Organismus führe.8 Weniger bekannt, aber nicht minder symptomatisch für die Wissenschaftsgläubigkeit in der jungen Sowjetunion ist der Arzt Aleksej A. Zamkov (1883-1942), der in seiner endokrinologischen Praxis mit einem Hormonpräparat laborierte, tausende Patienten, darunter Mitglieder der sowjetischen Elite, therapierte und höchste Protektion genoss.9 Das Zusammenspiel von Biomechanik, Psychotechnik, Hormonbehandlung und einem allgemeinen „Vitalismus" eröffnete der interdisziplinären Forschung, der klinischen Anwendung, darüber hinaus aber auch der außerwissenschaftlichen Spekulation über Möglichkeiten zur Vetjüngung und Leistungssteigerung des Körpers weite Horizonte. Kennzeichnend für die Suche, die Konstruktion und die mediale Vermittlung des „stalinistischen Körpers" in den 1930er Jahren war eine spannungsreiche Mischung aus teils widersprüchlichen technologischen, medizinischen, biologischen und bewegungstheoretischen Erkenntnissen, kühnen Hypothesen und ideologischen Postulaten. Die Anhänger mechanistischer Konzepte propagierten die Leistungssteigerung durch Automation physischer Fertigkeiten. Wesentliche Elemente entlehnten sie dem Fordismus und Taylorismus, beharrten aber darauf, diese von ihren „bürgerlich-kapitalistischen" Attributen „säubern" zu müssen, bevor sie auf die sozialistische Produktionsweise übertragbar seien.10 Der Stachanovismus in der Arbeitswelt, aber auch die zum „Fließband" stilisierten Großbauten des Stalinismus, die von Zwangsarbeitern errichtet wurden, welche mit „metallischer Logik und Disziplin" funktionierten, bildeten Höhepunkte dieser Strategie zur Effizienzsteigerung im Alltagsleben.11 Im Gegensatz dazu favorisierten die Aktivisten eines enthusiasmierten Lebensstils die Schulung des individuellen und kollektiven Willens, der Außerordentliches zu vollbringen imstande war. Für sie hatte die Maschinenmetapher den Makel, subjektive Motive des Handelns zu vernachlässigen. Nicht anonyme „kleine Leute" und ihre „kleinen Taten" hielten das große Räderwerk des sozialistischen Aufbaus in Schwung. Es waren die „Großtaten" vorbildhafter Helden, welche Identifikation und Orientierung boten.12 Bereits in den Theorien des linken Flügels der russischen Avantgarde wurde dem „Willen zum Sieg" ein hoher Stellenwert bei der Schaffung neuer Lebensverhältnisse beigemessen.13 Wie auf der Bühne des Revolutionstheaters sollten gedrillte Fertigkeiten Produktionssphäre und Alltag in eine „neue Realität" überfuhren.14 Ebenso hatte Gastev paradigmatisch als „eiserne Losung" des „Maschinenmenschen" ausgegeben: „Der Sieg wird unser sein!"15 Allerdings hatte dieser in den 1930er Jahren dogmatisch verankerte Voluntarismus den Makel, dass er einerseits auf endogene subjektive Prozesse vertraute, welche beim Individuum zur Herausbildung des „richtigen" sowjetischen
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Bewusstseins führten, andererseits aber ein hohes Maß an äußerem Druck einkalkulierte. Aus diesem Dilemma erklärt sich, dass herausragende „übermenschliche" Leistungen weder ausschließlich auf ein optimales Training zurückgeführt, noch als bloße Folge eines unbändigen Willens deklariert wurden. Stattdessen umgab die vermeintliche Überwindung der Natur durch sowjetische Helden die Aura des „Wunders".16 In jedem Fall bot die pharmazeutische, genetische und medizinische Forschung sowohl der mechanistischen als auch der voluntaristischen Richtung Anknüpfungspunkte, um die jeweiligen Verfahren zur Disziplinierung, Steuerung und Regeneration von Physis und Psyche zu perfektionieren. Drill und standardisierte Verfahren prägten seit den späten 1920er Jahren ein Körperertüchtigungsprogramm, das alle Formen normierter oder ritualisierter Bewegung - vom Sport über die Gymnastik, das Turnen und die Eurhythmie bis hin zum Tanz - unter die Kuratel staatlicher Gesundheitsaufklärung und Leistungsmessung stellte.17 Physisch „starke" und mental „gesunde" Männer und Frauen wurden einer breiten Masse eben erst alphabetisierter Bauern und Arbeiter als Idealtypen „Neuer Menschen" präsentiert.18 Körperkultur ifizkul'turd), Sportlichkeit (sportsmenstvo) und stalinistischer Bildungs- und Verhaltenskanon (ikul'turnost) bildeten den Dreiklang des Sowjethumanismus, welcher der Lebenswelt der Sowjetbürger Rhythmus und Struktur verleihen sollte. Die Anleihen bei den modernen „Lebenswissenschaften" Physiologie, Biologie, Psychologie, Medizin, Genetik und Eugenik sowie beim technologischen Rationalismus überlagerten die Wurzeln religiös überhöhter Bewegungslehren und Körperutopien, die bei der komplexen Genese des „Gesamtkunstwerkes" eines disziplinierten, bis in die feinsten Glieder funktionalen gesellschaftlichen Organismus' ebenfalls Pate standen.19 Pavlovs „biogenetisches Grundgesetz" verknüpfte komparative, embryologische, entwicklungsphysiologische und klinische Forschungsergebnisse und bildete die Ausgangsbasis staatlich geförderter biomedizinischer Großprojekte.20 Mittels Tierexperimenten sollten die Bedingungen bestimmt werden, unter denen sich Nervensysteme perfektionierten. Ziel war die Züchtung eines „verbesserten Menschentyps".21 Massenfeste und Sportparaden sollten dazu beitragen, das Getriebe gesellschaftlicher Automation in Freizeit und Alltag zu vollenden und den Sowjetbürgern als Teilnehmern oder als Zuschauern quasisakrale Festkultur im Kollektiv zu vermitteln.22 Die Sowjetunion eröffnete ein gewaltiges spekulatives Experimentierfeld, auf dem nicht mehr scharf zwischen Wissenschaft und Projektion, Theorie und Praxis, Labor und Gesellschaft, Klinik und Privatsphäre unterschieden wurde. Für das „Vorwärts und höher", „Schneller und weiter", „Stärker und schöner" bot sich das Feld des Sports umso mehr an, als es zum Synonym für Moderni-
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tat taugte, populär war und mittels des Leistungsgedankens die Trennung zwischen Arbeitswelt und Freizeit abschwächte. „Biomechanik" und Konstruktivismus lieferten die Formeln und Folien für die „Schönheit" von individuellen und kollektiven Körpern. Schwäche, Ermüdung oder Erschöpfung bzw. Fehler, Widersprüche oder Hemmnisse erschienen im Licht der Biomechanik als beherrschbare technische Schwierigkeiten.
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Gemessen an ihrer Skandalisierung waren die empirischen Befunde über das sowjetische Doping in den Jahren des Kalten Krieges eher dürftig. Diese Schieflage hat sich inzwischen verdoppelt. Einerseits erscheint der sowjetische Fall in der auf Aktualität zielenden internationalen Debatte, bei der es vordringlich um Sportpolitik, kommerzielle Interessen und die Rolle der Medien geht, angesichts der Ausmaße gegenwärtiger Leistungsmanipulationen einer vergleichsweise harmlosen Vergangenheit anzugehören. Andererseits findet er aber auch in der historischen Dopingforschung wenig Beachtung, weil die Zugänglichkeit einschlägiger Quellen und die Bereitschaft von Zeitzeugen, sich zu äußern, sehr eingeschränkt sind. Die Analogieschlüsse, die zwischen dem Dopingsystem der DDR und den Verhältnissen im sowjetischen Sport gezogen werden, sind naheliegend. Solange eine solide Dokumentation fiir den sowjetischen Fall aber fehlt, verschleiern sie das bemerkenswerte Forschungsdefizit zusätzlich.23 Sie suggerieren ausgerechnet fiir einen Sektor strengster Geheimhaltung und professioneller Desinformation systemische Einförmigkeit. Da die Verbindlichkeit der Normen, die in den Jahrzehnten des Kalten Krieges den Gebrauch leistungssteigernder Substanzen verhindern oder wenigstens eindämmen sollten, strittig und aufgrund unzulänglicher Kontrollmöglichkeiten nicht durchzusetzen war, ersetzten Mutmaßungen, Gerüchte und moralische Empörung den Nachweis von Verstößen. Kampagnen zur Ächtung von „Betrug" im „bürgerlichen" bzw. im „kommunistischen" Sport gehörten alsbald zum festen Arsenal der propagandistischen Auseinandersetzung. Die psychologische Kriegführung verlangte, Dopingvergehen und Drogenmissbrauch möglichst ausschließlich der Gegenseite anzulasten.24 Im Kontext der Systemkonkurrenz übernahm der einerseits internationalisierte, andererseits auf beiden Seiten der ideologischen Grenzlinien unterschiedlich inszenierte Skandal die Funktion einer informellen Kontrollinstanz.25 Publikum bzw. mediale Öffentlichkeit traten als Wächter und Schiedsrichter eines „sauberen" und „natürlichen" Sports auf, ohne dass es dafür verbindliche Normen gegeben hätte. Ein von beiden Sei-
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ten anerkanntes Ordnungssystem der Leistungskontrolle kam über Ansätze nicht hinaus. Pressetexte und visuelle Zeugnisse repräsentierten spontane oder inszenierte Gegenstände öffentlicher Empörung. Sie waren dabei oft selbst das Skandalon, dem die Hauptaufmerksamkeit galt. Photographien verdächtiger Sportlerinnen und Sportler ergäben, systematisch erfasst, eine Galerie von Antihelden, die im Kampf um kulturelle Dominanz und sportliche Überlegenheit das „Andere" und das „Gegenüber" bzw. den „Betrug" und den „Verrat" von Idealen repräsentierten.26 Auf diese Weise entstand eine spezifische Ikonographie des Sports im Kalten Krieg, die sich durch eine eigene Symbolik und Emotionalität auszeichnete. Die Körper der indizierten männlichen und weiblichen Athleten wirkten ohne Worte durch ihre performative (Körper-)Sprache und wurden in einen konstruierten Gegensatz zu einer nur vage formulierten symbolischen Ordnung gestellt. Eher unwillentlich und unbewusst brüskierten oder demaskierten sie offizielle Regeln und Verhaltensnormen. So agierten sie etwa im Grenzbereich zwischen den Geschlechtern und setzten sich dem Vorwurf des Hermaphrodismus aus und wurden als „Mannweiber" oder „Männinnen" denunziert. Die „hässlichen" Körper „hochgezüchteter" „Staatsroboter", „Sportsoldaten" und „Hyperathleten" bzw. „gut geölter"„Rennmaschinen" und „Dampfwalzen" sollten schockieren, den Anschein des Widernatürlichen erwecken und das Ideal einer physischen Ordnung verfremden.27 Ein weites Feld der Spekulation eröffnete in diesem Zusammenhang das Wissen um die Möglichkeiten der Hormonbehandlung. Es herrschte Unsicherheit, ob die Sowjetunion, namentlich in der Schwerathletik, entweder Männer fur Frauen ausgab oder aber Frauen künstlich zu Männern „machte". In der Rhetorik der westlichen Medien war hinsichtlich weiblicher Athleten abwechselnd von „Amazonen" und Lesben, von „unweiblichem" und „unnatürlichem" Verhalten bzw. Aussehen oder eben von „Männern" die Rede. Beispielhaft lässt sich die Inszenierung eines Sportskandals an den Schwestern Tamara und Irina Press studieren. Sie gehörten in den 1960er Jahren zu den erfolgreichsten und populärsten Sportlerinnen der Sowjetunion. Als bei den Europameisterschaften von 1966 kurzfristig visuelle Geschlechtertests durchgeführt werden sollten, zogen sie sich überraschend vom Wettkampfsport zurück. Ihre Bestmarken etwa im Kugelstoßen, Diskuswerfen und Fünfkampf wurden unter den „männlichen" Rekorden verbucht. Aus den „Schwestern" wurden nun erst recht die „Brüder Press".28 Der Fall wurde niemals aufgeklärt. Indessen brachten die nachfolgenden regelmäßigen Geschlechtertests keineswegs immer eindeutig Aufschluss im Sinne der Kontrolleure der heterosexuellen Norm.29 Jedenfalls stellte der verengte Blick auf die Virilisierung im sowjetischen Frauensport unausgesprochen die Möglichkeit in Abrede, durch weiterentwickelte Trainingsmethoden und
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technische Ausrüstung Leistungssteigerungen erzielen zu können. Allmählich untergruben die anhaltenden Rekorde von Frauen nicht nur in der Schwerathletik das statische Bild von einem „natürlichen" Sport mit festen Orientierungsgrenzen bei Männern und Frauen.30 Gleichzeitig ging von den medial zur Schau gestellten Antihelden eine latente Faszination aus. Diese konnte um so stärker ausfallen, je weniger negativ die Körper der Sporthelden konnotiert waren, etwa wenn sie tradierten Bildern „vollkommener" Körper entsprachen oder wenn neuerdings Kinder an die Spitze des Leistungssports vordrangen und sentimentale Vorstellungen von Leichtigkeit und Grazie weckten, die Extrembelastung aber ebenso ausblendeten wie die fast zwangsläufige Einnahme unerlaubter Mittel.31 Die Geschwindigkeit, mit der sowjetische Athleten nach 1952 die internationale Sportszene eroberten, nährte umgehend den Verdacht, es könnten unlautere Methoden angewendet und Mittel eingesetzt worden sein. Dies war einerseits eine Reaktion auf entsprechende Gerüchte über nationalsozialistische Experimente mit Steroiden, die meist ohne die Möglichkeit einer Uberprüfung auf die Sowjetunion übertragen wurden.32 John D. Ziegler, Teamarzt der amerikanischen Gewichtheber bei der Weltmeisterschaft in Wien 1954, behauptete, in der sowjetischen Mannschaft würde Testosteron verabreicht. Es werde auch an weibliche Athleten ausgegeben. Während sich danach die Debatte um den Nexus zwischen der nationalsozialistischen Erprobung von Steroiden und der stalinistischen Nachahmung in einem kleinen Kreis von Experten und interessierten Laien namentlich der angloamerikanischen Welt verselbstständigte33, gehörten die Hormonbehandlung bei männlichen Sportlern bzw. die Maskulinisierung von Frauen zum festen Bestandteil der westlichen Berichterstattung über sowjetische Rekorde. Es war diesbezüglich von der „Atombombe" des Sports im Kalten Krieg die Rede.34 Der „Übermensch" der utopischen Konzepte der Zwischenkriegszeit war demnach zum Steroiden Hybrid mutiert. Bemerkenswert erscheint, dass die internationale Forschung zur so genannten „pharmakologischen Revolution" in den 1950er und 1960er Jahren maßgeblich, wenn nicht ausschließlich die Entwicklung in den westlichen Industrieländern untersuchte, die Medien aber die Folgen fur den Sport vornehmlich bei osteuropäischen Sportlerinnen und Sportlern zu finden versuchten. Zwischen der vermuteten Medikalisierung des Sports in Osteuropa und der diagnostizierten „Medikalisierung der Gesellschaft" im Westen wurde scharf unterschieden, obgleich beide untrennbar zusammengehörten.35 Wirksamere und gezielter einsetzbare Arzneien mit weniger schädlichen Nebenwirkungen senkten die Hemmschwelle sie zu verordnen oder eigenständig einzunehmen. Als selbstverständlich galt alsbald, angesichts der Leistungsexplosion im Sport den Athleten
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eine intensive medizinische Betreuung angedeihen zu lassen. Nicht mehr der verletzte Sportler stand im Zentrum der Sportmedizin, sondern die Prävention. Die Grenzen zwischen Gesundheitsvorsorge durch „legale" Vitaminpräparate oder Nahrungsergänzungsmittel und leistungsfördernder Behandlung durch „illegale" Drogen verschoben sich stetig.36 Die jüngere Spitzenforschung in den westlichen Industriestaaten untersucht die Entwicklung von Mitteln zur Leistungssteigerung, zur Vertuschung ihrer Anwendung und zur Körperoptimierung insgesamt, ohne die Sowjetunion angemessen einzubeziehen.37 Der nichtmedizinische Einsatz von Dopingmitteln war indessen nicht nur Folge des erhöhten Wettbewerbs zwischen den Sportsystemen in Ost und West. Von der allgemeinen Welle erhöhten sportlichen Leistungsstrebens wurden nach dem Zweiten Weltkrieg stetig wachsende Teile der Gesellschaft erfasst. Wie stark dabei der Gebrauch von Medikamenten ausgeprägt war, hing entscheidend von der Verfügbarkeit ab. In dieser Hinsicht muss von grundlegend anderen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen etwa in den USA und in der Sowjetunion ausgegangen werden. Für letztere hat mit Blick auf den Leistungssport der Begriff vom Doping als einem „geschlossenen System" also eine prinzipielle und eine spezifische Bedeutung.
Militärmedizin und Physiologie
In der Forschung zur Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts herrscht Konsens darüber, dass sich die Sphären von Militär und Natur- bzw. Technikwissenschaften im Zweiten Weltkrieg in bis dahin unbekanntem Ausmaße gegenseitig durchdrangen. Dieser Vorgang verfestigte sich im Kalten Krieg und führte zu einer beispiellosen Aufwertung der Hochtechnologie, zur Interaktion zwischen Forschern und Ingenieuren, Förderinstanzen, Regierungspolitik und Ideologien.38 Offen ist indessen, in welcher Weise sich die spezifischen kulturellen Rahmenbedingungen der Sowjetunion und die hier noch sehr junge Erfahrung mit der Bündelung nahezu aller Ressourcen auf wissenschaftliche und technologische Großprojekte sowie die traditionell enge Verzahnung von Militär, Wissenschaft und Politik konkret auswirkten. Im Blick auf die Militär- und nachfolgend auch auf die Sportmedizin erscheint es durchaus plausibel, wie in den USA nicht mehr nur von einem „militär-industriellen", sondern von einem „militärisch-industriell-akademischen" bzw. „militärisch-intellektuellen Komplex" zu sprechen.39 Der sowjetische Sport konnte und wollte lange Zeit seine Herkunft aus dem Militärischen weder ablegen noch leugnen. Bis in die Spätphase des ersten sozialistischen Staatswesens hinein prägten Tugenden wie Disziplin, Ordnungsliebe,
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Präzision oder Pünktlichkeit das offizielle Sportverständnis wie auch das Außenbild von Organisationen, Veranstaltungen und Sportlern. Die Symbiose aus Sport, Militär und Sicherheitsdiensten bedingte, dass sportliche Betätigung zunächst und in erster Linie (para-) militärisches Training meinte. Maschinelle Abläufe dienten auch hier als Vorbild effektiver menschlicher Aktion. Sie symbolisierten fehlerfreie Bewegungs-, Haltungs- und Reaktionsmuster in der Kriegswirtschaft und der Armeeorganisation.40 Die Erprobung und Anwendung von leistungssteigemden Mitteln war in der frühen Sowjetunion ein aufstrebender Zweig der Militärmedizin. Bis 1925 hatte Pavlov den Lehrstuhl für Physiologie an der Militärmedizinischen Akademie (MMA) geleitet und Truppenärzte für physiologische Experimente begeistern können. Unter seinem Schüler und Nachfolger Leon A. Orbeli (1882-1958), einem ehemaligen Flottenarzt, wurde die Forschung nicht nur intensiviert, sondern auch stärker auf Nutzanwendung ausgerichtet. Er folgte damit Stalins Postulat vom Primat der Praxis. Nach Orbelis Ansicht entwickelte sich die Physiologie zu einer Leitwissenschaft, deren Erkenntnisse nicht nur Medizinern (Neuropathologen, Chirurgen, Therapeuten), sondern auch allen Waffengattungen der Armee als Offenbarung erschienen. Durch Integration der Wissenschaftler in den Militäralltag, durch Einsatz im Unterseeboot, im Panzer, im Flugzeug oder während Artilleriefeuers sollten „Denkanstöße" zur Lösung theoretischer Fragen und für die „physiologische" Verbesserung der militärischen Alltagspraxis gewonnen werden.41 Die Militärmedizin entwickelte detaillierte Pläne für die Ernährung und Körperertüchtigung der Rotarmisten, Dekompressionspläne und Gasgemische für Taucher, U-Bootbesatzungen und Stratosphärenpiloten.42 An der Spezialforschung war unterdessen auch das Leningrader Lesgaft-Institut für Körperkultur beteiligt. Es widmete sich der Nierenphysiologie, insbesondere dem Wasser-Salz-Gleichgewicht des Organismus und der angemessenen Trinkzufuhr unter Belastung.43 Was aus Orbelis Sicht noch weitgehend auf die Belange der militärischen Praxis abgestellt war, nämlich über das „sympathische System" Einfluss auf Konstitution und Empfindlichkeit der Sinnesorgane, die Reaktionsfähigkeit des Zentralnervensystems sowie auf die Leistungsfähigkeit des Muskelgewebes zu nehmen, fand über den Militärsport allmählich Eingang in die Zentren des zivilen Leistungssports in den 1930er Jahren. 44 Eine Fülle von Anleitungen und Schulungshandbüchern bestätigt dies.45 Was zunächst der Verbesserung der Ausdauer bei Gewaltmärschen diente, ließ sich auf andere Belastungen übertragen. Dies galt auch für den Einsatz von Drogen, um einem Leistungseinbruch bei Piloten oder Panzerfahrern vorzubeugen.46 Eine Serie von sensationellen Rekorden schien den stetig wachsenden Aufwand der „physiologischen" Forschung zu rechtfertigen, brachte er der Sowjet-
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union doch ungeachtet der Kritik an den Zwangsmethoden des sozialistischen Aufbaus den Nimbus ein, Unmögliches möglich zu machen. Spektakuläre Polarexpeditionen und Rekordflüge von Flugzeugen und Stratosphärenballons kündeten von einer atemberaubenden technologischen Aufholjagd. Der Sowjetmensch hob an, die Naturkräfte zu bezwingen und buchstäblich „den Himmel zu stürmen".47 Die Fliegerhelden, „Stalins Falken", repräsentierten in der Propaganda eine neue Leichtigkeit des Seins, eine Überschreitung natürlicher Grenzen, die Potenzierung menschlicher Leistungskraft. Das Motto der Piloten „Höher, weiter, schneller" - wurde zum Inbegriff der sowjetischen Moderne und nährte den Glauben an jene Wunder, die in den vorrevolutionären Utopien vorformuliert waren.48 Nietzsches Ubermensch nahm als Aeronaut, Tankist, Fallschirmspringer oder sonstige Verkörperung schierer Willenskraft Gestalt an. Die Physiologie beanspruchte, maßgeblich für deren Rekorde und Heldentaten verantwortlich zu zeichnen. Wann genau der in den 1930er Jahren konzeptuell entworfene sowjetische Leistungssport von der Biomechanik (d.h. dem Taylorismus und den Trainingswissenschaften) auf pharmakologisch-medikamentöse Leistungsförderung umgestellt wurde, ist heute noch nicht präzise zu sagen. Bekannt ist etwa, dass eine Arbeitsgruppe unter Aleksandr G. Ginecinskij (1895-1962), einem Schüler Orbelis, Mitte der dreißiger Jahre Amphetamine (im Weltkrieg auch Pervitin) an Piloten, U-Bootbesatzungen und Panzerfahrern erprobte. Der Erfolg, eine offenkundige Leistungsstimulanz, steigerte das Prestige der Physiologen noch weiter.49 Da diese Forschung der Geheimhaltung unterlag und eine breite wissenschaftliche Debatte über die Konsequenzen etwa für die Kriegsführung, für die Weltraummedizin oder eben auch für den Hochleistungssport nicht geführt werden durfte, liegt vieles im Dunkeln. Es ist wohl nicht allzu gewagt, Orbelis „Physiologie extremer Bedingungen" auch mit den Sportexperimenten seit den 1930er Jahren in Verbindung zu bringen. Am Allunionsinstitut für Experimentelle Medizin (AIEM) in Koltusi gingen Forscher daran, die Auswirkungen des Sauerstoffmangels auf den Organismus und das Schmerzempfinden zu untersuchen.50 Es ist wahrscheinlich, dass die Militärmedizin die Standards für die sowjetische Sportmedizin setzte. Doch sind von der unter Stalin exorbitant geförderten biomedizinischen Großforschung, der Kombination aus Evolutionsbiologie, Genetik und Neurobiologie, erst Umrisse bekannt.51 Die verheerende „Lysenko-Affaire", der Skandal um den proletarischen Aufsteiger und Autodidakten Trofim D. Lysenko (1898-1976), der mit windigen Argumenten einen Kausalnexus zwischen „bedingten Reflexen" und Vererbung konstruierte, vom „wahren" Erbe Pavlovs sprach und sich mit höchster Protektion zum Kritiker genetischer Gesetze aufschwingen durfte, hat die seriösen Wissenschaften um
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Jahre zurückgeworfen bzw. wegen der virulenten antiwestlichen Affekte zeitweise sogar marginalisiert.52 Überhaupt unterlagen die „Lebenswissenschaften" Biologie, Medizin und Behaviorismus einer scharfen ideologischen Kontrolle, gerade wenn sie, wie etwa das im Jahr 1957 von Orbeli eröffnete Secenov-Institut für evolutionäre Physiologie und Biochemie in Leningrad um seriöse Forschung bemüht waren.
S p o r t m e d i z i n und „ S t a a t s d o p i n g "
Trotz der strengen ideologischen Kontrolle der Wissenschaften durch die politische Führung in Moskau ist anzunehmen, dass Forscher unter Hinweis auf den Systemwettbewerb professionelle Forderungen durchsetzen konnten.53 Inwieweit die Abhängigkeit der Politik von der wissenschaftlichen Beratung intellektuelle Freiräume nicht nur in der Hochtechnologie, sondern auch in der Sphäre des Sports und der Sportmedizin zuließ, muss noch geklärt werden. Strittig ist jedenfalls, ob die Einbußen an politischer Unabhängigkeit tatsächlich durch einen Zugewinn an akademischer Autonomie ausgeglichen werden konnten. Man wird aber behaupten können, dass die Sportmedizin, die Biologie und die Pharmazie zu jenen Disziplinen gehörten, fur die der Kalte Krieg eine beispiellose Aufwertung mit sich brachte.54 Insofern kann von einer breiten gesellschaftlichen Umwälzung gesprochen werden, die neben dem wissenschaftlichen Forschungsbetrieb das Feld des Sports erfasste und zum neuen Massenmedium bzw. zentralen Austragungsmodus des Systemkonflikts umformte. War das Doping schon zuvor ein Wesensbestandteil des Hochleistungssports, so wurde es nun nicht länger der individuellen Entscheidung der Athleten überlassen. Wenn der unbedingte Erfolg bei internationalen Großveranstaltungen im Staatsinteresse lag, musste die Politik Rahmenbedingungen schaffen, die ihn garantierten. Körperoptimierung und ergänzende Stimulanzien unterlagen gleichsam dem Systemzwang. Für sie mussten wichtige Bereiche der Forschung organisatorisch zusammengeführt und technologisch aufgerüstet werden. Entwicklung, Erprobung und Anwendung von leistungssteigernden Substanzen setzten den effektiven Einsatz der verfügbaren Ressourcen voraus. Sie unterlagen zunächst weniger wegen der Achtung des Dopings der Geheimhaltung, sondern vielmehr wegen der Sicherstellung des entscheidenden Wissensvorsprungs. Enthüllungen aus den eigenen Reihen kamen daher dem „Verrat" von „Staatsgeheimnissen" nahe. Die Sportmedizin erreichte den Status eines sensiblen, hochentwickelten und extrem zentralisierten Großforschungsbereiches.55 Eine Trennung zwischen
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Grundlagenforschung und angewandter Forschung war bei diesem Grad der Spezialisierung und Zweckbindung kaum möglich. Angesichts der besonderen Entstehungsbedingungen des stalinistischen Wissenschaftsbetriebs unterschied sich die „westliche" Sportfürsorge nach dem Zweiten Weltkrieg keineswegs nur graduell von der sowjetischen. Abgesehen von einer respektablen Ausstattung mit hoch qualifizierten Spezialisten (Ärzten, Psychologen, Physiotherapeuten, Trainern) und einer ausgeprägten finanziellen Förderung fehlte es lange Zeit an einem vergleichbar intensiven Ausbau des sportmedizinischen Bereichs. Der Begriff Sportmedizin (sportivnaja medicind) als Kennzeichnung einer gesonderten wissenschaftlichen Disziplin wurde in der Sowjetunion erst in den 1970er Jahren festgeschrieben. Er markierte allerdings nicht den Einstieg in eine neue Phase medizinischer Betreuung, sondern den Abschluss einer langen Entwicklung, die neben der akademischen Forschung den gesamten Gesundheitssektor und die körperkulturelle Praxis umfasste. Spätestens seit dem Eintritt in die internationale Konkurrenz nach dem Zweiten Weltkrieg gehörten integrierte sportmedizinische Forschungszentren und Laboratorien zum Standard. Unter Federführung des Gesundheitsministeriums mit angeschlossenen Forschungsinstituten, der Akademie für Medizinwissenschaften und dem Staatlichen Komitee für Körperkultur und Sport verfügte die Sportmedizin über ein zentralistisch organisiertes Netz von Abteilungen auf allen administrativen Ebenen bis hinunter zu den Klubs in Betrieben und Massenorganisationen. Sportmediziner in diesem Sinne waren einerseits hoch spezialisierte Gelehrte für die Behandlung von Sportverletzungen und die Rehabilitation, sollten andererseits aber universelle Berater aller Arten von Sportlern und ihrer Betreuer sein. Ausgebildet in Fragen der praktischen Physiologie, funktionellen Anatomie und Kinetik wirkten sie bei der Talentsuche, der Verteilung von Kindern auf Sportschulen und der Erstellung von allgemeinen und individuellen Trainingsprogrammen mit oder gaben geschlechtsspezifische Auskunft über körperliche Belastbarkeit, Ausdauer, Hygiene, Ernährung und Gesundheitsvorsorge. Sie waren ein wichtiges Bindeglied zwischen Amateurund Spitzensport. An die Öffentlichkeit drangen nur solche Ergebnisse, die von Bedeutung für den allgemeinen Sportsektor waren. Sensible wissenschaftliche Erkenntnisse über Möglichkeiten der Leistungssteigerung wurden hingegen verschleiert. In der Sowjetunion war die Öffentlichkeit von dieser strikt limitierten, innerwissenschaftlichen Debatte weitgehend ausgeschlossen. Ein vergleichbares Organ wie die seit 1961 monatlich erscheinende Fachzeitschrift „Medizin und Sport" in der DDR gab es nicht. Wie der Sport ein integraler Bestandteil der modernen Gesellschaft ist, so sind auch die in seinen Dienst gestellten Wissenschaften in ihrer Rückbindung
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an die kulturellen und politischen Rahmenbedingungen zu betrachten. In jedem Fall sind neben dem Sportler auch der Forscher, der Funktionär und der Politiker neu zu bewerten, wenn das Doping im Kalten Krieg im Allgemeinen und das in der Sowjetunion im Besonderen untersucht werden. Wie es scheint, hat es diesbezüglich einige vereinheitlichende Tendenzen in Ost und West gegeben, die eher die gemeinsamen Züge der Leistungsmanipulation hervortreten lassen. Doch bedarf es darüber hinaus der Klärung, worin die Eigenarten des jeweiligen Dopings bestanden und wodurch sie sich von den grenzüberschreitenden, intersystemischen Wirkungen unterschieden. Uber den Transfer sportpraktischen Wissens und effektiver Organisationsverfahren aus der DDR in die Bundesrepublik sind wir inzwischen recht genau unterrichtet.56 Wie stand es aber mit der sowjetischen wissenschaftlichen „Leitkultur" in Osteuropa und speziell in der DDR auf diesem Feld?57 Die in den letzten Jahren diskutierte These vom „Staatsdoping", d.h. einem System, in welchem staatliche Instanzen die Herstellung, den Test, die Beobachtung, die Verteilung und die Verabreichung von leistungsfördernden Substanzen verantworteten, wird wie selbstverständlich auf den Sowjetsport übertragen, obwohl gerade über dessen Modellcharakter auf diesem Feld wenig bekannt ist. Dieser Aspekt verdient deshalb besonderes Augenmerk, weil er ein wesentliches Unterscheidungskriterium zwischen dem Doping in Ost und West darstellt. Es geht nicht nur um den Nachweis eines geschlossenen „staatlichen" Systems der Leistungssteigerung. Vielmehr sind daran auch grundlegende Fragen des Wissenschaftsverständnisses, der Verfugungshoheit über wichtige Zweige der Forschung, des Sponsoring der „Lebenswissenschaften" und nicht zuletzt der gesellschaftlichen bzw. öffentlichen Vermittlung extrem riskanter Labor- und Feldversuche sowie einer Wissenschaftsethik geknüpft. Für die Jagd nach prestigeträchtigen Siegen war neben der effektiven allgemeinen Organisationsstruktur zweifellos ein nicht minder straffes und zudem verdecktes Doping-Netzwerk vonnöten, dessen Kernstück in Russland bzw. Moskau gelegen haben dürfte. Auf der Makroebene folgten dem Politbüro und dem Zentralkomitee die oben skizzierten sportmedizinischen Strukturen mit dem Gesundheitsministerium an der Spitze und das Staatskomitee für Körperkultur und Sport (Sportministerium).58 Weitere landesweite Einrichtungen wie das Olympische Komitee besaßen formal ebenso wenig Autonomie wie die unterhalb der Unionsebene angesiedelten Ministerien und Sportkomitees der Republiken oder der kleineren Verwaltungseinheiten. Gleichwohl gewähren Enthüllungen aus sowjetischen Sportler- und Funktionärskreisen über konkrete Sachverhalte erhellende Einblicke in die Praktiken der „Sieg-um-jeden-Preis"-Mentalität und in die Konsequenzen der wachsenden
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Bevorzugung des Hochleistungssports gegenüber dem Breitensport nach dem Zweiten Weltkrieg.59 So bestätigte der Vorsitzende des sowjetischen Gewichtheberverbandes, Jurij Vlasov, in einem Bericht für die Zeitung SovetskijSport aus dem Jahr 1991, sowjetische Athleten hätten neben dem üblichen Trainerstab auch einen „pharmakologischen Betreuer" gehabt. Er nannte sogar Namen von Funktionären bzw. Sportlern, die - allerdings erst nach 1968 - anabole Steroide verabreichten bzw. verabreicht bekamen.60 Beispiele ließen sich auch aus Sportarten wie dem Skilanglauf oder dem Schwimmen anfuhren.61 Hier wird auch von Kontrolltests vor der Abreise der Athleten ins Ausland berichtet, die eine Entdeckung des Missbrauchs verhindern sollten. Bei den Olympiaden von 1976 in Montreal und von 1988 in Seoul habe ein unverdächtiges Boot als Medizinisches Zentrum eben diesem Zweck vor Ort gedient.62 Glaubte man diesen und anderen Berichten der späten Perestrojka, so wäre die systematische Einnahme anaboler Steroide also erst vergleichsweise spät, gegen Ende der sechziger oder Anfang der siebziger Jahre, erfolgt. Andere Mittel wie etwa Amphetamine sind nach individuellen Zeugnissen („mit eigenen Ohren gehört") bereits in den fünfziger Jahren eingesetzt worden. So soll der Betreuer der Radfahrer, Leonid Seleznev, Sportminister Romanov inständig um die Beschaffung von Aufputschmitteln gebeten haben, weil ansonsten „wir keine Siege erwarten können".63 Die erste Packung Tabletten habe das Team 1960 in Rom erhalten. Ein eigenes Kapitel bildet das Doping von Mindeijährigen in Sportarten wie dem Geräteturnen. Hier geht es vornehmlich um Muskelaufbau oder Wachstumshemmung. Die Hinweise reichen im Einzelfall von der Verabreichung anaboler Steroide über die Ausübung extremen psychischen Drucks und körperliche Züchtigung bis hin zu Uberanstrengung, Mangelernährung und Manipulation von Geburtsdaten in gefälschten Auslandspässen.64 Elena Muchina, die sich bei der Vorbereitung auf die Olympiade von Moskau 1980 bei einem Sturz schwer verletzte und vom Hals abwärts gelähmt blieb, wurde in der kurzen Phase selbstkritischer Auseinandersetzung mit dem Kinderdoping exemplarisch für die Fehlentwicklungen angeführt.65 Nicht minder brisant sind vermutlich durch Doping verursachte Todesfälle. Darüber hatte es bereits in den 1980er Jahren konkrete Anhaltspunkte gegeben.66 Gegenüber der langen Liste von publizistischen Einzelbelegen, die vieles vermuten lassen, aber die These vom „Staatsdoping" nicht schlüssig stützen können, besitzt ein vertrauliches Dokument des Moskauer Staatlichen Instituts für Körperkultur aus dem Jahre 1972 - so es denn tatsächlich der Überprüfung und der Gegenprobe durch weitere Zeugnisse standhält - ein ungleich höheres Gewicht und könnte die Forschung wesentlich voranbringen.67 Die besonderen Umstände der Publikation, die über zehn Jahre nach dem offiziellen Ende des Kalten Krie-
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ges als durchaus erstaunlich gelten dürfen, werfen eine Reihe quellenkritischer Fragen auf. Das vertrauliche Dokument aus dem Jahre 1972 ist nicht im Wortlaut veröffentlicht worden. Sein Inhalt ist lediglich anhand eines detaillierten, kommentierenden Beitrags rekonstruierbar.68 Doch schon diese Grundzüge gewähren in bislang einzigartiger Weise Einblick in interne Abläufe und Verfahren bei der Erforschung und Vergabe von anabolen Steroiden in der Sowjetunion. Auf knapp vierzig Seiten werden Ergebnisse mehrerer Studien und Testreihen bilanziert, die das Forschungslabor für Trainingssteuerung und Leistungsphysiologie beim Zentralen Staatlichen Institut flir Körperkultur in Moskau durchführte. Unter Verweis auf einschlägige Versuche und Vorarbeiten erörtern die Autoren sehr konkret die Wirkung von anabolen Steroiden („Nerobol" bzw. „Dianabol", Retabolil bzw. Deca-Durabolin) auf die Körperfunktionen und hinsichtlich sportlicher Ausdauer- und Kraftleistungen. Sie beziehen sich beispielsweise auf die Disziplinen Biathlon, Ringen, Fechten, Rudern, Basketball, Gewichtheben, Boxen, Bodybuilding („Kraftgymnastik") und Leichtathletik. Leistungssportler erhalten darin Empfehlungen zum geeigneten Zeitpunkt, zur Dosierung und zum optimalen Einsatz der Mittel in unterschiedlichen Disziplinen. Ein Abschnitt ist möglichen Nebenwirkungen, ein weiterer den Einnahmekontrollen gewidmet. Von einer vorherigen Aufklärung der Testpersonen über mögliche Risiken oder von Einverständniserklärungen ist nicht die Rede. Bei Gewichthebern wurde ein „Hochdosierungsschema" angewandt, welches vorsah, die Einnahme von Nerobol innerhalb von zwölf Tagen von 5 mg am ersten auf 390 mg am letzten Tag zu steigern. Dabei sei beobachtet worden, dass sich innerhalb weniger Tage das subjektive Empfinden, „kräftiger zu sein", deutlich erhöhte, der Appetit zunahm, eine positive Grundstimmung den Wunsch, härter zu trainieren, weckte und sich die Regeneration beschleunigte. Vor allem aber steigerten die Substanzen die sportliche Leistungsfähigkeit beträchtlich. Hingegen wurde nach Beendigung der intensivierten Vergabe festgestellt, dass sich die Stimmung der Athleten eintrübte und die Erholung verzögerte. Die Trainingsroutine wurde offenkundig wieder zur Last. Mit Blick auf die Nachwirkungen der Steroide sprechen die Autoren von Symptomen, wie sie bei „Drogensüchtigen" aufträten.69 Es bleibt vorerst nur eine Vermutung, dass diese ausschließlich „für den Dienstgebrauch" verfasste Handreichung die Verbreitung und den Missbrauch anaboler Steroide unter sowjetischen Athleten stark beschleunigte. Unabhängig davon handelt es sich um ein brisantes Quellenstück, auf das weder die russische noch die internationale sporthistorische Forschung bislang angemessen reagiert hat. Inzwischen wurden in einer Fachzeitschrift weitere Aspekte des sowjetischen Dopings konkretisiert, die in dem Zeugnis von 1972 nicht erwähnt waren.70 Insbesondere geht es hierbei zum einen um das verbreitete, unter Akti-
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ven gelegentlich auch als hoch dosiertes „Wundermittel" zur Nahrungsergänzung bezeichnete, offiziell nicht verbotene Kreatin, welches in der sportmedizinischen und ernährungswissenschaftlichen Forschung aber mit Schädigungen von Magen, Leber, Nieren und Kreislauf und mit Krampfneigungen in Verbindung gebracht wird. Es fand auch im Westen etwa unter Kurzstreckenläufern großen Zuspruch 71 . Zum anderen wird die Anwendung des vom Internationalen Olympischen Komitee verbotenen Blutdopings durch sowjetische Ausdauersportler in Lauf- und Schwimmdisziplinen, bei Radfahrern, Ruderern, Ski- und Schlittschuhläufern sowie bei Biathleten in den 1970er und 1980er Jahren untersucht, für das es bislang keine dokumentarischen Nachweise gab. Es bestätigt sich die über Jahrzehnte gewachsene Verquickung politischer, wissenschaftlicher und sportlicher Interessen. Sei es, dass der Staat für die Einrichtung wissenschaftlicher und sportlicher Institute allein verantwortlich zeichnete, sei es, dass er die leitenden Kader besetzte, die wichtigen Forschungsaufträge vergab und alle Entscheidungen und Verfahren überwachte. Hingegen bleiben die Akteure weitgehend im Dunkeln. Am ehesten lässt sich eine forschungsgeschichtliche Kontinuität nachzeichnen, bei der allerdings die heiklen Felder in der Biochemie, Biologie und Genetik weitgehend ausgeklammert bleiben. 72
Schluss: Die G r e n z e n der Überlegenheit
Der Hochleistungssport übte beim Aufbau der kommunistischen Diktatur auf die Sowjetfiihrung eine besondere Faszination aus. Metaphern konditionierter Körper und organischer Funktionalität entsprachen dem strikt hierarchischen Herrschaftsprinzip. J e disziplinierter die Glieder einer Gesellschaft agierten, desto leistungsfähiger war der Gesamtmechanismus. Die Übertragung dieses Prinzips auf den Systemwettstreit nach dem Zweiten Weltkrieg barg indessen ein beträchtliches Risiko. Da nun internationale Regeln galten, verloren die bislang nur nach innen postulierten Standards für den Kampf um „Vollkommenheit" (sovensemtvo; soversenstvovanie) ihre Allgemeingültigkeit. Die Serienrekorde der zwei Jahrzehnte nach dem ersten sowjetischen Olympiaauftritt 1952 schienen die Grundannahme zu bestätigen, den Sozialismus in seinem Lauf halte auf seinem stets nach vorn und aufwärts fuhrenden Weg zu einer idealen Zukunft kein Gegner auf. Militärisch war ein scheinbar übermächtiger Gegner im Weltkrieg besiegt und die atomare Waffengleichheit mit den U S A in wenigen Jahren erreicht worden. Mit dem Sputnik enteilte man der kapitalistischen Supermacht auf dem Gebiet der Weltraumtechnik, und im Wohlstandsniveau - so ließ es sich zumindest der euphorisierte Chruscev nicht nehmen zu behaupten - werde es
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den Sowjetbürgern 1980 besser als den Amerikanern gehen. Was anderes konnten die unwiderstehlichen Siege in den olympischen Disziplinen bedeuten, als dass die Sowjetunion auch die Kür bravourös meistern würde, nämlich die dauerhafte Überlegenheit im Leistungssport, dem heimlichen Maßstab für die Modernität des sowjetischen Gesellschaftsmodells und Lebensstils, zu demonstrieren. Aufgrund eines verschärften Wettbewerbs wurden allerdings die Grenzen dieser Überlegenheit allmählich sichtbar. Es ist eine offene Frage, ob die Spirale bei der Einnahme leistungsfördernder Substanzen bzw. bei der Anwendungfragwürdigeroder verbotener Methoden von der Sowjetunion eher offensiv (von Beginn an) oder eher defensiv (zur Statussicherung) gedreht worden ist. Nach der amerikanischen Mondlandung, der defizitären Versorgungslage der Bevölkerung unter Breznev und einer ruinösen Rüstungspolitik sahen sich auch die sowjetischen Supermänner und Superfrauen im Sport einer immer dichteren Konkurrenz, nicht zuletzt auch systemimmanent seitens der DDR in der Leichtathletik oder seitens der CSSR im Eishockey, ausgesetzt. Die Bioutopien vom Jahrhundertbeginn um Unsterblichkeit und physische Perfektibilität schrumpften zum alltäglichen Kampf ums Überleben bei den immer zahlreicheren Wettbewerben der Welt. Wie andere Sportnationen stieß auch die Sowjetunion im Leistungssport an die natürlichen und danach an die künstlich nach vorn verschobenen Grenzen physischer Leistungskraft. Folgt man den Worten eines fuhrenden sowjetischen Pharmakologen und Sportwissenschaftlers, so ging aus der Systemkonkurrenz im Sport deijenige als Sieger hervor, der sowohl über Meister optimaler Medikation und Dosierung verfügte als auch die Kunst der Maskerade am besten beherrschte. Wörtlich wird er mit den Worten zitiert: „Ich bin kategorisch gegen den Gebrauch von Stimulanzen im Jugendsport. Der Hochleistungssport ist jedoch ein ganz besonderer Fall. Zu allererst hat er nichts mit Gesundheitsdingen zu tun. Er ist, wenn Sie so wollen, ein Experiment, das Menschen bewusst unternehmen. [...] Nicht jeder Betreuer ist in der Lage, ein Schema zu erstellen, das Uberdosen verhindert und Risiken vermeidet. Im Grunde hat die Frage nach dem Ergebnis eines Dopingtests überhaupt keinen Sinn [...]. Ist ein Test negativ, heißt das lediglich, dass die pharmakologische Vorbereitung richtig ausgeführt worden ist. Ist er positiv, dann ist der Betreuer ein Idiot." 73
Die Wortführer der gegenwärtigen Debatte in Russland blenden in vergleichbarer Weise diese Schattenseiten aus, wenn sie eine Reaktivierung des Erfolgsmodells „Sowjetsport" propagieren. Es mutet wie eine Ironie der Geschichte an, dass am Beginn des neuen Jahrtausends das Wechselspiel zwischen Gerücht, Skandal, Entlarvung und Camouflage, das die Jahrzehnte des Kalten Kriegs
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prägte, unter den veränderten internationalen politischen und sportlichen Rahmenbedingungen eine Neuauflage zu erleben scheint.74 Die Bilanz der Opfer und der Kosten fur den Breitensport, für die Gesundheit der Leistungssportler und für das Sportkonzept insgesamt steht noch aus.
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Das Gegenteil legen nahe Ivan Waddington, Sport, Health and Drugs, London 2000, S. 117; Robert Voy, Drugs, Sport, and Politics, Champaign/Ill. 1991, S. 8f. Siehe etwa Hans Joachim Teichler, Vom Lehrling und Musterschüler zum Konkurrenten. Die sportpolitischen Beziehungen der DDR zur UdSSR, in: Semmelweis University Faculty of Physical Education and Sport Sciences (Hg.), Congress of the International Society for the History of Physical Education and Sport I S H P E S ( 6 , 1 9 9 9 , Budapest), Budapest 2 0 0 2 , S. 2 9 6 - 3 0 3 ; ders., Die Doping-Kontroverse zwischen der Sowjetunion und der DDR 1988, in: Hans-Joachim Seppelt/Holger Schück (Hg.), Anklage: Kinderdoping. Das Erbe des DDR-Sports, Berlin 1 9 9 9 , S. 2 9 9 - 3 0 6 . Offenbar schottete die Staatssicherheit deutsche Labors wie das in Kreischa recht erfolgreich vor den Augen der russischen Kollegen ab. Grundlegend John Hoberman, Testosterone Dreams. Rejuvenation, Aphrodisia, Doping, Berkeley 2005; ders., Mortal Engines, New York 1992. Boris Groys/Michael Hagemeister (Hg.), Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2005; Heiko Stofli Ewige Jugend. Konzepte der Verjüngung vom späten 19. Jahrhundert bis ins Dritte Reich, Köln 2004; Bernd Wedemeyer-Kolwe, „Der neue Mensch". Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Würzburg 2004. Torsten Rüting, Pavlov und der neue Mensch. Diskurse über Disziplinierung in Sowjetrussland, München 2002; Daniel P. Todes, Pavlov's Physiology Factory. Experiment, Interpretation, Laboratory Enterprise. Baltimore 2002, S. 348-354. Irina E. Sirotkina, Istorija Central'nogo instituta truda. Voploscenie utopii, in: Voprosy istorii estestvoznanii i techniki 2 (1991), S. 67-72; Kurt Johansson, Aleksej Gastev. Proletarian Bard of the Machine Age, Stockholm 1983. Margarete Vöhringer, Avantgarde und Psychotechnik. Wissenschaft, Kunst und Technik der Wahrnehmungsexperimente in der frühen Sowjetunion, Göttingen 2007. Aleksandr A. Bogdanov, Bor'ba za ziznesposobnost', Moskau 1927. Vgl. die englische Ausgabe mit Beiträgen und Kommentaren des Herausgebers und Ubersetzers Douglas W. Huestis: Alexander Bogdanov, The Struggle for Viability. Collectivism Through Blood Exchange, Tucson 2001. Siehe auch Margarete Vöhringer, Blut und Proletkul't. Alexander Bogdanovs Arbeit am Allgemeinen, in: Michael Hagner/Manfred D. Laubichler (Hg.), Der Hochsitz des Wissens. Das Allgemeine als wissenschaftlicher Wert, Zürich 2006, S. 291-313. Eric Naiman, Discourse Made Flesh. Healing and Terror in the Construction of Soviet Subjectivity, in: Igal Halfin (Hg.), Language and Revolution. Making Modern Political Identities, London 2002, S. 287-316; Aleksej A. Zamkov, Gravidan ν medicine, in: Novyj Mir 1935, Nr. 8, S. 190-212.
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10 So etwa Lev D. Trockij in seiner programmatischen Schrift von 1925 über die Revolutionierung des Alltagslebens in Sowjetrussland (hier zitiert nach der englischen Ausgabe Leon Trotsky, Problems of Everyday Life, New York 1973, S. 243). Zum Transfer des Fordismus und Taylorismus in die Sowjetunion Alan M. Ball, Imagining America. Influence and Images in Twentieth-Century Russia, Lanham 2003; Kendall Ε. Bailes, Alexei Gastev and the Soviet Controversy Over Taylorism, in: Soviet Studies 29 (1977), Nr. 3, S. 373-394; ders., The American Connection. Ideology and the Transfer of American Technology to the Soviet Union, 1917-1941, in: Comparative Studies in Society and History 3 (1981), S. 421-448. 11 Hans Günther, Der Bau des Weißmeerkanals als Laboratorium des neuen Menschen, in: PetraJosting/Jan Wirrer (Hg.), Bücher haben ihre Geschichte. Norbert Hopster zum 60. Geburtstag, Hildesheim 1996, S. 64. Günther zitiert aus einem Propagandaband zum Bau des Weißmeerkanals aus dem Jahr 1934. Vgl. Cynthia Α. Ruder, Making History for Stalin. The Story of the Belomor Canal, Gainsville 1998, S. 173-185. 12 Am Beispiel eines neuen Individualismus in der Belletristik beschreibt diesen Koordinatenwechsel Katerina Clark, Little Heroes and Big Deeds. Literature Responds to the First Five-Year Plan, in: Sheila Fitzpatrick (Hg.), Cultural Revolution in Russia, 1928-1931, Bloomington 1978, S. 189-206. 13 Nikolaj F. Cuzak, Proletarskaja kul'tura (1920), zitiert nach Peter Kenez/David Shepherd, 'Revolutionary' Models for High Literature: Resisting Poetics, in: Catriona Kelly/David Shepherd (Hg.), Russian Cultural Studies. An Introduction, Oxford 1998, 21-55, hier S. 32. 14 Nikolaj F. Cuzak, Pod znakom ziznestroenija. Opyt osoznanija iskusstva dnja (1923), zit. nach Irina Gutkin, The Legacy of the Symbolist Aesthetic Utopia: From Futurism to Socialist Realism, in: Irina Paperno/Joan D. Grossmann (Hg.), Creating Life. The Aesthetic Utopia of Russian Modernism, Stanford 1994, S. 167-196, hier S. 183. 15 Aleksej Gastev, My rastem iz zeleza (1914/18), zit. nach Kelly/Shepherd (Hg.), Russian Cultural Studies, S. 33. 16 So etwa Naiman (Discourse, S. 300) am Beispiel Zamkovs. 17 Zu den Wandlungen von Körperkultur und Sport in den Jahrzehnten nach der Revolution Nikolaus Katzer, „Neue Menschen" in Bewegung. Zum Verhältnis von Sport und Moderne in Russland im 20. Jahrhundert, in: Andre Malz/Stefan Rohdewald/Stefan Wiederkehr (Hg.), Sport zwischen Ost und West. Beiträge zur Sportgeschichte Osteuropas im 19. und 20. Jahrhundert, Osnabrück 2007, S. 349-369; David L. Hoffmann, Bodies of Knowledge: Physical Culture and the New Soviet Man, in: Igal Halfin (Hg.), Language and Revolution. Making Modern Political Identities, London 2002, S. 269-286. 18 Mike O'Mahony (Sport in the USSR. Physical Culture-Visual Culture, London 2006, S. 38-56) analysiert die Genese sowjetischer „Sportikonen", Nina Sobol Levent (Healthy Spirit in a Healthy Body, Frankfurt/M. 2004, S. 59-73) die kunsthistorischen Einflüsse auf Bildmotive des „stalinistischen Athleten". 19 William J. Baker, Playing With God. Religion and Modern Sport, Cambridge 2007; Kurt Weis, Sport und Religion. Sport als soziale Institution im Dreieck zwischen Zivilreligion, Ersatzreligion und körperlich erlebter Religion, in: Joachim Winkler/Kurt Weis (Hg.), Soziologie des Sports. Theorieansätze, Forschungsergebnisse und Forschungsperspektiven, Opladen 1995, S. 127-150.
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20 Siehe Rüting, Pavlov. 21 Izvestija, 11. August 1933, zitiert nach Daniel P. Todes, Pavlov and the Bolsheviks, in: History and Philosophy of the Life Sciences 17 (1995), S. 379-418, hier S. 403. 22 Malte Rolf Das sowjetische Massenfest, Hamburg 2006, S. 120-134; Karen Petrone, Life Has Become More Joyous, Comrades. Celebrations in the Time of Stalin, Bloomington 2000. 23 Vermutete oder belegte Dopingfälle erörtern Bruce Kidd/Robert Edelman/Susan Brownell, Comparative Analysis of Doping Scandals: Canada, Russia, and China, in: Wayne Wilson/Edward Derse (Hg.), Doping in Elite Sport. The Politics of Drugs in the Olympic Movement, Champaign/Ill. 2001, S. 152-188. 24 Regelmäßige Kampagnen der sowjetischen Medien prangerten entweder allgemein den Drogenmissbrauch als Merkmal der bürgerlichen Gesellschaften des Westens oder konkret das Doping im Sport als Konsequenz der Kommerzialisierung und des Konkurrenzdenkens im Kapitalismus an. Mit dieser Tradition brachen sowjetische Offizielle für kurze Zeit in den späten 1980er Jahren. Der Leichtathletiktrainer Igor' Ter-Ovanesjan (I declare war on anabolics, in: Moscow News 1988, Nr. 50, S. 15) nahm den Skandal um Ben Johnson nach den Olympischen Spielen von Seoul 1988 zum Anlass, schärfere Gesetze und Kontrollen im eigenen Land sowie die Bestrafung von Athleten, Trainern, Ärzten und Lieferanten zu fordern. 25 In der Forschung über Tabu, Skandal und öffentliche Empörung als Erscheinungsformen gesellschaftlicher Kommunikation überwiegen Untersuchungen zum politischen Skandal und zum literarischen Skandalmotiv. Der Sport blieb bislang, abgesehen von episodischer journalistischer Aufbereitung, ausgespart. Vgl. allgemein Gerhard Göhler (Hg.), Macht der Öffentlichkeit - Öffentlichkeit der Macht, Baden-Baden 1995; Julius H. Schoeps (Hg.), Der politische Skandal, Stuttgart 1992. In historischer Perspektive Martin Kohlrausch, Der Monarch im Skandal. Die Logik der Massenmedien und die Transformation der wilhelminischen Monarchie, Berlin 2005. Zur Funktionalität des Skandals im Staatssozialismus bzw. allgemein in diktatorischen Regimes Gabor T. Rittersporn/Malte Rolf/Jan C. Behrends (Hg.), Sphären von Öffentlichkeit in Gesellschaften sowjetischen Typs. Zwischen partei-staatlicher Selbstinszenierung und kirchlichen Gegenwelten, Frankfurt/M. 2003; Martin Sabrow (Hg.), Skandal und Diktatur. Formen öffentlicher Empörung im NS-Staat und in der DDR, Göttingen 2004. 26 Eine systematische Aufbereitung der Sportphotographie unter diesem Blickwinkel fehlt. Ansätze bei Margaret C. Duncan, Sports Photographs and Sexual Difference. Images of Women and Men in the 1984 and 1988 Olympic Games, in: Sociology of Sport Journal 7 (1990), S. 22-43. Das Spiel mit den Grenzen des Erlaubten untersucht anhand der Sportikonographie der Nachkriegszeit Peter Kühnst, Sport. Eine Kulturgeschichte im Spiegel der Kunst, Dresden 1996, S. 335-374. 27 Die Anfänge dieser Berichterstattung liegen im Umfeld der Olympischen Spiele von Helsinki 1952. So widmete etwa das Magazin „Der Spiegel" dem „Rätsel" der sowjetischen Leichtathletin Aleksandra Cudina einen eigenen Beitrag und zitierte die Frage eines Korrespondenten der United Press: „Müßte nicht Alexandra Tschudina eigentlich Alexander heißen?" (Der Spiegel, Nr. 30, 23. Juli 1952, S. 23). Die weiteren Zitate aus der Boulevard- und seriösen Tagespresse der Bundesrepublik nach: Thomas Au, Sportlerroboter. Das Bild der Sowjetsportler in der westdeutschen Presse in den 1950er und 1960er Jahren, Magisterarbeit, Hamburg 2005.
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28 Are Girl Athletes Really Girls? In: Life Magazine, 7. Oktober 1966, S. 63-66. 29 Dazu Stefan Wiederkehr, Wer ist „olympisch gesehen eine Frau"? Die Schweizer Presse im Jahre 1968 über Spitzensportlerinnen aus dem Ostblock und die Einfuhrung von Geschlechtertests, in: Karl Lennartz/Stephan Wassong/Thomas Zawadzki (Hg.), New Aspects of Sport History. The Olympic Lectures. Proceedings of the 9th ISHPES Congress, Cologne, Germany, 2005, Sankt Augustin 2007, S. 185-192; Ian Ritchie, Sex Tested, Gender Verified. Controlling Female Sexuality in the Age of Containment, in: Sport History Review 34 (2003), S. 80-98. 30 Susan K. Cahn, Coming on Strong: Gender and Sexuality in Twentieth-Century Women's Sport, 3. Aufl., Cambridge 2003. 31 Reinhard Daugs/Eike Emrich/Christoph Igel von Hofmann (Hg.), Kinder und Jugendliche im Leistungssport: Beiträge des internationalen, interdisziplinären Symposiums „KinderLeistungen" vom 7. bis 10. November 1996 in Saarbrücken, Schorndorf 1998; Gerhard Kaminski/Reinhardt Mayer/Bernd A. Ruoff (Hg.), Kinder und Jugendliche im Hochleistungssport. Eine Längsschnittuntersuchung zur Frage eventueller Auswirkungen, Schorndorf 1984. 32 Siehe etwa Nicholas Wade, Anabolic Steroids: Doctors Denounce Them, but Athletes Aren't Listening, in: Science 176 (1972), 30. Juni, S. 1399-1403. 33 Dazu Rob Beamish/Ian Ritchie, The Development of High-Performance Sport Systems and the Use of Banned Substances in Post-WWII Olympic Sport (A Paper presented at the 38th National Convention of the AAASS, Washington, DC, USA, 16.-19. November 2006), S. 7-11. Der Verfasser dankt den Autoren fur die Überlassung des Vortragsmanuskripts. Vgl. dies., The Spectre of Steroids. Nazi Propaganda, Cold War Anxiety and Patriarchal Paternalism, in: The International Journal of the History of Sport 22 (2005), Nr. 5, S. 777-795. 34 Zit. Beamish/Ritchie, Development, S. 10. Weitere Dopingskandale listen auf: Charles Ε. Yesalis (Hg.), Anabolic Steroids in Sport and Exercise, 2. Aufl., Champaign/Ill. 2000; Jan Todd/Terry Todd, Significant Events in the History of Drug Testing and the Olympic Movement: 1960-1999, in: Wilson/Derse (Hg.), Doping, S. 65-128. 35 Vgl. dazu grundlegend Waddington, Sport; Hoberman, Mortal Engines. 36 Barrie Houlihan, Dying to Win: Doping in Sport and the Development of Anti-Doping Policy, Straßburg 1999, S. 31f„ 88. 37 Vgl. die Erörterung des prinzipiellen Problems öffentlicher Kontrolle sensibler Forschungszweige bei Corinna R. Unger, Cold War Science: Wissenschaft, Politik und Ideologie im Kalten Krieg, in: Neue Politische Literatur 51 (2006), Nr. 1, S. 49-68, hier S. 65f. 38 Paul N. Edwards, The Closed World. Computers and the Politics of Discourse in Cold War America, Cambridge 1996, S. IX, XIII; Everett Mendelsohn, Science, Scientists, and the Military, in: John Krige/Dominique Pestre (Hg.), Science in the Twentieth Century, Amsterdam 1997, S. 175-202, hier S. 197. 39 Vgl. Stuart W. Leslie, The Cold War and American Science. The Militäry-IndustrialAcademic Complex at MIT and Stanford, New York 1993, S. 208. 40 B. A. Dinerstejn, Voenozirovannyj sport, Moskau 1931. Die „Militarisierung" (voenizacija) der Körperkultur und des Sports an Zivilschulen betrieben in den zwanziger Jahren Funktionäre, Instrukteure und Armeeärzte. Auf einer vom Obersten Rat für Körperkultur im November 1925 einberufenen Konferenz wurden Fragen des „biosozialen Milieus" und der Motivation erörtert und Programme zur Körperertüchtigung entwi-
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ekelt. Unter „Militarisierung" verstanden Redner nicht zuletzt „den Kampf gegen die Rückständigkeit und die Kulturlosigkeit hinsichtlich der körperlichen Verfassung unserer Jugend, die unweigerlich in der Roten Armee wird dienen müssen" (siehe den Konferenzbericht in: Voenno-Sanitarnyj Sbornik 3 [1926], S. 131-134). Leon A. Orbeli, Osnovnye problemy fiziologii zivotnych i celoveka vo vtoruju pjatiletku, in: Fiziologiceskij zurnal SSSR16 (1933), Nr. 2, S. 264-265; Lev G. Lejbson, Leon Abgarovic Orbeli, Leningrad 1973, S. l l l f . Lejbson, Orbeli, S. 107. Vgl. Nikolaj V. Simkin, Leon Abgarovic Orbeli ν voennomedicinskoj akademii, in: Ε. M. Kreps (Hg.), Leon A. Orbeli ν vospominanijach sovremennikov, Leningrad 1993, S. 112-117; I. G. Bebich (Hg.), Leon Abgarovic Orbeli, 1882-1958. 2. Aufl., Moskau 1994; Ν. A. Grigor'jan (Hg.), Akademik Leon Abgarovic Orbeli. Naucnoe nasledie, Moskau 1997. Rüting, Pavlov, S. 248; Lejbson, Orbeli, Anm. 47, S. 401. Die Untersuchungen erfolgten auf Antrag der Zentralen Psychophysischen Kommission der militärsanitären Abteilung der Roten Armee. Leon A. Orbeli, Vaznejsie problemyfiziologiii ich znacenie dlja Krasnoj armii, in: Voennomedicinskij zurnal, 4 (1933), Nr. 1, S. 33-40, hier S. 36,40; vgl. Lejbson, Orbeli, S. 108f. Siehe weiterhin Ja. V. Stangl', Fiziceskoe vospitanie armii iflota,Petrograd 1923; S. Smirnov (Hg.), Teorija i praktika fiziceskich upraznenij (Posobie dlja komandnogo sostava R.K.K.Α.), Leningrad 1925; F. Berkov, Massovaja sportivnaja rabota ν rote, Moskau 1932; Α. A. CalovSiman, Fizkul'tura gotovit bojeov. Formy i metody voenizaciifizkul'tury,Moskau 1932; A. Kukanov, Sanminimum krasnoarmejca-fizkul'turnika, Moskau 1933. Siehe etwa A. G. Bezak, Voenno-sportivnye sostjazanija, Moskau 1922; Instrukcija po provedeniju psichofiziologiceskich ispytanij ν RKKA, Moskau 1930. Lejbson, Orbeli, S. 107 ff. Petrone, Life, S. 46-84; Scott W. Palmer, Peasants into Pilots. Soviet Air Mindedness as an Ideology of Dominance, in: Technology and Culture 41 (2000), S. 1-26; Hans Günther, Der sozialistische Ubermensch. Μ. Gor'kij und der sozialistische Heldenmythos, Stuttgart 1993, S. 155-174. Michael Hagemeister, Die Eroberung des Raums und die Beherrschung der Zeit: Utopische, apokalyptische und magisch-okkulte Elemente in den Zukunftsentwürfen der Sowjetzeit, in: Jurij Murasov/Georg Witte (Hg.), Die Musen der Macht. Medien in der sowjetischen Kultur der 20er und 30er Jahre, München 2003, S. 259-286; ders., Nikolaj Fedorov. Studien zu Leben, Werk und Wirkung, München 1989; Richard Stites, Revolutionary Dreams. Utopian Vision and Experimental Life in the Russian Revolution, New York 1989. Rüting, Pavlov, S. 252, Anm. 87. Vgl. Ε. Μ. Kreps (Hg.), Aleksandr Grigor'evic Ginecinskij, 1895-1962, Leningrad 1985. Lejbson, Orbeli, S. 180; Rüting, Pavlov, S. 253f. David Joravsky, Russian Psychology. A Critical History, Oxford 1989; Nikolay L. Krementsov, A „Second Front" in Soviet Genetics. The International Dimension of the Lysenko Controversy 1944-47, in: Journal of the History of Biology 29 (1996), S. 229250; Lev G. Lejbson, Akademik L. A. Orbeli. Neopublikovannye glavy biografii, Leningrad 1990. Nils Roll-Hansen, The Lysenko-Effect. The Politics of Science, Amherst 2005; Nikolay L. Krementsov, The KR Affair. Soviet Science on the Threshold of the Cold War, in:
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History and Philosophy of the Life Sciences 17 (1995), S. 419-446. 53 Nikolai Krementsov, Russian Science in the Twenthieth Century, in: Krige/Pestre (Hg.), Science, S. 777-794, hier S. 792. 54 Zur Debatte siehe Slava Gerovitch, "Mathematical Machines" of the Cold War. Soviet Computing, American Cybernetics and Ideological Disputes in the Early 1950s, in: Social Studies of Science 31(2001), Nr. 2, S. 253-287; Unger, Cold War Science. 55 Jim Riordan, Sports Medicine in the Soviet Union and German Democratic Republic, in: Social Science & Medicine 25 (1987), Nr. 1, S. 19-26; Viktor L. Karpman, Sportivnaja medicina, Moskau 1980. Zu den Interessenkonflikten von Medizinern, die ins Feld des Spitzensports wechselten John Hoberman, Sports Physicians and the Doping Crisis in Elite Sport, in: Clinical Journal of Sport Medicine 12 (2002), Nr. 4, S. 203-208. 56 Uta Andrea Baibier, „Von der DDR lernen, heißt siegen lernen!" Zur diskursiven und strukturellen Anpassung der beiden deutschen Sportsysteme im Vorfeld der Münchener Spiele 1972, in: Malz/Rohdewald/Wiederkehr, Sport, S. 237-252. 57 Allgemein zu diesem Problem Jan C. Behrends, Die erfundene Freundschaft: Propaganda fur die Sowjetunion in Polen und in der DDR, Köln 2006. 58 Insgesamt gab es 28 Staadiche Institute für Körperkultur, die vornehmlich wissenschaftlich fundierte Konzepte zu Vorbereitung der Olympiaathleten und weniger Fitness- und Gesundheitsprogramme fur den Breitensport entwickeln sollten. 59 Vgl. zum Folgenden Jim Riordan, Rewriting Soviet Sports History, in: Journal of Sports History 20 (1993), Nr. 3, S. 247-258, bes. S. 255-257. 60 Jurij Vlasov, J a pravdu rasskazu tebe takuju...", in: Sovetskij Sport, 31. Oktober 1991, S. 4. Vgl. ders., Drugs and Cruelty, in: Moscow News 1988, Nr. 32, S. 15; A. Klaz, Rekordy po receptu? In: Smena, 4. Mai 1988, S. 3. Vlasov hatte bei der Olympiade 1960 in Rom die Goldmedaille im Gewichtheben gewonnen. 1986 war er wegen kritischer Äußerungen gemaßregelt worden. 61 Sovetskij Sport, 10. Oktober 1989, S. 1. Verweis auf ein von zwei stellvertretenden Sportministem unterzeichnetes Dokument aus dem Jahr 1982. 62 Vasilij Gromyko, Nas styd, in: Leninskoe Znamja, 28. März 1989, S. 2. 63 S. Tokarev, Portrety na fone vremeni, in: Ogonek 1989, Nr. 24, S. 30. Zum Eindringen der Amphetamine in den Leistungssport in den 1950erJahren John Hoberman, Amphetamine and the Four-Minute Mile, in: Sport in History 26 (2006), Nr. 2, S. 289-304. 64 Ljudmila Cub/Aleksandr Pogoncenkov, „Impotent po ... sobstvennomu zelaniju", in: SPID-info 1991, Nr. 11, S. 24; Tokarev, Portrety, S. 31. 65 Mukhina blames training methods for her 1980 fall, in: Soviet Weekly, 11. November 1989, S. 16. 66 Vera Rich, Drugs in Athletics. Mortality of Soviet Athletes, in: Nature 311 (1984), 4. Oktober, S. 402f. 67 Gosudarstvennyj central'nyj ordena Lenina institut fiziceskoj kul'tury (Hg.), Anaboliceskie steroidy i sportivnaja rabotosposobnost'. Naucno-metodiceskaja informacija, Moskau 1972, S. 39. Das Dokument wurde in einer Auflage von 150 nummerierten Exemplaren „für den Dienstgebrauch" gedruckt. 68 Μ. I. Kalinski/M. S. Kerner, Empfehlungen zum Einsatz von anabolen Steroiden im Sport aus der ehemaligen Sowjetunion - Daten aus einem geheimen Dokument, in: Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin 53 (2002), Nr. 11, S. 317-324. Auf diesem Beitrag beruhen die folgenden Ausführungen. Michael I. Kalinski, der Herausgeber, war laut
Aspekte einer Geschichte sowjetischer Körperoptimierung
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handschriftlichem Vermerk auf dem Titelblatt einer der vier berechtigten Empfänger des Dokuments in Kiev und seinerzeit Leiter der Abteilung für Biochemie und Sport am drittgrößten Staatlichen Institut für Körperkultur der Sowjetunion, nämlich dem in der ukrainischen Hauptstadt. Erst nach seiner Auswanderung in die USA machte er das Dokument durch Vorträge und mit schriftlichen Beiträgen bekannt. Er gibt keine Auskunft darüber, warum letztlich nur er allein ein Exemplar erhielt, die anderen drei Adressaten in Kiev aber nicht. Ebenso fehlt ein Hinweis, ob sich das Original derzeit im Privatbesitz befindet oder der Forschung zur Einsichtnahme in einem Archiv zur Verfugung steht. Bei einem Zeugnis dieses Rangs bleibt zu fragen, warum es nicht im Wortlaut, versehen mit einem wissenschaftlichen Apparat, publiziert worden ist. Als mögliche Nebenwirkungen oraler und injizierter anaboler Steroide nennt die Studie etwa eine erhöhte Libido, verzögerte und abnehmende Spermienproduktion, Impotenz, Sterilisation und erhöhte toxische Stofiwechselprodukte in der Leber. Bei jugendlichen Sportlern könnten die Geschlechtsorgane vergrößert sein und die Pubertät vorzeitig eintreten. Unter den sonstigen Nebenwirkungen finden Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Gewichtsabnahme oder Ödeme Erwähnung. Michael I. Kalinski, State-Sponsored Research on Creatine Supplements and Blood Doping in Elite Soviet Sport, in: Perspectives in Biology and Medicine 46 (2003), Nr. 3, S. 445-451. Siehe etwa Melvin H. Williams/Richard B. Kreider/J. David Branch, Creatine. The Power Supplement, Champaign/Ill. 1999. So wurde in publizierten Arbeiten etwa über biochemische Methoden bei der Beobachtung von Spitzensportlern oder über Nahrungsergänzungsstoffe auf sowjetische Arbeiten seit den 1920er Jahren rekurriert, darunter auch von Schülern Pavlovs. An den Forschungen zum Blutdoping war neben dem Zentralen Staatlichen Institut fur Körperkultur in Moskau das Zentrale Staatliche Institut fur Hämatologie und Transfusion beteiligt. Siehe Kalinski, State-Sponsored Research, S. 446f., 448. So Sergej Portugalov, langjähriger Betreuer sowjetischer Teams, hier zit. nach Kidd/ Edelman/Brownell, Analysis, S. 162f. Siehe etwa den Bericht des Korrespondenten des Berliner „Tagesspiegel" von den Leichtathletik-Europameisterschaften in Göteborg im Jahre 2006, in dem es im Zusammenhang mit der Dopingdebatte um ein unauflösbares Spannungsverhältnis zwischen „Glaubensfragen" und „einige(n) nachprüfbare(n) Elemente(n)" geht. Bei den Wettkämpfen führte die russische Mannschaft mit zwölf Goldmedaillen mit großem Abstand die Nationenwertung an. Am Rande wollten Beobachter bei russischen Athletinnen „besonders tiefe Stimmen" vernommen haben, weshalb gegenüber dem Präsidenten des russischen Leichtathletikverbandes, Valentin Balachnicev, zu Sowjetzeiten selbst Athlet und Trainer, der Verdacht systematischen Dopings erhoben wurde. Dieser wiederum rechtfertigte sich in einem Interview mit dem Hinweis, das Doping sei „nicht nur ein russisches Problem". Er setzte es mit dem allgemeinen „Drogenproblem" auf eine Stufe, verwies auf zahlreiche Trainingskontrollen im heutigen Russland und auf die Vorbereitung eines Gesetzes zur Kriminalisierung des Dopings. Schließlich meinte er, es habe in der DDR ein Dopingsystem gegeben, das nicht viel anders gewesen sei als das in der Sowjetunion (Friedhard Teuffei, Gegen alle Zweifel. Wie die Russen den Gerüchten nach ihren Erfolgen begegnen, in: Der Tagespiegel Online, 15. August 2006).
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Fünfzig Jahre Doping und die Pharmakologisierung des Alitagslebens Dopingkulturen: Normalbürger und Sportler Der Gebrauch von leistungssteigernden Mitteln ist in der modernen Gesellschaft weit verbreitet, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Hochleistungssports. Wie aber kann die Dopingkultur des Hochleistungssports den wachsenden Gebrauch von Hormontherapien und anderen leistungssteigernden Medikamenten in der gesamten Gesellschaft erhellen? In welchem Grad ist der Konsum von Dopingmitteln im Sport Vorbild für einen Gebrauch von Hormondrogen unter Durchschnittsbürgern, der auf nicht-sportliche Zwecke zielt, z.B. die sogenannte „Anti-Aging"-Therapie, die heute von abertausenden Ärzten in Deutschland und im Ausland betrieben wird? Laufen die konkurrenzbetonten Ambitionen des gedopten Hochleistungssportlers mit den medizinischen oder therapeutischen Zielen des Normalsterblichen zusammen? In welchem Grad sind Hochleistungssportler und Durchschnittsbürger bereit, irgendeine Zurückhaltung in dieser Hinsicht zu zeigen? Woher kommt der Wille in einer modernen Gesellschaft, sich überhaupt noch zu begrenzen? Wo sind die sozialen Normen, die eine feste Grenze bezeichnen könnten? Wo liegen die „Grenzen" der Gesundheit oder die angemessenen Grenzen des leistungsfähigen Körpers eines Sportlers? Unsere gegenwärtige Beschäftigung mit den Dopingpraktiken von Eliteathleten hat effektiv die Tatsache verdeckt, dass Millionen von Menschen zu Hause, in der Schule und bei der Arbeit eine Vielzahl von leistungssteigernden Drogen verwenden. Vielen dieser Menschen hat die zentrale Rolle von Leistung und Produktivität bereits die traditionelle Fähigkeit der Selbstbeherrschung genommen, von der man annimmt, dass sie die Verwendung von Drogen und anderen leistungssteigernden Mitteln für nicht-therapeutische Zwecke hemmt. Neben dem ausufernden Drogenmissbrauch von Athleten in den letzten funfzigjahren hat Doping am Arbeitsplatz eine lange Tradition: Fernfahrer nehmen Amphetamine, in den Anden kauen Bergarbeiter Kokablätter, klassische Musiker benutzen Beta-Blocker und Polizeibeamte, Gefängniswärter und Tür-
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Steher Steroide. Prozac, Ritalin, Kokain oder Methamphetamine sorgen für Energie und Selbstbewusstsein bei der Arbeit; das neue Anti-Narcoleptikum Modafinil (Provigil) fur Studenten und LKW-Fahrer, Red Bull und andere superkoffeinhaltige Mittel sind als „Tonika" am Arbeitsplatz allgegenwärtig. Eine nicht ordnungsgemäße Verwendung von Testosteron und menschlichen Wachstumshormonen wie bei der Anti-Aging-Therapie ist weit verbreitet und im Falle der Wachstumshormone in den USA illegal.1 Wie viele Rezepte werden ausgestellt, um die Leistung an Arbeitsplätzen zu fördern, die stark auf Wettbewerb beruhen? Je genauer wir die Praktiken von gedopten Athleten betrachten, desto klarer werden deren utilitaristische Ziele. Damit gleichen sie vielen anderen ehrgeizigen Menschen, die einen Vorteil gegenüber der Konkurrenz suchen. Teilen Sport- und Allgemeinmediziner ähnliche Visionen, die den Gebrauch von Hormonen ausweiten werden? Wie unterscheidet sich auf der anderen Seite die Dopingkultur unter den Hochleistungssportlern vom Hormongebrauch des Durchschnittsbürgers? Könnte eine Analyse der Dopingkultur im Hochleistungssport uns verstehen helfen, warum moderne Gesellschaften solch ambivalente Einstellungen gegenüber Drogen haben? Die Antworten auf diese Fragen können uns helfen, die künftige Rolle der Hormonprodukte und anderer Medikamente im 21. Jahrhundert zu prognostizieren. Die Dopingkultur im Hochleistungssport ist in dieser Hinsicht hilfreich, weil sie den rein biomedizinischen Ehrgeiz der modernen Naturwissenschaft ausdrückt und die medizinischen Ansprüche einer Vielzahl von Menschen, die keine Profisportler sind, widerspiegelt. Der olympische Sport kann als ein gigantisches Experiment verstanden werden.2 Gleichzeitig sollten wir erkennen, dass sich die leistungsorientierte Arbeitswelt davon kaum unterscheidet. Am Arbeitsplatz ist das Leistungsniveau der entscheidende Faktor und die Erhöhung des Leistungsniveaus gilt als Zeichen für Erfolg. Die akzeptierten Möglichkeiten für den Gebrauch von leistungssteigernden Techniken sind sogar noch größer als im Sport, wo Antidoping-Regeln eine ganze Reihe von leistungssteigernden Techniken ausschließen sollen. Dieses Experimentieren am menschlichen Organismus fand zur gleichen Zeit wie die vertrauteren Formen medizinischer Versuche statt. Im Verlauf des letzten Jahrhunderts hat sich die Sportmedizin parallel zur Allgemeinmedizin als ein zweites medizinisches Universum entwickelt, in dem Experimentieren und Austesten menschlicher Grenzen zum Normalfall geworden sind.3 Folglich sind Experimentieren und Leistungssteigerung verwandte Dimensionen eines naturwissenschaftlichen Projekts, das zum Ziel hat, die Grenzen der menschlichen Fähigkeiten auszuweiten.
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Die Vereinbarkeit dieser naturwissenschaftlichen und sportlichen Ambitionen weist daraufhin, dass das sportmedizinische Experimentieren repäsentativ für das weite Spektrum von Untersuchungen ist, die darauf abzielen, die körperlichen Fähigkeiten des Menschen zu steigern. Dieses Experimentieren ähnelt der Sportwissenschaft und geht zur gleichen Zeit über deren Ziele hinaus. Heute gilt der Hochleistungssportler als medizinisches Vorbild, der der Öffentlichkeit immer mehr als Triumph der naturwissenschaftlichen Forschung erscheint. Der Profiradsportler, der streng kontrolliert und von einem Team von Ärzten, Trainern, Ernährungswissenschaftlern, Psychologen und Masseuren betreut wird, ist sowohl eine Art Patient als auch ein Held für die Massen.4 Der Normalbürger und der Hochleistungssportler teilen den Ehrgeiz, ihre physischen Fähigkeiten zu steigern. So sind die meisten Amerikaner, die das Stimulanzmittel Ritalin einnehmen, Frauen, die wegen Attention Deficit Disorder (ADD, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ADHS) behandelt werden. Ein Autor schrieb über dieses Mittel: „Das größte Problem dieser Frauen ist, daß sie die Latte zu hoch legen. Niemand könnte all dies ohne leistungssteigernde Mittel erreichen."5 Die Sportwelt und ihre Dopingkultur stellen ein gesellschaftliches und zugleich medizinisches Labor dar. Dieses „Labor" befähigt uns, Voraussagen über den größeren Markt für Hormone unter Normalbürgern zu machen - ein Markt, der sich jenseits der Stadien entwickelt hat, in denen Profisportler verbotene leistungssteigernde Mittel konsumieren. Es ist wichtig, daraufhinzuweisen, dass die Profis die Einnahme dieser Mittel als ihr gutes Recht ansehen. Die moderne Gesellschaft und der moderne Sport tolerieren und fordern verschiedenste Formen des Dopings, weil sie das Ziel, äußerst produktiv zu sein, teilen. Während die Dopingpraktiken der Normalbürger denen der Profisportler ähnlicher werden, wird das Recht der Profis, sich zu dopen, akzeptabler für die Gesamtgesellschaft.6 Es wird schwieriger, den Konsumenten von Anabolika als Drogenabhängigen abzustempeln, weil man davon ausgeht, dass Drogenmissbrauch gestörte Persönlichkeiten hervorbringt, die das Interesse daran verloren haben, gesellschaftlich und wirtschaftlich produktive Ziele anzustreben. Das Fehlen gesellschaftlicher Mißbilligung des Dopinggebrauchs der Profisportler weist auf die weitverbreitete Akzeptanz der Vorstellung hin, dass die Profis produktive Bürger sind, deren Selbstmedikation mehr Privatsache als öffentliches Thema ist. Der Gebrauch von Hormonen im Hochleistungssport kann als avantgardistische Form einer freizügigen („libertarian") Pharmakologie angesehen werden, die von der Gesamtgesellschaft, angeheizt durch die Werbung der Pharmaindustrie, gefördert wird. Diese Art pharmakologischer Praxis wird von Medizi-
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nern möglich gemacht, die gewillt sind, sich jenseits der herkömmlichen Normen der Schulmedizin zu bewegen.7 Der von den Normen abweichende Sportmediziner, der verbotene leistungssteigernde Mittel verabreicht, ist der Prototyp eines profitorientierten („entrepreneurial") Mediziners, der heutzutage Hormonersatztherapien fur seine „Normalpatienten" anbietet. Leistungssportler, die sich daran gewöhnt haben, leistungssteigernde Mittel jederzeit und ohne Problem zu bekommen, sind Pioniere, die den hormonkonsumierenden Normalbürgern vorausgehen. Heute sprechen leistungssteigernde Mittel auch eine Vielzahl von Personen an, die außerhalb des Leistungssports arbeiten. Die Nachfrage nach Hormonen, die nichts mit der Leistungssteigerung im Sport zu tun hat, zielt auf die sexuelle Funktionssteigerung oder die Leistungssteigerung am Arbeitsplatz. Die arbeitsbedingte Einnahme von leistungssteigernden Mitteln ermöglicht uns, vorauszusagen, wie weitere Arbeitnehmer auf Stresssituation am Arbeitsplatz reagieren. Werden sie einem solchen Drogengebrauch widerstehen können?
„Doping" „Doping" ist eine unkonventionelle oder zumindest ungewöhnliche Methode, die mentalen oder körperlichen Fähigkeiten eines Menschen zu steigern. Es ist Teil einer Lebensweise, die größten Wert auf Leistung legt, deren Sinn die Leistungssteigerung ist. Wie können wir das Verhältnis zwischen Doping im Hochleistungssport und den leistungssteigernden Praktiken der Gesamtgesellschaft weiter beschreiben? Die weltweite Dopingdiskussion im Hochleistungssport hat der Gesellschaft ein sportbezogenes Doping-Vokabular samt eines einflußreichen DopingBegriffs zur Verfugung gestellt. Es geht um zwei Parallelwelten, die Welt des Hochleistungssports und die Gesellschaft im Ganzen, die wir als Leistungsgesellschaft bezeichnen. Im Bereich Leistung nähern sich diese Parallelwelten an. Sie überschneiden sich in der Dominanz des Leistungsprinzips und der Grundidee der Konkurrenz. Die Vorstellung, das Leben sei ein Wettbewerb, ist weit verbreitet. Leistungssteigernde Methoden können deshalb als völlig legitim erscheinen. Und bei vielen Leuten fehlt jedes Gefühl dafür, dass solche Methoden unehrlich oder unmoralisch sind.
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Prozac Andere Leute mögen anders denken. Ihrer Auffassung nach kann es unehrlich sein, bestimmte Mittel zu nehmen. Schauen wir uns ein Beispiel für diese Haltung an: Die Einnahme eines Medikamentes macht das Leben zu einem unfairen Spiel. In seinem bahnbrechenden Bestseller Listening to Prozac (1993) erzählt der amerikanische Psychiater Peter Kramer von einer jungen Frau, die von ihrem Psychiater Prozac verschrieben bekam. Sie fragte: „Ist das nicht das Gleiche, als wenn man Anabolika nimmt?"8 Das Unbehagen dieser Patientin stammt aus einem Dilemma, das in der heutigen Medizin tief verwurzelt ist. Im Bereich der Psychopharmaka tritt oft eine Konvergenz von therapeutischen und leistungssteigemden Zielen auf. Als verschreibungspflichtiges Medikament ist Prozac ein Arzneimittel, das gegen Depressionen eingesetzt wird und bei bestimmten Patienten eine stimmungsaufhellende Wirkung hat. Für diese Patienten kann Prozac nicht weniger als ein Segen sein. Dem Psychiater Kramer wurde jedoch klar, dass das Medikament auch als eine Art leistungssteigerndes Mittel wirken kann. Bei einigen Personen kann dieses Psychopharmakum das Selbstbewusstsein fördern, was im Beruf oder in anderen persönlichen Beziehungen, wo die Fähigkeit, sich effektiv zu behaupten, eine Rolle spielt, von Vorteil sein kann. Es stellte sich heraus, dass die Themen Hochleistung und Wettbewerb eng mit diesem „therapeutischen" Zweck verknüpft sind. „Manche Leute", schreibt Kramer, „könnten pharmakologische psychologischer Selbstverwirklichung vorziehen. Psychische Steroide für die geistige Gymnastik." Er spricht vom Gebrauch von Antidepressiva als „Steroid fiir die Wirtschafts-Olympiade."9 Solche Vergleiche der beiden Medikamente deuten darauf hin, dass für das allgemeine Publikum Anabolika zur Grundmetapher des Leistungsprinzips geworden sind.
Laser-Augenchirurgie Das Doping im Alltagsleben besteht aus einer ganzen Reihe von Praktiken. Im Verlauf der letzten Jahre hat sich der LeistungsbegrifF erheblich ausgeweitet. „Leistung" überschneidet sich immer mehr mit den Zielen von therapeutischen Verfahren, die in gewissen Fallen von leistungssteigemden Techniken kaum zu unterscheiden sind. Zu den gängigen Techniken gehört die Laser-Augenchirurgie, die die Sehkraft sowohl von Normalbürgern wie von Leistungssportlern verbessern kann. Es sind nur die Motive dieser zwei Gruppen, die sich voneinan-
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der unterscheiden. Für den Durchschnittsbürger ersetzt die Chirurgie die Brille und soll eine ästhetische Verbesserung möglich machen. Der Leistungssportler hat jedoch andere Erwartungen. Ihm kann ein gesteigertes Sehvermögen bei gewissen Sportarten einen großen Vorteil bringen. Dem Golfer ζ. B. macht es die Fähigkeit, die kleinsten Details im Rasen wahrzunehmen, leichter, genau auf das Loch zu zielen. Der Spitzenprofi Tiger Woods und dreißig weitere ProfiGolfer ließen sich von einem amerikanischen Augenarzt operieren, um sich diesen visuellen Vorteil zu verschaffen.10 Auch das legendäre Sehvermögen einer Spitzengruppe von amerikanischen Baseballspielern wird seit langem mit ihrer Fähigkeit in Verbindung gebracht, den ihnen zugeworfenen („pitched") Ball besonders deutlich anzuvisieren, bevor sie ihn mit ihrem Schläger treffen. Einige Baseballprofis haben sich einer solchen Augenoperation unterzogen.11
Polizei-Doping
Eine der bemerkenswerten Anomalien der Anti-Steroid-Kampagne der vergangenen zwei Jahrzehnte in den USA ist, dass die vielen Berichte über den Gebrauch von Steroiden durch Polizeibeamte in den Vereinigten Staaten und in anderen Ländern ignoriert wurden. Eine unbekannte aber sicherlich erhebliche Zahl von Polizisten hat in diesem Zeitraum Anabolika importiert, geschmuggelt, verkauft und verwendet.12 Polizeibeamten zu verbieten, Anabolika zu benutzen, erscheint konsequent, da diese Mittel hyperaggressives Verhalten erzeugen. Wenn man sich aber klar macht, dass der Gebrauch dieser Drogen durch Polizeibeamte und andere Männer erfolgt, deren Berufe überdurchschnittliche Körperkraft und Selbstsicherheit erfordern, dann muss man die beiden konträren Argumente prüfen, die vorgebracht wurden, um die Verwendung von Steroiden durch Gesetzeshüter zu legitimieren bzw. abzulehnen. Das funktionsbezogene Argument besagt, dass die körperlichen und psychologischen Wirkungen von Steroiden die Sicherheit der Polizeibeamten und daher auch die öffentliche Sicherheit fördern. Auf der anderen Seite behaupten die Gegner, dass sowohl die physischen als auch die emotionalen Wirkungen der Mittel die Öffentlichkeit gefährden und Polizeibeamte, die diese Mittel konsumieren, das Risiko schwerwiegender Gesetzesverstöße eingingen, die aus ihrem durch Drogen beeinflußten Verhalten resultierten. Weltweit konsumiert eine Vielzahl von Männern Steroide, weil ihre Berufe oder kriminelle Handlungen körperliche Selbstbehauptung und Selbstvertrauen erfordern. Ein Scotland Yard-Bericht von 1996 identifizierte zum Beispiel Poli-
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zisten, Feuerwehrmänner, Militärs und Mitarbeiter von privaten Sicherheitsdiensten als Steroidkonsumenten.13 In Australien schließt diese Liste Gefängniswärter und Mitglieder von Elitetruppen ein. Uber Letztere wurde 1998 herausgefunden, dass sie „Steroide benutzen, um Durchhaltevermögen und Selbstachtung zu erhöhen und um sich schneller von Verletzungen zu erholen."14 In Australien und einigen europäischen Ländern benutzen Türsteher die Mittel, um die „frilled neck lizard response" - eine Art „tierische Wut" - zu ermöglichen, die widerspenstige Kunden einschüchtern soll.15 Steroide werden auch von Kriminellen als aggressionssteigernde Drogen benutzt. In Oslo nehmen Kriminelle, die als „Torpedos" bekannt sind, Mischungen aus Steroiden und Amphetaminen ein, um den psychopathischen Zustand zu erzeugen, der ihnen ermöglicht, ihre Opfer zu töten und zu verstümmeln.16 Die Mitglieder von dänischen Motorradgangs legen vor „Gangkriegen" MethylTestosteron-Kapseln unter ihre Zungen, um sich in Rage zu versetzen.17 Solche Beispiele aus dem Untergrund der Steroide deuten an, wie wenig wir insgesamt von den gesellschaftlichen Auswirkungen des Schwarz-handels wissen, der einem Weltmarkt fur auf „Action" getrimmte Männer dient und eine wachsende Anzahl von Hobbyathleten jeden Alters als Kunden einschließt. Schließlich gibt es in unserer Gesellschaft eine sehr ambivalente Haltung gegenüber männlichen Hormonpräparaten, die greifbaren Nutzen erzeugen. Die neue gesellschaftliche Akzeptanz des Bodybuilding, seiner Verehrung der Muskelkraft und seiner Aura von Selbstverbesserung repräsentiert eine unverkennbare, wenn auch verdeckte Akzeptanz von synthetischen Testosteronpräparaten und ihren gewünschten Wirkungen, angefangen von wohlgeformten Brustkörpern bis zum sexuellen Selbstbewusstsein. Auf ähnliche Art und Weise akzeptiert bereits eine Vielzahl von Sportfans Doping als akzeptables Mittel zur Leistungssteigerung von Athleten, das die sportlichen Leistungen möglich macht, die die Zuschauer sehen wollen. Auch beliebte Anti-Aging-Therapien verwenden dieselben Mittel, die einen Polizisten bei Gebrauch ins Gefängnis bringen könnten.
Militärisches Doping Man darf davon ausgehen, dass sich die militärische Forschung seit langem mit der menschlichen Hochleistung beschäftigt. Es wäre zum Beispiel überraschend, wenn die amerikanische Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) nicht unter anderem Anabolika-Behandlungen von Kampfsoldaten durchgeführt hätte.
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Manche dopen sich zu militärischen Zwecken. Amphetamine waren einst als „pep pills" bekannt und wurden von allen großen Armeen des Zweiten Weltkriegs verwendet. Danach wurden Amphetamine auch von Piloten im Vietnamkrieg eingesetzt - und im Golfkrieg. Obwohl die Air-Force-Offiziere verneinten, dass sie von diesen Piloten die Einnahme der Mittel verlangten, gibt es klare Hinweise dafür, dass es anders war. Es ist nicht überraschend, dass Militäroffiziere nicht gewillt sind, das Doping ihrer Untergebenen offen und unzweideutig gutzuheißen. Die Stigmatisierung der Mittel durch Regierungsbehörden führt zu einer Verschleierung dieser Praxis. Diese „Selbstregulierung" des Dopings ähnelt in auffallender Weise der Praxis der vielgescholtenen Radprofis. Die australischen Behörden standen 1998 demselben Dilemma gegenüber. Eine große Zahl von Soldaten einer Elite-Einheit nahm Anabolika ein. Die Behörden reagierten mit der Genehmigung dieser Mittel und gaben für ihren Gebrauch Richtlinien heraus. Sie argumentierten, dass der Gebrauch dieser Mittel die Überlebenschancen ihrer Kampfsoldaten erhöhen würde. Im Jahr 2002 äußerte ein hochrangiger Militäroffizier Bedenken wegen der Zunahme des Konsums von illegalen leistungssteigernden Mitteln, insbesondere des Anabolika-Mißbrauchs unter Soldaten. Der Sydney Morning Herald berichtete, dass diese Militärs Anabolika einnahmen, um richtige Muskelpakete zu werden, ihre Ausdauer und ihr Selbstbewusstsein zu steigern, und um sich schneller von Verletzungen zu erholen.18 Dieser vermeintlich rationale Gebrauch von Anabolika könnte zu einem Pflichtdoping führen. Kein Wunder, dass ein zweiter hochrangiger Offizier sich verpflichtet fühlte zu behaupten, dass Anabolika-Konsum die Fitness eines Soldaten eher verminderte als erhöhte. Diese Aussage kann als Triumph politischer Korrektheit im Bereich der Dopingpolitik angesehen werden. Ein Zivilverfahren gegen Blackwater Worldwide, das von einer amerikanischen Rechtskanzlei angestrengt wird, deutet darauf hin, dass ein Viertel des Blackwater Sicherheitspersonals Anabolika einnimmt. Die Bedeutung dieser Behauptung liegt darin, dass Anabolika das Entscheidungsvermögen beeinträchtigen und die Aggressivität erhöhen können. - Es waren BlackwaterSicherheitskräfte, die vor kurzem ein Massaker an irakischen Zivilisten verübt haben.19
Akademisches Doping
Die Probleme, die die Definition von legitimer und illegitimer Verwendung von bestimmten Drogen innerhalb und außerhalb des Sports komplizieren, wurden 1960 von einem Präsidenten des American College of Sports Medicine erkannt.
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Dieser Mediziner äußerte sich über die von ihm als „paradox angesehenene Haltung vieler Lehrer: während der Gebrauch von anregenden Mitteln wie Koffein und Amphetamin als zulässig akzeptiert werde, wenn man sich auf Prüfungen und geistige Wettbewerbe vorbereite, würden die gleichen Substanzen in sportlichen Wettkämpfen nicht akzeptiert."20
In der Tat bemerkten die Lehrer damals nicht einmal das akademische Doping, das unmittelbar vor ihren Augen ablief. Ihre Aufgabe war es, geistige Leistungen zu fördern, während Fairness fur die weniger bedeutenden Wettbewerbe galt, die auf dem Sportplatz stattfanden. Im Verlauf der letzten Jahre hat sich das, was wir „akademisches Doping" nennen können, in den USA weit verbreitet. Zur Zeit ist es unmöglich zu bestimmen, wie viele Studenten Dopingmittel verwenden. Es ist aber unübersehbar, dass unzählige Studenten an amerikanischen Universitäten auf diese Weise versuchen, ihre akademischen Leistungen zu verbessern. Die Studenten behaupten, diese Mittel könnten ihre Fähigkeiten, sich auf die Unterrichtsinhalte zu konzentrieren, steigern. In den Studentenwohnheimen floriert ein Schwarzmarkt fur verschreibungspflichtige Stimulanzien wie Ritalin und Adderall, die möglicherweise fur die sogenannte „attention deficit disorder" verschrieben werden. Natürlich können wir unter den gegebenen Umständen nicht feststellen, ob diese Art von „Gehirndoping" wirklich effektiv ist. Wir haben es hier mit unkontrollierten Experimenten zu tun, an denen aller Wahrscheinlichkeit nach bereitwillige Ärzte mitwirken. Unter solchen Umständen ist die Universitätsleitung mehr oder weniger hilflos. Wenn diese Studenten Sportler wären, würden sie sich Dopingtests unterziehen müssen. Sollen alle Studenten auf Gehirndoping getestet werden? Die Ironie der Geschichte: Warum sollten die geistigen Fähigkeiten nicht gesteigert werden? Man könnte meinen, dass dies das Hauptziel einer Hochschulausbildung ist. Soll diese Praxis als eine Art akademischer Betrug betrachtet werden? Tatsache ist, dass heute im Gehirnsport Schach die Profispieler getestet werden. Wie können wir die vermuteten Leistungsvorteile in diesen verwandten Konkurrenzbereichen bewerten? Ist ein Sieg im Profischach mehr oder weniger wert als die Chance, Jura oder Medizin an einer Elite-Universität zu studieren? Haben moderne Gesellschaften ein Interesse daran, gewisse essentielle Leistungen ohne Vorbehalt und reinen Gewissens zufördern,während weniger wichtige Leistungen pharmakologisch überprüft und stigmatisiert werden, sobald Anzeichen von Doping gefunden werden? Bis heute haben die modernen, produktivitätsorientierten Gesellschaften dieses Paradox nicht gelöst. Um es kurz zu sagen: Wir sind in diesem schicksalhaften Dilemma gefangen.
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Informelle Äußerungen in einem Internet-Chat aus dem Jahr 2005 geben uns Hinweise darauf, dass sich auch junge Leute in Deutschland mit diesem T h e m a auseinandersetzen. Hier fragte ein Teilnehmer: „Kann man Methylphenidat (Handelsnamen bspw. Medikinet, Ritalin) zur Leistungssteigerung auf intellektueller Ebene verwenden?... Das Problem an sich kennt jeder: Nach 4 bis 8 Stunden Auswendiglernen und In-Büchern-Büffeln macht der Kopf schlapp. Das Informations-Aufnahme-Fenster schließt sich. Wäre doch toll, wenn man dem entgegenwirken könnte .. ."21 Ein anderer junger Wissenschaftler antwortete, man habe da „drüben in den Staaten ein Methylphenidat hergestellt, das es dem User erlaubt sich bis zu 48 STUNDEN (!!) lang durchzukonzentrieren" - ohne unerwünschte Nebeneffekte. Derselbe Teilnehmer erinnert aber auch daran: „So hoch wie du fliegst so tief kommst du runter" - man kommt nicht umhin, die unvermeidliche physiologische Strafe zu bezahlen. Dieser Optimist bezweifelt die Notwendigkeit leistungssteigernder Mittel überhaupt, weil „alles vom Mensch geschaffene oder zu erreichen wollende so konstruiert ist, dass man das auch von sich aus schafft! Also: wieso mogeln, du alter cheater ..," 2 2 . E s ist bemerkenswert, dass ethische Bedenken ohne Intervention oder tadelnde Bemerkungen von Seiten der akademischen Leitung vorgebracht werden. Sogar fur eine jüngere Generation, die sich an eine expandierende pharmakologische Welt anpassen muß, bleibt es möglich, sich vorzustellen, dass die Hochleistung an der Hochschule auf einem dopingfreien Leben basieren kann. In den letzten Jahren hat in den U S A der Konsum verschreibungspflichtiger Medikamente deutlich zugenommen und die leistungsorientierten Ziele vieler Konsumenten gehen weit über die herkömmlichen therapeutischen Zwecke hinaus. Daher fallt es auf, wenn der Nachwuchs nicht davon ausgeht, dass solche Mittel unbedingt effektive Leistungssteigerer sein müssen. In der Tat gibt es Beweise aus den USA, die daraufhinweisen, dass das stark nachgefragte Ritalin öfter von leistungsschwächeren Studenten verwendet wird - mittelmäßige Noten und der Gebrauch dieser psychoaktiven Stimulanzien sprechen dafür. 23 Zudem ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese Mittel von Studenten konsumiert werden, mit dem akademischen Milieu und dessen Forderungen verknüpft. Höherer Konkurrenzdruck und Stress an den Elite-Unis schaffen ein Klima, in dem Studenten stärker dazu neigen, Stimulanzien zu verwenden. In diesem Sinne spiegelt das Verhalten der Studenten das medikamentenabhängige Verhalten an vielen nicht-akademischen Arbeitsplätzen wider.
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Testosteron für Frauen Die gegenwärtige Kampagne, Testosteron-Präparate wie das /«frwzjvz-Pflaster und die LibiGel-Salbe für die Behandlung weiblicher sexueller Funktionsstörungen zu vermarkten, muss in einem größeren historischen Zusammenhang gesehen werden. 2 4 Aufgrund der kurzen Gedächtnisspannen unserer Massenmedien überrascht es nicht, dass die Geschichte dieser Hormontherapie fast nirgendwo thematisiert wurde. Aber es ist wesentlich, etwas über die Geschichte von Testosteronanwendungen bei Frauen zu wissen, um den potenziellen Nutzen und die Gefahren abzuschätzen, die die heutigen Mediziner und Pharmaunternehmen vorgeben zu kennen. Außerdem verhilft eine Vertrautheit mit historischen Einstellungen zur Verabreichung von männlichen Hormonen an „frigide" Frauen zu wichtigen Einsichten. Man erfahrt, wie es dazu kam, dass intime sexuelle Erfahrungen auf scheinbar wissenschaftliche Weise ausgewertet werden. Der jüngste Kontext für die Bewertung von „weiblicher sexueller Funktionsstörung" als einer behandelbaren Krankheit versetzt uns ins Jahr 1998 zurück, in die Kampagne zur Einfuhrung von Viagra gegen „erektile Funktionsstörungen" (ED). Der spektakuläre Erfolg von Viagra löste eine Gleichheitsdebatte der Geschlechter aus. Wenn ältere Männer einen Anspruch auf eine Sexdroge haben, dann haben auch ältere Frauen einen Anspruch auf nichts anderes als eine gleichwertige Therapie. Die unvermeidlichen klinischen Versuche, bei denen Frauen Viagra verabreicht wurde, erwiesen sich als enttäuschend. Sowohl Forscher als auch Patientinnen wurden mit der einfachen (aber auch beruhigenden) Tatsache konfrontiert, dass die weibliche sexuelle Reaktion komplizierter ist als der praktisch hydraulische Prozess, der eine Erektion auslöst. (Die Tatsache, dass auch die männliche sexuelle Reaktion komplexer ist als erektiles Funktionieren, scheint vielen Konsumenten der berühmten blauen Pillen entgangen zu sein.) Der verlockende Markt fur ein weibliches Sexstimulanzmittel veranlasste Arzte und Wissenschaftler anzuerkennen, wie wenig sie von der Anatomie der weiblichen Geschlechtsorgane und der Reaktion dieser Organe auf verschiedene Stimulationsformen wussten. Diese Erfahrung mit der Komplexität menschlicher sexueller Reaktionen konnte jedoch nicht die Vorstellung diskreditieren, dass eine pharmakologische Lösung fur schwache Libido nur darauf warte, gefunden zu werden. Die gesellschaftlich sanktionierte Rückkehr der Testosteronbehandlung von Frauen erfolgte im Zusammenhang mit einer wachsenden Akzeptanz von Hormonersatzbehandlungen als Anti-Aging-Therapien für jenes Segment der erwachsenen Bevölkerung, das bereit ist, dafür zu bezahlen und die Risiken eines
Die P h a r m a k o l o g i s i e r u n g des A l l t a g s l e b e n s
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unkontrollierten Experiments zu tragen. Das Verlangen nach einem bestimmten Lebensstil der alternden Baby-Boomer-Generation schließt einen Anspruch auf lebenslange sexuelle Erfüllung ein. D a es keine kulturelle Zurückhaltung gibt, die sich diesem Ehrgeiz entgegenstellen könnte, wartet die Testosteron-Therapie für „weibliche sexuelle Funktionsstörungen" - im besten Fall eine fragwürdige diagnostische Kategorie - nur auf die entscheidende Übereinstimmung zwischen den Pharmaunternehmen und der Arzneimittelbehörde F D A . Diese Ubereinstimmung würde das T h e m a der medizinischen Sicherheit für immer begraben und die Freigabe dieser „Therapie" möglich machen.
Anmerkungen 1
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Thomas Perls et al., Provision or Distribution of Growth Hormone for 'Antiaging', in: Journal of the American Medical Association 294 (2005), S. 2086-2090; Growth Hormone for Antiaging' - Reply, in: ebenda, 295 (2006), S. 889-890. W[ildor] Hollmann, Risikofaktoren in der Entwicklung des Hochleistungssports, in: H. Rieckert (Hg.), Sportmedizin-Kursbestimmung (Deutscher Sportärztekongreß, Kiel, 16-19. Oktober 1986), Berlin 1987, S. 15. John Hoberman, Sterbliche Maschinen. Doping und die Unmenschlichkeit des Hochleistungssports, Aachen 1994. John Hoberman, Testosterone Dreams. Rejuvenation, Aphrodisia, Doping, Berkeley 2005, S. 194-213. Lawrence Diller, zitiert in Amanda Ripley, Ritalin: Mom's Little Helper, Time, 12.2.2001, S. 73. Hoberman, Testosterone Dreams, S. 214-238. John Hoberman, Sports Physicians and the Doping Crisis in Elite Sport, in: Clinical Journal of Sportmedicine 12 (2002), S. 203-208. Peter D. Kramer, Listening to Prozac: A Psychiatrist Explores Antidepressant Drugs and the Remaking of the Self New York 1993, S. 248. Ebenda, S. 15, 246. Phil Galewitz, Laser-Sharp Vision, Austin American-Statesman, 16.4.2000. William Saletan, The Beam in Your Eye, Slate.com, 18.4.2005. John Hoberman, Dopers in Uniform: Cops on Steroids, veröffentlicht am 22.5.2005 in: http://www.mesomoφhosis.coπl/articles/hoberman/cops-on-steroids.htm (Zugriff am 13.2.2008); Charles Swanson/Larry Gaines, Abuse of Anabolic Steroids, FBI Law Enforcement Bulletin, August 1991. Doug Gillon, Questions for House - 'Explosion' in Numbers Abusing Steroids, Glasgow Herald, 15.4.1996. Elite soldiers face charges as 'police uncover drug use', Sydney Morning Herald, 24.7.2002. Mark Dunn, Three groups pinpointed as steroid users, Herald Sun (Australia), 18.7.2003. Torpedomilje hardner, Aftenposten (Oslo), 7.11.2000.
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I John Hoberman
17 Interview mit einem dänischen Arzt, der mit der Dopingszene gut vertraut ist, Odense, Dänemark, 14. 1.2005. 18 Elite soldiers face charges as 'police uncover drug use', Sydney Morning Herald, 24.7.2002. 19 Blackwater guards pumped on steroids, lawsuit alleges, CNN.com, 27.11.2007. 20 Albert Salisbury Hyman, Use of Drugs in Sport (Letter), New York Times, 12.9.1960. 21 http://www.team-andro.com/phpBB2/topic,1106,-methylphenidat-zur-leistungssteigerung.html (Zugriff am 20.12.2007). 22 Ebenda. 23 Sean Esteban McCabe et al., Non-medical use of prescription stimulants among US college students: prevalence and correlates from a national survey, in: Addiction 99 (2005), S. 96-106; Richard Kadison, Getting an Edge - Use of Stimulants and Antidepressants in College, in: New England Journal of Medicine 15.9.2005, S. 1089-1091. 24 Hoberman, Testosterone Dreams, S. 53-54; Ray Moynihan, The marketing of a disease: female sexual dysfunction, in: British Medical Journal 330, 22.1.2005, S. 192-194.
Die Pharmakologisierung des Alltagslebens
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Doping und das Problem des Maßes einer „natürlichen" Eigenleistung des Menschen Was ist Doping? Die Etymologie des Wortes „Doping" ist noch nicht eindeutig festgestellt. Allgemein wird der Dopingbegriff auf die Eingeborenensprache der im südösdichen Afrika lebenden Kaffern zurückgeführt. Im Dialekt der Kaffern bezeichnet „Dop" einen hochprozentigen, Selbstgebrannten Schnaps, der bei Festen und Kulthandlungen als Stimulans verwendet wurde.1 Der Begriff Doping wurde durch die Buren, die weißen Einwanderer Südafrikas, übernommen und gelangte vom Afrikaans ins Englische, in dem er erstmals 1889 in einem englischen Wörterbuch erwähnt wird. Der Definition dieses Lexikons zufolge bezeichnet „Doping" eine Mischung aus Opium und Narkotika, die bei Pferderennen derart zum Einsatz kam, dass das eigene Pferd aufgeputscht (dope to win) und das gegnerische Pferd vergiftet (dope to lose) wurde. Anfanglich wurde Doping also nicht nur als positives Doping im Sinne der Leistungssteigerung, sondern auch als negatives Doping im Sinne der Verabreichung leistungshemmender Mittel beim Gegner verwendet. Ein anderer Ansatz erklärt den Ursprung des Wortes Doping aus dem Niederländischen, was nicht unbedingt im Widerspruch zu der ersten Erklärung stehen muss, bedenkt man, dass die Buren niederländischer Abstammung sind. Das Wort „dopen" bedeutet im älteren Niederländisch „taufen". Ein „doper" war demnach ein „Täufer". Nordamerikaner sollen das Wort übernommen haben zur Beschreibung krimineller Handlungen von Zigeunern, die andere betäubten, um sie auszurauben. Deshalb veränderte sich die Bedeutung des Wortes „dop" hin zu „dope" im Sinne von Gift oder Rauschgift. Des Weiteren behaupten einige Autoren, niederländische Kolonisten sollten zur Steigerung ihrer Arbeitsleistung beim Aufbau New Yorks eine dickflüssige Mixtur verwendet haben, die sie „doop" nannten, wodurch der besagte Wortstamm ins Amerikanische gelangt sein könnte. Im Alltagsverständnis dominiert das englische Bedeutungsfeld von Doping,
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wonach „dope" unter anderem Aufputschmittel, Rauschmittel, Drogen und „to dope" unter anderem aufputschen, sich spritzen, narkotisieren, betäuben bezeichnet. Folglich wird im alltäglichen Sprachgebrauch Doping mit dem Nehmen von Drogen, Stimulanzien, Aufputschmitteln, Erregungs- und Anregungsmitteln aller Art gleichgesetzt. Doping ist im Alltagsverständnis der Überbegriff für den Gebrauch leistungssteigernder Mittel aller Art. Dies aber hat zur Konsequenz, dass im Alltagsverständnis Doping mit Enhancement verwechselt wird, das nicht anderes ist als der legale Einsatz medizinischer Mittel und Techniken zur Leistungssteigerung bei Gesunden (wie zum Beispiel durch Schönheitschirurgie, Hormonkuren, Potenzpillen und Antidepressiva) ? Folgt man aber der Gleichsetzung von Doping und Enhancement, muss man den Sport von seinen antiken Anfangen an als Dopingsport bezeichnen, während dagegen zu sagen ist, dass nicht jeder Sport Dopingsport ist3, und man müsste außerdem nicht nur von Doping in einigen Bereichen der Gesellschaft, sondern von einer „gedopten Gesellschaft" überhaupt sprechen, in der jeder jeden mit leistungssteigernden Mitteln betrügt. Ein Dopingverbot würde dann das Verbot aller künstlichen, dem Menschen von außen zugefuhrten, nicht angeborenen leistungssteigernden Mittel und Verfahren in Sport und Gesellschaft insgesamt zur Konsequenz haben, um die Illusion einer reinen Naturleistung des Menschen aufrechtzuerhalten, die doch selbst ein Produkt unserer Kultur ist und unsere Zivilisation zerstören würde, die gerade auf Leistungssteigerung durch vom Menschen erfundene und insofern künstliche Mittel basiert. Diese Natürlichkeitsillusion beruft sich auf den von den Begründern der modernen olympischen Bewegung vertretenen fundamentalistischen Natürlichkeitsromantizismus, wie er klassisch bei Pierre de Coubertin und Carl Diem zu finden ist, und lebt heute weiter in dem vor allem in Deutschland anzutreffenden Ressentiment gegenüber jeglicher Form der technologischen Höherzüchtung des Menschen.4 Dieses Ressentiment, das aus einer christlich-philanthropischen Moral erwachsen ist, ist auch der eigentliche Grund für die Forderung, Doping zum Straftatbestand zu erklären. Würde dies geschehen, würde wieder einmal, ähnlich wie bei den Cannabiskonsumenten, offensichtlich werden, wie aus dem Geist chrisdich-humanistischer Moral künstlich eine neue Klasse von Straftätern entsteht, die es ohne diese Kriminalisierung aus Moral per Recht gar nicht gäbe. Wird aber Doping zum Straftatbestand erklärt und setzt man dann noch Doping mit Enhancement gleich, stellt sich die Frage, ob dann nicht auch Viagra-, Ritalin- und Prozac-Konsumenten zu Betrügern und Straftätern gemacht werden - weil man in Wahrheit die Körpertechnologisierung insgesamt
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fiir „unnatürlich" und deshalb für unmoralisch hält, wobei dann oft noch unbewusst „unmoralisch" mit „unchristlich" gleichgesetzt wird. Um einen romantischen, antizivilisatorischen Fundamentalismus einzudämmen, der gerade im Sport immer wieder anzutreffen ist, und um zu einer praktikablen und justiziablen Dopingdefinition zumindest im Sport zu gelangen, geht man heute von einer pragmatischen Definition aus, nach der Doping im Kern der Versuch der unerlaubten Leistungssteigerung durch die Anwendung verbotener Wirkstoffgruppen (wie zum Beispiel anaboler Steroide oder Wachstumshormone) und die Anwendung verbotener Methoden (wie zum Beispiel Blutdoping) ist. Wobei allerdings angemerkt werden muss, dass die Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) diesen Kernbestand der pragmatischen Dopingdefinition zwar in ihren Anti-Dopingbestimmungen aufgenommen hat, aber damit zugleich eine Aufzählung verbotener Handlungsweisen und Zustände verbunden hat, wie die explizite Gleichstellung von Versuch und vollendeter Tat, Verstöße gegen die Meldepflicht der Athleten und damit verbundener Entzug bei angekündigten Probenahmen, die Erweiterung des Dopingtatbestandes auf den Besitz durch Athleten und Betreuer, das Verbot des Handelns und jegliche Tatbeteiligung durch Dritte. Diese sind zwar geeignet, das „System-Doping" und nicht nur den Athleten zu belangen und zu bestrafen5, führen aber auf der anderen Seite zu einem „gläsernen Athleten", für den sich die Frage stellt, ob seine Freiheitsrechte durch die Dopingbestimmungen der WADA nicht massiv eingeschränkt werden. Versteht man Doping pragmatisch, ist klar, dass eine Eigenleistung im Sport nie in einem absoluten Sinne natürlich ist, sondern immer auch durch legale leistungssteigernde Mittel und Verfahren hervorgebracht wird, und damit ist auch klar, dass man von Doping im Grunde erst seit dem 19. Jahrhundert zunächst im Zusammenhang mit Pferderennen, dann mit dem Radrennsport und schließlich im Kontext der Gründung der modernen olympischen Bewegung sprechen kann. Mit der olympischen Bewegung in der Moderne und der damit verbundenen rasanten Verbreitung des modernen Sports war von Anfang an ein gigantisches biologisches Experiment verbunden, in dem es darum ging, die Utopie unendlicher Leistungssteigerung des Menschen zu verwirklichen. Dafür wurden immer mehr und bessere künstliche Mittel ersonnen, um den biologischen Grenzbereich der natürlichen, „echten" Eigenleistung des Menschen zu erreichen und möglicherweise zu überschreiten. Die dadurch in Gang gesetzte Logik der immer professionelleren technischen Stimulation und Nachrüstung der natürlich-angeborenen Leistungsfähigkeit des Menschen bedroht aber zwei andere Gründungsmythen des modernen
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Sports, durch die er so erfolgreich funktioniert: nämlich die Illusion, dass im sportlichen Sieger „das Echte", nämlich die Natur, siegt, und den Wunsch, dass jeder Mensch gerecht, d.h. fair, nach seiner Leistung im Sinne angeborener, natürlicher Eigenleistung, unabhängig von rassischer, religiöser und sozialer Herkunft, bewertet wird.
Doping als m o d e r n e Utopie In der Dopingproblematik fokussiert sich die alte, große und wirkungsmächtige Utopie, schöne Menschen zu machen, indem man Herr über den eigenen Körper wird, dadurch dass man ihn selbst herstellt, die in der Vermittlung durch den Sport in der Moderne Wirklichkeit zu werden scheint. Es ist daher nur konsequent, dass die Techniken der industriellen Auf- und Zurüstung von Körpern des Hochleistungssports schon längst Eingang in den Alltag der Fitness- und Lifestylebewegung gefunden haben. Es ist ein Irrtum anzunehmen, Doping sei nur ein Problem des Hochleistungssports. Immer mehr Menschen werden sich dopen, weil sie einfach „gut drauf sein", weil sie sich gut fühlen, weil sie einfach „gut aussehen" wollen, kurz: weil sie für sich und für andere „echt", also so wie sie sich sehen und wie sie gesehen werden möchten, erscheinen möchten - und nicht, weil sie wie Profi-Bodybuilder bei SchauWettkämpfen gewinnen wollen. In diesem Kontext zeigt sich, wie eine bestimme Ästhetik der Machbarkeit und machbaren Verschönerung normativ wirkt: Alle wollen sportiv und gut aussehen, aber nicht nur weil sie es als schön empfinden. Weil es alle machen können, machen sie es auch. Machen sie es nicht, provozieren sie nämlich die Frage, warum sie das Machbare mit sich nicht machen und sich „gehen" lassen, denn als das „Echte" gilt immer mehr auch das Machbare. Man muss aber nicht nur sportlich und gesund sein, sondern vor allem gesund und sportlich aussehen. Das „Survival of the Fittest" ist schon längst nicht mehr vom „Survival of the Prettiest" zu trennen. Die mit dieser Tendenz verbundene Ästhetik echt-machbarer Schönheit ist nicht von der Industrialisierung (idealer) Körperbilder zu trennen, die immer mehr Menschen per Bodybuilding im weitesten Sinne, worunter man eben nicht nur die sogenannte Sportart, sondern alle Arten sportiven Trainings, aber auch die boomende plastische Chirurgie und auch das Doping zählen kann, nachzuahmen versuchen. Der schöne Körper wird dabei Gegenstand der endlich möglichen Traumrealisierung vom eigenen, gewünschten, „echten" Selbst, in dem wir unsere Einbildungen von idealer Schönheit am eigenen Körper technologisch umzusetzen vermögen. Er wird zu einem Luxuskonsumgut, mit dem
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man, wie bei Markenkleidung, Markenuhren, Markenautos, seine Wünsche, Träume, Sehnsüchte nach einem „echt-schönen" Leben erfüllt. Um dieses Sehnsüchte verschönter Authentizität zu realisieren, greifen immer mehr Menschen auf die modernsten technologischen Mittel der Körperstilisierung zurück und damit auch auf Techniken des Dopings im Hochleistungssport. Denn die modernsten Formen des Dopings sind nichts anderes als die Spitzenprodukte der Körperindustrie, die nun demokratisiert werden, und das heißt eben nicht mehr nur von einer kleinen Leistungselite, sondern von immer mehr Menschen im Alltag praktiziert werden, um ihre Lebensqualität zu verbessern. Der gedopte Athlet erscheint in diesem Kontext nur als Vorbote einer technikbesessenen Körper-Avantgarde, die endlich die Mängel des Naturkörpers (als dem alten Echtheitskörper) überwindet, indem dieser hochtechnisch nachgerüstet und verbessert wird.
Transformation des Dopings durch Enhancement Diese Transformation des Dopings des Hochleistungssports in den Alltag von immer mehr Menschen vollzieht sich mit Hilfe des Enhancements, mit Hilfe des legalen Gebrauchs unterstützender biotechnologischer Mittel zur Leistungssteigerung bei Gesunden, das unterschieden werden muss vom Doping im engeren Sinne, also dem illegalen Sportdoping. Beide fuhren je unterschiedlich dazu, dass Leistungserbringung geplant und serialisiert werden kann und damit natürlich neue Anforderungen an eine sichere, gewünschte Leistungserbringung entstehen - jeder kann anscheinend immer besser zum richtigen Zeitpunkt die geforderte Leistung erbringen und darum wird auch von ihm erwartet, dass er das kann. Mit dem Enhancement ist nicht nur eine Demokratisierung des Doping verbunden, sondern auch eine Utilitarisierung der Gesellschaft per „Prinzip Pille". Egal ob Viagra, Ritalin oder Prozac - alle diese Mittel sind wesentlicher Träger der Verwirklichung der utilitaristischen Idee, immer mehr Glück für immer mehr Menschen zu ermöglichen. Per Enhancement scheint es zu einer Egalisierung des Glücks zu kommen. „Und warum sollte man im Glückbringen am Gehirn haltmachen? Wo sind die Grenzen für Eingriffe an der Natur? Sollten wir auf Regenschirme und Deiche verzichten, weil sie dem natürlichen Lauf des Wassers entgegenstehen? Sollen wir auf Hirnoperationen verzichten, weil sie naturgegebene Personalitäten verändern? Was spricht dagegen, daß wir Individualitäten aus einem vorgegebenen Gehirn so herausmodellieren, daß es nicht nur unserem Gesundheitsbegriff, sondern vielleicht auch unserem Glücksbegriff entspricht?" 6
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Die Dopingskandale liegen nicht außerhalb der Logik des modernen Sports und der modernen Köperkultur, sondern entsprechen ihrer Fortschrittsideologie und der damit verbundenen Tendenz industrieller Perfektionierung und Effektivierung der Produktion hochleistungsfähiger Körper in modernen Gesellschaften. Das Doping stellt daher nicht einfach eine bloße Abweichung von der anscheinend jetzt noch vorherrschenden Körpernormalkultur dar, sondern es nimmt möglicherweise die neue Körpernormalität des biotechnologischen Zeitalters vorweg, für die gelten wird, dass der echte, angeborene Naturkörper etwas Mangelhaftes ist, das technisch verbessert werden kann, um dann um so schöner authentisch zu erscheinen.
Krise der Eigenleistungsidee Die Asthetisierung des alten Authentizitätskörpers per (sportivem) Doping und Enhancement fuhrt nicht nur zu einer Säkularisierung des Körperumgangs, sondern auch zur Industrialisierung des Körpers. Damit wird die Vorstellung von der „Gott- oder Naturgegebenheit" des Körpers (und des Geschlechts), die noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wesentlich das ausmachte, was man unter einem sportlichen Talent und seiner natürlichen, echten Leistungskraft verstand, grundlegend zerstört. Die mit dem Doping verbundene Krise des Hochleistungs- und Berufssports ist nur ein erstes Anzeichen einer möglichen bioethischen Krise, die aus der technologischen Revolutionierung des Körperumgangs des Menschen resultiert. Die aufkommende bioethische Krise reflektiert die alltägliche Gleichsetzung von Doping und Enhancement, hinter der sich eine tiefe Verunsicherung darüber verbirgt, was eine „echte" Eigenleistung des Menschen ist. Denn offenbar ist es für immer mehr Menschen so, dass die einem Menschen zurechenbare körperliche Eigenleistung nicht nur das ist, was er allein durch die ihm angeborenen Fähig- und Fertigkeiten zu gestalten vermag, sondern auch die Fähigkeiten und Fertigkeiten gelten als seine körperliche Eigenleistung, die er mit Hilfe von außen zugefuhrter leistungssteigernder, die eigene Leistungsfähigkeit unterstützender Mittel realisiert. Mit der Körpertechnologisierung, die Bedingung der Möglichkeit der Körperindustrialisierung und industrialisierter Leistungssteigerung des Menschen überhaupt ist, ereignet sich eine Umwertung nicht nur der körperlichen Existenzformen des Menschen, sondern seiner Existenzform überhaupt, die wesentlich durch Mode, Werbung, Fernsehen, Sex, Sport und Unterhaltungsindustrie insgesamt vermittelt wird.
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Von der Körpertechnologisierung zur
Körperindustrialisierung7
Nicht allein die sexuelle Revolte um 1968, auch nicht allein die pharmazeutische Industrie, die Gentechnik und Fortpflanzungsmedizin haben unser Verhältnis zum Körper, unseren Umgang mit dem Körper revolutioniert, sondern auch der Sport hat Wesentliches zur industriellen Revolutionierung der Körperbeherrschung beigetragen. Gegenwärtig wird der Körper durch das sozialstaatliche Gesundheitssystem, den medizinischen Fortschritt, gentechnische Erfindungen und die Sportifizierung des alltäglichen Körperverhaltens immer weiter technologisiert. Man kann darin eine Radikalisierung der Zivilisierung des Körpers sehen; jedenfalls tendiert der Prozess der Zivilisierung des Körpers in der Vermittlung durch die Körperrationalisierung und Körperdomestizierung hin zur Körperindustrialisierung. Körperindustrialisierung im Kontext von Körperkapitalisierung bedeutet die Rationalisierung der Körperselbstverhältnisse im Sinne der Effektivierung des Körperumgangs nach einem Kosten-Nutzen-Kalkül in Verbindung mit einem Zweck-Mittel-Kalkül. Tendenziell werden Körper unter industrialisierbare Technologien subsumiert und den damit verbundenen Verwertungsinteressen unterworfen. Die Körper werden dadurch nicht nur industrialisiert, sie werden nicht nur von einem individuellen Gebrauchswert zu einem gesellschaftlichen Tauschwert, sondern sie werden von der Ware zu einem Kapital. Diese Kapitalisierung der Körper wird von den Individuen in Form der Freiheit des Körpergebrauchs, der freien Verfügungsgewalt über den eigenen Körper, des individuellen Gebrauchswertes des Körpers für sich selbst und nicht für andere durch die Ideologie der gelungenen individuellen Körpergestaltung positiv wahrgenommen. Die Körperkapitalisierung und -Industrialisierung durchzieht längst nicht mehr nur den Hochleistungssport, gesellschaftliche Randbereiche wie die Prostitution und jene immer kleiner gewordenen Bereiche der traditionellen Industriegesellschaft, in denen der Körper das erste Arbeitsmittel in Form der Ware Arbeitskraft geblieben ist. Der Hochleistungssport hat heute auch dadurch eine Vorbildwirkung, dass der Körper des Athleten und dessen Leistungsfähigkeit zu einem hochgradig arbeitsteilig hergestellten industriellen Produkt geworden ist. Die Verfahren, mit denen diese Unikate hergestellt wurden, werden nämlich in unserer Kultur per Vermarktung verallgemeinert. Die Körperherstellung wird so serialisiert und die möglichen Körper werden, vermittelt durch globalisierte Körperbilder, standardisiert und normiert. Die Folge ist unter anderem, dass die mit Hilfe des Computers nachgebesserten Bilder von Models als „wahre" Körper gelten und dass dagegen der naturgegebene Körper als der minderwertige, „falsche" Körper gilt, der nachgebessert werden muss.
Doping und das M a ß einer „natürlichen" Eigenleistung
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Die Körper der Individuen unterliegen in der Körperindustrialisierung, vermittelt durch die Körperbilderproduktion der Medien, einer Mechanisierung, Serialisierung und Standardisierung, so dass eine Körpermode möglich wird, in der man innerhalb einer bestimmten Angebotspalette einen Körper wie ein Kleid auswählen kann. Obwohl auf dem damit verbundenen Körpermodenmarkt scheinbar Vielfalt vorherrscht, kommt es durch die Schematisierung der Körper in Folge ihrer Standardisierung und Serialisierung zu einer Zentralisierung auf bestimmte Körperformen, innerhalb derer natürlich gewisse Variationen vorhanden sind. Trotz scheinbarer Vielfalt und Individualität kommt es deshalb doch zu einer McDonaldisierung der Körperwelt: es kommt zu einer Vereinheitlichung und Egalisierung der Körperformen und Körperselbstverhältnisse nach transnationalen Schemata, es kommt zur globalen Vorherrschaft bestimmter Körperformen und zur globalen Herstellung standardisierter Körper auf der Basis von Einfachheit, Effizienz, Berechenbarkeit, Kontrollierbarkeit, Planbarkeit und vor allem Machbarkeit. Durch den Körpermodenmarkt (auf der Grundlage der Körpertechnologisierung als Körperindustrialisierung) wird der Körper nicht nur den j e unterschiedlichen Verwertungsbedürfnissen angepasst, sondern er kann selbst systematisch zu einem Kapital geformt werden, das auf die jeweiligen Marktinteressen Rücksicht nimmt. Es entsteht eine schöne, neue KörperWelt, in der die Körpertechnologisierung zu einer neuen Körperökonomisierung und zur Ökonomisierung des Körperumgangs fuhrt. Das aber hat nicht nur eine Körperindustrialisierung, sondern auch eine Menschenökonomisierung zur Folge, in der die körpertechnologischen Möglichkeiten die Standards eines perfekten Körpers bestimmen und vorgeben, was als ein schöner Mensch zu gelten hat.
Vom konspirativen Staatsdoping zum liberalen Doping? Durch die erst beginnende Körperindustrialisierung scheinen Ausnahme-Körper zu einem technologisch massenweise reproduzierbaren Kunstwerk zu werden. Genau wie alle anderen Kunstwerke im Zeitalter ihrer technologischen Reproduzierbarkeit ihre Einmaligkeit verlieren, könnten beispielsweise auch die Ausnahme-Körper der Spitzenathleten ihre Aura verlieren, denn an die Stelle ihres einmaligen Vorkommens tritt nun vielleicht ihre massenweise Vervielfältigung. Auch wenn diese „Vervielfältigung" scheitern sollte, versuchen wird man es, wie es schon nicht nur das alltägliche Bodybuilding, sondern auch das Flächendoping im Radrennsport und das systematische Doping in der amerikani-
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sehen Leichtathletik belegen, das schon längst nicht mehr nur dem systematischen DDR-Staatsdoping ähnelt, sondern anscheinend wesentliche Elemente des DDR-Dopingsystems transformiert hat bis hin zur Festlegung von Planvorgaben für zu erreichende Siege bei den Saisonhöhepunkten. Anscheinend vollzieht sich hier der Übergang vom Doping als Biopolitik zum Doping als Selbstpolitik derart, dass das konspirative Staatsdoping nun in ein liberales Dopingsystem transformiert wird.8 In diesem Kontext stellt sich nicht nur die Frage, ob das sportive Doping nur im Extrem die mögliche Normalität einer zukünftigen modernen Körperkultur vorweggenommen hat oder nicht, sondern es stellt sich auch die sportgeschichtlich noch nicht entschiedene Frage, ob das System des Dopings der DDR eine die Geschichte des DDR-Sports übersteigende Bedeutung hat und nicht nur ein Sonderweg des Sports in den „realsozialistischen" Staaten war, sondern vielmehr ein nachhaltig wirkendes Modell darstellt, das den allgemeinen Tendenzen der Körperindustrialisierung im modernen Sport und in der Körperkultur der Moderne überhaupt entspricht. Für Letzteres spricht zumindest die schon genannte Demokratisierung des Dopings per Enhancement, das systematische Plandoping im Radrennsport, in der amerikanischen Leichtathletik, bei chinesischen Schwimmern, dem höchstwahrscheinlich systematischen Einsatz von Doping bei der Vorbereitung der chinesischen Athleten auf die Olympischen Spiele 2008 wie auch das systematische Selbstdoping bei Fitness- und Seniorensportlern. All diese Falle beweisen, dass das DDR-Doping-System keine bloße Einmaligkeit darstellt, sondern in seiner (vormaligen) Einmaligkeit nachhaltig wirkt. Es stellt sich folglich die Frage, war das Doping in der DDR nur ein Sonderfall, war es nur eine Perversion in der Geschichte des modernen Dopings oder entspricht es der allgemeinen Tendenz der Entwicklung des modernen Dopings? War das Doping in der DDR ein Zivilisationsbruch, der aber notwendig zur Geschichte der modernen Körperzivilisation gehört? Verkörpert dieser Sonderfall modernen Dopens das Wesen des Dopings in der Moderne? Vielleicht verharmlost man das Doping in der DDR, wenn man es nur als einen abartigen Sonderweg des sportiven Dopings in einem angeblichen totalitären Staat betrachtet, der mit der kapitalistischen Moderne nichts zu tun hat?! Warum aber verharmlost man das Doping in der DDR, indem man es nur kriminalisiert? Leider neigt Werner Franke dazu, der dadurch seinem Antidopingkampf und den damit verbundenen humanistischen Ansprüchen selbst schadet. Auf jeden Fall fuhrt aber der Beginn des Zeitalters der (hoch-) technologischen Reproduzierbarkeit von Körpern zur Erschütterung des tradierten Körperumgangs: Der Körper ist nun nicht mehr etwas Unantastbares, Heiliges,
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Naturgegebenes, Geworfenes, sondern etwas Machbares, Künstliches, eine technische Erfindung, ein Entwurf, der den „Ballast" seiner natürlichen Herkunft endlich abzuwerfen scheint. Die mit dieser Umwertung der Werte verbundene Krise unseres bisherigen Körperverhältnisses ist jedoch zugleich Bedingung der Möglichkeit der Erneuerung unseres Körperverhältnisses und der Schaffung eines neuen Leibes, eines Transkörpers. Sport, Medien, Sex und Werbung sind die machtvollen Agenten in diesem Prozess der Erfindung des Transkörpers. Unsere bisherige Tradition des Körperumgangs wird in diesem Prozess entwertet und umgewertet, ja zerstört und bestenfalls aufgehoben, aber auch in einem gewissen Sinn radikalisiert.
Das n a t ü r l i c h e M a ß k ü n s t l i c h e r L e i s t u n g s s t e i g e r u n g Die Körpertechnologisierung macht aus Eigenschaften der menschlichen Natur, die man jahrhundertelang als Grenzen und Bezugspunkte körpertechnischen Handelns verstand (zum Beispiel die hormonelle Veranlagung eines Menschen und, davon abgeleitet, seine körperliche Kraft), zum Objektbereich des Handelns. Dadurch scheint eine neue körpertechnologische Evidenz möglich zu sein: Ich mache mich selbst, ich stelle meinen Wunsch-Körper selbst her - also bin ich. Die Folge ist, dass nicht nur aus einem schlecht funktionierenden Körper ein gut funktionierender gemacht werden soll, sondern aus dem schon gut funktionierenden Körper ein noch besserer: Er soll noch schneller, noch stärker, noch schöner werden. Nicht nur Verbesserung, Veränderung, Verschönerung ist das Gebot der Körpertechnologisierung, sondern Rationalisierung, Optimierung, Effektivierung, Sexualisierung. Der Körper soll nicht nur leistungsfähiger werden, sondern er soll gesund und schön erscheinen. Die Körpertechnologisierung schraubt das neue Leitbild für den Körper nach oben: Es ist das der perfekten Körpermaschine, hinter dem sich die alte Utopie von der Perfektionierung des Menschen verbirgt. Mit dem Paradigma des Körperentwerfens, mit diesem Willen zum Körper, entsteht aber nicht nur das Problem der ungeplanten und ungewollten Nebenfolgen des technologischen Zugriffs auf den Körper. Es wirft auch die Frage nach der natürlichen, wirklichen Eigenleistung des Athleten auf. Entsprechend der hier vertretenen Auffassung von (Eigen-)Rechten des Körpers9 gibt es ein kulturanthropologisches, vernünftiges und in diesem Sinne unserer Natur gemäßes, „natürliches", die verschiedenen Weltkörperkulturen übergreifendes Beurteilungskriterium gegenüber möglichen Formen von intolerablen, selbstzerstörerischen Körperselbstverhältnissen und damit verbunde-
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nen Körperinstrumentalisierungen, wenn die Idee eines fairen Körperumgangs mit der eines „naturgemäßen" Körperumgangs verknüpft wird. Ein naturgemäßer Körperumgang ist für uns ein vernünftiger. Das Vorbild der Natur ist für uns immer schon vernünftig, insofern die Vernunft unsere Natur wesentlich bestimmt: Wenn der Leib (nach Nietzsche) die „große Vernunft" ist, dann heißt das eben auch, dass seine Natur vernünftig verstanden werden muss. Und wenn wir dieser Natur Rechte in unserem Körperverhalten einräumen wollen, dann heißt das, dieses Naturrecht als Vernunftrecht aufzufassen. Wir werden der Natur des Leibes gerecht, wenn wir seiner Vernunft entsprechend handeln. Die Vernunft ist der Grad naturgemäßen Körperverhaltens und die „große Vernunft" des Leibes besteht im vernünftigen Körpergebrauch. Die Rechte des Körpers, die darin bestehen könnten, den Körper nicht willkürlich zu verstümmeln, zu vergewaltigen, zu versklaven oder zu töten, die allerdings nicht von der Wahrung der freien Körperselbstverfügung zu trennen sind, sind als Vernunftrechte Naturrechte. Diese Naturrechte sind aber kulturalistisch zu verstehen. Das heißt, als Naturrechte im Sinne von Vernunftrechten kommen sie allen Menschen zu, was aber nicht heißt, dass sie unabhängig vom Gemeinwohl und der Zustimmung der Menschen bestehen10, sondern vielmehr als Produkte einer interkulturellen diskursiven Praxis zwar subjektabhängig existieren, aber, wenn sie per Konsens mehrheitlich angenommen wurden, intersubjektiv gültig sind und insofern von den einzelnen Subjekt unabhängig gelten. Das hat nun aber zur Konsequenz, dass ein naturgemäßer, gerechter, fairer Körperumgang ein vernünftiges Körperverhalten ist und dass das damit gegebene Maß naturgemäßen Verhaltens relativ zu dem kulturellen Diskurs über Natürlichkeit, Künstlichkeit, Vernünftigkeit ist. Daraus ergibt sich, dass es eine zwar immer Kulturen relative, aber doch die je besonderen Kulturen übersteigende allgemeine, vernünftige, unserer Natur gemäße und in diesem Sinne globale und normale Körpernatur gibt, die man als common body11 bezeichnen könnte, durch die ein globalisierbares anthropologisches Minimum normalen Körperumgangs bestimmbar wird. Dieses anthropologische Minimum als Maß eines normalen, vernünftigen, unserer Natur gemäßen Körperumgangs ist aber nicht auf die jetzigen Vorstellungen von organischer, zufallig gewachsener, angeborener und in diesem Sinne natürlicher Körperlichkeit zu reduzieren. Dieses Maß könnte man als ein „Gesetz" des common body und in diesem Sinne als „Eigenrecht" des Körpers auffassen und es bedeutet de facto, Grenzen der instrumentellen Eingriffe in unsere Physis anzunehmen, die aus Gründen der Vernunft, und insofern durch unsere Natur begründet, nicht überschritten werden sollten. Beim common body geht es um die Annahme universeller Grenzen
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in unseren je unterschiedlichen Körperinstrumentalisierungsformen, die diese Instrumentalisierungen erst ermöglichen. Die Idee des common body zielt darauf, das Recht auf selbstbestimmten Körpergebrauch und selbstgewollte Körperveränderung rational zu beherrschen, indem die Körperselbstverhältnisse der Einzelnen gerade diese Einzelnen umund übergreifenden Mindeststandards (durch die Individuen selbst) unterworfen werden. Die mit der Idee des common body verbundene Körperkontrolle und Körperzivilisierung ist insofern keine fremdbestimmte, sondern eine selbstbestimmte. Diese Idee der transkulturellen Mindeststandards im je besonderen Körperumgang expliziert die im Körperkulturvergleich sich offenbarende Annahme, dass Gesellschaften und Gemeinschaften immer je schon Rechte und Pflichten des normalen Körperumgangs bestimmen, wenn auch „nur" implizit, wie sie auch der Tatsache Rechnung trägt, dass wir, wenn wir versuchen, die Logik des humanen Körperumgangs fremder Kulturen zu verstehen, immer schon gemeinsame Begriffsrahmen und Normen unterstellen müssen, wenn wir die Körperkulturen beurteilen und d.h. vor allem unterscheiden wollen. Demzufolge ist die Idee des common body zwar kulturrelativistisch, aber eben nicht antinormativ und antiuniversell, weil sie in ihrem Kulturrelativismus durchaus davon ausgeht, dass es trotz aller Relativität und Historizität gemeinsame Beurteilungskriterien gibt, nach denen man die verschiedenen Körperkulturen bewerten kann, auch wenn die Beurteilungsformen immer in gewissem Maße durch die Eigentümlichkeiten der Sprache und Kulturen, in denen sie entstanden sind, geprägt sein werden, was ja nicht heißen muss, dass sie immer auf dogmatisch-metaphysischen Annahmen beruhen. Die Rede von „Rechten des Körpers" soll also Grenzbestimmungen problematisieren, die normativ wirken. Insofern sind „Rechte des Körpers" historisch bedingte, aber doch zugleich universell gültige Normen, die von uns selbst über uns selbst eingesetzt werden könnten, um unsere körperliche Selbstmacht zu erhalten und zu steigern. In diesem Kontext ist mit der Idee des common body die eines universell geltenden, anthropologischen Mindeststandards im Körperumgang verbunden, an dem sich alle anderen kulturell verschiedenen Körperumgangsformen messen lassen und der in Verbindung mit der Idee der Rechte des Körpers auf die Pflege eines bejahenswerten Lebens in unserer Kultur verpflichtet ist. Soll eine solche Norm nicht ahistorisch und imperial gesetzt werden, muss der Körper und der Umgang mit ihm als eine kulturelle, permanent neu zu interpretierende Entität verstanden werden und nicht mehr als eine statische, natürliche Entität. Man kann sich folglich nicht realistisch auf ein vorgegebenes An-sich-Sein, auf eine
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normgebende „natürliche Natur" berufen, sondern muss sich kulturalistisch an unserem Interesse an einem nachhaltigen, wiederholbaren Umgang mit unserer Natur, die wir sind, dem Leib, orientieren. Unter dieser Perspektive wäre dann der common body als kulturell bejahenswerter Körperumgang zu verstehen, als Körper, zu dessen technologischem Umgang alle „Ja" sagen könnten und „Ja" sagen müssten, soll ein menschliches Maß in unseren Körperverhältnissen weiter erhalten bleiben. Dieser von allen bejahenswerte Körperumgang, dieser common sense body kann aber nicht mehr von einer konstanten menschlichen Körpernatur ausgehen, sondern von der Natur als Kultur, von der Körperkultur, die technologisch praktiziert wird. Der common body ist dann aber nicht nur als flexible body (Emily Martin), sondern auch als reflexive body zu bestimmen, insofern die Gestaltung des natural body nach Vorgaben vollzogen wird, die auf wissenschaftlichem Wissen, Biotechnologien und ästhetischen Praktiken beruhen. Der common body ist kein natural, sondern ein cultural body. Die „Natur" und „Natürlichkeit" können hier folglich nicht mehr als ahistorisch-metaphysische Norm fungieren, sondern nottut eine neue, erst noch zu erfindende, zu entwerfende kulturelle Norm natürlicher Körperlichkeit, deren Universalität nicht dogmatisch vorgegeben werden kann, sondern selbst auf Wahlfreiheit beruht. Das aber bedeutet, dass diese neue universelle Norm in Wahlakten ausgehandelt werden muss - natürlich unter Wahrung der Gleichheit und Entscheidungsfreiheit der Wählenden, der Achtung ihrer Entscheidungsfähigkeit, aber auch unter Berücksichtigung der Erkenntnis, dass die Wahlfreiheit eingeschränkt werden kann, wenn die Bedingungen der Möglichkeit der Wahlfreiheit selbst in Frage gestellt werden und man durch Wahlfreiheit die Wahlfreiheit in Bezug auf den eigenen Körperumgang aufhebt, indem man sich freiwillig irreversible Körperschädigungen zufügt bzw. zufügen läßt. Man könnte sich allerdings auch vorstellen, die Wahlfreiheit in Bezug auf den eigenen Körperumgang einzuschränken, nicht nur um sich vor selbstzerstörerischer Gewalt zu schützen, sondern auch um alte bzw. neue Wahlmöglichkeiten zu erhalten oder zu fördern. Zentral aber für diese erst noch neu auszuhandelnden Maße einer humanen technologischen Körperkultur scheint die Lösung des Problems einer gerechten, fairen Körpertechnologisierung, durch die wird nämlich die Lösung des Problems der Kultur der Vernunft im Umgang mit der Körpernatur bestimmt. Die Idee einer fairen, d.h. einer vernünftigen, nachhaltigen Körperinstrumentalisierung im Kontext des Versklavungstheorems,12 der Idee des common body und der Rechte des Körpers garantiert auf der einen Seite Stabilitäts- und Selbsterhaltungsbedingungen in Bezug auf unsere Körperselbstverhältnisse und ist zugleich offen fiir neue technologische Entwicklungen, ohne sich diesen unre-
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flektiert auszuliefern. Sie stellt eine Perspektivierung unserer Körpertechnologisierung dar, die garantieren soll, dass wir entscheidungsfahige Subjekte in Bezug auf die Natur, die wir sind, bleiben und nicht Projekte der Biopolitik und Bioindustrie anderer werden. Eine nachhaltige Körperinstrumentalisierung ist als Statthalter der Autonomie des Individuums zu verstehen, ohne dem Individuum in Bezug auf seine Körperidentität Normen konservativ-dogmatisch und eindimensional vorzuschreiben oder gar deren ständige Flexibilisierung pseudopluralistisch einzufordern, wie es auf der einen Seite die Körperkonservativen und auf der anderen Seite die Körperfuturisten tun.13 Vielmehr soll über die Idee nachhaltiger Körpertechnologisierung ein Maß im Spannungsfeld von Selbstverfugungskörper und Würdekörper gefunden werden, durch das die Autonomie des Individuums in der modernen Biomacht gewahrt werden kann. Die Idee nachhaltiger, fairer Körperinstrumentalisierung in der Verklammerung mit dem Versklavungstheorem, den Rechten des Körpers und dem common body fungiert als Maß aufgeklärter, moderner Körperselbstverhältnisse der Individuen und einer emanzipativen, vernünftigen Körperkultur unter den Bedingungen der erst beginnenden bioindustriellen Gesellschaft. Analog zu den Menschen- und Naturrechten versucht sie eine universale, säkulare Idee für einen würdigen, aufgeklärten, vernünftigen Umgang mit dem menschlichen Körper zu formulieren. Zu den Rechten des Körpers gehört in diesem Kontext aber nicht nur, nicht gefoltert und vergewaltigt, sondern insgesamt nicht, auch nicht in hochtechnologischer, humaner und ziviler Form, verrohstofflicht und versklavt zu werden. Durch die Verknüpfung von Fairness und Nachhaltigkeit soll im gesamtgesellschaftlichen Körperumgang von den Individuen selbst bestimmt ein Leitbild verwirklicht werden, das in Bezug auf den Körper sowohl seine Bestandserhaltung wie auch die Mindestbedingungen eines humanen Umgangs mit ihm intergenerationell und global garantiert. Ein fairer, nachhaltiger Körperumgang soll die Existenz wie auch die zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten autonomen Personseins sichern. Dies kann nur realisiert werden, gibt es einen Kernbereich, an dem man sich auch im Körperumgang individuell und human, global und intergenerationell orientieren kann und der nicht missachtet werden darf. Abgeleitet von den Menschen- als Personenrechten versuchen wir diesen Kernbereich mit der Rede von den „Rechten" (oder vom Eigenwert) des Körpers für uns und durch uns zu thematisieren. Die „Rechte des Körpers" bezeichnen die Idee einer kulturalistisch gefassten Instrumentalisierungsgrenze unserer Physis. Es handelt sich um die Leitidee einer Grenzbestimmung, die so gefasst wird, als ob es sich um eine natürliche Naturgrenze handelt, obwohl es sich de facto um eine künstliche Naturgrenze handelt.14
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Mit dieser künstlichen Idee der Natur als Grenze der Naturinstrumentalisierung versuchen wir unter anderem auch dem konstitutiven Regulationsmechanismus des Sports zu entsprechen und ihn kulturalistisch zu reformulieren. Er beruht darauf, dass die künstliche Welt des Sports in der Annahme einer Natürlichkeitsidee gründet, die als Maßstab der Bewertung einer sportiven Leistung dient. Die Leitidee der Natürlichkeit ist demzufolge von funktionaler Normativität fur die Kunstwelt des Sports. Nur gilt es eben diese Natürlichkeit nicht (wie bisher) mit einem realistischen Purismus zu verbinden und sie unkritisch als „natürliche Natur", als Natur an sich oder als „Natur pur" zu verstehen, sondern kritisch-kulturalistisch als künstliche Natur, als für und durch uns gesetzte Natur, durch die bestimmt wird, was es heißt, aus eigener „Naturkraft" etwas zu leisten.15 Eine solche kulturalistische Naturidee ist als ein historisches Apriori zu begreifen, das nicht dogmatisch und ahistorisch-abstrakt die Grenzen der Instrumentalisierung und der Technisierung unseres Körperumgangs fixiert, sondern sie historisch-konkret, relativ und doch universell fasst. Folglich kann eine natürlich-körperliche Eigenleistung in einer modernen Körperkultur immer nur im Spannungsfeld von Natürlichkeit und Künstlichkeit, von Werk der Natur und Werk der Arbeit an sich historisch-konkret definiert werden und muss als kulturelles Produkt von angeborenem Talent und Training, von Naturveranlagung und technisch-wissenschaftlichem Können je zeitlich konkret bestimmt werden. Das Wesen sportiver Eigenleistung wird demzufolge verfehlt, zentriert man sie auf das aus einem talentierten Körper mit wissenschaftlich-technisch Mitteln Machbare, wie es im DDR-Doping tendenziell geschah; sie wird aber auch verfehlt, reduziert man sie auf die Fertigkeiten, die nur aus den biologisch angeborenen Fähigkeiten erwachsen sollen, wie es von einigen fundamentalistischen und gegenüber ihren eigenen moralischen und naturalistischen Vorannahmen unkritischen Dopingkritikern immer wieder zu hören ist.16
Anmerkungen 1
2
3
Vgl. auch für das Folgende Tanja Haug, Die Geschichte des Dopinggeschehens und der Dopingdefinition, in: Rüdiger Nickel/Theo Rous (Hg.), Das Anti-Doping Handbuch, Band 1, Aachen 2007, S. 43f. Vgl. Bettina Schöne-Seifert, Pillen-Glück statt Psycho-Arbeit. Was wäre dagegen einzuwenden? In: Johann S. Ach/Arnd Pollmann (Hg.), no body is perfect. Baumaßnahmen am menschlichen Körper und ästhetische Aufrisse, Bielefeld 2006, S. 279f. Vgl. Eckhard Meinberg, Dopingsport - im Brennpunkt der Ethik, Hamburg 2006.
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12
13 14
15
Vgl. Volker Caysa, Ressentiment und Körpertechnologisierung, in: Nietzscheforschung, Band 13, Berlin 2006, S. 175-182. Vgl. Haug, Geschichte des Dopinggeschehens, S. 48f. Detlef B. Linke, Hirnverpflanzung. Die erste Unsterblichkeit auf Erden, Reinbek bei Hamburg 1996, S. 149f. Zu den hier verwendeten Begriffen siehe: Volker Caysa, Körperutopien. Eine philosophische Anthropologie des Sports, Frankfurt/M., New York 2003. Vergleiche Michael Schwellen, Auf dem Olymp der Verlogenheit, in: Die Zeit, 22.1.2004, S. 11-15. Vgl. Caysa, Körperutopien, S. 292ff. Vgl. dagegen Ulrich Steinvorth, Natürliche Eigentumsrechte, Gemeineigentum und geistiges Eigentum, in: Deutsche Zeitschrift fur Philosophie 52 (2004), 5, S. 722f. Der Begriff des common body wurde meines Wissens von Gunter Gebauer in die Sportphilosophie und in die philosophische Anthropologie des Körpers eingeführt. Vgl. Gunter Gebauer, Sport in der Gesellschaft des Spektakels, St. Augustin 2002, S. 243ff. Vgl. Volker Caysa, Über die Maßstäbe der Kritik moderner Körperverhältnisse. Das Versklavungstheorem und der körpertechnologische Imperativ, in: Konstantin Broese u.a. (Hg.), Vernunft der Aufklärung - Aufklärung der Vernunft, Berlin 2006, S. 357-364. Kern des Versklavungstheorems ist der kategorische Imperativ, alle Verhältnisse zu vermeiden, in denen Menschen verrohstofllicht oder versklavt werden. Vgl. zu dieser Unterscheidung Caysa, Körperutopien, S. 75ff. Gerade die Bewertung des Dopings beweist, dass die Bewertungsnormen des Sports kulturell gesetzte Natur-Normen sind und insofern künstliche Normen, durch die der Sport nicht die „Natur" hätte, die man ihm zuspricht. Das Konsumplebiszit in Bezug auf Sportdoping im Fitnessbereich und „Sexdoping" zeigt an, dass das mit hohem moralischem und sportpolitischem Aufwand aufrechterhaltene Dopingverbot auch fallen könnte und im Sex schon längst gefallen ist. Zugleich enttäuscht das Doping aber auch die Naturillusionen, die mit dem Sport verbunden werden. Leistungskraftromantiker empören sich gerade deshalb so über das Doping, weil es ihnen zunächst als Grenzfall vor Augen fuhrt, dass sportive Eigenleistungen eben keine reinen Naturleistungen sind. Die Enttäuschung der erhabenen Naturillusionen nimmt man im Grunde den erwischten Dopern übel. Die damit verbundene Vergötzung der menschlichen An-sich-Natur existiert heute in der Form eines ästhetischen Naturalismus fort, mit dem das Erschrecken vor dem Naturerhabenen sportlicher und sexueller Leistungen, das immer ein Grund der Bewunderung sportiv-sexueller Leistungen war und zur Mythopoesie des modernen Sports und Sexualität gehört, weiterhin romantisch verklärt wird, indem zum Beispiel zur Essenz der Sexualität deren Unkalkulierbarkeit erklärt wird. Vgl. Volkmar Sigusch, Neosexualitäten. Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversionen, Frankfurt am Main/New York 2005, S. 70f. Die Vergötzung von Natürlichkeit der zufälligen An-sich-Natur macht aus Sport und Sex als Bestandteilen der Unterhaltungsindustrie in Gestalt des Profisports und Profisex so etwas wie eine Art Menschen-Zoo, Freak-Show, Präsentationen ausgestorbener Rassen: Dort nämlich wird uns gezeigt, was die einstigen Menschen-Tiere, natürlich-zufallig, „eigenleistend" vermochten und was die zivilisierten Tiere, die ersten, sprich mit Nietzsche letzten Menschen, nicht mehr können.
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16 So leider zu finden bei den deutschen Antidopingvorkämpfern Brigitte Berendonk und Werner Franke. Vergleiche dazu Brigitte Berendonk, Doping. Von der Forschung zum Betrug, Reinbek bei Hamburg 1992, sowie Werner W. Franke, Funktion und Instrumentalisierung des Sports in der DDR. Pharmakologische Manipulation (Doping) und die Rolle der Wissenschaft, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hg. vom Deutschen Bundestag. Band III, 2, Baden-Baden 1995.
Doping und das M a B einer . n a t ü r l i c h e n " Eigenleistung
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Autorinnen und Autoren Jutta Braun, geb. 1967, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Zeitgeschichte des Sports der Universität Potsdam. Veröffentlichungen u.a.: On the Political and Social Role of Sports in the German Dictatorships of the 20 th Century. Special Issue of Historical Social Research, Köln 2007; Sportstadt Berlin im Kalten Krieg. Prestigekämpfe und Systemwettstreit. Berlin 2006; Justizkorrektur in der Gründungs- und Frühphase der DDR, in: Roger Engelmann/Clemens Vollnhals (Hg), Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR, Berlin 1999, S. 115-133. Volker Caysa, geb. 1957, Dr. phil., lehrt als Professor Philosophie an der Universität Lodz, Privatdozent an der Universität Leipzig. Veröffentlichungen u.a.: Körperutopien. Eine philosophische Anthropologie des Sports, Frankfurt am Main/New York 2003; Kritik als Utopie der Selbstregierung. Über die existenzielle Wende der Kritik nach Nietzsche, Berlin 2005; Hass und Gewaltbereitschaft, Göttingen 2007 (mit Rolf Haubl). Anke Delow, geb. 1965, Dr. phil., freiberufliche Soziologin, Sportpsychologin und Beraterin. Veröffentlichungen u.a.: Leistungssport und Biographie: DDRLeistungssportler der letzten Generation und ihr schwieriger Weg in die Moderne, Münster 2000; Transformation und Modernisierung in ostdeutschen Sportvereinen. Sportfunktionäre als Agenten sozialen Wandels, Köln 2002 (mit Jochen Hinsching). Holger Gabriel, geb. 1962, Dr. med., Professor für Sportmedizin, FriedrichSchiller-Universität Jena, Leiter der Thüringer Beratungsstelle zur Bekämpfung des Dopings, Drogen- und Medikamentenmissbrauchs im Sport. Veröffentlichungen u.a.: Strong enough? .. .to be fair? Informationen rund um das Thema Antidoping. Thüringer Antidoping Beratungsstelle, 2004 (mit Berit Wanjek); Stark genug! .. .fair zu sein? Doping, Drogen und Medikamentenmissbrauch im Sport. Lehrmaterialien mit Themen- und Arbeitsblättern, 2004 (mit Berit Wanjek, Christian Wiek, Nikolaus Knoepffler, R. Albrecht, U. Gödde). John Hoberman, geb. 1944, Ph.D., Professor and Chair of Germanic Studies an der University of Texas at Austin, USA. Veröffentlichungen u.a.: Sport and Political Ideology, Austin 1984; The Olympic Crisis: Sport, Politics and the Moral
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Autorinnen und Autoren
Order, New York 1986; Mortal Engines: The Science of Performance and the Dehumanization of Sport, New York 1992 [Sterbliche Maschinen: Doping und die Unmenschlichkeit des Hochleistungssports, Aachen 1994]; Darwin's Athletes: How Sport Has Damaged Black America and Preserved the Myth of Race, New York 1997; Testosterone Dreams: Rejuvenation, Aphrodisia, Doping, Berkeley 2005. Nikolaus Katzer, geb. 1952, Dr. phil, Professor fur die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts unter bes. Berücksichtigung Mittel- und Osteuropas an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg. Veröffentlichungen u.a.: Kalter Krieg auf der Aschenbahn. Deutsch-russische Sportbegegnungen nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Karl Eimermacher, Astrid Volpert (Hg.), Tauwetter, Eiszeit und gelenkte Dialoge. Russen und Deutsche nach 1945, München 2006, S. 779-809; „Neue Menschen" in Bewegung. Zum Verhältnis von Sport und Moderne in Russland im 20. Jahrhundert, in: Andre Malz/Stefan Rohdewald/Stefan Wiederkehr (Hg.), Sport zwischen Ost und West. Beiträge zur Sportgeschichte Osteuropas im 19. und 20. Jahrhundert, Osnabrück 2007, S. 349-369. Nikolaus Knoepffler, geb. 1962, Dr. mult., Inhaber des Lehrstuhls für Angewandte Ethik an der Universität Jena, Leiter des Bereichs Ethik in den Wissenschaften in der Fakultät fur Sozial- und Verhaltenswissenschaften und des überfakultären Ethikzentrums. Veröffentlichungen u. a.: Menschenwürde in der Bioethik, Berlin 2004; Mitherausgeberschaften u. a.: Einführung in die Angewandte Ethik, Freiburg 2006; Human Biotechnology als Social Challenge. An interdisciplinary introduction to Bioethics, Aldershot, Hampshire 2007. Klaus Latzel, geb. 1955, Dr. phil, Wiss. Mitarbeiter im Forschungsprojekt „.Unterstützende Mittel' - Doping im Sportsystem der DDR und die Rolle der pharmazeutischen Industrie" am Historischen Institut der Friedrich-SchillerUniversität Jena. Veröffentlichungen u.a.: Deutsche Soldaten - nationalsozialistischer Krieg? Kriegserlebnis und Kriegserfahrung 1939-1945, Paderborn u.a. 1998,2. Aufl. 2000; Invulnerable - Cultures ofEscalation and Illusions of Doping, in: Christian Papilloud/Kornelia Hahn (Hg.), Cultural Technologies within a Technological Culture. On the Hybrid Construction of Social Life, Münster u.a. 2008, S. 115-132.
Autorinnen und Autoren
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Lutz Niethammer, geb. 1939, Dr. phil, Professor emeritus an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, u.a. Leiter der von der VW-Stiftung geförderten Forschungsgruppe „Erinnerung - Macht - Geschichte". Veröffentlichungen u.a.: (mit Alexander von Plato u. Dorothee Wierling) Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR. 30 biografische Eröffnungen, Berlin 1991; Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur (unter Mitarb. von A. Doßmann), Reinbek 2000; Fragen an das deutsche Gedächtnis. Aufsätze zur Oral History, Redaktion Franka Maubach, Essen 2008 (i.E.). Kirsten Kaya Roessler, geb. 1962, Dr. phil., Associate Professor am Forschungscenter fur Bewegung, Gesundheit und Zivilgesellschaft an der gesundheitswissenschaftlichen Fakultät der Süddänischen Universität in Odense, Dänemark. Veröffentlichungen u.a.: Environmental psychology - and the sporting space, Lund 2007; Sport auf Rezept. Gesundheit, Psychologie und Bewegung, Köln 2006; Sport und Schmerz. Ein sportpsychologischer Ansatz zur Schmerzforschung, Immenhausen 2004; Gestalttherapie und Geschichte. Brüche in der deutschen Erzähltradition, Egelsbach 1996. Ekkehard Schönherr, geb. 1968, M.A., Mitarbeiter im Forschungsprojekt „.Unterstützende Mittel' - Doping im Sportsystem der DDR und die Rolle der pharmazeutischen Industrie" am Historischen Institut der Friedrich-SchillerUniversität Jena. Veröffentlichungen u.a.: Kinder und sprachlose Opfer. Die zweifache Unmündigkeit der Ostdeutschen, in: UNIVERSITAS. Zeitschrift fur interdisziplinäre Wissenschaft. Nr. 639 (Sept. 1999), S. 881-889. Andreas Singler, geb. 1961, Sportwissenschaftler und freier Autor, Mainz. Veröffentlichungen u.a.: Doping im Spitzensport. Sportwissenschaftliche Analysen zur nationalen und internationalen Leistungsentwicklung, Aachen 2000,3. überarb. Aufl. 2006 (mit Gerhard Treutlein); Doping. Von der Analyse zur Prävention. Vorbeugung gegen abweichendes Verhalten in soziologischem und pädagogischem Zugang, Aachen 2001 (mit Gerhard Treutlein); Sport ohne Doping, hg. von der Deutschen Sportjugend, Frankfurt/M. 2004 (mit Nicole Arndt und Gerhard Treutlein). Giselher Spitzer, geb. 1952, Dr. paed, habil., Privatdozent am Institut für Sportwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Veröffentlichungen u.a.: Doping in der DDR. Ein historischer Uberblick zu einer konspirativen Praxis, Köln 1998, 3. Aufl. 2004; Fussball und Triathlon. Sportentwicklungen in der
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A u t o r i n n e n und Autoren
DDR, Aachen 2004; „Sicherungsvorgang Sport". Das Ministerium für Staatssicherheit und der DDR-Spitzensport, Schorndorf 2005; Wunden und Verwundungen: Sportler als Opfer des DDR-Dopingsystems, Köln 2007. Hans Joachim Teichler, geb. 1946, Dr. phil., Professor für Zeitgeschichte des Sports im Sportwissenschaftlichen Institut der Universität Potsdam. Veröffentlichungen u.a.: Internationale Sportpolitik im Dritten Reich, Schorndorf 1991; Das Leistungssportsystem der DDR in den 80er Jahren und im Prozeß der Wende. Schorndorf 1999 (mit Klaus Reinartz); Sport in der DDR. Eigensinn, Konflikte, Trends, Köln 2003; Zur Erinnerungskultur im deutschen Sport nach 1945, in: Historical Social Research 32 (2007), 1, S. 13-23. Gerhard Treutlein, Dr. phil., Professor i.R. Pädagogische Hochschule Heidelberg, Leiter des Heidelberger Zentrums für Dopingprävention. Veröffentlichungen u.a.: Doping im Spitzensport. Sportwissenschaftliche Analysen zur nationalen und internationalen Leistungsentwicklung, Aachen 2000, 3. Überarb. Aufl. 2006 (mit Andreas Singler); Doping. Von der Analyse zur Prävention. Vorbeugung gegen abweichendes Verhalten in soziologischem und pädagogischem Zugang, Aachen 2001 (mit Andreas Singler); als Herausgeber u.a.: Dopingprävention in Europa - Grundlagen und Modelle, Aachen 2006 (mit Wolfgang Knörzer und Giselher Spitzer).
Autorinnen und Autoren
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Peter Grupp
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Europäische Diktaturen u n d ihre Überwindung Schriften d e r Stiftung Ettersberg
B a n d 1: N a c h der Diktatur. D e m o k r a t i s c h e U m b r ü c h e in E u r o p a - zwölf J a h r e später. Hg. v. Hans-Joachim Veen. Redaktion Markus Pieper. 2003. IV, 225 S. Br. ISBN 978-3-41 2-03603-4 B a n d 2: Die abgeschnittene Revolution. Der 17. Juni 1953 in d e r deutschen Geschichte. Hg. v. Hans-Joachim Veen. 2004. IV, 248 S. Br. ISBN 978-3-41 2-1 7103-2 B a n d 3: Ehrhart Neubert, T h o m a s Auerbach: »Es k a n n a n d e r s w e r d e n « Opposition und W i d e r s t a n d in Thüringen 1 9 4 5 - 1 9 8 9 . 2005. 296 S. 85 s/w-Abb. Br. ISBN 978-3-41 2-08804-0 B a n d 4: Alte Eliten in j u n g e n Demokratien? W e c h s e l , W a n d e l und Kontinuität in Mittel- und Osteuropa. Hg. v. Hans-Joachim Veen. 2004. 408 S. Br. ISBN 978-3-41 2-08304-5 B a n d 5: Henning Pietzsch: Jugend z w i s c h e n Kirche u n d Staat. G e s c h i c h t e d e r kirchlichen J u g e n d a r b e i t in J e n a 1970-1989. 2005. 390 S. 1 s/w-Abb. Br. ISBN 978-3-41 2-1 7204-6
B a n d 6: Der K o m m u n i s m u s im Museum. F o r m e n der Auseinanders e t z u n g in Deutschland und Ostmitteleuropa. Hg. v. Volkhard Knigge und Ulrich Mahlert. 2005. 312 S. 40 s/w-Abb. Br. ISBN 978-3-41 2-20705-2 B a n d 7 erscheint nicht. B a n d 8: W o r a n e r i n n e r n ? Der K o m m u n i s m u s in der d e u t s c h e n Erinnerungskultur. Hg. v. Peter März und Hans-Joachim Veen. 2006. 269 S. Br. ISBN 978-3-412-37405-1 B a n d 9: E v a O c h s : »Heute k a n n ich d a s ja sagen« L a g e r e r f a h r u n g e n v o n Insassen sowjetischer Speziallager in d e r SBZ/DDR. 2006. VIII, 343 S. Br. ISBN 978-3-412-01006-5 B a n d 10: Michael P l o e n u s : »... s o wichtig wie d a s täglic h e Brot« D a s J e n a e r Institut für MarxismusLeninismus 1945-1990. 2007. 355 S. Br. ISBN 978-3-41 2-20010-7 B a n d 11: Peter Wurschi: Rennsteigbeat. J u g e n d l i c h e Subkulturen im Thüringer R a u m 1 9 5 2 - 1 9 8 9 . 2007. 312 S. Br. ISBN 978-3-412-20014-5 B a n d 12: W e c h s e l w i r k u n g e n Ost-West. Dissidenz, Opposition und Zivilgesellschaft 1 9 7 5 - 1 9 8 9 . Hg. von Ulrich Mahlert, Peter März , Hans-Joachim Veen. 2007. 213 S. Br. ISBN 978-3-41 2-23306-8
U R S U L A P L A T Z I, D - 5 0 6 6 8 K Ö L N , T E L E F O N ( 0 2 2 1 ) 9 1 3 9 0 0 , FAX 9 1 3 9 0 1 1
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Zeithistorische Studien Herausgegeben vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam e.V. - Eine Auswahl -
35: Andr6 Steiner (Hg.): Preispolitik und Lebensstandard. Nationalsozialismus, DDR und Bundesrepublik im Vergleich. 2006. 224 S. Gb. ISBN 978-3-41 2-30405-8 36: Annette Schuhmann: Kulturarbeit im sozialistis c h e n Betrieb. Gewerkschaftliche Erziehungspraxis in der SBZ/ DDR 1946 bis 1970. 2006. 319 S. Gb. ISBN 978-3-412-02706-3 37: Michael Lemke (Hg.): Schaufenster der Systemkonkurrenz. Die Region Berlin-Brandenburg im Kalten Krieg. 2006. 418 S. 7 s/w-Abb. auf 6 Taf. Gb. ISBN 978-3-412-02606-6 38: Thomas Klein: »Frieden und Gerechtigkeit!« Die Politisierung der Unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre. 2007. 548 S. Gb. ISBN 978-3-412-02506-9 39: Krijn Thijs: Drei Geschichten, e i n e Stadt. Die Berliner Stadtjubiläen von 1937 und 1987. 2008. 378 S. Zahlr. s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-41 2-14406-7
40: Leonore Ansorg, Bernd Gehrke, Thomas Klein, Danuta Kneipp (Hg.): Polltische G e g n e r s c h a f t in der DDR. Herrschaftswandel und Opposition in der Ära Honecker. 2008. Ca. 448 S. Gb. ISBN 978-3-412-14306-0 41: Mario Keßler: Ossip K. Flechthelm. Politischer Wissenschaftler und Zukunftsdenker (1909-1998). 2007. 295 S. 9 s/w-Abb. auf 8 Taf. Gb. ISBN 978-3-41 2-1 4206-3 42: Annette Schuhmann (Hg.): Vernetzte Improvisationen. Gesellschaftliche Subsysteme In Ostmitteleuropa und in der DDR. 2008. Ca. 336 S. Gb. ISBN 978-3-412-20027-5 43: Christoph Classen, Thomas Mergel, Martin Sabrow (Hg.): Kulturen d e s Politischen. Herrschaft und Integration In Diktaturen und Demokratien des 20. Jahrhunderts. 2008. Ca. 328 S. Gb. ISBN 978-3-412-20028-2 44: Jos6 M. Faraldo, Paulina Gulirtska-Jurgiel, Christian Domnitz (Hg.): Europa Im Ostblock. Vorstellungen und Diskurse (1945-1991). Europe in the Eastern Bloc. Imaginations and Discourses (1945-1991). 2008. 407 S. Gb. ISBN 978-3-41 2-20029-9
U R S U L A P L A T Z I , D-50668 K Ö L N , T E L E F O N ( 0 2 2 1 ) 9 1 3 9 0 0 , F A X 9 1 3 9 0 1 1
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