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German Pages 433 [434] Year 2018
Natalia Filatkina Historische formelhafte Sprache
Formelhafte Sprache Formulaic Language
Herausgegeben von Natalia Filatkina, Kathrin Steyer und Sören Stumpf Wissenschaftlicher Beirat Harald Burger (Zürich), Joan L. Bybee (New Mexico), Dmitrij Dobrovol’skij (Moskau), Stephan Elspaß (Salzburg), Christiane Fellbaum (Princeton), Raymond Gibbs (Santa Cruz), Annelies Häcki Buhofer (Basel), Claudine Moulin (Trier), Jan-Ola Östman (Helsinki), Stephan Stein (Trier), Martin Wengeler (Trier), Alison Wray (Cardiff)
Band 1
Natalia Filatkina
Historische formelhafte Sprache Theoretische Grundlagen und methodische Herausforderungen
ISBN 978-3-11-049471-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-049488-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-049195-1 Library of Congress Control Number: 2018940991. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort Dieses Buch ist das Ergebnis eines langjährigen Beschäftigungsprozesses mit dem Thema formelhafte Sprache und wurde im Sommersemester 2017 vom Fachbereich II der Universität Trier als Habilitationsschrift angenommen. Angefangen hat die lange Reise im Jahr 2004, als mich meine akademische Lehrerin Claudine Moulin kurz nach meiner Promotion ermutigt hat, mein Interesse für die Sprachgeschichte, den Sprachwandel und den kaum erforschten Bereich der historischen formelhaften Sprache zu verbinden und mich um den Sofja Kovalevskaja Preis der Alexander von Humboldt-Stiftung zu bewerben. Für dieses Vertrauen, Unterstützung, Ermutigung, ständige Förderung und Eröffnung neuer Perspektiven sowie die Möglichkeit, frei zu forschen und stets den eigenen Interessen zu folgen, gilt Claudine Moulin mein größter Dank. Dem Forschungsreferat der Universität Trier möchte ich für die Gewährung einer Anschubfinanzierung und die vielseitige Unterstützung bei der Antragsvorbereitung in den Jahren 2004 und 2005 danken. Die Alexander von HumboldtStiftung hat von 2006 bis 2013 die Projektidee finanziell unterstützt und mir die Gründung der Nachwuchsforschergruppe „Historische formelhafte Sprache und Traditionen des Formulierens (HiFoS)“ ermöglicht. Meinen Kolleginnen und Kollegen in der Forschergruppe Monika Hanauska, Carina Hoff, Johannes Gottwald, Heiko Dostert, Patrick Mai, Sören Stumpf, Ute Recker-Hamm, Caroline Rößger, Kai Kugler, Robert Clees, Jan Meier, Mihail Minev, Sabrina Prinzen und Hanna Elisabeth Schumacher danke ich für die enge Zusammenarbeit, die anregenden Diskussionen, den Zusammenhalt und ihren großartigen persönlichen Beitrag zum Gelingen der Forschergruppe. Die Möglichkeit, nicht nur zu betreuen und zu leiten, sondern die Entfaltung ihrer eigenen Lebens- und Karrierewege zu beobachten und daraus lernen zu dürfen, war eines der schönsten Erlebnisse in diesen Jahren. Die Bearbeitung großer Mengen alt(hoch)deutscher Texte ließ meine sprachhistorischen Kenntnisse nicht selten an ihre Grenzen stoßen. Die Grenzen konnte ich aber insbesondere nach den hochkarätigen Beratungen und stundenlangen Gesprächen mit Rolf Bergmann doch wieder etwas besser überwinden. Dafür sei Herrn Bergmann herzlich gedankt. Ohne die fachliche Kompetenz der Kolleginnen und Kollegen des Trier Center for Digital Humanities wäre die Realisierung der korpuslinguistischen Seite des HiFoS-Konzepts kaum möglich. Ihnen gebührt ebenfalls mein herzlicher Dank. Bei der Erarbeitung des Konzepts habe ich viel Unterstützung von Christiane Fellbaum erfahren, bei der ich mich ebenfalls herzlich bedanke. Danken möchte ich ferner allen Kolleginnen und Kollegen innerhalb und außerhalb der (germanistischen) historischen Linguistik, von denen
DOI 10.1515/9783110494884-201
vi | Vorwort
ich wertvolle Hinweise während und am Rande zahlreicher Tagungen im In- und Ausland sowie bei der Vorbereitung diverser Publikationen bekommen habe. Die Möglichkeit, über die ausgewählten Teile der vorliegenden Arbeit in konstruktiver Atmosphäre zu diskutieren, hat wesentlich zu meiner wissenschaftlichen Inspiration beigetragen. Das Habilitationsstipendium der Walter und Sibylle Kalkhof-Rose-Stiftung der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz hat mir die nötige innere Ruhe sowie die freien Zeit- und Denkräume verschafft, die im turbulenten akademischen Alltag für die Fertigstellung und Niederschrift eines größeren Buchprojekts unentbehrlich, aber immer nur schwer zu finden sind. Dafür bin ich dem Vorstand und dem Beirat der Stiftung sowie der Akademie sehr verbunden. Den Mitgliedern des Gutachterausschusses in meinem Habilitationsverfahren Claudine Moulin, Rolf Bergmann, Peter Kühn, Stephan Stein und Esme Winter-Froemel danke ich herzlich für die Übernahme der Gutachten, die Ermutigung und die hilfreichen kritischen Anmerkungen, die Eingang in die Druckfassung gefunden haben. Großen Dank schulde ich Sören Stumpf und Elisabeth Piirainen, die es auf sich nahmen, das Manuskript meiner Arbeit vollständig in seiner ersten Fassung zu lesen. Es ist kaum zu begreifen, dass ich Elisabeth Piirainen, die im Dezember 2017 viel zu früh und völlig unerwartet starb, die gedruckte Fassung meiner Untersuchung nicht mehr präsentieren kann. Dass meine Arbeit in dieser Form erscheinen kann, verdanke ich dem engagierten Einsatz von Carolin Geib, die in der Endphase ihres Studiums an der Universität Trier und parallel zu ihrer Masterarbeit unzählige Stunden in die Fertigstellung der Druckvorlage investiert hat, sowie Olena Gainulina vom DeGruyter Verlag für die unkomplizierte verlegerische Betreuung. Ganz herzlich möchte ich schließlich Daniel Gietz vom DeGruyter Verlag für das Interesse und die kompetente Unterstützung bei der Etablierung der Reihe „Formelhafte Sprache/Formulaic language“ danken. Mit der vorliegenden Untersuchung sei diese Reihe nun eröffnet.
Natalia Filatkina
Trier und Luxemburg, im April 2018
Inhalt Vorwort| V Einleitung: Zum „Paradigma der gestörten Ordnung“ | 1 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.5.1 1.5.2 1.6 1.7 1.8 1.8.1 1.8.2
Über den Elefanten im Raum: die konstitutive Rolle der Formelhaftigkeit | 8 Historischer Abriss zur Entstehung des Begriffs | 9 Phraseologieforschung | 14 Mündlichkeit, Gesprochene Sprache-Forschung und Interaktionale Linguistik | 17 Text- und Diskurslinguistik | 22 Mündlichkeit, Schriftlichkeit und die Theorie der formelhaften Sprache | 25 Feilkes Konzept der Common-sense-Kompetenz und der Mechanismus der idiomatischen Prägung | 26 Steins Konzept der formelhalten Sprache | 29 Konstruktionsgrammatiken | 32 Spracherwerb | 38 Korpuslinguistik | 45 Bubenhofers Konzept der Sprachgebrauchsmuster | 51 Steyers Modell der usuellen Wortverbindungen (UWV) | 52 Fazit | 55
2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6
Theoretisches Niemandsland: Historische formelhafte Sprache | 57 Sprachgeschichte als Sprachgebrauchsgeschichte | 64 Grammatikalisierung und Lexikalisierung | 69 Historische Konstruktionsgrammatiken | 73 Historische Phraseologieforschung | 78 Literaturgeschichte | 87 Kunstgeschichte | 92 Fazit | 95
3 3.1 3.2 3.3
Einblicke in die Kulturgeschichte der formelhaften Sprache | 97 Frühes Mittelalter: Notker III, der Deutsche | 98 Hoch- und Spätmittelalter | 102 Frühe Neuzeit: Die historischen Grammatiken des Deutschen | 104
viii | Inhalt
3.3.1 3.3.2 3.3.2.1 3.3.2.2 3.3.2.3 3.3.2.4 3.3.2.5 3.4
4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3
5 5.1 5.1.1 5.1.2
Formelhafte Sprache und frühneuzeitlicher Fremdsprachenerwerb | 105 Formelhafte Sprache und frühneuzeitliche Sprachtheorie | 109 Formelhafte Wendungen und die Reinheit des schriftlichen Ausdrucks | 110 Formelhafte Wendungen und die Zierlichkeit des schriftlichen Ausdrucks | 111 Formelhafte Wendungen und das ,reine Reden‘ | 113 Formelhafte Wendungen und die erkenntniskonstitutive Funktion der Sprache | 116 Formelhafte Wendungen als veranschaulichende Beispiele | 118 Das „critische“ 18. Jahrhundert: Johann Christoph Adelung | 120 Fazit | 126 Picking the beans: Zur Methodik der Untersuchung der historischen formelhaften Sprache | 128 Formelhafte Sprache und (historische) Wörterbücher | 129 Varianz in Texten und Wörterbüchern | 131 Formelhafte Wendungen im ‚Althochdeutschen Wörterbuch‘ | 137 Formelhafte Sprache und historische Textkorpora | 142 Korpuserstellung | 144 Korpusannotation | 147 Identifikation formelhafter Wendungen in Textkorpora | 149 Formelhafte Sprache im ältesten Deutsch – Methodik ihrer Untersuchung im HiFoS-Projekt | 153 HiFoS-Textkorpus: Zusammensetzung | 153 Definition einer formelhaften Wendung | 158 HiFoS-Konzept einer analytischen Datenbank für historische formelhafte Sprache | 165 Fazit | 176 Trying to chart the directions.Wege der Entstehung mikrostruktureller Formelhaftigkeit | 178 Diachrone Verfestigungsprozesse: theoretische Einblicke | 180 Variation und Wandel in der Phraseologie- und Parömiologieforschung | 181 Variation und Wandel in der Grammatikalisierungs-und Lexikalisierungsforschung | 189
Inhalt | ix
5.1.3 5.2 5.2.1 5.2.1.1 5.2.1.2 5.2.1.2.1 5.2.1.2.2 5.2.1.3 5.2.1.4 5.2.2 5.2.2.1 5.2.2.2 5.2.2.3 5.2.3 5.2.3.1 5.2.3.2 5.2.3.3 5.2.3.4 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.3.1 5.3.3.2 5.3.4 5.3.5 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4 5.4.5
Variation und Wandel in der historisch orientierten Konstruktionsgrammatik | 195 Routineformeln | 199 Sino daz chit nu _ih – Verfestigungswege von senu/see (hear) und nhd. sieh(e) | 199 Verwendung von sieh(e) im Neuhochdeutschen | 199 Das Netz der sieh(e)-Belege im Althochdeutschen | 202 See (hear) | 203 Senu/seno/sino | 206 Vergleich mit dem Altenglischen | 214 Zwischenfazit:Verfestigung der ahd. sieh(e)-Belege | 215 Ih meino: Evidenzen aus dem Althochdeutschen | 217 Die Verwendung im (gesprochenen) Neuhochdeutsch | 217 Die Verwendung im Althochdeutschen | 219 Vergleich mit ae. I mean und Zwischenfazit zu Verfestigungsprozessen im Althochdeutschen | 224 Wahrheitsbeteuerungen im älteren Deutsch und ihre Funktionen | 226 hwat | 230 zi w$re/zi w$ru/zi w$ron/te w$ron | 232 in w$r/in w$ra/in w$re/in w$ru/in w$ron/in w$r m0n | 238 Zwischenfazit: Verfestigungsprozesse bei Wahrheitsbeteuerungen und nhd. zwar | 243 Kollokationen | 248 Kollokationen (Funktionsverbgefüge) im Neuhochdeutschen | 248 Kollokationen (Funktionsverbgefüge) sprachhistorisch | 249 Kollokationen (Funktionsverbgefüge) im Althochdeutschen | 252 Funktionsverbgefüge mit habēn | 254 Funktionsverbgefüge mit tuon/mahh@n | 276 Vergleich mit dem Altenglischen | 283 Zwischenfazit: Verfestigungsprozesse bei Kollokationen (Funktionsverbgefügen) im Althochdeutschen | 285 Idiomatische formelhafte Wendungen | 286 wider/gegen den Stachel löcken | 287 Perlen vor die Säue (werfen) | 289 nach jemandes Pfeife/Geige tanzen | 297 etwas auf dem Kerbholz haben | 301 Zwischenfazit: Verfestigungsprozesse bei Idiomen | 307 Fazit | 308
x | Inhalt
6 6.1 6.1.1 6.1.2 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.4 6.4.1 6.4.2 6.4.3 6.4.4 6.4.5
7
Historische formelhafte Sprache textuell und textübergreifend | 310 Pastorale Gebrauchsliteratur | 317 Taufgelöbnisse | 317 Gebete | 319 (Weltliche) Gebrauchsliteratur: Eide und Rechtstexte | 324 ‚Straßburger Eide‘ | 325 ‚Klerikereid‘/‚Priestereid‘ | 326 Bruchstück einer ahd. Übersetzung der ‚Lex Salica‘ | 329 ‚Trierer Capitulare‘ | 331 Weltliche Gebrauchsliteratur: Segensprüche/ Beschwörungen | 333 Textmuster 1: Narrativ-legitimierende Historiolae | 336 Textmuster 2: Beschwörungsformel und Exorzierung | 345 Textmuster 3: Gebetsaufforderungen | 355 Weltliche und religiöse Dichtung: Loblieder | 355 ‚Georgslied‘ | 356 ‚Petruslied‘ | 360 ‚De Heinrico‘ | 361 ‚Ludwigslied‘ | 363 ‚Hildebrandslied‘ | 367 Fazit | 372 Zusammenfassung | 375
Literaturverzeichnis | 381
Einleitung: Zum „Paradigma der gestörten Ordnung“ If it were not the fact that the result of the individual’s free combination of existing elements is in the vast majority of instances identical with the traditional form, the life of any language would be hampered; a language would be a difficult thing to handle if its speakers had the burden imposed on them of remembering every little item separately. (Jespersen 1924, 21–29) The primary reason for viewing language as a complex adaptive system, that is, as being more like sand dunes than like a planned structure, such as a building, is that the language exibits a great deal of variation and gradience. (Bybee 2010, 2)
Die vorliegende Untersuchung widmet sich der historischen formelhaften Sprache. In der gegenwartssprachlich bezogenen Linguistik ist der Begriff formelhafte Sprache/formelhafte Wendung zwar einerseits nicht neu, aber er gehört andererseits sicherlich nicht zu der Gruppe der etablierten Termini mit scharfen Konturen und klaren Gegenstandsbereichen. Noch weniger verständlich ist, was in den historischen Entwicklungsstufen einer Sprache als formelhaft gelten kann, welcher Prägung diese Formelhaftigkeit ist, auf welchen Ebenen sie zustande kommt und welche Funktionen sie übernimmt. Genau diese Forschungslücke versucht die vorliegende Untersuchung für die deutsche Sprachgeschichte zumindest teilweise und mit Schwerpunkt auf dem Althochdeutschen und teilweise dem Altsächsischen zu schließen. Was in der vorliegenden Untersuchung unter formelhafter Sprache verstanden wird, wird in Kapitel 4 erklärt. Ohne an dieser Stelle auf die einzelnen Facetten der Definition einzugehen, sei sie hier zum besseren Verständnis pauschal angeführt. Formelhaft sind im weitesten Sinn: – Einwortausdrücke, typologisch heterogene Kombinationen aus mehreren Konstituenten bzw. ganze Sätze und/oder Texte, – die holistisch verstanden werden müssen, – sich auf unterschiedlichen (auch noch nicht abgeschlossenen) Stadien der formalen, semantischen und funktionalen Konventionalisierung befinden, – auf Gebrauchskonventionen einer sprachlichen Gemeinschaft beruhen, deren etablierte kulturelle (auch kommunikative) Erfahrungen und Wissensbestände sie tradieren, und – die sich durch eine starke Funktionalisierung im Kommunikationsprozess bzw. im Textaufbau auszeichnen können.
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2 | Einleitung: Zum „Paradigma der gestörten Ordnung“
Das erste einleitende Zitat Otto Jespersens ist einer der frühesten und bis jetzt kaum beachteten Belege, der beweisen soll, dass das Verständnis für die formelhafte Geprägtheit der menschlichen Kommunikation in der Geschichte der Linguistik als Wissenschaft früh existierte. Jespersen geht es in diesem Zitat um die sich in einer bestimmten Form und Bedeutung wiederholenden Formulierungen, die eben nicht aus einem Wort bestehen, sondern durch ihren polylexikalischen konventionellen Charakter als Wortverbindungen und die Möglichkeit ihrer Reproduktion in einer bestimmten Form und Bedeutung die Kommunikation erleichtern, wenn nicht erst ermöglichen. In den späteren linguistischen Paradigmen sind solche Gedanken nicht vollständig in Vergessenheit geraten, aber sie standen nicht mehr im Mittelpunkt und haben eine völlig andere Entwicklungsrichtung angenommen. Im Strukturalismus mit seiner Orientierung an dem systemhaften Aufbau einer Sprache erwies sich die eindeutige Zuordnung von Wortverbindungen zu einer Ebene als schwer. Nahmen Phoneme, Morpheme, Einwortlexeme bzw. Phrasen und Sätze in dem in Abbildung 1 dargestellten ‚Zwiebelmodell‘ des sprachlichen Systems einen festen Platz auf einer der Ebenen ein, stellten sich formelhafte Wendungen zu diesem Modell quer und störten gewissermaßen die Ordnung, weil das Modell keine Ebenenübergänge (aber freilich Ebenenzusammenhänge) vorsah.
Abb. 1: Das Zwiebelmodell eines Sprachsystems (nach Debus 21980, 188)
Zum Teil wurden Wortverbindungen als syntaktische Einheiten gesehen, öfter als lexikalische oder gar als nicht systemische Phänomene, sondern als Einheiten der parole, als sprechsprachliche stilistische Randerscheinungen. Insbesondere galt dies für syntaktisch und semantisch irreguläre (idiomatische) Wendungen,
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die von der im strukturalistischen Paradigma entstandenen Phraseologieforschung aufgegriffen und zu einem ihrer zentralen Untersuchungsgegenstände erhoben wurden. Genau diese syntaktisch und semantisch irregulären Wortverbindungen „störten“ auch die Generative Linguistik, weil sie reguläre Regeln und somit die Systemordnung sowohl im Bereich der Kompetenz als auch im Bereich der Performanz verletzten und deshalb als angeblich wenig geläufige Ausnahmen an die Peripherie des wissenschaftstheoretischen Interesses vertrieben wurden. Für Coulmas (1981a, 29–30) stellen sie aber keine singulären Ausnahmen dar, sondern bilden auf Grund ihrer Verbreitung und mit Blick auf das theoretische Vakuum für ihre Erklärung ein ganzes „Paradigma der gestörten Ordnung“. Den wissenschaftlichen Paradigmen bis ca. 1980 war gemeinsam, dass sie konventionalisierte, usuelle Wortverbindungen nicht in ihrer fundamentalen kommunikativen und kognitiven Rolle betrachteten, sondern als syntaktische und/oder semantische Auffälligkeiten auf der sprachlichen Oberfläche, die absolut fest sind, kaum Variation und gegebenenfalls eine auffällige Gesamtbedeutung aufweisen, die sich nicht aus der Bedeutung einzelner Komponenten in der Struktur der Wendungen ergibt. Mit der Hinwendung der Linguistik zu streng empirischen Verfahren der Auswertung größerer Textkorpora und der analytischen Beschreibung der Daten im Kontext der gebrauchsbasierten Theorien, mit dem Aufkommen der Textlinguistik und der Intensivierung der linguistisch ausgerichteten Gesprochene Sprache-Forschung wurden diese Annahmen relativiert. Das soll an dieser Stelle exemplarisch das zweite einleitende Zitat von Joan L. Bybee verdeutlichen. Sprachen funktionieren durch das Zusammenwirken des Usuellen, des Konventionalisierten, des Musterhaften, eben des Formelhaften und der Variation auf verschiedenen systemlinguistisch verstandenen Ebenen. So kann für das Deutsche wie für jede andere Sprache eine bestimmte Typik des Silbenbaus festgestellt werden. Auch Einzellexeme, Simplizia wie Komposita, werden nach formelhaften Mustern gebildet. Zahlreiche Syntaxtheorien sprechen von Satzbauplänen und Satzmodellen, die einerseits fest sind, andererseits aber Variation zulassen. Variation kann dabei paradoxerweise gleichzeitig ein Indikator der Festigkeit und ihre treibende Kraft, ihr Vehikel sein. Das Zusammenwirken von Festigkeit und Variation kann sowohl im Sprachsystem als auch in der Sprachverwendung beobachtet werden. Dass Formelhaftigkeit nicht wortgebunden ist, zeigen neben den Syntaxtheorien auch der Spracherwerb, der Sprachabbau, die Text- und die Diskurslinguistik. Begrüßungen, Eröffnungen von Veranstaltungen bzw. diverse Gespräche erfolgen nach den in den jeweiligen Gesellschaften bzw. Kulturkreisen üblichen Szenarien, manche Texte und Textsorten weisen einen
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typischen Aufbau auf und tradieren die in längeren Zeitabschnitten geformten, konventionalisierten Wissensbestände. In absolut jedem schriftlichen Text bzw. mündlichen Gespräch, unabhängig von seiner Zugehörigkeit zu einer oder mehreren Textsorten, lassen sich Wortverbindungen finden, die in einer bestimmten, aber mehr oder weniger variablen Form geläufig sind und in dieser Kombination pragmatischen und semantischen Sinn ergeben. Sie demonstrieren nicht den inflationären und undifferenzierten Umgang mit sprachlichen Mitteln, sondern bestätigen eine der wichtigsten und seit dem 19. Jahrhundert bekannte sprachwissenschaftliche Erkenntnis, die Feilke (1996, 313) wie folgt prägnant zusammenfasst: „Sprache als Mittel der Kommunikation ist nicht auch idiomatisch, sie ist wesentlich idiomatisch!“ Dabei muss hier der Begriff idiomatisch im weiten Sinn nicht als irregulär, sondern als ein grundlegendes Prinzip der Ausdrucksbildung auf verschiedenen Ebenen (syntaktisch, semantisch, pragmatisch, textuell) synonym zum Begriff formelhaft im Sinne der vorliegenden Untersuchung verstanden werden. Idiomatisch oder eben formelhaft im syntaktischen Sinn heißt, dass Wörter nicht isoliert voneinander ihre Bedeutungen entwickeln, sondern erst in Kombinationen mit anderen Wörtern. Dabei müssen diese Kombinationen nicht unbedingt absolut fest und unveränderbar sein. Damit sie allerdings in der Kommunikation Sinn ergeben, d.h. von Hörerinnen/Leserinnen und Hörern/Lesern verstanden werden und den Sprecherinnen/Schreiberinnen und Sprechern/Schreibern erlauben, ihre kommunikativen Ziele zu erreichen, müssen sie zwangsläufig konventionalisiert sein. Die Konventionalisierung ist stets ein Ergebnis historischer, sozialer und kultureller Entwicklungsprozesse einer Sprache („Sprache als soziale Gestalt“), mit denen die Sprecherinnen und Sprecher dieser Sprache beim Spracherwerb bzw. in der Kommunikation vertraut werden. Dass eine natürliche Sprache idiomatisch im semantischen Sinn ist, ist spätestens seit der US-amerikanischen Kognitiven Metapherntheorie bekannt, deren Novum in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts darin bestand, dass sie in die Diskussion der alten, auch im europäischen Forschungsparadigma gestellten Frage nach dem Zusammenhang von Sprache und Kognition, d.h. von Kodierung und Konzeptualisierung, die These der grundlegend und überwiegend metaphorischen Natur der Konzeptualisierung als Teilbereich der Kodierung sowohl mit Hilfe der Einzellexeme als auch der polylexikalischen idiomatischen Wortverbindungen bewiesen hat (Lakoff/Johnson 1980, 5; Gibbs 1992). Vom kognitiven Standpunkt aus ist das Nachvollziehen und Erklären des Zustandekommens einer konzeptuellen Struktur (target domain) aufgrund einer anderen (source domain) ein zentrales Anliegen. Dass den Konzeptualisierungen nicht nur metaphorisch motivierte Strukturen zugrunde liegen und dass die semantische Idiomati-
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zität auch symbolisch oder metonymisch bedingt sein kann, wurde mit der Weiterentwicklung der Lakoffschen Theorie mehrmals bewiesen (Dirven/Pörings 2002; Gibbs 1990; Nayak/Gibbs 1990; Dobrovol’skij 1997). Nicht unbestritten bleibt die Annahme, dass die Konzeptualisierungen (anders konzeptuelle Metaphern genannt) sowie die ihnen zugrunde liegenden Ausgangsbereiche universal seien. Bei aller berechtigten Kritik, die sich u.a. auf den hohen Abstraktionsgrad der konzeptuellen Metaphern, die Subjektivität bei ihrer Formulierung und auf das Fehlen der vergleichbaren Untersuchungen am Material unterschiedlicher Sprachen beziehen muss, kann davon ausgegangen werden, dass das Prinzip der semantischen Idiomatizität an sich allen Sprachen eigen ist. Mit Hilfe der theory of conventional figurative language (Dobrovol’skij/Piirainen 2005) konnten neben den zahlreichen Unterschieden in der Tat einige Gemeinsamkeiten in Kodierungs- und Konzeptualisierungsprozessen zwischen unterschiedlichen Sprachen und einem Dialekt beobachtet werden. Paradoxerweise erklären sich sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede dadurch, dass Konzeptualisierungen in hohem Maße kulturell geprägt sind und auch kulturell spezifisch sein können. Eine Kommunikationsgemeinschaft bildet also ein soziales und kulturelles System von Konzeptualisierungen und ihren Kodierungen aus und begründet auch hier ihr Bestreben nach einem Common sense (Feilke 1994). Auch dieses System ist historisch gewachsen und ändert sich in Raum und Zeit. Die Geprägtheit bzw. Formelhaftigkeit wird als die grundlegende und zentrale Eigenschaft der menschlichen Kommunikation (und nicht als Störfaktor) seitens ganz unterschiedlicher (linguistischer) Theorien und Teildisziplinen hervorgehoben, auch wenn diese nicht unbedingt mit dem Begriff Formelhaftigkeit/formelhafte Wendung arbeiten bzw. diesen Begriff unterschiedlich verwenden. Die vorliegende Untersuchung stellt ihn in den Mittelpunkt, begründet seine Abgrenzung von den vergleichbaren gegenwartssprachlich geprägten Begriffen Phraseologismus, Konstruktion, Gebrauchsmuster u.ä. ab und geht von der Annahme aus, dass die konstitutive Rolle der Formelhaftigkeit auch für historische Kommunikationssituationen typisch und dort genauso vielfältig ist. Die vorliegende Untersuchung setzt sich zum Ziel, zum einen die Gründe für die fehlende bzw. sehr marginale Betrachtung der formelhaften Wendungen in älteren Sprachstufen aufzuspüren und die Wichtigkeit dieser Forschungsrichtung aufzuzeigen. Da diese Gründe in meinen Augen forschungsgeschichtlicher und methodologischer Art sind, teilt sich die Arbeit in eben solche Abschnitte auf. In den Kap. 1 bis 3 wird der Versuch unternommen, forschungsgeschichtliches Wissen über die formelhafte Sprache integrativ zusammenzustellen sowie die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der älteren und neueren Forschung her-
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auszuarbeiten. Dabei liegt der Schwerpunkt in Kap. 1 auf den gegenwärtig arbeitenden Fächern und Fachrichtungen. Kap. 2 bietet dazu eine Kontrastfolie aus der Perspektive der historischen Fächer an. Die sich aus den beiden Überblickskapiteln ergebenden Erkenntnisse sind in ihrer Relevanz für das adäquate Verständnis von Sprachen in Synchronie und Diachronie sowie ihrer formelhaften und zugleich variablen Seite nicht zu ignorieren und sollen die Notwendigkeit ihrer systematischen und grundlegenden Untersuchungen begründen, wie sie etwa für Phonologie, Morphologie, Lexik und Syntax längst vorhanden und selbstverständlich sind. In Kap. 3 versuche ich diese Notwendigkeit auch kulturhistorisch zu untermauern, indem ich den im Vergleich zur Moderne anders konnotierten Stellenwert der formelhaften Wendungen und die anders gelagerten Einstellungen dazu in historischen Epochen vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert anhand ausgewählter Beispiele analysiere. Mit Kap. 4 beginnt der methodische Teil der Arbeit. Das Kapitel stellt die methodischen Herausforderungen der korpus- und computerbasierten Untersuchung der historischen formelhaften Wendungen vor und beschreibt den in der Nachwuchsforschergruppe „Historische formelhafte Sprache und Traditionen des Formulierens (HiFoS)“ an der Universität Trier gewählten Lösungsvorschlag. Das Ziel der Forschergruppe bestand in der systematischen Erfassung, Dokumentation und Kommentierung der formelhaften Wendungen in historischen deutschen Texten unterschiedlicher Gattungen der Zeitspanne von ca. 750 bis ca. 1650. Im Laufe des Projekts wurden ca. 31.635 formelhafte Wendungen (Stand beim Abschluss der Datenerhebung im Juli 2013)aus den Texten nach originalen Überlieferungsträgern exzerpiert, in einer webbasierten relationalen Datenbank dokumentiert und kommentiert. Durch die Arbeit der HiFoS-Nachwuchsforschergruppe wurde das Phänomen der historischen Formelhaftigkeit zum ersten Mal konsequent thematisiert; es wurde die Fülle des noch unbearbeiteten Materials und weiterer potenzieller Forschungsrichtungen aufgezeigt sowie die Ergiebigkeit der Fragestellung belegt. Der althochdeutsche (ahd.) und altsächsische (as.) Teil dieses Belegmaterials ist bis jetzt nicht nur sprach- und kulturhistorisch unerforscht, sondern auch kaum lexikographisch in den gängigen Nachschlagewerken erfasst. Ca. 9.548 formelhafte Wendungen in der HiFoS-Datenbank entstammen den ahd. Texten; sie bilden schwerpunktmäßig das geschlossene Korpus der vorliegenden Untersuchung. Ein weiteres Ziel der Arbeit besteht in der Beantwortung der Frage nach den Mechanismen der sprachhistorischen Verfestigungsprozesse. Der Untersuchung der Entstehung der Formelhaftigkeit sind die Kap. 5 und 6 gewidmet. Dabei konzentriert sich Kap. 5 auf die Typen einzelner formelhafter Wendungen auf der
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mikrostrukturellen Ebene der sprachlichen Oberfläche. In Kap.6 wird die formelhafte Geprägtheit auf der Ebene der Textstruktur und des Textaufbaus sowie der in Texten tradierten Wissensbestände als Teile des kulturellen Gedächtnisses untersucht. Insbesondere in diesen Kapiteln stehen das Althochdeutsche und das Altsächsische im Mittelpunkt; die Lücken der schriftlichen Überlieferung, die natürliche Langwierigkeit der Sprachwandelprozesse (so auch der Verfestigungsprozesse im Bereich der Formelhaftigkeit) und die lange Perspektive, die für ihre Beobachtung und Beschreibung nötig ist, erfordern die Überwindung der zeitlichen Grenzen einer Epoche. Aus diesen Gründen werden auch die mittelhochdeutschen (mhd.) und die frühneuhochdeutschen (frnhd.) Daten vergleichend zur Analyse herangezogen. Die Fallstudien in den Kap. 5 und 6 sollen die theoretischen Postulate der Kap. 1 und 2 und gleichzeitig die in Kap. 4 angesprochenen methodischen Herausforderungen aus empirischer Perspektive illustrieren. Das Fazit in Kap. 7 legt nahe, dass angesichts der konstitutiven Rolle der Formelhaftigkeit die sprachliche Ordnung nicht einfach als gestört gelten kann, sondern in ihrer bestehenden Auffassung überdacht werden soll.
1 Über den Elefanten im Raum: die konstitutive Rolle der Formelhaftigkeit To put all of this another way, we can rather easily assume that formulaic language is like the elephant differently described by blind men with access to different parts of its huge mass. We may imagine that in due course our work will join up and we will grasp the nature of the whole beast. But the point of the metaphor is that the blind men don’t know if they are in fact describing aspects of the same thing, because they can’t see the elephant. And we, for the moment at least, cannot necessarily assume that there is a single phenomenon at the heart of our different activities, or if there is, that there are not also a few small rodents skulking about in the room too, confusing the description of the elephant and, perhaps, also influencing how it behaves. We can describe what we find, and call it formulaic language. But the elephant in the room is that we do not know if there is just one elephant in the room. (Wray 2012, 239)
Alison Wrays Metapher vom Elefanten im Raum führt treffend in die Problematik des Phänomens formelhafte Sprache ein. Es ist einerseits kein neuer Begriff in der Linguistik und einer ganzen Reihe weiterer Disziplinen; die wissenschaftliche Auseinandersetzung damit fällt mit der Entstehungszeit der Sprachwissenschaft zusammen und beginnt bereits im 19. Jahrhundert.1Auch wenn die ersten Untersuchungen nicht immer systematisch auf die Erforschung der Natur der Formelhaftigkeit gerichtet sind, zieht sich der Gedanke über ihre konstitutive Rolle für die Kommunikation wie ein roter Faden bereits durch diese Studien. Die neueren Untersuchungen betonen verstärkt die Präsenz der Formelhaftigkeit, so dass sie wirklich mit einem Elefanten verglichen werden kann. Andererseits ist formelhafte Sprache nach wie vor kein klar definierter und etablierter Begriff; er entfaltet sich in unterschiedlichen Forschungsparadigmen unterschiedlich und konkurriert mit anderen verwandten Begriffen. Oft wird er gewissermaßen „neu entdeckt“, ohne Rücksichtnahme auf seine (vergleichbare) Existenz in benachbarten Fächern. Auch darauf bezieht sich Wrays Metapher: Ausgehend von eigenen Forschungsinteressen der blind men werden jeweils einzelne Mosaiksteine untersucht, ohne dass deutlich wird, wie sie sich in das gesamte Bild einfügen. Die Zusammenführung solcher diversen Blickrichtungen ist das Ziel des vorliegenden Kapitels. Mein Hauptanliegen besteht darin, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass formelhafte Sprache nicht das meint, was oft als Formeldeutsch apostrophiert wird, sondern einen zentralen Aspekt der menschlichen || 1 In Kap. 3 wird gezeigt, dass die Auseinandersetzung mit formelhafter Sprache durchaus auch vor der Entstehung der Sprachwissenschaft erfolgt.
DOI 10.1515/9783110494884-002
1.1 Historischer Abriss zur Entstehung des Begriffs | 9
Kommunikation darstellt, dessen systematische Untersuchung aus historischer Perspektive nicht mehr ignoriert werden darf und die den ihr gebührenden Platz bekommen soll. Dies versuche ich zunächst durch die Gegenüberstellung der einflussreichsten älteren und neueren Konzepte der Formelhaftigkeit zu erörtern, die sich vor allem um die Termini Phraseologie, Konventionalisierung, Routine, Ritual, Prägung, Vorgeformtheit, Verfestigung, Konstruktion, kommunikative Gattung, kommunikative Praxis, (Sprachgebrauchs)muster, usuelle Wortverbindung drehen. Insofern gibt das Kapitel den theoretischen Rahmen für die vorliegende Untersuchung der historischen formelhaften Sprache vor. Auch die hier angestrebte Tour d’Horizon wird sicherlich nicht vollständig sein,2 die Auswahl ist durch die bedeutende Wirkung der Theorien geleitet und auf die Beantwortung der drei folgenden Fragen gerichtet: 1) was wurde und wird unter Formelhaftigkeit verstanden, 2) welche Ebenen der menschlichen Interaktion umfasst dieser Begriff überhaupt und 3) wie verhält sich Formelhaftigkeit zu Variation und Kreativität? Im vorliegenden Kapitel analysiere ich hauptsächlich die am Material der gegenwärtigen Sprachen erarbeiteten Theorien, um dann im Kapitel 2 danach zu fragen, ob und wenn ja welchen Einfluss sie auf die historische Linguistik ausüben. Da mein Interesse vor allem linguistisch ist, lasse ich die rhetorische Perspektive auf formelhafte Wendungen als schmückende Elemente der ars ornandi unberücksichtigt.
1.1 Historischer Abriss zur Entstehung des Begriffs Dem nationalpatriotischen Geist des 19. Jahrhunderts entsprechend ist „eine reiche Phraseologie“ für von der Gabelentz (1901/1995, 124–125) „die Lehre von der Verwendung eines jeden Wortes im Zusammenhang der Rede“ und „ein unerlässlicher Bestandtheil einer nationalen Encyclopädie.“ Diese Einstellungen sind im 19. Jahrhundert verbreitet, gehen in ihren Vorläufern spätestens auf die Zeit des Humanismus zurück3 und rufen eine Reihe der so genannten sprichwörtlichen Sammlungen hervor. Da sie eher praktisch orientiert sind und wenig theoretische
|| 2 Neuere Überblicke finden sich in Wray (2013a,b) und Pawley (2007; 2009). Sie sind allerdings alle auf die englischsprachige Sekundärliteratur fokussiert. Pawley (2009) beschränkt sich außerdem auf die Forschung vor 1970; Pawley (2007) hingegen auf die Zeit danach. 3 Vgl. den kulturhistorischen Überblick in Kap. 3.
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Implikationen für die in dieser Epoche entstehende Sprachwissenschaft als Wissenschaft haben, bleiben sie in diesem Kapitel weiter unberücksichtigt.4 Im Mittelpunkt stehen hingegen die ersten linguistischen Auseinandersetzungen mit dem Konzept des Formelhaften. In den „Prinzipien der Sprachgeschichte“ bemerkt Paul, dass die Sprache erst da ist, „wo Sprechen und Verstehen auf Reproduktion beruht“ (1920/1995, 187). Unter Reproduktion versteht er die Entwicklung des konventionalisierten Sprachgebrauchs in einer Gesellschaft durch längere Ausübung der Sprechtätigkeit. Wie auch schon bei Humboldt halten die Reproduktion und das „immerwährende Schaffen“ einander die Waage (Paul 1920/1995, 109–110); die Fähigkeit zur sinngemäßen Reproduktion im oben definierten Sinn bildet den entscheidenden Unterschied zu anderen Sprachformen (z.B. Tiersprachen) und die Basis für konkrete sprachliche Realisierungen, d.h. die Sprechtätigkeit. Die Verfestigungsprozesse stellt Paul zunächst in einen Zusammenhang mit dem Bedeutungswandel durch Metaphorisierung bei Einzelwörtern, wobei die Metapher (lange vor der kognitiven Metapherntheorie Lakoffs/Johnsons 1980!) als etwas betrachtet wird, „was mit Notwendigkeit aus der menschlichen Natur fliesst und sich geltend macht nicht bloss in der Dichtersprache, sondern vor allem auch in der volkstümlichen Umgangssprache [...]“ (Paul 1920/1995, 94–95). Die Metaphorisierung trägt entscheidend zur Entstehung der usuellen Bedeutung bei, die sich durch einen höheren Abstraktionsgrad von der konkreten – okkasionellen – Bedeutung unterscheidet. Die Termini usuell und okkasionell verwendet bereits Paul (1920/ 1995, 75) und versteht unter usueller Bedeutung „den gesamten Vorstellungsinhalt, der sich für den Angehörigen einer Sprachgenossenschaft mit einem Worte verbindet; die okkasionelle Bedeutung ist die konkrete semantische Realisierung eines Wortes in einem bestimmten Sprechakt. Auch wenn Pauls Ausführungen über den Bedeutungswandel überwiegend einzelwortbasiert sind, ist für ihn die Wortverbindungsperspektive auch in diesem Kapitel ganz zentral. Das folgende Zitat soll dies dokumentieren: Besonders hervorgehoben werden muss, dass der Bedeutungswandel sich nicht bloss an einzelnen Wörtern vollzieht, sondern […] auch an Wortgruppen als solchen und ganzen Sätzen. So gibt es z.B. eine Menge Verbindungen mit Hand, bei denen wir an die eigentliche Bedeutung dieses Wortes nicht mehr denken, ausser wenn unsere Aufmerksamkeit ausdrücklich darauf gelenkt wird, wenn wir etwa über den Ursprung einer solchen Wendung reflektieren, vgl. auf der Hand (flacher, platter Hand) liegen, an die Hand geben, gehen, an der Hand haben, an der Hand des Buches etc., bei der Hand sein, haben, zur Hand nehmen, unter der Hand, unter Händen haben, von der Hand weisen, vor der Hand. Man kann nicht
|| 4 Sie werden allerdings bei der Darstellung des Forschungsstandes in Kap. 2 erwähnt.
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sagen, dass hier eigentümliche Bedeutungen des einzelnen Wortes Hand entwickelt sind, vielmehr ist die Verdunkelung der Grundbedeutung erst innerhalb der betreffenden Verbindungen eingetreten. Unsere Sprache ist voll von derartigen Wendungen.5 Bei manchen kann der Sinn nur mit Hilfe historischer Sprachkenntnis aus der Bedeutung der einzelnen Wörter abgeleitet werden, vgl. z.B. das Bad austragen, einem ein Bad zurichten, einem das Bad gesegnen, einen Bären anbinden, einem einen Bart machen, einen Bock schiessen, einen ins Bockshorn jagen, er hat Bohnen gegessen, einen Fleischergang tun, weder Hand noch Fuss haben, auf dem Holzwege sein, einem einen Korb geben, Maulaffen feil halten, einem etwas auf die Nase binden, einem den Pelz waschen, einem ein X für ein U machen etc. (Paul 1920/1995, 103)
Wenn man aus der heutigen Sicht der Behauptung über die Ableitung der Gesamtbedeutung aus der Bedeutung der einzelnen Wörter mit Hilfe historischer Sprachkenntnis bei den im Zitat zuletzt erwähnten Beispielen nicht mehr zustimmen würde, ist der fett hervorgehobene Gedanke über die Bedeutung des Kotextes und die Produktivität der vorgeformten Wendungen für das 19. und beginnende 20. Jahrhundert progressiv. Diesen Gedanken entwickelt Paul im Kapitel über die Syntax weiter. Dadurch, dass wir auf der Ebene der Syntax mit Beziehungen mehrerer Elemente zueinander zu tun haben, muss laut Paul (1920/1995, 151) die einzelwortbezogene Dichotomie usuell vs. okkasionell durch „noch eine andere gleichfalls sehr wichtige Unterscheidung […] zwischen der Bedeutung einer allgemeinen Beziehung schlechthin und derjenigen der Beziehung zu einem bestimmten Worte“ ergänzt werden. Vorgeprägte syntaktische Konstruktionsmuster, Gruppierungen von Wörtern, Zusammenfügungen mehrerer Wörter oder Proportionengruppen6in der Terminologie Pauls bilden die Grundlage einer analogen Produktivität im Sprechen und Verstehen (1920/1995, 100 und 188). Der einzelne Sprechakt ist individuell und okkasionell; er lässt den Sprecherinnen und Sprechern einer Sprache Freiraum für die eigene Kreativität. Da sie aber über eine konventionalisierte Menge von Einwortlexemen, Regeln zu ihrer Verbindung und Konstruktionsmustern verfügen, ist dieser Freiraum beschränkt. Konventionalisierung und Vorprägung bedeuten aber auf keinen Fall Statik: Nicht nur Einzellexeme, ihre Zahl und Form unterliegen dem Sprachwandel, sondern auch die Regelmäßigkeiten ihrer Kombinatorik. Was in einer historischen Epoche eine lose Wortverbindung ist, kann in einer anderen eine feste werden und umgekehrt;
|| 5 Hervorhebung durch die Verfasserin. 6 Unter Proportionengruppen versteht Paul nicht nur syntagmatische Wortverbindungen, sondern auch paradigmatische Gruppierungen grammatischer Formen eines Wortes oder Synonymengruppen, vgl. stofflich-formale Proportionengruppen. Da diese im Kontext der vorliegenden Arbeit keine Rolle spielen, wird darauf nicht näher eingegangen.
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was zu einer bestimmten Zeit eine geläufige Proportionsgruppe ist, kann zu einer anderen völlig außer Gebrauch geraten: Der Zusammenschluss der Sprachelemente zu Gruppen muss […] von jedem Individuum einer Sprachgenossenschaft besonders vollzogen werden. Die Gruppen sind also durchaus subjektiver Natur. Da aber die Elemente, aus denen sie sich zusammensetzen, innerhalb einer bestimmten Verkehrsgemeinschaft im grossen und ganzen die nämlichen sind, so muss auch die Gruppenbildung bei allen der Verkehrsgemeinschaft angehörenden Individuen vermöge der wesentlichen Übereinstimmung ihrer psychischen Organisation eine analoge sein. Wie wir daher überhaupt nach einem gewissen Durchschnitt das in einer bestimmten Periode allgemein Übliche darstellen, so sind wir auch im stande für jede Entwicklungsperiode einer Sprache ein im wesentlichen allgemeingültiges System der Gruppierung aufzustellen. […] Vergleichen wir nun unsere Abstraktionen über die Gruppierungen aus verschiedenen Zeiten mit einander, so gewahren wir beträchtliche Verschiedenheiten, und zwar nicht bloss insofern, als eine Anzahl Elemente verloren gegangen, andere neu entstanden sind; sondern auch da, wo sich die alten Elemente erhalten haben, gruppieren sie sich doch anders in Folge einer Veränderung […]. Was sich früher fest aneinander schloss, hängt jetzt nur noch lose oder gar nicht mehr zusammen. (Paul 1920/1995, 189–190)
Auch für de Saussure (1916/2013, 262) sind Syntagmen (syntagmes) oder syntagmatische Aneinanderreihungen (rapports syntagmatiques) von Einzelwörtern ein Mechanismus, eine der geistigen Tätigkeiten, die für das Leben der Sprache unentbehrlich ist.7 Fast schon im Sinne der modernen Konstruktionsgrammatik (vgl. Kap. 1.6) erstreckt bereits de Saussure die Verbindungsperspektive von Morphemen über satzgliedwertige Wendungen bis hin zu Sätzen, ohne diese allerdings als Form-Bedeutungspaare zu betrachten. Zwischen den Teilen einer syntagmatischen Gruppierung besteht für ihn eine gegenseitige Abhängigkeit. Im Gegensatz zu Paul sind aber für de Saussure les rapports syntagmatiques die Einheiten der langue und daher statisch und unveränderbar: „locutions toutes faites, auxquelles l’usage interdit de rien changer, même si l’on peut y distinguer, à la réflexion, des parties significatives (cf. forcer la main à quelqu’un, rompre une lance […], avoir mal à (la tête, etc.), à force de (soins, etc.), que vous en semble?, pas n’est besoin de… etc.“ (de Saussure 1916/2013, 264). Mit der Paulschen Auffassung überschneidet sich die These de Saussures, dass es innerhalb der rapports syntagmatiques eine große Anzahl von strukturell vorgeprägten Ausdrücken gibt. Ebenfalls der langue, nicht der parole, gehören syntagmatische Anreihungen an, die zwar keine strukturell festen Wendungen sind, denen aber feststehende Regeln der Kombinatorik zugrunde liegen, so z.B. Derivationen mit dem || 7 Die zweite ist die so genannten rapports associatifs, mit denen de Saussure die paradigmatischen Vernetzungen meint, die ein Wort eingeht.
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Suffix -able (indécorable, impardonable, intolérable) oder Sätze wie la terre tourne, que vous dit-il? De Saussure verwendet für solche vorgeprägten Regeln der Kombinatorik synonym die Begriffe formules régulières, patrons régulieres und types généraux (de Saussure 1916/2013, 266). Diese Gedanken werden heute in der Wortbildungslehre wieder aufgegriffen und weitergeführt, so etwa zuletzt in Baeskow (2015) und Arndt-Lappe (2015), indem die Regularität und Produktivität in der Wortbildung auf die dieser Ebene zugrundliegende (analoge) Musterhaftigkeit zurückgeführt werden. Fast zeitgleich mit de Saussure erklärt Jespersen (1924, 29) folgendermaßen die Ziele seines Werks „The Philosophy of Grammar“: My chief object in writing this chapter8 has been to make the reader realize that language is […] a set of habits, of habitual actions, and that each word and each sentence spoken is a complex action on the part of the speaker. The greater part of these actions are determined by what he has done previously in similar situations, and that again was determined chiefly by what he had habitually heard from others. But in each individual instance, apart from mere formulas, the speaker has to turn these habits to account to meet a new situation, to express what has not been expressed previously in every minute detail; therefore he cannot be a mere slave of habits, but has to vary them to suit varying needs – and this in course of time may lead to new turns and new habits.
Solche „Sammlungen von Gewohnheiten“ bezeichnet er als formulas oder formular units und bezieht sie wie auch die modernen Konstruktionsgrammatiken sowohl auf Morpheme (Suffixe und Endungen) und Komposita, als auch auf Sätze und feste Wendungen im Sinne der gegenwärtigen Phraseologieforschung. Die letzteren (How do you do? Good morning! Thank you! Beg your pardon!) unterscheidet er aufgrund ihrer absoluten strukturellen Festigkeit als holistische und zum Moment des Sprechakts (also synchron) nicht weiter zerlegbare und analysierbare units. Ihnen liegt ein Muster (pattern, type) zugrunde, das synchron nicht mehr rekonstruierbar und deshalb in der Jespersenschen Terminologie irregulär ist. Ist dieses Muster noch nicht opak, lässt die formula Variation zu wie etwa im Beispiel Long live the King!, in dem die letzte substantivische Konstituente durch andere substituiert werden kann (Queen, President, Mr. Johnson). Der Unterschied zu freien Verbindungen (free expressions) besteht darin, dass diese zwar auch festen, vorgeprägten Mustern folgen, die Muster aber unbedingt geläufig und regulär (living) sein müssen.9 Jespersen illustriert diesen Gedanken am Beispiel von zwei Sätzen – John gave Mary the apple und My uncle lent the joiner five || 8 Gemeint ist Kapitel 1 „Living Grammar“ des Werks „The Philosophy of Grammar“. 9 „Hence formulas may be regular or irregular, but free expressions always show a regular formation.“ (Jespersen 1924, 24).
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shillings – die er für freie Verbindungen hält, die aber auf einem analogen regulären Muster basieren: The sentences he [NF: der Sprecher] thus creates may, or may not, be different in some one or more respects from anything he has ever heard or uttered before […]. What is essential is that in pronouncing it he conforms to a certain pattern. No matter what words he inserts, he builds up the sentence in the same way. […] The words that make up the sentences are variable, but the type is fixed. […] The only thing that matters is that he is understood, and this he will be if his sentence is in accordance with the speech habits of the community in which he happens to be living. (Jespersen 1924, 19)
Der Grund für diese konstitutive Bedeutung der Formelhaftigkeit ist kognitiver Art: Gäbe es sie nicht, bestünde die Sprache nur aus Idiosynkrasien, die den Sprecherinnen und Sprechern beim Spracherwerb und bei der Sprachverwendung einen immensen kognitiven Aufwand bereiten würden.10 Wir haben somit bei Jespersen mit mindestens drei Typen von Formelhaftigkeit zu tun. Erstens versteht er darunter, wie auch die vorliegende Untersuchung, die ausdrucksseitige Typik, die sich u.a. in konventionalisierten Mehrwortverbindungen manifestiert. Zweitens attestiert er Formelhaftigkeit im Sinne der Regeln der Kombinatorik tiefen Strukturen, die z.B. syntaktischen Äußerungen zugrunde liegen. Schließlich ist Formelhaftigkeit für Jespersen inhaltsseitig und semiotisch, indem sie allgemeine Gewohnheiten umfasst, die jegliches Handeln (nicht unbedingt nur sprachliches) für Mitglieder einer Gesellschaft ökonomischer gestaltet und gemeinsame Kontexte des Meinens und Verstehens erzeugt. Wie auch schon Paul und im Gegensatz zu de Saussure betont Jespersen sehr deutlich, dass Gewohnheiten Veränderungen unterliegen.
1.2 Phraseologieforschung Am konsequentesten wurden formelhafte Einheiten bis jetzt unter dem Begriff Phrasem/Phraseologismus in der Phraseologieforschung behandelt. Auch wenn die Wortverbindungsperspektive seit dem „Traité de stilistique française“ (21909) von de Saussures Schüler Charles Bally nicht unmittelbar verfolgt wurde, hat sie
|| 10 Jespersen (1924, 21) dazu wörtlich: „If it were not the fact that the result of the individual’s free combination of existing elements is in the vast majority of instances identical with the traditional form, the life of any language would be hampered; a language would be a difficult thing to handle if its speakers had the burden imposed on them of remembering every little item separately.“
1.2 Phraseologieforschung | 15
seit den Werken Vinogradovs in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts11 allmählich die Anerkennung gefunden, die ihr gebührt. Im Laufe der nun mehr als 80jährigen Geschichte der Entwicklung der Phraseologieforschung zu einer internationalen Teildisziplin der Linguistik (Burger/Dobrovol’skij/Kühn/Norrick 2007, 1–10) hat sie vielfältig bewiesen, dass Phraseologismen als wichtige Komponenten des nominativen Systems der Sprache, des Lexikons und der Kultur verstanden werden müssen. Dass Phraseologismen als vorgeformte Verbindungen von zwei oder mehr Wörtern, die a) „eine durch die syntaktischen und semantischen Regularitäten der Verknüpfung nicht voll erklärbare Einheit bilden“ und b) in dieser Verbindung in einer Sprachgemeinschaft ähnlich wie ein Lexem gebräuchlich sind (Burger/Buhofer/Sialm 1982, 1–2), keinen Grenzfall und keine „gelegentliche Einschränkung der sonst völlig intakten „Produktivität““ in der menschlichen Kommunikation darstellen, hat Burger bereits (1973, 1 und 8) hervorgehoben. 2010 stellt er fest, dass diese Tatsache seitens der modernen linguistischen Theorien nach wie vor übersehen wird: Gemäß einer landläufigen Vorstellung kommen sprachliche Ausdrücke dadurch zustande, dass Wörter nach bestimmten (syntaktischen) Regeln zu größeren Einheiten (Sätzen, Texten) kombiniert werden. Dabei wird übersehen, dass es in jeder Sprache ein unabsehbares Inventar „vorgefertigter“ Kombinationen von Wörtern gibt, die aus dem mentalen Speicher abgerufen werden können, ohne jedes Mal neu zusammengesetzt zu werden. Diese Kombinationen sind mehr oder weniger „fest“ und werden als „phraseologisch“ bezeichnet. Es handelt sich also nicht um einzelne Wörter, sondern um Mehrworteinheiten (polylexikalische Einheiten). Die Abgrenzung des Bereichs solcher phraseologischer Wortverbindungen (Phraseologismen) lässt sich nicht für allemal vornehmen, sondern variiert je nach dem, welche Kriterien für „Festigkeit“ angesetzt werden. Wenn man als Kriterium in den Vordergrund rückt, dass Phraseologismen geläufige Kombinationen von Wörtern sind, ist der Bereich der Phraseologie außerordentlich groß [NF: Kriterium b) oben]. Wenn hingegen als spezifisches Kriterium hinzukommt, dass die Bedeutung dieser Kombinationen besondere Eigenschaften hat, die man bei nicht-phraseologischen Verbindungen nicht antrifft [NF: z.B. Kriterium a) oben Idiomatizität], dann ergibt sich ein engerer Bereich, derjenige der idiomatischen Phraseologismen. (Burger 42010, 31)
Zusammen mit Einzellexemen bilden Phraseme das Lexikon einer Sprache, sind aber mit Blick auf ihre polylexikalische Struktur als komplexe kombinatorische Zeichen zu betrachten. Zu dieser ausdrucksseitigen Komplexität kommt bei einigen (aber nicht bei allen!) Phraseologismen noch die Komplexität auf der Inhaltsseite hinzu, insofern als sie aus Zeichen zusammengesetzt sind, die ihrerseits (freie) Zeichen erster Stufe sind und als solche auch als freie Wortverbindun|| 11 Vgl. stellvertretend Vinogradov (1946).
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gen einen Sinn ergeben. Solche Phraseologismen werden deshalb als ein sekundäres semiotisches System bezeichnet. Burger (52015, 78–79) verdeutlicht dies anhand des Sprichworts Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Entgegen der oft verbreiteten Auffassung sind Sprichwörter nicht der einzige Untersuchungsgegenstand der Phraseologieforschung. Seit ihren Anfängen beschäftigt sie sich mit typologisch sehr heterogenen Einheiten, z.B. Idiomen (ins Gras beißen), Kollokationen (kochendes Wasser, eine Entscheidung treffen), Routineformeln (Herzlichen Glückwunsch!), grammatischen Phraseologismen (nicht nur – sondern auch), Modellbildungen (Kopf an Kopf; Schritt für Schritt), Paarformeln (klipp und klar), komparativen Phraseologismen (frieren wie ein Schneider), phraseologischen Termini (rechtliches Gehör), Kinegrammen (die Achseln zucken), geflügelten Worten (Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage), onymischen Phraseologismen (Rotes Meer)12 usw., von denen Sprichwörter eben nur einen dieser Typen und zugleich den zentralen Untersuchungsgegenstand der nicht weniger traditionsreichen, aber nicht primär linguistisch orientierten Parömiologie (Mieder 1992a; 1993; 2004a) bilden. Ein erheblicher Unterschied besteht aber in der Akzentuierung dieser Typen: Die europäische Phraseologieforschung war lange Zeit nach ihrer Entstehung primär semantisch und pragmatisch orientiert und widmete sich folglich verstärkt den semantisch irregulären und deshalb im Sprachgebrauch, beim Spracherwerb und während der Sprachkodifizierung auffälligen Einheiten – Idiomen im engen Sinn und anderen idiomatischen Phrasemen. Sie bildeten den so genannten Kern des phraseologischen Zentrum-Peripherie-Modells13 und verdrängten andere Typen, die über dieses Kriterium nicht verfügen und syntaktisch und semantisch regulär sind, insbesondere Kollokationen, Modellbildungen, grammatische Phraseologismen oder Routineformeln, an seine Ränder. Dass Idiome im Sprachgebrauch token-mäßig im Vergleich zu z.B. Kollokationen relativ selten sind, wussten bereits die „klassischen“ Phraseologieforscherinnen und -forscher. Spätestens seit der Entstehung der Korpuslinguistik ist diese Beobachtung auch empirisch nachweisbar (vgl. Kap. 1.8) und hat zur Verschiebung des Forschungsinteresses auf andere Typen und Öffnung der oberen Grenzen der Phraseologie geführt: „Vorgefertigte“ Kombinationen von Wörtern bleiben nicht an der Satzgrenze stehen, sondern erfassen die Makro- und Mesostrukturen von Texten (vgl. den Begriff formelhafte Texte bei Gülich 1997; Dausendschön-Gay/Gülich/Kraft 2007 und Kap. 1.4). Diese Beobachtung hatte
|| 12 Alle Begriffe nach Burger (52015, 30–60). 13 Vgl. dazu Coulmas (1985), Dobrovol’skij (22016), Fleischer (1982), Gläser (1986), Hessky (1987); zusammenführend und kritisch Feilke (2004, 45–49). Dass sich diese Auffassung aus historischer Perspektive nicht bewährt, zeigen Filatkina (2007) und Burger (2012a).
1.3 Mündlichkeit, Gesprochene Sprache-Forschung und Interaktionale Linguistik | 17
auch Folgen für die anwendungsorientierte Seite der Phraseologieforschung, indem neue Konzepte für muttersprachlichen und fremdsprachlichen Unterricht gefordert und die Notwendigkeit der Kollokationswörterbücher hervorgehoben wurden (vgl. den Überblick in Halsteinsdóttir/Winzer-Kiontke/Laskowski 2011). Die Beobachtung hatte allerdings wenig Auswirkung auf die eigene Theoriebildung und sorgt nach wie vor für die Reduzierung der Phraseologieforschung auf Sprichwörter bzw. Idiome in der Auffassung der Vertreterinnen und Vertreter anderer linguistischen Teildisziplinen, trotz der Tatsache, dass die Anerkennung der Wortverbindungsperspektive und der Fixiertheit der Sprache dort in jüngster Zeit allgemein wächst (vgl. z.B. die Konstruktionsgrammatiken, Kap. 1.6). Laut Feilke (1994, 377) funktioniert die Phraseologieforschung wie „ein Sammelbecken theoretisch ungeklärter Probleme der Linguistik.“ Solche Eigenschaften der Phraseologismen wie Polylexikalität, relative Festigkeit und gegebenenfalls Idiomatizität (Burger 52010, 15–28) stellen andere linguistische Teildisziplinen vor neue Herausforderungen. Auch darauf hat Burger bereits (1973, 1–2) hingewiesen. Aus theoretischer Sicht erlauben sie die die von Martinet (1963) angenommene Dualität der natürlichen Sprachen zu erweitern: Zum System der bedeutungsunterscheidenden Phoneme und Grapheme (1) und zum System der bedeutungstragenden Einzelzeichen (2) soll das System der kombinatorischen Zeichen (3) hinzukommen, die aus mehreren Einzelzeichen bestehen (vgl. die Argumentation in Häcki Buhofer 2001, 5–7). Neue fruchtbare Impulse, mit denen es sich innerhalb der Phraseologie aber auch kritisch auseinanderzusetzen gilt, kommen seitens der Konstruktionsgrammatiken (vgl. Kap. 1.9).
1.3 Mündlichkeit, Gesprochene Sprache-Forschung und Interaktionale Linguistik Zeitgleich mit der Entstehung der Phraseologieforschung gerät Formelhaftigkeit in den Blickwinkel mehrerer Disziplinen, die sich mit der gesprochenen Sprache beschäftigen. Formelhaftigkeit wurde lange Zeit gar ausschließlich mit mündlicher Kommunikation assoziiert, und dies nicht nur innerhalb der Linguistik. Luckmann (1986) beschreibt aus wissens- und sprachsoziologischer Perspektive konventionalisiertes kommunikatives Verhalten als die Entstehung und Verfestigung von kommunikativen Gattungen, d.h. solchen kommunikativen Prozessen, die sich gesellschaftlich verfestigt haben und durch die Verwendungen von typischen „Kombinationen verschiedener verfestigter (rekurrenter) Elemente sowohl auf der paradigmatischen als auch syntagmatischen Ebene“ (Günthner/Knoblauch 1994, 703) realisiert werden. Zwei tragende Säulen der kommunikativen Gattungen sind somit die formale Verfestigung komplexer Abläufe und
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verbindliche Lösungsmuster. Die letzteren bezieht Luckmann neben der „Außenstruktur“ (kommunikative Milieus, soziale Rollen der Beteiligten usw.) auch auf die verwendbaren Ausdrucksmöglichkeiten oder die „Binnenstruktur“, die die prosodische Gestaltung, Wortwahl, Syntax, Wortverbindungen, Auswahl von Themen, Topoi und Figuren mit einschließt. M.W. haben zunächst Günthner/ Knoblauch (1994) das soziologische Konzept der kommunikativen Gattungen für die linguistisch ausgerichtete Gesprochene Sprache-Forschung fruchtbar gemacht. Solche klassischen Typen der formelhaften Wendungen wie Routineformeln oder Sprichwörter werden hier explizit zu den verfestigten Elementen gezählt. Eine weitere Disziplin ist die Ritualforschung, die sich neben der Ermittlung der ritualisierten Handlungen im religiösen und säkularen Bereich14 mit der Frage beschäftigt, inwiefern mündliche ritualisierte Handlungen an verbale Routinen gekoppelt sind. Werlen (1984) und Rauch (1992) kommen zum Schluss, dass feste Wortverbindungen unmittelbar zum Vollzug der Alltagsrituale wie etwa Tischgespräche und institutionelle Gespräche beitragen. In diese Reihe sind auch Untersuchungen zu stellen, die an die so genannte Literaritäts- oder oral poetry-Forschung anknüpfen, die der Formelhaftigkeit eine besondere Rolle beimessen und dies vor allem durch die mnemotechnische Notwendigkeit erklären: Angesichts des Fehlens der Schriftlichkeit diktiert diese Notwendigkeit sowohl die ausdrucksseitige Gestaltung der Texte durch Reim und Rhythmus, syntaktische Symmetrien, phonetische Assonanzen und Alliterationen als auch die inhaltsseitige Prägung der Figuren. Angesichts der ausgesprochen historischen Ausrichtung solcher Untersuchungen, werden sie in Kap. 2 ausführlicher betrachtet. In der Linguistik wurden Wortverbindungen lange Zeit vor allem wegen der emotionalen Konnotation und des wertenden Potenzials (vgl. fauler Zauber, die Schnauze voll haben, Das ist der Hammer!)als ein typisches stilistisches Merkmal der gesprochenen Sprache betrachtet. Deshalb hat sich die Gesprochene Sprache-Forschung seit ihrer Entstehung in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts naturgemäß auch mit diesen Einheiten beschäftigt, vgl. z.B. für Routineformeln die nach wie vor als das bahnbrechende Standardwerk geltende Monographie Coulmasʼ (1981). Ein Kapitel zur Phraseologie, zum formelhaften Sprechen, zu „Formulierungsverfahren“ oder „Äußerungseinheiten“ hat im Gegensatz zu allgemeinen Einführungen in die Linguistik15 in keiner Einführung in die gesprochene
|| 14 Vgl. die umfangreiche Publikationsliste des Sonderforschungsbereichs 619 „Ritualdynamik“ unter: http://www.ritualdynamik.de/index.php?id=169&L=999999.9. 15 Eine Ausnahme ist die „Einführung in die deutsche Sprachwissenschaft“ von Bergmann/ Pauly/Stricker (2010, 225–245), die ein Kapitel zur Phraseologie enthält.
1.3 Mündlichkeit, Gesprochene Sprache-Forschung und Interaktionale Linguistik | 19
Sprache gefehlt (vgl. zuletzt Schwitalla 2012). Auch im Modell der kommunikativen Nähe und Distanz von Koch/Österreicher (2011, 3–20), in dem mündliche Formen eher am Nähe-Pol zu verorten sind, wird das Vorkommen von phraseologischen Wortverbindungen in der Sprache der Nähe durch solche für diese charakteristischen Kommunikationsbedingungen wie Privatheit, Vertrautheit, Emotionalität, Dialogizität und Spontaneität begründet. Die versprachlichungsstrategische Ausrichtung der nahesprachlichen Kommunikationssituationen auf Aggregation statt Integration trägt sicherlich auch dazu bei. Ein wichtiger Beitrag für die Theorie der Mündlichkeit wurde von Gumperz (1982) geleistet. Formelhafte Wendungen betrachtet er nicht in Bezug auf ihre stilistische Färbung, sondern hinsichtlich ihrer herausragenden Rolle im Prozess der Kontextualisierung. Damit meint er, dass bestimmte Handlungen nicht von Fall zu Fall neu ablaufen, sondern routinisierten Standardformaten folgen, was sich nicht nur, aber vor allem durch eine verfestigte Wortwahl auszeichnet. So ist es Konvention, zu Beginn einer Fahrausweiskontrolle die Mehrwortverbindung Fahrausweise bitte! zu hören; die Formulierung Liebe Fahrgäste, ich muss hier eine Kontrolle durchführen. Wären Sie wohl so freundlich, mir Ihre Fahrausweise rauszusuchen?16 würde nicht die gleiche Handlung indizieren, weil sie aufgrund ihrer abweichenden Struktur nicht als Kontextualisierungshinweis für diese fungiert. Ganz im Sinne der modernen linguistischen Theorien (Kap. 1.6) stellt sich für Gumperz nicht die Frage, ob es sich bei solchen verfestigten Formulierungen um Wörter, lexikalisierte Wortverbindungen, morphosyntaktische Strukturen bzw. Sätze handelt. Der entscheidende Punkt ist der Grad der Konventionalisierung und die Beteiligung am Prozess der Kontextualisierung einer bestimmten Kommunikationssituation. Mittlerweile gilt die Tatsache, dass die schriftliche Kommunikation nicht weniger formelhaft ist als die mündliche, als empirisch nachgewiesen (vgl. Kap. 1.4).17 Trotzdem ist Formelhaftigkeit nach wie vor ein fester Bestandteil der Untersuchungen zur Mündlichkeit, ihr Verständnis hat sich von der primären Fokussierung auf Routineformeln allerdings stark ausgeweitet. Seit der Anwendung der sich überwiegend auf die Schriftlichkeit bezogenen Formulierungstheorie (Antos 1982; Kap. 1.4) im Bereich der Mündlichkeit wurde mehrmals hervorgehoben, dass eine erfolgreiche Sprachverwendung als Lösung von Formulierungsproblemen zu verstehen ist (Gülich/Kotschi 1987; Gülich 1997; Gülich/Krafft 1998). Viele der in der Kommunikation auszuführenden Sprachhandlungen sind konventionalisierte, ritualisierte Kommunikationsformen, die
|| 16 Das für das Deutsche angepasste Beispiel nach Auer (22013, 165). 17 Fleischer (2002, 143) stellt hier zwar „Frequenzen- und Distributionsunterschiede,“ aber keine „absoluten Restriktionen“ fest.
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das Formulieren ökonomischer gestalten und das Verstehen erleichtern bzw. es erst ermöglichen. Für das soziale Sprachhandeln ist somit eine besondere Typik kennzeichnend, die die Traditionen des Formulierens einer Gesellschaft gestaltet, historisch gewachsen ist und sich in Raum und Zeit ändern kann. Anstatt Sprachsystem und sprachliches Handeln als unverbundene Gegenstandsbereiche einander dichotomisch gegenüberzustellen, begreifen die linguistisch orientierte Konversationsanalyse18 und die u.a. daraus hervorgegangene Interaktionale Linguistik (Selting/Couper-Kuhlen 2000) Grammatik und Interaktion in ihrem wechselseitigen Konstitutionszusammenhang. Nicht nur Lexik, sondern auch grammatische Strukturen sind dabei sedimentierte, historisch entstandene Lösungen für wiederkehrende kommunikative Aufgaben (Auer 22013, 6). Die Interaktionale Linguistik unterscheidet sich von anderen linguistischen Modellen dadurch, dass sie davon ausgeht, dass die Interaktionsstrukturen (also die Zusammenarbeit zwischen dem Hörer und Sprecher in einer kommunikativen Umgebung und nicht individuelle Kompetenz oder ein abstraktes grammatisches Regelwissen) Sprachstrukturen prägen, die letzteren tragen umgekehrt zur Herstellung einer bestimmten Interaktionsstruktur bei. Sprachstrukturen sind somit nicht als ein abstraktes System vorgegebener Einzelelemente zu verstehen, die zu Sätzen kombiniert und dann bei der Performanz realisiert werden, sondern als Einheiten, die auf eine situative, kontextgebundene Weise als aktiv (re-)produziert und den Erfordernissen der gegebenen Interaktion lokal angepasst werden. Somit sind Sprachstrukturen auf unterschiedlichen Ebenen Produkte der strukturellen Verfestigungen von sozialen Interaktionen oder – um den Begriff der Interaktionalen Linguistik zu verwenden – Produkte der Sedimentierung. Dieser Begriff weist in meinen Augen zahlreiche Übereinstimmungen mit dem Konzept der kommunikativen Praktiken von Fiehler/Barden/Elstermann/Kraft (2004) auf: Durch die wiederholte Produktion und Reproduktion bestimmter sprachlicher Formen in bestimmten interaktiven Kontexten bilden sich Erwartungen und enge Form-Funktionszusammenhänge (Deppermann 2007, 32–43) heraus, die sich strukturell verfestigen und mehr oder minder stark konventionalisiert werden: Grundformen der Verständigung sind kommunikative Praktiken. Wenn wir uns verständigen, so tun wir dies nicht frei und voraussetzungslos, sondern wir tun es im Regelfall auf der Basis von vorgeformten Praktiken, indem wir singuläre Exemplare solcher Praktiken realisieren. Kommunikative Praktiken sind präformierte Verfahrensweisen, die gesellschaftlich zur Verfügung stehen, wenn bestimmte rekurrente Ziele oder Zwecke kommuni-
|| 18 Vgl. zu diesem Begriff und den Unterschieden zur US-amerikanischen soziologisch geprägten conversation analysis Stuckenbrock (2013, 223).
1.3 Mündlichkeit, Gesprochene Sprache-Forschung und Interaktionale Linguistik | 21
kativ realisiert werden sollen. Jede Gesellschaft verfügt über ein spezifisches Repertoire solcher Praktiken. Dieses Repertoire ist ausreichend für die weitaus meisten Ziele und Zwecke, die kommunikativ verfolgt werden. Gleichwohl ist dieses Repertoire nicht statisch, sondern es verändert sich historisch, indem relativ zu verändernden Zielen und Zwecken sich auch die kommunikativen Praktiken verändern bzw. neue entstehen. Auf diese Praktiken können Sprecher und Sprecherinnen als Bausteine ihrer kommunikativen Praxis zurückgreifen. Unsere individuelle kommunikative Praxis besteht zu weiten Teilen darin, aus diesem Repertoire relativ zu unseren Zielen und Zwecken entsprechende Praktiken auszuwählen und von ihnen sukzessive Gebrauch zu machen. Eine Vielzahl unterschiedlicher kommunikativer Praktiken kanalisiert und bestimmt so unser kommunikatives Leben. (Fiehler/Barden et al. 2004, 99–100)
Mündliche kommunikative Praktiken wie etwa Gerichtsverhandlungen, Reklamationen, Telefongespräche, Arbeitsessen, Prüfungen u.v.m. beschränken sich natürlich nicht nur auf die Beherrschung bestimmter vorgeformter sprachlicher Muster und deren angemessene Verwendung. Vielmehr umfassen sie ein ganzes Set an Wissen, das sich auf mehrere Ebenen verteilt und (gesteuert während der institutionellen Ausbildung bzw. ungesteuert, privat) erlernt werden muss, wobei jeder Ebene die gleiche wichtige Bedeutung bei der Realisierung der kommunikativen Praxis zukommt. Bereits Ende der 60er Jahre sprach man in der Ethnomethodologie, die sich aus soziologischer Sicht mit Interaktion befasst hat, in solchen Fällen von Ethnomethoden als sozialisatorisch erworbenen, konventionalisierten, für den Status als kompetentes Mitglied in einer Sprachgemeinschaft erforderlichen kollektiven Fertigkeiten und Routinen (Patzelt 1987). Hymes (1987, 35–71) verwendet den Begriff kommunikative Kompetenz, Deppermann (2004, 15–33) Gesprächskompetenz. Eine Ebene innerhalb dieser Kompetenz ist die sprachliche Konventionalisierung. Trotz der Vorgeprägtheit und Konventionalisierung werden Sprachstrukturen der ‚Rede-in-der-Interaktion‘ – und darauf weist auch das obige Zitat aus Fiehler/Barden/Elstermann/Kraft (2004) hin – als flexible und anpassungsfähige Ressourcen eingesetzt, die der situativen Regelung von sequenzieller Interaktion in Echtzeit dienen und solche für die Organisation des mündlichen Formulierens und die interaktive Projektion (Auer 2000; 2010) typischen Mittel wie Reparaturen, Wiederholungen, Paraphrasen, syntaktische Fragmentierungen, Anakoluthe usw. erlauben. Die Flexibilität widerspricht nicht der Konventionalisierung; die Flexibilität und der teilweise fragmentarische Charakter der verwandten sprachlichen Strukturen beeinträchtigen gerade wegen der etablierten Konventionen auf der Mikro-, Meso- und Makroebene nicht die Verständlichkeit. Dieser Gedanke bildet den Gegenstand der aktuellen Diskussionen an der Schnittstelle zwischen der Interaktionalen Linguistik und der Konstruktionsgrammatik (vgl. Kap. 1.6). In Ergänzung des Hopperschen Modells der emergent
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grammar (Hopper 1988) unterscheiden Auer/Pfänder (2011, 8) zwischen Konstruktionen als Muster (emergent constructions), für die sie den Begriff gestalts verwenden, und Konstruktionen als Realisierung (emerging constructions), die im aktuellen Gebrauch auf der Basis der ersteren hervorgebracht werden. Imo (2011) stellt fest, dass ein Großteil der Nachfeldbesetzungen/Nachträge, die in den meisten Grammatiken des Deutschen entweder gar nicht oder pauschal als sprechsprachliche Phänomene behandelt werden, keine reinen ad hoc produzierten Strukturen und lediglich auf die Prozesshaftigkeit dialogischer Sprache zurückzuführen sind, sondern als feste und etablierte Muster im Sinne der Konstruktionsgrammatik beschrieben werden müssen. Deppermann (2007, 304) spricht über eine „Synthesis von Überkommen-Allgemeinem und lokal Spezifischem“ und bemerkt in Bezug auf die Bedeutungskonstitution im Gespräch: Lokale Bedeutungskonstitution erscheint somit als Prozess, der an eine Routine der Ausdrucksverwendung und an habitualisierte Bedeutungspotenziale anschließt und diese in Bezug auf die jeweils lokal relevanten sachlichen, referenziellen, pragmatischen und evaluativen Kontexte zuschneidet und modifiziert.
Dass ein Teil von diesen konventionalisierten Sprachstrukturen/Ressourcen formelhafte Wendungen sind, heben die Vertreter der Interaktionalen Linguistik verstärkt hervor, vgl. grundlegend Hopper 1988 sowie überzeugend mit zahlreichen Beispielen Auer (2006) zu so-Konstruktionen, Günthner (2008a,b) zu Projektor-Konstruktion die Sache ist die […], Birkner (2007) zur Routineformel was X betrifft, Bücker (2014) zu Zirkumpositionen von XP her usw.
1.4 Text- und Diskurslinguistik Dass Formelhaftigkeit sich nicht auf die gesprochene Sprache beschränkt, wurde bereits in Kap. 1.3 angedeutet. Spätestens seit sich die Textlinguistik unter dem Einfluss der kognitionspsychologischen Erkenntnisse über die Rolle der Schemata, Rahmen bzw. Skripte bei der Wissensaneignung, -organisation, -speicherung, -produktion und -verwendung das Verständnis von Textkonstitution als kognitiven Vorgang und von Texten als Ergebnisse mentaler Vorgänge zu eigen gemacht hat, gehört das Wissen über so genannte globale Muster, komplexe Muster oder Textmuster (Heinemann/Heinemann 2002, 129–165) zu den festen Größen im Forschungsprogramm, insbesondere im Rahmen der Kontextualisierungstheorie (Fillmore 1976; Gumperz 1982) und der Formulierungs- und Textproduktionsforschung (Antos 1982; 1989). Bereits van Dijk (1980a) sprach von „konventionalisierten Darstellungsstrukturen, die per Konvention eingehal-
1.4 Text- und Diskurslinguistik | 23
ten werden“. Warnke (1999, 219) beobachtet in verschiedenen Texten und Diskursen „standardisierte Formen verbalen Handelns“, die „der formalen und inhaltlichen Organisation von sprachlichen Handlungen im Hinblick auf jeweilige Funktionen“ dienen. Die synonym verwandten Begriffe beziehen sich nicht direkt nur auf die sprachliche Oberfläche der Texte und konventionalisierte Mehrwortverbindungen; beide sind allerdings unabdingbare Teile der globalen Muster im textlinguistischen Sinn. Globale Muster sind kognitive Rahmeneinheiten und Operationsfolgen, auf erfolgreichen kommunikativen Erfahrungen basierende Orientierungsschemata, die den handelnden Individuen ein situationsangemessenes verbales Agieren und Re-Agieren bei Textproduktion und Textrezeption erlauben. Globale Muster sind somit auch das intuitive Wissen über prozessualen und prozeduralen Charakter der mündlichen und schriftlichen Text(sorten)gestaltung – der Kontextualisierung (Fillmore 1976) – im Einvernehmen mit den in einer Gesellschaft etablierten Formulierungskonventionen. So verfügt jeder Sprecher/jede Sprecherin über solch ein intuitives Rahmenwissen in Bezug auf die Makroebene der Textmuster Bitte, Entschuldigung, Privatbrief oder Alltagsgespräch. Weniger verbreitet mag wohl die Beherrschung der Textmuster Leitartikel oder wissenschaftlicher Projektantrag sein. Die Muster oder Rahmen werden textintern, d.h. auf der Mikroebene der sprachlichen Formulierungen, durch partiell vorgefertigte Äußerungsstrukturen nach dem Prinzip der Formulierungsadäquatheit ‚aufgefüllt‘. Viele davon sind konventionell geprägte polylexikalische Einheiten. Bei den Erläuterungen des Begriffs Textmuster führen z.B. Heinemann/Heinemann (2002, 130–131) als Beispiele für solche Strukturen fast ausschließlich Phraseologismen im klassischen Sinn an, ohne allerdings auf den Mehrwortcharakter explizit hinzuweisen. Adamzik (1995, 28) spricht in diesem Zusammenhang von kommunikativen Routinen; Heinemann (2000a, 516) von Stilmustern oder Text-Teilmustern; Heinemann (2000b, 356–369) und Gülich/Hausendorf (2000, 369–385) von Vertextungsmustern, um nur einige wenige Begriffe zu erwähnen. Sie dienen der Textgliederung (Stein 2003), der linguistischen Strukturierung von Texten und tragen als wiederkehrende markante formale Textmerkmale zur Identifikation verschiedener Texte als Exemplare eines Texttyps bei, vgl. exemplarisch Stein (2010a) zu Todesanzeigen oder Stein (2011) zu Werbetexten. Sie sind in ihrer Kombinatorik und Platzierung im Text synchron nur eingeschränkt durch andere sprachlichen Mittel austauschbar. Somit verleiht die ausdrucksseitige formelhafte Geprägtheit einem Text einen kulturellen Eigenwert, den Tophinke (1996, 103; 1999) „kulturelle Expressivität“ nennt.
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Mikrostrukturelle vorgefertigte Äußerungsstrukturen sind aber genauso an typisierte Situationen des sozialen Handels gebunden. Seit der pragmatischen Wende ist dies mehrfach bewiesen worden, so z.B. bereits von Coulmas (1979, 239). Der Gedanke findet sich unter dem Stichwort Regelmäßigkeiten im Sprachgebrauch (Busse 2005, 35) in der modernen Diskurslinguistik wieder und wird dort durch den sozial-kooperativen Charakter des sprachlichen Handels begründet: Regelmäßigkeiten indes, die in der Ausformung und im Gebrauch sprachlicher Mittel entdeckt werden können, sind nichts anderes als Regelmäßigkeiten in spezifischen Formen sozialen Handelns. Soziales Handeln erfordert immer, konform mit in der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppe geltenden Handlungsmustern zu handeln. Dies ist bei sprachlichem Handeln nicht anders als bei anderen Formen sozialen Handelns. Vielleicht ist bei sprachlichem Handeln nur der Konformitätszwang, d.h. die Notwendigkeit der Übereinstimmung jeder Äußerung mit den je geltenden Regelmäßigkeiten, wegen der spezifischen Funktion der Sprache, Kommunikation und koordiniertes Handeln zu ermöglichen, größer als bei anderen Formen gesellschaftlicher Interaktion.19
Das Verständnis der konventionalisierten Regelmäßigkeiten des Sprachgebrauchs ist für die moderne linguistische Diskursanalyse zentral (Busse/Teubert 2013, 13–30), auch wenn es nicht in der Linguistik entstanden ist.20 Es findet gegenwärtig bei der Analyse der Argumentationsmuster und -topoi verstärkt Verwendung. Das Ziel besteht hier darin, durch die Untersuchung der typischen textoberflächlichen Sprachgebrauchsmuster Rückschlüsse über den gesamten Diskurs und die Mentalitätsgeschichte zu ziehen.21 Es ist offensichtlich, dass globale Textmuster nur in ihrem Grundgerüst statisch sein können. In realen Kommunikationssituationen werden Texte nicht (nur) nach Konventionen und Mustern systematisch abgearbeitet, sondern individuell nach Umfang und Qualität ausgestaltet (Antos 1982; 2008). Gerade das ‚Auffüllen‘ der globalen Textmuster auf der Mikroebene der oberflächlichen Teil-
|| 19 Vgl. auch die Ausführungen zu Sprachgebrauchsmustern und zum Wissen über typisierten Sprachgebrauch in der korpuslinguistischen Diskursanalyse (Kap. 1.8.1 und Bubenhofer 2009). 20 Vgl. das Konzept der kommunikativen Gattungen innerhalb der Soziologie (Luckmann 1986) und die Ausführungen dazu in Kap. 1.3. 21 Vgl. etwa die in Wengeler/Ziem (2013) versammelten Studien zur linguistischen Konstruktion von Krisen; Wengeler (2003) zu den Topoi des Migrationsdiskurses. Beispiele zu anderen Diskursen vgl. z.B. in Felder (2013). Kreuz/Stumpf (2014) und Stumpf/Kreuz (im Druck) begründen systematisch die Notwendigkeit der engeren Verknüpfung zwischen der Phraseologieforschung und der Diskurslinguistik.
1.5 Mündlichkeit, Schriftlichkeit und die Theorie der formelhaften Sprache | 25
muster, d.h. der konkreten sprachlichen Äußerungen, lässt Freiraum für Modifikation,22 Variation und (sprach)historische Wandelprozesse. Die tatsächliche Existenz der globalen Textmuster kann durch Variation sogar bewiesen werden: Selbst wenn beim wiederholten Erzählen ein und desselben Textes (z.B. eines Märchens oder eines Witzes) unterschiedliche sprachliche Mittel eingesetzt werden, sind die Hörerinnen und Hörer imstande, das Textmuster Märchen bzw. Witz als solches zu erkennen.23 Versetzen sie sich in die Rolle der Erzählerinnen und Erzähler, können sie zwar zu unterschiedlichen Formulierungen greifen, würden aber die Struktur annähernd beibehalten, dem konventionalisierten Textmuster folgen und somit den gleichen Kontext erzeugen. Variation auf der Ebene der sprachlichen Mittel ist somit natürlich und ausgeprägt, sie affiziert allerdings das konventionalisierte globale Textmuster im Normalfall nicht. Diachrone Veränderungsprozesse der Sprachgebrauchsmuster sind z.B. in der Diskursanalyse ein zentraler Untersuchungsgegenstand. Ich komme in Kap. 2 darauf zurück.
1.5 Mündlichkeit, Schriftlichkeit und die Theorie der formelhaften Sprache Die im Kap. 1.3 für die Mündlichkeit und 1.4 für die Schriftlichkeit dargestellten Theorien haben in den 1990er Jahren zur Entstehung von zwei Ansätzen geführt, die sich explizit mit formelhaften Wendungen im Sinne der vorliegenden Untersuchung beschäftigen und durch ihre Synthese der „klassischen“ Phraseologieforschung (Kap. 1.2) einen theoretischen Rahmen verleihen. Ich beziehe mich auf H. Feilkes Konzept der Common-sense-Kompetenz und St. Steins Auseinandersetzungen mit formelhafter Sprache. Sie werden im Folgenden in ihren wichtigsten Aspekten dargestellt.
|| 22 Vgl. zur so genannten Musterbrechung, Mustermetamorphose und Mustermontage/Mustermischung Janich (2008, 192–193) in Anlehnung an Fix (1997). 23 Feilke (1994, 213–215) verweist auf einen Assoziations- und Kohärenztest, während dessen er ca. 150 Studierenden eine Liste mit ausgewählten Formulierungen (auf den Trümmern errichtet, sich einen guten Namen erworben, Sorgen und Mühen, mit Dankbarkeit gedenken, Die Konkurrenz schläft nicht, das Tanzbein schwingen, erhebe mein Glas usw.) vorgelegt hat, mit der Bitte, den Textinhalt und Handlungsrahmen zu ermitteln. Mit „einer großen Übereinstimmung“ (Feilke 1994, 213) wurden entsprechend der Wiederaufbau in der Nachkriegszeit und die feierliche Ansprache eines Politikers genannt. Vgl. ähnliche Experimente auch bei Bühler (1934/1982, 170–172). Metasprachliche Reflexionen darüber zuletzt in Bubenhofer (2009, 44–45).
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1.5.1 Feilkes Konzept der Common-sense-Kompetenz und der Mechanismus der idiomatischen Prägung In Anlehnung an soziologische Diskussionen (stellvertretend Luckmann 1986; Berger/Luckmann 1966/1980) geht Feilke davon aus, dass jedes kommunikative Handeln, also auch das Sprechen, durch eine Typik des Verhaltens erkennbar ist. Sprachhandeln muss u.a. als Prozess einer Institutionalisierung von kulturellen und sprachlichen Schemata über die Schritte der Typisierung, Schematisierung und Habitualisierung, als „Überführung kontingenten Ausdrucksverhaltens in einen sozial strukturierten semiotischen Habitus“ (Feilke 1994, 209–210) verstanden werden. Eine besondere Rolle wird dabei dem Common sense-Wissen beigemessen. Dieses ist „ein auf die ökologischen Bedingungen menschlichen Handelns bezogenes und durch diese Bedingungen pragmatisch konstituiertes und stabilisiertes intuitives Wissen“ (Feilke 1994, 363), ein „kognitives und moralisches Sediment unserer alltäglichen Erfahrungsprozesse“ (Feilke 1994, 362). Das habitualisierte Weltwissen bezieht sich nicht nur auf das gemeinsam erzeugte Wissen über bestimmte Handlungsabläufe (z.B. Szenarien und Abläufe eines Festakts), sondern hat auch eine linguistische Seite. Deshalb evoziert z.B. die Verwendung des Ausdrucks Ich erhebe mein Glas automatisch die Vorstellung von einem Festakt und nicht etwa einer Trauerfeier: „Das Kennen des Ausdrucks als eines Elementes einer kommunikativen Praxis ist beides zugleich(!), nämlich ein Verstehen ermöglichendes sprachliches Wissen und – als Kennen eines Handlungsschemas oder Ablaufschemas – ein spezifischer Typ von Weltwissen“ (Feilke 1994, 226). Der Zusammenhang von Ausdruck und situativem Kontext scheint im Gebrauch und durch diesen verfestigt zu sein und ermöglicht das Produzieren („Meinen, Sprechen“) sowie das Rezipieren („Verstehen, Hören“) des Ausdrucks. Zugleich ist der Ausdruck selbst auf der Ebene seiner linguistischen Organisation verfestigt: die Formen Wir erheben unsere Sektgläser oder Ich erhebe meinen Krug würden gegen die etablierten Konventionen des üblichen Sprechens während eines Festakts verstoßen oder – anders formuliert – sie sind nicht instruktiv in Hinblick auf die konventionelle Funktion. Konventionelle sprachliche Vorgeprägtheit geht dabei mit der Möglichkeit der ad-hoc-Formulierungen einher; diese beiden Ebenen der Kommunikation bilden keine Randerscheinung, sondern die Grundlage aller natürlichen Sprachen.24 Zwischen einem Common-
|| 24 Feilke (1994, 216) wörtlich dazu: „Sie [NF: die beiden Ebenen der Kommunikation] sind zum einen für ad-hoc-Konstruktionen offene kombinatorische Systeme, wobei die relative semantische ‚Leere‘ grammatischer Kategorien die Voraussetzung für das ‚neue‘ Ausfüllen der Formen
1.5 Mündlichkeit, Schriftlichkeit und die Theorie der formelhaften Sprache | 27
sense-Schema und der Praxis seiner Artikulation besteht insofern ein Zusammenhang, als die Ausdruckstypik einer im Common sense festgelegten Sachtypik konventionell zugeordnet ist (1994, 237–238). Den Prozess der Entstehung dieses Zusammenhangs bezeichnet Feilke (1993; 1998a,b) als den Mechanismus der idiomatischen Prägung und definiert sie als reflexive „Konventionalisierung der Assoziation von im Sprechen und Hören (Meinen und Verstehen) erbrachten Konzeptualisierungsleistungen25 mit sprachlichen Ausdrücken bzw. Ausdrucksweisen“ (Feilke 1994, 238 und 366). Die Konventionalisierung im Sinne der idiomatischen Prägung beinhaltet bei Feilke schwerpunktmäßig die Ausdrucksbildung jenseits der Wortgrenze, sie kann sich aber genauso auf jeden Bedeutungswandel bei Wörtern beziehen und lässt sich in ähnlichem Maße z.B. in der Morphemkombinatorik bei Wortbildung ermitteln: „Das vermeintlich Freie in der Sprache ist, wenn auch nicht fest, so doch in erheblicher und bisher nicht ausgemessener Reichweite idiomatisch geprägt“ (Feilke 2004, 57). Feilke gehört somit ebenfalls zu den Sprachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, die theoretisch und empirisch die Überzeugung vertreten, dass sich „Muster der Ausdrucksbildung“ (Feilke 1994, 377) von der Peripherie des linguistischen Interesses in sein Zentrum verlagern müssen, weil das Wesen des Meinens und Verstehens nur so adäquat beschrieben werden kann. Idiomatische Prägung ist laut Feilke allerdings nicht einzelwortbezogen, sondern eng an die Veränderung der kon- und kotextuellen Kookkurrenzen gekoppelt. Insofern ist sie in ihrer linguistischen Organisation immer syntagmatisch orientiert. Dabei ist die idiomatische Prägung nicht durch die denotative Bedeutung des Ausdrucks oder seiner Komponenten bedingt, sondern durch die konnotative Bedeutung der (sprachlichen) Handlung, der kommunikativen Praxis, in die sie eingebettet ist (Feilke 1994, 226).26 Die treibenden Kräfte und Ursachen der idiomatischen Prägung sind Selektivität und Präferenzbildung (Feilke (1994, 370) nennt sie auch Gestaltbildungsprozesse), die dazu führen, dass seitens der Sprecherinnen und Sprecher pragmatisch aus einer Vielzahl bestimmter Ausdrucksweisen für einen bestimmten Sachverhalt nicht nur morphosyntaktisch korrekte ausgewählt und sukzessiv im Gebrauch geprägt werden, sondern auch || in syntaktisch kreativen Prozessen ist. Zum anderen führt aber genau dieser Prozess in der Kommunikation dazu, daß die Formen pragmatisch und semantisch interpretiert werden, und das heißt auch, daß für die Konstruktionen Interpretationen konventionell werden können.“ 25 Hervorhebung im Original. 26 Vgl. etwas anders Steyer (2013, 348), die zwar auf Feilkes Konzept aufbaut und ebenfalls nicht etwa die syntaktischen Regularitäten für die Konventionalisierung verantwortlich macht. Für sie ist allerdings das lexikalische Wissen der Sprecherinnen und Sprecher dafür ausschlaggebend, vgl. ausführlich Kap. 1.8.2.
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typische, in einer konkreten Kommunikationssituation angemessene („die Spezifik des Ausdrucks hinsichtlich einer Verwendung“, Feilke 1996, 86). Durch koordinierte Selektivität der Sprecherinnen und Sprecher werden die Produktionsund Interpretationsoptionen der Ausdrücke eingeschränkt. Laut Feilke (2004, 41) ist der Selektionsprozess nur pragmatisch durch die Bedürfnisse der jeweiligen Sprachhandlung motiviert27 und verläuft konventionell-arbiträr. Das bedeutet, dass es z.B. irrelevant ist, wie häufig ein Ausdruck vorkommt. Selbst das rekurrente Produzieren und Rezipieren eines Ausdrucks garantiert nicht, dass die Sprecherinnen und Sprecher ihn als konventionelles kommunikatives Zeichen bewerten und beherrschen würden. Umgekehrt gibt es etwa in fachspezifischen Kontexten Ausdrücke niedriger Rekurrenz, die aber in diesen Kontexten idiomatisch geprägt sind. Entscheidend ist nach Feilke alleine die Kenntnis des Gebrauchszusammenhangs; rekurrente Kookkurrenz von Wörtern ist lediglich ein wertvolles Hilfsmittel für die Entdeckung potentieller ausdrucksseitiger idiomatischer Prägungen.28 Diese Ausdruckskompetenz oder pragmatisch kontextsensitives Sprachwissen nennt Feilke die Common-sense-Kompetenz: „Daß es ‚Ebbe und Flut‘ und nicht ‚Flut und Ebbe‘ heißt, ebenso wie die Tatsache, daß man ‚die Zähne‘ zwar ‚putzen‘ aber nicht ‚waschen‘ kann, während es z.B. bei den ‚Ohren‘ genau anders herum ist, hängt […] mit der primären Selektivität pragmatisch motivierter Ausdrucksbildung zusammen“ (Feilke 1994, 376). Die Common-sense-Kompetenz ist eine soziale Größe, weil Prägung/Konventionalisierung durch Selektivität und Präferenzbildung nur gemeinsam erzeugt werden kann und erst intersubjektiv überhaupt Sinn macht. Nach dem Kriterium des Nutzens für die Kommunikation unterscheidet Feilke (1994, 379) drei Typen von idiomatischer Prägung: – auf der Ebene der kombinatorischen Operationen – die syntaktische ([Satz 1] geschweige denn [Satz 2], solange [Satz 1], [Satz 2], Wenn ich richtig verstehe […]); – auf der Ebene der semantischen Konzeptualisierungshandlungen, der Bezeichnung, nicht des Handelns – die semantische (ab und zu, ins Gras beißen, über den Berg sein, Kohldampf schieben, auf großem Fuß leben) und || 27 Vgl. dazu auch Mel’čuk (1998, 29): „All ready-made expressions, even if they are wholly compositional semantically and syntactically, are pragmatemes: they are non-compositional pragmatically.“ 28 Dass diese Erkenntnis aus sprachhistorischer Sicht eine neue Perspektive bekommt, hat Filatkina (2009a) bereits gezeigt. Dies wird in Kap. 4 nochmals ausführlich diskutiert. Vgl. anders Stein (Kap. 1.5.2) und korpuslinguistische Ansätze Bubenhofers (1.8.1) und Steyers (Kap. 1.8.2), die der Rekurrenz des Vorkommens eine entscheidende Rolle im Prozess der Konventionalisierung beimessen.
1.5 Mündlichkeit, Schriftlichkeit und die Theorie der formelhaften Sprache | 29
–
auf der Ebene des sozialen Handels bzw. der performativen kommunikativen Tätigkeit – die pragmatische (Ich liebe Dich!, Was machen Sie denn noch so?, Verstehen Sie mich nicht falsch […]).
Die Zuordnung der Beispiele zu einzelnen Typen bzw. einzelne Funktionszuschreibungen und ihre Benennungen können zwar hinterfragt werden, wichtiger ist hier aber der folgende Grundgedanke: Die aufgezählten Typen der idiomatischen Prägung, die Feilke (1996, 240–311)weiter differenziert und in ihrer inneren Organisation erklärt, bilden das Wesen der Sprache als soziale Gestalt und können nicht mehr als „bloße Sammlung von Irregularitäten und als Appendix der Grammatik“ verstanden werden, sondern avancieren zum „kommunikationstheoretisch notwendigem29 Genus proximum für den Begriff der Sprache“ (Feilke 1996, 313). In der Hervorhebung der konstitutiven Rolle der idiomatischen Prägung und ihres allumfassenden Charakters unterscheidet sich Feilkes Konzept von der Phraseologie, die bis vor kurzem eher auf Idiomatisches im Sinne von Irregulärem und deshalb Peripherem schwerpunkmäßig konzentriert war, es aber – u.a. durch die Rezeption Feilkes – nicht mehr ist. Feilke selbst lehnt die klassische Phraseologieforschung nicht ab, sondern baut darauf auf und integriert sie in sein Ebenen-Modell (Feilke 2004, 58), mit dem Unterschied, dass er die Randerscheinungen des Zentrum-Peripherie-Modells (alles Reguläre) zum Fundament der Sprache als soziale Gestalt umlenkt. Routinen werden somit zum Attribut der sprachlichen Kompetenz auf allen Ebenen bei Produktion und Rezeption von Texten jeder Art, mündlicher (vgl. Kap. 1.3 zu Gesprochene SpracheForschung, ihren Vorläufern und Weiterentwicklungen) wie schriftlicher (vgl. Kap. 1.4 zu Textlinguistik und Feilke 2003; 2012).
1.5.2 Steins Konzept der formelhalten Sprache Bezug nehmend sowohl auf Feilkes Common-Sense-Kompetenz als auch auf die Phraseologie entwickelt Stein (1995) sein Konzept der formelhaften Sprache: Formelhaft sind sprachliche Einheiten, die durch Rekurrenz, d.h. durch häufigen Gebrauch, fest geworden sind oder fest werden. Aufgrund der Festigkeit im Gebrauch sind oder werden sie lexikalisiert, d.h. sie sind Bestandteile oder werden zu Bestandteilen des
|| 29 Hervorhebung im Original.
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Wortschatzes, so daß sie von den Sprachteilhabern als fertige komplexe Einheiten reproduziert werden. (Stein 1995, 57)
Obwohl Steins Verständnis der formelhaften Sprache nicht mit pragmatischen Phraseologismen bzw. kommunikativen Phrasemen, Routineformeln im Sinne der traditionellen Phraseologieforschung gleichzusetzen ist, bilden diese den Schwerpunkt der Analysen (Stein 1995, 18–19 und 47–51). Im Unterschied zur Phraseologieforschung reicht das Spektrum des Begriffs formelhafte Sprache nach Stein allerdings von Ein-Wort-Äußerungen (danke) und Syntagmen (Sehr geehrte Damen und Herren) über feste Satzstrukturen (Ich fasse zusammen) bis zu Textteilen und ganzen Texten (z.B. Todesanzeigen, Stein 2010a). Sowohl die ersteren als auch die letzteren sprengen die Beschreibungsmethoden der Phraseologieforschung und bedürfen laut Stein (1995, 24) einer Analyse mittels pragmatischer und textlinguistischer Kriterien. Sie werfen ferner die Frage nach der formulierungstheoretischen Relevanz formelhafter Einheiten neu auf. Deshalb distanziert sich Stein von den semantischen (Idiomatizität), syntaktischen (Polylexikalität) bzw. gemischten Klassifikationskriterien der Phraseologieforschung (Burger 52015, 30–60) sowie von ihrem Zentrum-Peripherie-Modell (Fleischer 1982, 72–73) und unterteilt formelhafte Wendungen nach den Kriterien der Festigkeit im Gebrauch und Rekurrenz (Stein 1995, 57) in situationell (und institutionell) bzw. textsortengebundene Formeln (Ich eröffne die Verhandlung, Gratuliere!, Guten Appetit!) und situationsunabhängige bzw. textsortenunabhängige Routineformeln (Ich würde sagen, Ich glaube), und zwar unabhängig davon, „ob eine phraseologische (Gesamt-)Bedeutung vorliegt oder nicht und ob die Wortverbindung bereits lexikalisiert ist oder nicht“ (Stein 1995, 57). Die starke Funktionalisierung der formelhaften Einheiten im Kommunikationsakt avanciert zum dritten zentralen Definitionsmerkmal. Stein (2004, 264) spricht von der pragmatischen Festigkeit. Der Begriff zielt sowohl auf primär gesprächsspezifische, als auch auf schreibspezifische pragmatische Phraseologismen ab und trägt der Tatsache Rechnung, dass sich die Frequenz ihres Aufkommens in beiden Realisierungsformen aufgrund der diatextuellen und diamedialen Markiertheit der formelhaften Wendungen quantitativ und qualitativ unterscheidet. Sie darf jedoch nicht – entgegen der älteren Forschung – pauschalisierend als Unterscheidungsmerkmal zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit bewertet werden, weil 1) solch eine Gegenüberstellung nicht generalisierend, sondern nur text- und gesprächssortenbezogen Sinn ergeben würde und 2) Phraseologismen unter den typisch mündlichen bzw. typisch schriftlichen Phänomenen der lexikalisch-semantischen und textuell-pragmatischen Ebene keine grundlegende unterscheidende Kraft zugeschrieben werden kann (Stein 2007, 220–236; 2010b, 411).
1.5 Mündlichkeit, Schriftlichkeit und die Theorie der formelhaften Sprache | 31
Genauso wie Feilke sieht Stein die wichtigsten Funktionen der formelhaften Sprache in der kognitiven Entlastung bei Textproduktion und Verleihung der Verhaltenssicherheit im Sprachgebrauch. Voraussetzung für die Entlastung ist das Vorhandensein und die Bekanntheit interner Wissensbestände, auf die jedes Mitglied einer Sprachgemeinschaft jederzeit zurückgreifen kann. Solche Wissensbestände sind das Ergebnis des Spracherwerbs, aber auch der kommunikativen Erfahrung und Wiederholung, über die sich eine Routinisierung einstellt. Das Verfügen über derartige Routinewissensbestände nennt Stein (1995, 291) Formulierungsroutinen. Ihr Einsatz als Textorganisationssignale30 in diversen Kommunikationssituationen ist Bestandteil einer Formulierungs- bzw. Textproduktionsstrategie (Stein 2003, 123–132 und 351–378) sowohl auf der Mikroebene der konkreten sprachlichen Realisierungen als auch auf der Makroebene der konzeptionellen Anlage von (schriftlichen) Texten. Der duale Charakter der Formelhaftigkeit, auf den bereits im 19. Jahrhundert hingewiesen wurde (vgl. Kap. 1.1), findet somit über die Schnittstelle zu Textlinguistik und Gesprochene Sprache-Forschung auch bei Stein seine Bestätigung. In Anlehnung an die beiden genannten linguistischen Teildisziplinen beschränkt sich die Steinsche pragmatische Festigkeit nicht auf einzelne sprachliche Ausdrucksmittel. Vielmehr ist die gesamte Struktur und sprachliche Realisierung von Texten und Interaktionen davon betroffen, die in der Entstehung von schablonenartiger Musterhaftigkeit (Gleichförmigkeit/Konstanz) im inhaltsseitigen und ausdrucksseitigen Text- und Interaktionsaufbau (formelhafte Texte) mündet, vgl. z.B. schriftliche Danksagungen, Geburts- und Todesanzeigen, Kündigungsbestätigungen, Eröffnungs- und Beendigungsphasen in Alltagsgesprächen (Stein 2001; 2004; 2007). Wie die oben angeführte Definition zeigt, lässt das Konzept Raum für Dynamik innerhalb der formelhaften Sprache und schließt Einheiten ein, die sich erst auf dem Weg zu konventionalisierten Sprachgebrauchsmustern befinden. Die Komponente formelhaft, die auf den ersten Blick Stabilität und wenig Veränderungsmöglichkeiten suggeriert, streitet selbst bei stark konventionalisierten Strukturen den variablen Einsatz und Kreativität nicht ab, vgl. die Bildung dephraseologischer Ableitungen nach konventionalisierten Wortbildungsmustern
|| 30 Stein (2003, 351) schlägt diesen Begriff in kritischer Auseinandersetzung mit dem in der Gesprochene Sprache-Forschung etablierten Begriff der lexikalischen Gliederungssignale vor, weil der letztere u.a. die funktionale Vielfalt der betroffenen Einheiten weder aus der Sprecher- noch aus der Hörerperspektive erfassen würde. In Stein (2007, 229–232) ist von formelhaften Textorganisationssignalen in der Distanzkommunikation und interaktionsorganisierenden Formeln in der Nähekommunikation die Rede (vgl. auch Stein 2010b, 413).
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(Stein 2012), Beispiele für Variation von formelhaften Wendungen im gesprochenen Deutsch (Stein 1995, 118–119) sowie ihre spielerischen Modifikationen in geschriebenen journalistischen und Werbetexten (Stein 1995, 119–121): „Was im Sprachsystem als festes Bauteil oder „Versatzstück“ angelegt ist, wird in der je individuellen Sprachverwendung zur variablen Größe. Bildlich gesprochen: Der „vorgefertigte Rohling“ erfährt einen „kreativen Feinschliff““ (Stein 1995, 123).
1.6 Konstruktionsgrammatiken Bereits in den frühen 80er Jahren des 20. Jahrhunderts beginnen Konventionalisierung und Formelhaftigkeit eine zentrale Rolle in den im anglo-amerikanischen Forschungskontext entstehenden neuen grammatischen Theorien zu spielen – den so genannten Konstruktionsgrammatiken. In jüngster Zeit(seit 2000) finden sie eine weite Verbreitung nicht nur im englischsprachigen wissenschaftlichen Diskurs; zeitgleich haben sehr ähnliche analytische, aus der lexikographischen Praxis entstandene Vorstellungen die Moskauer Semantische Schule der integralen Sprachbeschreibung und der Systemlexikographie geprägt (vgl. exemplarisch Apresjan 1995; 2005). Die Theorien entstehen als Antwort auf die empirische Inadäquatheit generativistischer Ansätze und unterscheiden sich von diesen grundsätzlich durch ihre Orientierung am Sprachgebrauch und Sprachwissen (nicht in erster Linie am Sprachsystem), durch die Ablehnung der Modularität der Sprache und die Betonung ihres ganzheitlichen Charakters, durch die Fokussierung der Syntagmatik statt der klassischen grammatischen Paradigmatik und somit auch durch die Hervorhebung der Wortverbindungsperspektive. Was die neuen Theorien nicht bestreiten, ist die spätestens seit de Saussure bekannte Erkenntnis, dass Sprache ein prinzipiengeleitetes System ist, dessen Elemente miteinander interagieren. Erhebliche Unterschiede liegen allerdings im Verständnis der Prinzipien und der Elemente, in der Gewichtung der Elemente und im Grad ihrer Interaktion. Auch untereinander unterscheiden sich einzelne Ausrichtungen der Konstruktionsgrammatiken, so z.B. im Grad der Formalisierung und der Authentizität der benutzten Daten.31 Für die Ziele der vorliegenden Untersuchung sind auf Grund ihrer grundsätzlichen Orientierung am Sprachgebrauch vor allem
|| 31 Vgl. den Überblick über alle Richtungen in Hoffmann/Trousdale (2013); für das Deutsche Fischer/Stefanowitsch (22008) und Ziem/Lasch (2013, 31–76).
1.6 Konstruktionsgrammatiken | 33
die Kognitive Grammatik Langackers (1987; 1991) und die Kognitive Konstruktionsgrammatik Lakoffs (1987) und Goldbergs (1995; 2006) von Interesse.32 Die Berkeleyer Schule um Fillmore und Kay (Fillmore 2013; Kay/Fillmore 1999; Fillmore/ Kay/O’Connor 1988) wird trotz ihres stark ausgeprägten formalen Charakters aufgrund der zentralen Rolle berücksichtigt, die sie Idiomen und anderen Typen formelhafter Wendungen beimisst. All diese Ausrichtungen teilen die Annahme, dass die menschliche Sprache auf allen sprachlichen Ebenen aus Zeichen, die konventionalisierte Form-Bedeutungskorrespondenzen sind, besteht. Solche Zeichen werden als Konstruktionen bezeichnet; Konstruktionen (und nicht Wörter oder Sätze) bilden den Mittelpunkt der Theorien. Die Definition von constructions ließe sich nach Goldberg (2006); Fillmore (2013) und Kay/Fillmore (1999) als konventionalisierte Form-Bedeutungspaare paraphrasieren, die nicht-kompositionell sein können (Goldberg 1995, 4), es aber nicht müssen (Goldberg 2006, 5)33 und nach einem bestimmten Muster in einer Sprachgemeinschaft konventionalisiert und kognitiv verfestigt (entrenchment) sind. Einige Konstruktionen können auf nicht produktiven, mehr oder weniger allgemeinen Regeln basieren bzw. nicht durch diese erklärt werden und entweder in ihren Teilen oder gänzlich außersprachlich motiviert sein. Konstruktionen können demnach sowohl Morpheme34 und Einzellexeme (z.B. Komposita) als auch abstrakte periphrastische Verbformen wie analytisches Futur, Perfekt oder Passiv, ganze Sätze oder Wortarten und syntaktische Relationen sein. Grundlegend ist dabei zum einen der Ansatz, dass die Beschreibung der Strukturen einer Sprache ausschließlich auf der Beschreibung des Inventars solcher Zeichenberuhen kann und sollte. Zum anderen ist entscheidend, dass die Konstruktionsgrammatikdiese Sichtweise nicht auf das Lexikon oder die Grammatik beschränkt, sondern im Gegensatz zu vielen anderen aktuellen Theorien diese auf die Sprache in ihrer Ganzheit ausdehnt. Sprache wird als Kontinuum vom Lexikon über idiomatische und halbidiomatische Fügungen bis zu abstrakten grammatischen Strukturen begriffen (Goldberg 1995, 4; Kay/Fillmore 1999, 135; Fischer/Stefanowitsch 22008, 3). Damit hebt die Konstruktionsgrammatik die || 32 Stark gebrauchsorientiert ist ferner Crofts Radikale Konstruktionsgrammatik (Croft 2001). In ihren für die vorliegende Studie wichtigen Grundannahmen unterscheidet sie sich nicht wesentlich von Langackers Kognitiver Grammatik. Auf die Gemeinsamkeiten wird im Folgenden verwiesen. 33 Laut Fillmore/Kay (1999) sind Konstruktionen bis zu einem gewissen Grad nicht analysierbar. 34 Lediglich Langacker schließt sie aus dem Konstruktionsbegriff aus. 35 Kay/Fillmore (1999, 1) äußern sich am deutlichsten dazu: „To adopt a constructional approach is to undertake a commitment in principle to account for the entirety of each language.
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für viele Grammatikmodelle grundsätzliche Trennung von Lexikon (Wort) und Grammatik/Syntax (Satz) und die daraus resultierenden Unterschiede in der Behandlung lexikalischer und morpho-syntaktischer Einheiten auf. Dies erlaubt nicht nur, aber insbesondere der Berkeleyer Konstruktionsgrammatik selbst hochgradig idiomatische und unikale Konstruktionen, die in anderen Grammatiktheorien meist als Ausnahmeerscheinungen verbucht werden müssen, einheitlich und mit dem gleichen Instrumentarium wie regelhafte und produktive Strukturmuster zu beschreiben. Ziem/Lasch (2013, 52) fassen in Bezug auf die Berkeleyer Konstruktionsgrammatik treffend zusammen: „Bei dem vermeintlichen Randbereich [NF: gemeint sind Idiome] scheint es sich also um einen sprachlichen Kernbereich zu handeln“. Die empirisch noch wenig überprüfte Kontinuums-Annahme der Konstruktionsgrammatik36 geht von der These aus, dass das Zeicheninventar nicht im Sinne einer losen Ansammlung von Konstruktionen verstanden werden darf, sondern als ein Netzwerk, in dem alle Konstruktionen mit unterschiedlichen Graden der Spezifizierung oder Schematisierung aufs engste miteinander verbunden sind. Goldberg (2003, 219) u.a. beschreibt dieses Netzwerk als Konstruktikon.37 Langacker betont bereits 1987 und 1991, dass „grammar as being inherently meaningful“ entgegen der Ansicht der systemlinguistischen Grammatik nicht modular aufgebaut sein kann (Langacker 2006, 538-539). Sprache ist nur gebrauchsbasiert als „strukturiertes Inventar von konventionalisierten linguistischen Einheiten“ (Langacker 1987, 222) zu beschreiben, das sich in Interaktion und auf der Basis der menschlichen kognitiven (entrenched units) und kooperativen Fähigkeiten herausbildet und an die folgenden Generationen übermittelt wird. Gleichzeitig ist ein Netzwerk oder Konstruktikon nichts Statisches. Konventionalisierung als grundlegendes Prinzip des Sprachwissens, des Konstruktikons ist bereits für Langacker (1987, 65) stets die Kehrseite der Variation: Menschen verfügen über die Fähigkeit, die gleiche Kommunikationssituation auf unterschiedliche Art und Weise zu konstruieren, ohne die Mechanismen des Meinens und Verstehens zu
|| This means that the relatively general patterns of language, such as the one licensing the ordering of a finite auxiliary verb before its subject in English [...], and the more idiomatic patterns [...] stand on an equal footing as data for which the grammar must provide an account.“ 36 Erste wichtige und gelungene Schritte in Richtung der empirischen Überprüfung sind die Sammelbände Engelberg/Holler/Proost (2011) und Lasch/Ziem (2014). Beide berücksichtigen teilweise auch formelhafte Wendungen im Sinne der vorliegenden Untersuchung. 37 Vgl. am deutschsprachigen Material zuletzt Boas (2014, 37–63); Lasch/Ziem (2014, 3–5) und Ziem (2014a, 15–34).
1.6 Konstruktionsgrammatiken | 35
gefährden.38 Andererseits verfügen sie über die Fähigkeit, die konventionalisierten sprachlichen Mittel entsprechend den sich verändernden Kommunikationsbedingungen zu verändern.39 Formelhafte Wendungen befinden sich nach Auffassung der drei erwähnten konstruktionsgrammatischen Ansätze in der Mitte der vertikalen Achse der Konstruktionen, zwischen den hoch schematisierten abstrakten grammatischen Mustern einerseits und Morphemen und Einzellexemen mit einem niedrigen Grad an Schematisierung andererseits. Fast zeitgleich mit der kontinentaleuropäischen Phraseologieforschung (Burger/Buhofer/Sialm 1982), aber ohne Rücksichtnahme auf diese entwickeln Fillmore/Kay/O’Connor (1988, 504–506) eine Typologie der formelhaften Wendungen, die sie unter dem Begriff idioms zusammenfassen. Wesentliche Überschneidungspunkte bestehen zwischen den beiden Klassifikationsversuchen darin, dass sie von Anfang an die Vielschichtigkeit und Heterogenität dessen verstehen, was als idiom oder Phraseologismus gilt und sich deshalb nicht auf ein Kriterium, sondern gleich mehrere stützen. Die Klassifikation der Phraseologieforschung habe ich in Kap. 1.2 vorgestellt. Fillmore/Kay/ O’Connor unterscheiden: 1) nach dem kompositionellen Charakter und dem Kriterium des Verständnisses für Sprecherinnen und Sprecher dekodierende (kick the bucket, pull the fast one) und encodierende (answer the door, wide awake, bright red) Idiome: Während die ersteren nicht verstanden werden können, ohne vorher als konventionalisierte Ganzheiten gelernt zu werden, sind die letzteren analysierbar und verständlich. 2) nach dem Grad der grammatischen Regularität: grammatische (kick the bucket, spill the beans, blow one’s nose) und „extragrammatische“ (first off, sight unseen, all of a sudden, by and large) Idiome: Grammatische Idiome folgen in ihrem Aufbau den regulären grammatischen Regeln einer Sprache. 3) nach dem Grad der lexikalischen Spezifiziertheit: völlig spezifizierte Idiome (alle oben genannten Beispiele) und formale Idiome mit variablen lexikalischen Slots (the X, the Y).
|| 38 Langacker (2006, 538) spricht von „our capacity for construing the same conceived situation in alternate ways.“ 39 Langacker (1987, 65) dazu: „It is a problem-solving activity that […] occurs when linguistic convention is put to use in specific circumstances.“ In (Langacker 2006, 539) heißt es: „Units compete for activation and the privilege of categorization on the basis of entrenchment and their degree of overlap with the target expression.“
36 | 1 Über den Elefanten im Raum: die konstitutive Rolle der Formelhaftigkeit
4) nach dem Vorhandensein einer pragmatischen Funktion: pragmatische Idiome (Good morning! How do you do? once upon a time) und Idiome ohne solche Funktion (by and large, all of a sudden). Tabelle 1 gibt einen Überblick über alle Typen der idiomatischen Konstruktionen sowie die Kriterien ihrer Klassifizierung nach Fillmore/Kay/O’Connor (1988). Sie stellt sie ihren Entsprechungen in der kontinentaleuropäischen Phraseologieforschung nach Burger (52015) gegenüber und veranschaulicht die Gemeinsamkeiten, besonders bei (1) und (4). Tab. 1: Klassifikation der Phraseologismen in Burger (52015) und der Konstruktionen in Fillmore/Kay/O’Connor (1988)
Berkeley Construction Grammar
Beispiel
Phraseologieforschung
Kriterium
Typ
1. Analysierbarkeit, Konventionalität
dekodierend
kick the Idiomatizität bucket, pull the fast one
voll-idiomatische Phraseme (Idiome)
enkodierend
wide awake, bright red
teil-idiomatische Phraseologismen, Kollokationen
grammatisch
kick the bucket, spill the beans, blow one’s nose
extragrammatisch
all of a sudden, by and large
spezifiziert
kick the Festigkeit bucket, all of a sudden
Idiome, Sprichwörter, Paarformeln usw.
formal
the X-er, the Y-er
Modellbildungen, grammatische Phraseologismen
mit pragmatischer Funktion
Good morn- pragmatische ing! How Funktion are you?
pragmatische Phraseologismen, Routineformeln
2. grammatische Regularität
3. lexikalische Spezifiziertheit
4. pragmatische Funktion
Kriterium
–, teilweise Idiomatizität (d.h. semantische Irregularität)
Typ
kein Sondertyp, allerdings Berücksichtigung lex. Irregularitäten und morphosynt. Restriktionen
1.6 Konstruktionsgrammatiken | 37
ohne pragmatische by and Funktion large, all of a sudden
verschiedene Typengrammatischer und referentieller Phraseologismen
Die Unterschiede sind allerdings auch ersichtlich. Im Gegensatz zur Berkeleyer Konstruktionsgrammatik ist die Phraseologieforschung einerseits detaillierter und breiter bei der Benennung der Typen (vgl. auch Kap. 1.2); andererseits fasst sie aber Phraseologismen ausschließlich als Einheiten des Lexikons auf und war bis vor kurzem bestrebt, sie nach dem obersten Kriterium der Idiomatizität in „schlechtere“ und „bessere“ Bestandteile eines Zentrum-Peripherie-Modells einzuteilen. Kriterium 2 ist in der Phraseologieforschung nicht klassenbildend, was nicht bedeutet, dass sie sich mit Irregularitäten nicht befasst. Vielmehr sind Untersuchungen zu morphosyntaktischen Restriktionen und lexikalischen Irregularitäten typenunabhängig und über mehrere Klassen von Phraseologismen verteilt. Die Forschung blickt hier eine lange Tradition zurück,40 war aber bis jetzt nicht am tatsächlichen Sprachgebrauch orientiert41 und hatte wenig Implikationen für die Grammatikographie.42 Kriterium 3 „lexikalische Spezifiziertheit“ entspricht der Festigkeit in der Phraseologieforschung, ist allerdings dort nicht in dem Sinn klassenbildend, dass es einen phraseologischen Typ von einem anderen unterscheidet. Die Phraseologieforschung versteht Festigkeit und Variation eher klassenübergreifend und prototypisch, mit absolut festen (und auch grammatisch irregulären) Phrasemen im Zentrum. Nur solche Einheiten bildeten lange Zeit den eigentlichen Gegenstand der Phraseologieforschung und verdrängten hochvariable Modellbildungen, auch Phraseoschablonen genannt, in den Randbereich. Für die Konstruktionsgrammatik sind umgekehrt gerade solche Wendungen von zentralem Interesse (Fillmore/Kay/O’Connor 1988, 505–506); sie dominieren immer noch die konstruktionsgrammatische Forschung. Gegenwärtig ist eine Annäherung zwischen der Phraseologieforschung und der Konstruktionsgrammatik zu beobachten. Sie beginnt interessanterweise dort, wo sich die beiden Forschungsdisziplinen zumindest in der Gewichtung der Typen am meisten unterscheiden – im Bereich der Modellbildungen. Dobrovol’skij (2011, 114; 2010) und Dobrovol’skij/Šarandin (2010) nennen Modellbildungen wie Es ist zum Verrücktwerden!, Was du nicht alles gelesen hast!, Freund hin, Freund
|| 40 Vgl. Dobrovol’skij (1978), Dobrovol’skij/Piirainen (1994), Häcki Buhofer (2002). 41 Vgl. anders Stumpf (2014; 2015). 42 Dazu ausführlich Filatkina (2013).
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her usw. Phrasem-Konstruktionen (PhK) und vertreten die Ansicht, dass sie konstruktionsgrammatisch besser als phraseologisch beschrieben werden können, weil ihnen einerseits ein festes syntaktisches Pattern mit einer eigenständigen Bedeutung zugrunde liegt, die lexikalischen Slots aber andererseits relativ frei besetzbar sind.43 Die Besetzung dieser Slots unterliegt meistens einigen schwer vorhersagbaren Restriktionen und hat Auswirkungen auf die Semantik und Pragmatik. „Klassische Phraseologismen“ (vor allem Idiome und grammatische Phraseologismen) stellen laut Dobrovol’skij (2011, 128) aus konstruktionsgrammatischer Sicht ebenfalls relevante Phänomene dar, insbesondere wenn sie lexikalisch nicht vollständig spezifiziert sind und ihre kontextuelle Einbettung zu deutlichen semantisch-pragmatischen Verschiebungen führt, wie etwa bei vor sich hin und vor sich her oder Das ist nicht mein Bier vs. Das ist nicht sein/dein Bier! Dobrovol’skij (2011, 128) spricht hier von „konstruktionsbedingten, verhältnismäßig regulären Bedeutungsmodifikationen“: In solchen Fällen geht es vordergründig nicht darum, die betreffenden Phraseme selbst als Konstruktionen aufzufassen, sondern darum, die entsprechenden Matrixkonstruktionen zu erfassen und die durch die konstruktionelle Einbettung verursachten Shifts systematisch zu beschreiben.
Die Lösung genau dieser Aufgaben trägt in meinen Augen zur adäquaten Beschreibung der Sprache als Netzwerk von Konstruktionen innerhalb des Konstruktikons im Sinne von Goldberg (2003, 219) bei.
1.7 Spracherwerb Mit der Entstehung der gebrauchsorientierten Sprachtheorien, insbesondere der Konstruktionsgrammatiken (Kap. 1.6), findet Formelhaftigkeit auch Eingang in die Spracherwerbsforschung.44 Umgekehrt beeinflusst die Spracherwerbsforschung die grammatischen Theorien durch die Ergebnisse ihrer empirischen Studien. Auch wenn es im Zusammenhang mit Spracherwerb um Formelhaftigkeit, Wortverbindungsperspektive und Typizität in einem viel weiter als in der vorlie-
|| 43 Vgl. weitere Beispiele für die Konstruktionsfamilie [X Präp Hand Verb] (z.B. das Heft in die Hand nehmen) in Staffeldt (2011a,b) und die Routineformeln des Typs wie Sie wissen in Staffeldt (2011c). 44 Vgl. zuletzt eine Zusammenstellung von unterschiedlichen Beiträgen zum Thema „Formelhaftigkeit und Spracherwerb“ und „Formelhaftigkeit und Sprachverlust“ im Kontext der englischsprachigen Diskussionen in Corrigan/Moravcsik/Ouali/Wheatley (2009, Band 2).
1.7 Spracherwerb | 39
genden Untersuchung gefassten Sinn geht, gehören all diese Begriffe zu Grundannahmen der modernen gebrauchsbasierten Spracherwerbstheorien und werden hier deshalb vorgestellt. Die Grunderkenntnis der in diesem Forschungsparadigma zu verankernden Spracherwerbsforschung besteht in der These, dass Sprache nicht angeboren, sondern erworben wird. Entscheidend sind dabei laut Tomasello (2009, 60) die Prozesse der intention reading (funktionale Dimension) und der pattern finding (grammatische Dimension). Während sich die ersteren auf die Erkennung der Intention des Anderen durch Kinder in einer Interaktionssituation beziehen, projizieren die letzteren die Fähigkeit der Mustererkennung im Sprachgebrauch, die es ermöglicht, sich wiederholende Aspekte der Interaktionen zu identifizieren, sie als solche zu analysieren und mit passenden durch Sprachgebrauch erworbenen Ausdrücken in Verbindung zu bringen. Mit Mustern sind dabei nicht nur formelhafte Wendungen im Sinne der vorliegenden Untersuchung gemeint; Tomasello (2003, 94–280) konzentriert sich z.B. vor allem auf den Erwerb grammatischer/syntaktischer Konstruktionen, die er in early syntactic constructions (more juice, there daddy, Lemme-do-it, I wanna see, Gimme-it), abstract syntactic constructions (z.B. Konstruktionen mit transitiven Verben und Objekten) und complex constructions (z.B. Perfekt- oder Passivkonstruktionen) einteilt. Allerdings schließt er formelhafte Wendungen in unserem Sinn mit ein und bemerkt: It turns out that, upon inspection, a major part of human linguistic competence – much more than previously believed – involves the mastery of all kinds of routine formulas, fixed and semi-fixed expressions, idioms, and frozen collocations. Indeed one of the distinguishing characteristics of native speakers of a language is their control of these semi-fixed expressions as fluent units with somewhat unpredictable meanings. (Tomasello 2003, 101–102)
Für die Ziele der vorliegenden Untersuchung sind die Ergebnisse der Spracherwerbsforschung insofern relevant, als sie der Wortverbindungsperspektive und der Typik eine viel größere Bedeutung bei der Entwicklung der linguistischen Kompetenz beimisst und die Typik nicht nur auf die Ausdrucksseite der Sprache einschränkt. Die Spracherwerbsforschung geht nun nicht reduktionistisch und additiv davon aus, dass Kinder zuerst einzelne Wörter und komplexe konventionalisierte Strukturen mit hohem Abstraktionsgrad (grammatische Konstruktionen wie etwa analytische Perfektformen) oder stark lexikalisierte Einheiten (z.B. Idiome) gefolgt von Regeln erlernen (words-and-rules-approach), sondern davon, dass sich die Sprachfähigkeit in der Interaktion durch die Abspeicherung rekurrenter Gebrauchsmuster entwickelt (intention reading, cultural learning), auf deren Basis später die Abstraktion von Gemeinsamkeiten über Einzelfälle hinweg (Generalisierung, Schematisierung, Analogie, vgl. Tomasello 2008, 28–30), die
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Konventionalisierung und Auswahl der präferierten Abstraktionen (entrenchment, competition) sowie die Bildung neuer sprachlicher Ausdrücke erfolgen, die wiederum den bestehenden Schemata zugeordnet werden (pattern finding und functionally based distributional analysis).45 Der Spracherwerb wird also als ein typisierter holistischer Prozess verstanden, den Tomasello (2009, 72) und (2003, 306–327) folgendermaßen beschreibt: When we turn to childrenʼs early linguistic communication, the most basic unit of linguistic experience, and the one with which children begin, is not the word but the utterance. An utterance is the smallest unit in which a person expresses a complete communicative intention – that is, an intention that another person attend to something within the joint attentional frame and so do something as a result […]. (Tomasello 2009, 72) It means that children do not have to put together every utterance from scratch and that their linguistic competence consists not just of individual morphemes and words but also of larger chunks of language with relatively complex internal structures.[…] children and adults have access to their hierarchy of linguistic constructions at several levels of abstraction simultaneously. This means that in many cases children’s comprehension and production of relatively complex utterances are based on a simple retrieval of stored expressions, whereas in other cases they are based on the cutting and pasting together of stored linguistic schemas and constructions of various kinds and degrees of abstraction. (Tomasello 2003, 306–327)
Dabei stellt Konventionalisierung (entrenchment, „Einschleifung“) für Tomasello (2003, 300–301 und 2008, 30–31) eine Möglichkeit der Einschränkung der Generalisierungen und Schemata-Bildung dar: Wenn ein Ausdruck auf eine bestimmte Art und Weise routiniert ist und ein erfolgreiches sprachliches Handeln gewährleistet, ist die Durchsetzung einer alternativen Vorgehensweise, um dasselbe Ziel zu erreichen, schwierig. Tomasello bemerkt gleichzeitig, dass über die genaueren Einzelheiten solcher Konventionalisierungsprozesse sehr wenig bekannt ist, sie sind zur Zeit gar „das schwächste Bindeglied in konstruktions- und gebrauchsgestützten Theorien“ (Tomasello 2008, 31). Wie in Kap. 5 noch zu zeigen sein wird, gilt diese Behauptung nicht nur für die Ontogenese der Sprachentwicklung, sondern genauso für ihre Phylogenese. Die abgespeicherten rekurrenten Muster sind zu Beginn der Sprachentwicklung syntaktisch natürlich nicht komplex, wenig variabel und im Sinne der type-
|| 45 Die englischen Begriffe hier nach Tomasello (2003, 295). Ausführlich zu diesen Schritten in Anlehnung an Tomasello und Langacker Behrens (2011a, 172–174 und 2011b).
1.7 Spracherwerb | 41
Frequenz nicht produktiv (Behrens 2011b, 383).46Sie sind aber gleichzeitig tokenmäßig geläufige Konstruktionen, die die Wirksamkeit der Typizität bzw. Formelhaftigkeit für die menschliche Kognition und Sprachverwendung unterstreichen. Die Dominanz des Typischen in den frühen Stadien des Spracherwerbs ist besonders in solchen Fällen deutlich, in denen Kinder die aus der Sicht der „Erwachsenen-Sprache“ fehlerhafte bzw. unvollständige chunks im Sinne von Tomasello wie me do it statt I (will) do it produzieren. Sie übermitteln damit ausgehend vom sprachlichen Input, mit dem sie konfrontiert sind, kontextspezifisch und situationsangemessen die Intention, ohne die Konstruktionen auf die Regeln ihrer internen Kombinatorik hin zu analysieren und ohne diese Regeln zu kennen. Behrens (2011a, 176) bemerkt in dieser Hinsicht: „Die frühe Kindersprache ähnelt Idiomen bei Erwachsenen.“ Wenn man unter Idiomen ausschließlich nicht kompositionelle Einheiten versteht, dann ist diesem Vergleich zuzustimmen. Die Wirksamkeit der Typizität ist in der Zweitspracherwerbsforschung ebenfalls ein zentrales Thema.47 Am nächsten zum hier verwandten Begriff der Formelhaftigkeit steht Wrays Konzept der formelhaften Sprache (2002; 2008; 2009). Obwohl es nicht ausschließlich im Kontext des Spracherwerbs zu verorten ist und auch sprachtheoretischen Charakter hat, hat Wrays Beschäftigung mit diesem Phänomen beim Erst- und Zweitspracherwerb ihren Anfang. Das Konzept soll deshalb an dieser Stelle in seinen Grundzügen dargestellt werden.
Exkurs: Wrays Konzept der formulaic language Wray (2002, 9) verwendet die Begriffe formulaic sequence und formulaic language48 und definiert sie wie folgt:
|| 46 Behrens (2011b, 383) führt als Beispiele die Formulierungen wie Papa weg, Mama Socke an und verweist auf eine Studie, die ermittelt, dass die fünf häufigsten Subjekt-Verb-Schemata (z.B. go + X oder Mommy + X) durchschnittlich 75,7% der Kombinationen bei zwölf zwei- bis dreijährigen englischen Kindern ausmachen. Tomasello (1992) stellt in einer detaillierten Tagebuchstudie fest, dass sich die Mehrzahl der frühen Mehrwort-Äußerungen seiner englischsprachigen Tochter um bestimmte Verben und andere prädikative Elemente herum gruppierte. 47 Vgl. bereits Köpcke (1987) zum Erwerb der Personalflexion im Deutschen. Gezielt zum Erwerb der formelhaften Wendungen und ihrem Einsatz im L1- und L2-Unterricht vgl. Hallsteinsdóttir/Winzer-Kiontke/Laskowski (2011). Für das Englische vgl. zuletzt Polio (2012). 48 Zur Vielfalt der Bezeichnungen im Englischen (insgesamt 56 verschiedene Termini) vgl. Wray (2002, 9) und Wray/Perkins (2000, 3).
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a sequence, continuous or discontinuous, of words or other elements, which is, or appears to be, prefabricated: that is, stored and retrieved whole from memory at the time of use, rather than being subject to generation or analysis by the language grammar.
Sie präzisiert diese Definition in (2008, 12) und führt den Begriff morpheme equivalent unit (MEU) ein: a word or word string, whether incomplete or including gaps from inserted variable items, that is processed like a morpheme, that is without recourse to any form-meaning matching of any sub-parts it may have.
Wray ist beim Vergleich mit Morphemen vor allem bestrebt, den holistischen Status der formelhaften Einheiten bei ihrer Speicherung im mentalen Lexikon hervorzuheben. Ihr zufolge ist unser Lexikon heteromorphem und besteht neben analysierbaren kleineren auch aus längeren Einheiten, die holistisch sind und nur wenn nötig analysiert werden können (Needs-Only-Analysis NOA). Ich halte allerdings diese zweite Definition für verwirrend, da mir u.a. die Richtigkeit des Vergleichs der formelhaften Wendungen (auch derer mit Einzelwort-Status wie Hallo oder Morgen!) mit Morphemen angesichts der doch unterschiedlichen Funktionalität fraglich zu sein scheint. Ich gehe deshalb im Weiteren nicht auf diesen Begriff ein und beziehe mich auf die erste Definition. Auf den ersten Blick suggeriert sie die Zugehörigkeit ausschließlich der nicht kompositionellen holistischen Einheiten zum Konzept der formelhaften Sprache, die vor allem auf Grund ihrer Irregularität im Spracherwerb Schwierigkeiten bereiten und im Sprachgebrauch auffallen. Dem ist allerdings nicht so, weil Wray (2002, 10) zum einen selbst darauf hinweist, dass z.B. reguläre statistisch frequente Kookkurrenzen wie large number (im Gegensatz zu great number) einen Subtyp der formelhaften Sprache bilden und auf die seitens der Sprecherinnen und Sprecher präferierte Strukturbildung hindeuten (vgl. auch Wray 2013b, 2200–2201). Zum anderen sind Einheiten der formelhaften Sprache in Wrays Konzept unterschiedlich fest: Neben fast vollständig syntaktisch fixierten fancy seeing you here/nice to see you findet sich eine Reihe der sogenannten semi-preconstructed phrases, z.B. NPi set + TENSE POSSi sights on (v) NPj (the teacher had set his sights on promotion, I’ve set my sights on winning that cup). Zum dritten lässt die Parenthese or appears to be im angeführten Zitat Raum für Variation: Formelhafte Wendungen müssen auch insofern nicht holistisch sein, als sie einem ständigen Wandel unterliegen. Dieser ist, so Wray (2002, 5), durch die sich verändernden Bedürfnisse der menschlichen Kommunikation bedingt und nicht notgedrungen primär linguistisch motiviert. Wrays Definition ist deshalb weit und auf eine möglichst umfassende Inklusion der sprachlichen Einheiten in das Konzept
1.7 Spracherwerb | 43
der Formelhaftigkeit ausgerichtet. Sie ist insofern weit, als Wray (2008, 11) einerseits sogar die Existenz einer individuellen Formelhaftigkeit im Gegensatz zur kollektiv erzeugten konventionellen zulässt. Andererseits gehören für sie Reime, absichtlich auswendig gelernte Gedichte und sogar nonverbale Signalsysteme wie etwa Verkehrszeichen, akustische Startsignale bei Wettkämpfen oder militärische Alarmsignale zum Bestand der formelhaften Sprache. Auch wenn sich diese Definition bei der Analyse des konkreten sprachlichen Materials nicht immer als praktikabel erweist (vgl. Wrays (2009, 30) Selbstkritik dazu), erlaubt sie als Arbeitsdefinition zunächst pauschal den Gegenstand abzustecken. In Kap. 4 wird gezeigt, dass diese definitorische Breite aus sprachhistorischer Sicht die einzige Möglichkeit ist, diachrone Formelhaftigkeit überhaupt zu fassen.49 Mit Blick auf die lückenhafte Überlieferung der historischen Texte hat selbst die spekulativ anmutende Parenthese Wrays im obigen Zitat or appears to be ihre Berechtigung.50 In genau diesem weit gefassten Verständnis der Formelhaftigkeit besteht einerseits die Grenzüberschreitung der traditionellen linguistischen Konzepte (pushing the boundaries). Andererseits stellt es die Forschung vor das bis jetzt kaum gelöste Problem der Identifikation und der Etablierung der Identifikationskriterien für formelhafte Sprache in Texten. Ist es die Intuition oder die Frequenz? Sollen eher morphosyntaktische Restriktionen, phonologische und semantische Auffälligkeiten, textsortenbedingte Indizien, etwa Anhäufungen am Anfang und Ende eines Textes, sowie metasprachliche Kommentierungen für Rückschlüsse auf Formelhaftigkeit genutzt werden? Obwohl Wray auch in ihren rezenten Arbeiten (2009) keine definitive Antwort auf diese Frage gibt,51 weist sie kontinuierlich darauf hin, dass es nicht ein Kriterium per se sein kann, sondern nur ein formal, semantisch und funktional konzipiertes Kriterienbündel sein muss (vgl. zuletzt Wray 2009, 40–41), welches aber auch nicht allerklärend, sondern eher als empirische Basis fungiert, auf der der Forscher/die Forscherin seine/ihre Intuition aufbaut. Besonders skeptisch äußert sie sich wie Feilke (Kap. 1.5.1) und im Gegensatz zur Korpuslinguistik (Kap. 1.8) in Bezug auf das Kriterium der Frequenz: Einige Wendungen kommen aufgrund ihrer Gebundenheit an bestimmte Textsorten oder kultureller Konnotation selten vor, sie sind dadurch aber nicht weniger formelhaft:
|| 49 Vgl. dazu außerdem Filatkina (2007; 2009a; 2012) und Filatkina/Gottwald/Hanauska (2009). 50 Vgl. die Ausführungen zum Begriff Belegkandidat in Kap. 4. 51 Vgl. Wray (2008, 286): „We do not yet know where all those boundaries are, and, as a result, we do not yet have the full measure of formulaic language.“
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However, it may be premature to judge frequency as a defining feature of formulaicity. It has yet to be established that commonness of occurrence is more than a circumstantial associate. There are certainly many formulaic sequences whose culturally-based familiarity belies their comparative rarity in real text (e.g. That’s another fine mess you’ve gotten me into; Time for bed, said Zebedee; Here’s one I made earlier). As Hickey (1993) notes, “we must not rule out the possibility that an utterance which does not occur repeatedly is a formula” (p. 33). In other words, “phraseological significance means something more complex and possibly less tangible than what any computer algorithm can reveal (Howarth, 1998, p. 27). (Wray 2009, 36; Wray/Perkins 2000, 7)
Wie auch in anderen Konzepten ist Formelhaftigkeit (holistic processing) bei Wray neben der Möglichkeit der regelbasierten Kreativität und freien Kombinatorik (analytic processing) nur eine Seite der sprachlichen Prozessierung. Sie ist aber ihre unabdingbare, zentrale, natürliche, seitens der Forschung bis jetzt aber oft übersehene Seite der Kommunikation. Den Vorteil der Analytik sieht Wray (2002, 18) in ihrer Flexibilität bei Schaffung neuer regelgeleiteter Formulierungen,52 den der Formelhaftigkeit – vor allem auf der Seite des Sprechers/der Sprecherin in: 1) Reduzierung des kognitiven und artikulatorischen Aufwandes (processing) 2) Konstruktion der eigenen Individualität und der Individualität als Gruppenmitglied durch Übernahme sowohl der prestigehaften, als auch der gruppenspezifischen Wendungen (speaker’s promotion of self als „a linguistic solution to a nonlinguistic problem“, vgl. zuletzt Wray 2012), 3) Effektiverer Beeinflussung des Hörers/der Hörerin (interaction) und 4) Diskursstrukturierung (discourse marking) (Wray 2002, 101; Wray/Perkins 2000, 1–28). Mit Ausnahme von 1) bleibt es unklar, warum die Funktionen 2) bis 4) nicht auch durch freie Wortkombinatorik erfüllt werden können, sind sie doch allgemeinsprachlicher Natur. Auf diese funktionale Vielfalt führt Wray ihre These über die Dominanz des Formelhaften über dem Analytischen zurück. Auch wenn die genannten Funktionen m.E. wenig spezifisch für Formelhaftigkeit sind, wird die Dominanzthese Wrays auch durch andere Forscher und Forscherinnen bestätigt.53 Spracherwerbstechnisch ist interessant, dass wir nicht von einem „angeborenen“ Inventar an formelhafter Sprache ausgehen können. Dieses wird durch || 52 „The smaller the unit, the greater the processing required to create fluent output, but the more that output can be tailor-made.“ (Wray 2002, 279) 53 Vgl. Korpuslinguistik (Kap. 1.8), Textlinguistik (Kap. 1.4) u.a.
1.8 Korpuslinguistik | 45
Spracherwerb und Sprachgebrauch erzeugt bzw. unbewusst (bei Kindern) oder bewusst (erwachsene L2-Lerner) erworben. Allerdings sind solche unterschiedlichen Gruppen der Sprecherinnen und Sprecher wie Kinder54 und erwachsene Nicht-Muttersprachlerinnen und -Muttersprachler fähig, das eigene Repertoire an formelhafter Sprache abhängig von Kommunikationsbedürfnissen zu selektieren, zu erneuern und zu verändern, obwohl sie es in unterschiedlichem Maße beherrschen und das Repertoire an sich unterschiedlich ausgebaut ist. Die Sensibilität für Selektivität und kontextangemessenen Gebrauch ist konstant, das Inventar an formelhaften Wendungen und die Balance zwischen der Analytik und Formelhaftigkeit hingegen variabel. Besonders ausgeprägt zugunsten der Formelhaftigkeit ist sie laut Wray (2002, 279) bei Kleinkindern sowohl im L1- als auch im L2-Erwerb und bei Erwachsenen in ihrer Muttersprache. Die Dominanz der Analytik kennzeichnet hingegen Kinder im Grund- und Mittelschulalter55 und Erwachsene im L2-Erwerb. Diese und weitere in Fallstudien erworbene Evidenz berechtigt Wray zur Annahme des Vorrangs der Formelhaftigkeit und der sekundären Rolle der Selektivität und Analyse sowohl in der Onto- als auch in der Phylogenese (Wray 2008, 207–209).
1.8 Korpuslinguistik In welch hohem Maße die meisten (untersuchten) Sprachen formelhaft geprägt sind, konnte in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts die Korpus- und Computerlinguistik nachweisen. Den Anfang bildet hier das Interesse an den syntagmatischen Verbindungen eines Worts, die Firth unter dem Begriff Kollokation bereits 1951 in seine kontextuelle Bedeutungstheorie inkorporiert. Ausgehend von der empirischen korpusbasierten Evidenz sieht er für die adäquate Beschreibung der Bedeutung eines Worts nur einen Weg, nämlich den „by the company words
|| 54 Wray (2002, 117) dazu: „A referential function (as in naming activities) seems more likely to encourage the isolation of individual words, whereas language that is used largely for expressive purposes, to effect interactional goals (e.g., directives, requests) or for social reasons, is more likely to be learned whole. […] Where a string has actually been presented to the child as formulaic (e.g., rhymes, songs, institutionalized routines), something about its form or purpose indicates this formulaicity, so that isolation and segmentation are less likely to occur, even in those children who are normally analytic.“ Und einige Seiten weiter(Wray 2002, 139): „The child’s introduction to literacy skills may play a major role in identifying and separately storing individual words, though this is a supplement to, and not a replacement for, the store of formulaic sequences.“ 55 Vgl. die Anmerkung 54.
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keep“ (Firth 1951). Ebenfalls auf Analysen elektronischer Textkorpora basiert Sinclairs These über den dualen Charakter der menschlichen Kommunikation: Sowohl ihre schriftlichen als auch ihre mündlichen Formen sind selbstverständlich einerseits Ergebnisse der komplexen auf Kreativität und linguistischer Freiheit basierenden Auswahlverfahren (open choice principle); andererseits bestehen sie aus einer großen Zahl von „semi-preconstructed phrases that constitute single choices“ (Sinclair 1987; 1991, 110). Sinclair nennt diese zweite grundlegende Seite der Kommunikation the idiom principle und meint damit nicht nur absolut feste und nicht kompositionelle Idiome im Sinne der kontinentaleuropäischen Phraseologieforschung (vgl. Kap. 1.2), sondern auch und vor allem Einheiten, die in Teilen analysierbar und variabel sind. Er verwendet dafür auch die Begriffe (whole) phrase (Sinclair 2008) oder phraseological item (Sinclair 2004). Auch wenn durch die Auseinandersetzung mit Korpustexten nicht alle Fragen gleich beantwortet werden können – und das war bereits Sinclair (1991, 100) klar, liefert diese Auseinandersetzung Evidenzen, die darauf hindeuten, dass Sprache deutlich anders aussieht, wenn man viel von ihr auf einmal betrachtet. Die „Andersartigkeit“ bestand für Sinclair vor allem in Formelhaftigkeit, im idiom principle. Seit diesen bahnbrechenden Ergebnissen von Firth und Sinclair hat sich in der Korpus- und Computerlinguistik, aber auch in der Natural Language Processing, ein beachtliches Forschungsparadigma etabliert, das sich neben den praktisch orientierten Fragen der maschinellen Übersetzung und korpusgestützten Wörterbuchschreibung auch zentral den theoretischen Fragen der Formelhaftigkeit widmet. So ist die korpusbasierte Theorie der Bedeutung (Stubbs 2001; Hoey/Mahlberg/Stubbs/Teubert 2007) eine unmittelbare Weiterentwicklung der Ideen Sinclairs. In ihrem Zentrum steht nicht das Wort, sondern das sogenannte unit of meaning oder das lexico-semantic unit als ein abstraktes Schema, das auf der sprachlichen Oberfläche durch typische Phrasen, Phraseologismen, Kollokationen realisiert werden kann und sowohl Lexik (node and collocates), als auch Grammatik (colligation), Semantik (preferences for words from particular lexical fields) und Pragmatik (connotations or discourse prosodies) mit einbezieht (vgl. in Anlehnung an Sinclair Stubbs 2001, 96–97). Unser Sprachwissen ist deshalb nicht das Wissen über einzelne Wörter, sondern Wissen über eine große Zahl von Phrasen und ihr Potenzial als Mittel der Erzeugung der Textkohäsion. Selbst scheinbar freie lexikalische Kookkurrenzen sind in ihrer Kombinatorik nicht ganz arbiträr, sondern zeigen präferierte Tendenzen auf. Darauf haben in Anlehnung an Sinclair Hunston/Francis (2000) im Rahmen der so genannten pattern grammar hingewiesen. Unter pattern verstehen sie eine in einer bestimmten Form frequent vorkommende Kombination von Wörtern, die nur in dieser Kombination auch einen bestimmten Sinn ergibt (Hunston/Francis 2000, 37). Kürzlich hat dies
1.8 Korpuslinguistik | 47
Dobrovol’skij (2012) mit Hilfe des Russischen Nationalkorpus56am Beispiel der Wortverbindungen mit der Intensivierungspartikel чрезвычайно (črezvyčajno ‚außergewöhnlich, außerordentlich‘) gezeigt, die im Vergleich zu synonymen Partikeln57 in Kombinationen mit positiv konnotierten Adjektiven und Adverbien (nicht Verben, z.B. črezvyčajno odarёnnyi/energičnyi ‚außergewöhnlich begabt/ energisch‘) und abstrakten Begriffen (z.B. črezvyčajno tjažёloe položenije ‚eine außergewöhnlich schwierige Situation‘ vs. črezvyčajno tjažёlyi čemodan ‚ein außergewöhnlich schwerer Koffer‘) eindeutig präferiert wird. Dobrovol’skij (2012, 62–63) weist explizit darauf hin, dass 1) diese Präferenzen in der Diachronie (im Russischen des 19. Jahrhunderts) anders aussahen und 2) gegenwärtig synchron an den formalen/offiziellen Diskurs (im Gegensatz zur Alltagssprache) gebunden sind. Die Verbindungstendenzen oder in der Terminologie von Dobrovol’skij Prinzipien sind weder ganz arbiträr (wie das bei lexikalischen Kookkurrenzen der Fall ist) noch völlig voraussagbar. Genau diese empirischen Evidenzen der Korpuslinguistik haben zum tiefgreifenden Umdenken der systemlinguistischen Einteilung der langue in Grammatik und Lexikon geführt; sie finden Anwendung nicht nur in der Lexikologie und Lexikographie, sondern auch in modernen Grammatiktheorien (vgl. Kap. 1.6). Bybee/Hopper (2001, 2) beschreiben dies z.B. folgendermaßen: „One especially important claim coming out of corpus studies is that the dividing line between grammar and lexicon, which has been virtually a dogma in linguistics, cannot be sustained.“ In der Linguistik ist eine stärkere Verlagerung der Forschungsinteressen von der Paradigmatik auf die Syntagmatik erfolgt.58 Auch wenn die Einheiten, die in der Korpuslinguistik nun bereits traditionsgemäß als multi-word expressions/units bezeichnet und im weitesten Sinn als eine statistisch signifikante Kookkurrenz von (meistens zwei) Lexemen verstanden werden (vgl. exemplarisch Tschichold 2008), nicht immer mit den Begriffen Phraseologismus oder formelhafte Wendung in der Linguistik übereinstimmen (Moulin/Gurevych/Filatkina/deCastilho 2015), teilen beide Disziplinen die mittlerweile grundsätzliche Auffassung über die zentrale Rolle der Formelhaftigkeit.
|| 56 Russian National Corpus (RNC): http://www.ruscorpora.ru. 57 neobyknovenno ‚außergewöhnlich‘, neobyčajno ‚immense, gewaltig‘, krajne ‚äußerst‘, beskonečno ‚unendlich, grenzenlos‘ usw. 58 Vgl. den Verweis auf korpusbasierte Arbeiten in Steyer (2013, 75). Biber/Conrad/Reppen (2006, 84–105) untersuchen das Verbindungspotenzial (lexico-grammatical associations) – also die Syntagmatik – von synonymen Wörtern (little vs. small, begin vs. start) und ähnlichen grammatischen Strukturen (that- und to-Nebensätze), um ihre semantischen Unterschiede aufzuspüren.
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Über ihr konkretes Ausmaß finden sich in korpuslinguistischen Arbeiten unterschiedliche Aussagen. Stubbs (2001, 80–81) schreibt z.B.: One phenomenon, by its sheer frequency, shows the strength of phraseological tendencies across the most frequent words in the language. Suppose we take all 47 word-forms which begin with f in the sample.59 In 41 cases, the following easily recognizable combinations account for the collocation of node and top collocate. […] [NF: z.B.:] despite the fact60 that; faded away; fair enough […]. In the remaining six cases, collocates further down the lists occur in recognizable phrases, such as: natural fabrics; animal feed, filing cabinet […]. With many words, many more of the top 20 collocates are due to recognizable phrases. […] I can think of no reason why a sample of words beginning with f might be untypical of the whole 1,000-word sample. We therefore have initial evidence that all of the most frequent lexical words in the vocabulary have a strong tendency to occur in well-attested phraseological units.
Ebenfalls am Beispiel der englischen Textkorpora nehmen Sag/Baldwin/Bond/ Copestake/Flickinger (2001) an, dass die Anzahl an formelhaften Wendungen, die in ein adäquat funktionierendes System für natürliche Sprachverarbeitung aufgenommen werden müsste, mindestens genauso hoch sein muss wie die Zahl der Einzellexeme. Mit Hilfe des Oxford Hector Pilot Corpus ermittelt Moon (1998 a, b) eine auffällige Frequenz der verbalen Kollokationen (verb phrase idioms) sowohl in types als auch in tokens. Cowie (1992, 1) stellt nach der Auswertung eines Korpus der englischen Nachrichten fest, dass dort Verb-Substantiv-Kollokationen des Typs to make a proposal, to give figures, to try the case usw. einen erheblichen Teil des Wortschatzes (40%) ausmachen. Die Reihe der Studien am englischen Material setzen Baayen/Lieber (1991), Renouf (1992), Altenberg (1993), Barkema (1993) und Jackendoff (1995; 1997) fort. Auf diesen Ergebnissen der Korpusund Computerlinguistik baut auch das dynamische Lexikonmodell lexical priming (Hoey2005) auf, laut dem jedes Wort einer Sprache mit bestimmten anderen innerhalb von wiederkehrenden Kollokationen assoziiert und durch diese Verbindungen sie durch Erwartungen der Sprecherinnen und Sprecher über diese Verbindungen formiert ist (is primed by each encounter); Grammatik ist nur ein sekundäres und dem durch Wortverbindungen systematisch strukturierten Lexikon untergeordnetes Phänomen. Zu ähnlichen Erkenntnissen kommen für das Gegenwartsdeutsche die Projekte „Usuelle Wortverbindungen“ des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim (Steyer 2004 und Kap. 1.8.2), „Kollokationen im
|| 59 Gemeint ist die statistisch im Cobuild-Korpus ermittelte Liste der frequentesten Wörter des Englischen. 60 Diese und weitere Kursivierungen im Original.
1.8 Korpuslinguistik | 49
Wörterbuch“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Fellbaum 2007) und „Kollokationenwörterbuch. Typische und gebräuchliche Wortverbindungen des Deutschen“ (Roth 2014). Die in den Studien ermittelten Zahlen sind natürlich korpusabhängig und eben auf ein bestimmtes Korpus (und nicht per se auf die „Sprache“) bezogen. Diese Einschränkung widerlegt allerdings nicht ihre Beweiskraft für die „underlying rigidity of phraseology, despite a rich superficial variation“ (Sinclair 1987, 331; Sinclair 1991, 121). Die Beweise führen zu einer übergreifenden Beobachtung, die zunächst wie ein Paradox wirkt: Einerseits stellen sich nun die Verbindungsprofile der scheinbar „freien“ Lexeme als weniger frei heraus, als es bis jetzt in den klassischen Grammatik-versus-Lexikon-Modellen angenommen wurde. Andererseits geht die Vorgeprägtheit der Wortverbindungen mit Flexibilität und Variation einher. Und damit sind nicht nur die sogenannten phraseologischen Modellbildungen (X hin, Y her; das ist zum X!) oder die mit Dobrovol’skij (2012) erwähnten präferierten Kookkurrenzen mitten auf der Skala zwischen den freien und phraseologischen Wortverbindungen (črezvyčajno P) gemeint, sondern auch die in hohem Maße konventionalisierten und nichtkompositionellen Wortverbindungen (Moon 1998a, 120–177; 1998b, 100; Staffeldt 2011b, 133–134; Zeschel 2012). Alle drei Charakteristika – Vorgeprägtheit der Verbindungsprofile, der holistische Charakter und die Variation der Konstituenten – stellen für die Korpus- und Computerlinguistik seit den 50er Jahre des 20. Jahrhunderts ein ungelöstes Problem bei der Frage nach der automatischen Identifikation von formelhaften Wendungen in Texten dar (vgl. Kap. 4; Steyer 2013, 73–79; Filatkina 2009a; Heid 2007; Heid 2008).61 Wie selbst seitens der NLP und Korpuslinguistik betont wird, besteht das Problem nach wie vor und kann nur durch ausreichendes linguistisches Wissen über Formelhaftigkeit gelöst werden: Over the course of these workshops,62 it has become increasingly obvious that in order to develop more efficient algorithms, we need deeper understanding of the structural and semantic properties of MWEs, such as morpho-syntactic patterns, semantic compositionality, semantic behaviour in different contexts, cross-lingual transformation of MWE properties etc. (Rayson/Piao/Sharoff/Evert/Moirón 2010, 2)
|| 61 Vgl. ferner Gibbs/Nayak 1989; Cacciari/Tabossi 1993; Moon (1998a, 309); Steyer (2004, 89). Fellbaum (2007, 3) betrachtet Mehrworteinheiten als „indeed ‚messy‘ as linguistic phenomena.“ 62 Gemeint sind 11 Workshops der Special Interest Group on the Lexicon (SIGLEX) of the Association for Computational Linguistics – Multiword Expressions (SIGLEX-MWE).
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Die Ergebnisse der Korpuslinguistik führen zu einem neuen Verständnis dessen, was in einer Sprache als formelhaft bzw. usuell gelten kann. Die semantisch und pragmatisch orientierten Kriterien der „klassischen“ Phraseologieforschung sind zwar (noch) nicht widerlegt,63 durch die Korpusarbeit gelangen allerdings rekurrente Wortverbindungen in den Skopus linguistischer Untersuchungen, die im Paradigma der Phraseologieforschung z.B. nie als phraseologisch betrachtet wurden und für die dieses Paradigma weder Klassifikationsmerkmale noch Benennungen hat, vgl. z.B. die Konstruktion villze + Adj. im Luxemburgischen (Sirajzade 2012, 170). Die neueren Untersuchungen im Bereich der Korpuslinguistik beschränken sich nicht ausschließlich auf die Identifizierung von (meist aus zwei Lexemen bestehenden) Kollokationen. Sie gehen insofern darüber hinaus, als ihr Ziel darin besteht, durch induktive Identifikation von statistisch frequenten, konventionalisierten Wortverbindungen den Sprachgebrauch zu beschreiben, der für bestimmte Diskurse als typisch im Vergleich zu anderen Sprachausschnitten (z.B. Referenzkorpora des Deutschen) und deshalb als musterhaft gelten muss. Stellvertretend steht dafür das Konzept der Sprachgebrauchsmuster von Bubenhofer (2009).64
|| 63 Colson (2010, 31) weist auf die Notwendigkeit hin, die semantischen und pragmatischen Kriterien Idiomatizität und Festigkeit (fixedness, frozenness) angesichts ihrer Subjektivität durch das statistisch operationalisierbare Merkmal der Frequenz zu ersetzen. Während sich dieses Merkmal für die Ableitung der ersten Hypothesen in gegenwartssprachlich orientierten Untersuchungen wahrscheinlich als produktiv erweisen kann (vgl. allerdings anders Steyer 2013, 31 und 341–342)), ist seine Anwendung bei sprachhistorischen Fragestellungen problematisch, vgl. Filatkina (2009a) und Kap. 4. 64 Auch Ziem/Scholz/Römer (2013), Scholz/Ziem (2013) und Ziem (2014b) teilen diesen Ansatz, ohne allerdings gezielt auf die Rolle der Mehrworteinheiten im Typikprofil eines bestimmten Diskurses einzugehen. Bei ihren Analysen der medialen Konstruktion des Begriffs Krise berücksichtigen sie seine „syntaktische Einbettungsstruktur“ (Scholz/Ziem 2013, 169) und stellen diesbezüglich Unterschiede z.B. bei der Darstellung von Ölkrise und Finanzkrise fest: Transitivkonstruktionen mit Krise als Agens, die Handlungsrechtfertigungen und -beschreibungen betreffen, treten im Teilkorpus zur ‚Ölkrise‘ weitaus häufiger auf; im Teilkorpus zu ‚Finanzkrise‘ rücken sie hingegen die Betroffenen und Resultate von Handlungen in den Vordergrund. Dieses Ergebnis konnte teilweise auch bei der Untersuchung der Possessivkonstruktionen in beiden Teilkorpora bestätigt werden (Ziem/Scholz/Römer 2013, 356). Darauf, dass es eine Abhängigkeit zwischen Diskursen und festen Wortverbindungen gibt, hat bereits Moon (1998a, 310–311) hingewiesen und dies empirisch am englischen Korpusmaterial belegt. Vgl. auch Teubert (2007).
1.8 Korpuslinguistik | 51
1.8.1 Bubenhofers Konzept der Sprachgebrauchsmuster Musterhaftigkeit wird dabei vor allem als Phänomen der Textoberfläche verstanden und auf den sprachlichen Ausdruck, also auf „das Wie des Sprechens“ (Bubenhofer 2009, 6 und 30) bezogen. Signifikant oft vorkommende Mehrworteinheiten unterschiedlichster Typen bilden die Grundlage für die davon abzuleitende Sprachgebrauchsmuster. Musterhaftigkeit ist ferner nicht durch solche Begriffe der Systemlinguistik wie Wort oder Satz eingeschränkt; sie erstreckt sich vielmehr von einer Wortform sogar auf nicht sprachliche Elemente: Ein (sprachliches) Muster 1) ist eine Wortform, eine Verbindung von Wortformen oder eine Kombination von Wortformen und nichtsprachlichen Elementen, also ein Zeichenkomplex, 2) der als Vorlage für die Produktion weiterer Zeichenkomplexe dient, 3) dabei aber von gleicher Materialität ist, wie die daraus entstehenden Zeichenkomplexe. (Bubenhofer 2009, 22)
Der Bezug auf die Textoberfläche schließt allerdings nicht aus, dass Sprachgebrauchsmuster als Resultat von kooperativem sprachlichem Handeln Rückschlüsse auf die Inhalte des Sprechens als Indikatoren für Diskurse erlauben, so auch für den kulturhistorischen Wandel dieser Diskurse.65 So erweist sich der Ausdruck Kampf gegen (den) Terror(ismus) im Vergleich zu alternativen Ausdrücken Krieg gegen den Terror, den Terrorismus bekämpfen, Kampf gegen Terror, terroristische Netzwerke verfolgen u.a. als eine typische Mehrworteinheit im Kontext des Irakkriegs für die Periode 2003-2005 im NZZ66-Korpus (Bubenhofer 2009, 155– 163). Kampf dem Terror ist hingegen weniger geläufig und fungiert vor allem als Indikator für Kritik an diesem Kampf (Bubenhofer 2009, 297). Im gleichen Korpus stellt Bubenhofer (2009, 172) die Zunahme der Wendung in den Tod (reißen) im Kontext von Bomben- und Selbstmordattentaten ab 2005 gegenüber den Jahren 1995-2004 fest. Nennungen von Zahlenwerten, vor allem in der Form Zahl der X, verweisen auf Kontexte, die als problematisch erkannt werden: „Die Kontexte haben sich in der Zeit nach 2000 deutlich in Richtung Kriminalität und Krieg bewegt, während sie vor dem Jahr 2000 noch eher politisch waren“ (Bubenhofer 2009, 297). || 65 Bubenhofer (2009), Ziem/Römer/Scholz (2013) u.a. nennen diese Methode korpuslinguistische Diskursanalyse. Zur Formelhaftigkeit und Typik in der Diskursanalyse vgl. Kap. 1.4. Die Relevanz dieses Konzepts für Sprachgeschichte und die bestehenden Ansätze werden in Kap. 4 ausführlich diskutiert. 66 NZZ = Neue Zürcher Zeitung.
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Das primäre Selektionskriterium für frequente Mehrworteinheiten ist für Bubenhofer (2009, 204) ihre statistische Typik für ein bestimmtes Teilkorpus. Auf die Problematik dieses Kriteriums im Falle seiner Verabsolutierung wurde bereits hingewiesen (vgl. Kap. 1.5.1, 1.7); aus sprachhistorischer Sicht ist seine Anwendung insbesondere fraglich (vgl. Kap. 4). Auch die Auflistungen der rein statistisch ermittelten Mehrworteinheiten in Bubenhofer (2009, 341–360) deuten darauf hin, dass nicht alle davon für Untersuchungen mit lexikalischen Fragestellungen von Interesse sind (vgl. die Beispiele im Irak die, der Nato und, am in Paris usw.)Die Beispiele ändern allerdings nichts an der Grundannahme der modernen Korpuslinguistik über die Typik der Textoberfläche und die Rekurrenz der Wortverbindungen als Indikatoren für diskursive Sprachgebrauchsmuster, ihr Veränderungspotenzial in der Diachronie sowie in unterschiedlichen Diskursen in der Synchronie. Auch bei Bubenhofer (2009) ist die rein statistisch berechnete Typik nicht das einzige Selektionskriterium: Syntaktische Festigkeit, Kontinuität der Wortfolge u.a. werden ebenfalls berücksichtigt. Obwohl die Kriterien im Einzelnen auch im korpuslinguistischen Sinn nicht eindeutig sind (z.B. tendenziell syntaktisch fest vs. tendenziell syntaktisch variabel67), besteht ihre Stärke in der Berücksichtigung der Vielfalt der Mehrworteinheiten, derer Variation auf der Ausdrucksebene und in der gelungenen Integration der phraseologischen Mischklassifikation Burgers: Phraseologismen sind einer der Typen der Mehrworteinheiten, die Sprachgebrauchsmuster stellen eine übergeordnete Kategorie dar.
1.8.2 Steyers Modell der usuellen Wortverbindungen (UWV) Die Beobachtung, dass Formelhaftigkeit das Wesen der Sprachproduktion und Sprachrezeption auf allen Ebenen ausmacht und ein genuines Sprachprinzip ist, liegt ebenfalls Steyers (2013) Modell der usuellen Wortverbindungen (UWV-Modell) zugrunde. In Anlehnung an Paul (1886/1995) und Feilke (1994), in kritischer Auseinandersetzung mit Konstruktionsgrammatiken (vgl. Kap. 1.6) und einerseits integrativ, aber andererseits methodisch komplett anders und weiterführend gegenüber der „klassischen“ europäischen Phraseologie- und Parömiologieforschung (vgl. Kap. 1.2) verwendet Steyer den Begriff Musterhaftigkeit und beweist anhand umfangreicher Korpusrecherchen, dass sogar das vermeintlich Zufällige und Okkasionelle in einer Sprache vorgeprägten Mustern folgt. Usuelle Wortverbindungen sind laut Steyer (2013, 23): || 67 Bubenhofer (2009, 203).
1.8 Korpuslinguistik | 53
– – – – –
konventionalisierte Muster des Sprachgebrauchs, die durch wiederkehrenden Gebrauch geronnen sind; mehrgliedrige – zumindest binäre – Einheiten, eingebettet in rekurrente syntagmatische Strukturen; minimal lexikalisch spezifiziert (d.h. sie weisen zumindest eine lexikalische Komponente auf);68 autonome sprachliche Gebilde, denen als Ganzes eine Funktion in der Kommunikation zugeschrieben werden kann; als Lexikoneinheiten abrufbar.
Dabei unterscheidet Steyer zwischen Wortverbindungen und Wortverbindungsmustern. Die ersteren weisen feste lexikalische Komponenten auf, die zwar einer orthographischen oder morphologischen Varianz unterliegen können, aber keine lexikalische Substitution zulassen, z.B. Geld abheben, Kopf hoch, Pi mal Daumen, Augen zu und durch, Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht. Die letzteren sind im Sinne Feilkes (1996, 187) „geprägten komplexen Ausdrucksmustern“ oder Tomasellos „Schemata“ (2008, 28–30) mehrgliedrige lexikalische teilspezifizierte Einheiten, die sowohl feste lexikalische Elemente als auch Leerstellen/unspezifizierte Slots enthalten und lexikalisch variabel sind wie etwa klein ADJ (bemessen/dimensioniert/angesetzt), ins Ohr V (flüstern/brüllen/schreien) bzw. SUB1 schützt vor SUB2 nicht (SUB1-Füller: Alter/Dummheit/Arbeit; SUB2-Füller: Torheit/Strafe/Armut). Somit räumt auch Steyers Modell der Variation einen breiten Raum ein. Auch in der „klassischen“ Phraseologieforschung ist die Erkenntnis, dass es nur selten feste Phraseme/Phraseologismen gibt, mittlerweile sehr verbreitet; Steyers Modell stellt sie allerdings ins Zentrum der Betrachtung, indem es auch „Mehrwortkandidaten“ (2013, 14), Sprachfragmenten (ebd.), Halbfertigprodukten und sprachlichen Bruchstücken (2013, 28) eine Heimat gibt.69 Dieses Modell geht deshalb auch nicht von einer Zentrum/Peripherie-Dichotomie mit Idiomen als „typischeren Phraseologismen“ im Mittelpunkt und Kollokationen und Routineformeln an den Rändern der Phraseologie aus, wie das die Phraseologieforschung noch bis vor kurzem getan hat, sondern nimmt den unterschiedlichen Grad der Konventionalisierung als sprachlichen Normalfall an und erklärt den Unterschied lediglich durch den „Grad vordergründigen Auffälligkeit für den Betrachter“ (2013, 14). Diese theoretische Überzeugung zieht praktische
|| 68 Vgl. anders Steyer (2000). 69 Vgl. auch die in der HiFoS-Gruppe erarbeitete Herangehensweise für sprachhistorische Daten, vgl. Filatkina/Gottwald/Hanauska (2009), Filatkina (2012) und Kap. 4.
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Konsequenzen nach sich: Den Kern der lexikographischen Beschreibungen bildet nicht die Nennform, obwohl sie auch angeführt wird, sondern die durch umfangreiche Korpusrecherchen (nicht durch Wörterbuchbenutzung oder Introspektion!) ermittelten Kernrealisierungen einer Wortverbindung sowie ihre prototypischen Realisierungen, denen Belegstellen mit lexikalischen Erweiterungen folgen können, es aber nicht müssen (Steyer 2013, 289–336). Filatkina hat bereits 2007 und 2009a hervorgehoben, dass die Verlagerung der Objektdaten in den Mittelpunkt der lexikographischen Darstellungen und nicht ihre „Abwertung“ als Beispielsätze für die Untersuchung der formelhaften Sprache aus historischer Perspektive der einzig mögliche Weg ist (vgl. dazu auch Kap. 4). Die Hervorhebung der Variation bedeutet natürlich nicht, dass prinzipiell jede Wortverbindung als eine usuelle betrachtet werden kann. Steyer nennt zwei Hauptkriterien für den UWV-Status: a) ihren Grad an idiomatischer Prägung (2013, 27) und b) die Autonomie als kommunikative Einheit (2013, 24 und 56–61). Wie auch schon bei Feilke bedeutet die Idiomatizität beim Merkmal a) den Grad der Konventionalisierung und Lexikalisierung, d.h. Struktur- und Statusgewinn hinsichtlich des Lexikons durch rekurrenten Sprachgebrauch. Idiomatizität bezieht sich somit nicht wie in der Phraseologieforschung auf die semantische Irregularität (etwa eine übertragene Bedeutung einer Wortverbindung im Ganzen, die sich nicht aus der Bedeutung der einzelnen Konstituenten in ihrem Bestand ableiten lässt70), sondern auf die Kombinatorik der Konstituenten aus semantisch-funktionaler Sicht, die bei UWV restringiert und bei freien Wortverbindungen nicht eingeschränkt ist. Hier berührt sich das Kriterium a) mit dem Kriterium b) – Autonomie. Diese bedeutet, dass UWV beider Typen (Wortverbindungen und Wortverbindungsmuster) über eine holistische übersummative (aber nicht unbedingt idiomatische im semantischen Sinn) Qualität verfügen müssen, die es ermöglicht, diese Entitäten als Ganzes abzurufen und im Kommunikationsprozess einzusetzen (2013, 24). Die Autonomie als holistische Qualität wird im starken Maße durch die rekurrenten Kotexte geprägt. Die korpusbasierte Analyse der Kotexte zeigt, dass UWV zwar wie Einwortlexeme ganz „normale“ Einheiten des Lexikons sind,71 sich aber von ähnlichen Einwortlexemen durch distinktive Gebrauchseigenschaften abheben und nur in den seltensten Fällen eine absolute 1:1-Entsprechung ergeben (vgl. Herr im Haus vs. Chef oder zu Ohren kommen vs. erfahren). Steyers UWV-Modell ist teilweise mit der Berkeleyer Schule der Konstruktionsgrammatik um Fillmore und Kay zu vergleichen (vgl. Kap. 1.6), weil sie sich || 70 Dazu vgl. Dobrovol’skij (22016); Burger (2010). 71 Vgl. die oben angeführte Definition aus Steyer (2013, 23).
Fazit | 55
auch mit idioms im Sinne der Idiome, Phraseoschablonen, Modellbildungen, Routineformeln und Kollokationen der europäischen Phraseologieforschung beschäftigt. Solche Beispiele für Konstruktionen wie let alone, what’s X doing Y, the Xer the Yer sind bereits klassisch geworden. Allerdings ist die Perspektive der Konstruktionsgrammatik eher eine vertikale, die auf die Ermittlung der diversen sprachlichen Realisierungen zugrunde liegenden hochabstrakten constructions/ Muster/Schemata/patterns abzielt bzw. auf die Bestätigung der a priori angenommenen constructions durch Korpusdaten ausgerichtet ist. Stark konventionalisierte Einheiten wie Pi mal Daumen (der erste Typ der Wortverbindungen in der Terminologie Steyers), die unterschiedliche Realisierungen nicht zulassen, sind für Konstruktionsgrammatiken von sekundärer Bedeutung. Das UWV-Modell ist hingegen am Lexikon orientiert, strikt empirisch, induktiv und eher horizontal konzipiert: Durch die umfangreiche Korpusanalyse der Kombinatorik von Wörtern im realen Sprachgebrauch ermittelt das Modell pragmatische, semantische und funktionale Besonderheiten der Komponenten, die zur Konventionalisierung einer Wortverbindung führen. Steyer selbst nennt ihren Ansatz lexikalistisch (2013, 37 und 342) und kommt zum Schluss, „dass primär das Lexikalische den Kern der Gerinnungsprozesse ausmacht und nicht das Syntaktische“ (2013, 348): Als feste Bausteine des Sprachgebrauchs werden oft nur lexikalische Fragmente weitertransportiert und dann an den neuen Kotext angepasst. Es ist also anzunehmen, dass Sprecher über ein stark ausgeprägtes lexikalisches Wissen bezüglich solcher sprachlichen Bausteine und der zugrunde liegenden Muster verfügen, die zunächst nicht unbedingt mit syntaktischen Regularitäten einhergehen müssen.
Fazit In diesem Kapitel wurde der Versuch unternommen, die konstitutive Rolle der Formelhaftigkeit aus der Sicht verschiedener Disziplinen nachzuweisen. Die dargestellten Konzepte basieren auf unterschiedlichen theoretischen Annahmen und leisten Unterschiedliches. Einige fokussieren Formelhaftigkeit eher als ein kognitives Phänomen, andere als ein etabliertes Set an gesellschaftlichen Konventionen, die substantielle Orientierungshilfen beim sozialen Handeln jeder Art leisten. Wiederum dritte zielen auf die sprachliche Ausdrucksseite ab und betrachten ihre formelhafte Prägung als Grundbedingung des erfolgreichen und ökonomischen Kommunizierens sowie als Indikatoren für diskursive bzw. textsortenspezifische Typik. Die Realisierung der Formelhaftigkeit auf der sprachlichen Oberfläche erfolgt u.a. durch holistische Mehrwortverbindungen, die unterschiedlich fest sein können, funktional Unterschiedliches leisten und für die we-
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der Wort- noch Satzgrenzen eine Barriere bilden. Die Komplementarität aller Typen der Formelhaftigkeit kommt in jedem theoretischen Ansatz zum Ausdruck. Über das konkrete Ausmaß der Formalhaftigkeit in der Sprache ist hingegen noch wenig bekannt. Um die zu Beginn des Kapitels angeführte Metapher A. Wrays aufzugreifen – der Elefant bleibt im Raum! Man kann auch darüber streiten, ob Formelhaftigkeit wirklich dominiert. Ich hoffe aber, deutlich gezeigt zu haben, dass es eben ein Elefant – also ein zentrales Organisationsprinzip des sprachlichen Könnens – und nicht ein Randphänomen oder eine Ausnahme ist. Dafür sprechen viele bei der Analyse der Theorien angeführte Gründe. Trotz der Tatsache, dass dieses Phänomen bereits im 19. Jahrhundert bemerkt wurde, ist es im 21. Jahrhundert immer noch keine linguistische Selbstverständlichkeit. Theoretische Modelle, die Sprache nicht reduktionistisch und additiv, sondern in ihrer Ganzheit betrachten und in denen deshalb die Mehrwortverbindungen zu einem bedeutenden Mechanismus avancieren, gewinnen erst jetzt an Verbreitung. Was ihnen eine besondere Erklärungskraft verleiht, ist die Überzeugung, dass sich vom Hintergrund des Formelhaften immer ein Vordergrund für Variables und Dynamisches öffnet. In welchem Maße haben diese schwerpunktmäßig synchronen für Gegenwartssprachen validen Theorien die Sprachgeschichte beeinflusst? Gilt Formelhaftigkeit als ein zentrales Organisationsprinzip ausschließlich für moderne Sprachen? Das sind die Fragen für das zweite Kapitel.
2 Theoretisches Niemandsland: Historische formelhafte Sprache People don’t speak in words, they speak in phrasemes. (Mel’čuk 1995, 169) In large part, then, a word’s etymology is the history of the linguistic changes it has undergone. Therefore, when we understand the various kinds of linguistic change dealt with in the chapter of this book, the stuff that etymologies are made of and based on becomes clear. Historical linguists are concerned with all these things broadly and not merely with the history behind individual words. (Campbell 1998, 6) Der kulturanalytische Blick auf die sprachliche Form darf […]nicht beschränkt bleiben auf die Ebenen von Laut, Wort und Satz, […] sondern ist auszuweiten auf die Formen und Muster komplexer sprachlicher bzw. kommunikativer Phänomene, auf Texte, Sprachhandlungen, kommunikative Routinen etc. (Linke 2003a, 50)
Die Sprachwissenschaft hat im historisch-vergleichenden Paradigma in erster Linie als Sprachgeschichte angefangen, als jene Teildisziplin der Linguistik also, die sich mit dem Ursprung der Sprachen, ihrer Entwicklung und ihrem Wandel beschäftigt. Die Erkenntnisse der Sprachwissenschaft sind wahrscheinlich auf keinem anderen Gebiet so traditionsreich, so tief und umfassend wie auf dem Gebiet der Sprachgeschichte. In der Geschichte der Sprachwissenschaft existierte kaum ein wissenschaftliches Paradigma, in dem der historischen Sprachwissenschaft nicht eine der zentralen Rollen beigemessen wurde. Als Ausnahmen wären nur der Strukturalismus und die Generative Grammatik zu nennen. Allerdings war und ist der Untersuchungsgegenstand der historischen Linguistik auf einige Schwerpunkte beschränkt. Die historische Phonetik und Phonologie können für die meisten (zumindest germanischen) Sprachen als gut erforscht gelten. Vielfältiges Wissen liegt zum Bereich der historischen Morphologie und Morphosyntax vor. Eine lange Tradition genießen die historische Lexikologie und historische Semantik. Moderne syntaxorientierte Theorien finden breiten Eingang in historische Untersuchungen; als erkenntnisgewinnbringend erwies sich die Einbeziehung der Soziopragmatik und der Stilistik in den Bereich der Sprachgeschichte. Die wissenschaftstheoretischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte unterstreichen die unvermeidliche kulturelle Dimension sowie den räumlichen Aspekt der Sprachgeschichte. Formelhafte Wendungen sind sprachliche Einheiten, die ebenfalls genug wertvolles Material für eine sinnvolle Anknüpfung an Sprachgeschichte bieten,
DOI 10.1515/9783110494884-003
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von dieser bis jetzt allerdings kaum bis marginal berücksichtigt wurden. Die Sprachgeschichte bleibt in ihrem Kern wortbezogen, aber wir sprechen nicht in Wörtern, sondern in Phrasemen, wie Igor Mel’čuk im ersten Eingangszitat zu diesem Kapitel bemerkt. Die konstitutive Rolle der Formelhaftigkeit wurde zwar auch von Sprachhistorikern früh erkannt (vgl. Kap. 1.1), sie ist allerdings lange nicht systematisch erforscht worden und bleibt auch heute wenn überhaupt nur ein Randbereich der Sprachgeschichte. Ein Grund dafür mag darin bestehen, dass Untersuchungen, die formelhafte Wendungen zu ihrem zentralen Gegenstand erheben und innerhalb der Phraseologieforschung zu verorten sind (vgl. Kap. 1.2), in die 40er–70er Jahre des 20. Jahrhunderts fallen, in die Zeit also, die vom strukturalistischen Paradigma geprägt war. Entstanden als eine Gegenantwort auf die vergleichende historische Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts, wandte sich der Strukturalismus bekanntlich von der Sprachgeschichte ab und widmete sich der Beschreibung und Erklärung des synchronen Sprachsystems.1 Allerdings stellt von Polenz (22000; 22013) in Bezug auf die Lexikologie fest, dass gegenwärtig nicht mehr die Wortgeschichte als Geschichte von Einzelwörtern betrieben werden kann. Die Aussagefähigkeit der historischen Wortforschung muss von der Darbietung des lexikalischen Materials in Richtung auf die Erfassung der Gebrauchstraditionen mitsamt deren komplexen Kontexten ausgeweitet werden. Gefordert wird deshalb eine historische Wortverwendungsforschung, die die Lücke zwischen einzelwortbezogener Lexikologie und regelbezogener Grammatik schließt. Das Leben der Sprache vollzieht sich nicht durch Zuwachs oder Verfall isolierter Lexeme und Regeln, sondern durch Aufkommen und Außergebrauchgeraten von Traditionen des Formulierens (Schmidt 1995, 141). Auch in der englischsprachigen historischen Linguistik wurden bereits solche Plädoyers ausgesprochen. Das zweite Eingangszitat aus der Einführung in die historische Linguistik von Lyle Campbell steht exemplarisch dafür. Das Ziel der historischen Sprachwissenschaft sieht die Autorin u.a. in der Untersuchung des Sprachwandels auf allen Ebenen. Formelhaftigkeit ist dabei mitgemeint, weil der Zielsetzung im Zitat die Analyse der Veränderungen bei engl. goodbye auf unterschiedlichen Ebenen vorangeht. Campbells Beispiele dokumentieren, dass der historische Univerbierungsprozess bei der Routineformel god be with you/ye im späten 16. Jahrhundert seinen Ausgangspunkt hat, zu einem wesentlichen Teil in der Veränderung der Verwendungsprofile besteht und in der Analogie zu anderen Routineformeln (good day/morning/night) verläuft. Explizit wird allerdings die Rolle der formelhaften Geprägtheit der Sprache nicht angesprochen.
|| 1 Zu dieser Ansicht vgl. auch Mokienko (2007, 1134).
2 Theoretisches Niemandsland: Historische formelhafte Sprache | 59
Ein Blick in die geläufigen Einführungen in die historische Linguistik bzw. in den Sprachwandel reicht aus um festzustellen, dass das Wissen über die konstitutive Rolle der Formelhaftigkeit offensichtlich nicht zum Grundlagenwissen im Bereich der Geschichte einer Sprache gehört. Tabelle 2 führt dies für die gängigen Einführungen in die deutsche und englische Sprachgeschichte vor Augen.2 Tab. 2: Zum Stand der Berücksichtigung der historischen formelhaften Sprache in deutschund englischsprachigen Einführungen in die Sprachgeschichte
Lehrwerk
eigenständiges Kap. zur fS*
fS wird in anderen Kapiteln mit erwähnt
Aitchison (32001)
n.v.**
Kap. 8 „The wheels of language: grammaticalization“ (119): frozen und semi-frozen idioms sind auch Einheiten, die im Zuge der Grammatikalisierung entstehen und ihr Erklärungspotenzial beweisen
Besch/Wolf (2009)
n.v.
˗, obwohl die Rolle der Konventionalisierung beim Wandel der Anredepronomina hervorgehoben wird (Kap. 5, 117–131)
Besch/Betten/Reichmann/ Sonderegger (21998ff.)
I, 743–755; III, 2559–2569
˗, einige Aspekte der mikrostrukturellen Formelhaftigkeit sind als Reflexe gesprochener Sprache kursorisch für Ahd. und Mhd. mit erwähnt, der formelhafte Charakter wird allerdings nicht diskutiert (II, 1231– 1240; II, 1391–1399)
Bybee (2010)
n.v.
Kap. 1 „A usage-based perspective on language“ (1–13) im Zusammenhang mit der Grammatikalisierung von engl. go in den constructions go ahead (and), go wrong, go bad, go boom, let’s go have lunch, be
|| 2 Die Auswahl erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und ist natürlich subjektiv. Allerdings denke ich, die wichtigsten Einführungen bzw. Grundlagenwerke berücksichtigt zu haben.
60 | 2 Theoretisches Niemandsland: Historische formelhafte Sprache
Lehrwerk
eigenständiges Kap. zur fS*
fS wird in anderen Kapiteln mit erwähnt going to (2–3) oder bei der Erklärung des Prozesses des chunking (6–8 und Kap. 3, 33– 56)
Campbell (1998)
n.v.
n.v.
Croft (2000)
n.v.
n.v., betrachtet aber Konventionalisierung und zahlreiche Abweichungen davon als treibende Kräfte des Sprachwandels sowohl im Bereich der Morphologie als auch der Lexik und Syntax (6–8 und Kap. 4, 87–116), ohne zwischen Einzellexemen und Mehrwortverbindungen zu unterscheiden
Gardt/Mattheier/Reichmann (1995)
n.v.
n.v.
Haspelmath (2002)
n.v.
Kap. 8 „Words and phrases“ (148–164), Abgrenzungskriterien zwischen Komposita und Phrasen
Hickey (2003)
n.v.
n.v.
Jones (1993)
n.v.
n.v.
Keller ( 1995)
n.v.
n.v., obwohl in Kap. 7.3 (507– 508, 576) auf die besondere Produktivität der „konkreten Redewendungen“ gegenüber der „abstrakten Lexeme“ (auf Stottern kaufen statt auf Abzahlung, keine Kinder haben statt kinderlos), der „Lückenfüller“ (Dings da, wie sagt man), der Funktionsverbgefüge (eine Auswahl treffen) und der „gefühlsmäßig aufgeladenen Ausdrücke“ statt neutralen im gegenwärtigen gesprochenen Deutsch hingewiesen wird (toller Kerl statt ein junger Mann).
Labov (2001; 2010)
n.v.
n.v.
2
2 Theoretisches Niemandsland: Historische formelhafte Sprache | 61
Lehrwerk
eigenständiges Kap. zur fS*
fS wird in anderen Kapiteln mit erwähnt
Lass (1997)
n.v.
n.v.
McMahon (1994)
n.v.
n.v.
Nübling/Dammel/Duke/Szczepaniak (32010)
n.v.
fossilierte grammatische Phänomene als Konstituenten der formelhaften Wendungen werden kursorisch als „einige in Redewendungen erstarrte Reste“ erwähnt, z.B. bei der Erklärung des pränominalen Genitivs (des Rätsels Lösung, Volkes Stimme, in Teufels Küche kommen, auf des Messers Schneide, S. 102), des Abbaus unflektierter Attribute (auf gut Glück, S. 100) oder der Univerbierung (fnhd. vergiss mein nicht > Vergissmeinnicht, S. 150).
von Polenz (22000)
n.v.
Kap. 4.6 (198–205) zur Rolle der Phraseologismen (insb. der Zwillingsformeln) in der Rechtssprache und der Entwicklung der deutschen Fachsprache Kap. 4.8 (231–235) zu Luthers Sprichwörtersammlung und ihrer Wirkung in der deutschen Sprachgeschichte Kap. 4.8 (238–250) zur mikround makrostrukturellen Formelhaftigkeit der reformatorischen Dialoge, Streitgespräche und der Agitationsliteratur
von Polenz (22013)
n.v.
Kap. 5.4 (112–114) zur Entlehnung der fS aus dem Englischen im 18. Jahrhundert Kap. 5.7 (195–197; 201–203) fS im Prozess der Spracharbeit bei Georg Henisch, Caspar Stieler, Mattias Kramer und Johann Christoph Adelung
62 | 2 Theoretisches Niemandsland: Historische formelhafte Sprache
Lehrwerk
eigenständiges Kap. zur fS*
fS wird in anderen Kapiteln mit erwähnt Kap. 5.10 (334–336; 42–347) zum Einsatz der fS bei Gottsched; Opitz und Lessing; (366–369) zu Schillers Sentenzen Kap. 5.12 (401–402) zur fS (insb. Zwillingsformeln) in den ersten deutschen Zeitungen
Schmid (2009)
n.v.
n.v.
Schmidt (102007)
n.v.
n.v.
Sonderegger (1979)
n.v.
n.v.
Thomsen (2006)
n.v.
n.v.
Wegera/Waldenberger (2012) n.v.
n.v., obwohl die Rolle der Konventionalisierung beim semantischen Wandel hervorgehoben wird (Kap. 6.6, 241–244)
Wells (1990)
n.v.
Kap. V (222–230): ein frequenter Gebrauch von Sprichwörtern wird Luthers Bibelübersetzung und der politischen Literatur der Reformationszeit attestiert; hervorgehoben wird die Blütezeit der sprichwörtlichen Sammlungen zur Zeit des Humanismus; Kap. VIII (361): Charakterisierung der Sprichwörter als pöbelhaft bei Johann Christoph Adelung.
Wolff (52004)
n.v.
Kap. 4.3 (85–86): pauschalisierender Hinweis auf die Produktivität der „festen Formeln (z.B. beim Anreden und Grüßen)“ in der mhd. Dichtung; Kap. 6.5 (235–238): Konstatierung der „Zunahme von Phraseosyntagmen, d.h. feststehender Wortverbindungen und idiomatischer Wendungen“ in gedruckten Massenmedien nach 1920 als Zeichen der
2 Theoretisches Niemandsland: Historische formelhafte Sprache | 63
Lehrwerk
eigenständiges Kap. zur fS*
fS wird in anderen Kapiteln mit erwähnt „Vereinfachung bei der Wiedergabe von Sachverhalten wie für das Verstehen beim Leser/Hörer“ (z.B. in einen Unfall verwickelt werden, ums Leben kommen)
* = formelhafte Sprache ** = nicht vorhanden
Obwohl die Einführungen in die Sprachgeschichte und in den Sprachwandel die Erfassung und Erklärung der Veränderungen auf allen Ebenen des Sprachsystems suggerieren, fehlt ein eigenständiges Kapitel zur Formelhaftigkeit fast ausnahmslos in allen herangezogenen Werken. Lediglich der nicht als eine Einführung, sondern eher als ein Standardnachschlagewerk konzipierte Band „Sprachgeschichte“ (Besch/Betten/Reichmann/Sonderegger 21998ff.) widmet sich in zwei separaten Artikeln der Geschichte der Phraseologie im Allgemeinen und eines ihrer Subtypen – der Sprichwörter. Ferner sind in diesem Werk formelhafte Wendungen im Rahmen der Auseinandersetzung mit Reflexen der gesprochenen Sprache im Alt- und Mittelhochdeutschen kursorisch als Abhandlungen zu Anreden, Interjektionen und Partikeln mit erwähnt. In entsprechenden Artikeln zu anderen Sprachstufen (z.B. Frühneuhochdeutsch) oder zum Alt- und Mittelniederdeutschen spielen sie auch in dieser Form keine Rolle. Unter den deutschen Sprachgeschichten ist von Polenz (22000; 22013) am ausführlichsten: An mehreren Stellen geht der Autor auf die konstitutive Rolle der Formelhaftigkeit in verschiedenen Quellen ein (Rechtstexte, Luthers Bibelübersetzung, Reformationsdialoge, Texte der barocken „Spracharbeit“, schöngeistige Literatur). Ähnlich, aber reduziert sind die Hinweise in Wells (1990). Besch/Wolf (2009) und Wegera/Waldenberger (2012) widmen zwar mehrere Seiten der entscheidenden Rolle der Konventionalisierung beim semantischen und lexikalischen Wandel, gehen aber nicht auf die formelhafte Sprache ein. Es ist auch nicht selbstverständlich, dass formelhafte Wendungen im Zusammenhang mit Wandel in anderen Bereichen (z.B. Lexik oder Syntax) integriert sind. In den englischsprachigen Einführungen ist formelhafte Sprache im besten Fall im Zusammenhang mit der Grammatikalisierung mit gemeint. Obwohl das „Ignorieren“ der Formelhaftigkeit sich mit der weiteren Entwicklung der Theorien der Grammatikalisierung und der Lexikalisierung sowie durch die historisch orientierte Konstruktionsgrammatik stark geändert hat, bleibt ihre systematische
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Untersuchung für die Sprachgeschichte leider nach wie vor kein umfassendes theoretisches Programm. In den folgenden Abschnitten des vorliegenden Kapitels möchte ich auf einige Forschungsergebnisse aus dem Bereich der historisch orientierten Fächer eingehen, die die Notwendigkeit einer Perspektivenerweiterung und die Verlagerung der Untersuchung der Formelhaftigkeit aus dem Randbereich in den Mittelpunkt der sprachhistorischen Forschung neben die Phonetik, Morphologie, Lexik und Syntax nachweisen.
2.1 Sprachgeschichte als Sprachgebrauchsgeschichte Mit der Forderung des Verständnisses der Sprachgeschichte als Sprachgebrauchs- und Gesellschaftsgeschichte Ende der 70er–Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts gelangen formelhafte Wendungen zunächst programmatisch, dann faktisch in den Skopus sprachhistorischer Untersuchungen. Wichtige Vorläufer gab es aber auch vorher schon, und dazu gehören z.B. die Arbeiten von Werner Besch zu Paarformeln im 15. Jahrhundert. Er distanziert sich von früherer Betrachtung der Paarformeln als ein rein rhetorisch-stilistisches Element und hebt ihre gestalterische Rolle im sprachlichen Ausgleichsprozess des Frühneuhochdeutschen hervor. Ein Ausschnitt aus seinem bereits 1964 erschienenen Aufsatz mag hier genügen: Die Häufung der Paarformel […] im 15. Jahrhundert ist kein stilistisches3 Phänomen, sondern eine Verstehensnotwendigkeit; sie entspricht dem elementaren Bedürfnis der Autoren und Schreiber der einzelnen deutschen Sprachlandschaften, auch über die Grenzen hinaus verstanden zu werden. Da eine übergeordnete Gemeinsprache fehlt, suchen sie das Gemeinsame in der Summation des Einzellandschaftlichen […] und erreichen durch dieses umständliche Verfahren auch etwas von der Allgemeinverständlichkeit, die sich die nhd. Schriftsprache später durch übergeordnete Auswahl schafft. (Besch 1964, 2034)
Ausschlaggebend für das Rahmenprogramm Sprachgeschichte als Sprachgebrauchsgeschichte waren die Integration der inneren und äußeren Sprachgeschichte sowie das Bestreben, die sprachliche Kommunikation als Modus sozialen Handels zu verstehen, die Bedeutung kommunikativer Bezüge, situative Zusammenhänge und die Rolle der an Kommunikationsprozessen Beteiligten in die || 3 Hervorhebung im Original. 4 Weitere detaillierte Ausführungen dazu in Besch (1967). Zur rhetorischen und sprachausgleichenden Polyvalenz der Paarformeln vgl. Besch (1993).
2.1 Sprachgeschichte als Sprachgebrauchsgeschichte | 65
sprachliche Analyse einzubeziehen sowie die Sprecherinnen und Sprecher bzw. die betreffenden Sprachgemeinschaften als Auslöser und/oder Träger der sprachlichen Veränderungen einzusetzen. So ließe sich die Quintessenz der von Harald Burger, Helmut Henne, Peter von Polenz, Horst Sitta und Stefan Sonderegger für eine pragmatikorientierte Sprachgeschichte in Sitta (1980, 129–136) formulierten Aufgaben zusammenfassen. Cherubim (1980, 14–15) schlägt im gleichen Band vor, insbesondere Phraseologismen (Grußformeln) und „klischeeartige Vergleiche oder Bilder (Tropen) in nichtliterarischen Texten“ als mikrotextuelle Formelhaftigkeit bzw. die der Textoberfläche, zum Gegenstand der Sprachgeschichte zu machen. Von Polenz (22000, 9) plädiert für „eine Sprachgeschichte, die über bloße historische Linguistik hinausgeht und auf historische Zusammenhänge zwischen Sprache und Gesellschaft im Rahmen kommunikativer Praxis hinweist.“ Formelhafte Wendungen, auch wenn anfänglich ausschließlich Grußund Anredeformeln verstärkt erwähnt wurden, werden als sprachliche strukturell festgelegte Mittel gesehen, die den Wandel der kommunikativen Praktiken bzw. der in einer Gesellschaft rituell formalisierten Handlungen (Cherubim 1990) transportieren. Diese Fähigkeit der formelhaften Wendungen ist auch in die historische Phraseologieforschung (vgl. Kap. 2.4) unter dem Etikett „kommunikativer Mehrwert“ eingegangen. Die ursprüngliche Bedeutung in der Sprachgeschichte geht allerdings weit über die Interpretation als „überlagernde expressive Funktion“ innerhalb der Phraseologieforschung hinaus. Vielmehr behauptet Cherubim (1990, 273), dass formelhafte Wendungen nicht nur einen expressiven Mehrwert ausdrücken, sondern als indexalische Zeichen bestimmte soziale Situationen geradezu erst herstellen. Als Beispiele dienen ihm die Respektformeln in Briefen wie mit besten Empfehlungen, ergebenster Diener, mit vorzüglicher Hochachtung usw., die regulativ wirken, an schriftliche Kommunikationssituationen zwischen zwei hierarchisch unterschiedlich zu verorteten Personen gebunden sind, eben diese soziale Ordnung zum Ausdruck bringen und somit das soziale Handeln in erheblicher Weise beeinflussen. Die sprachliche Formalisierung, die mit Hilfe formelhafter Wendungen zustande kommt, beobachtet Cherubim5 auch auf der Makroebene der Texte, z.B. im Aufbau eines Leumundszeugnisses aus dem 16. Jahrhundert, das folgende Teile enthält: Adressierung/Bekanntgabe, Sachverhaltsdarstellung, Entscheidung, Schlichtungsregelung und Beurkundung. Ihre Bedeutung besteht weniger in der Mitteilungsfunktion, als vielmehr
|| 5 Für ihn sind die hier verwandten Anredeformeln und Paarformeln (Iterationsphänomene in seiner Terminologie) neben typischen Präpositionalattributen, Relativsätzen, elliptischen Konstruktionen usw. Teil der rituell formalisierten Syntax, vgl. Cherubim (1990).
66 | 2 Theoretisches Niemandsland: Historische formelhafte Sprache
in der Signalisierung und Verwirklichung der Gebundenheit der Textsorte an institutionelle Zusammenhänge. Dass sich dabei auf der Mikroebene bestimmte formelhafte Wendungen verfestigen und nicht durch andere scheinbar äquivalente Ausdrucksmöglichkeiten ersetzt werden können, zeugt davon, dass nur die ersteren mit dem entsprechenden Institutionalisierungskontext in Verbindung gebracht werden und folglich über einen kommunikativen – oder genauer sozialen – Mehrwert verfügen. Linke führt das Rahmenprogramm der Sprachgeschichte als Sprachgebrauchsgeschichte zur Kommunikationsgeschichte (Linke 2014, 22–30) weiter und richtet ihr Forschungsinteresse u.a. auch in Anlehnung an Cassirers (1944) Konzept der sozialsymbolischen Potenz von Sprache auf den Zusammenhang von Sprache und Gesellschaft (Linke 2003a, 25–36; 44–45). Den Ausgangspunkt bildet in Linke (1996) die Frage, auf welche Weise sich eine Sprachgemeinschaft in ihrer Sprachkultur, in ihren Ritualen und Traditionen des Sprechens und Schreibens als soziokulturelle Einheit definiert und darstellt. Dabei ist „die symbolisierende Kraft von Sprache sowohl auf der sprachsystematischen Ebene zu verorten als auch in den Formen und Mustern des Sprachgebrauchs […]“ (Linke 2003a, 44–45). So ist die im privaten Schrifttum der bürgerlichen Gesellschaft oft vorkommende Wendung ich habe mich/wir haben uns [Adv. köstlich, sehr, prächtig] amüsiert nicht einfach in ihrer morphosyntaktischen und semantischen Fixiertheit wichtig für die schriftlichen Kommunikationssituationen des 19. Jahrhunderts, sondern eher durch den sozialsemiotischen Wert, der ihr zukommt: Linke (1996, 286) attestiert der Wendung einen sozialen Signalcharakter, weil es bei dieser Wendung in erster Linie nicht einfach darum geht, ein gesellschaftliches Ereignis im Rückblick zu bewerten, sondern darum, sich selbst als ein in eine bestimmte Form gesellschaftlichen Lebens integriertes und in diesem Rahmen gesellschaftlich erfolgreiches Mitglied einer Sozialformation darzustellen. Die Manifestation dieses Aspekts der individuellen Selbstvergewisserung stellt Linke (1996) als ein wesentliches Merkmal der bürgerlichen Sprachkultur des 19. Jahrhunderts heraus. In der Untersuchung zur modernen semantisch ähnlichen Kollokation Spaß haben stellt Linke (2003b) eine entgegengesetzte Entwicklung fest: Der seit den 1980er Jahren in der medialen Öffentlichkeit auffällig geläufige Beleg kommt deutlich öfter in der 1. Person Plural vor, was die Autorin als einen Hinweis darauf deutet, „dass es gegenwärtig weniger darum geht, das individuelle Befinden in Gesellschaft zu akzentuieren als vielmehr darum, dem Erleben einer kollektiven
2.1 Sprachgeschichte als Sprachgebrauchsgeschichte | 67
Befindlichkeit6 Ausdruck zu verleihen“ (Linke 2003b, 77). Die vermehrte Verwendung im kollektiven Bezug (wir haben Spaß) hat außerdem Auswirkungen auf die Semantik, die sich immer weiter von einer älteren Verwendung entfernt, in der Spaß mit Ausgelassenheit und Heiterkeit verbunden wird, hin zu einem Spaßhaben in absoluter Verwendung, ohne dass das Objekt oder der Urheber des Vergnügens genannt werden (Spaß haben an etwas/mir macht es Spaß), zumal leistungsbewusst und erfolgsorientiert verstandenen positiv konnotierten „Ausdruck für ein Befindlichkeits-Konzept, das hedonistische Selbstbezogenheit als persönliche Leistung und als Ausweis gelungener Individuation konturiert“ (Linke 2003b, 78).7 Gesellschaftlich relevant, weil systematisch, ist auch der Wandel der mikround makrostrukturellen Formelhaftigkeit in Todesanzeigen (Linke 2001). Die allgemeine Lockerung des Textmusters sowohl im optisch-graphischen als auch im sprachlichen Bereich und die Veränderung des illokutiven Potenzials von einer konventionellen Mitteilung über einen Todesfall hin zu einem ‚offenen Brief der Hinterbliebenen an den Verstorben‘, von der Todes- zur Traueranzeige, in der nicht mehr über den Toten, sondern den Schmerz der Hinterbliebenen gesprochen wird, deutet Linke (2001, 201) als „kommunikative Kristallisationskerne eines kulturellen Wandels“ in der Konstellation der Konzepte TRAUER, ÖFFENTLICHKEIT und INTIMITÄT, als sprachliche Manifestierung einer Individualisierung im Umgang mit Tod und Trauer, die aber nicht mehr in Abgrenzung zu einer als unpersönlich gedachten Öffentlichkeit, sondern in enger Verbindung mit dieser einhergeht. Der seit den 1990er Jahren kontinuierlich zu beobachtende Rückgang der formelhaften Wendungen Mein lieber [Verwandtschaftsbezeichnung/Name] ist nach langer, geduldig ertragener Krankheit in die Ewigkeit eingegangen, völlig unerwartet ist unser lieber [V/N] von uns gegangen und die Zunahme der Wendungen wie Wir trauern um unsere geliebte [V/N], Wir nehmen Abschied von unserem lieben [V/N] usw. ist der sprachliche Ausdruck dieses Wandels auf der Textoberfläche. Die Forderung der Erweiterung der Sprachgeschichte zu einer Sprachgebrauchsgeschichte hat seitdem ihre Anwendung in den Bereichen der historischen Soziopragmatik sowie der historischen Textsorten- und Diskurslinguistik erfahren. Sobald diese bestrebt sind, „die besondere Relevanz von Textarchitekturen und textstrukturellen Mustern für eine historische Diskursforschung“
|| 6 Hervorhebung im Original. 7 Das ist bei ähnlichen Ausdrücken Freude/Vergnügen haben an etwas nicht der Fall, vgl. wir haben Spaß vs. *wir haben Freude/Vergnügen oder Spaßhaben vs. *Freudehaben/Vergnügenhaben (Linke 2003b, 74).
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(Meier 2004, 198) herauszuarbeiten, bewegen sie sich auf dem Gebiet des Formelhaften: Textsorten lassen sich […] als bereits in der Sprachgemeinschaft konventionalisierte, mehr oder weniger fest an Kommunikationssituationen gebundene Modelle betrachten, die Produzenten und Rezipienten von Texten bewährte Lösungen für immer wiederkehrende kommunikative Probleme bieten. (Meier 2004, 39)
Formelhaft ist dabei zum einen das Textwissen über eine bestimmte Textsorte, über die die Produzenten und Rezipienten bei (De-)Codierung der an diese Text sorte gekoppelten und gesellschaftlich konventionalisierten Sprachhandlungen verfügen. Zum anderen ist dies das Wissen über die sprachliche Ausformung solcher Textsorten und folglich natürlich der entsprechenden verbalen Handlungen. Meier (2004) und Ziegler (2003) beziehen sich vor allem auf das frühneuzeitliche Schrifttum der städtischen Verwaltungen/Kanzleien in Ungarn und der Ostslowakei, Tophinke (1996; 1999) auf die den intendierten Sprachhandlungen korrespondieren Textmuster und formelhaften Wendungen der kaufmännischen Rechnungsbücher im Hanseraum des 14. und 15. Jahrhunderts, Harion (2013) auf die Rechnungen, Ordonnanzen und Quittungen (Piѐces des Comptes) der Stadt Luxemburg und Filatkina (2011) auf die sprachliche Ausgestaltung der luxemburgischen Rechnungsbücher. Bei teilweise unterschiedlichen methodischen und theoretischen Ausgangspositionen, Forschungsfragen und Materialgrundlagen ist allen erwähnten Untersuchungen gemeinsam, dass sie die Bindung der Sprachhandlungen an eine begrenzte Zahl signifikanter Musterbildungen sowohl auf der makro- als auch auf mikrostruktureller Ebene nachweisen, die von mehreren Schreibern realisiert werden, eine generationenübergreifende Gültigkeit beanspruchen und aus diesem Grund Bestandteile des kollektiven Metawissens und nicht der individuellen Schreibpraxis sind. Als usualisierte Formulierungen sind sie in ihrer Zahl begrenzt, weisen allerdings durchaus auch Variation auf (Filatkina 2011; Harion 2013). Dass konventionalisierte Formulierungsmuster eine Textsorte prägen, hat seit langem auch die Rechts- und Urkundensprachenforschung gezeigt (vgl. Kap. 2.4 und Ohly/Schmitt/Spengler 1991–2010; Schulze 2011, 99–154). Zuletzt hat Habermann (2010) allein anhand des Gebrauchs der Kollokationen mit hant markante Unterschiede zwischen den Urkunden als rechtlicher Sachprosa und dem ‚Nibelungenlied‘ als Heldenepos herausgearbeitet: Während sie in mhd. Urkunden des 13. Jahrhunderts erwartungsgemäß ein
|| 8 Ähnlich auch Ziegler (2003).
2.2 Grammatikalisierung und Lexikalisierung | 69
konstitutives Merkmal sind, kommen sie im ‚Nibelungenlied‘ seltener vor. Habermann (2010, 119–120) vergleicht diesen Befund mit der modernen Rechtsprache und kommt zu dem Schluss, dass die Übernahme des Römischen Rechts zu einem Veralten vieler mit dem mittelalterlichen Rechtssinn überlagerten Kollokationen im Rechtswesen geführt hat. Ähnliches gilt auch für sprachlich und sprachhandlungstechnisch stark formalisierte Texte wie Beichten (Gottwald/Hanauska 2013a) oder Beschwörungen (Schulz 2003). Während mikro- und makrostrukturelle Formelhaftigkeit in Textsorten wie Rechtstexte, Urkunden, Beichten und Beschwörungen zu erwarten ist und nicht weiter überrascht, beweisen Besch (1964) für eine Colmarer Passionsdarstellung aus dem 15. Jahrhundert, Habermann (2011) für die inhaltliche und formale Textorganisation im ‚Buch der Natur‘ Konrad von Megenbergs, Habermann (2001) für frühneuzeitliche Kräuterbücher,9 Riecke (2004) für frühmittelalterliche medizinische Fachsprache (insbesondere Zaubersprüche und Rezeptliteratur), Bodemann/Grubmüller (1992) für spätmittelalterliche Gesprächsbüchlein10 und erst recht die unten in Kap. 2.5 erwähnten literaturhistorischen Untersuchungen, dass sie prinzipiell jeder Textsorte in hohem Maß attestiert werden kann, nur kommt sie freilich auf unterschiedliche Art und Weise zum Ausdruck.
2.2 Grammatikalisierung und Lexikalisierung Wie in Tabelle 2 angedeutet, wurde die Rolle der formelhaften Wendungen bei der Erklärung des Sprachwandels mit Hilfe der Theorien der Grammatikalisierung, also im Zusammenhang mit der Entstehung neuer grammatischer Formen bzw. der Steigerung des Grammatikalitätsgrades einer bereits existierenden Form, und Lexikalisierung besprochen. Ohne an dieser Stelle die Diskussion über ihre Unterschiede und Gemeinsamkeiten weiterführen zu wollen11, sei zusammenfassend und mit Blick auf das Thema dieses Kapitels festgehalten, dass dies zwei orthogonale Prozesse sind, die sowohl unabhängig voneinander, als auch aufeinander aufbauend stattfinden können und dazu führen, dass neue lexikalische bzw. grammatische Zeichen durch die Reduktion der Freiheit bei der Selek-
|| 9 Habermann (2001, 392–429) geht insbesondere auf die Rolle der Paarformeln bei der Wiedergabe der lateinischen Fachterminologie ein. Vgl. dazu auch Besch (1964; 1993). 10 Auf die enorme Rolle der formelhaften Wendungen im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Unterricht im europäischen Kontext wird in Kap. 3 hingewiesen. 11 Dazu ausführlich Brinton/Traugott (2005); Brinton/Traugott (2007, 3–19); Himmelmann (2004).
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tion, Kombination und Verwendung der ursprünglichen sprachlichen Mittel entstehen und holistisch (lexikalisch und/oder grammatisch) verarbeitet werden. Polylexikalität, Kombinatorik, Verfestigung und Konventionalisierung avancieren somit zu den eigentlichen Triebkräften des Sprachwandels. Sowohl Lexikalisierung als auch Grammatikalisierung sind Prozesse der Konventionalisierung. Formelhafte Wendungen – Bybee (2010, 33–56) spricht von „complex units, from prefabs to constructions12“, „formulaic or prefabricated sequences of words such as take a break, break a habit, pick and choose“ und „conventionalized multiword expressions, from prefabricated expressions to idioms to constructions“– können dabei Sowohl Ausgangseinheiten (vgl. engl. I want to > wonna; in dede > indeed; dt. hiutagu > hiute > heute13) als auch Endprodukte der beiden Prozesse sein14 und nehmen eine Übergangsposition zwischen Grammatik und Lexikon ein. In seinen neueren Untersuchungen bildet Lehmann (2002, 3) das prozesshafte Kontinuum der sprachlichen Veränderungen in Abgrenzung zu seinen früheren Studien mit klarer Trennung zwischen Lexikon und Grammatik (z.B. Lehmann 1989) graphisch wie folgt ab:
|| 12 Zu Wechselwirkungen zwischen Grammatikalisierung und Konstruktionsgrammatik vgl. Kap. 2.3. 13 Vgl. zahlreiche Beispiele in der Sekundärliteratur zur Univerbierung (stellvertretend Szczepaniak 22011, 17). 14 Bei der Grammatikalisierung denke man z.B. an komplexe Präpositionen und Konjunktionen wie auf Grund von, sowohl – als auch usw., die in der Phraseologieforschung traditionell als strukturelle oder grammatische Phraseologismen behandelt werden (vgl. dazu Lehmann 1995, Burger 52015, 31–32). Brinton/Traugott (2005, 111–140) betrachten englische Kollokationen mit Partizip Präsens auf -ing des Typs the disturbing news als ein Produkt der Lexikalisierung, concerning the news hingegen als ein Produkt der Grammatikalisierung. Kombinationen von semantisch vagen Verben (‚light verbs‘) have/do/make/take/give + Substantiv (take a bribe) sind grammatikalisiert und Wendungen wie raise an objection angesichts des spezifischen Verbs, geringerer Produktivität und weniger ausgeprägter Kompositionalität lexikalisiert. Zu Diskursmarkern als Produkte der Pragmatikalisierung vgl. stellvertretend Auer/Günthner (2005).
2.2 Grammatikalisierung und Lexikalisierung | 71
Abb. 2: Lexikon und Grammatik (nach Lehmann 2002, 3)
Der entscheidende Ausgangspunkt der beiden Theorien ist das Verständnis der sprachlichen Struktur, sei es der Grammatik oder des Lexikons, als permanent entstehende Systeme. Hopper (1987; 1988; 1991a und 2011) spricht aus der Perspektive der interaktionalen Linguistik von der emergent bzw. emerging grammar und versteht Grammatik als eine Ansammlung von sedimentierten wiederkehrenden Teilen, deren mehr oder weniger regelhafte Strukturen nie stabil oder vollständig sind, sondern permanent im Sprachgebrauch verändert werden.15 Auch wenn sich dieser Grundgedanke wie ein roter Faden auch durch ältere Sprachwandeltheorien zieht, besteht der Erkenntnisgewinn der Grammatikalisierung und Lexikalisierung in meinen Augen in der Erklärung der Mechanismen der Dynamik.16 Für Bybee (2010, 28–31) sind diese Mechanismen doppelseitig. „Verantwortlich“ für sprachliche Veränderungen ist zum einen der Sprachgebrauch in bestimmten Kontexten, in denen eine neue reduzierte Bedeutung zunächst hervorgerufen wird (Heine 2002 spricht in diesem Fall von bridging contexts) und sich dann durch die wiederholte Verwendung und/oder in Analogie zu potentiellen Strukturen verfestigt (switch contexts in der Terminologie von Heine17). Detges/Waltereit (2002) erheben die gebrauchsbasierte Orientiertheit der Grammatikalisierung auf eine grundsätzlich neue Ebene: Die Grammatikalisierungsschritte sind nicht ausschließlich als strukturelle, sondern als funktionale
|| 15 Vgl. dazu auch Kap. 1.3. 16 Vgl. z.B. den Versuch von Traugott/Dasher (2005), die Regelmäßigkeiten beim semantischen Wandel aufzudecken. 17 Vgl. auch Diewald (2007, 82) zu untypischen, kritischen und isolierenden Kontexten. Diese Überlegungen werden bei der Beispielanalyse in Kap. 5 nochmals aufgegriffen. Vgl. auch die Visualisierung in Kap. 5.1.3.
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semantisch-pragmatische Veränderungen zu begreifen, die in der Sprecher-Hörer-Interaktion stattfinden und neben der aktiven Rolle der Sprecher in innovativen Kommunikationsakten eine nicht weniger aktive Beteiligung der Hörer bei der Reanalyse der Innovation voraussetzen. Winter-Froemel (2013; 2014) spricht in diesem Kontext von diskursiver Ambiguität und weist auch auf ihren Einfluss auf die Sprachwandelprozesse hin. Während die früheren Arbeiten zur Grammatikalisierung und Lexikalisierung auf der herausragenden Rolle der Frequenz im Prozess der Habitualisierung bestehen (Lehmann 1989; 1995; Talmy 1985), unterscheiden die jüngeren zwischen Frequenz und Wiederholung (Bybee 2010, 34). Die wiederholte Verwendung in bestimmten Kontexten in der entstehenden reduzierten Bedeutung (und Form) ist für die Konventionalisierung ausschlaggebend, (hoch)frequentes Vorkommen begleitet hingegen nur einige emergente Sprachzeichen, am häufigsten hochabstrakte grammatische Elemente. Zum anderen basieren sprachliche Veränderungen auf solchen kognitiven Basisprozessen wie categorization by similarity, chunking of repeated sequences und association by contiguity (Bybee 2010, 220). Chunking ist dabei vor allem für die Bildung von komplexen im Sinne von polylexikalischen Einheiten wichtig (Bybee 2002) und besteht in der Fähigkeit des menschlichen Gedächtnisses, polylexikalische Sequenzen zu speichern, sich an bereits bestehende Kombinationen zu erinnern und diese ausgehend von den sich verändernden Bedingungen des Sprachgebrauchs neu zu organisieren. Mit dem letzten Element der Neuorganisation wird im permanenten Prozess der Entstehung der sprachlichen Struktur neben Konventionalisierung auch Variation der ihr gebührende Platz eingeräumt. Rezente Studien zur Grammatikalisierung und Lexikalisierung binden die Entstehung neuer sprachlicher Strukturen nicht nur generell an Sprecherinnen/ Sprecher und Hörerinnen/Hörer einer Sprache, sondern öffnen sich der Erforschung der Rolle der Diskurse und Textgattungen sowie des Sprachkontakts.18 Die leitende These bei diesen Untersuchungen ist, dass ein bestimmter Texttyp bestimmte grammatikalisierte/lexikalisierte Strukturen, darunter auch formelhafte Wendungen, bevorzugen kann. Birkner (2007) erarbeitet z.B. für die was-Xbetrifft-Konstruktionen deutliche extern-grammatische Unterschiede in der topologischen Stellung und der Funktionalität bei konstanter interner Grammatik und erklärt sie durch Produktionsbedingungen in verschiedenen Textsorten.19
|| 18 Vgl. den Überblick in Brinton/Traugott (2005, 156–160). 19 Diese sind aber nicht historischer Art: untersucht werden die gesprochene Sprache, E-MailKorrespondenzen und Zeitungsartikel. Ähnlich geht auch Fischer (2007) vor, indem sie nach-
2.3 Historische Konstruktionsgrammatiken | 73
Genauso gehen komplexe Wortverbindungen beim Sprachkontakt aus einer Sprache in die andere über; für ihre Etablierung im System der L2 sind somit nicht nur die oben erwähnten systeminternen funktionalen und kognitiven Phänomene der Grammatikalisierung und/oder Lexikalisierung entscheidend.20 Wie in Kap.2.1 gezeigt und in Kap. 2.5 noch zu zeigen sein wird, wird die Rolle der Textgattungen bzw. der Diskurse bei Sprachwandelprozessen in letzter Zeit verstärkt diskutiert. Der Sprachkontakt ist gar seit der Entstehung der historischen Sprachwissenschaft ein wichtiger Vorantreiber und Träger des Sprachwandels. Allerdings hatten die Theorien der Grammatikalisierung und/oder Lexikalisierung einerseits und Text- und Kontaktlinguistik andererseits bis jetzt wenig Berührungspunkte. Für die Untersuchung der Dynamik der formelhaften Sprache im Sinne der vorliegenden Untersuchung wird diese Schnittstelle von zentraler Bedeutung sein (vgl. Kap. 6).
2.3 Historische Konstruktionsgrammatiken Die im Rahmen der Grammatikalisierungstheorie angesprochene wichtige Rolle der Formelhaftigkeit, Bindung, Kombinatorik und Konventionalisierung wird gegenwärtig im Rahmen der historisch ausgerichteten Konstruktionsgrammatik, die insbesondere im Umkreis von Fillmore die Idiomatizität der Grammatik unterstreicht (Wulff 2010), diskutiert. Aus der Definition einer Konstruktion (vgl. Kap. 1.6) leitet sich eine empirische Herausforderung ab, der bis jetzt erstaunlicherweise nur wenig Beachtung geschenkt wurde: Wann ist eine Konstruktion eine Konstruktion? Konventionalisierungsprozesse sind immer historische Prozesse, mit einem graduellen Übergang von Konstrukten als hoch variable ad-hoc-Bildungen im Sprachgebrauch (nach Fried (2013, 423) actual physical realizations of constructions […], utterance
|| weist, dass die Wahl des Satzmodus signifikant davon abhängt, wie die Sprecherinnen und Sprecher diverse Dialogsituationen in Hinblick auf die soziale Beziehung zum Kommunikationspartner sowie seine Kompetenz konzeptualisieren. 20 Für formelhafte Wendungen im Sinne der vorliegenden Untersuchung sind mir keine diachron ausgerichteten Studien bekannt. Diewald/Habermann (2005) weisen allerding für das dt. werden-Futur nach, dass der entscheidende Faktor für seine Ausbreitung in nicht modaler Bedeutung der Gebrauch der Konstruktion im Kontext des lateinischen Sprachkontakts, und genauer im Kontext einer bewussten rhetorischen Nachgestaltung lateinischer Vorgaben war, da werden + Infinitiv als nicht modale Form das angemessene Übersetzungsäquivalent des lateinischen Futurs darstellte und sich somit gegenüber den Konkurrenten mit sollen und wollen durchsetzen konnte.
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tokens (words, phrases, sentences)) zu Konstruktionen als verfestigte komplexe Schemata (wiederum nach Fried (2013, 423) generalization over constructs). Welchen Kriterien muss eine Konstruktion genügen, um den Status einer Konstruktion zu erlangen? Wie viel Variation muss vorhanden sein und wie stark darf die Spezifizierung ausgeprägt sein? Wie verhält sich eine neu entstandene Variante, die noch nicht konventionalisiert sein kann, zu einem der zentralen definitorischen Merkmale einer Konstruktion – dem konventionalisierten Charakter der Form-Bedeutung-Paarung? Wie lässt sich schließlich empirisch bestimmen, ob in einer Sprachgemeinschaft eine Konstruktion etabliert ist? Diese Fragen21 werden gegenwärtig (auch unter Berücksichtigung der formelhaften Sprache) verstärkt in der Interaktionslinguistik und der Gesprochenen Sprache-Forschung diskutiert.22 Aber auch in der Sprachwandelforschung scheinen diese Fragen allmählich ein Thema zu werden. Diachrone konstruktionsgrammatische Ansätze werden hier in ihren Wechselwirkungen mit den Theorien der Lexikalisierung und der Grammatikalisierung besprochen:23 Genauso wie die Grammatikalisierung stellt die Konstruktionsgrammatik nicht nur Einzellexeme oder Morpheme in den Skopus ihrer Untersuchungen, sondern das syntagmatische Umfeld des betreffenden Phänomens (Lehmann 1995, 406 einerseits und der syntaktisch verstandene Begriff constructional idiom in Booij 2008, 79 andererseits) und ist deshalb auch gebrauchsbasiert (Traugott 2003). Das heißt, dass diachrone Untersuchungen im Paradigma der historischen Konstruktionsgrammatiken grundsätzlich davon ausgehen, dass vom Sprachwandel und der Variation nicht nur einzelne Wörter betroffen sind, sondern ihre usuallisierten Kombinationen, die auch satzwertig sein können. (Diachron orientierte) Konstruktionsgrammatiken interessieren sich ihrerseits immer mehr nicht nur für abstrakte Generalisierungen, sondern auch für Veränderungen auf der Ebene der einzelnen Konstrukte (vgl. den Begriff resulting layering effects in Fried 2013, 421) und entdecken für sich genauso wie die Grammatikalisierung den ebenenübergreifenden Charakter solcher Veränderungen (Birkner 2007; Diewald 22008; Hilpert 2011; Smirnova 2011). Dabei zeigt sich deutlich, dass die Verlagerung des Forschungsinteresses auf die einzelnen || 21 Vgl. auch den Fragenkatalog in Bergs/Diewald (2008, 6–11). 22 Vgl. Kap. 1.3 und insbesondere Günthner/Imo 2006; Östman/Fried 2004; Stathi 2011. Im Mittelpunkt stehen hier allerdings Konstruktionen einer anderen Art: systemlinguistisch gedacht wären es vor allem die morphosyntaktischen Phänomene wie Verbzweitstellung, analytisches Futur, am-Progressiv oder Komplementkonstruktionen. 23 Die Forschungsrichtung, die sich mit der Anwendung konstruktionsgrammatischer Ansätze für die historisch-komparative Rekonstruktion (vgl. z.B. Barđdal 2013) beschäftigt, bleibt hier unberücksichtigt.
2.3 Historische Konstruktionsgrammatiken | 75
Schritte des Wandelprozesses eines der zentralen theoretischen Postulate der Konstruktionsgrammatiken berührt, nämlich das Verständnis der linguistischen Strukturen als holistische und arbiträre Form-Bedeutung-Korrespondenzen, bei denen sich folglich Form und Bedeutung simultan verändern sollten. Diachron zeigt es sich, dass Gleichzeitigkeit nur auf der Ebene der abstrakten Konstruktionen festgestellt werden kann, die vorausgehenden Etappen (nach Fried (2013, 436) feature-based level) sind davon nicht betroffen (Filatkina 2014). Fried (2013, 424) und Hilpert (2013, 460) verstehen Grammatikalisierungsprozesse als Etappen der sogenannten Konstruktionalisierung (constructionalization), für deren adäquate Beschreibung neben der Berücksichtigung des unmittelbaren Kotextes (internal properties) der erweiterte Kontext (external properties) und die Rolle der Analogie ausschlaggebend sind: […] diachronic processes […] can be most accurately captured and explained by making reference to both the external (holistic) and the internal dimensions of constructions, thereby ‘unpacking’ the primarily holistic approach and conceptualizing the process as a development in which meaning X of an item (lexical or grammatical) changes into meaning/function Y in a larger context C. This means treating the holistic and the process-oriented analysis not only as simply complementary in their respective, but equally crucial in the description and explanation of any grammatical change. (Fried 2013, 428)
Die Forderung nach der Verlagerung des Forschungsinteresses von der Ableitung des abstrakten Form-Bedeutung-Musters als Resultat der constructionalization auf die Untersuchung ihrer Prozesshaftigkeit und auf die Details der Entwicklung zeichnet die meisten diachron orientierten konstruktionsgrammatischen Ansätze aus. Mit Blick auf idioms24 plädiert Wulff (2013, 288) für die Erweiterung der vertikalen Achse um die horizontale Perspektive, die neben der Ableitung der den Konstruktionen zugrunde liegenden abstrakten Schemata ihre Syntagmatik stärker in den Vordergrund rückt und sich – und das ist für die vorliegende Analyse noch wichtiger – der Untersuchung der Variation von sich auf dem Weg zu einer construction befindlichen einzelnen constructs widmet. Ähnlich argumentiert bereits Traugott (2008, 30–32), indem für sie aus horizontaler Perspektive vor allem die sogenannten micro-constructions Träger der Variation sind, die sich im Falle
|| 24 Dabei handelt es sich um den Begriff idiom in seiner angelsächsischen Prägung, die auch Kollokationen unter diesem Begriff subsummiert: „[…] all constructions are idiomatic. What may license referring to some constructions as idioms and not others is merely a reflection of the fact that effects of idiomatic variation are best observable in partially schematic complex constructions – however, this does not make them fundamentally different in nature from other constructions.“ (Wulff 2013, 288).
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der Verbreitung zu verfestigten Meso- und Makrokonstruktionen eines höheren Abstraktionsgrades entwickeln können. Eine weitere Forderung besteht in der Berücksichtigung der diskursiven, funktionalen und pragmatischen Phänomene (etwa Reanalyse oder Expressivität) als Teile der graduellen Veränderungen im konstruktionsgrammtischen Sinn. Gegenwärtig bleibt diese Beobachtung allerdings meistens nur eine Forderung (Fried 2013).25 In der vorliegenden Studie bildet die Beschreibung der ebenenübergreifenden graduellen Veränderungen hingegen den theoretischen und methodischen Ausgangspunkt der Analysen. Die Beschreibung wird allerdings auch in kritischer Auseinandersetzung mit Konstruktionsgrammatiken erfolgen (vgl. Kap. 5 und 6). Das Ziel der Untersuchung der Variation auf der syntagmatischen Achse steht im Zentrum der sogenannten collostructional analysis – einer strikt quantitativen korpuslinguistischen Gruppe von Methoden,26die das nicht lineare Verhältnis zwischen einzelnen lexikalischen Elementen einer Konstruktion und der damit assoziierten grammatischen Struktur in ihrer Variation und ihrer Beziehung zueinander sowie – und insbesondere darin sehen die Autoren Stefanowitsch/Gries (2003) den Unterschied zu ähnlichen korpuslinguistischen Kollokationsanalysen – die Kookkurrenzen zwischen zwei oder mehreren ähnlichen Konstruktionspaaren untersucht. Als Beispiel wäre das Lexem care in take care, I care und I don’t care zu nennen. Drei Faktoren wurden bis jetzt als entscheidend für das variable Verhältnis bzw. die Auswahl einer bestimmten Variante hervorgehoben: 1) frames, 2) image-schematic coherence und 3) prototypes (Stefanowitsch 2013, 299).27 Obwohl die Methode Kollokationen als Bestandteil der Konstruktionen berücksichtigt, widmet sie sich überwiegend der Untersuchung analytischer grammatischer Konstruktionen in der Synchronie.28 Die Ausweitung auf || 25 Östman/Trousdale wenden diese Forderungen auf den Wellerismus „It all comes back to menow,“ said the captain, as he spat into the wind an – einen Typ der formelhaften Wendungen, der ihrer Definition in der vorliegenden Untersuchung am nächsten kommt. Allerdings bleibt die (diachrone) Analyse der Variation im konstruktionsgrammatischen Paradigma aus, vgl. Östman/Trousdale (2013, 484–486). 26 Zu ihren drei Varianten simple collexeme analysis, distinctive collexeme analysis und covarying collexeme analysis vgl. Stefanowitsch/Gries (2003) und den Überblick in Stefanowitsch (2013). 27 Hier finden sich auch Hinweise zur weiterführenden Literatur zu jedem dieser Faktoren. 28 Hilpert (2006) und (2008) wendet diese Methode zwar bei der diachronen Untersuchung an, diese ist aber den Futur-Konstruktionen in germanischen Sprachen gewidmet. Vgl. auch Wolk/ Bresnan/Rosenbach/Szmrecsanyi (2013) zu ditransitiven und präpositionalen Dativ/Genitivobjekten im älteren Gegenwartsenglischen (1650–1990). Booij (2008, 79) verwendet den Begriff constructional idioms, versteht aber darunter die Progressivkonstruktion aan het+ Infinitiv im Niederländischen: „My use of the notion ‚construction‘ in this paper is a pretty informal one. It
2.3 Historische Konstruktionsgrammatiken | 77
weitere Typen formelhafter Wendungen (etwa auf Phraseologismen im Sinne Burgers 52015, 30–60) und auf ihre historische Entwicklung ist bis jetzt nicht erfolgt. Neben der Forderung nach mehr Syntagmatik und Prozesshaftigkeit setzen sich diachron orientierte konstruktionsgrammatische Studien das Ziel, solche Sprachwandelprozesse zu definieren, die sich am besten mit dem Begriff Konstruktionswandel (constructional change, construction-specific change) beschreiben lassen. Dabei wird nicht der Anspruch erhoben, den kompletten Sprachwandel grundsätzlich als Konstruktionswandel zu begreifen; noch soll die Richtigkeit der Analyse der sprachlichen Veränderungen im Grammatikalisierungsparadigma in Frage gestellt werden (Noël 2007). Vielmehr geht es darum, eine zusätzliche Analysekategorie für solche Sprachwandelprozesse einzuführen, für die sie in der Tat zielführend sein könnte. Hilpert (2011, 70–71) beweist dies am Beispiel der englischen Quantorenkonstruktion mit der Form many (many a day, many a Republican, many a critical moment): Während sich seit 1820 auf der Ebene der Form kein erkennbarer Wandel feststellen lässt, zeigt eine quantitative Frequenzanalyse der substantivischen Kollokate eine Veränderung in ihren lexikalischen Präferenzen von emotional aufgeladenen Lexemen (many a heart, many a tear) über Zeiteinheiten (many a day, many a year) hin zu Bezeichnungen menschlicher Individuen in sozial definierten Rollen (many a reader, many a citizen). Die Kookkurrenzen mit neuen lexikalischen Elementen interpretiert Hilpert als Indizien für eine semantische Erweiterung auf der Basis der Analogie. Konstruktionswandel wird vorläufig folgendermaßen definiert: Konstruktionswandel erfasst selektiv ein konventionalisiertes Form-Bedeutungs-Paar einer Sprache und verändert es in seiner Form, seiner Bedeutung, seiner Frequenz, seiner Verteilung in der Sprechergemeinschaft oder in einer beliebigen Kombination dieser Aspekte. (Hilpert 2011, 69)29
Damit sind auch die Ebenen genannt, die vom Konstruktionswandel betroffen sein können. Dass diese Auflistung nicht vollständig sein kann, beweisen die Ergebnisse der (systemlinguistischen, aber auch kulturhistorisch orientierten) Sprachgeschichte und Variationslinguistik. Der entscheidende Vorteil des diachronen konstruktionsgrammatischen Herangehens kann aber in der konsequenten Orientierung am simultanen und ebenenübergreifenden Charakter der Ver-
|| refers to a pattern of words with a partially non-compositional meaning, and a special syntactic distribution.“ 29 Ähnlich auch Hilpert (2013, 460; 2014, 196).
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änderungen bestehen. Zu klären wäre aber noch, welche Rolle andere (etwa außersprachliche) Faktoren beim Konstruktionswandel spielen und wie sich sein Begriffsapparat von dem der Grammatikalisierung abgrenzen lässt. Nübling (2005) untersucht z.B. die Klitisierungsprozesse von Präpositionen und Artikeln im Deutschen im Paradigma der Grammatikalisierung, unterstreicht dabei durchaus den ebenenübergreifenden und multikausalen Charakter dieser Sprachwandelprozesse, ohne allerdings zu Begrifflichkeiten der Konstruktionsgrammatik zu greifen. Der zweite Vorteil, den die Beschreibung einiger Sprachwandelprozesse als Konstruktionswandel mit sich bringt, besteht in der Möglichkeit, Veränderungen mit nicht systemischem Charakter zu interpretieren, d.h. solche Veränderungen, die nicht oder nicht unbedingt weiterführende Veränderungen im System/ Paradigma nach sich ziehen und ins „theoretische Niemandsland“ (Hilpert 2011, 71) zwischen den bekannten Sprachwandelprozessen fallen. Genau zu dieser Gruppe würden Untersuchungen zu diachronen Veränderungen von Beispielen wie let alone, what’s X doing Y, the Xer the Yer u.a. gehören, die synchron bereits als klassische Beispiele für Konstruktionen gelten können und diachron noch nicht erforscht sind. Meiner Untersuchung liegt der Versuch zugrunde, konstruktionsgrammatische Ansätze mit außersprachlichen kulturhistorischen Faktoren bei der Erklärung der Dynamik der formelhaften Wendungen zu verbinden(vgl. Kap. 5, 6 und Filatkina 2014).
2.4 Historische Phraseologieforschung Obwohl die Abhandlungen zur Diachronie der formelhaften Sprache in Einführungen und Lehrwerken zur Sprachgeschichte bzw. zum Sprachwandel fehlen, sind sie seit langem Gegenstand der sprachhistorischen Einzeluntersuchungen, auch mit monographischem Charakter. Sie entstammen dem Bereich der historisch orientierten Phraseologie- und Sprichwortforschung und definieren formelhafte Wendungen als Phraseologismen im Sinne Burgers (52015, 30–60). Wollte man hier den Forschungsstand mit einem Wort beschreiben, so wäre dieses Wortparadoxal. Einerseits lässt sich die Forschungsliteratur zur historischen Phraseologie und Parömiologie kaum mehr überblicken: Die HiFoS-online-Bibliographie enthält 2411 Titel und konzentriert sich überwiegend auf linguistisch geprägte Literatur zur historischen formelhaften Sprache.30 Die internationale Bibliographie (Mieder 2009a) zur Phraseologie und Parömiologie umfasst zwei Bände, jeder à ca. 600 Seiten. Trotzdem gehört die historische Phraseologieforschung
|| 30 http://www.hifos.uni-trier.de/Bibliographie.php. Stand: 29.10.2014.
2.4 Historische Phraseologieforschung | 79
wie auch ihre synchron orientierte Schwester zum theoretischen Niemandsland. Die historische Dimension der Sprichwortforschung (Seiler 1918; 1922; Whiting 1932; 1934a; Singer 1944/1947; Kuusi 1957; Mieder 1972; Röhrich 1975)31 ist gut bekannt und viel älter als die der linguistisch orientierten Phraseologieforschung, allerdings gab es zwischen den beiden Forschungsrichtungen kaum Berührungspunkte. Ebenso wenig gab und gibt es diese mit den gängigen Theorien des Sprachwandels (Filatkina 2013 und Kap. 2.2–2.3). Die Geschichtlichkeit einer Sprache manifestiert sich auf vielfältige Art und Weise in der Phraseologie. Fossilierte Grammatik (in des Teufels Küche kommen) und Lexik (Maulaffen feilhalten), heute nicht mehr übliche Bedeutungen und syntaktische Kombinationsprofile von Wörtern (jemandem den Laufpass geben, an jemandem einen Narren gefressen haben), die in der bildlichen Grundlage konservierten älteren kulturhistorischen Phänomene (die Hosen anhaben), opake Motivation (jemandem einen Korb geben) u.a.m. als phraseologische Konstituenten wurden allerdings kaum seitens der Sprachgeschichte reflektiert (Burger 2012a, 3; Filatkina 2013; Stumpf 2014; 2015). Wenn man heute allgemein von einer gewissen „Phraseologie-Zentrierung“ der sprachwissenschaftlichen Forschung (Dobrovolʼskij 1992, 29) und einer grundlegenden Reanalyse der Rolle der Idiomatizität als Grundlage der sprachlichen Kommunikation (Wulff 2010) sprechen kann, so gilt dies nur bedingt für die historische Sprachwissenschaft (Kap. 2.1). Die im Paradigma der historischen Phraseologieforschung entstandenen Untersuchungen widmeten sich überwiegend einem Typ der Wendungen, die unter dem eng verstandenen Begriff der Sprichwörter zusammengefasst und in ihrer Überlieferungsgeschichte unterschiedlich umfangreich beschrieben wurden (Singer 1944/1947). Unter dem Aspekt der Rekonstruktion von Einheiten der poetischen Sprache, die länger als ein Wort sind, ist der Phraseologie in der fundamentalen Arbeit zur historisch-vergleichenden Forschung „Indo-European and the Indo-Europeans“ von Gamkrelidze und Ivanov (1995, 731–733) ein gesonderter Abschnitt gewidmet.32 Anders als in volkskundlichen Untersuchungen ist hier das Ziel ausschlaggebend, durch den Vergleich der phraseologischen Einheiten mehrerer Sprachen und das Heranziehen des dialektalen Materials eine prototypische Wendung zu rekonstruieren, auf die der betreffende Beleg zurückgehen
|| 31 Eine Vielzahl von neueren parömiologischen Studien wendet sich nach wie vor der Geschichte der Sprichwörter zu. Im 20. Jahrhundert ist die Forschung auf diesem Gebiet vor allem mit dem Namen W. Mieders verbunden. 32 Vgl. dazu zuletzt Bock (2010; 2012).
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könnte.33 Das Forschungsinteresse ist hier grundsätzlich rückwärts eben im Sinne der Rekonstruktion orientiert; der Vorteil der Untersuchungen besteht in der Berücksichtigung dialektaler Phraseologismen und der Daten mehrerer Sprachen. Wie unten noch zu zeigen sein wird (Kap. 4), ist die Entscheidung über den formelhaften Charakter einer Wendung am Material einer historischen Sprache oft nicht zu treffen. Die kontrastive Perspektive avanciert somit bei historischen Studien zu einem wichtigen methodischen Mittel. Einige ältere sprachhistorische Untersuchungen zu einzelnen Autoren bzw. zu einzelnen Texten oder Textgattungen stellen den frequenten Gebrauch der formelhaften Wendungen fest, gehen allerdings nicht über die Grenzen einer reinen Auflistung hinaus (vgl. Hass 1903 zu Predigten; Büge 1908 zu Otfrids Evangelienbuch; Reger 1986 zu der so genannten „Volksdichtung“). Untersuchungen, die einzelne historische Epochen in ihrer Ganzheit in den Blick nehmen würden, sind selten (Friedrich 2006 zum Mhd.). Wenige für das Deutsche bereits vorliegende Studien knüpfen an die sog. Literaritätsforschung an (Lutz 1974; Stolz/Shannon 1976; Warning 1979; Jarrett 1982; Ong 1982/1987). Sie erklären die Verwendung der formelhaften Ausdrücke durch mnemotechnische Notwendigkeit: Angesichts des Fehlens der Schriftlichkeit diktiert diese Notwendigkeit sowohl die ausdrucksseitige Gestaltung der Texte durch Reim und Rhythmus, syntaktische Symmetrien, phonetische Assonanzen und Alliterationen als auch die inhaltsseitige Prägung der Figuren34.Überlegungen zur Entstehung und Entwicklung von Phraseologismen wurden zwar angestellt (Eckert 1979; Friedrich 2007; Munske 1993; Sialm 1982), trugen allerdings eher einen theoretischen Charakter und basieren nicht auf Analysen einer soliden empirischen Materialbasis.
|| 33 Vgl. dazu weitere Arbeiten am slawischen und baltischen Material: Eckert (1981; 1991), Mokienko (1989; 2002; 2007) und Tolstoj (1973). Anders Bierich (2005) zur Erforschung der Variation in der russischen Phraseologie des 18. Jahrhunderts. 34 Das gilt im gleichen Maße auch für die altenglische Literatur, vgl. Stevicks (1962) Ausführungen zum Cynewulf und Caedmons Hymnus und Whallon (1969). Brockington (1998) beobachtet eine ähnliche Verbindung im Rāmāyana (Sanskrit) und Davies (1997; 2007) in walisischen Märchen. Lancioni (2009) weist darauf hin, dass die rekonstruierten Formen des klassischen Arabisch zu einem großen Teil von den mündlichen prä-islamischen poetischen Texten beeinflusst sind.
2.4 Historische Phraseologieforschung | 81
Punktuell bleiben ältere phraseologische Untersuchungen zu einzelnen Typen der formelhaften Wendungen, insbesondere Paarformeln35 und Sprichwörtern.36 Einzelne Autoren, z.B. Thomas Murner, scheinen mit Blick auf die Fülle der vorhandenen Forschungsliteratur gut erforscht zu sein.37 Stellt man die von diesen Autoren verwendeten Wendungen in den größeren zeitlichen und historischen Kontext der Entstehung ihrer Werke und betrachtet man sie aus der Perspektive der Formelhaftigkeit, so müssen einige bestehende Thesen hinterfragt werden (vgl. Filatkina zu Thomas Murner, 2012). Die Rolle der formelhaften Wendungen bei der Vermittlung des Lateins und/oder der lebendigen Sprachen wurde in Ansätzen für das frühe Mittelalter und die Frühe Neuzeit untersucht.38 Gut aufbereitet ist der Bereich der Rechtssprache: Durch die Studien aus dem Umkreis von Schmidt-Wiegand konnten grundlegende Analysen zur konstitutiven Rolle der sprachlichen formelhaften Wendungen und ihrem Zusammenspiel mit visueller Formelhaftigkeit in Urkunden, diversen Rechtsbüchern (z.B. im ‚Sachsenspiegel‘) und Weistümern durchgeführt werden (Schmidt-Wiegand 2002; 1997; 1993). Dass die Fokussierung der Formelhaftigkeit in Texten einer Textsorte bei aller Schwierigkeit einer eindeutigen Definition des Begriffs Textsorte ein gangbarer Weg zur allumfassenden Erforschung der historischen formelhaften Wendungen und der „zusammenhängenden Geschichte der Phraseologie“ (Burger/Linke 22008, 743) ist, weisen Hanauska (2014) am Beispiel der Kölner Stadtchroniken und Hoff (2012) am Material der süddeutschen Nonnenviten nach. Beide Untersuchungen zeigen, dass formelhafte Wendungen (vor allem Routineformeln und Sprichwörter) sowohl hinsichtlich der Textaufbereitung und -strukturierung als auch hinsichtlich der Vermittlung von Wissen gezielt eingesetzt werden und einen Konnex zwischen der erzählenden/berichtenden und der rezipierenden Instanz darstellen.39 In den Kölner Stadtchroniken lassen sich auch to-
|| 35 Vgl. auch Dilcher (1961); Matzinger-Pfister (1972). Im Gegensatz dazu hat Jeep (1987; 1995; 2006) ausführliche Studien zu stabreimenden Paarformeln im Alt- und frühen Mittelhochdeutschen vorgelegt. Zu Paarformeln in Eidestexten vgl. Hüpper/Topalovic/Elspaß (2001). 36 Dies gilt nicht nur für das Deutsche. Doyle (2007, 1078) behauptet z.B. in Bezug auf das Englische: „The history of phraseology in English is largerly the history of paremiology, the study of proverbs.“ 37 Andere Autoren sind z.B. Freidank, Sebastian Brant, Martin Luther, Hans Sachs, Grimmelshausen, Oswald von Wolkenstein usw. 38 Burger/Buhofer/Sialm 1982, 360–368; Weickert 1997; Hundt 2000; Knappe 2004; Filatkina 2009b; Filatkina/Hanauska 2011. Vgl. auch Kap. 3. 39 Vgl. auch Hanauska (2012) zu Funktionen diskursiver Routineformeln in Otfrids Evangelienbuch und im Heliand.
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poshaft auftretende thematische Bereiche definieren, die besonders oft durch formelhafte Wendungen versprachlicht werden, z.B. das Verhältnis von Machthabern zu ihrer Regierungsgewalt, die Konsequenzen fehlender Solidarität für das Wohlergehen eines Gemeinwesens, das Streben nach unverdienter Würde oder die Auswirkungen bestimmter Laster auf Handeln und Verhalten der Menschen. Neben forschungsgeschichtlichen Ursachen erklären auch methodische Schwierigkeiten,40 die sich bei der Erforschung des heutigen Deutschen nicht bzw. nicht in gleichem Maße stellen (Burger/Linke22008, 743), die bisherige überwiegend gegenwartssprachliche Ausrichtung der Phraseologieforschung und die Tatsache, dass die Untersuchung der historischen Formelhaftigkeit erst an ihren Anfängen steht. Für historische Sprachstufen verfügt der Forscher – im Gegensatz zur Gegenwartssprache – nicht über eine hinreichende Kompetenz, um die Phraseologizität einer Verbindung ad hoc beurteilen zu können. Die sich für die Gegenwartssprache jederzeit bietende Möglichkeit, durch Korpusrecherchen sowie Befragungen von Informanten die eigene Kompetenz zu überprüfen oder durch Experimente die psycholinguistischen Mechanismen der Entstehung oder der Rezeption von Phraseologismen zu studieren, entfällt für die Sprachgeschichte. Damit entfällt ein großer Teil empirischer Methodik, die für die aktuelle Forschung zur Gegenwartssprache zentral ist. Das Fehlen umfangreicher epochenübergreifender Korpora des älteren Deutsch (Filatkina 2009a; Moulin/Gurevych/Filatkina/de Castilho 2015) sowie der Informationen zu typischen Situationen und Kontexten, in denen ein Phraseologismus verwendet wurde, hat bis jetzt pragmastilistische und soziolektale Zuordnungen der älteren Belege unmöglich gemacht. Dass man bei den auf diesem Weg extrahierten Belegen stets im Kontext der schriftlichen Überlieferung bleibt, bringt eine weitere methodische Einschränkung: Unser Bild von historischer Formelhaftigkeit muss an das aus schriftlichen Quellen zugängliche Material gebunden bleiben; mündlich überlieferte formelhafte Wendungen sind, wenn überhaupt, nur durch Rekonstruktionen greifbar. Dies ist aber ein generelles Problem aller sprachhistorischer Forschung, das stets bedacht werden muss, aber die Wichtigkeit und Objektivität der letzteren in keiner Weise tangiert. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass das Repertoire wissenschaftlicher Hilfsmittel für die Formelhaftigkeit in den älteren Sprachstufen bislang als eher unzulänglich einzustufen ist.41 Formelhafte Wendungen werden durchaus
|| 40 Ausführlich dazu Kap. 4. 41 Zur ähnlichen Situation für slawische Sprachen, deren historische Phraseologie als am besten erforscht gilt, vgl. Mokienko (2007, 1134–1135) und Bierich (2005, 4–5).
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in historischen Wörterbüchern wie dem ‚Wörterbuch der deutschen Sprache‘ der Brüder Grimm, dem ‚Wörterbuch der deutschen Rechtssprache‘, dem ‚Wörterbuch der mittelhochdeutschen Urkundensprache‘ oder auch in den Sprachstadienwörterbüchern zum Alt-, Mittel- und Frühneuhochdeutschen berücksichtigt, aber nicht schwerpunktmäßig behandelt.42 Sie gehören besonders in den Nachschlagewerken älteren Datums zu „versteckten Informationen“ mit zufälligem „Beispielsatz“-Charakter, die nicht eigens ausgewiesen werden, und vermitteln ein verzerrtes, wenn nicht unzureichendes Bild über die phraseologische Vielfalt früherer Sprachstufen. Dass formelhafte Wendungen neben Einzellexemen auch substantielle Teile der „epoch vocabularies“ (Wells 2002, 1399) sind, wurde angesichts mangelnder Untersuchungen bis jetzt kaum bewiesen und folglich auch wenig systematisch in Sprachstadienwörterbüchern berücksichtigt. Das Repertoire der Nachschlagewerke, die sich gezielt dem Bereich der historischen Formelhaftigkeit widmen, ist beschränkt. Dazu gehören folgende sechs Lexika: – der ‚Thesaurus Proverbiorum Medii Aevi‘ (TPMA) – das ‚Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten‘ von Lutz Röhrich (LSR) – das ‘Lexicon of Historical Figurative Language’ von Keith Spalding (LHFL) – das ‚Deutsche Sprichwörter-Lexikon‘ von Karl Friedrich Wilhelm Wander (DSL) – das ‚Phraseologische Wörterbuch des Mittelhochdeutschen‘ von Jesko Friedrich (PWMhd) – das ‚Handbuch der Sentenzen und Sprichwörter im höfischen Roman des 12. und 13. Jahrhunderts‘ von Manfred Eikelmann und Tomas Tomasek (HSS). Die aufgezählten Nachschlagewerke verzeichnen vielfältiges, für die vorliegende Untersuchung relevantes Material und sind deshalb auch für die heutige Forschung unentbehrlich.43 Bedingt durch ihre Entstehungszeit entsprechen die
|| 42 Vgl. ausführlich zu formelhaften Wendungen im ‚Althochdeutschen Wörterbuch‘ Kap. 4.1.2. Vgl. auch Hanauska (2014), Dräger (2010; 2011). 43 Historische Wörterbücher des Deutschen ab dem 17. Jahrhundert bilden die Materialgrundlage des Projekts ‚Deutsche Sprichwörter und Redewendungen im Sprachwandel. Online-Lexikon der diachronen Phraseologie des Deutschen in neuhochdeutscher Zeit (OldPhras)‘ (http://oldphras.unibas.ch/web/; Dräger 2010; 2011) und liefern eine Vergleichsbasis sowie eine Ergänzung in Richtung Neuhochdeutsch zum Material der vorliegenden Untersuchung, die sich auf die Zeit vor 1750, und insbesondere auf das Althochdeutsche, konzentriert. Auf historische Wörterbücher und sprichwörtliche Sammlungen stützen sich auch die Projekte ‚Analyse Linguistique et Interculturelle des ENoncésSapientiels et Transmission Orient/occident – occident/orient
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meisten vorhandenen Lexika jedoch nicht den Kriterien eines im lexikographischen und methodologischen Sinn modernen Nachschlagewerks und geben nur ansatzweise Auskunft über den Gebrauch einer Wendung. So führt das umfangreichste von ihnen – der 13bändige TPMA – zahlreiche Wendungen auf, die aber in den seltensten Fällen mit einer semantischen Paraphrase versehen sind. Ähnliches gilt auch für das DSL, dessen Vorteil aber wiederum in der Auswertung fnhd. Quellen (u.a. barocker Sprichwörtersammlungen) besteht. Im Unterschied dazu informiert das HSS ausführlich und detailliert über den Gebrauch einer Wendung, beschränkt sich aber dafür – wie der Titel schon besagt – auf einen Typ der formelhaften Wendungen – Sentenzen und Sprichwörter, die in einem abgeschlossenen und homogenen Textkorpus der mhd. Zeit (Artus-, Tristan- und Gralromane) vorkommen. Andere für historische Texte gerade zentrale Typen der formelhaften Wendungen sowie andere Textsorten bleiben unberücksichtigt. Ganz anders ist in seiner Anlage das LSR von L. Röhrich: Es ist nach wie vor die zuverlässigste Quelle für Informationen über die Herkunft einer Wendung, es gibt allerdings kaum Auskunft über ihre Verwendung und diachrone Gebrauchsdynamik. Selbst die elektronischen Versionen, die auch nur für das LSR und DSL vorliegen, vermögen die Einschränkungen beim Konsultieren der Lexika nicht zu beheben. Interessanterweise können auch historische zeitgenössische phraseologische Wörterbücher, die seit dem früheren Mittelalter meistens als sprichwörtliche Sammlungen überliefert sind und in der Zeit des Barock zu einem wichtigen Vehikel im Kontext der Spracharbeit avancieren (vgl. Kap. 3), bei diesem methodischen Problem keine Hilfe leisten. Wie in Kap. 4 noch zu zeigen sein wird, zeugen solche Quellen von einer ganz anderen Einstellung zur Formelhaftigkeit in historischen Epochen, sie überliefern allerdings aus verschiedenen Gründen ein Bild von Formelhaftigkeit, das sich von dem der Textüberlieferung deutlich unterscheidet. Sie zeugen auch von einem anderen Verständnis davon, was in einer Sprache für formelhaft gehalten wurde, was sich u.a. in der nur partiellen Kompatibilität der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Begriffe mit ihren modernen Entsprechungen niederschlägt (Hallik 2007; Burger 2012a; Hanauska 2013). Der skizzenhafte Überblick zeigt, dass es selbst der historischen Phraseologieforschung an systematischen Untersuchungen und umfassenden Nachschlagewerken fehlt, die Informationen zur Entwicklung der formelhaften Wendungen als Teil der Formulierungstraditionen sowie die Antworten auf die Fragen danach bieten, wie dieser Teil der „epoch vocabularies“ (Wells 2002, 1399) entsteht, auf
|| (Aliento)‘ (www.aliento.eu; Bornes-Varol/Ortola 2010) und ‚Dynamics of Luxembourgish Phraseology (DolPh)‘(http://phraseolux.uni.lu/web/; Filatkina/Kleine/Münch 2010; Kleine-Engel 2012; 2011). Sie bringen eine wichtige interlinguale Perspektive für HiFoS mit sich.
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die für die Entstehung des Deutschen wichtigsten historischen und kulturellen Ereignisse reagiert und sich mit Blick darauf, aber auch im Zusammenhang mit sprachinternen Faktoren verändert. Es fehlt also an Grundlagenuntersuchungen, wie sie etwa für das phonetische, phonologische, morphologische, lexikalische oder teilweise syntaktische System selbstverständlich und längst vorhanden sind. „Eine zusammenhängende Geschichte der deutschen Phraseologie zu schreiben“ (Burger/Linke 22008, 743; Burger 1977, 22), ist deshalb immer noch nicht möglich. Dafür, dass es wichtig ist, diese zu schreiben, plädieren folgende sich bereits andeutende Erkenntnisse der Nachwuchsforschergruppe HiFoS, die im Rahmen weiterer Studien ausgebaut werden können: 1) Formelhaftigkeit ist für historische Kommunikationssituationen und einzelne Textsorten genauso konstitutiv wie für die Gegenwart.44 Dabei ist sie weder ein Indiz für mangelnde Kreativität der Autoren noch ist sie ein peripheres stilistisches Phänomen. Es lassen sich zahlreiche Textsorten identifizieren, die durch die Verwendung formelhafter Wendungen überhaupt erst zustande kommen (z.B. Segenssprüche, Beichten, Gebete und Predigten, Bibelkommentare und Bibelexegese, Rechtstexte und Urkunden, didaktische Literatur, erste grammatikographische Werke u.a., vgl. Gottwald/Hanauska 2013a; Kap. 2.5 und 6), nicht auf eine Sprache beschränkt sind, vielmehr ein „gesamteuropäisches“ kulturelles Erbe darstellen und somit wesentlich zur Entstehung der historisch erwachsenen „linguistischen Globalisierung“ beitragen. 2) Formelhafte Wendungen sind nicht nur objektsprachlich zentrale Elemente der Kommunikation, sie waren auch in unterschiedlichen historischen Epochen wichtige Gegenstände der metasprachlichen Reflexion bzw. Mittel der Sprachlegitimation. Dies ist ein Phänomen, das sich mindestens europaweit erstreckt und für verschiedene Sprachen unabhängig von ihrem Alter und Kodifizierungsstand gilt.45 Darin besteht in meinen Augen einer der größten Unterschiede zwischen ihrer Verwendung in der Geschichte und in der Gegenwart. Formelhafte Wendungen sind somit wesentliche Bestandteile des kulturellen Gedächtnisses ganzer Epochen, die es im Einzelnen noch zu untersuchen gilt. || 44 Vgl. Besch (1964; 1993); Sonderegger (2013); Burger (2012a); Filatkina/Hanauska (2011); Filatkina (2012; 2015a); Hanauska (2014); Hoff (2012); Gottwald (2009); vgl. außerdem Kap. 2.5 bis 2.6 unten. 45 Vgl. für das Deutsche – Burger/Sialm/Buhofer (1982, 360–368); Hundt (2000); Filatkina (2009b) und Kap. 3 der vorliegenden Untersuchung; für das Englische – Knappe (2004), für das Französische – Buridant (2007); für das Luxemburgische Filatkina (2005); Filatkina/Moulin (2007); Kleine-Engel (2011; 2012).
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3) Der begriffliche Apparat und die Analysekategorien der rein synchronen Phraseologieforschung stoßen bei historischen Untersuchungen an ihre Grenzen. So lassen sich z.B. die seit langem definierten Merkmale eines Phraseologismus Polylexikalität, Festigkeit und Idiomatizität sowie die erarbeiteten Typologien nicht uneingeschränkt auf historische Daten übertragen.46 4) Textbasierte historische Untersuchungen lassen am traditionellen ZentrumPeripherie-Modell der klassischen Phraseologieforschung und allgemein der Systemlinguistik Zweifel aufkommen (Burger 2012a; Filatkina 2012). Eine größere Rolle scheinen die einzelnen Wendungen zugrunde liegenden formelhaften Muster im kognitiv-semantischen Sinn zu spielen, die quer zum traditionellen Verständnis „Idiomatisches im Zentrum vs. Nicht-Idiomatisches an der Peripherie“ liegen. 5) Formelhafte Sprache ist genauso wie Phonetik, Morphologie, Lexik, Syntax usw. vom ständigen Wandel betroffen.47 Dieser findet bei Wendungen simultan auf mehreren Ebenen statt und macht diese sprachlichen Einheiten für moderne Sprachwandeltheorien relevant. 6) Variation ist wie auch auf anderen sprachlichen Ebenen eine der treibenden Kräfte des Sprachwandels im Bereich der Formelhaftigkeit. Die Mechanismen ihrer Reduktion bei manchen Verfestigungsprozessen sind allerdings anders gelagert (sie sind z.B. nicht von der Kodifikation abhängig); bei anderen geht die Verfestigung im Gegensatz zur Phonetik, Morphologie und Syntax gar nicht mit der Reduktion der Varianten einher, sondern korreliert paradoxerweise mit ihrer Zunahme. Dies ist beispielsweise bei Kollokationen und Modellbildungen der Fall. 7) Die Erforschung der historischen formelhaften Sprache erfordert ein strenges textgestütztes Vorgehen und führt die Divergenz zwischen zwei Überlieferungssträngen – in Primärtexten und kodifikatorischen Quellen (Wörterbüchern, sprichwörtlichen Sammlungen, historischen Grammatiken) – deutlich vor Augen (Filatkina 2016). Deshalb scheint die Kodifizierung im Gegensatz zu anderen sprachlichen Ebenen bei Verfestigungsprozessen der formelhaften Wendungen eine geringere Rolle zu spielen.
|| 46 Vgl. Filatkina (2007; 2009a,b; 2012); Filatkina/Gottwald/Hanauska (2009); Gottwald/Hanauska (2013a,b); Gottwald (2009); Hanauska (2014); Hoff (2012). 47 Vgl. für das Englische – Aurich (2012; 2013); für das Deutsche – Burger/Linke (22008); Dräger (2011); Filatkina (2013; 2016); Friedrich (2007, 1094–1103); Stumpf (2015); für das Russische und andere slawische Sprachen – Bierich (2005); für das Französische – Buridant (2007); für das Luxemburgische – Filatkina (2005); Kleine-Engel (2012; 2011).
2.5 Literaturgeschichte | 87
8) Die Verfestigungsprozesse verlaufen nie linear von wenig Idiomatizität zu mehr Idiomatizität bzw. von wenig Festigkeit zu mehr Festigkeit. Genauso wie Grammatikalisierungs- und Lexikalisierungsprozesse kann die Entstehung der Formelhaftigkeit auf bestimmten Stufen aufhören und unvollendet bleiben; im Gegensatz zu diesen braucht sie aber nicht unidirektional zu sein. Den Verlauf dieser Prozesse im Rahmen der allgemeinen Sprachwandeltheorien aufzudecken und zu visualisieren, soll die primäre Aufgabe der historisch orientierten Erforschung der formelhaften Sprache sein. Die Beschränkung auf die Ermittlung der Etymologie und die Rekonstruktion eines Prototyps als das oberste Ziel können nicht mehr ausreichen. Die Rolle der Etymologie als eines außersprachlichen Kriteriums soll und kann bei der Analyse der Variation und Verfestigung neu definiert werden.
2.5 Literaturgeschichte Seit ca. den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts ist ein verstärktes theoriegebundenes Interesse an Formelhaftigkeit seitens der Literaturgeschichte zu vermerken.48 Unter dem Stichwort „Kleinere und Kleinstformen der Literatur“ (Haug/Wachinger 1993; Haug/Wachinger 1994) oder „einfache Formen“ (Jolles 1974) geraten formelhafte Einheiten wie Sprichwörter, Rätsel, Sentenzen und Sprüche, Apophthegmata, Epigramme, Fazetien, Priameln, Scherz- und Wissensfragen in den Skopus der literaturgeschichtlichen Untersuchungen. Begründet wird dieses Interesse dadurch, dass gerade solche Literaturformen, die „im Schatten der „hohen“ Literatur stehen“ (Tomasek 1997, 207) und auf eine lange Tradition seit der Antike zurückblicken, besonders geeignet dafür sind, trotz aller Kontinuität „epochale“ Veränderungen anzuzeigen: Denn sie werden in der Regel mit größerer Selbstverständlichkeit benutzt als komplexe, umfängliche Kunstformen und sind deshalb enger mit den Einstellungen und Geselligkeitsformen ihrer Zeit verknüpft. (Tomasek 1997, 207)
Auch wenn das Problem der Klassifizierung nach Textgattungen und der Definition lange im Zentrum stand, wurde die funktionale Wichtigkeit der formelhaften
|| 48 Eine frühe Ausnahme von der Betrachtung von Sprichwörtern als ein überflüssiges Stilistikum und im besten Fall ein ästhetisches Randphänomen ist die Untersuchung Whitings (1934b) zu Funktionen von Proverbien in Chaucers Oeuvre. Die rezentere Literatur ist in Janz (1997) und in Mieder (2009a) dokumentiert.
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gnomischen Literaturformen als Medium der Bildung, Wissensvermittlung, Geselligkeit und Textstrukturierung in ihrer Bindung an antike Rhetorik und mittellateinische literarische Traditionen stets hervorgehoben. Ihre Rolle in der Literatur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit bezeichnet Wachinger (1994, 1) als „eine weitaus wichtigere“ als in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Er belegt dies zum einen mit einer kaum überschaubaren Zahl von Sammlungen formelhafter Wendungen verschiedenster Intentionen und verschiedensten Niveaus, die „einem Bedürfnis entgegengekommen sein [NF: musste], sonst gäbe es nicht so viele“ (Wachinger 1994, 35), und zum anderen mit ihren vielfältigen Überlieferungszusammenhängen, die die eventuellen Gebrauchsmöglichkeiten erhellen: Die Sammlungen reichen von simplen Inschriften bzw. Gelegenheitseinträgen auf einzelnen freigebliebenen Seiten in historischen schriftlichen Quellen über umformulierte sangbare Großstrophen und umfangreiche eigenständige thematisch teils kaum geordnete, teils buchtechnisch bemerkenswert angelegte Sammlungen und/oder Zitaten in rhetorischen Argumentationsmustern und literarischen Werken anderer Autoren bis hin zu Gegenständen philologischer Bemühungen und zum Kern einer moralphilosophischen und zeitkritischen Essayistik.49 Laut Dicke (1994, 57–58) werden sie „durch Summierung zu Bestandteilen spruchhaftkonstituierter Lebens- und Weisheitslehren, durch sprachliche Stilisierung zu eigengesetzlichen Formen literarischer Weltsicht und -deutung.“ Ihre Untersuchungen eröffnen Zugänge zum Verständnis jener Zeit und den sich verändernden Bedingungen der (verbalen und visuellen50) Kommunikation. Das als Spruch vorformulierte, konventionalisierte, sprachlich kondensierte Wissen verfügte in der Antike, im Mittelalter und der Frühen Neuzeit mit Blick auf die umfang- und traditionsreiche Überlieferung über einen hohen Umlaufund Zitierwert als „Vorrat- und Wiedergebrauchsrede“ (Dicke 1994, 58). Dabei wurde dieser hohe Wert durch die Loslösung von primärer Situationsbindung (an einen konkreten mündlichen und/oder schriftlichen Kontext) und insbesondere durch den Übergang der formelhaften gnomischen Wendungen aus schriftlichen Texten in kontextfreie Sammlungen einerseits gesichert. Der Übergang in die Sammlungen, aber auch Wanderungen von einem Text in den anderen – die Vertextung in der Terminologie Tomaseks (2005, 56) – ist ein langer Konventionalisierungsprozess. Andererseits trägt dieser Wechsel zum Wandel in allen Bereichen der Verwendung der Wendungen bei (Wachinger 1994, 19; Eikelmann 1999,
|| 49 Dies ist besonders bei Erasmus von Rotterdam der Fall oder im ‚Dialogus Salomonis et Marcolfi‘ bzw. im ‚Ackermann aus Böhmen‘, in denen die gesamten Streitgespräche in korrespondierenden Sprüchen stattfinden, vgl. Mieder (1973); Griese (1999, 154–168). 50 Zur letzteren vgl. unten Kap. 2.6.
2.5 Literaturgeschichte | 89
301), zur Variabilität, durch die – wie paradoxal es auch klingen mag – formelhafte Wendungen überhaupt erst zu festen, aber flexibel einsetzbaren literarischen Gebrauchsformen werden. Der stabile Kern scheint dabei nicht so sehr in der Invarianz der konventionalisierten Sprachgestalt zu liegen (sie ist ja im Normal- und Regelfall noch gar nicht vorhanden!), sondern in der allgemeinen Geltung und Wahrheit der Sentenz-, Spruch- und Sprichwortaussage. Der Übergang bestimmt auch die Eigenart der Wendungen, die sich in literarischen „Primärtexten“ anders gestaltet als in der mündlichen Überlieferung oder im Sammlungskontext. Eikelmann (1994) führt es am Beispiel des Sprichworts Hund, der Leder gefressen hat vor Augen und kommt zu folgenden wichtigen Schlüssen: in Bezug auf die Unterschiede gegenüber der mündlichen Tradition: Diese Beobachtungen zu den literarischen Verwendungs- und Tradierungszusammenhängen des Sprichworts machen vor allem eines ganz deutlich: Auch das vereinzelte Auftreten des Sprichworts im literarischen Werk ist keinesfalls gleichzusetzen mit den Formen und Funktionen mündlicher Tradierung; es ist stattdessen wesentlich bestimmt von literarischen Gattungs-, Verwendungs- und Quellentraditionen, die nicht nur die schriftliche Aufzeichnung der Texte, sondern auch eine entwickelte literarische Kultur voraussetzen. Gerade weil in mittelhochdeutscher Zeit, soweit bislang zu sehen, Sprichwörtersammlungen noch ganz fehlen, wird man in solchen Tradierungsformen einen eigenständigen Modus der Verfestigung, Sammlung und Bewahrung des überlieferten Sprichwortguts erkennen dürfen. Dies zu betonen, scheint zumal im Falle einer Gattung wichtig, der oft schon zu selbstverständlich die Rückbindung an die mündliche Kommunikation nachgesagt wird. (Eikelmann 1994, 102)
In Bezug auf die Unterschiede Primärtexte vs. Sammlungskontext bemerkt er: Die Sprichwortüberlieferung des Mittelalters gewinnt ihre Eigenart also gerade auch aus der Vielzahl und der Verschiedenheit der Sammlungsumgebungen, in die das Sprichwort eingeht. […] Für den einzelnen Sammlungskontext stellt sich daher die Frage, inwieweit und in welchen Aspekten er den primären Situationsrahmen des Sprichworts ersetzen kann und welche Voraussetzungen die Einbindung in die Sammlung bestimmen. (Eikelmann 1994, 108)
Exempla haben als Ausgangspunkt für Reflexionen im Bewusstsein der historischen Zeiten in besonderen Maße die Predigt und katechetische Unterweisung bestimmt,51 die Sammlungen von Mystikersprüchen dienten vor allem dem medi-
|| 51 Man denke hier an Sprichwortpredigten (z.B. Freidanks), vgl. exemplarisch Eikelmann (22010).
90 | 2 Theoretisches Niemandsland: Historische formelhafte Sprache
tativen Gebrauch durch Religiose (Neumann 1990, 2), Florilegien und Exzerptensammlungen sollten als loci communes die ethische Kultur der litterati fördern (Barner 1993, 294; Wachinger 1994, 16). Und insgesamt: Vielen Sammlern, Schreibern und Druckern scheint die Vielfalt der möglichen Gebrauchsfunktionen durchaus im Sinn zu liegen, wenn sie zu den allerallgemeinsten Formeln wie nutzlich unnd gut kurtzweylich ze horen greifen. (Wachinger 1994, 17)
Dass diese Zuweisungen aber keineswegs fest, sondern eher polymorph sind, zeigen am ausführlichsten in meinen Augen Eikelmann und Tomasek am Beispiel der herausragenden Rolle der Sentenzen und Sprichwörter in mhd. Artus-, Gralund Tristanromanen,52 die zugespitzt formuliert auch als erste mhd. Sentenzensammlungen überhaupt gelten können (Eikelmann/Tomasek 2002, 136). Sentenzen, Sentenzanspielungen und Sprichwörter53 interpretieren sie als ein integrales Moment des Textes, ein geregeltes Netzwerk, ein auffälliges, die Gattung mitkonstituierendes Element und einen prägnanten Ausdruck überindividuellen Orientierungs- und Erfahrungswissens, der gesellschaftlichen Konsens aufrief und auf den der zeitgenössische hörende/lesende Rezipient metasprachlich reagierte. Die metasprachliche Markierung der formelhaften gnomischen Wendungen ist neben der Vertextung eine weitere Konventionalisierungsstrategie: Durch die Randelemente wie als man giht/seit, das ist ein altsprochen wort usw. wird das autoritative Gewicht der Sentenzen und Sprichwörter gestärkt. Dass es sich bei formelhaften gnomischen Wendungen keineswegs um ein Randphänomen handelt, belegen die Zahlen: in insgesamt ca. 189.000 ausgewerteten Versen des Romankorpus konnten 637 Belege identifiziert werden, was das durchschnittliche Vorkommen einer Wendung in je 300 Versen bedeutet (Eikelmann/Tomasek 2009, xii54). Die häufige Verwendung dieses Typs der formelhaften gnomischen Wendungen deutet darauf hin, dass der neue Romantyp als ein
|| 52 Vgl. exemplarisch Tomasek (2000; 2005); Eikelmann/Tomasek (2002); Eikelmann (1998; 2002). Die polymorphe Funktionalisierung der Sprichwörter und Sentenzen auf dem Hintergrund ihrer Literarizität diskutiert auch Reuvekamp (2007). Vgl. ähnlich für den okzitanischen und orientalischen Raum Pfeffer (1997); Bornes-Varol (2013; 2014). 53 Zu Unterschieden zwischen den Begriffen sowie zur literaturhistorischen Abgrenzung Sentenz vs. Sprichwort vgl. Eikelmann (1999, 304–310); Eikelmann/Tomasek (2009, viii–xiii). Anders und an anderen lateinischen und griechischen Quellen vgl. Hallik (2007). 54 Laut Tomasek (1995, 201; 2005, 53) zeigen sich auffällig hohe Werte insbesondere seit Gotfried und Hartmann von Aue, die in der mhd. Erzählliteratur der Zeit unerreicht dastehen und nur von einigen wenigen französischen Vorlagen übertroffen werden. Vgl. ähnlich auch Nöcker/ Rüther (2002, 102).
2.5 Literaturgeschichte | 91
Element höfischer Gesprächskultur konzipiert gewesen ist, „als ein neues höfisches Erzählen, das ein mentales Mitspielen des Rezipienten im stärkeren Maße einfordert, als es offenbar im Falle des älteren, heldenepischen Erzählens üblich war“ (Eikelmann/Tomasek 2002, 13855). In Bezug auf die Bedeutung der Sentenzen für die Literaturgeschichte bemerken Eikelmann/Tomasek (2002, 137): Die literaturwissenschaftliche Mediävistik hat sich derzeit weitgehend damit abgefunden, dass der ursprüngliche ‚Sitz im Leben‘ mittelalterlicher Dichtung in der Regel nicht mehr genau zu bestimmen ist – das in den Texten durch Sentenzen aufgerufene Orientierungswissen erlaubt es aber, einen wesentlichen Bereich des primären Rezeptionshorizontes und des mit ihm verbundenen kulturellen Wissens, zumindest ansatzweise, zu rekonstruieren.
Natürlich sind es nicht nur mhd. höfische Romane, für die die konstitutive Rolle der Formelhaftigkeit definiert werden kann. In Kap. 2.1 habe ich bereits auf die Untersuchungen Hanauska (2014) zu Kölner Stadtchroniken und Hoff (2012) zu süddeutschen Schwesternbüchern hingewiesen, die – obwohl primär sprachhistorisch angelegt – sich auch mit literaturgeschichtlichen Fragestellungen befassen. Spätestens seit van den Broek (1989; 1990; 1991) ist es bekannt, dass Sprichwörtern und Sentenzen in der politisch-religiösen Dialogliteratur der Reformationszeit insofern ein besonderer Stellenwert zukommt, als sie zu einem Mittel der Beeinflussung der zu jener Zeit erst entstehenden öffentlichen Meinung avancieren.56 In Tabelle 2 am Anfang dieses Kapitels wurde bereits dargelegt, dass von Polenz (2000) in seiner Sprachgeschichte dies ebenfalls für Luthers Schriften mehrmals betont. Gloning (1999) beobachtet Ähnliches in den nachreformatorischen Dialogen, Neukirchen (2011) hat es zuletzt am Beispiel Karsthans auch für die satirische Literatur festgestellt. Verkehrung der weltlichen Ordnung, Grenzüberschreitung, Kritik und Demaskierung des bestehenden Wertekanons durch Komik und Lust am Spiel werden in Fastnachtspielen ebenfalls durch formelhafte Wendungen erreicht. Gottwald (2009) zeigt es für die Quellen aus Nürnberg des 15. und 16. Jahrhunderts und verfolgt diese Funktionalität nicht nur anhand von Sprichwörtern, sondern auch bei Idiomen, Routineformeln und Kollokationen. Vergleichbar mit dem epochalen Gattungswechsel beim Erzählen in mhd. höfischen Romanen ist die Veränderung der Funktionalität der Sprichwörter in Rechtstexten: Während sie in einer Zeit der mündlichen Rechtspflege und noch im ‚Sachsenspiegel‘ bestimmend waren, mit Hilfe der visuellen Mittel im Bewusstsein der Zeitgenossen verankert werden sollten und durch diese auch für
|| 55 Ähnlich auch Tomasek (2005, 48); Eikelmann (2002). 56 Die Literatur zu Sprichwörtern in dieser Textgattung ist kaum überschaubar. Ich beschränke mich auf einige wenige Titel.
92 | 2 Theoretisches Niemandsland: Historische formelhafte Sprache
den konkreten Rechtsfall konkretisiert werden konnten,57 haben sie im Zuge der einsetzenden Verschriftlichung des Rechts an Autorität verloren und kommen, wenn überhaupt, in argumentativen Funktionen vor (Janz 1992). An ihre Stelle tritt ein Typ der Formelhaftigkeit, der mit anderen Mitteln (z.B. Kollokationen, Paarformeln) zustande kommt und bei der Gestaltung des verbindlichen Charakters nicht mehr auf Rechtssprichwörter angewiesen ist.58 Dass die konstitutive Rolle der Formelhaftigkeit uneingeschränkt auch für die ahd. Texte gilt, wird in Kap. 6 gezeigt.
2.6 Kunstgeschichte Wenn bis jetzt ausschließlich von Formelhaftigkeit die Rede war, die sich mittels der Sprache als ein wichtiges Vehikel in historischen Kommunikationssituationen manifestiert, so soll das einseitige Bild an dieser Stelle korrigiert werden. Denn formelhafte Wendungen führen nicht nur eine gattungs-, diskurs- und formenüberschreitende Existenzweise, sondern eine geradezu amphibisch sprachund medienüberschreitende. Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit waren sie nicht nur in ihrer sprachlichen Realisierung funktional hochbeladene Werkzeuge der Didaxe und Wissensvermittlung, sondern auch in nonverbaler, visueller Form. Natürlich bildet sich nicht die komplette typologische Vielfalt der verbalen Formelhaftigkeit in nonverbalen Medien der Kunstwerke ab, sie umfasst eher nur Sprichwörter, Sentenzen und andere formelhafte (vorwiegend idiomatische und bildliche) Wendungen mit gnomischem Charakter. Allerdings ist ihre Palette und Verbreitung in der deutschen, flämischen, niederländischen, französischen und teilweise italienischen und spanischen Kunst so herausragend, dass sie nicht mehr als Kunst zweiten Ranges abgetan werden können, einen substantiellen Teil der historischen Kommunikationssituationen und des kulturellen Gedächtnisses bilden – einen Teil, der dem zeitgenössischen Rezipienten der Kunstwerke meistens ohne erklärenden Textapparat verständlich gewesen sein musste. Bildliche Darstellungen formelhafter Wendungen stellen die gegenwärtige Kunstgeschichte vor terminologische Schwierigkeiten (Filatkina/Kleine/Münch 2010,
|| 57 Schmidt-Wiegand (1980, 622) stellt der älteren Forschung zum ‚Sachsenspiegel‘ die These entgegen, dass illustrierte Handschriften, die u.a. auch Sprichwortbilder enthalten, nicht die Funktionen hatten, den Text für einen leseunkundigen Rezipienten zugänglicher zu machen; sie haben vielmehr das Auffinden der gerade benötigten Textstelle und durch die weiterführende Konkretisierung ihres Inhalts die Hinwendung auf einen konkreten Fall erleichtert. Vgl. auch Schmidt-Wiegand (1993; 2002). 58 Zu diesem Typ in mittelalterlichen Urkunden vgl. Schmidt-Wiegand (1997).
2.6 Kunstgeschichte | 93
240–243; Filatkina/Münch/Kleine-Engel 2012, 9–10): In der Kunstgeschichte werden sie mit dem Begriff Sprichwortbild erfasst. Darauf, dass er mit Blick auf die typologische Vielfalt der dargestellten Einheiten nicht ausreicht, weist Münch (2012a,b) hin und plädiert für die Bezeichnung Visualisierungen der formelhaften Wendungen. Ebenso vielfältig ist auch die Anzahl und Form der Kunstgegenstände, die visualisierte formelhafte Wendungen – explizit oder versteckt – tradieren. Sie reichen von großformatigen Simultangemälden (wie sie z.B von Pieter Bruegel d.Ä., Hieronymus Bosch, Albrecht Dürrer, Sebastian Vrancx, Davis Teniers II u.a. bekannt sind) über kleinere Gemälde in Form von Wand-, Decken-, Glas- und Buchmalerei, Tapisserien, Holzschnitzereien kirchlicher Miserikordien (z.B. auf Chorgestühlen), Druckgraphik und Holzschnitten (etwa bei Frans Hogenberg, Hans Burgkmair, Hans Holbein d.J.) bis hin zu alltäglichen Artefakten des Kunsthandwerks (z.B. Schüssel, Teller mit Dekorelementen sprichwortartigen Charakters usw.).59 Gerade, aber nicht ausschließlich das Vorhandensein von großen luxuriösen Simultangemälden konfrontiert mit dem verbreiteten Vorurteil, das vorrangige Ziel der Sprichwortkultur sei es, für den ‚gemeinen Mann‘ verständlich zu sein (vgl. kritisch dazu Münch 2012a, 17). Vielmehr ist laut Meadow (1993), Sullivan (1991) und zuletzt Bässler (2003) die Existenz einer ständeübergreifenden (inklusive der hochadligen Kundschaft) und über Sprachgemeinschaften hinausgehenden piktorialen und narrativen Sprache der Formelhaftigkeit anzunehmen. In der engen Zusammenarbeit der Künstler und Autoren mit Rang und Namen sind Visualisierungen von formelhaften Wendungen auch als Formate der pictura-poesis-Literatur, der humanistischen satyr menippea, der Emblematik und der Handschriftenillustration insbesondere im rechtlichen Kontext60 entstanden. Hier werden Text- und Bildbestandteile raffiniert kombiniert, sodass die Bilder keine rein ergänzende bzw. illustrative Funktion erfüllen, sondern den Zugang zum Text eröffnen und ihn legitimieren.61 Obwohl ihre Erforschung sowohl in der Kunst- als auch in der Literaturgeschichte auf eine lange
|| 59 Vgl. den Überblick in den Beiträgen in Filatkina/Münch/Kleine-Engel (2012) sowie die Daten des Projekts „Gnomisches Wissen im Raum der Bilder. Die Visualisierung von Sprichwörtern und Formelhaftigkeit in der Kunst des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Gnomik Visuell)“ an der Universität Trier: http://www.kuenstlersozialgeschichte-trier.de/professur-tacke/forschungsund-praxisprojekte/gnovis/. Weitere Vertreter der bildenden Kunst, die sich mit Visualisierungen von formelhaften Wendungen beschäftigt haben, müssen noch erschlossen werden. 60 Darauf, dass Illustrationen von Sprichwörtern im ‚Sachsenspiegel‘ über eine rein illustrative Funktion weit hinausgehen und erst der Textlegitimation dienen, hat Schmidt-Wiegand (1980; 2002) hingewiesen. Zu Holzschnitten in Murners ‚Schelmenzunft‘ vgl. Filatkina (2012). 61 Vgl. auch die Bibliographien Mieder/Sobieski (1999) und Mieder (2009a). Zu Pieter Bruegel d.Ä. und d.J. vgl. Mieder (2004b); Gibson (1977; 2006).
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Tradition zurückblickt (Bässler 2003, 2–6), harren sie noch einer systematischen über das Format der Einzelstudien hinausgehenden kulturhistorischen Untersuchung im Sinne einer Ikonologie und mit Blick auf ihre Funktionalität, Entstehungsgeschichte, Rezeptionsästhetik und -soziologie. Für visuelle nonverbale Darstellungen in der bildenden Kunst gilt dies in noch stärkerem Maße. Was die Visualisierung begünstigt bzw. erst ermöglicht, ist die Diskrepanz zwischen der wörtlichen und der aktuellen Bedeutung der dargestellten formelhaften Wendung, die Bässler (2003, 12–24) mit dem Begriff metaphorische Inversion zusammenfasst, Burger (2012b)idiomatisches Bild nennt und Gibson (2010) als figures of speech beschreibt. Die Funktionalisierung der Diskrepanz im Medium des Visuellen ist vielgestaltig. Gegenüber den antiken und mittelalterlichen Drolerien durchbricht sie die Grenzen der reinen Unterhaltung und avanciert zum Mittel der Polemik, Satire und der gesellschaftlichen Kritik, der Offenbarung der verkehrten Welt durch das Komische und Obskure, aber auch zu einem luxuriös-ästhetischen Mittel der Moralvermittlung.62 Dass sich der Rezipientenkreis beim ‚gemeinen Mann‘ nicht schließen konnte, beweist u.a. die Komplexität, mit der formelhafte Wendungen in das Bild bzw. in den Text integriert, dort ausgelegt und variiert wurden.63 Die Dekodierung verschiedener zusammengezogener formelhafter Wendungen in einem Kunstwerk genauso wie die auf sie rein andeutend hinweisende Verwendung der Dekorelemente gnomischen Charakters erforderte von dem Rezipienten einen soliden Bildungsgrad. Für den Produzenten steigert sich die Kodierung von einem Unterhaltungsmittel im 16. Jahrhundert zum Mittel der Kreation der tiefen Mehrdeutigkeit im 17. Jahrhundert, vgl. z.B. Münch (2012a, 30) über Jacob Jordaens: Jordaensʼ Werke – und neben ihm Werke anderer Meister des 17. Jahrhunderts wie etwa die Kupferstichserie Karel van Manders zu Sprichwörtern – sind somit eine Erweiterung dessen, was in den Simultanbildern Hogenbergs, Vranckx oder Bruegel begonnen wurde: während es hier als humanistischer Spaß galt, die einzelnen, jedoch meist voneinander unabhängigen Sentenzen zu identifizieren, ist nun die Zusammenschau verschiedener – durch Text und Bild gegebener – Hinweise zur Kreierung einer neuen, dritten oder weiteren Sinnebene Thema.
Neben der oben angesprochenen typologischen Vielfalt, der Mannigfaltigkeit der Überlieferungsträger und dem hohen Wert, der sowohl der verbalen als auch der
|| 62 Man denke z.B. an Bruegels Simultangemälde ‚Niederländische Sprichwörter‘. 63 Münch (2012a, 22–25) zeigt dies für das Sprichwort Das Auge des Herrn macht das Pferd fett, das sich auf einem Tapisseriezyklus Jacob Jordaens findet, und Filatkina (2012, 35–37) für das Idiom an ain kerbholtz reden in Thomas Murners ‚Schelmenzunfft‘.
Fazit | 95
nonverbalen Formelhaftigkeit im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit beigemessen wurde, vereint sie auch die Prädestiniertheit zur Variation. Für den Bereich der bildenden Kunst fasst diesen Gedanken der US-amerikanische Kunsthistoriker Walter S. Gibson (2010, 146) wie folgt zusammen: In this proliferation of proverb images, artists devised their images in a number of ways. A single proverb could be depicted by itself, a presentation as straightforward as an entry in a published proverb collection of a period […]. A proverb could also be developed into a visually complex image that examines at length its various aspects, sometimes by means of one or more related proverbs. […] Conversely, a group of proverbs could be passed in review, as it were, within a single framework, often a landscape, either related in theme, […] or thematically unrelated in all but their proverbial status […].
Dass genauso wie in textlicher Überlieferung die ikonographischen Details der Visualisierungen variieren können, zeigen Filatkina (2012) für das Idiom an ein kerbholtz reden in Thomas Murners ‚Schelmenzunft‘, Oßwald (2012) und Riedel (2012) für verschiedene Sprichwörter in Jordaensʼ Oeuvre. Auch wenn das Phänomen der Visualisierung der formelhaften Wendungen nach dem heutigen Kenntnisstand seine Breite, Qualität und Dynamik nach dem Höhepunkt vom Ende des 15. bis Mitte des 16. Jahrhunderts verliert, hat es einen festen Platz in der Geschichte der Kommunikation und ist somit ein untersuchungswerter Teil des kulturellen gemeineuropäischen Gedächtnisses.
Fazit Es tut sich also ein Paradox der historisch orientierten Untersuchungen auf. Die Aussage, historische formelhafte Sprache sei nicht ihr Gegenstand, wäre falsch. Ebenso falsch wäre die Behauptung, historische formelhafte Sprache sei ein neuer Gegenstand der sprach- und – weiter gefasst – kulturhistorischen Forschung. Mit der Umorientierung der Sprachgeschichte zur Sprachgebrauchsgeschichte, mit dem wissenschaftsgeschichtlichen Paradigmenwechsel, der mit den Erkenntnissen der Kommunikationswissenschaft, der historischen Kulturwissenschaft (dazu zähle ich u.a. die Literaturgeschichte und Kunstgeschichte), der Ritualforschung und der historisch orientierten Konstruktionsgrammatiken setzt sich der Gedanke über die grundsätzliche formelhafte Organisation der menschlichen Kommunikation auch in historischen Fächern bzw. Teildisziplinen durch. In seinen Wurzeln geht er aber bereits auf das 19. Jahrhundert zurück, aus dem im Rahmen der vergleichenden Sprachwissenschaft die ersten Beobachtungen seitens der renommiertesten Sprachhistoriker stammen. Paradoxal bleibt
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die Situation dennoch, weil hier dieser Gedanke bis jetzt kaum zu Untersuchungen geführt hat, die das Format einer Einzelstudie überschreiten, den Bedarf an Grundlagenforschung im Bereich der historischen formelhaften Sprache nachholen, ihren Blick weg von der reinen Ermittlung der Etymologie und Rekonstruktion systematisch nach vorne auf die Untersuchung der Dynamik der Formelhaftigkeit, „auf die Formen und Muster komplexer sprachlicher bzw. kommunikativer Phänomene, auf Texte, Sprachhandlungen, kommunikative Routinen“ richten, wie es z.B. Angelika Linke (2003a, 50) im dritten Eingangszitat zu diesem Kapitel fordert. Die Zahl solcher Untersuchungen ist insbesondere im Bereich der linguistischen und volkskundlichen historischen Phraseologie- und Parömiologieforschung beachtlich, doch bleiben sie zumeist auf kleinere, nicht unbedingt zentrale Phänomene fokussiert, gehen dort, wo es Sinn machen würde, nicht über die Grenzen des eigenen Faches hinaus und suchen keinen Anschluss an linguistische Theorien. Somit bleibt die Erforschung der historischen Formelhaftigkeit ein theoretisches und methodisches Niemandsland, das zwar überraschen mag, aber auch zu der Frage führt, ob sich die historische Sprachwissenschaft dieses Niemandsland noch leisten kann.
3 Einblicke in die Kulturgeschichte der formelhaften Sprache Nam uera sententia est. nihil ex nihilo existere. Íſt áleuuâr dáZ man chît . fóne nîehte | nîeht uuérden. (Notker, Boethius, De consolation Philosophiae, Hs. A, 234, 4) do spraich her Gerard Cause ind Symon Moirat: | lassit vrolich uns hude myt der vart | myt heren Willem hynne ryden, | koinlich up unse viande stryden. | men spricht zo bispel ein wort: | werenden henden helpe Got. (Reimchronik des Gottfried Hagen 73r, 3499) Sprichwörter/Schöne/Weise/Herrliche Clugreden/vnd Hoffsprüch (S. Franck 1541) Eben das gilt auch von einaelnen Redesarten. Die voraFgliche Sch=nheit i_t local, und jeder _ch=ne Ausdruck hat _eine vornehm_te Sch=nheit von der Verbindung, worin er _ich befindet. […] Man trage einen _ch=nen Ausdruck aus dem vertraulichen Style in den erhabenen, und aus die_em in den mittlern, _o wird er ein Fehler werden. (Adelung, Über den deutschen Styl, 1785, III, 428)
Während in den zwei ersten Kapiteln die zentrale Rolle der formelhaften Wendungen und die Notwendigkeit ihrer umfassenden Untersuchung aus der Sicht unterschiedlicher Disziplinen bzw. Fächer herausgearbeitet wurden, stehen im vorliegenden Kapitel die historischen Quellen der Formelhaftigkeit im Fokus. Denn ihre kulturhistorische Analyse liefert zusätzliche Beweise für die in den beiden ersten Kapiteln vertretene These über die konstitutive Rolle der Formelhaftigkeit. Kulturhistorisch gesehen reicht das Interesse an formelhafter Sprache in die Frühgeschichte des Deutschen zurück; die ersten schriftlichen Zeugnisse fallen mit der Entstehung der Schriftlichkeit auf Deutsch zusammen. Die Wurzeln sind allerdings nicht genuin deutsch und nicht germanisch, sondern wie in vielen anderen („europäischen“) Vernakularsprachen mündlich vorgeprägt bzw. durch das antike lateinische und griechische Schrifttum begründet. Dabei richtete sich das Augenmerk der historischen Epochen nicht auf die gesamte Vielfalt der formelhaften Sprache in dem in dieser Arbeit vorgeschlagenen Sinn (vgl. die Einleitung und Kap. 4). Aber genau diese stärkere Beleuchtung bestimmter Typen und „das Verschweigen“ der anderen sind kulturhistorisch von Bedeutung und deshalb Gegenstand des vorliegenden Kapitels.
DOI 10.1515/9783110494884-004
98 | 3 Einblicke in die Kulturgeschichte der formelhaften Sprache
Ich werde dabei nur kursorisch auf das bereits Bekannte eingehen: Das Interesse an formelhafter Sprache ist im frühen Mittelalter im Wesentlichen auf den Typ reduziert, der in der Forschungsliteratur heute als Sprichwort im weitesten Sinn bezeichnet wird. Darauf, dass der gegenwärtige Begriff mit seinen historischen Pendants bîwort, bîspel, altsprochenwort, wort, wortelîn, proverbium und solchen gegenwärtigen Begriffen wie Gnomen, Sentenzen, Exempel, Reimsprüche usw. nicht deckungsgleich ist, hat die Forschung bereits mehrmals hingewiesen (Hallik 2007, Hanauska 2014, Filatkina/Gottwald/Hanauska 20091). Dieses Interesse ist auch im deutschsprachigen Raum seit dem Frühen Mittelalter nachweisbar und findet breiten wohl überlegten Eingang in die schuldidaktische Praxis der Sprachenvermittlung (Kap. 3.1). Beim gleichzeitigen Weiterbestehen des allgemeinen Interesses an Sprichwörtern und sprichwörtlichen Redensarten liefert uns das Hoch- und Spätmittelalter keine Zeugnisse für die Untersuchung der zeitgenössischen Einstellungen dazu. Sie müssen aus anderen Quellen und auf eine andere Art und Weise erschlossen werden (Kap. 3.2). Die Frühe Neuzeit belegt nicht nur das virulente Interesse an Sammlungen und ihrer Verwendungen bei Sprachvermittlung, sondern erweitert ihren Blick auch auf weitere Typen des Formelhaften und erhebt es zu einem wichtigen Vehikel im sprachtheoretischen „Kampf“ um Sprachlegitimation und Sprachkultivierung (Kap. 3.3). Während die Forschung bis jetzt der Epoche der Aufklärung, und insbesondere der Wirkung Johann Christoph Adelungs, eine starke Abwertung der formelhaften Sprache zugeschrieben hat, so soll dies im letzten Abschnitt des vorliegenden Kapitels (3.4) präzisiert werden.
3.1 Frühes Mittelalter: Notker III, der Deutsche Das Interesse an Sprichwörtern manifestiert sich im Frühen Mittelalter vor allem im Sammlungskontext. Die mittelalterliche Sammlungsüberlieferung deutscher Sprichwörter orientiert sich wie bereits bemerkt in ihren Formen und Funktionen an lateinischen Vorläufern. Ihre Entstehung und Verbreitung im Deutschen ist mit der Tätigkeit Notkers III, des Deutschen (um 950-1022) verbunden. Die Forschung beschränkte sich bis vor kurzem auf die einfache Feststellung, dass Notker in seinen Schriften, vor allem in ‚De partibus logicae‘, die so genannten Sprichwörter verwendet und auf ihre (zumeist) kommentarlose Auflistung. Die
|| 1 Zur historischen Genese des Begriffs sprichwort vgl. zuletzt Eikelmann (2016).
3.1 Frühes Mittelalter: Notker III, der Deutsche | 99
Zahl der angeführten Belege variiert zwischen zwei und zwanzig,2 eine einheitliche Terminologie bezüglich der Sprichwörter lässt sich hierbei nicht feststellen. In Filatkina/Gottwald/Hanauska (2009) wurde im Gegensatz zur älteren Forschung, die Notkers Sprichwörter entweder als Reflexe der Mündlichkeit bzw. Symbole der volkssprachlichen (deutschen) Kultur betrachtete, dafür plädiert, Notkers Umgang mit formelhaften Wendungen als eine Weiterführung der antiken Didaktik und Unterrichtsmethodik und formelhafte Wendungen als konstitutive Textelemente seines Schrifttums mit vielfältigen pragmatischen Funktionen zu interpretieren. Notkers Umgang mit formelhaften Wendungen illustriert das erste Eingangszitat zum vorliegenden Kapitel. Rhetorische Schriften der Antike, Grammatiken und Kommentare unterschiedlichster Art, mittelalterliche Glossare, Figurentraktate, Poetiken, Lehrbücher der artes dictandi und praedicandi enthalten ganze Abschnitte zu gnomischen Sätzen, was auf ihre bedeutende Rolle im antiken und mittelalterlichen Schulunterricht schließen lässt.3 Nicht nur das Exzerpieren von in den klassischen Texten angeführten formelhaften Wendungen, sondern auch ihr freies Formulieren, ihr Schmuck mit passenden Ornamenten und ihre Veränderung stellten laut Capua (1959, 41–43) und Curtius (1967, 67–68) Grundübungen des Unterrichts dar. Diese Traditionen führt Notker weiter. In seiner langjährigen Tätigkeit als Lehrer in der St. Galler Klosterschule entwickelte Notker III. didaktische Ansätze, deren Kern darin bestand, die Schultexte aus dem Lateinischen in die Volkssprache zu übersetzen und sie ausgiebig zu kommentieren, um dadurch den Schülern den Zugang zum Verständnis der Texte zu erleichtern. Meistens fügt Notker formelhafte Wendungen zu veranschaulichenden Zwecken in seine Kommentierungen bzw. Übersetzungen oder auch in den lateinischen Originaltext ein, wie dies etwa Beispiel (1)4 zeigt: (1)
A parte fit argum[en]tum ad totu[m] ita. | Vno membro languente c[om]patiunt[ur] omnia membra. Et in | euangelio. Si oculuſ tuuſ fuerit ſimplex totu[m] corpuſ luci|dum
|| 2 Vgl. den Überblick in Filatkina/Gottwald/Hanauska (2009, 353). 3 Vgl. dazu zuletzt Hallik (2007). 4 In diesem und allen folgenden Kapiteln werden die Beispiele entsprechend der Praxis der HiFoS-Nachwuchsforschergruppe diplomatisch nach originalen Überlieferungsträgern zitiert. Zuerst wird der Ausschnitt aus dem Kontext angeführt, in dem der eigentliche Beleg kursiv hervorgehoben ist. Die in den Handschriften und Drucken abgekürzten Stellen sind in eckigen Klammern aufgelöst. Die Angaben in einfachen Klammern beziehen sich auf die Belegstelle im Originaltext; die ID Nummer stellt die Referenz zur Einordnung des Belegs in der HiFoS-Datenbank her. Die sprachhistorischen Belege werden abschließend ins Neuhochdeutsche übersetzt. Die Abweichungen von dieser Zitierweise sind an entsprechenden Stellen erläutert.
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erit. [et] ſine qua[m] totu[m] corpuſ tuu[m] tenebroſum erit. Teu|tonice. Fóne démo límble ſo begínnit tír húnt léder éa|aen. A nota hoc e[st] ab [et]himologia fit argumentu[m]. (Notker, De partibus logicae, 53r, 17; ID 2699) Vom Teil wird der Beweis zum Ganzen so geführt: Mit einem müden Glied leiden alle Glieder mit. Und im Evangelium: Wenn dein Auge aufrichtig gewesen wäre, würde dein ganzer Körper hell sein. Und wenn nichtsnutzig, würde dein ganzer Körper dunkel sein. Zu Deutsch: Von dem Lederstückchen, so beginnt der Hund Leder zu fressen. Vom Bekannten her, das ist, von der sprachlichen Verwandtschaft her, wird der Beweis geführt.
Das Beispiel stammt aus Notkers Schrift ‚De partibus logicae‘ und beschreibt die Techniken der Beweisführung. Der antiken Redekunst entsprechend ist die Beweisführung dann erfolgreich, wenn vom Teil auf das Ganze geschlossen wird. In diesem Kontext kommt die Wendung Von dem Lederstückchen so beginnt der Hund Leder zu fressen vor. Sie ist ein früher Beleg in deutscher Sprache, der einzige aus dem 11. Jahrhundert, für das im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit reichlich überlieferte Sprichwort Wenn man den Hund schlagen will, so hat er Leder gefressen (TPMA 6, 238–239). Die Wendung ist griechischer Herkunft und hat im Laufe der Geschichte mehrere strukturelle und semantische Veränderungen erfahren. In den deutschen Texten des Hoch- und Spätmittelalters wird das antike Bild des Lederfressens mit dem Motiv des Beschuldigens, Schlagens oder Tötens des Hundes verknüpft (Eikelmann 1994, 95–107), was entscheidend für die später entstandene neue Bedeutung ‚wenn man jemanden unfair behandeln (z.B. grundlos beschuldigen) will, findet man immer einen Anlass‘ ist. Über welche aktuelle Bedeutung die formelhafte Wendung bei Notker verfügt, lässt sich nicht eindeutig entscheiden. Die Wendung schließt eine Reihe lateinischer Beispielsätze ab, über deren sprichwörtlichen Charakter ebenfalls keine genauen Aussagen gemacht werden können. Die Geläufigkeit der Wendung in der Volkssprache muss Notker dazu bewogen haben, sie als veranschaulichendes Beispiel bei der Erklärung der Techniken der Beweisführung zu verwenden. Die Verständlichkeit, und nicht die Herkunft aus dem Volksmund, die Singer (1944/1947, 58) fälschlicherweise angenommen hat, spielt hier die entscheidende Rolle und stellt sogar die Semantik des Belegs in den Hintergrund. Nicht auf sie, sondern auf die Bildlichkeit wird Bezug genommen: Auch ein Hund fängt an, Leder (das Ganze) zu fressen, indem/nachdem er mit einem Lederstückchen (ein Teil) begonnen hat und so auf den Geschmack gekommen ist. Die formelhafte (teilweise gereimte) Struktur spielt natürlich auch eine Rolle, denn sie erleichtert das Memorieren der schwierigen Passagen. Die Verständlichkeit in der Volkssprache und die konkrete Bildlichkeit machen den Mehrwert der Wendung gegenüber dem Lateinischen aus und motivieren Notker im Rekurs auf die gelehrt-
3.1 Frühes Mittelalter: Notker III, der Deutsche | 101
lateinische Tradition dazu, zahlreiche andere formelhafte Wendungen unabhängig von ihrer Herkunft aus dem „Volksmund“5 zu verwenden und auch eigene zu konstruieren bzw. konstruieren zu lassen. Ihre Funktionalisierung in Texten erweist sich als sehr vielfältig und führt u.a. auch zu der Notwendigkeit, die bisherige Definition des Begriffs „Sprichwort“ bei Notker zu hinterfragen (Filatkina/ Gottwald/Hanauska 2009). Die meisten Belege aus den Schriften Notkers übernehmen die Funktion der veranschaulichenden Beispielsätze. Die zweitgrößte Gruppe bilden die Wendungen, die zur Erklärung und Auslegung komplexer Inhalte christlicher, heidnischer bzw. allgemein philosophischer Natur herangezogen werden, gefolgt von Wendungen in der Funktion der Kommentierungen und Charakterisierungen. Eine mit Abstand kleinere Gruppe besteht aus Belegen in der Funktion von Generalisierung bzw. Schlussfolgerung – also in der Funktion, die typischerweise und fast ausschließlich Sprichwörtern zugeschrieben wird.6 Auch Sonderegger (2013, 243) weist auf das pädagogische Anliegen Notkers hin und hebt zusätzlich die Funktionen der Sentenzen als textliche Strukturelemente von der Titelgebung für einzelne Kapitel bis hin zur innehaltenden Reflexion oder zum prägnanten Abschluss eines Kapitels bzw. auch eines Psalmverses hervor. Formelhafte Wendungen dienen Notker zur Kommentierung und Auslegung, indem durch ihre sprachlich knappe Form nicht nur Paraphrasen zu Textstellen gebildet, sondern auch neue Gedanken eingeführt werden können, die über die eigentliche Textstelle hinausführen und neue Interpretationsansätze bieten. Zum Teil ist der inhaltliche Gehalt dieser Wendungen bereits in Vorlagen angelegt. Notker jedoch formt diese Kommentare um, strafft sie nicht nur formal, sondern auch semantisch, pragmatisch und bildhaft zu formelhaften Wendungen und gibt dadurch neue Denkanstöße vor. Diese formelhaften Wendungen können sowohl im Althochdeutschen existierende „Sprichwörter“, als auch von Notker selbst gebildete Beispielsätze sein, die er in den lateinischen oder in den sonst auch volkssprachlich gehaltenen Kontext einfügt. In einigen Fällen stellt Notker lateinischen formelhaften Wendungen eine deutsche Übersetzung zur Seite; dabei kann er teilweise die Form und/oder die Funktion modifizieren. Die Kontextualisierung der formelhaften Wendungen zeigt, dass Notker sie offensichtlich im Rekurs auf die gelehrt-lateinische Tradition verwendet. Formelhafte Wendungen mit derber Bildlichkeit, die eine größere Nähe zu mündlicher Kommunikation er-
|| 5 Darin wurde in der älteren Forschung oft der Grund für den Einsatz der Sprichwörter im Notkerschen Unterricht gesehen. 6 Dazu ausführlich Filatkina/Gottwald/Hanauska (2009, 359–378).
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warten lassen würden, finden sich kaum. Die Bedeutung formelhafter Wendungen im schulischen Unterricht ist deshalb vor diesem Hintergrund zu verstehen und eher nicht in der von der älteren Forschung manchmal falsch deklarierten Herkunft in der Volkssprache zu suchen. Andererseits ist die Funktionalisierung komplexer als in der antiken Rhetorik und Poetik.
3.2 Hoch- und Spätmittelalter Nach den ersten frühen Verwendungen im Schulunterricht Notkers werden die Sammlungstraditionen für mehrere Jahrhunderte (überlieferungsgeschichtlich bedingt?) unterbrochen, was aber keineswegs ein gesunkenes Interesse bedeutet, denn Sprichwörter, Sentenzen und Sprüche sind genauso wie Paar- und Routineformeln im Hohen Mittelalter in der zeitgenössischen Literatur greifbar und lebendig. Ich habe die literaturhistorischen Erkenntnisse diesbezüglich in Kap. 2.5 bereits dargelegt. Für das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit liegen hier seit Langem zahlreiche Untersuchungen vor (vgl. den Überblick in Haug/Wachinger 1994, für die Literatur der Frühen Neuzeit – Mieder 1989; 1992b), das Hohe Mittelalter, so z.B. die höfischen Romane, sind erst durch literaturhistorische Forschung systematisch ins Blickfeld geraten (zur Literatur vgl. Kap. 2.5). Auch wenn die metasprachlichen Äußerungen über Formelhaftes in dieser Epoche nicht direkt zugänglich sind, sind auch sie über den Gebrauch der Wendungen in der Literatur bzw. über die wendungsbegleitenden Kommentierungen erschließbar. Im Hoch- und Spätmittelalter richten sich solche Kommentierungen wie in den früheren Zeiten fast ausschließlich auf gnomische Ausdrücke in Form von Sentenzen, Sprüchen und Sprichwörtern. Dies veranschaulicht das zweite Eingangszitat am Anfang des vorliegenden Kapitels, das der Reimchronik des Gottfried Hagen entnommen ist. Der Erzähler kommentiert dort mit einem Sprichwort das Verhalten einer Person, die von einer anderen in die Flucht geschlagen wird. Ausgedrückt wird dabei der Gedanke, dass eine Flucht in manchen Fällen die bessere Strategie sei als ein schlechter Kampfausgang. Durch die metakommunikative Formel men spricht zo bispel ein wort wird diese Weisheit in den Bereich des allgemeinen Erfahrungswissens eingeordnet, wodurch ihre Gültigkeit bekräftigt wird (Hanauska 2014, 152). Die metasprachliche Markierung der formelhaften gnomischen Wendungen ist neben der Vertextung (auch dazu vgl. Kap. 2.5) eine weitere Konventionalisierungsstrategie: Durch die Randelemente wie als man giht/seit/spricht, das ist ein altsprochen wort usw. wird das autoritative Gewicht der Sentenzen und Sprichwörter gestärkt, die ihrerseits vielfältige Sprachhandlungen im Bereich der schulischen Unterweisung in der klösterlichen Bildungswelt, als schlagfertige Argumente im
3.2 Hoch- und Spätmittelalter | 103
Rahmen der höfischen Gesprächs- und Darstellungskultur oder bei der Kommentierung eines Erfahrungsgehaltes zum Ausdruck bringen. Während solche Kommentierungen in der Moderne eher relativierend eingesetzt werden, hat sie das Mittelalter genutzt, um Status und Funktionen des durch formelhafte Wendungen zum Ausdruck gebrachten gnomischen Wissens zu betonen (Eikelmann 1999, 304–310; 2002, 96–97; Hanauska 2014; Mieder 2001; 2004c,d; 2009b). Den metasprachlichen Kommentierungen sind Informationen zu Gebräuchlichkeit und Wahrheitswert, zu alltagssprachlicher Bewertung sowie zu (regional gebundener bzw. fremdsprachiger) Herkunft und Verbreitung der Wendungen zu entnehmen. Insofern spricht Eikelmann (2002, 101) „von einer historischen Tradition sprichwörtlicher Rede, die sich […] in der höfischen Literatur des Mittelalters formiert hat,“ aber auch in Einzel- und Sammlungsüberlieferung, in gelehrter lateinischer Verwendung oder auch in der Volkssprache auftritt. Dies sei exemplarisch an einem Beispiel veranschaulicht. Benutzt Notker das in (1) angeführte Sprichwort lediglich als ein veranschaulichendes Beispiel bei der Erklärung der Techniken der Beweisführung und führt es hinsichtlich der vermittelnden Inhalte kommentarlos an, geht der Erzähler in der Märe von der „Frauenerziehung“ aus dem zweiten Drittel des 13. Jahrhunderts damit anders um, vgl. Beispiel (2): (2)
daz pfert er mit den sporen ruorte; | in duht ez enwolde nicht rehte gan. | er muos eteswaz ze worte han | unde eteswaz erdenken. | so man den hunt will hencken, | man spricht, er si ein ledervraz, | der doch nie enkeines gaz. (Gesamtabenteuer 1967, 177)
Auf die allgemeine Bekanntheit der Wendung weist der Erzähler mit dem für das Hohe Mittelalter typischen Kommentar man spricht hin. Im Unterschied zu Notkers Werk begegnet hier das Sprichwort in einer anderen Form und in einer anderen funktionalen Umsetzung. Es ist kein veranschaulichendes, vom eigentlichen Inhalt abgekoppeltes Beispiel mehr, sondern eine komprimierte Weisheit, um deren Inhalt es dem Erzähler eigentlich geht und deren Bedeutung die Verwendung des Sprichworts in dieser konkreten Situation erst rechtfertigt. Das Sprichwort evoziert durch seine bildliche Grundlage mit dem Hund, den man schlägt, weil er angeblich Leder gefressen hat, die Erfahrungsregel über die zur Rechtfertigung des eigenen Verhaltens herangezogenen Scheingründe. Der Leser soll daraus die Verurteilung des rücksichtslosen, auf den eigenen Handlungserfolg bezogenen Vorgehens des Protagonisten der Märe ableiten und als Orientierungswert für das eigene Benehmen mitnehmen. || 7 Die Stelle ist auch in Eikelmann (1994, 96–97) besprochen.
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Neben diesen Funktionen der metasprachlichen Kommentierungen, die die literarischen bzw. sprachlichen Rahmen der Texte sprengen und im Bereich der Wissens- und Erkenntnisgestaltung anzusiedeln sind, weisen Hanauska (2014) und Reuvekamp (2007) auf andere Funktionen hin, die ich als textstrukturierend zusammenfassen möchte. Kulturhistorisch sind sie insofern interessant, als sich hier auch eine typische zeitgenössische Verwendung und somit eine Formulierungstradition entfaltet. Als Marker komprimierter Aussagen können sie in einen Text einführen und seine thematische Ausrichtung wesentlich bestimmen (man denke an die sog. ‚Proverbia Fridanci‘), einen Abschnitt bzw. den gesamten Text resümierend, bekräftigend, bewertend usw. abschließen sowie seine einzelnen Teile markieren und den Hörer bzw. Leser durch die Textstruktur führen.
3.3 Frühe Neuzeit: Die historischen Grammatiken des Deutschen Das auf Sprichwörter gerichtete Sammlungsinteresse erfährt nach einer hochund spätmittelalterlichen Unterbrechung im 15. Jahrhundert neue Impulse im rhetorisch-argumentativen Predigtkontext, bei der schulischen Vermittlung von Sprach- und Orientierungswissen oder auch allgemein im kolloquialen klösterlichen Gebrauch. Durch das starke Benutzerinteresse geprägt, konsolidieren sich im späten 15. Jahrhundert größere Sprichwort-, Sentenzen-, (Reim)Spruch- und Exzerptenbestände, die in den humanistischen und reformatorischen Sammlungen der Folgezeit unter neuen Prämissen verarbeitet werden. Die hohe Frequenz in literarischen Werken, das Vorliegen kulturhistorisch interessanter Sammlungen der Reformationszeit und die Massenkompilationen des sprichwörtlichen Guts im 17. Jahrhundert führen Mieder (2003, 2562) zur Bezeichnung des 16. Jahrhunderts als das „goldene Zeitalter für die sprichwörtliche Sprache“, „einen Kristallisationspunkt humanistischen Sprach- und Bildungsbewusstsein“ (Eikelmann 2003, 488). Dieser Text- und Wissensfundus übergreift mehrere geographische Räume, Sprachen, Literaturen, Formulierungs- und Gebrauchstraditionen. Heinrich Bebel, Sebastian Franck und Johannes Agricola begründen durch die Wertschätzung der Sprichwörter den Eigenwert der deutschen Kultur und bringen dies in Prosa und gelehrten Essays zur Geltung. Die Wertschätzung kommt im Titel der sprichwörtlichen Sammlung von Sebastian Franck deutlich zum Ausdruck, den ich an dritter Stelle einleitend zum vorliegenden Kapitel zitiere. Diese Wertschätzung begründet ferner die Aufnahme formelhafter Wendungen in Wörterbücher des 16. und 17. Jahrhunderts (Burger/Buhofer/Sialm 1982, 370–382; Korhonen 1998; vgl. auch Kap. 4 und 5 der vorliegenden Arbeit), indem sie auf Grund ihrer
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freilich im Zeichen der Zeit oft subjektiv postulierten sprachtypischen Gestalt für nationaltypische und deshalb kodifikationswürdige Ausdrucksmittel gehalten werden. Für weitere genauere Analysen greife ich zwei Quellentypen heraus, die bis jetzt entweder etwas weniger im Fokus der wissenschaftlichen Abhandlungen standen oder neue Einstellungen zur Formelhaftigkeit übermitteln und deshalb an dieser Stelle kulturhistorisch von Relevanz sind. Zur ersten Gruppe gehören die so genannten Sprachlehrbücher (Kap. 3.3.1), zur zweiten – sprachtheoretische Abhandlungen und die ersten Grammatiken des Deutschen (Kap. 3.3.2).
3.3.1 Formelhafte Sprache und frühneuzeitlicher Fremdsprachenerwerb Der Einsatz der formelhaften Wendungen im (früh)neuzeitlichen Sprachunterricht scheint ein gesamteuropäisches Phänomen zu sein: Knappe (2004), Murano (2006, 1013–1015) und Ebel (2003, 2136) stellen dies für das Englische, Französische, Italienische und Spanische fest. Als Mittel der Vermittlung von Sprachkompetenz war es in französischen Schulen vermutlich schon im 12. Jahrhundert üblich, die Schüler französische „Sprichwörter“ ins Lateinische übersetzen zu lassen oder dazu anzuhalten, ausgehend von einem französischen Sprichwort, das der Lehrer diktiert hatte, mehrere Variationen desselben zu produzieren und es beispielsweise in verschiedene Versmaße zu bringen (Altieri 1976, 34–36). In der Erleichterung des Memorierens auf Grund der Kürze und Prägnanz, in der Vermittlung von Weisheit durch ihre didaktische Haltung, Lebensdeutung, den praktischen und moralischen Rat sowie im Einsatz in Übersetzungsübungen bei der Vermittlung von Sprachkompetenz sieht Altieri die wichtigsten Funktionen der Sprichwörter im (französischen) schulischen Elementarunterricht. Ab dem 13. Jahrhundert scheint diese Übersetzungspraxis im Schulkontext gängig zu werden (Henkel 1979, 170–171). So hebt Henkel (1979, 170) die Umsetzung in Reimpaare als einen Typ der Übersetzung lateinischer Schultexte hervor, der für das Deutsche in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts mit den ,Disticha Catonis‘ einsetzt. Dabei wird mit der Übersetzung eines lateinischen Verses in zwei deutsche ein formaler Typus geschaffen, der seitdem bei der Übersetzung von Schultexten immer wieder auftritt und möglicherweise den Ausgangspunkt für die umfangreiche zweisprachige Sprichwort-Überlieferung bildet (Henkel 1979, 170–171). Diese Praxis war aber nicht nur bei der Vermittlung des Lateinischen üblich und schloss neben Sentenzen und Sprichwörtern auch andere Typen formelhafter Wendungen mit ein. Ich habe dies in Filatkina (2015a,b) am Beispiel der nie-
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derdeutsch-russischen Sprachlehrbücher gezeigt. Nach dem heutigen Kenntnisstand sind insgesamt fünf Sprachlehrbücher mit Russisch als einer der Sprachen aus der Zeitspanne 16.-17. Jahrhundert erhalten geblieben.8 Allen Quellen ist gemeinsam, dass sie für den privaten Gebrauch eines nach Russland entsandten deutschen Kaufmanns und nicht für den institutionalisierten Schulunterricht gedacht waren, nur in Handschriften überliefert sind und nie gedruckt wurden. Sie orientieren sich an den praktischen Bedürfnissen eines Kaufmanns, der bei Handels- und Verwaltungsgeschäften in Russland Russisch lernen will, und bestehen im Wesentlichen aus drei unterschiedlich ausführlichen Teilen: einem Vokabular, einem Dialogteil und einer Grammatik. In den Sprachlehrbüchern von Heinrich Newenburgk, Tönnies Fenne (TF) und im anonymen ‚Rusch Boeck‘ sind formelhafte Wendungen durch den ganzen Vokabularteil verstreut. Fenne führt sie auch separat auf, als eine Sammlung moralvermittelnder Sentenzen auf Hochdeutsch am Anfang seines Buchs (TF 4, 7 und 8) und auf Russisch mit Übersetzung ins Mittelniederdeutsche am Ende (TF 469–482). Er bezeichnet sie selbst als poslovozy „Sprichwörter“ und begründet ihre Auflistung mit der Häufigkeit im Russischen (TF 469, Zeile 1). Die Auflistung am Anfang enthält rund 25 Reimpaarverse gnomischen Charakters auf Hochdeutsch, mit denen Neid, Hass, Verleumdung, Schmeichelei und Trunkenheit verurteilt werden, z.B.: (3)
Darfür du ge|halten wil_t | werden. | Des tuhe dich beflei_zen auff | Erdenn (TF Bl. 4v)
(4)
Dorn und Distel stehen seher | Falsche Zungen noch viel meher | Ich will lieber in disteln und dorn baden | al_z mit falschen Zungen sein beladen. (TF Bl. 4v)
Das aufwändige graphische Layout der Auflistung kann als ein Indiz für den oben angesprochenen besonderen Stellenwert von Sprichwörtern im Sprachgebrauch des 16. Jahrhunderts gedeutet werden, der auch einem Kaufmannsgesellen bewusst gewesen sein muss.
|| 8 Vgl. die vollständige Auflistung mit Angaben zu Faksimile und Aufbewahrungsort in Filatkina (2015a). Vgl. ferner andere Zählungen in Günther (1999, 11–13) und Koch (2002, 32). Günther zählt zu dieser Gruppe vier andere Quellen hinzu, die aber nicht im Zusammenhang mit Fernhandel stehen, nicht von Kaufleuten bzw. Handelsbeamten verfasst wurden und in denen das Russische nicht dem Deutschen, sondern dem Lateinischen gegenübersteht (z.B. GrammaticaRussica von Heinrich Ludolf). Koch hingegen erwähnt das Sprachlehrbuch von Heinrich Newenburgk nicht.
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Die zweite, 26 Seiten lange Auflistung findet sich am Ende des Sprachlehrbuchs. Auch hier sind Sprichwörter und Idiome mit ausgeprägtem gnomischen Inhalt verzeichnet, die damals offensichtlich zum Wissensbestand einer humanistisch ausgebildeten Person gehörten und die Fenne beim Erlernen des Russischen in seinen praktisch orientierten Alltag als Kaufmannsgehilfe integriert. Auf Bl. 485 legt er einen neuen Teil an, in dem er obszöne und derbe „Sprichwörter“, also eigentlich Routineformeln in der modernen Terminologie, sammelt bzw. abschreibt. Diesen Teil leitet er mit einem Kommentar ein: Volgen etzliche schalkhafftigen | Sprichworter de de ruszenn | ihn ehrer sprake bruken. Ihr Vorkommen mag überraschen, allerdings sind sie ein wesentlicher Bestandteil absolut aller niederdeutsch-russischen Sprachlehrbücher und der vergleichbaren Quellen aus dem süddeutsch-italienischen Handel (McLelland 2004). Sie finden Eingang bereits in die ältesten überlieferten Sprachlehrbücher, etwa in die ‚Pariser (ahd.) Gespräche‘; die „Tradition“ erlischt auch in den zwei- bzw. mehrsprachigen Gesprächsbüchern und Grammatiken des 17. und 18. Jahrhunderts nicht. Glück/Häberlein/Schröder (2013, 280–281) lesen diese Teile der barocken Sprachlehrwerke in Anlehnung an Dinges (1989; 1993) und Schreiner/Schwerhoff (1995) vor dem Hintergrund des hohen Stellenwerts, den die persönliche Ehre in der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft hatte und die es im Fall von verbalen Injurien auch in einer fremden Sprache zu verteidigen galt. Selbst wenn der Kult der Ehre, wie z.B. Frömmigkeit, für den kaufmännischen Alltag auch gegolten haben möge, koexistiert sie hier doch mit der Direktheit des Umgangs, die gerade im Bereich der Beschimpfungen (übrigens auch unter Adligen und Frauen, vgl. Schubert 2012, 177–185) für einen großen Variantenreichtum sorgt. Bereits für das Mittelalter belegen historische Dokumente wie Stadtratsprotokolle und die Ordnungen der Hanse im Nowgoroder Petershof, dass Beschimpfungen, insbesondere Berufsschelte aus Konkurrenzneid, als Verstoß verstanden wurden, für die es hohe Geldbußen gab. Bedrohlich wirkten vor allem nicht die individuellen Konsequenzen dieser Gewalt, sondern ihre kollektiven Auswirkungen (etwa auf den Frieden in einer Stadt, Nachbarschaft, Gemeinde usw.). Fenne nimmt darauf keine Rücksicht und begründet die Aufnahme der Beschimpfungen in sein Sprachlehrbuch lediglich durch ihre Geläufigkeit im Russischen. In seinen umfangreichsten Teilen enthalten die Bücher die nach Sachgebieten geordneten Vokabulare, die aus einzelnen Wörtern und konzeptionell mündlichen Sätzen bestehen. Das Ziel ist dabei nicht die erschöpfende Beschreibung des gesamten Wortschatzes, sondern die Heranführung an die Themen der alltäglichen Kommunikationssituationen eines Kaufmanns: Gruß- und Geschäftsbrieffloskeln, Bezeichnungen für Berufe und russische Obrigkeit, Metalle, Pelz-
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und Salzarten, Kräuter, Stoffe und Farben, russische Währung, Schiffstypen, einzelne Wörter aus dem Bereich der Gericht- und Rechtsangelegenheiten, Zahlen oder Personen- und Ländernamen. Obwohl die meisten Einträge in diesem Teil Einzelwortlexeme sind, nehmen strukturelle Phraseologismen und Kollokationen hier auch einen festen Platz ein, z.B. beim Erlernen der Zeitangaben oder der Bezeichnungen für alltägliche Handlungen wie dem Pferdesatteln, vgl. die Beispiele aus Fennes Buch: (5)
ttzaszu togo
thor stundtt
‚zur Zeit, gleich‘
(TF 34, 22)
sego godu
van dußem iahr
dieses Jahr‘
(TF 36, 9)
lonni
tho iahr
‚letztes Jahr‘
(TF 36,10)
lonschogo
van tho iahr
‚vom letzten Jahr‘
(TF 36, 10) (TF 36, 11)
proshloi godu vorgangen iahr ‚letztes Jahr‘ ff prichodiastze god datt kumpstige iahr ‚nächstes Jahr‘
(TF 36, 12)
ventzatza
tho hope geuen
‚heiraten‘
(TF 41, 12)
obnus dai kon
tohme datt perdtt
‚Sattle das Pferd!‘
(TF 79, 9)
peki chlieba
backe brodtt
‚Backe das Brot!‘
(TF 81, 12)
Die Verfasser begehen nicht den Fehler, der selbst die moderne Fremdsprachendidaktik jahrzehntelang geprägt hat, die das Erlernen von Kollokationen und anderen formelhaften Wendungen als Bestandteil des Sprachunterrichts erst ab der Oberstufe für möglich hielt.9 Formelhafte Wendungen müssen die Kaufleute im 16.-17. Jahrhundert als wichtig für die adäquate Kommunikation angesehen haben, denn sie schreiben sie auf bzw. übernehmen sie aus älteren Vorlagen als unabdingbaren und geläufigen Teil des Wortschatzes. Einzellexeme bieten die Verfasser oft mit den typischen syntagmatischen Umgebungen an. Das Entstehen der Sprachlehrbücherwie auch der ersten Grammatiken in Vernakularsprachen (vgl. dazu unten Kap. 3.3.2) erklärt sich ferner aus dem praktischen Bestreben, den Kaufleuten bzw. den Schreibern in städtischen und fürstlichen Kanzleien ein Werkzeug in die Hand zu geben, mit dem sie lernen können, Deutsch richtig zu schreiben. Die Grammatik wird in den so genannten Formularund Kanzleibüchern vor allem als die Kunst des korrekten Schreibens verstanden. Zur Vermittlung dieser Kunst enthalten sie mehr oder weniger vollständige
|| 9 Vgl. zur „stiefmütterlichen“ Behandlung der Phraseologie seitens der Mutter- und Fremdsprachendidaktik bereits Kühn (1992). Dass die in Kühn (1992) angesprochenen Probleme immer noch aktuell sind, zeigen Hallsteinsdóttir/Winzer-Kiontke/Laskowski (2011).
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Briefmuster bzw. formelhafte Wendungen, die für den Gebrauch in der Geschäftsund Privatkorrespondenz gedacht und an sozial unterschiedliche Empfängergruppen adressiert sind. Auch darauf nimmt Fennes Buch Bezug: Es enthält auf den Bll. 264–269 das Kapitel „Von titulenn“ und russisch-hochdeutsche sowie auf den Bll. 531–538 polnisch-hochdeutsche vorgefertigte Briefmuster mit der Überschrift „ein forme zuschreiben.“ Insbesondere die Einträge auf den Bll. 265– 269 stellen musterhafte Ausschnitte aus den Briefen norddeutscher Kaufleute an die russische (Stadt)obrigkeit dar und erinnern an die Zeit der Wiederbelebung der Handelsbeziehung zwischen den beiden Ländern im Jahr 1599. Dabei werden formelhafte Wendungen wie das Kreuz küssen (TF 267, 3) verwendet, die noch zur Blütezeit der Hanse eine Entlehnung aus dem Russischen in die niederdeutsche Urkundensprache war, außerhalb des russisch-hansischen Handelskontextes nicht vorkam und in diplomatischen und Handelsverträgen als eine oft verbreitete ritualisierte Eidesleistung fungierte.10 Markant ist der Gebrauch der Wendung im anonymen ‚Rusch Boeck‘ (90a, 6–7): Sie verlässt hier den offiziellen schriftsprachlichen Vertrags- und Urkundenkontext und bekräftigt die Beschuldigung im Diebstahl: Du heffst myne war gestolen Ick will darup krütz küssen.
3.3.2 Formelhafte Sprache und frühneuzeitliche Sprachtheorie Die metasprachliche Auseinandersetzung mit formelhafter Sprache verlässt in der Frühen Neuzeit den Rahmen des institutionalisierten Sprachunterrichts bzw. des privaten Fremdsprachenerwerbs und avanciert im Deutschen wie in anderen Vernakularsprachen zu einem wichtigen Instrument der Sprachkultivierung und Sprachlegitimation. Die besten Beweise dafür liefern die barocken Grammatiken und sprachtheoretischen Traktate, die zwar teilweise auch für den Sprachunterricht konzipiert waren, allerdings nicht ausschließlich dieses Ziel verfolgen.11
|| 10 Dazu ausführlich Filatkina (2015a, 88–89). 11 Zu Phraseologismen in historischen Grammatiken vgl. grundlegend Burger/Buhofer/Sialm (1982, 360–366); Hundt (2000) zu Schottelius, Harsdörffer und Gueintz; Pilz (1981) zu Schottelius; Mieder (1974, 1975, 1982) zu Schottelius, Gottsched und Harsdörffer. In Weickert (1997) liegen die Schwerpunkte nicht auf den Funktionen der Phraseologismen oder den Zusammenhängen, in denen sie in den Grammatiken vorkommen, sondern auf der Geschichte der in Bezug auf Phraseologisches verwendeten Termini sowie auf dem Umgang der Grammatiker mit Phraseologismus-Typen wie Sprichwörter, Zwillingsformeln, konjunktionale, präpositionale und pronominale Phraseologismen. Auf Funktionen von Phraseologismen in den historischen Grammatiken des Englischen geht Knappe (2004) ein und liefert somit eine Vergleichsbasis für die
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Die ältesten grammatischen Schriften zum Deutschen und in deutscher Sprache datieren ins 15. Jahrhundert (Moulin-Fankhänel 1999; Moulin-Fankhänel 1994-1997). Unter „ältesten Grammatiken“ wird dabei nicht unbedingt das verstanden, was heute als Grammatik definiert wird. Historische Grammatiken des Deutschen sind vor allem durch prosaische Übersetzungswerke in humanistischer Tradition mit beigefügten Interpunktionslehren zum leichteren Lesen des Textes, durch Kanzlei- und Formularbücher mit orthographischen Teilen, Werke für den Schreib- und Leseunterricht mit entsprechenden grammatisch-orthographischen Abschnitten, Wörterbücher und Poetiklehren mit angeführter Grammatik vertreten (Moulin-Fankhänel 1999). Seit den 70er Jahren des 16. Jahrhunderts sind auch mehr oder weniger vollständige theoretische Abhandlungen zur Grammatik des Deutschen im Aufkommen; diese sind dabei oft in Latein verfasst. Auch wenn es anachronistisch klingen mag, so beginnen die ersten Versuche, formelhafte Wendungen sprachsystematisch zu verorten und zu klassifizieren, soweit ich sehe, bereits im 17. Jahrhundert. Schottelius stellt seine Definition der „Redart“ in strenge Abgrenzung zu den Begriffen Rede, Zeichen und Sinnbild. Bei „Redarten“ hebt er besonders ihre allgemeine Bekanntheit, Kürze, den lehrhaften Inhalt und den semantischen Mehrwert hervor, der dem Sprecher ermöglicht, sich ökonomisch auszudrücken. Harsdörffer (1643–1649, II, Bl. 313–315) unterscheidet zwischen a) „bekannten Reden“ (von ihm nimmt kein Hund ein Stück Brot), b) „Lehrsprüchen“ (Jung gewohnt, alt gethan) und c) „Gleichnissen und figurlichen Reden“ (es sind nicht alle gleich, die mit dem K(iser reuten), auch wenn es ihm nicht um die deutliche Auseinanderhaltung einzelner Typen voneinander geht, sondern um den Beweis der Ebenbürtigkeit des Deutschen: Es verfügt über ebenso viele Typen wie z.B. das Französische. In barocken Grammatiken nehmen formelhafte Wendungen einen breiten Raum ein und erfüllen ganz unterschiedliche Funktionen. Davon seien fünf exemplarisch herausgegriffen. 3.3.2.1 Formelhafte Wendungen und die Reinheit des schriftlichen Ausdrucks Das Entstehen der ältesten Grammatiken erklärt sich wie oben bereits erwähnt unter anderem12 aus dem praktischen Bestreben, den Schreibern in städtischen und fürstlichen Kanzleien ein Werkzeug in die Hand zu geben, mit dem sie lernen können, Deutsch richtig zu schreiben. Anknüpfend an die antiken Traditionen || Beantwortung der Frage nach der Behandlung der Phraseologie im gesamteuropäischen Kontext. Zum Deutschen vgl. ebenfalls Filatkina (2009b). 12 Das andere Entstehungsmotiv ist in der Tätigkeit der Schulmeister begründet, die für die Vermittlung des Deutschen grammatikographische Lehrwerke erarbeiteten.
3.3 Frühe Neuzeit: Die historischen Grammatiken des Deutschen | 111
verstehen z.B. die so genannten Formular- und Kanzleibücher die Grammatik vor allem als die Kunst des korrekten, d.h. ‚reinen‘, Schreibens. Zur Vermittlung dieser Kunst enthalten sie mehr oder weniger vollständige Briefmuster bzw. formelhafte Wendungen, die für den Gebrauch in der Geschäfts- und Privatkorrespondenz gedacht und an sozial unterschiedliche Empfängergruppen adressiert sind. So betont Fabian Frangk in seinem 1531 erschienenen ‚[Ein] Cantzley und Titel bFchlin‘ die Wichtigkeit des angemessenen Titulierens im Deutschen. Frangk zählt formelhafte Wendungen auf und bringt sie mit dem sozialen Status, der gesellschaftlichen Lage, dem Alter, Geschlecht und Verwandtschaftsgrad des Adressaten in Verbindung, z.B.: (6)
Folgen die Titel des | Undern grads an den Adel. | Einem Ritter vom Aldem | Adel / _chreibt man al_o. | Dem Edlen und Ge_trengen Herrn Ul|derichen choff / Got_che gnant / Ritter / auffm Rina_t und Greiffen_tein / Meinem gFn_tigen herrn. (F. Frangk, Cantzley und Titel bFchlin 1531, f. Eiijv)13
Frangk vertritt somit jene grammatikographische Strategie, die sich bis ins 17. Jahrhundert hinzieht. Nach dem heutigen Kenntnisstand ist das die älteste Stelle, an der Routineformeln in den Blick der deutschen Grammatiker geraten, obwohl Frangk metasprachlich keine Stellung zu den erfassten Einheiten bezieht. Ihm geht es vor allem um das stilistisch und rhetorisch konforme Erstellen von Briefen. Der korrekte Umgang mit formelhaften Ausdrücken im Hinblick auf ihre Institutionalisiertheit und Gebundenheit an den gesellschaftlichen Status der Adressaten ist für Frangk ein notwendiges Zeichen der stilistischen Kompetenz in der Schriftlichkeit. Im angemessenen Titulieren besteht für ihn die Kunst, ,rein zu schreiben‘. An zwei Stellen in seinem Werk (f. Jiijr; f. Jvr) berichtet Frangk, dass Briefe aller Art ohne „geschmFckten verblFmbten worten“ nach Luthers Vorbild bzw. nach dem Vorbild der besten Kanzleien verfasst werden sollen. Die Briefformeln dieser Art mögen aus heutiger Sicht gerade als ,verblümt‘ erscheinen, gehören aber laut Frangk zum Stil des 16. Jahrhunderts. 3.3.2.2 Formelhafte Wendungen und die Zierlichkeit des schriftlichen Ausdrucks Die Kunst, rein auf Deutsch zu schreiben, besteht nicht nur in der angemessenen Verwendung von Routineformeln in der Funktion von Anreden. Zur stilistischen Kompetenz in der Schriftlichkeit gehören auch Höflichkeit und „Zierlichkeit“ des
|| 13 Vgl. die Literatur dazu in Moulin-Fankhänel (1994-1997, I, 65–75) und Götz (1992).
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Ausdrucks. Das 1538 erschienene ‚HandtBFchlin grundlichs bericht‘ J. E. Meichssners14 enthält einen Abschnitt mit der Überschrift „Etliche Sprüchwœrter und verglychungen“. Darin werden fast ausschließlich mehr oder weniger feste Vergleiche angeführt: Grymmig Als ein Lew, Listig Als ein Fuchs, Kr(ftig Als ein Wolff, Hochfartig Als ein Pfow, kalt wie ys usw. Sich in der Schrift höflich und „zierlich“ auszudrücken, heißt laut Meichssner, die Weisheit der älteren gelehrten Männer nachzuahmen und die Einfältigkeit der Unwissenden zu vermeiden (f. Jr). Dazu verhelfen die Vergleiche, die die Weisheit inkorporieren, sowie die Idiome, die sich an den Stellen finden, an denen Meichssner Synonyme zu Wörtern anführt, die in den Briefen zu verwenden sind. Wertvoll ist Meichssners Kanzleibuch in der Hinsicht, dass er vermerkt, dass man Synonyme, „die im teutſchen ſchreiben wenig gebrucht/ [...] umb kür`e willen vnderlaſſen“ habe (f. Jijr). Den Auflistungen geht die Erklärung voran, dass derjenige, der sich auf Deutsch zierlich ausdrücken will, sich nicht wiederholen soll. Idiome werden dabei auf die gleiche Ebene mit Einzellexemen gestellt und eben als Mittel des Sich-Nicht-Wiederholens betrachtet. Die fehlenden metasprachlichen Aussagen über die Idiomatizität zeigen, dass die semantisch-pragmatische Spezifik dieser Einheiten in den Grammatiken zu der Zeit nicht im Vordergrund stand, trotz der bereits existierenden sprichwörtlichen und idiomatischen Sammlungen wie die von J. Agricola (1534) oder S. Franck (1541). Ausschlaggebend für die Auseinandersetzung mit Wendungen waren ihr formelhafter Charakter und die pragmatischen Werte des richtigen Titulierens. Formelhafte Sprache als Teil der Synonymik in den Kanzleibüchern ist als ein Reflex der im 16. Jahrhundert verbreiteten und auf die antike Rhetorik zurückgehenden Meinung aufzufassen, dass Eloquenz mittels der variatio, d.h. der alternierenden Synonymenverwendung, erzielt werden kann. Nicht umsonst wird in den Grammatiken und Rhetoriken des 16. Jahrhunderts für formelhafte Wendungen u.a. der Begriff sinonima rhetoricalia verwendet; so z.B. auch im Formularbuch L. Schwartzenbachs ‚Synonyma‘ (1554). Im Vorwort erklärt Schwartzenbach, dass er sich mit seinem Werk vor allem an junge Kanzlisten wendet, „die zu der`ierdeßredens und ſchreibens kommen m=gen“ (f. IIIv). Ähnlich wie bei Meichssner gilt sein Interesse nicht unmittelbar formelhaften Wendungen; nichtsdestoweniger sind sie – insbesondere Kollokationen – ein konstitutives Merkmal seines Formularbuchs. Seine Lemmata versieht Schwartzenbach nicht nur mit einer Synonymenreihe, sondern mit einem Kommentar zu
|| 14 Allgemein zum Werk vgl. Moulin-Fankhänel (1994-1997, I, 130–134) und Götz (1992).
3.3 Frühe Neuzeit: Die historischen Grammatiken des Deutschen | 113
ihrer syntaktischen Verbindung, was als ein Musterbeispiel auch für die gegenwärtige Wörter-in-Kontakt-Diskussion der modernen Linguistik betrachtet werden kann. Als Beispiel mag hier der Eintrag Abbrechen dienen, vgl. Beispiel (7). Nach der Auflistung der Synonyme zum Verb Abbrechen beschäftigt sich Schwartzenbach mit der Frage nach ihrer korrekten syntagmatischen Verknüpfung. Dabei werden auch die semantisch-pragmatischen Unterschiede zwischen den Synonymen ausgearbeitet: (7)
Abbrechen | Abblaten. | Abklauben. | Able_en. | Abnemmen. | Abrei__en. | Abawicken. | Wir _agen Blumen/ Opffel / Birn / Ker_chen / vnd dergleichen Ob_a ab||brechen oder abnemmen/ Aber nit Hopffen abbrechen / _ondern abblaten / | abklauben oder abawicken/ Al_o auch Wein oder Trauben le_en/ vnd nicht abbrechen noch abblaten. Derhalben_ind dergleichen vnter_chied auch in andern Synonymis waraunemmen / vnnd nicht alle vermi_cht gleich au gebrauchen. (L. Schwarzenbach, Synonyma, 1554, f. Aiij)
3.3.2.3 Formelhafte Wendungen und das ,reine Reden‘ Zierlichkeit und Höflichkeit sind nicht nur Elemente der schriftlichen Stilkompetenz. Besonders die Werke des 17. Jahrhunderts vertreten die Auffassung, dass Grammatik die Kunst ist, Deutsch rein zu schreiben und zu reden.15 Dabei fungieren formelhafte Wendungen als kennzeichnende Attribute des mündlichen Gesprächs, die nicht so sehr wegen ihres idiomatischen Charakters oder ihrer syntaktischen Festigkeit für die Mündlichkeit wichtig sind, sondern wegen ihrer Institutionalisiertheit und/oder sozialer Gebundenheit als Attribute der Sprache der Gebildeten, der wohlerzogenen barock-galanten Persönlichkeit. Diese Einstellung ist bereits bei Meichssner angeklungen, hat m.E. im 16. Jahrhundert ihren Anfang und reicht bis ins 19. Jahrhundert hinein (Linke 1996). Im Zeitalter des Barock gelangen formelhafte Wendungen deshalb in Texte, in denen man sie aus heutiger Sicht nicht unbedingt erwarten würde. G.P. Harsdörffer beschäftigt sich mit diesen Ausdrucksmitteln neben anderen Werken auch in seinem ‚Trincir-Buch‘ (1642), jenem Denkmal der barocken Tischkultur, das sich der Kunst des Tranchierens, also des regel- und kunstgerechten Zerteilens von Speisen, widmet. Sprache und gesittete Tischgespräche sind unabding-
|| 15 Vgl. exemplarisch ‚Hochdeutsche Kantzelley‘ von S. Butschky von Rutinfeld (1660), J. R. Sattlers ‚Teutsche Orthographey und Phraseologey‘ (1610); J. Kromayers ‚Deutsche Grammatica‘ (1625), C. Gueintz’ ‚Manuductio brevis ad orthographiam‘ (1684) oder J. Bellins ‚Hochdeudsche Rechtſchreibung‘ (1657). Weiterführende Literatur zu diesen Werken ist in Moulin-Fankhänel (1994-1997, II) zusammengestellt.
114 | 3 Einblicke in die Kulturgeschichte der formelhaften Sprache
bare Teile der zeitgenössischen Tischkultur, die genauso wie das Tranchieren gezielt in das Blickfeld des erziehenden Tischkultur-Schrifttums geraten (Moulin 2016). Die Erschließung der Herkunft der formelhaften Wendungen und ihr zwischensprachlicher Vergleich werden deshalb von Harsdörffer ganz zeitgerecht seinen Lesern als Themen für gepflegte Konversation vorgeschlagen. Dabei beschränkt er sich nicht ausschließlich auf Sprichwörter. Moulin (2016, 282–283) weist darauf hin, dass die Kollokation Bescheid tun ‚jemandem zutrinken, einen Trinkspruch erwidern‘ im ‚Trincir-Buch‘ zum Gegenstand eines Gesprächs wird. Ziel ist dabei, die Herkunft der Wendung zu erläutern, sie semantisch zu deuten, mit Französisch faire raison zu vergleichen, über ihren Gebrauch zu reflektieren und von den Gebrauchskontexten erzieherisch-didaktische Konsequenzen in Bezug auf die Vor- und Nachteile des Trinkens abzuleiten, vgl. Beispiel (8): (8)
Das Wort Bescheid kommet her von scheiden/ deßwegen die Bescheidenheit mit einem Siebe gemahlet wird/ das Böse von dem Guten zu unterscheiden/ oder abzusondern. Die Frantzosen nennen es farir [sic] raison […]. Es hat also das ansehen/ daß man bescheid thun/ daher geheissen/ weil durch solches zutrincken die Personen und Gläser bescheiden/ unterscheiden/ und gleichsam abgesondert erkennet und benennet werden. Hiervon ist die Frage: Woher doch dies Gewonheit entstanden? (G.P. Harsdörffer, Trincir-Buch 1657, 349–35016)
In den ‚Frauenzimmer Gesprächspielen‘ (1643–1649) greift G.P. Harsdörffer bei der Vermittlung der gehobenen Redekunst zur didaktisch gut geeigneten Form der Gespräche (Mieder 1974; 1975). Im zweiten Band schlägt er den höfischen Jugendlichen vor, nicht nur Briefe, sondern ganze mündliche Dialoge auf der Grundlage der sprichwörtlichen Redensarten zu führen. Die sprachspielerischen Musterdialoge sind in Form von kurzen Theateraufführungen verfasst (man vergleiche die Begriffe ,Die I. Handlung (Actus)‘ oder ,Der I. Auffzug (Scena)‘). Sie sind dem Bestreben geschuldet, eine ganze Komödie aus formelhaften Wendungen zu verfassen: Der erste Sprecher Lidias führt das Sprichwort Der Krug geht so lang zum Wasser, bis er bricht als Gesprächsthema ein, über welches diskutiert werden soll. Durch solche Gespräche wird den adligen Jugendlichen gezeigt, dass es vornehm ist, sich formelhaft auszudrücken. Die Möglichkeit, ganze Dialoge aus formelhaften Wendungen zusammenzustellen, betrachtet Harsdörffer ferner als ein Mittel, den Reichtum der deutschen Sprache zu beweisen und sie in eine Reihe mit dem Französischen, Italienischen und Spanischen zu stellen. Gerade weil formelhafte Wendungen den sprachlichen Reichtum symbolisieren, gehören sie zum vornehmen Redestil. Die Spielenden werden ähnlich wie Notkers
|| 16 Vgl. zu diesem Werk und seiner Verortung in der barocken Sprachphilosophie Moulin (2016).
3.3 Frühe Neuzeit: Die historischen Grammatiken des Deutschen | 115
Schüler aufgefordert, neue formelhafte Wendungen zu erfinden, um ihre Kompetenz in Bezug auf die Vielzahl der existierenden Wendungen auszuweiten (Hundt 2000, 382). Ihnen wird die Aufgabe gestellt, Sprichwörter zu variieren. Die Varianz soll vor allem die Flexibilität der Sprachbenutzer erhöhen und fungiert weiterhin als Indiz für die Elaboriertheit des Deutschen: Wo das Lateinische und Griechische über eine Form der Wendung verfügen, hat das Deutsche zahlreiche Möglichkeiten. Neben den oben aufgezählten komplexen Aufgaben bestehen drei weitere Grundformen der Sprachspiele darin, 1) den Ursprung der formelhaften Wendungen zu erklären, 2) ihre aktuelle Bedeutung zu klären und 3) die Wendungen in konkreten Verwendungskontexten einzusetzen17. Das Bestreben, adäquate Verwendungskontexte zu finden, ist in einem größeren didaktischen und sprachtheoretischen Rahmen zu sehen, in dem insbesondere Sprichwörter nicht zuletzt dank ihrem moralisch-lehrhaften Inhalt genauso wie Stammwörter als notwendige Elemente des primären und sekundären Spracherwerbs betrachtet werden. Damit sei das Spielen mit formelhaften Wendungen in einem größeren sprachtheoretischen Rahmen des 17. Jahrhunderts verortet, der am deutlichsten bei J.G. Schottelius zum Ausdruck kommt. Er stellt in der ‚Ausführlichen Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache‘ (1663, II, 1112) in der Einführung zu seiner Sprichwörterliste (Mieder 1982) die idiomatische Ebene des Deutschen gleichberechtigt neben die Stammwörter und bringt Formelhaftigkeit mit der Entwicklung des Deutschen in Verbindung: Die hohe Zahl an Wendungen wird auf das hohe Alter des Deutschen projiziert (Schottelius 1663, II, 1102). Der Zuwachs an Einheiten, die er als Sprichwörter bezeichnet, ergibt sich mit der Ausbreitung des Kommunikationsradius einer Sprache und findet seinen Niederschlag in der Möglichkeit, in einer Sprache dichterische Werke zu verfassen. Um den besonderen künstlerischen Wert des Deutschen hervorzuheben, stellt Schottelius bereits am Anfang seiner ‚Ausführlichen Arbeit‘ (1663) in der siebten Lobrede eine Liste der Wendungen mit der aktuellen Bedeutung ‚sterben‘ zusammen und wendet sich damit an die zeitgenössischen Dichter. Mit den angeführten Beispielen, unter denen sich übrigens die aus heutiger Sicht stilistisch niedrig markierten Ausdrücke wie ins Gras beißen finden, sollen die Dichter den Zustand des Sterbens bzw. Tötens poetisch umschreiben.18 Sprichwörter erfüllen für Schottelius außerdem eine präventive bzw. regulative Funktion (Hundt 2000, 360), denn der möglichst frühe Erwerb der lehrhaften Sprüche wird sich positiv auch auf die tugendhafte Erziehung der Jugendlichen || 17 Ausführlicher zu jedem Typ der Dialoge in Hundt (2000, 349–401, insbesondere 371–401). 18 Vgl. den Kommentar zu dieser Stelle „Dieses ist gut Teutsch [...]“ (Schottelius 1663, II, 1102).
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auswirken. Dieses Merkmal der Lehrhaftigkeit scheint nicht erst im 17. Jahrhundert entdeckt worden zu sein und erinnert an die ethisch-didaktischen Funktionen der Wendungen in den sog. Sprichwortpredigten Freidanks. 3.3.2.4 Formelhafte Wendungen und die erkenntniskonstitutive Funktion der Sprache Sprachpflege beinhaltet im 17. Jahrhundert ferner die Entwicklung des Bewusstseins für die erkenntniskonstitutive und welterschließende Funktion der Sprache (Gardt 1994, 227–235). Für das 17. Jahrhundert ist die Einstellung kennzeichnend, dass Wörter und Syntagmen (darunter auch formelhafte Wendungen) nicht einfach als Bezeichnungsmittel dienen, sondern das Denken der Sprachträger und die Welt konstituieren. So lesen wir bei Schottelius, dass formelhafte Wendungen, besonders Sprichwörter, der „Kern der Wiſſenſchaft/der Schluss aus der Erfahrung/der menſchlichen Hendel kur`er Ausſpruch und gleichſam des weltlichen Weſens Siegel“ (1663, II, 1102) sind. Sie inkorporieren die vox populi, die Erfahrung und die spezifischen Umgebungsbedingungen eines Volkes und werden in der metaphernreichen Diktion der Schottelius’schen Sprachtheorie sogar zu der ewigen Wahrheit, zur Vox DEI ,erhoben (Hundt 2000, 358). Zur Beherrschung einer Sprache gehört deshalb die Kenntnis der in den Wendungen tradierten Etymologie, worauf Harsdörffer ausführlich eingeht. Eine Definition des Begriffs Etymologie lässt sich zwar bei ihm an keiner Stelle finden, aber aus seinen Beispielen wird ersichtlich, dass er darunter sowohl das kulturell-historische Hintergrundwissen über einzelne Sprichwörter als auch die bildlichen Vorstellungen der Muttersprachler versteht. In Teil IV der ‚Frauenzimmer Gesprächspiele‘ plädiert er für die malerische Interpretation des in den sprichwörtlichen Redensarten tradierten kulturell-historischen Wissens. Ein junger Mann, Reymund, erzählt seinen Gesprächspartnern, dass ihm ein Wort in den Sinn gekommen ist und ihm Anlass zu seiner malerischen Auslegung gegeben hat, vgl. Abbildung 3). Es handelt sich dabei nicht um ein Wort, wie wir weiter lesen, sondern um das Sprichwort Es sei ein jeder seines Glücks selbst eigener Werkmeister. Dieses Sprichwort wird zum Anlass für eine Diskussion über das Thema Glück genommen. Die Spielenden kommen zum Schluss, dass man das eigene Glück aufbauen kann, wenn man 1) ehrlich ist, 2) sich selbst erkennt und 3) die eigenen Taten kritisch betrachtet. Reymund versucht, das Gesagte zu malen (1643–1649, IV, 256–257). Auf der ersten Seite des Bildes malt er ein Dreieck und eine Schnurwaage, mit welchen man die drei genannten Voraussetzungen genau messen kann und soll (vgl. Abbildung 4).
3.3 Frühe Neuzeit: Die historischen Grammatiken des Deutschen | 117
Abb. 3: G.P. Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächspiele 1643–1649, Teil IV, Bll. 254–255
Abb. 4: G.P. Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächspiele 1643–1649, Teil IV, Bll. 256–257
Auf der anderen Seite stellt er sich weitere handwerkliche Gegenstände vor, mit denen die drei Eigenschaften, die zum Glück führen, weiter bearbeitet werden sollten, so wie ein Handwerker, also Werkmeister, Holz bearbeitet. Umrahmt ist das Bild von dem Spruch Wer sich und andere recht erkennt (auf der ersten Seite) und richt alles zu benügtem End auf der zweiten Seite. Das Sprichwort soll offensichtlich daran erinnern, dass man ohne Selbsterkennung und Rücksicht auf andere nicht zum Glück kommen kann. Reymund bekennt zum Schluss, dass das zweiständige Sinnbild zwar einfältig und schlecht sei, aber guten Gesprächen Gelegenheit gibt und der Tugendlehre dient. In der für das 17. Jahrhundert charakteristischen Diskussion über den Ursprung der Sprachen fungieren formelhafte Wendungen auch insofern erkenntnisstiftend, als sie als wichtige Indizien für die Verschiedenheit menschlicher Sprachen begriffen werden. Genauso wie ein Stammwort ist ein Ausdruck landes-
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und sprachspezifisch, denn er „[...] nimt ſeine Auskunft als ein eigenes angebornes Landkind im Lande/wechſet und wird gebohren den Landsleuten im Munde/ und iſt alſo ein natuerlich Klang der Sprache und ein Ausſpruch und Schluß deſſen/was als eine Teutſche Landlehre/bekant worden“ (Schottelius 1663, II, 1111). Schottelius geht deshalb ausführlich auf die Schwierigkeiten des Übersetzens der formelhaften Wendungen ein und hebt wie Harsdörffer hervor, dass aus anderen Sprachen „verteutſchte“ Ausdrücke leicht als fremde zu identifizieren sind. Im Bestreben, die Eigenständigkeit der Muttersprache zu beweisen, erwähnt der Grammatiker allerdings nicht, dass solche von ihm ebenfalls als unübersetzbar eingestuften Wendungen wie Öl ins Feuer gießen oder alles über einen Kamm scheren (Bl. 1111) gerade in mehreren Sprachen verbreitet sind und daher im Hinblick auf ihre aktuelle Bedeutung und Bildlichkeit keine Verständnis- und Übersetzungsschwierigkeiten bereiten sollten. 3.3.2.5 Formelhafte Wendungen als veranschaulichende Beispiele Den oben vorgestellten Bereichen ist gemeinsam, dass formelhafte Wendungen dort nicht nur objektsprachlich behandelt werden, sondern auch wichtige Elemente der Metasprache im Prozess der Sprachbeschreibung und der Sprachlegitimation sind. Besonders deutlich tritt es in den Abschnitten in Erscheinung, die Poetiklehren bzw. Beschreibungen genuin grammatischer Phänomene enthalten. Formelhafte Wendungen werden dort zu veranschaulichenden Zwecken als Beispielsätze angeführt. Poetik mit ihren beiden Teilen Reim- und Dichtkunst ist konstitutiver Bestandteil der Sprachbetrachtung von Anfang der grammatikographischen Tradition an. Als Teil der Grammatik und die oberste Stufe der sprachlichen Kultivierung vermittelt sie, wie die deutsche Sprache situationsadäquat („kunstgründig“) und systemgemäß („grundrichtig“) im Bereich der Literatur verwendet werden kann. Der breite Einsatz der formelhaften Beispiele ist z.B. für Chr. Pudors ‚Der Teutſchen Sprache Grundrichtigkeit und `ierlichkeit‘(1672)19 kennzeichnend. Bei der Erklärung der Versfüße greift Pudor fast ausschließlich zu Sprichwörtern, Sentenzen und Maximen als veranschaulichenden Beispielen, wozu sie sich wohl dank ihres Rhythmus und Reims gut eignen. So findet sich als Beispiel für Trochäus der Eintrag Heute lacht das GlFck/ und morgen ſieht es ſauer (Bl. 114), für Dactylus – Verſchwiegenheit zieret die Jugend (Bl. 110), für Jambus – Gott iſt mein Troſt und Schutz (Bl. 112). Dabei ist aber das Heranziehen der formelhaften
|| 19 Vgl. die Zusammenstellung der Ausgaben und der Sekundärliteratur zu diesem Werk in Moulin-Fankhänel (1994-1997, II, 234–236).
3.3 Frühe Neuzeit: Die historischen Grammatiken des Deutschen | 119
Wendungen zur Erklärung der metrischen Zusammenhänge kein neues, von den barocken Grammatikern eingeführtes Verfahren. Wie oben gezeigt, ist es die gängige Praxis im frühmittelalterlichen Schulunterricht Notkers. In den Skopus der eng grammatischen Ausführungen gelangen formelhafte Wendungen nach wie vor unter dem Aspekt der Zierlichkeit des Ausdrucks und schlagen als polylexikalische Einheiten eine Brücke zu der sich im 17. Jahrhundert erst herauskristallisierenden Syntaxlehre. So geht J. Girbert in seiner ‚Deutschen Grammatika‘ (1653)20 ausführlich auf die Syntax (hier verstanden als „Wortartenverbindungslehre“) ein und beschäftigt sich mit der Frage, welche Stellung im Satz für verschiedene Wortarten zierlicher sei. Folgende „Redarten“ können ihm zufolge „au der aierlichen WortfFgung geaogen werden, welche: (9)
Vermittelſt der Præpoſionũ gemachet werden/ Von Jahren zu Jahren, Von Haus `u Hauß“ [...], 3) Durch reimen gleichſam `uſam=men kom=men/ als: Im Sau_e und Brau_e leben. Es kan Krafft und Safft geben. Er muß _ich _chmiegen und biegen. Ich habe dran ge_choben und gehoben. Weit und breit erkant und bekant. Viel geworben nichts erworben. [...] 4)Von Sprichw=rtern sind: Leer Stroh dre_chen. Sich bey der Naſen `iehen. Auff grFnen Zweig kommen [...] (J. Gilbert, Deutsche Grammatica 1653, ohne Seitenangaben)
Ähnlich verfährt Girbert bei der Hervorhebung der Notwendigkeit der Variation (syntaxis variabilis). Zum Ausdruck der reiche Mann ist endlich gestorben schlägt er folgende ausschließlich idiomatische Synonyme vor: hat die HFtten des Fleiſches endlich abgelegt. hat endlich auch die Erden k(wen mueſſen. hat abgelegt/ was er einmal der Natur ſchFldig war. Hat den Weg alles Fleiſches/ eben wie Lazarus, gehen mFſſen. hat auch endlich ins Graß beiſſen mueſſen.21 iſt endlich der Menschlichkeit entnommen worden. Wie auch in den obigen Beispielen stehen hier nicht die Spezifika der Wendungen im Vordergrund, sondern die Tatsache, in welchem Kasus dabei das Subjekt der reiche Mann steht. Mittels formelhafter Wendungen wird ferner die orthographische Kompetenz entwickelt. Indem die Rechtschreibung eines Lexems bzw. die Interpunktion im Satz erklärt wird, werden formelhafte Wendungen, insbesondere sprichwörtlichen Charakters, zu veranschaulichenden Zwecken angeführt. Dazu fühlen sich
|| 20 Vgl. die Zusammenstellung der Ausgaben und der Sekundärliteratur zu diesem Werk in Moulin-Fankhänel (1994-1997, II, 74–77). Zu den anderen insgesamt kaum untersuchten Werken Girberts vgl. bereits früh Bergmann/Moulin (1987) und Moulin (1986). 21 Das Idiom ist bei Schottelius ebenfalls erwähnt, vgl. Kap. 3.3.2.3.
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die ersten Sprachtheoretiker, vor allem auf Grund der Polylexikalität der Belege und ihrer Auffassung als ganze Syntagmen, berechtigt.22 Trotz der Tatsache, dass die formelhaften Spezifika hier nicht im Mittelpunkt des eigentlichen Interesses stehen, sind gerade diese Beispielsätze eine wichtige Quelle der historischen formelhaften Sprache, die eventuell Rückschlüsse auf die hohe Geläufigkeit der Wendungen zu der damaligen Zeit erlauben: Dass zur Erklärung grammatischer Phänomene seltene Wendungen herangezogen wurden, scheint angesichts der Orientierung der Grammatiker am ,gemeinen Gebrauch‘ eher unwahrscheinlich zu sein.
3.4 Das „critische“ 18. Jahrhundert: Johann Christoph Adelung Dem „critischen“ 18. Jahrhundert attestiert man die Stilllegung dieser Traditionen. Die aufklärerische Spracharbeit mit ihren zentralen Begriffen – Sprachreichtum, Sprachreinheit und Sprachdeutlichkeit – prägen vor allem zwei Ziele. Man ist zum einen weiterhin bestrebt, die Ausdrucksmöglichkeiten des Deutschen funktional bis hin zur Sprache der Wissenschaft und Kultur bei verstärkter Dialektabwertung und ausgeprägtem Fremdwortpurismus zu erweitern. Die Sprachkultivierung bedeutet die Leistungsfähigkeit des Wortschatzes für alle wichtigsten Lebensbereiche (nicht ausschließlich für die Poesie wie noch im Barock), nicht nur für repräsentative Zwecke, sondern für den allgemeinen Sprachgebrauch (von Polenz 22013, 133). Zum anderen richten sich die Bemühungen der Gelehrten auf die Erarbeitung grammatischer Regeln, die das Deutsche solchen Idealvorstellungen wie Wohlklang, „h=ch_t m=gliche Ver_t(ndlichkeit“ und Angemessenheit des Ausdrucks vor allem bei der Wortwahl näher bringen. Auf dieser Hintergrundfolie hat die gegenwärtige Forschung negative Einstellungen insbesondere zu Sprichwörtern den Quellen des 18. Jahrhunderts entnommen; in hohem Maße gelte dies für den „insgesamt wohl bedeutendsten Sprachwissenschaftler des 18. Jahrhunderts“ (Gardt 1999, 186) Johann Christoph Adelung. Auch wenn diese Schlussfolgerung im Allgemeinen nach wie vor gilt, kann sie in meinen Augen in vielen Aspekten präzisiert werden. Ich zeige es im vorliegenden Abschnitt exemplarisch anhand der Schriften Adelungs und vertrete die Meinung, dass die Ablehnung der Sprichwörter eben nur für diesen einen Typ der
|| 22 Vgl. exemplarisch die Belege im ersten Band des ‚Teutschen Secretarius‘ von G.P. Harsdörffer.
3.4 Das „critische“ 18. Jahrhundert: Johann Christoph Adelung | 121
formelhaften Wendungen und nur für ihre Verwendung in bestimmten Kommunikationssituationen und Textsorten gilt. Für die Auseinandersetzung mit der „critischen“ Sprachphilosophie Adelungs ist allein schon die aufklärerische Bedeutung des Begriffs Kritik als 1) Die Kun_t oder Wi__en_chaft, die Richtige Le_eart und den Sinn der alten Schrift_teller au be_timmen, und in weiterer Bedeutung, die Fertigkeit etwas nach den Regeln der Kun_t au beurtheilen, und die Wi__en_chaft der_elben; ohne Plural. 2) Die Anwendung der_elben in einaelnen Fällen, die Beurtheilung nach den Regel der Kun_t; mit dem Plural (J. Ch. Adelung, Grammatisch-Kritisches Wörterbuch, 21793-1801, 1792)
aufschlussreich. Obwohl Adelung in Bezug auf das Hochdeutsche und seine Abgrenzung von Mundarten einen apodiktischen Duktus wählt, wird hier ein beschreibender und bewertender Zugriff auf Sprache ohne scharfe Trennung zwischen der Deskription, Präskription und Bewertung postuliert. In der Vorrede zu seiner ‚Deutschen Sprachlehre‘ formuliert Adelung sein Ziel wie folgt: Es i_t bi_her in der deut_chen Sprache nur zu viel ent_chieden worden; e_ i_t Zeit, daß man einmal anfange, au prüfen und au untersuchen. [...] Ich habe mich bemFhet, das We_en der Deut_chen Sprache in ihr _elb_t aufzu_uchen [...]. (J. Ch. Adelung, Deutsche Sprachlehre, 1781, Vorrede, Bl. 21)23
In seinem Werk ‚Über den deutschen Styl‘ (1785, 1, 37) benennt Adelung ganz im Zeichen der Zeit folgende Eigenschaften/Merkmale des guten Stils der geschriebenen wie gesprochenen Sprache: 1) die Orientierung am Hochdeutschen bzw. der Schriftsprache, 2) Sprachrichtigkeit, 3) „Reinigkeit“, 4) Klarheit und Deutlichkeit, 5) Angemessenheit und Üblichkeit; 6) Präzision und Kürze, 7) Würde, 8) Wohlklang, 9) Lebhaftigkeit und 10) Einheit. Der gesamte erste Teil seiner Stillehre ist der Auseinandersetzung mit diesen Eigenschaften gewidmet. Während bei den Merkmalen 1) bis 6) formelhafte Wendungen wider Erwarten gar keine Erwähnung finden, sind veraltete, mundartliche, fremde und normwidrig gebildete Wörter und Formen sehr wohl Gegenstand der detaillierten Reflexion. Lediglich im Unterkapitel „Von der Würde des Styles“ beschäftigt sich Adelung mit „Au_drücken/Reden_arten/figürlichen Tropen“ und „Sprichwörtern und _prichwörtlichen Lehr- und Weide_prüchen“ (1785, 1, 218–222), die für ihn sprachliche
|| 23 Vgl. auch die deskriptiv-tolerante Zielsetzung im ‚Umständlichen Lehrgebäude der deutschen Sprache‘ (1782, 114), der Grammatiker sei „nicht der Ge_etageber der Nation, _ondern nur der Sammler und Herau_geber der von ihr gemachten Ge_etae“.
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Mittel des unedlen Stils sind. Ich führe die Adelungschen Begriffe bewusst in Anführungsstrichen an, weil er sie selbst an keiner Stelle in der Stillehre definiert und somit im Gegensatz z.B. zu Schottelius kein eigenes Konzept für diese sprachliche Ebene vorlegt. Aus den Beispielen wird allerdings ersichtlich, dass er mit der ersten Gruppe der Begriffe eher die heutigen Idiome beschreibt, die zweite Gruppe deckt sich weitgehend mit der heutigen Definition von Sprichwörtern. Bei der Begründung, warum solche Wendungen in der deutschen Schriftsprache unangemessen seien, ist Adelung sehr detailliert und „fortschrittlich“, indem er zwischen Konstituenten der Oberfläche und der bildlichen Grundlage als innere Form unterscheidet. Seine These, formelhafte Wendungen mit den stilistisch niedrig konnotierten Konstituenten oder mit der derben bildlichen Grundlage entsprächen nicht dem „edlen Stil der deutschen Schriftsprache“, unterscheidet sich kaum von den in modernen Stilistiklehren vertretenen Auffassungen. Ein großer Unterschied besteht allerdings darin, dass Adelung die Herkunft solcher Wendungen in den „niederen Classen“ der Gesellschaft sieht und ihre Verbreitung darauf eingeschränkt wissen möchte. Folgende Stelle in seiner Stillehre verdeutlicht dies: AusdrFcke, welche ein unedles Bild, einen beleidigenden Nebenbegriff enthalten, be_onders wenn das Bild oder der Nebenbegriff gana aus dem Conventionellen der untern Cla__en entlehnt i_t. Die_e Cla__e i_t die aahlreich_te, indem _ie _owohl einaele (sic!) W=rter, als auch ganae Redensarten, und be_onders die mei_ten Kraftw=rter un_erer neuern Schrift_teller in _ich fa__et. […] Ferner ganae Redensarten, wohin be_onders eine Menge tropi_cher AusdrFcke geh=ren, wo das Bild aus dem niedrigen Leben hergenommen i_t: einen zur Bank hauen, die mei_ten figFrlichen AusdrFcke mit Bart und Na_e, ins Gras bei__en, einem etwas einkauen, Haare auf den Ʒ(hnen haben, einem auf dem Hal_e liegen, am Hungertuche nagen, einem die Kolbe laufen, eine Schlappe bekommen, dicke thun, an einem Orte _tecken, nichts zu bei__en noch au brechen haben, es hinter den Ohren haben, _ich an jemanden reiben, den Braten riechen, etwas vor Begierde ver_chlingen, in die BFch_e bla_en, u.f.f. (J. Ch. Adelung, Über den deutschen Styl, 1785, 1, 218–219)
Seine Beispiele für „unedle Sprichwörter“ sind: Wer eher kommt, mahlt eher, gleiche Brüder gleiche Kappen, eine Kr(he hackt der andern die Augen nicht aus; an kleinen (sic!) Riemen lernen die Hunde Leder kauen und Ende gut, alles gut (ebd., 221). Einige Beispiele wie das Idiom ins Gras beißen und das Sprichwort vom Leder fressenden Hund können als Paradebespiele der historischen Grammatiken gelten. Sie demonstrieren den kulturhistorischen Wandel in Einstellungen zu solchen Ausdrücken: Empfehlen Schottelius und Gilbert das Idiom ins Gras beißen als vornehmen Ausdruck zur Verwendung in Dichtung (vgl. die Kapitel oben), greift Notker zum Sprichwort vom Leder fressenden Hund im schuli-
3.4 Das „critische“ 18. Jahrhundert: Johann Christoph Adelung | 123
schen Kontext (s. Beispiel 1), so werden beide formelhafte Wendungen von Adelung ganz anders bewertet. An mehreren Stellen bemerkt Adelung, dass das Deutsche sehr reich an solchen Ausdrücken ist. Auch wenn er sie im Kontext des 18. Jahrhunderts etwas subjektiv aus der Volkssprache herleitet, spricht er ihnen in Anlehnung an antike didaktische und rhetorische Traditionen das Merkmal der Anschaulichkeit und Lebendigkeit nicht ab. „[I]n _o fern _ind _ie aum Unterrichte des großen Haufens bequem“ (ebd., 221) und können in Ansprachen an das Volk verwendet werden. Adelung kommt nicht umsonst bei der Erläuterung der Lebhaftigkeit als übergeordnetes Merkmal des guten Stils nochmal auf Sprichwörter zu sprechen: Ari_toteles und Demetrius Phalereus empfehlen den Gebrauch der Sprichw=rter als Sch=nheiten. Allein beyde_ahen in ihren Vor_chriften vornehmlich auf =ffentliche Reden, welche an das Volk gehalten werden, und in die_er RFck_icht k=nnen Sprichw=rter ihren Nutaen haben. (J. Ch. Adelung, Über den deutschen Styl, 1785, 1, 519)
Die sprachtheoretischen Auffassungen Adelungs reichen im Bereich des Formelhaften aber weit über Sprichwörter und Idiome hinaus. So gehört die Verwendung der „Gleichni__e“ durchaus zum guten Stil, unter denen Adelung laut der angeführten Beispiele komparative Phraseologismen versteht. Auch hier ist ihm die Anbindung an klassische Traditionen bzw. an „vornehme Autoren“24 wichtig, diese rechtfertigt die Verwendung solcher Wendungen auch in der zeitgenössischen deutschen Schriftsprache und verleiht ihr eine besondere Lebhaftigkeit. Die nötige Wirkung können diese Stilmittel nur entfalten, wenn sie allgegenwärtig und verständlich sind. Als Figuren der „Gemütsbewegungen und Leidenschaften“ und somit auch als Mittel der Herstellung der Lebhaftigkeit entziehen sich Beteuerungen und Beschwörungen ebenfalls der negativen Abwertung: Ich _chw=r es, _o _ey _ie verflucht (ebd., 474–475). Zwar solle man mit ihrer Verwendung nicht übertreiben und sie nur einführen, nachdem der Leser entsprechend vorbereitet („erhitat“) wurde, aber sie sind in emotionsgeladenen Kommunikationssituationen angemessen und – hier steht Adelung wiederum ganz im Zeichen seiner Zeit – „bei den Alten“ bzw. den besten Autoren ebenfalls zu finden. Auch Sentenzen, Maximen und „Denksprüche“ bilden für Adelung angemessene Mittel der Lebhaftigkeit der Sprache:
|| 24 Namentlich erwähnt Adelung Klopstock und Balsac (Adelung, Über den deutschen Styl, 1785, I, 366–367).
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Maximen, Sentenzen oder Denk_prFche _ind kurae Aus_prFche, welche allgemeine practi_che Wahrheiten enthalten. Der Weg aum wahren Ruhm i_t Siegen oder Sterben, Weiße. Sie _ind ein Werk des Scharf_innes, und setaen ab_tracte, auf Erfahrung oder Vernunft_chlFffe gegrFndete Ideen an die Stelle der _innlichen, daher _ie auch keine An_chaulichkeit haben, und _ich vielleicht mit mehrerm Rechte au den Figuren des Ver_tandes rechnen la__en. Inde__en kann man _ie als den Uebergang und die Verbindung der Figuren der untern Kr(fte au und mit den HFlfsmitteln der h=hern an_ehen, und ihnen immer eine Stelle unter den er_tern la__en, aumahl, da _ie dem Gei_te eine angenehme Uebung im Denken geben, wenn _ie mit Klugheit angewandt werden. Sie mF__en _o kura als m=glich _eyn. […] Aber doch dabey klar und ver_t(ndlich; _ie mF__en ein Licht _eyn, welches einen großen Raum auf einmahl erleuchtet. (J. Ch. Adelung, Über den deutschen Styl, 1785, 1, 506–507)
Mit Blick auf dieses Zitat ist es in meinen Augen nicht anachronistisch zu behaupten, dass Adelung hier 200 Jahre vor der modernen Stilistik und Phraseologieforschung, wenngleich freilich noch intuitiv und ohne plausiblen theoretischen Hintergrund, den vielfältigen Aufbau der formelhaften Sprache andeutet und von fließenden Übergängen zwischen den einzelnen Typen ausgeht. Der funktionale Mehrwert solcher formelhaften Wendungen besteht nicht nur in der Lebendigkeit, er überlagert sich in Adelungs Argumentation mit dem übergeordneten Stilprinzip der Kürze und dem absoluten Anspruch, nur Wahres zu kommunizieren. Dass Maximen und Sentenzen etablierte Wahrheiten vermitteln, hebt Adelung (1785, 1, 507) als „eine ihrer nothwendig_ten Eigenschaften“ hervor.25 Was bis jetzt in der kaum überschaubaren Sekundärliteratur zu Adelungs Schriften nicht berücksichtigt wurde, sind seine Versuche im zweiten Teil der Stillehre detailliert unterschiedliche Textsorten sowie Kommunikationssituationen aufzuzeigen und auf ihre sprachlichen Mittel hin zu untersuchen. Hier lassen sich an keiner einzigen Stelle negative Äußerungen in Bezug auf die formelhafte Sprache als ungeeignete („unedle“) Stillelemente finden. Im Gegenteil: Adelung diskutiert die Typik der Text- und Redeformen und betont nicht nur ihren formelhaften Aufbau, sondern auch die Abhängigkeit der formelhaften Prägung vom Stil des Textes bzw. der Rede. Darauf deutet das letzte Eingangszitat zum vorliegenden Kapitel hin. Die Zierlichkeit eines bestimmten Stils kommt u.a. durch die angemessene Verwendung der für diesen Stil üblichen formelhaften Wendungen zustande. Überträgt man diese auf andere Kommunikationssituationen, kann es unter Umständen ein Fehler sein. Wie bereits die antiken Gelehrten und barocken Grammatiker weist Adelung auf den formelhaften Aufbau der feierlichen/pathetischen Reden (1785, II, 334–347 und 146–147) sowie der Briefe (1785, II, 326–334) || 25 Zu Wahrheitsbeteuerungen vgl. Kap. 5.2.3 und 6.3.
3.4 Das „critische“ 18. Jahrhundert: Johann Christoph Adelung | 125
hin. Aber auch bei der Beschreibung des „vertraulichen Styls“ (1785, II, 17) werden formelhafte Wendungen wie einen Bock machen, einem etwas eintrichtern, mit etwas fFrlieb nehmen, au Ga_te gehen, jemanden au Ga_te bitten angeführt. Wie auch schon barocke Sprachtheoretiker geht er hier ausführlich auf Interjektionen ein, die in der vorliegenden Untersuchung zu formelhaften Wendungen gezählt werden und deren Erforschung für die deutsche Sprachgeschichte fast komplett aussteht. Genauso zeichnet sich der „rFhrende Styl“ durch den Gebrauch typischer Wendungen aus, denn: Jede Art von Affecten hat ihren eigenen Gang der Ideen, ihre eigene Art der AusfFhrlichkeit und KFrae, ihre eigenen Wendungen, und oft ihre eigenen Figuren. (J. Ch. Adelung, Über den deutschen Styl, 1785, II, 131)
Deshalb sind „Gleichni__e, Fbertriebene, _elt_ame und niedrige Tropen“ (Adelung 1785, II, 241) auch in Texten des komischen Stils angebracht. Ähnlich geht er auch in der Stillehre vor, indem er z.B. die Entstehung des komischen Effekts durch die Verwendung der Idiome mit grotesker Bildlichkeit erklärt. Auch wenn hier die formelhafte Prägung nicht den eigentlichen Gegenstand der Ausführungen darstellt, sind die behandelten Beispiele als formelhaft zu bezeichnen und keineswegs negativ bewertet, vgl. die folgende Stelle: Von der Wahrheit i_t die Wahr_cheinlichkeit noch ver_chieden, welche inde__en eben _o nothwendig i_t. Sie bestehet darin, daß die Abweichung unter den angefFhrten Um_t(nden ge_chehen kann, oder mit anderen Worten, daß die ver_chiedenen Begriffe, welche man verbindet, ein Verh(ltniß gegen einander haben, weil _on_t ein Ungeheuer ent_tehet, Fber welches man nicht mehr lacht. Wenn jemand Fl=he hu_ten h=ret, _o i_t es l(cherlicher, als wenn er Gras wach_en h=ret, weil jenes wahr_cheinlicher i_t; indem das Hu_ten in tausend andern F(llen h=rbar i_t, und nur die Verbindung de__elben mit einem _o kleinen Thiere, als ein Floh i_t, das L(cherliche ausmacht. Allein das Wach_en h=ret man in keinem Falle, daher gehet mit der Wahr_cheinlichkeit auch das L(cherliche verlohren. (J. Ch. Adelung, Über den deutschen Styl, 1785, II, 211–212)
Ohne dass Adelung die erwähnten Typen der formelhaften Wendungen deutlich definiert und voneinander abgrenzt (vgl. auch Stantcheva 2003, 61), zeigen seine Ausführungen über die restringierte Austauschbarkeit der lexikalischen Konstituenten, dass ihm die strukturelle Festigkeit solcher Wendungen bewusst ist. Weitere in Burger/Buhofer/Sialm (1982, 166) und Kessler (2010, 225) bereits erwähnte Beispiele sind u.a. in den Sand setzen, nicht stellen, den Feind mit Tapferkeit empfangen, nicht aufnehmen, jemandes Schritte erleuchten, nicht aufklären
126 | 3 Einblicke in die Kulturgeschichte der formelhaften Sprache
und die Lage der Sachen, nicht Stellung.26 Obwohl er an die alten Traditionen anknüpft und trotz (oder gerade wegen?) seiner elitären, aufgeklärt-absolutistischen Auffassung von „h=herer Gesellschaftssprache“ kein eigenständiges abgeschlossenes Konzept der formelhaften Sprache vorschlägt, sind die in aller Deutlichkeit formulierten Gedanken über ihre textsortenspezifische Distribution und die hohe Präsenz in Texten unterschiedlicher Stile ein theoretisches Novum. Die Verwendung der formelhaften Wendungen im zweiten Teil des „Umständlichen Lehrgebäudes der Deutschen Sprache“ (1782, II, 293–294) als Beispiele bei der Erklärung grammatischer Regeln, oft ohne explizit ihren formelhaften Charakter zu thematisieren, erinnert an die Traditionen der barocken Grammatiker.27 In dieser Hinsicht ist Adelung deshalb „weniger Schlusspunkt als vielmehr Übergang, ein besonders interessanter Fall der Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität in der Geschichte einer Wissenschaftsdisziplin“ (von Polenz 22013, 177).
Fazit Das Ziel dieses Kapitels bestand darin zu beweisen, dass sich die Untersuchung der historischen formelhaften Sprache auch aus kulturhistorischer Perspektive notwendig ist. Die Notwendigkeit begründet sich aus metasprachlichen Einstellungen zur Formelhaftigkeit in älteren Epochen, die die in den Kapiteln 1 und 2 aus der Sicht der modernen Fächer zusammengetragenen Thesen, vorwissenschaftsgeschichtlich und kulturwissenschaftlich bestätigen. Was die deutsche Textüberlieferung betrifft, so sind solche Einstellungen ab der Frühen Neuzeit direkt als metasprachliche und sprachtheoretische Reflexionen über die formelhafte Sprache greifbar. Die Sprachlegitimierungs- und -kultivierungsarbeit, die sich erstrangig auf die Orthographie, Grammatik und (poetologische) Stillehre bezieht, bleibt der Formelhaftigkeit nicht verschlossen. Bewusst bzw. unbewusst werden unterschiedliche Typen formelhafter Wendungen in Sprachlehrbüchern, Grammatiken und sprachtheoretischen Traktaten berücksichtigt, unterstützt durch den seit der Antike existierenden Sammelkontext der Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten. Über diesen Sammelkontext,
|| 26 Ähnlich auch in der Vorrede zum ersten Band der 1. Auflage seines ‚Versuchs eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuchs‘ (1774–1786, XV): „bey Tische sitzen, aber nicht bey der Wand sitzen; zu Bette gehen, sich zur Ruhe verfügen, aber nicht zu Ruhe gehen, noch sich zum Bette verfügen […] und _o in una(hligen F(llen mehr.“ Kollokationen dieser Art wurden bekanntlich auch in der modernen Phraseologieforschung, wenn überhaupt, eher am Rande behandelt. 27 Laut Stantcheva (2003, 60) sind formelhafte Wendungen auch im ‚Grammatisch-Kritischen Wörterbuch‘ Beleg- und Illustrationsmaterial für die Grundbedeutung eines Lexems.
Fazit | 127
den Gebrauch der Wendungen in literarischen Texten und ihre metasprachlichen „Begleiter“ können die kulturhistorischen Einstellungen zur Formelhaftigkeit aber indirekt bereits im mittelalterlichen Schrifttum erschlossen werden. Exemplarisch wurde dies anhand der Schriften Notkers III. und der Ergebnisse literaturhistorischer Forschung verdeutlicht. Der unternommene freilich sehr exemplarische Streifzug durch die historischen Epochen zeigt, dass das Interesse an Formelhaftigkeit eine kulturhistorische Konstante ist, auch wenn es sich von einzelnen Typen auf andere verschiebt, nicht immer systematisch und theoriegebunden ist und die formelhafte Sprache oft unter rein bildlichen, stilistischen/rhetorischen oder kulturpatriotischen Aspekten verbucht. Das Bewusstsein, dass das Deutsche zahlreich über geläufige vorgeprägte Strukturen verfügt, die gleichzeitig Variation zulassen und die Typik unterschiedlicher Kommunikationssituationen konstruieren, ist aber konstant. Dieses Bewusstsein durchdringt verschiedene Textsorten und Überlieferungsstränge, vom Sammlungskontext in literarische Texte und zurück sowie weiter in das gelehrte Schrifttum, die Praxis der Sprachvermittlung und die Sprachtheorie. Es überwindet geographische Entfernungen und die Grenzen der historischen Epochen und sollte selbst für die nicht so weit zurückliegenden Zeiten in einigen Aspekten präzisiert werden. Auch in dieser Hinsicht erweist sich die mangelnde systematische Untersuchung der historischen formelhaften Sprache bzw. ihre Reduzierung auf bestimmte Typen wohl eher als eine (hoffentlich im Wandel begriffene!) Eigenart der Geisteswissenschaften des 20. und 21. Jahrhunderts.
4 Picking the beans: Zur Methodik der Untersuchung der historischen formelhaften Sprache Nunc leguminum messis – Now’s the time to pick the beans (Erasmus Adagia II vii 23) It is in the nature of historical corpora that they involve methodological problems which can differ substantially from those presented by the compilation of corpora of living languages, and the tools used for analyzing a modern language may be quite unsuitable for the historical stages of the same language. (Bennett/Durrell/Scheible/Whitt 2013, 8)
Das im vorangehenden Kapitel aufgezeigte theoretische Vakuum erklärt sich zu einem großen Teil durch die fehlende Methodik der Untersuchung der historischen formelhaften Sprache. Einen Beitrag dazu zu leisten, ist das Ziel des vorliegenden vierten Kapitels. Ich stütze mich auf die Vorgehensweise meiner Nachwuchsforschergruppe „Historische formelhafte Sprache und Traditionen des Formulierens (HiFoS)“1 und möchte, ohne die unstrittigen methodischen Vorteile der Korpus- und Computerlinguistik grundsätzlich zu hinterfragen (dies will ich ausdrücklich betonen!), einige gängige Annahmen dieser Disziplinen bei der Anwendung im Bereich der historischen formelhaften Sprache kritisch beleuchten. Bennett/Durrell/Scheible/Whitt (2013, 8) weisen im zweiten Eingangszitat oben aus der Sicht des GerManC-Projekts auf die Schwierigkeiten der Übertragung der gegenwärtigen Methodiken auf das historische Material hin. Im Folgenden werde ich diesen Gedanken durch die Erkenntnisse des HiFoS-Projekts konkretisieren und gleichzeitig einen Vorschlag zur Diskussion stellen, der die Erforschung der historischen Formelhaftigkeit dennoch möglich macht, auch wenn größere philologisch verlässliche Referenzkorpora für das ältere Deutsch immer noch fehlen und deren Zusammenstellung den Rahmen eines zeitlich begrenzten Projekts mit klar definierten, nicht im Bereich der Korpuserstellung liegenden Zielen ohnehin sprengen würde. In Kap. 2.4 sind einige dieser methodischen Schwierigkeiten bereits angeklungen. Ich fasse sie hier nochmals kurz zusammen und ergänze sie durch weitere Aspekte:
|| 1 Die Forschergruppe existierte in den Jahren 2007 bis 2013 an der Universität Trier und wurde durch den Sofja Kovalevskaja-Preis 2006 der Alexander von Humboldt-Stiftung finanziert (Stifter: Bundesministerium für Bildung und Forschung). Weitere Informationen dazu unter der URL: http://www.hifos.uni-trier.de.
DOI 10.1515/9783110494884-005
4.1 Formelhafte Sprache und (historische) Wörterbücher | 129
1)
Für die Ableitung einer empirisch unterstützten Theorie der historischen formelhaften Sprache fehlt es der Forschung gegenwärtig an Datenmaterial. 2) Dieses Datenmaterial kann zwar sowohl aus historischen Wörterbüchern im weitesten Sinne des Wortes als auch aus älteren Primärtexten gewonnen werden. Beide Quellentypen stellen allerdings unterschiedliche Überlieferungsstränge dar und enthalten unterschiedliche Daten (Kap. 4.1). 3) Für die allumfassende Auswertung der textuellen Überlieferung, wie sie etwa die HiFoS-Gruppe für das älteste Deutsch durchgeführt hat, fehlen große Textkorpora, die Annotationsstandards für formelhafte Wendungen sowie die korpuslinguistischen Werkzeuge zu ihrer Identifikation, die den Herausforderungen der hochvariablen kaum normierten Sprachzustände gerecht wären. Die Kompilierung eines Korpus für die Untersuchung der historischen formelhaften Wendungen muss teilweise durch andere Prinzipien geleitet werden (Kap. 4.2). Einen möglichen Weg für die Lösung dieser Schwierigkeiten stelle ich im abschließenden Teil des vorliegenden Kapitels am Beispiel der ahd. Textüberlieferung und des HiFoS-Datenbankkonzepts vor (Kap. 4.3).
4.1 Formelhafte Sprache und (historische) Wörterbücher Bei der Analyse des Forschungstandes im Bereich der historischen formelhaften Sprache (Kap. 2, insbesondere Kap. 2.4) habe ich die Wörterbücher, die sich gezielt der Formelhaftigkeit widmen, im Sinne der Sekundärquellen bzw. Nachschlagewerke verstanden und darauf hingewiesen, dass sie für meine Fragestellung – Untersuchung der Dynamik der historischen formelhaften Sprache im Wandel – wenig hilfreich sind. An dieser Stelle betrachte ich Wörterbücher als Primärquellen. Die im Paradigma der klassischen Phraseologieforschung durchgeführten Untersuchungen zur formelhaften Sprache (Kap. 2.4) bedienten sich lange Zeit der Wörterbücher als Quelle des empirischen Materials. Insofern mag es nicht überraschen, dass die Möglichkeit der Nutzung der älteren Wörterbücher (Kap. 4.1.1) bzw. der modernen Sprachstadienwörterbücher (Kap. 4.1.2) auch für historische Untersuchungen in Erwägung gezogen werden könnte. Ich möchte meine Gedanken anhand eines Beispiels aus zweifacher Sicht konkretisieren. In Kap. 4.1.1 werde ich zunächst mit Hilfe des Idioms Perlen vor die Säue werfen die große Diskrepanz beim Umgang mit Variation in historischen Texten und historischen Wörterbüchern, die keine „idiomatischen“ Wörterbücher sind, aufzeigen; in Kap. 4.1.2 steht daran anschließend ein modernes Sprachstadienwörterbuch, nämlich das ‚Althochdeutsche Wörterbuch‘(AWB) der Sächsischen Akade-
130 | 4 Zur Methodik der Untersuchung der historischen formelhaften Sprache
mie der Wissenschaften, im Mittelpunkt, weil es für das meiner Untersuchung zugrunde liegende Material unentbehrlich ist. Auch hier werden sich neben Vorteilen einige Nachteile und Diskrepanzen gegenüber der Textüberlieferung auftun. Beim Vergleich der Textbelege mit den Wörterbucheinträgen geht es mir nicht um die Aufdeckung der lexikographischen Mängel bei der Darstellung der formelhaften Wendungen (dieses Thema ist in der Phraseologieforschung nicht neu und gut beschrieben2), sondern vielmehr um die Tatsache, dass Wörterbücher und Korpora jeweils ein unterschiedliches Bild von Varianz bei formelhaften Wendungen vermitteln. Burger (2000, 42) bemerkt in Bezug auf die Wörterbücher des modernen Deutsch: Wie empirische Untersuchungen zeigen, täuschen die Angaben in den Lexika, auch in den phraseologischen Spezialwörterbüchern, ein Bild vor, das der Sprachwirklichkeit vermutlich nicht entspricht. Die kodifizierten und damit als standardsprachlich tolerierten Varianten entsprechen bei weitem nicht der Vielfalt von Varianten, wie sie in gesprochener – und teilweise auch geschriebener Kommunikation vorkommen.
Das bedeutet nicht, dass Wörterbücher zur Untersuchung der Varianz im Bereich der formelhaften Wendungen nicht herangezogen werden können. Wie KleineEngel (2012) für das Luxemburgische und Dräger (2010; 2011) für das Deutsche nachweisen, gibt es Varianz durchaus auch in Wörterbüchern, nur ist sie anders motiviert. Beide Quellentypen sind für die Untersuchung der Variation jeweils auf ihre eigene Art und Weise unerlässlich, unterscheiden sich aber nicht nur im Umgang mit dieser, sondern auch in ihren Beständen, denn sie überliefern in unterschiedlicher Frequenz teilweise völlig unterschiedliche formelhafte Wendungen.3
|| 2 Vgl. stellvertretend Moon (2007) und für das Deutsche Müller/Kunkel-Razum (2007). 3 So tradieren z.B. die sprichwörtlichen Sammlungen Körte (1837/1974) und Eiselein (1838) folgende Varianten für das Idiom etwas auf dem Kerbholz haben: aufs Kerbholz losleben, aufs Kerbholz lossündigen, auf dem Kerbholz stehen, aufs Kerbholz borgen, aufs Kerbholz nehmen, einem auffs Kerbholz schneiden, einem etwas auffs Kerbholz schreiben. Die HiFoS-Datenbank enthält keinen einzigen Beleg, der das Vorkommen dieser Varianten in Texten nachweisen würde. Vgl. Filatkina (2012, 28–29).
4.1 Formelhafte Sprache und (historische) Wörterbücher | 131
4.1.1 Varianz in Texten und Wörterbüchern Aus der Vielfalt der formelhaften Wendungen greife ich das Idiom Perlen vor die Säue werfen4 heraus, weil es im heutigen Sprachgebrauch ein seltenes Beispiel für eine tatsächlich in hohem Maße feste formelhafte Wendung ist. Mit diesem Beispiel soll veranschaulicht werden, dass eine der Herausforderungen, die bei der Untersuchung und Abbildung der Varianz im Bereich der formelhaften Wendungen zu berücksichtigen ist, darin besteht, dass unterschiedliche Typen von Varianz im Normal- und Regelfall gleichzeitig und gehäuft zu einem Zeitpunkt aufkommen und gegenseitig aufeinander wirken. Bedingt ist dies dadurch, dass formelhafte Wendungen oft Phänomene sind, die nicht einer sprachlichen Ebene zugeordnet werden können, sondern sich zwischen Lexik, Grammatik, Pragmatik und Diskurs bewegen. Das bedeutet für den Sprecher/die Sprecherin die gleichzeitige Kenntnis der lexikalischen, grammatischen, pragmatischen sowie der allgemeinen kommunikativen Konventionen einer Sprache, um die formelhafte Wendung angemessen verwenden zu können. So muss er oder sie beim Gebrauch des Idioms Perlen vor die Säue werfen wissen, dass eben diese Konstituenten und nicht andere (etwa *Rubine unter die Ferkel legen) vorkommen müssen, damit die übertragene Bedeutung ‚etwas Wertvolles vor jemandem vergeuden, der/die das nicht zu schätzen weiß‘ aktualisiert werden kann, obwohl auch diese Varianten (etwa bei spielerischen Modifikationen) nicht auszuschließen sind. Die Substitution der verbalen Konstituente Perlen vor die Säue schmeißen und die Passivierung (Hier werden musikalische Perlen vor die Säue geworfen) sind ausgehend von den Analysen im DWDS-Korpus, DeReKo und im Leipziger Wortschatzportal aber auch bei neutraler, nicht spielerischer Verwendung zulässig. Einige grammatische Veränderungen an den einzelnen Konstituenten (etwa *eine Perle wurde unter die Sau geworfen) zerstören ebenfalls die idiomatische Bedeutung, andere grammatische Varianten sind in den Korpora wiederum belegt, z.B. Das ist doch Perlen vor die Säue geworfen! und öfter sogar mit Auslassung der verbalen Konstituente: Das ist/wäre Perlen vor die Säue! Die Korpora zeigen, dass die zuletzt genannte Form heutzutage das präferierte strukturelle Muster bei der Verwendung dieses Idioms in schriftlichen Texten ist. Schließlich muss der Sprecher/die Sprecherin wissen, dass die Wendung pragmatisch gesehen im gegenwärtigen Deutsch eher ein Kommentar für Verschwendung, sinnlose Tätigkeit ist (Pragmatik), dass sie nicht in die gehobenen
|| 4 Vgl. die umfangreiche Literatur zu diesem Idiom, seinen ikonographischen und theologischen Traditionen sowie Entsprechungen in anderen Sprachen in Piirainen (2012, 231–235) und Dobrovolʼskij/Piirainen (2009, 35–36). Vgl. ferner Filatkina (2013; 2016) und Kap. 5.4.2.
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Stilregister gehört (Stil), dort aber unterschiedlich thematisch kontextualisiert werden kann (Diskurs: vorstellbar ist eine Kommunikationssituation zu einem beliebigen Thema, in der beliebige Tätigkeiten mit diesem Idiom als Verschwendung charakterisiert werden kann). Die auf der Verwendung basierte Abbildung der Varianz bedeutet für den Lexikographen die Berücksichtigung eben all dieser Ebenen. Diesem gegenwartssprachlichen Befund stehen 33 Belegstellen aus den historischen Texten vom 9. bis hin zum 16. Jahrhundert gegenüber, in denen die Wendung kein einziges Mal in der gleichen morphosyntaktischen Struktur und lexikalischen Besetzung vorkommt.5 Auch die Bedeutung des Idioms Perlen vor die Säue werfen verändert sich im Laufe der Geschichte. Dabei handelt es sich um die im 13. Jahrhundert beginnende Bedeutungserweiterung in kleinen Schritten, die vom Übergang in ein anderes Stilregister und einer anderen Textsortenpräferenz (religiös > profan) begleitet ist. Die Belege aus den Texten veranschaulichen einen schwächeren Grad an Lexikalisierung in der Diachronie sowie synchron auf den historischen Sprachstufen des Deutschen und zeigen ein Nebeneinander von Varianten mit unterschiedlicher Komponentenzahl und externer Valenz sowie die topologische, morphologische, grammatische und lexikalische Variation. Angesichts der anders als heute gelagerten syntaktischen Einbettung und der ausgeprägten semantisch-pragmatischen Komponente ‚Vermittlung der Moral, Belehrung‘ ist es für die älteren Sprachstufen schwierig, die Wendung als Idiom zu bezeichnen. Es ist eher ein Sprichwort, eine Sentenz. Sprichwörter, feste Phrasen und Sentenzen dienen in der Diachronie oft als Ausgangsbasen für zukünftige Idiome. Der Typenwechsel bildet einerseits gleichzeitig einen der Verfestigungswege der formelhaften Wendungen, andererseits kann er über den Abbau der morphosyntaktischen Struktur zur Entstehung von Einzellexemen führen und ist somit als Mittel der Wortbildung zu betrachten. Für die Untersuchung der Varianz beim Idiom Perlen vor die Säue (werfen) in den (historischen) Wörterbüchern beschränke ich mich exemplarisch auf diejenigen, die über das Trierer Wörterbuchnetz6 miteinander verbunden sind, und verwende im Folgenden für die Titel der Wörterbücher die im Verbund gängigen
|| 5 Die einzelnen Veränderungsprozesse sind in Kap. 4.4.2 sowie an zwei anderen Stellen (Filatkina 2013; 2016) ausführlich beschrieben. Hier seien deshalb die wichtigsten Aspekte lediglich zusammengefasst. 6 http://woerterbuchnetz.de/.
4.1 Formelhafte Sprache und (historische) Wörterbücher | 133
Abkürzungen.7 Die Ressourcen des Wörterbuchnetzes habe ich aus Gründen der thematischen Relevanz um weitere Quellen ergänzt: – ‚Das Wörterbuch der deutschen Sprache‘ von Joachim Heinrich Campe, – ‚Das Wörterbuch der deutschen Sprache‘ von Daniel Sanders, – ‚Der Teutschen Weissheit‘ von Friedrich Petri, – ‚Das Deutsche Sprichwörterbuch‘ von Joachim Christian Blum und – ‚Die deutschen Sprichwörter‘ von Karl Simrock. Ich bin mir dessen bewusst, dass es sich um konzeptionell sehr unterschiedliche Werke handelt, die nicht unmittelbar miteinander vergleichbar sind. Für die Fragestellung des vorliegenden Kapitels – Aufdeckung der Besonderheiten im Umgang mit Varianz bei formelhaften Wendungen in Wörterbüchern und Texten – können die Quellen aber durchaus allgemeine Tendenzen aufzeigen. Dabei beziehen sich meine Ausführungen ausschließlich auf das Idiom Perlen vor die Säue (werfen). Gegenbeispiele, die in Wörterbüchern anders bearbeitet sind, lassen sich selbstverständlich auch finden, zahlreich sind sie aber nicht. Die allgemeinen Tendenzen in der Dokumentation der Varianz spiegelt das ausgewählte Beispiel trotz der eventuellen Gegenbeispiele gut wider. Würde man anhand des Vorkommens des Idioms in historischen Wörterbüchern Rückschlüsse auf seine Geläufigkeit ziehen wollen, käme man zum Schluss, dass Perlen vor die Säue (werfen) nicht zu den verbreiteten Wendungen des Deutschen gehört. In vielen der im Wörterbuchnetz erfassten Quellen sind weder dieses Idiom noch seine Varianten verzeichnet, so z.B. nicht in Lexer, BMZ, MHDBDB, FindeB, DRW, RhWb, PfWb, LoWb, LWb, LLU, WLM.8 Die Besonderheiten, von denen unten noch die Rede sein wird, erklären sich aus der allgemeinen lexikographischen Praxis der historischen (und gegenwärtigen) Wörterbücher, die darin besteht, dass formelhafte Wendungen in deutlichem Unterschied zu Einzellexemen keinen Lemmastatus haben, sondern lediglich als veranschaulichende Beispiele für die Verwendung eines Lexems angeführt werden. Als „versteckte Informationen“ sind sie den Lexemen „beigegeben“, die nach Auffassung der Wörterbuchautorinnen und -autoren sinntragende Konstituenten in der Struktur der Wendungen sind. So finden sich im DWB (13, 1547–1555) unter Perle nach der rein auf die übertragene Bedeutung des Lemmas und nicht auf die Wendung bezogenen Paraphrase einige Belegstellen von
|| 7 Genaue bibliographische Angaben zu den Wörterbüchern finden sich auf der Webseite des Trierer Wörterbuchnetzes. 8 Die vollständigen bibliographischen Angaben zu diesen Nachschlagewerken können auch dem Trierer Wörterbuchnetz entnommen werden.
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der ursprünglichen Bibelstelle bis hin zu Lessing. Diese Belegstellen enthalten das Idiom Perlen vor die Säue werfen, dienen aber der Veranschaulichung der übertragenen Bedeutung von Perle. Die Textstellen zeigen kursorisch, dass die zweite substantivische Konstituente Säue mit Schweine variieren kann. Auf diese Variation geht das Wörterbuch aber nicht weiter ein. Ähnlich verfahren auch die modernen Sprachstadienwörterbücher, z.B. das neue MWB: Es erweitert das Lemma berle um den Verweis aus der Sicht des Neuhochdeutschen „im Sprichw. ‚Perlen vor die Säue werfen‘“ und führt unter Verweis auf TPMA (10, 318) eine Belegstelle aus ‚Dem Renner‘ an, die aus Freidanks ‚Bescheidenheit‘ übernommen wurde, ohne die Bedeutung der als Sprichwort bezeichneten Wendung zu beschreiben. Unter anderen Lemmata wie etwa gimme oder margarite, die als lexikalische Varianten in der Struktur der Wendungen vorkommen, finden sich keine Beispiele. Sollten Wörterbücher und Sammlungen das gleiche Idiom bzw. seine lexikalischen Varianten oder Synonyme im Sinne einer Mehrfachzuordnung an anderen Stellen verzeichnen, so lassen sie sich wegen der fehlenden einheitlichen Regeln zur Verzeichnung von formelhaften Wendungen in Wörterbüchern sowie zum Verweissystem nicht auf Anhieb finden, insbesondere wenn das Nachschlagewerk nicht in digitaler Form vorliegt. Aus dieser lexikographischen Praxis im Umgang mit Wendungen ergeben sich folgende Konsequenzen für den Umgang mit Variation: Konsequenz 1: Grammatische und lexikalische Variation ist implizit mitdokumentiert, aber schwer zugänglich und oft zufällig. Auch wenn unser Idiom in Wörterbüchern keinen Lemmastatus hat, sind einige Nachschlagewerke relativ ausführlich in der Dokumentation der lexikalischen Varianten. Im Wörterbuch von Daniel Sanders (2, 515) ist das Lemma Perle im Abschnitt d) mit der Bedeutung ‚für etwas Köstliches, Wertvolles‘ versehen. Dort ist als veranschaulichendes Beispiel auch der Beleg Perlen vor die Säue werfen, den Sanders selbst als Sprichwort bezeichnet, angeführt. Auch die lexikalischen Varianten seine Perlen vor die Schweine, vor die Pfleglinge des verlorenen Sohnes werfen sind jeweils mit Stellenangaben angeführt, allerdings ohne weitere Kommentare. Ferner finden sich hier auch weitere Beispiele bzw. Belege, über deren formelhaften Charakter anhand des Wörterbuchs aber keine Aussagen gemacht werden können, vgl. den folgenden Ausschnitt aus dem Wörterbuch: Perle,[...] — d) zur Bez. für etwas Köstliches, Werthvolles, z.B. sprchw.: Sein P-n vor die Säue (Matth. 7,6), vor die Schweine (Platen 2, 138), vor die Pfleglinge des verlorenen Sohnes (JG Müller
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Lind. 2, 196) werfen; Welche P. [welchen Schatz] warf ich hin! | welch Glück des Himmels hab ich weggeschleudert! Sch. 445a; Wirf nicht für eiteln Glantz und Flitterschein | die echte P. deines Werthes hin! 526a; [...] (D. Sanders, Wörterbuch der dt. Sprache, 2, 515)
Auch im Wander sind unter dem Lemma Perle drei mhd. Textstellen und Entsprechungen aus anderen Sprachen zum Idiom verzeichnet. Es fällt auf, dass Wander den Beleg in einer heutzutage völlig unbekannten morphosyntaktischen Struktur und typologisch gesehen eher in Form eines Sprichworts Man soll die Perlen nicht vor die Säue werfen verzeichnet. Die von ihm gewählte morphosyntaktische Struktur und lexikalische Besetzung unterscheiden sich von den im Artikel angeführten Textstellen. Konsequenz 2: Aufgrund der äußerst seltenen Paraphrasen ist semantische Variation nur in Ausnahmefällen untersuchbar Als eine weitere Besonderheit, die auch alle oben angeführten Belegstellen veranschaulichen, stellt sich die Tatsache heraus, dass Angaben zur Bedeutung der formelhaften Wendungen in historischen Wörterbüchern noch im 19. Jahrhundert äußerst selten sind. Dies erschwert erheblich die Analyse der semantischen Varianz. Eine auffällige Ausnahme enthält Blums ‚Deutsches Sprichwörterbuch‘ (2, 71): 429. Man soll die Perlen nicht vor die Säue werfen. Wie, wenn man alle die schönen Lehren der Mässigkeit und Enthaltung, die auf Vernunft und Christenthum sich gründen, einer Gesellschaft von Trunkenen auch noch so beredt empfehlen; wie, wenn man Klopstocks Messias einer Studentengesellschaft in der Schenke vorlesen wollte? (J. Chr. Blum, Dt. Sprichwörterbuch, 2, 70)
Im Vergleich zu heute ist die hier verzeichnete Bedeutung beim Eintrag Man soll die Perlen nicht vor die Säue werfen enger auf die Nutzlosigkeit der Tugendlehren für Betrunkene fokussiert. Für semantisch ähnlich hält der Autor des Wörterbuchs diesen Eintrag mit seiner davor stehenden lexikalischen Variante Wozu sollen der Kuh Muskaten?, worauf der metasprachliche Kommentar Aus dem Grunde gebietet ein andres Sprichwort hindeutet: 428. Wozu sollen der Kuh Muskaten? Wozu Leckerbissen, dem, der sie nicht zu essen versteht, [...]
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Die schätzbarsten Güter, die edelsten und erhabensten Kenntnisse sind da überflüssig und übel angebracht, wo man nicht empfänglich für sie ist, und den Umständen nach eben itzt auch nicht seyn kann. Aus dem Grunde gebietet ein andres Sprichwort: 429. Man soll die Perlen nicht vor die Säue werfen. [...] (J. Chr. Blum, Dt. Sprichwörterbuch, 2, 70–71)
Die Angaben zur Bedeutung im Wörterbuch lassen hier ein breiteres Verwendungsspektrum annehmen (vgl. Güter, Kenntnisse) als beim Eintrag 429 Man soll die Perlen nicht vor die Säue werfen. Diese Beobachtung muss allerdings eine Annahme bleiben, denn für die Existenz des Idioms in dieser Form in der textuellen Überlieferung aus der Zeitspanne 8.-17. Jahrhundert findet sich in der HiFoS-Datenbank kein einziger Nachweis. Natürlich sind solche Sammlungen weder mit Blick auf ihren Aufbau noch ihre Zielsetzung als lexikographische Quellen im strengen Sinn zu betrachten: Im Vordergrund steht die möglichst umfassende Dokumentation der formelhaften Wendungen, oft durch die nationalpatriotische Überzeugung motiviert, dass die hohe Zahl solcher Wendungen den Reichtum der deutschen Sprache beweise.9 Semantische Paraphrasierungen sind hier deshalb sekundär bzw. kommen gar nicht vor. Konsequenz 3: Eindruck der absoluten Festigkeit In den allermeisten Fällen suggerieren die Sammlungen und Wörterbücher eher, dass das Idiom Perlen vor die Säue werfen in den älteren Sprachstufen des Deutschen über eine syntaktisch völlig feste Struktur verfügte. Meyers ‚Großes Konversationslexion‘ (hier ausnahmsweise mit dem Idiom im Lemmastatus), die Sammlung ‚Der Teutschen Weisheit‘ von Friedrich Petri und ‚Die deutschen Sprichwörter‘ Karl Simrocks verzeichnen das Idiom zwar in der Form, in der es in den gegenwärtigen Textkorpora und Wörterbüchern gar nicht vorkommt (Perlen sol man nicht für die Sew werffen/Man soll die Perlen nicht für die Säue werfen), aber es ist laut Angaben der Wörterbücher fest. Somit vermitteln sie ein anderes Bild über die Variation im Bereich der formelhaften Wendungen, was nicht besagt, dass dieses Bild falsch ist, aber es unterscheidet sich deutlich von der Variation, die sich in Texten entfaltet.10
|| 9 Vgl. ähnliche Einstellungen und die zentrale Rolle der formelhaften Wendungen bereits in der barocken Spracharbeit in Hundt (2000) und Filatkina (2009a). Zum frühen Mittelalter vgl. Filatkina/Hanauska (2011) und Filatkina/Gottwald/Hanauska (2009). 10 Die Textbelege zu diesem Idiom finden sich wie bereits erwähnt in Filatkina (2013; 2016) und im TPMA (10, 318).
4.1 Formelhafte Sprache und (historische) Wörterbücher | 137
Dies führt mich zur Annahme, dass Kodifizierung im Bereich der formelhaften Wendungen eine geringere Auswirkung auf die Reduzierung der Varianten und Entstehung der Festigkeit hat als z.B. im Bereich der Aussprache (Kohrt 1998), Rechtschreibung (Kohrt 1998) oder Grammatik (Werner 1998; Mattheier 2000). Zwar sehen Burger/Linke (22008, 747) in dem, „was wir heute als strukturelle ‚Festigkeit‘ des Phraseologismus fassen, das Produkt der mehrhundertjährigen schriftsprachlichen (insbesondere lexikographischen) Normierung“. Diese These muss aber m.E. auch heute mehr als 15 Jahre nach ihrer Entstehung eine unbeantwortete Forschungsfrage bleiben. Zieht man die neuesten Erkenntnisse zur Wirkung der barocken Grammatiker und Wörterbuchschreiber in Betracht (Bergmann 1982; Takada 1998), muss der Zusammenhang zwischen Festigkeit und Normierung – wenn überhaupt – als ein sehr junges Phänomen der gegenwartssprachlichen Print-Lexikographie betrachtet werden. Es wäre zu untersuchen, ob historisch nicht eher der Gebrauch einer Wendung in den großräumig über Jahrhunderte wirkenden Texten eine Rolle spielt, wie das etwa Hüpper/Topalovic/Elspaß (2002, 96) für Paarformeln in Eidestexten erarbeitet haben.
4.1.2 Formelhafte Wendungen im ‚Althochdeutschen Wörterbuch‘ Das ‚Althochdeutsche Wörterbuch‘ (AWB) der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig ist das umfangreichste Nachschlagewerk für die ahd. Sprachstufe. Es hat zum Ziel, das gesamte erhaltene Wortgut des Althochdeutschen zu erschließen, und stützt sich auf das von Elias von Steinmeyer (1848– 1922) begründete und seither kontinuierlich aktualisierte Archiv mit etwa 750.000 Belegzetteln, in dem alle Wortformenbelege von den Anfängen deutscher Schriftlichkeit im 8. Jahrhundert bis zu Spätbelegen des 13. und 15.Jahrhunderts aus kritischen Editionen zusammengeführt sind. Das komplexe Wörterbuchkonzept strebt größte Bearbeitungstiefe und umfassende Aussagefähigkeit zu allen sprachhistorischen Fragestellungen an, um der historischen Lexikographie des Deutschen ein grundlegendes, langfristig dienliches Forschungsinstrument bereitzustellen. Die überlieferten Wortformenwerden normalisierten Ansätzen zugeordnet und unter Einbeziehung zugehöriger Kontexte lautlich, grammatisch, semantisch und syntaktisch beschrieben. Alle Belegstellen sind interpretiert und vollständig aufgelistet, wobei die Kontexte je nach Aussagefähigkeit und Schwierigkeit in Auswahl zitiert sind, um die Gebrauchsweise(n) eines Wortes zu illustrieren und nachprüfbar zu machen. Das AWB liegt gegenwärtig in fünf Bänden (Buchstaben A–L) vor. Die Arbeiten am Band VI (M–N) sind im Gange; weitere drei Bände sind geplant.
138 | 4 Zur Methodik der Untersuchung der historischen formelhaften Sprache
Das AWB berücksichtigt im Bedeutungsteil auch formelhafte Wendungen, obwohl ihre Exzerption bei der Textauswertung bzw. Analyse des Zettelkatalogs nicht im Vordergrund stand und nicht schwerpunktmäßig durchgeführt wurde. In dieser Hinsicht stellt das Wörterbuch eine nicht zu unterschätzende Quelle für formelhafte Wendungen der ahd. Zeit dar. Die Wichtigkeit ihrer Erfassung wurde von Beginn an in mehreren Publikationen des Wörterbuchteams hervorgehoben: Besonderer Wert wird sowohl auf die Herausstellung der übertragenen und bildlichen Verwendung als auch auf die Kennzeichnung fester Strukturen wie Phraseologismen gelegt. Denn hier lassen sich manchmal im Ahd. die Anfangsstadien später gängiger sprachlicher Mittel fassen. (Köppe 1999, o.S.)11
Formelhafte Wendungen dienen ganz im Zeichen der (historischen) Lexikographie der Erklärung der Bedeutung des entsprechenden Stichworts und bilden deshalb im Einklang mit dem allgemeinen Konzept des AWB nicht den eigentlichen Gegenstand der lexikographischen Bearbeitung. Ich beziehe mich im Weiteren auf den Artikel lâzan im AWB (5, 658), der exemplarisch den beschriebenen Umgang des AWB mit formelhaften Wendungen veranschaulicht, der im gesamten Wörterbuch in dieser oder sehr ähnlichen Form auch eingehalten wird. Formelhafte Wendungen kommen nicht an einer für sie vorgesehenen Stelle im Artikel vor, sondern sind der entsprechenden Bedeutung des Stichworts zugeordnet. Die Bedeutungsangaben sind deshalb auch als semantische Paraphrasen zum Stichwort als Konstituente der formelhaften Wendung zu verstehen. An einigen Stellen wird aber auch der Wendung eine Paraphrase beigegeben. Anhand der Artikelanalyse konnte ich keinerlei Gesetzmäßigkeiten für das Vorhandensein bzw. das Fehlen der Paraphrase feststellen. Lexikalische und/oder grammatische Varianten einer formelhaften Wendung werden angeführt und durch Semikolon bzw. Schrägstrich voneinander getrennt, was einerseits einen schnellen Überblick über das Variationspotenzial ermöglicht, aber andererseits die Untersuchung der Verfestigungsprozesse erschwert, besonders wenn die Variation nicht kommentiert wird. Allerdings erlauben die sorgfältig dokumentierten Ausschnitte aus Primärquellen das Auffinden der nötigen Belegstellen und Kontextualisierungsbeispiele in den edierten Texten und darüber hinaus dann auch in den Originalhandschriften.
|| 11 Ähnlich auch Große (1977) und Blum (1990, 8 und 30–34).
4.1 Formelhafte Sprache und (historische) Wörterbücher | 139
Weniger einheitlich ist die metasprachliche Kommentierung der formelhaften Wendungen. Obwohl nicht immer systematisch, sind die Wendungen grundsätzlich als solche ausgezeichnet. Dafür werden allerdings ca. 30 unterschiedliche Begrifflichkeiten verwendet. Tabelle 3 gibt einen Überblick: Tab. 3: Metasprachliche Kommentierungen der formelhaften Wendungen im AWB
Begriff*
Beispiel*
Stelle im Wörterbuch
1.
in bestimmten Verbindungen in best. Verbindungen
fruma uuesan brûtlîh geba
3, 1296 4, 191
2.
in den Verbindungen
grôzêr tharm, smalêr tharm 2, 311
3.
in bestimmten nominalen Verbindungen
fiur (thero) hello
4, 926
4.
in adv. Verbindungen
bî jârun
4, 1785
5.
in bestimmten verbalen Verbindungen, faran/nidarstîgan zi 4, 926 die das Verdammtsein der Sünder in hello/in hella/hellu/an heldie Hölle, zur Hölle ausdrücken lon
6.
in der Verbindung in der (zur Formel erstarrten) Verbindung
fordaron zeni frô mîn
3, 1179 3, 1278
7.
in (formelhafter?) Verbindung mit Verben
guotes betôn/bithenken/bitten
4, 497
8.
in formelhafter Verbindung mit einem Verb
zi guote irgân
4, 504
9.
in formelhafter Verbindung mit geuuualt
thiz lazu ih, quad, zi henti, zi thineru giwelti
4, 684
10.
in festen Verbindungen
zi gihugti tuon
4, 1335
11.
in festen Verbindungen, Wendungen
in abuh kêren
5, 113
12.
in Wendungen
thero gango
4, 39
13.
Wendung
frammort thîhan
3, 1220
14.
in einer spez. Wendung
gangan gilîh + Dat. der Pers.
4, 54
15.
in besonderen Wendungen
heime habên + Akk.
4, 847
16.
in festen Wendungen
thaz meinit, ih meinu
2, 324
17.
FVG
antuuurti geban reda irgeban êuuîgan, êuuîn lîb habên
4, 160 4, 170 4, 556
18.
Funktionsverbgefüge
antuuurti geban
4, 160
140 | 4 Zur Methodik der Untersuchung der historischen formelhaften Sprache
Begriff*
Beispiel*
Stelle im Wörterbuch
reda irgeban êuuîgan, êuuîn lîb habên
4, 170 4, 556
19.
in der Fügung
hlûtmâri tuon
5, 1444
20.
kirchensprachliche Wendung
sculd/sunta firgeban
4, 165
21.
spez. im Rechtsbereich in der Wendung
in heila hant
4, 680
22.
in Formeln
gold inti sil(a)bar
4, 322
23.
formelhafte Verbindung
in gotes namen in thiu is got uuelle in gotes minna, thuruh gotes minna thuruh got bi gote
4, 354 4, 354 4, 355
4, 355 4, 355
24.
in formelhaften Ausdrücken mit uuesan
tho sprah Pilatus avur thaz, 4, 864 wanta imo was iz heizaz
25.
in formelhafter Wendung zur Wiedergabe des lat. ecce
see hear (erweitert durch bedeutungsleeres nû)
4, 1052
26.
Formelhaft
in houbit
4, 1287
27.
Phraseologismus
fluht, provocationem 4, 563 habên, mit zi + Dat., lat. ad + Akk. in henti/hantum habên
28.
Beteuerungsformel
fone diu ist alauuar daz [...] 1, 191
29.
in zweigliedrigen Formeln darauf hinweisend, daß der Zielpunkt nicht festgelegt ist
thara inti thara
2, 274
30.
zur Einführung einer Textstelle
thâr er quidit (quad)
2, 241
* Die metasprachlichen Markierungen werden hier in der Schreibweise des Wörterbuchs angeführt. ** Der Wendung folgt die semantische Angabe des Wörterbuchs in einfachen Anführungszeichen. *** Die erste Ziffer gibt den Band an, die zweite die Spalte. Eine Stellenangabe steht exemplarisch für mehrere gleiche Angaben.
Der am meisten verwendete Begriff ist in (festen, bestimmten) Verbindungen bzw. Wendungen, obwohl weder in Vorworten zu den Wörterbuchbänden noch in Publikationen des Projekts erklärt ist, welche Einheiten darunter verstanden werden und inwiefern sie sich einzelne Bezeichnungen voneinander unterscheiden. Ab Band 4 wird die Verwendung dieser Begriffe m.E. auffällig systematischer und
4.1 Formelhafte Sprache und (historische) Wörterbücher | 141
regulärer.12 Die Beispiele, die mit diesen Begriffen ausgezeichnet werden, veranschaulichen, dass sie sich auf typologisch unterschiedliche Fälle (Kollokationen, Paarformeln usw.) beziehen können. Es ist aber nicht immer ersichtlich, warum die Belege antuuurti geban u.a. (vgl. in Tabelle 3 unter Nr. 17 und 18) mit der Markierung Funktionsverbgefüge versehen sind, ähnliche Fälle wie fruma uuesan (vgl. in Tabelle 3 unter Nr. 1) aber mit der vagen Markierung in bestimmten Verbindungen. Aufgrund der Tatsache, dass die Konzeption des AWB in die 40er Jahre des 20. Jahrhunderts fällt, in die Zeit also, in der Formelhaftigkeit nicht zum zentralen Gegenstand der linguistischen und lexikographischen Forschung gehörte, ist es verständlich, dass sich das Wörterbuch an die einst etablierte und nicht unbedingt eindeutige Terminologie hält.13 Allerdings macht sich ab Band 4, wie oben bereits erwähnt, eine Tendenz zur Vereinheitlichung bemerkbar, die sich u.a. darin niederschlägt, dass der gängige Begriff Phraseologismus (Nr. 27) aufkommt und bei Belegen steht, die in den älteren Bänden als Funktionsverbgefüge klassifiziert wurden. Ergebnis dieser Umstellung ist vermutlich auch der Begriff formelhafte Wendung (Nr. 22 bis 26), der im Wörterbuch aber wohl eng verstanden wird und sich vor allem auf Paarformeln und Routineformeln bezieht. In den älteren Bänden stehen an solchen Stellen andere Bezeichnungen (vgl. Nr. 28 bis 30 in Tabelle 3). Neben solchen Termini kommen Kommentierungen einer ganz anderen Art vor, die nicht nur den holistischen Mehrwortcharakter eines Eintrags betonen, sondern auch seine textsortenspezifische Distribution und somit auch den kommunikativen und kulturhistorischen Stellenwert angeben, vgl. Nr. 20 und 21 in Tabelle 3. Die beiden folgenden Beispiele veranschaulichen die Kommentierung dieser Art:
|| 12 In den älteren Bänden kann oft jegliche Markierung fehlen, so z.B. noch in AWB (3, 1119– 1122) bei inti fona thiu, fona thiu sô usw. In AWB (3, 1267) sind in theru fristi, thô zi themo friste und ähnliche Belege mit der Konstituente fristi konsequent als Wendungen markiert, aber andere Wendungen im gleichen Artikel wie in kurzeru fristi, ânu langlîhha frist, frist bittenfrist gilâzan (AWB, 3, 1268) nicht. 13 Die Autoren und Autorinnen äußern sich auch explizit zu diesem Problem: „Außerdem sind die gegenwärtigen Bearbeiter einerseits an die Konzeption gebunden – starke Veränderungen verträgt ein Wörterbuch nicht –, andererseits dürfen die Ergebnisse und Postulate der weiterschreitenden Lexikologie- und Syntaxforschung nicht unbeachtet bleiben. So ist die Bearbeitung von vielen Artikeln eine Gratwanderung. Meist kann die neue Erkenntnis lediglich die Arbeitsmethoden bestimmen, den Blick schärfen, vor falschen Deutungen schützen, aber nur selten wird sie für den Benutzer direkt sichtbar werden oder sich gar in der Verwendung von modernen Termini äußern.“ (Köppe 1999, o.S.)
142 | 4 Zur Methodik der Untersuchung der historischen formelhaften Sprache
im Artikel tharba Kommentar zu haba inti tharba: Bei Notker als philosophischer Term. techn., den Mangel, das Nicht-Haben, Fehlen einer bestimmten Eigenschaft meinend, meist formelhaft mit haba zum Gegensatzpaar verbunden; formelhaft haba inti tharba habitus et privatio (dabei unabhängig von deren Reihenfolge im lat. Text […] (AWB, 2, 305) im Artikel tharbên Kommentar zu tharbên – habên bei Notker absolut gebraucht als philosophischer Term. techn.: etw. nicht haben, seiner ermangeln, beraubt sein; tharbên – habên als Gegensatzpaar in formelhafter Verbindung (AWB, 2, 307)
Halten wir in Bezug auf die formelhafte Sprache in Wörterbüchern kurz fest: Sowohl historische Nachschlagewerke als auch traditionsreiche, gegenwärtig entstehende wissenschaftlich orientierte Sprachstadienwörterbücher sind wertvolle Quellen für die Untersuchung der formelhaften Wendungen. Allerdings vermitteln die ersteren ein anderes Bild von Formelhaftigkeit und ihrer Variation, das einer eigenen Untersuchung und des Vergleichs mit der in Texten tradierten Formelhaftigkeit obliegt; die letzteren verzeichnen formelhafte Wendungen vielfältig, aber nicht schwerpunktmäßig und ersetzen die Textanalyse aus der Perspektive der Formelhaftigkeit nicht; ihre Benutzung ist im Konsultationsmodus zusätzlich zu der eigentlichen Textarbeit unverzichtbar.
4.2 Formelhafte Sprache und historische Textkorpora Die historische Korpuslinguistik ist eine relativ neue Forschungsrichtung; die Erschließung der Formelhaftigkeit in verschiedenen Gegenwartssprachen ist hingegen seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Gegenstand der korpus- und computerlinguistischen Untersuchungen und ist dort jenen Gebieten zuzuordnen, in denen die automatische Analyse im Vordergrund steht. Das anhaltende Interesse, insbesondere an der Identifikation formelhafter Wendungen, die in der Computerlinguistik unter der allgemeinen Bezeichnung Mehrwortausdrücke oder multi-word expressions geführt werden, zeigt sich beispielsweise in den zahlreichen Workshops on Multiword Expressions:14 Solche Workshops werden seit 2003 jährlich auf hochkarätigen internationalen Konferenzen (ACL, COLING, LREC)
|| 14 Vgl. den Überblick für die Jahre 2003 bis 2015 unter: http://multiword.sourceforge.net/PHITE.php?sitesig=CONF (letzter Zugriff: 26.06.2016).
4.2 Formelhafte Sprache und historische Textkorpora | 143
abgehalten. Trotz der Tatsache, dass Korpus- und Computerlinguistik (sowie die Maschinelle Übersetzung) sich mindestens genauso lange mit Mehrwortausdrücken beschäftigt haben wie die Phraseologieforschung (d.h. seit ca. den 1960er Jahren), hatten beide Disziplinen bislang nur wenige theoretische Berührungspunkte. Noch 2010 hieß es in einem der Tagungsbände der SIGLEX-MWE-Gruppe: Over the course of these workshops, it has become increasingly obvious that in order to develop more efficient algorithms, we need deeper understanding of the structural and semantic properties of MWEs, such as morpho-syntactic patterns, semantic compositionality, semantic behaviour in different contexts, cross-lingual transformation of MWE properties etc. (Rayson/Piao/Sharoff/Evert/Moirón 2010 44, 2)
Die Verständigungsprobleme fangen bereits bei der Definition des Untersuchungsgegenstandes an. Unter dem Begriff Mehrwortausdrücke (multiword expressions) werden zwar prinzipiell Wendungen mit beliebig vielen Konstituenten verstanden, aber Verfahren zu ihrer automatischen Erkennung beschränken sich auf Wendungen, die aus nicht mehr als zwei Wörtern (und gegebenenfalls einem Konnektor dazwischen) bestehen. In der Phraseologieforschung werden solche Wendungen als Paarformeln (klipp und klar) oder Kollokationen (Zähne putzen) bezeichnet. Mehrwortausdrücke können im Prinzip auch gar keine formelhaften Wendungen im phraseologischen Sinn sein, sondern syntaktisch feste Verbindungen von zwei Wörtern wie z.B. New York, laser printer oder bring about. Andere Typen formelhafter Wendungen, die länger als zwei Wörter sind und auch noch idiomatisch sein können (z.B. jemandem einen Bären aufbinden, Morgenstund hat Gold im Mund), waren bis jetzt seltener bis kaum Gegenstand korpusund computerlinguistischer Betrachtungen.15 Das Bewusstsein für die typologische Heterogenität formelhafter Wendungen ist aber in der Korpus- und Computerlinguistik durchaus vorhanden. Davon zeugen u.a. die in diesem Rahmen erarbeiteten Klassifikationen wie z.B. die von Sag/Baldwin/Bond/Copestake/Flickinger (2001), die Mehrwortausdrücke nach dem Grad der Festigkeit in drei Gruppen (fixed, semi-fixed und syntactically flexible expressions) einteilt, oder die dem 17. Workshop on Multiword expressions (MWE 2015) zugrunde gelegte Typologie: idioms (storm in a teacup, sweep under the rug), fixed phrases (in vitro, by and large, rockʼn roll), noun compounds (olive oil, laser printer), compound verbs (take a nap, bring about).16 Mir ist kein einziger Versuch bekannt, die auf dem
|| 15 Vgl. anders Li/Sporleder (2010a,b) zur Disambiguierung der wörtlichen und übertragenen Bedeutung bei Idiomen. 16 Vgl. http://multiword.sourceforge.net/PHITE.php?sitesig=CONF (Zugriff: 26.06.2016).
144 | 4 Zur Methodik der Untersuchung der historischen formelhaften Sprache
Gebiet der Korpus- und Computerlinguistik erarbeiteten Klassifikationen mit denen im Bereich der linguistischen Phraseologieforschung (etwa Burger 52015, 30– 60) oder der Konstruktionsgrammatiken (Fillmore/Kay/O’Connor 1988, 504– 506)17 existierenden Typologien in Einklang zu bringen und die letzten bei der Entwicklung der automatischen Identifikations- und Analysetools für formelhafte Wendungen zu berücksichtigen. Bevor genuin formelhafte Fragestellungen nach der Identifikation und Klassifizierung der Wendungen (Kap. 4.2.3) überhaupt eingegangen werden können, ist in historischen Texten eine Reihe von Herausforderungen zu bewältigen, die mit Formelhaftigkeit noch nichts zu tun haben, aber wichtige Vorbereitungsschritte bei der Korpuserstellung (Kap. 4.2.1) und -annotation (Kap. 4.2.2) tangieren.
4.2.1 Korpuserstellung Die erste Herausforderung stellt die Auswahl der älteren Texte dar. Ihre Lösung balanciert zwischen zwei auf den ersten Blick widersprüchlichen Gegenpolen, die aber bei genauer Betrachtung zwei Seiten einer Medaille sind: zum einen das gegenwärtig nur mosaikartig vorhandene Wissen über den formelhaften Charakter historischer Textsorten und zum anderen die Tatsache, dass Formelhaftigkeit im Prinzip jeder Textsorte und jedem Text attestiert werden kann (vgl. Kap. 1).Die in Bezug auf Formelhaftigkeit relevanten Texte standen bei der Konzeption der existierenden Korpora (des älteren Deutsch)18 nie im Vordergrund und sind dort folglich nicht bzw. nur sporadisch erfasst. Diese für andere Zwecke erstellten existierenden Korpora wurden ferner kaum für formelhafte Fragestellungen benutzt. Die Orientierung an anderen Forschungsschwerpunkten (vor allem an der Phonologie, Graphematik, Lexik und Morphologie) gilt auch für neuere im Rahmen des Großprojekts ‚Korpus historischer Texte des Deutschen (Deutsch Diachron Digital)‘laufende Korpusvorhaben zum Mhd. und Frnhd. wie ‚Das annotierte Referenzkorpus Mittelhochdeutsch‘19 und ‚Das Referenzkorpus Frühneuhochdeutsch‘.20
|| 17 Dazu ausführlicher und kritisch in Kap. 1.6. 18 Vgl. den Überblick in Hoffmann (1998, 875) und Moulin/Gurevych/Filatkina/de Castilho (2015). 19 http://www.linguistics.ruhr-uni-bochum.de/~dipper/project_ddd.html. 20 http://www.germanistik.uni-halle.de/forschung/altgermanistik/referenzkorpus_fruehneuhochdeutsc/.
4.2 Formelhafte Sprache und historische Textkorpora | 145
Die Verwendung des linguistisch motivierten und in der Korpuslinguistik verbreiteten dreidimensionalen Rasters Textsorte – Zeit – Raum (Wegera 2013, 61)21 ist für die Beantwortung der Fragen der historischen Formelhaftigkeit nur bedingt möglich: Während es für die Erstellung eines ausgewogenen Referenzkorpus von Bedeutung sein mag, ist die gleichmäßige Besetzung aller drei Koordinaten durch thematisch relevante Texte angesichts der dialektalen Zersplitterung der historischen Sprachstufen sowie ihrer unterschiedlich ausgeprägten Textsortenvielfalt schwierig. Das dreidimensionale Raster soll deshalb als ein flexibles Instrument verstanden werden, das auf die Gegebenheiten der Überlieferung reagiert. In den Vordergrund soll das Kriterium der Formelhaftigkeit auf der Ebene des einzelnen Ausdrucks bzw. auf der Makroebene eines Textes gestellt werden. Die Erstellung eines Textkorpus für die Untersuchung der Formelhaftigkeit bedeutet außerdem, dass die ausgewählten Texte entgegen der gängigen Praxis der historischen Korpuslinguistik Volltexte und keine Ausschnitte sind, und zum anderen, dass sie auf originale Überlieferungsträger (d.h. Handschriften und Drucke) und nicht auf normalisierte Editionen zurückgehen. Die erste Forderung liegt darin begründet, dass die Distribution von formelhaften Wendungen im Gegensatz zu z.B. graphematischen und/oder grammatischen Phänomenen in einem Text nie im Voraus eingeschätzt werden kann. Die zweite ist womöglich in ihrer Wirkung auf stark normalisierte Editionen mhd. und frnhd. Texte Lachmannscher Tradition eingeschränkt, die kaum als Grundlage für linguistische Untersuchungen der morphosyntaktischen und graphematischen Dynamiken der historischen formelhaften Sprache benutzt werden können. Die bereits existierenden elektronischen Korpora mit historischen Texten auf Deutsch, die auf handschriftengetreuen Transkriptionen der Originalquellen basieren, enthalten meistens keine Volltexte, sondern beschränken sich auf ausgewählte Textausschnitte, auf Texte einzelner Autoren bzw. verschiedene Überlieferungsträger eines Textes.22 Andere Korpora setzen sich zwar aus Volltexten zusammen, bestehen aber oft nicht aus originalen Überlieferungsträgern bzw. deren getreuer
|| 21 Vgl. die Diskussion in Klein (1991, 3–23). In der letzten Zeit wurde dieses Raster bei der Erstellung des GerManC-Projekts an der University of Manchester benutzt und hat sich dort dank der Fokussierung des Korpus auf eine Textsorte (deutschsprachige Zeitungen aus der Zeitspanne 1650–1800) bewährt (Bennett/Durrell/Scheible/Whitt2010, 65). 22 Vgl. den Überblick in Hoffmann (1998, 875). Auch neuere Publikationen (Lüdeling/Kytö 2008; 2009) dokumentieren, dass aus den letzten 10 Jahren für das Deutsche kaum anders aufbereitete Daten vorliegen.
146 | 4 Zur Methodik der Untersuchung der historischen formelhaften Sprache
Wiedergabe, sondern aus den eben erwähnten normalisierten Editionen.23 Die Benutzung der Editionen wird normalerweise durch den zeit- und ressourcenaufwändigen Prozess der Digitalisierung und Volltexterschließung der Originalüberlieferung begründet, die sich der Bearbeitung mithilfe der für moderne Korpora entwickelten und gut funktionierenden Optical Character Recognition (OCR)-Verfahren entzieht. Auch die Größe des zu erstellenden Korpus muss aus historischer Perspektive neu diskutiert werden. Die methodischen Schwierigkeiten beim Einsatz der statistischen Verfahren für die Identifikation formelhafter Wendungen24 gehen vor allem auf die Diskrepanz zwischen der hohen type- und niedrigen token-Frequenz der formelhaften Wendungen zurück (vgl. u.a. Claridge 2008). Formelhaftigkeit ist zwar als type im computerlinguistischen Sinn ein konstitutives Merkmal jedes Textes; jede einzelne Wendung kann als token schwach gegebenenfalls sogar nur an einer einzigen Stelle in einem Textzeugen und seltener als andere sprachliche Mittel, z.B. bestimmte oder unbestimmte Artikel, belegt sein. Möglicherweise ist auch das kein exklusives Attribut der formelhaften Wendungen. Für Lenz (2013, 144)ist die niedrige Tokenanzahl ein grundsätzliches Problem der historischen Korpora, auch wenn mit deren Hilfe morphosyntaktische Phänomene untersucht werden müssen. In Bezug auf Resultativkonstruktionen mit kriegen und bekommen bemerkt sie z.B.: Trotz umfangreicher historischer Korpora ist die Anzahl darin eruierter Belege eines Phänomens für quantitative und qualitative Analysen mitunter so gering, dass empirisch fundierte Aussagen über das in Rede stehende Phänomen nur bedingt möglich sind. (Lenz 2013, 144)
Für Untersuchungen mit formelhaften Fragestellungen wurde bereits mehrmals hervorgehoben, dass die geeigneten Textkorpora größer sein müssen als Korpora für Untersuchungen anderer Phänomene. Laut Geyken (2004) reicht selbst ein Korpus von 100 Mio. Wörtern nicht aus.25 Angesichts der lückenhaften Überlieferung des Deutschen ist dies für manche Zeitstufen ein kaum erreichbares Kriterium, das Konsequenzen für den Einsatz der statistischen Verfahren der Korpusauswertung hat, weil die letzteren bei der Suche nach schwach belegten, kaum
|| 23 Beispiele hierzu bringt ebenfalls Hoffmann (1998 875-887). Aus editierten Texten besteht auch das ‚Digitale Mittelhochdeutsche Textarchiv‘ an der Universität Trier (vgl. http://mhgta. uni-trier. de/index.html; http://www.mhdwb-online.de/quellenverzeichnis.php). 24 Ausführlicher dazu vgl. Kap. 4.2.2. 25 Die Existenz großer Korpora hält Sailer (2007, 1065) für wichtiger als z.B. ihre tiefe Annotation.
4.2 Formelhafte Sprache und historische Textkorpora | 147
normierten und hochvariablen Einheiten in überschaubaren Datenmengen scheitern.
4.2.2 Korpusannotation Die Beantwortung jeglicher korpus- und computerlinguistischen Fragen im Bereich der formelhaften Wendungen setzt die Erschließung der gesamten Texte, in denen diese Wendungen vorkommen, mit Hilfe von linguistischen Annotationen voraus. Für die modernen Standardvarietäten vieler Sprachen, besonders des Englischen, wurden in der Korpus- und Computerlinguistik automatische Annotationswerkzeuge zum Tokenisieren (d.h. zur Segmentierung in linguistische Einheiten, z.B. Wörter, Sätze und/oder Absätze), Wortart-Taggen und Lemmatisieren (d.h. zur Zuweisung der Grundform eines Wortes, meist inklusive flexionsmorphologischer Information) entwickelt. Außerdem existieren Parser, die syntaktische Strukturen erkennen; für manche Sprachen sind auch semantische Annotationswerkzeuge vorhanden. Die existierenden Werkzeuge für automatische Texterschließung sind ferner für gegenwartssprachliche Texte aus bestimmten Domänen, häufig für Nachrichten- oder Zeitungstexte, entwickelt worden, also für Domänen, für die bereits verschiedene, in anderen Zusammenhängen entstandene Korpora zur Verfügung stehen. Aufgrund von textsortenspezifischen linguistischen Unterschieden erzielen diese Werkzeuge schlechtere Ergebnisse in Texten anderer Textsorten. Die Ergebnisse können allerdings verbessert werden, indem z.B. die von den Werkzeugen analysierten Texte direkt wieder als Trainingsdaten für diese verwendet werden. Bei der computergestützten Erschließung historischer Texte ergibt sich eine Reihe von Herausforderungen, die u.a. mit den oft unklaren Satz- und Wortgrenzen, den fehlenden Möglichkeiten der eindeutigen Wortartenzuordnung, der nicht normierten Rechtschreibung, der Verwendung von spezifischen Sonderzeichen (u.a. Diakritika und Ligaturen) oder allgemein mit der hohen orthographischen, grammatischen und lexikalischen Variation verbunden sind. Die Möglichkeit der Adaptation und Selbsttrainierbarkeit des für das gegenwärtige Deutsch entwickelten automatischen Wortart-Taggers26 anhand von historischen deutschen Texten wurde im GerManC-Projekt an der University of Manchester erprobt (Bennett/Durrell/Scheible/Whitt 2010, 65; Scheible/Whitt/Durrell/Bennett 2011). Obwohl die oben aufgezählten Schwierigkeiten beim Umgang mit historischen
|| 26 http://www.linguistik.hu-berlin.de/institut/professuren/korpuslinguistik/links/software.
148 | 4 Zur Methodik der Untersuchung der historischen formelhaften Sprache
Texten seitens dieser Forschergruppe bestätigt werden, ist die Adaptation möglich und hat sich im GerManC-Projekt bewährt. An den gleichen Fragestellungen arbeiten außerdem die im Rahmen des Großprojekts ‚Korpus historischer Texte des Deutschen (Deutsch Diachron Digital)‘ laufenden Korpusvorhaben zum Mittel- und Frühneuhochdeutschen (Dipper 2010). Inwiefern die erwähnten Werkzeuge für die automatische Texterschließung sprachhistorisch forschende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei der (semi-)automatischen Identifikation formelhafter Wendungen und ihrer Varianten unterstützen können, ist eine gegenwärtig kaum beantwortete Frage. Diese Anwendungsperspektive wirft ein neues Licht auf die Frage nach der Tiefe der Volltexterschließung bzw. Annotation der Texte und wurde bis jetzt in keinem der existierenden Korpusvorhaben schwerpunktmäßig verfolgt. Bennett/Durrell/ Scheible/Whitt (2010, 65) bemerken zwar für das GerManC-Projekt, dass die Identifikation formelhafter Wendungen zu einem späteren Zeitpunkt Gegenstand des Projekts sein wird, allerdings liegen hier bis jetzt m.W. keine Ergebnisse vor.27 Aufgrund der unterschiedlichen Blickrichtungen in der Korpuslinguistik und Phraseologieforschung, innerhalb derer die Erforschung der formelhaften Sprache meistens verortet war, wird die Frage nach der Tiefe der Annotation verschieden diskutiert. Während sich die existierenden Annotationsverfahren bis jetzt vornehmlich (aber nicht ausschließlich) auf die Morphologie und Syntax konzentriert haben, war die Phraseologieforschung überwiegend semantisch orientiert: Sie hat u.a. Einheiten zu analysieren, die lexikalisch und morphologisch nach den gängigen grammatischen Regeln aufgebaut sein können (wie etwa ins Wasser fallen), semantisch aber irregulär sind. Man denke hier an die figurative Bedeutung ‚ausfallen, nicht stattfinden können‘ beim Idiom ins Wasser fallen (Duden 11, 845). Die Berücksichtigung der semantischen Irregularität ist wichtig, würde aber die Annotation auf mehreren Ebenen erfordern, was in der gegenwärtigen Forschung nur in Ansätzen durchgeführt ist (Manning/Schütze 2005, 155).28 Die Annotation auf mehreren Ebenen trägt dem Zusammenspiel der Syntax und Semantik in der Struktur einiger formelhafter Wendungen Rechnung. Die jüngsten Erkenntnisse der Korpuslinguistik deuten darauf hin, dass solche Annotationen tief und nicht wortbasiert sein, sondern die Wendung als Ganzes erfassen müssen.
|| 27 Die in Mahlow/Juska Bacher (2011) und Mahlow (2012) beschriebenen Verfahren orientieren sich hauptsächlich an aus Wörterbüchern bestehenden Korpora und basieren auf der automatischen Extraktion und dem Vergleich der key words der Wörterbucheinträge. 28 Vgl. die Annotation mithilfe der source und target frames im SALSA-Projekt (http://www. coli.uni-saarland.de/projects/salsa/page.php?id=index).
4.2 Formelhafte Sprache und historische Textkorpora | 149
Zu prüfen ist, ob eine Kombination von Annotationen auf beiden Ebenen, also auf Wortebene und auf der übergeordneten Ebene der Wendungen, weiterführende Ergebnisse liefert. Zu vermuten ist, dass die Kenntnis, dass eine formelhafte Wendung ein bestimmtes Muster an grammatikalischen Einheiten erfordert, das Auffinden der grammatischen und lexikalischen Varianten dieser Wendung ermöglicht.
4.2.3 Identifikation formelhafter Wendungen in Textkorpora Die Fragen der automatischen Identifikation und/oder des Retrievals formelhafter Wendungen wurden in der Korpus- und Computerlinguistik bereits mehrmals am Material einer Reihe von Sprachen gestellt (neben Englisch auch Deutsch, Französisch, Chinesisch, Arabisch oder gar Bengali). Allerdings bezogen sie sich bis jetzt ausschließlich auf die gegenwärtigen Formen dieser Sprachen. Auch hier stellen formelhafte Wendungen aufgrund ihrer lexikalisch-semantischen Einheit, der unscharfen Grenzen zwischen Grammatik und Lexik bzw. Semantik sowie des komplizierten grammatischen Verhaltens in Texten immer noch eine Herausforderung dar. Die im Laufe der Zeit entwickelten Methoden zur Identifizierung, Klassifizierung und Evaluation haben inzwischen einen soliden Stand erreicht und lassen sich wie folgt zusammenfassen:29 – Extrahieren mit Hilfe der association measures (statistische Verfahren; Church/Hanks 1990; Evert 2005) – Extrahieren aufgrund formaler Präferenzen (formal preferences; symbolische Verfahren; Heid/Ritz 2005) – Extrahieren mithilfe der Distributionssemantik(vor allem im Bereich der Natural Language Processing; Lin 1998) – vektorbasierte Verfahren (vor allem im Bereich des Information Retrieval; berücksichtigen die lexikalische Kohäsion; Li/Sporleder 2009); – relation extraction-Verfahren im Text Mining (Heyer/Quasthoff/Wittig 2006; Büchler/Crane/Mueller/Burns/Heyer 2011) Die beiden ersten Verfahren sind die ältesten und suchen nach statistisch signifikanten Kookkurrenzen in unterschiedlich und nur sehr flach annotierten Korpora. Verfahren der ersten Gruppe können lexikalisch feste Ausdrücke wie New York, by and large, ad hoc gut auffinden; symbolische Verfahren berücksichtigen || 29 In Anlehnung an Moulin/Gurevych/Filatkina/de Castilho (2015) und Heid (2007, 1041–1042; 2008, 350–352).
150 | 4 Zur Methodik der Untersuchung der historischen formelhaften Sprache
zusätzlich morphosyntaktische Restriktionen (z.B. eingeschränkte Modifizierbarkeit) und Idiosynkrasien wie etwa beim Idiom kick (the) bucket (*hit/beat the bucket; *the bucket was hit by X). Zur Gruppe der statistischen Verfahren gehört u.a. die am Institut für deutsche Sprache in Mannheim entwickelte Kookkurrenzanalyse (Belica/Steyer 2008). Kookkurrenz versteht sich als Oberbegriff für das statistisch signifikante Miteinandervorkommen von Textwörtern (tokens). Usuelle Kookkurrenzen sind in erster Instanz binäre Relationen zwischen autosemantischen Wortschatzelementen (Kollokationen). Dazu gehören auch all jene Wortverbindungen, die einen Mehrwortstatus aufweisen, also selbst als lexikalisch-semantische, grammatische und/oder pragmatische Einheiten anzusehen sind (z.B. Idiome, kommunikative Formeln, Funktionsverbgefüge usw.). Die Methode der statistischen Kookkurrenzanalyse dient zur kontextsensitiven Extraktion usueller Kookkurrenzen aus großen elektronischen Korpora und liefert Rückschlüsse auf das Vorkommen und den Charakter von (idiomatischen) Mehrworteinheiten. Der Ausgangspunkt der statistischen Kookkurrenzanalyse ist die Analyse des kookkurrenziellen Potenzials eines Einwortlemmas anhand unterschiedlicher Parameter und abgestufter Tiefen der statistischen Berechnung. Im ersten Schritt wird vom Computer der Kontext eines Bezugsworts (d.h. Wörter, die links und rechts vom Bezugswort auftreten) analysiert; gesucht wird nach Auffälligkeiten des Verhaltens von Wörtern in Bezug auf das Suchwort. Damit wird eine innere Struktur und Hierarchie der Belegmenge des Sprachausschnitts erstellt, die durch statistisch geordnete Listen von signifikanten Kookkurrenzpartnern eines Wortes sichtbar wird. In einem nächsten Schritt werden die Kookkurrenzpartner nach bestimmten Gruppen geordnet, um dann wiederum mithilfe der kontextsensitiven automatischen Analyse, aber auch mithilfe der linguistischen Kompetenz der Bearbeiterinnen und Bearbeiter all jene Kookkurrenzpartner herauszufinden, denen eine Indikatorenfunktion für eine weitgehende Festigkeit zugeschrieben werden kann. In Bezug auf das Erkennen formelhafter Muster geht die Kookkurrenzanalyse m.W. über die meisten Werkzeuge dieser Art hinaus. Im Erkennen von formelhaften, nicht idiomatischen Fügungen, in den Möglichkeiten der praktischen Anwendung bei lexikographischer Arbeit sowie in der gelungenen Verbindung der korpuslinguistischen Technologie mit linguistischer Interpretation bestehen deutliche Vorteile der Kookkurrenzanalyse. Bei allen Vorteilen der statistischen Methoden gehen sie von Einzellexemen aus und sind vor allem eben für die Suche nach lexikalisch und/oder morphosyntaktisch festen Wendungen geeignet, und überwiegend für die Suche nach solchen Wendungen, die nicht aus mehr als zwei Wörtern bestehen. Absolut feste Wendungen finden sich aber auch im modernen Sprachgebrauch selten.
4.2 Formelhafte Sprache und historische Textkorpora | 151
Die dritte und vierte der oben genannten Gruppendes NLP und IR zielen auf die semantischen Besonderheiten von Mehrwortausdrücken ab und werden daher insbesondere für die Identifikation von idiomatischen Wendungen eingesetzt. Der Grundgedanke besteht darin, dass Lexeme in literaler Bedeutung zur Kohäsion des Kontextes/Diskurses beitragen, in dem sie verwendet werden; im Falle der übertragenen Bedeutung verletzen sie diese. So verstärkt das Lexem ice im Satz The water would break the ice into floes with its accumulated energy die lexikalische Konnektivität des gesamten Satzes, weil ice und water Bestandteile eines semantischen Feldes sind; ihr Vorkommen in unmittelbarer Nähe voneinander ist vorhersagbar und erwartbar. Im Satz We played a couple of party games to break the ice zerstört das Lexem ice hingegen die Kohäsion, weil es keinem der sonst verwendeten Lexeme semantisch nahe steht. Eine gewisse Ähnlichkeit kann zwischen den korpuslinguistischen Verfahren der Identifikation von Varianten einer formelhaften Wendung und den relation extraction-Methoden des Text Mining, der zuletzt in der Auflistung oben angeführten Gruppe, gefunden werden. Für die Beantwortung der Frage nach den intertextuellen Dynamiken und des Transfers ähnlicher, aber paraphrasierter Passagen aus einem Text in den anderen wurden bis jetzt Texte untersucht, bei denen die Verwandtschaft unterschiedlicher Versionen sicher gestellt ist (z.B. unterschiedliche Fassungen der Bibel). Wünschenswert ist die Erweiterung der Anwendung solcher Methoden auf Texte, deren intertextuelle Bezüge wenig geklärt sind bzw. auf Texte, die mit Sicherheit nicht auf einen Ursprungstext zurückgehen und in diesem Sinn nicht verwandt sind. Für alle hier analysierten Identifikationsmethoden gilt, dass sie zwar unterschiedlich gut einzelne Typen der formelhaften Wendungen erkennen, allerdings noch nicht ihrer gesamten Vielfalt mächtig sind. Colson (2010, 31) bemerkt treffend: If a fully automatic extraction of all types of set phrases was possible, this would bring about a linguistic change comparable to the Copernican Revolution in astrophysics.
Die Entwicklung der Werkzeuge zur Identifikation formelhafter Wendungen erfolgt in der Korpus- und Computerlinguistik leider ohne die Rücksichtnahme auf andere Disziplinen, die seit Jahrzehnten gleiche Fragestellungen verfolgen, am ausführlichsten etwa die klassische Phraseologieforschung. Versuche, solche Kriterienbündel formaler, semantischer, pragmatischer, distributioneller, textsortenspezifischer, etymologischer (etwa die Herkunft aus dem Lateinischen berücksichtigender) Art zu definieren, wurden in Burger (1977, 4–16); Burger/Buhofer/Sialm (1982, 346–382); Burger/Linke (22008, 743–745); Friedrich (2006, 16–
152 | 4 Zur Methodik der Untersuchung der historischen formelhaften Sprache
20) und schließlich auch in Burger (2012a, 4–7) unternommen. Der Vorteil besteht hier darin, dass diese Versuche empirisch fundiert sind und sich aus der konkreten Arbeit an historischen Texten ableiten. Die Erfahrung der Phraseologieforschung zeigt auch, dass ein Kriterium selten für die Identifikation einer formelhaften Wendung ausreicht; meistens (insbesondere bei Kollokationen) ist eine Kombination von unterschiedlich gelagerten Kriterien nötig. Zu prüfen wäre, ob solche Methoden der Phraseologieforschung wie die Berücksichtigung des kulturhistorischen Hintergrunds eines Textes bei der Identifikation formelhafter Wendungen oder das Einschließen der auffälligen, aber sprachlich immer unterschiedlich realisierten Textstellen, an denen formelhafte Wendungen mit hoher Wahrscheinlichkeit vorkommen (z.B. Situationen der Begrüßung, des Abschieds, der Danksagung) sich für die Korpus- und Computerlinguistik operationalisieren und vor allem automatisieren lassen. Bei anderen Verfahren sind die Ähnlichkeiten in Herangehensweisen unverkennbar, vgl. Tabelle 4: Tab. 4: Ähnliche Methoden der Identifikation formelhafter Wendungen in der Linguistik/Phraseologieforschung und Korpus- und Computerlinguistik Linguistik/Phraseologieforschung
Korpus- und Computerlinguistik
Inkompatibilitäten von Komponenten einer formelhaften Wendung mit dem Kontext
vektorbasierte Verfahren des Information Retrieval
Berücksichtigung der strukturellen und/oder semantischer Irregularitäten im Konstituentenbestand einer Wendung
formal preferences Verfahren
Vorhandensein einer metasprachlichen Formel (z.B. wie man sagt)
association measures Verfahren, formal preferences Verfahren, relation extraction des Text Mining
mehrfaches identisches Vorkommen einer Wendung
association measures Verfahren
Vorhandensein einer ähnlichen Wendung im Neu- relation extraction des Text Mining hochdeutschen Vorhandensein ähnlicher Wendungen in anderen relation extraction des Text Mining historischen Sprachen
Korpus- und computerlinguistische Methoden zur Identifikation formelhafter Wendungen wurden genauso wie die Werkzeuge zur Korpusannotation bis jetzt kaum an historischen Texten erprobt. Das Problem der Identifikation der singulär belegten Wendungen stellt sich für die Untersuchung der historischen formelhaften Sprache mit besonderer Schärfe: Aufgrund der Überlieferungssituation und
4.3 Formelhafte Sprache im ältesten Deutsch – HiFoS-Projekt | 153
der niedrigen Zahl der älteren Texte für einige Sprachstufen werden statistische Analysen einzelner Belege nicht in der Repräsentativität möglich sein wie sie sich für das gegenwärtige Deutsch erweisen. Hinzu kommen das Problem der enormen Varianz der älteren Sprachstufen auf allen sprachlichen Ebenen und die Mehrdeutigkeit der graphischen Formen, die das Auffinden eines Belegs mit computerlinguistischen Mitteln erschweren und eine Normalisierung der Texte voraussetzen.
4.3 Formelhafte Sprache im ältesten Deutsch – Methodik ihrer Untersuchung im HiFoS-Projekt 4.3.1 HiFoS-Textkorpus: Zusammensetzung Mit Blick auf diesen methodischen Forschungsstand und vor allem angesichts des Fehlens eines umfangreichen philologisch verlässlichen elektronischen Textkorpus für das ältere Deutsch, das den oben beschriebenen Anforderungen Rechnung tragen würde, hat sich die HiFoS-Gruppe für ein anderes Vorgehen entschieden. Das Vorgehen kann als korpusbasiert charakterisiert werden, allerdings war es nicht auf die Kompilation eines elektronischen Textkorpus, sondern eines Belegkorpus ausgerichtet, bei dem die flächendeckende Identifikation, Dokumentation, Annotation und Analyse von formelhaften Wendungen nach den im Projekt entwickelten Kriterien in ahd. und altsächsischen (as.) Texten der Zeitspanne ca. 750 bis ca. 105030 im Vordergrund stand. Aufgrund der relativ überschaubaren Überlieferungstradition der ältesten Sprachstufe des Deutschen wurden alle Texte dieser Epoche zur Analyse herangezogen und liegen nun auch ausgewertet vor. Die Vielfalt der Texte reicht von Sprüchen mit einer oder wenigen Zeilen bis hin zu den umfangreichen Werken Notkers von St. Gallen, von der germanischen Stabreimdichtung des Hildebrandsliedes bis zur gelehrten Übersetzung und Interpretation theologischer und philosophischer lateini-
|| 30 Die vorliegende Darstellung beschränkt sich auf das Althochdeutsche und das Altsächsische; die HiFoS-Daten enthalten allerdings auch das mhd. und frnhd. Material. Die Auswertung der späteren Zeitstufen erfolgte schwerpunktmäßig in drei Dissertationsprojekten, die einen unentbehrlichen Teil des HiFoS-Projekts bildeten, vgl. Hanauska (2014); Hoff (2012) und Gottwald (2009).
154 | 4 Zur Methodik der Untersuchung der historischen formelhaften Sprache
scher Schriften, von Interlinearversionen und eng an die lateinischen Vorlagen gebundenen christlichen Gebrauchstexte bis zu syntaktisch weithin eigenständiger Textgestaltung in Otfrids Endreimdichtung und Notkers Werken. (Köppe 2002, o.S.)
Nicht berücksichtigt wurden die in dieser Zeit entstandenen sprichwörtlichen Sammlungen, die in mittellateinischen Urkunden-, Rechts- und Berichtstexten eingesprengten volkssprachigen Wörter und die Glossenüberlieferung. Die Gründe für den Ausschluss des zuerst genannten Quellentyps wurden in Kap. 4.1 dargelegt; die Glossenüberlieferung scheidet aus, weil sie grundsätzlich eine andere methodische Herangehensweise erfordern würde.31 Da Glossen an Umfang, Vielfalt und Schwierigkeit die Überlieferung deutscher Wörter in fortlaufenden (lateinisch-)deutschen Texten übertreffen und immer wieder durch neue Funde erweitert werden, müssen sie Gegenstand einer separaten Untersuchung sein. Idealerweise soll eine solche Untersuchung auf originalen Handschriften basieren. Tabelle 5 enthält eine Übersicht über das ahd. Teilkorpus des HiFoS-Projekts und informiert über die Zahl der Belege aus jedem einzelnen Text. Die Gesamtzahl der altdeutschen Belege beläuft sich auf ca. 9.548.32 Tab. 5: Das Textkorpus des HiFoS-Projekts
Althochdeutsche und altsächsische Texte
Belegzahl
Ad equum errehet
2
Ad signandum domum
1
Alemannischer Glaube und Beichte
53
Altalemannische Psalmenübersetzung I
4
Altalemannische Psalmenübersetzung II
7
Altbairische Beichte
10
Altbairisches Gebet (Hs. B)
16
|| 31 Die Übersicht über die im zwölfbändigen ‚Althochdeutschen und Altsächsischen Glossenwortschatz‘ (Schützeichel 2004) zusammengestellte Glossenüberlieferung zeigt zwar, dass die meisten Einträge Einzellexeme sind. Allerdings finden sich darunter auch mehrwortartige Verbindungen, über deren formelhaften Charakter gegenwärtig noch keine Aussagen gemacht werden können. 32 Berücksichtigt man auch die im Rahmen der Dissertationen erstellten Teilkorpora für das Mittel- und Frühneuhochdeutsche, so liegt die Gesamtzahl bei 31.635 formelhaften Einheiten (Stand: Juli 2013).
4.3 Formelhafte Sprache im ältesten Deutsch – HiFoS-Projekt | 155
Althochdeutsche und altsächsische Texte
Belegzahl
Althochdeutsche Benediktinerregel
224
Altsächsische Beichte
42
Altsächsische Genesis
52
Altsächsisches Taufgelöbnis
9
Augsburger Gebet
2
Bamberger Blutsegen
9
Bamberger Glaube und Beichte
92
Basler Rezepte
7
Bedas Allerheiligenpredigt
14
Benediktbeurer Glauben und Beichte I
56
Benediktbeurer Glauben und Beichte II
78
Benediktbeurer Glauben und Beichte III
155
Bruchstück einer Beichte
16
Carmen ad Deum
12
Christus und die Samariterin
11
Contra caducum morbum/Gegen Fallsucht
3
Contra malum malannum
1
Contra uberbein
2
Contra vermes pecus edentem
1
Contra vermem edentem
6
De Heinrico
9
Exhortatio ad plebem (Hs. A)
10
Fränkisches Gebet
3
Fränkisches Taufgelöbnis
10
Frauengeheimnisse
1
Freisinger Paternoster (Hs. A)
14
Fuldaer Beichte (Hs. A)
21
Gebetbruchstück
2
Geistliche Ratschläge
28
Georgslied
16
Heliand (Hs. C)
1.082
Hildebrandslied
24
Himmel und Hölle
25
Isidor (Hs. P)
182
Jüngere bairische Beichte
13
Kasseler Glossen
2
156 | 4 Zur Methodik der Untersuchung der historischen formelhaften Sprache
Althochdeutsche und altsächsische Texte
Belegzahl
Kleriker und Nonne
4
Klerikereid/Priestereid
7
Klosterneuburger Gebet
7
Kölner Inschrift
2
Kölner Taufgelöbnis
7
Lex Salica (Bruchstück einer ahd. Übersetzung)
18
Lorscher Beichte
41
Lorscher Bienensegen
2
Ludwigslied
24
Mainzer Beichte
12
Merseburger Zaubersprüche
4
Mittelfränkische Psalmen
8
Murbacher Hymnen
93
Muspilli
15
Münchener Augensegen
4
Niederdeutscher Glauben
43
Notker, Boethius, De consolatione philosophiae (Hs. A)
571
Notker, Cantica
185
Notker, Categoriae (Hs. B, CSg 818)
179
Notker, De arte rhetorica (Hs. D)
11
Notker, De interpretatione
128
Notker, De partibus logicae
14
Notker, De syllogismis
42
Notker, Martianus Capella
424
Notker, Psalmenauslegung
1.378
Notkerglossator (Cantica)
1
Notkerglossator (Psalter)
274
Otfrid Evangelienbuch
1.720
Otlohs Gebet
40
Pariser (Altdeutsche) Gespräche I
5
Pariser (Altdeutsche) Gespräche II
13
Petruslied
5
Pfälzer Beichte
25
Physiologus
48
Predigtsammlung A
57
Predigtsammlung B
82
4.3 Formelhafte Sprache im ältesten Deutsch – HiFoS-Projekt | 157
Althochdeutsche und altsächsische Texte
Belegzahl
Predigtsammlung C
14
Pro Nessia
5
Psalm 138
8
Reichenauer Beichte
35
Rheinfränkische Cantica
8
Sigiharts Gebete
4
St. Galler Glaube und Beichte I
18
St. Galler Glaube und Beichte II
24
St. Galler Glaube und Beichte III
15
St. Galler (Spott-) Verse I
2
St. Galler (Spott-) Verse II
2
St. Galler Paternoster und Credo
15
St. Galler Schularbeit I
8
St. Galler Schularbeit II
1
St. Galler Sprichwörter
2
St. Pauler Interlinearversion zu Lc 1,64-2,51
5
Straßburger Blutsegen
3
Straßburger Eide
6
Süddeutscher (Münchner) Glauben und Beichte (A)
70
Süddeutscher (Münchner) Glauben und Beichte (B)
60
Althochdeutscher Tatian
892
Trierer Blutsegen
2
Trierer Capitulare
15
Trierer Pferdesegen
3
Erster Trierer Teufelsspruch
1
Zweiter Trierer Teufelsspruch
3
Weingartner Buchunterschrift
2
Weißenburger Katechismus
79
Weingartner Reisesegen
12
Erster Wessobrunner Glaube und Beichte
117
Zweiter Wessobrunner Glaube und Beichte
67
Wessobrunner Gebet
7
Wessobrunner Predigt
3
Wiener altsächsischer Segen
3
Wiener (Hunde-)Segen
2
Williram, Hoheliedkommentar
196
158 | 4 Zur Methodik der Untersuchung der historischen formelhaften Sprache
Althochdeutsche und altsächsische Texte
Belegzahl
Würzburger Beichte
16
Würzburger Markbeschreibung (2)
3
Die Berücksichtigung der gesamten altdeutschen Überlieferung liegt somit in der in Kap. 2.4 begründeten Notwendigkeit der systematischen Erforschung des gesamten formelhaften Bestandes einer historischen Epoche als substantieller Teil ihrer „epoch vocabularies“ (Wells 2002, 1399) ohne spezielle Fokussierung auf einen bestimmten Autor, eine Textsorte und/oder einen ausgewählten Typ der formelhaften Wendungen begründet. Die so verstandene Grundlagenforschung leitete sich vom primären Interesse des Projekts ab, die Dynamiken und Wandelprozesse der formelhaften Wendungen synchron zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Sprachgeschichte und diachron zu analysieren.
4.3.2 Definition einer formelhaften Wendung Sprachliche Einheiten, die die HiFoS-Gruppe zu ihrem Untersuchungsgegenstand hatte, wurden als formelhafte Wendung bezeichnet. Die Verwendung dieses Begriffs erklärt sich nicht aus dem Wunsch heraus, einer Vielzahl der in der Linguistik existierenden Bezeichnungen für Wortverbindungen eine weitere hinzuzufügen, sondern aus der anhand der Textarbeit gewonnen Erkenntnis, dass sich die am Material moderner Sprachen erarbeiteten Begrifflichkeiten – die gängigsten davon sind Phrasem, Phraseologismus, construction – nicht ohne Einschränkungen auf das historische Material übertragen lassen. Allein die zwei bis jetzt für zentral gehaltenen Merkmale eines Phraseologismus bzw. Phrasems Polylexikalität und Festigkeit müssen aus historischer Perspektive revidiert werden: Polylexikalität kollidiert mit den wenig konventionalisierten und verbindlichen Normen der Rechtschreibung, die mal die Zusammen-, mal die Getrenntschreibung ein und desgleichen Belegs zulassen. Festigkeit ist in historischen Daten mit ausgeprägter Variation als Normal- und Regelfall eher eine seltene Ausnahme.33 Die Auswertung älterer Texte zeigt auch, dass in historischen Kommunikationssituationen Wendungen als formelhaft verstanden werden müssen, für deren typologische Beschreibung die klassische Phraseologieforschung keinen
|| 33 Hanauska (2014, 29–35); Filatkina (2012, 26–27) und Burger (2012a, 4–7 und 15–17). Zur Variation vgl. Kap. 5.
4.3 Formelhafte Sprache im ältesten Deutsch – HiFoS-Projekt | 159
begrifflichen Apparat liefert. Im Gegensatz zu diesen Termini ist der Begriff formelhafte Wendung weiter gefasst. Im Vergleich zu construction ist er hingegen enger zu verstehen, da constructions u.a. auch Flexions- und Wortbildungsmorpheme sowie abstrakte grammatische Erscheinungen (z.B. analytisches Futur oder Perfekt im Deutschen) einschließen;34 sie sind jedoch nicht Bestandteil der vorliegenden Untersuchung sind. Formelhafte Wendungen sind auch nicht unbedingt abstrahierte auf Kognition basierende Form-Bedeutungspaare, denn solch eine Definition wäre sprachhistorisch kaum operationalisierbar, sondern in erster Linie konventionalisierte holistische Einheiten der sprachlichen Oberfläche, hinter denen allerdings formelhafte zum kulturellen Gedächtnis gehörende Wissensbestände stehen können. Stein (1995, 57; 2007, 220) hält solche sprachlichen Einheiten für formelhaft, die durch Rekurrenz, d.h. durch geläufigen Gebrauch, fest geworden sind oder fest werden. Aufgrund der Festigkeit im Gebrauch sind oder werden sie lexikalisiert, d.h. sie sind Bestandteile oder werden zu Bestandteilen des Wortschatzes, so daß sie von den Sprachteilhabern als fertige komplexe Einheiten reproduziert werden. (Stein 1995, 57)35
In dieser Definition wird der in der gegenwartssprachlich orientierten Linguistik entstandene Begriff vor allem auf die gesprochene Sprache und gesprächsspezifische Formeln bezogen. Für historische Fragestellungen erweisen sich einige Merkmale als problematisch. So können etwa die Kriterien der Rekurrenz und der Reproduzierbarkeit alleine schon aufgrund der lückenhaften Überlieferung nur bedingt nachgewiesen werden. Auch wenn sie nicht ganz abgelehnt werden können und müssen, sollen sie in ihrer Wichtigkeit als definitorische Merkmale einer historischen formelhaften Wendung doch relativiert werden. Eines der methodischen Postulate der HiFoS-Gruppe bestand in der Erkenntnis, dass Geläufigkeit, Rekurrenz bzw. Häufigkeit sehr wohl ein zusätzliches Charakteristikum einer formelhaften Wendung sein können, nicht aber ihr absolutes Merkmal sein dürfen, weil Wendungen in Textkorpora in den seltensten Fällen in genügendem Maße belegt sind. Im Althochdeutschen begegnen nicht nur singuläre Belege, sondern formelhafte Wendungen, die nur bei einem Autor vorkommen, so das Beispiel thoh [h]uuidaru ‚dennoch, aber‘, das im Belegkorpus zwar mehrfach vorkommt,
|| 34 Vgl. Kap. 1.6. 35 Vgl. auch Wray (2008, 9–11) und Kap. 1.7.
160 | 4 Zur Methodik der Untersuchung der historischen formelhaften Sprache
aber ausschließlich an die ‚Tatian‘-Bilingue gebunden ist.36 giloubo uuesan/uuerdan ‚glaubend sein; glauben, dass‘ ist in prädikativer Verwendung auf Otfrids ‚Evangelienharmonie‘ eingeschränkt.37 Die Relativierung des Merkmals Rekurrenz wird auch seitens der gegenwartssprachlich bezogenen Forschung zur Formelhaftigkeit bestätigt. So ist es laut Feilke (2004, 41, vgl. auch Kap. 1.5.1) aus Sicht der Textproduktion irrelevant, wie häufig ein Ausdruck vorkommt. Selbst das rekurrente Produzieren und Rezipieren eines Ausdrucks garantiert nicht, dass die Sprecherinnen und Sprecher ihn als konventionelles kommunikatives Zeichen bewerten und beherrschen würden. Umgekehrt gibt es etwa in fachspezifischen Kontexten Ausdrücke niedriger Rekurrenz, die aber in diesen Kontexten formelhaft (idiomatisch geprägt in Feilkes Terminologie) sind. Wray (2009, 36), Wray/Perkins (2000, 7) u.a. betonen dies auch aus der Perspektive der Spracherwerbsforschung (vgl. Kap. 1.7). Zuletzt hat auch Steyer (2013, 31 und 341) für die Korpuslinguistik behauptet, dass die statistische Signifikanz des Kovorkommens von Komponenten einer potenziellen Wortverbindung keine absolute Größe darstellt, lediglich in Bezug auf eine bestimmte Fragestellung Sinn ergibt und vor dem Hintergrund des zugrunde gelegten Untersuchungsdesigns zu bewerten ist.38 In den ahd. Daten des HiFoS-Projekts ist das singuläre Vorkommen der Belege ein Normalfall, der diese Belege nicht weniger wertvoll bzw. weniger formelhaft macht. Auch singulär vorkommende formelhafte Wendungen wurden als „Beleg-Kandidaten“ aufgenommen und entsprechend kommentiert. Der formelhafte Charakter solcher Belege entfaltet sich in einigen Fällen erst in den späteren Sprachstufen in vollem Maße. Er ist in anderen Fällen auch nur durch den Vergleich mit anderen Sprachen zu ermitteln: Das Vorhandensein eines ähnlichen bzw. vergleichbaren Belegs in historischen Sprachen L2,3,4…n erhöht die Wahrscheinlichkeit seines formelhaften Charakters in L1. Die kontrastive Methode avanciert somit zu einem wichtigen Mittel der Untersuchung der historischen Formelhaftigkeit.
|| 36 Dies bestätig auch das AWB (2, 589). 37 Vgl. genauso AWB (5, 1341). 38 Vgl. ähnlich auch Hanauska (2014, 33): „Um die Rekurrenz einer Formel zu beurteilen, bedarf es daher zweier Bezugssysteme: einerseits des quantitativ messbaren Bezugsystems des Untersuchungskorpus, andererseits eines Bezugsystems, das die Relation zwischen dem Auftreten bestimmter Formeltypen und bestimmter Textsorten in den Blick nimmt. Bislang ist jedoch dieses letzte Bezugssystem noch nicht empirisch anwendbar, da es zu wenige ausführliche Untersuchungen zum Verhältnis von einzelnen phraseologischen Typen und bestimmten Textsorten gibt.“
4.3 Formelhafte Sprache im ältesten Deutsch – HiFoS-Projekt | 161
Ein Beispiel mag hier genügen: Das Sprichwort Große Fische fressen die kleinen existiert zwar auch im modernen Deutsch, die Zahl der historischen Belege im Deutschen ist im Gegensatz zu anderen mittelalterlichen Sprachen und trotz antiker Wurzel, der Verwendung durch Kirchenväter, der Visualisierung auf dem Simultangemälde „Niederländische Sprichwörter“ Pieter Bruegels und wohl auch der semantischen Ähnlichkeit mit der Bibelstelle Vulg., Sirach 13,23/Lutherbibel, PS. 10,9 allerdings überschaubar. Ihre Untersuchung zeigt zum einen die große Variationsbreite der formelhaften Wendung auf, zum anderen eine späte Verfestigung des Sprichworts in der heute üblichen lexikalischen Besetzung. Die angeführte Form tritt im Deutschen erst im 17. Jahrhundert, dann allerdings bereits in einer barocken parömiologischen Sammlung in Erscheinung.39 Ein Blick in die historische Phraseologie des Jiddischen führt etwas unerwartet weiter in die Überlieferungsgeschichte zurück.40 Ein Fabelbuch des Jakob Koppelmann aus dem Jahr 1583, das die um 1200 entstandenen hebräischen Fuchsfabeln des Berechja ben Natronaj haNakdan in einer westjiddischen gereimten Form wiedergibt, enthält eine Stelle mit dem erwähnten Sprichwort in der auch im Deutschen heute bekannten und geläufigen lexikalischen Besetzung und morphosyntaktischen Struktur, vgl. Filatkina/Kleine-Engel/Münch (2012, 6). In dieser Fabel kommt das Sprichwort in der wörtlichen Bedeutung vor (es geht tatsächlich um den Kampf unter den Fischen, bei dem reale große Fische kleinere Artgenossen fressen), aber die breitere und übertragene Bedeutung‚ Die Starken leben von den Schwachen‘, wie sie die Edition der Fabel als Erläuterung dieser Stelle beigibt, ist zweifelsfrei erkennbar. Dieser westjiddische Fund stellt gegenüber dem Deutschen den etwas älteren schriftlichen Beleg des Sprichworts in dieser Form dar. Bei der Nähe des Jiddischen zur mündlichen Überlieferung deutscher Mundarten darf wohl mit einer relativ gefestigten Überlieferungstradition gerechnet werden.41 Wie Sprachvergleich ist auch die Berücksichtigung der herausragenden Rolle der Formelhaftigkeit als Mittel der visuellen Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit (vgl. Kap. 2.6) bei der Bestimmung des formelhaften Charakters
|| 39 Für die früheren Belege seit Luthers Bibelübersetzung mit Anspielungen auf das heutige Sprichwort vgl. Filatkina/Kleine-Engel/Münch (2012, 3–5). 40 Ich beziehe mich auf die Daten des Projekts ‚Jiddische Phraseologie im Kontext europäischer Sprachen – JPhras‘ des Historisch-Kulturwissenschaftlichen Forschungszentrums (HKFZ) Trier unter der Leitung von Dr. Ane Kleine-Engel und Prof. Dr. Claudine Moulin. Nähere Informationen zu JPhras unter www.jphras.uni-trier.de. 41 Kleine-Engel führt auch für das Jüdische bis jetzt unbekannte Stellen mit diesem Sprichwort an, z.B. Talmudtraktat Berachot 61b, vgl. Filatkina/Kleine-Engel/Münch (2012, 6).
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oft singulärer sprachlicher Ausdrücke hilfreich und methodisch wichtig. So bemerkt Münch in Filatkina/Kleine-Engel/Münch (2010, 242) in Bezug auf das Idiom nach jemandes Pfeife tanzen, dass Röhrich (72004) zu dessen Illustrierung einen Holzschnitt vom tanzenden und Flöte spielenden Tod anführt. Ein etymologischer Zusammenhang zwischen dem Motiv des danse macabre und dem Idiom ist allerdings nach Münchs Auffassung nicht nachweisbar; hingegen wurde die Variante Er lässt alle auf seinem Daumen tanzen mit einem auf dem Finger drehenden Globus in zahlreichen Gemälden aus dem flämischen Raum, etwa von Frans Hogenberg oder Pieter Brueghel d.J., wiedergegeben.42 Kehren wir zu der in Stein (1995, 57; 2007, 220) vorgeschlagenen Definition der formelhaften Wendungen zurück. Diese enthält einige Aspekte, die sich auch
|| 42 Aus diesem Grund wurde in der HiFoS-Forschergruppe ein Konzept des interdisziplinären Forschernetzwerks zur Untersuchung der historischen formelhaften Sprache erarbeitet. Das Netzwerk soll die folgenden thematisch vergleichbaren, linguistischen bzw. philologisch orientierten Projekte verbinden: HiFoS, ‚Aliento. Analyse Linguistique et Interculturelle des ENoncés Sapientiels et Transmission Orient/occident – occident/orientʻ (www.aliento.eu; Bornes-Varol/ Ortola 2010), ,DoLph. Dynamics of Luxembourgish Phraseologyʻ (http://phraseolux.uni.lu/ web/; Filatkina/Kleine/Münch 2010; Kleine-Engel 2012; 2011), ,CASG. Corpus der arabischen und syrischen Gnomologienʻ (http://casg.orientphil.uni-halle.de/?page_id=17) und ,SAWS. Sharing Ancient Wisdoms, Exploring the tradition of Greek and Arabic wisdom literaturesʻ (http://www. kcl.ac.uk/artshums/depts/chs/research/projects/saw/index.aspx) und die darin vertretenen unterschiedlichen historischen Sprachen mit der Überlieferung der visuellen Formelhaftigkeit, d.h. den Daten des Projekts ‚Gnomisches Wissen im Raum der Bilder. Die Visualisierung von Sprichwörtern und Formelhaftigkeit in der Kunst des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Gnomik Visuell)‘ (http://www.kuenstlersozialgeschichte-trier.de/professur-tacke/forschungs-undpraxisprojekte/gnovis/) verbinden. Ziel dieser Vernetzung besteht darin, den potenziellen Nutzerinnen und Nutzer einer dieser Datenbanken die simultane Suche in den Datenbeständen aller Projekte zu ermöglichen, sodass zusätzlich zum intendierten Ergebnis eine Übersicht von ähnlichen Belegen aus anderen Datenbanken und folglich anderen Sprachen erhalten werden kann. Ursprünglich wurde geplant, die Vernetzung über das Feld „Zielkonzept“ (vgl. dazu Kap. 4.3.3) zu realisieren, weil alle Projekte über Kommentierungen dieser Art verfügen. Das Konzept sieht vor, dass aus den Daten dieser Felder eine für alle Projekte gemeinsame Ontologie in englischer Sprache erarbeitet wird, auf die möglichst alle Zielkonzepte der beteiligten Projekte abgebildet werden können. Die Nutzerinnen und Nutzer suchen in einem der Projekte nach einem Begriff in der jeweiligen Projektsprache und erhalten dementsprechend eine projektspezifische Trefferliste. Die Zielkonzepte der Belege aus dieser Trefferliste werden automatisch mit der Ontologie verglichen. Im Zuge des Vergleichs wird eine neue Liste von Zielkonzepten erstellt und auf deren Basis eine neue Suche über alle angeschlossenen Datenbanken gestartet. Die Ergebnisliste wird entsprechend gekennzeichnet und zusammen mit der ursprünglichen Suche ausgegeben. Vorstellbar wäre, dass die Nutzerinnen und Nutzer zusätzlich aus Datenbanken auswählen können, in denen sie den Suchbegriff verfolgen wollen.
4.3 Formelhafte Sprache im ältesten Deutsch – HiFoS-Projekt | 163
auf Untersuchungen mit historischen Fragestellungen und auf andere Typen formelhafter Wendungen übertragen lassen. Zum einen bezieht sie sich nicht nur auf das bereits usuell Gewordene, sondern auch auf Strukturen, die sich auf dem Weg zum Usuellen befinden. Dies erlaubt, auch die Strukturen zur Analyse heranzuziehen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte einen niedrigen Grad an syntaktischer Festigkeit aufweisen, variabel sind, nie idiomatisch waren und es auch nie geworden sind. Zum anderen sind die wichtigsten Merkmale einer formelhaften Wendung (Rekurrenz, Festigkeit im Gebrauch, Lexikalisierung und Reproduzierbarkeit) nicht auf eine bestimmte Größe festgelegt und können sich sowohl auf formelhafte Einzellexeme als auch auf polylexikalische Einheiten, die die Satzgrenze überschreiten, und auf ganze Texte beziehen (Stein 1995, 58). Die historische Perspektive zeigt, dass für die Bestimmung des formelhaften Charakters neben der Semantik und dem Grad der Festigkeit eine starke Funktionalisierung einer Einheit im Kommunikationsprozess ausschlaggebend ist. Die pragmatische Funktion bzw. gleich mehrere pragmatische Funktionen, die eine bestimmte Wendung im Text erfüllt, erweisen sich als eines der wichtigsten Kriterien bei der Bestimmung der Formelhaftigkeit. Darauf hat ebenfalls bereits Stein (1995, 58) hingewiesen: Nicht eine besondere Semantik, sondern eine starke Funktionalisierung ist typisch für formelhafte Einheiten. Die Semantik tritt zugunsten (einer oder mehrerer) kommunikativer Funktionen zurück. Sowohl beim mündlichen als auch beim schriftlichen Formulieren erweisen sich formelhafte Bausteine als konventionalisierte und standardisierte Mittel für die Bewältigung regelmäßig wiederkehrender Formulierungsaufgaben.
Stein bezieht diese Aussage wiederum hauptsächlich auf gesprächsspezifische Formeln im modernen Deutsch. Dass das Kriterium der Funktionalisierung für die Bestimmung anderer Typen formelhafter Wendungen in historischen Texten genauso geeignet ist, zeigt Hanauska (2014, 33) bewusst für Belege, deren formelhafter Charakter auf den ersten Blick fraglich erscheint: Die Kollokation gude lude ‚gute/ehrbare Leute‘ erlangt im speziellen Kontext der Kölner Stadtpolitik eine referentielle Funktion und benennt die sozial eng gefasste Gruppe der patrizischen Führungsschicht. Die Einwort-Wendung Vort leitet als Gliederungselement einzelne Paragraphen in einer Abschrift eines Schöffenweistums ein und strukturiert somit den Text. Starke Funktionalisierung vereint auch sehr heterogene Wendungen, die Notker der Deutsche in seinen Texten für den schulischen Unterricht verwendet (Filatkina/Gottwald/Hanauska 2009). Wie in Kap. 3 erwähnt, firmiert ein kleiner Teil davon in der Forschung unter der Bezeichnung Notkers Sprichwörter, ohne aber m.W. den definitorischen Merkmalen eines
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Sprichworts zu entsprechen. Ausgehend von ihrer pragmatischen Funktion gelingt es, die eigentliche Motivation Notkers für den Einsatz solcher Wendungen zu verstehen und sowohl die tatsächlichen „Sprichwörter“ als auch die von ihm bzw. seinen Schülern gebildeten Beispielsätze und logischen Schlüsse nach einem einheitlichen Muster im Kontext des antiken Schulunterrichts als formelhafte Wendungen zu analysieren (Filatkina/Gottwald/Hanauska 2009, 378–380). Die oben dargestellten Aspekte führen zu der Feststellung, dass eine vorläufige Definition formelhafter Wendungen nur eine möglichst weite sein kann, insbesondere wenn – wie in der vorliegenden Untersuchung – das Ziel verfolgt wird, eine erste grundlegende Bestandsaufnahme über den formelhaften Charakter einer historischen Epoche (hier des ältesten Deutsch) vorzunehmen. Ich lege meiner Untersuchung deshalb folgende Definition zugrunde. Formelhafte Wendungen sind im weitesten Sinne: – Einwortausdrücke, typologisch heterogene Kombinationen aus mehreren Konstituenten bzw. ganze Sätze und/oder Texte, – die holistisch verstanden werden müssen, – sich auf unterschiedlichen (auch noch nicht abgeschlossenen) Stadien der formalen, semantischen und funktionalen Konventionalisierung befinden, – auf Gebrauchskonventionen einer Sprachgemeinschaft beruhen, deren etablierte kulturelle (auch kommunikative) Erfahrungen und Wissensbestände sie tradieren, und – die sich durch eine starke Funktionalisierung im Kommunikationsprozess bzw. im Textaufbau auszeichnen können. Die nach diesen Kriterien in den ahd. Texten identifizierten formelhaften Belege bzw. Beleg-Kandidaten wurden in einer analytischen relationalen webbasierten Datenbank des HiFoS-Projekts dokumentiert, annotiert und einer Analyse unterzogen.
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4.3.3 HiFoS-Konzept einer analytischen Datenbank für historische formelhafte Sprache43 Notation des Belegs im Kontext
Abb. 5: Erfassungsmaske „Beleg“
In der ersten Erfassungsmaske (vgl. Abbildung 5) wird ein Ausschnitt aus dem Kontext angezeigt, in dem der Beleg (im Feld „Beleg-Kontext“ farbig unterlegt) im originalen Textzeugen (Handschrift oder philologisch verlässliche diplomatische Edition) vorkommt. Die Notation erfolgte stets ohne jegliche Normierungen bzw. Abweichungen vom Originaltext und schloss gegebenenfalls den lat. Ursprungstext (der Vorlage) mit ein, da eines der wesentlichsten Merkmale der ahd. Überlieferung darin besteht, dass sie zu einem sehr großen Teil lat. Vorlagen mehr oder weniger eng übersetzt oder zumindest zur Grundlage hat. Diesem
|| 43 Die ältere Version der Datenbank wurde in Filatkina (2009a) ausführlich beschrieben. Die vorliegenden Ausführungen stellen das endgültige Konzept vor.
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Merkmal galt es stets Rechnung zu tragen. Verglichen mit einem gegenwartssprachlichen Wörterbuch wären das die Beispielsätze, die traditionell z.B. in einem idiomatischen Nachschlagewerk einer Nennform zugeordnet werden und dort eher zu „versteckten Informationen“ gehören. In der HiFoS-Datenbank avancieren sie zu zentralen Einheiten der Dokumentation, Annotation und Analyse.44 Im Fall der Parallelüberlieferung erfolgte die Auswertung je nach Text entweder nach der vollständigsten Handschrift oder nach der Handschrift, bei der die zeitliche Entfernung zwischen der Entstehung des Textes und des Textüberlieferungszeugen am geringsten ist. Ein großer Teil der Parallelüberlieferung hat sich für das Alt(hoch)deutsche als quantitative, nicht aber als qualitative Bereicherung des Materials herausgestellt;45 die in unterschiedlichen Handschriften eines Textes übermittelte Variation stand in den seltenen Fällen in einem unmittelbaren Bezug zu formelhaften Fragestellungen. In der gleichen Erfassungsmaske wurden Kommentierungen zum Typ des Belegs vorgenommen, die auf der bewährten Mischklassifikation Burgers (52015, 30–60) basieren. Allerdings sind auch in diesem typologischen Bereich Abweichungen von der Gegenwartssprache festzustellen. Begrifflichkeiten wie Sprichwort oder geflügeltes Wort sind sprachhistorisch problematisch, weil der Grad ihrer allgemeinen Geläufigkeit, die bei diesen Typen ein distinktives Merkmal ist, aufgrund singulärer Belege und fehlender metasprachlicher Äußerungen nicht immer nachgewiesen werden kann.46 Ebenfalls schwierig ist die Klassifizierung phraseologischer Terminus, besonders bezogen auf die ältesten Sprachstufen, in denen von einer etablierten Fachsprache oft noch nicht die Rede sein kann. Im HiFoS-Projekt konnten ferner Typen formelhafter Wendungen identifiziert werden, für die das in der Phraseologieforschung etablierte typologische Raster nicht genügt. Dazu gehört z.B. der Typ der sogenannten Mikrotexte. Die Klassifikation versteht sich deshalb als ein offenes ausbaufähiges Raster, das auch die Möglichkeit der Mehrfachzuordnung vorsieht.
|| 44 Vgl. ein ähnliches Vorgehen im Online-Wortschatz-Informationssystem Deutsch (OWID) des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim (http://www.owid.de/). Die Wörterbuchartikel für Sprichwörter und feste Wortverbindungen fangen hier zwar auch mit einer „Nennform“ an; im weiteren Verlauf der Artikel wird aber nicht diese Form kommentiert, sondern die „typischen Kontextmuster.“ Mit Blick auf die Varianz in Textkorpora sind stets mehrere typische Kontextmuster angeführt; sie bilden die Grundlage für die semantische Paraphrase und die Angaben zur pragmatischen Funktion. 45 Vgl. das ähnliche Fazit in Bezug auf das AWB in Bulitta (2010, 372–373). 46 Vgl. Filatkina/Gottwald/Hanauska (2009) zum Begriff Sprichwort; Hanauska (2013; 2014, 69– 89) zu Routineformeln und Sprichwörtern.
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Annotation der semantischen Merkmale Die zweite Erfassungsmaske (vgl. Abbildung 6) widmet sich den semantischen Merkmalen eines Belegs. Das Feld „Paraphrase“ zeigt die aktuelle Bedeutung des Belegs an, die er im gegebenen Kontext aufweist. Im Gegensatz zu einigen existierenden linguistischen Datenbanken, die die standardisierte Metasprache der lexikalischen Semantik verwenden, wurde die Paraphrase in der HiFoS-Datenbank frei formuliert. Dies ermöglichte die ausführliche und kontextbezogene Beschreibung des Beleggebrauchs, in die auch stilistische und pragmatische Angaben einfließen, um auf diese Weise eine exakt dokumentierte Belegbasis zu erstellen und die Vielfalt des Gebrauchs einer formelhaften Wendung zu dokumentieren.
Abb. 6: Erfassungsmaske „Semantische Merkmale“
In diesem Teil ähnelt die HiFoS-Datenbank einem Bedeutungswörterbuch (Wiegand 1986), das ausschöpfende Erläuterungen zum Gebrauchsspektrum der formelhaften Wendungen anbietet. Der Begriff Erläuterung wird hier bewusst im Gegensatz zu Beschreibung, Deskription in Anlehnung an Große (1998) und Apresjan (1999, 52) verwendet, die die erläuternde Funktion der modernen theoretischen
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Semantik proklamieren und ihren Ansatz in den Wörterbüchern neuen Typs fordern. „Gebrauchsspektrum“ bedeutet den Bezug sowohl auf die Ausdrucks-, als auch auf die Inhaltsseite einer formelhaften Wendung: Erläutert werden also sowohl die lexikalische Bedeutung in ihren drei Dimensionen (denotative/referentielle/kognitive, emotive/affektive und volitive47) als auch die Morphosyntax und die lexikalische Besetzung einer Wendung (vgl. unten), die ebenfalls Aussagen über ihre Verwendung in Texten ermöglichen. Obwohl die drei Dimensionen der lexikalischen Bedeutung spätestens seit Bühler (1934/1982) und Black (1968, 153) über Jakobson (1960, 353 und 357) und Hymes (1962, 56) bekannt sind,48 wurden sie entweder isoliert voneinander oder nicht ausreichend systematisch in lexikographischen Werken berücksichtigt.49 Genauso wie stets damit zu rechnen ist, dass für die Verwendung eines Wortes mehr als eine der Bedeutungsdimensionen relevant ist, ist ihr Zusammenspiel für den Gebrauch der formelhaften Wendungen typisch. Zieht man ihren zeichenhaften Charakter als lexikalisierte Zeichen der sekundären Nomination in Betracht, ist sogar mit einer bedeutenderen Rolle dieses Zusammenspiels bei ihrer lexikographischen Beschreibung zu rechnen, als dies bei Einzellexemen der Fall ist. Das Zusammenspiel der drei Bedeutungsebenen lässt sich mit dem in der Phraseologieforschung verbreiteten Begriff „des semantisch-pragmatischen Mehrwerts“ gut fassen. Angaben zur emotiven/ affektiven und volitiven Bedeutungsdimension, also zum Gebrauch einer Wendung im Sprechakt, zum illokutiven Potenzial und zu tradierten Einstellungen, wurden im HiFoS-Projekt von den Informationen zum denotativen/referentiellen/kognitiven Aspekt nicht getrennt. Die Notwendigkeit dieser Angaben ergibt sich aus der Natur der formelhaften Wendungen: Einige davon, z.B. Idiome und Sprichwörter, sind „keine rationale Benennung des Referenten, sondern eine expressiv-wertende, konnotative“, die primär die Stellungnahme des benennenden Subjekts zur Geltung bringen (Černyševa 1984, 18). An das Feld „Paraphrase“ ist das Feld „Semantischer Bereich, Zielkonzept“ gekoppelt. Es handelt sich dabei um einen relativ abstrakten Begriff, der mittels einer gegebenen Wendung versprachlicht wird und der sich aus der Paraphrase ergibt. Angaben zum semantischen Bereich werden im Textkorpus bei allen Belegen mit einer referentiellen (nominativen wie propositionalen) Funktion ge-
|| 47 Zu Unterschieden in der Terminologie vgl. Hermanns (2002, 345). 48 Vgl. den Begriff der Sinndimensionen und das Organon-Modell bei Bühler (1934/1982), die die Darstellungsfunktion, Ausdrucksfunktion und Appellfunktion der Sprache insgesamt umfassen. 49 Vgl. im Gegensatz dazu das ‚Frühneuhochdeutsche Wörterbuch‘ (Reichmann 2010).
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macht. Dabei spielt weder der Grad der Idiomatizität noch der Typ der Bildlichkeit eine Rolle. Von der HiFoS-Nachwuchsforschergruppe wurde eine solche Ontologie für das ahd. Material erarbeitet. Sie ist nicht geschlossen, kann sukzessive ergänzt und als eine gemeinsame Schnittstelle zur Vernetzung mit thematisch assoziierten Projekten benutzt werden.50 Das nächste Feld veranschaulicht die Kommentierungen zu pragmatischen Funktionen des Belegs im Kontext, die eng mit der semantischen Paraphrase verbunden sind. Mit dem Begriff „Pragmatik“ ist vor allem das illokutive Potenzial einer formelhaften Wendung (und nicht etwa ihre stilistische Markierung) gemeint. Die Angaben in diesem Feld erlauben im Gegensatz zur konventionellen lexikographischen Praxis, das illokutive Potenzial als festen Bestandteil der Semantik der formelhaften Wendungen zu beschreiben. Sie bilden die Grundlage für die Beantwortung der Frage nach der Rolle der Formelhaftigkeit in der Sprachgeschichte. Die pragmatische Funktion wird bei der Annotation im Text aus einer Vorschlagsliste gewählt, die in der HiFoS-Forschergruppe erarbeitet wurde. Da es oft schwierig ist, die pragmatische Funktion eines Belegs mit wenigen Begriffen zu erfassen, ist das Feld „Pragmatische Funktion(en)“ zusätzlich um das Feld „Funktionsspektrum“ ergänzt. Es bietet die Möglichkeit, die erfolgte Zuordnung durch die Wahl zusätzlicher Begriffe aus einer mit einem Begriffscluster benannten Kategorie zu spezifizieren oder aber ebenfalls im Beleg vorhandene, aber nicht dominierende pragmatische Funktionen anzuführen, etwa durch Nennung der entsprechenden Begriffe aus der oben erwähnten Liste. Das Feld „Ausgangskonzept“ bezieht sich vor allem auf die enge Klasse der idiomatischen Belege, die zugleich bildlich (metaphorisch und/oder symbolisch motiviert) sind. Der Begriff wird in Anlehnung an die Figurative Language Theory (Dobrovolʼskij/Piirainen 2005) als das Konzept, das einen Bereich des realen und/oder imaginären Lebens darstellt, der als Grundlage für metaphorische bzw. symbolische Übertragung benutzt wird, definiert. Dieses Feld ist an das Feld „Etymologie“ gekoppelt und unterscheidet sich deshalb grundlegend von dem in der Linguistik ebenfalls verbreiteten Terminus Sachfeld oder Sachbereich. Die Einträge in diesem Feld ermöglichen die Beantwortung der aus kulturhistorischer Perspektive wichtigen Frage nach den Bereichen, die von einer historischen Sprache als Grundlagen für metaphorische Umdeutungen benutzt werden. Diesem Ziel dient auch das nächste Feld. Die sogenannte „Kulturelle Komponente“ gibt Auskunft über die kulturellen Rahmenbedingungen, unter denen eine formelhafte Wendung entstanden ist bzw. über den kulturellen Aspekt, der
|| 50 Vgl. Anmerkung 45.
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bei ihrer Herausbildung eine Rolle gespielt hat. Die Klassifikation für diesen Bereich wurde der Figurative Language Theory entnommen und aus sprachhistorischer Perspektive modifiziert. Dies betrifft z.B. die Kategorie „Cultural Model“, die durch zehn Unterkategorien präzisiert werden konnte. Abweichend vom gegenwartssprachlichen Befund erweist sich ferner die Kategorie „Fiktive konzeptuelle Domänen“ für historisches Material als irrelevant, denn das Wissen, das heute als fiktiv charakterisiert werden kann (z.B. Temperamentenlehre, das Wissen über Tiere oder menschliche Körperorgane), kann für das Mittelalter nur bedingt als fiktiv gelten. Annotation der lexikalischen Besetzung und der Morphosyntax
Abb. 7: Erfassungsmaske „Lexikalische Besetzung und Morphosyntax“
Die dritte Erfassungsmaske des Belegkorpus (vgl. Abbildung 7) visualisiert die Annotationen zur lexikalischen Besetzung und Morphosyntax. Mit Hilfe der Angaben der einzelnen Konstituenten in der Struktur einer formelhaften Wendung ist es bei der Analyse möglich, im Belegkorpus nach Belegen mit bestimmten Konstituenten zu suchen. Dieses Feld erlaubt sowohl den Bearbeiterinnen und Bearbeitern als auch den späteren Nutzerinnen und Nutzern die diachrone Suche über Sprachstadien hinweg, da im Textkorpus zu jeder Konstituente ein Metalemma notiert wird. Ein Metalemma ist im Normalfall die neuhochdeutsche Entsprechung der jeweiligen Konstituenten in der unflektierten Form (Substantive,
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Artikel: Nom. Sg., Adjektive: Nullform, Verben: Infinitiv). Es handelt sich dabei nicht um eine literarische Übersetzung, sondern um eine möglichst textnahe, aber im Neuhochdeutschen trotzdem verständliche und grammatisch korrekte Übertragung. Findet sich im Neuhochdeutschen keine lexikalische Entsprechung, wurde das Metalemma in Althochdeutsch nach Schützeichel (2006) notiert. Im Falle der starken Bedeutungsveränderungen (z.B. ahd. arebeit und nhd. Arbeit) erscheinen die Metalemmata sowohl in Neuhochdeutsch (Arbeit, Mühe) als auch in Althochdeutsch (arebeit), wobei die neuhochdeutschen Lemmata lexikalische und semantische Äquivalenz abbilden. In der gleichen Erfassungsmaske wurde ferner die Wortart jeder Konstituente des Belegs nach dem Stuttgart-Tübinger Tagset in der kurzen Basisfassung notiert. Der Kommentar zur Morphologie und lexikalischen Besetzung wird im HiFoS-Projekt als Teil des Gebrauchsspektrums einer Wendung angesehen. Annotationen zu einzelnen Varianten einer formelhaften Wendung dienen in ihrer Summe der Untersuchung der morphosyntaktischen und lexikalischen Dynamiken. In Burger/Linke (22008) wurden einige Beispiele für Verfestigungsprozesse im Bereich der formelhaften Wendungen angeführt, allerdings wurden diese Modelle m.W. nie systematisch untersucht. Dies wird in Kap. 5 exemplarisch nachgeholt. Annotation der zusätzlichen Angaben Zum Schluss wird jeder Beleg in der letzten Erfassungsmaske der sogenannten „Nennform“ (in der Erfassungsmaske mit dem Terminus Phraseologismus bezeichnet, vgl. unten Abbildung 8) zugeordnet. Es handelt sich dabei um eine interpretatorisch, aber eben empirisch unterstützt abstrahierte Form, eine Normalisierung, die allerdings sprachhistorische Rohdaten nicht tangiert und rein dienende Funktionen der Zuordnung der grammatischen und lexikalischen Varianten zu einer Nennform erfüllt. Sprachhistorisch hat sie keinen Aussagewert, erhebt keinen Anspruch darauf, die sprachhistorisch geläufigste, „korrekte“ oder älteste Form zu sein, und hat rein technische Funktionen der Belegbündelung. Die adäquate Formulierung dieser Form verlangt eine gewisse Belegzahl, die die Abstraktion zulässt. Zum Zeitpunkt der Bearbeitung der Belege wurde jede Wendung in der Form aufgenommen, in der sie im Kontext vorkam. Abstraktionsmöglichkeiten bestanden nur bei der Markierung von Leerstellen und bei der Rückführung von Verben auf den Infinitiv. In den weiteren Feldern werden Angaben zu den früheren Belegen sowie ihrer Sprache und Etymologie gemacht. Obwohl es im Projekt ein Bereich ist, der nicht unmittelbar im Vordergrund steht, können diese Angaben – insbesondere ergänzt durch die Daten der thematisch verwandten Projekte (vgl. Anmerkung
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46) – als ein Beitrag zur zukünftigen Geschichte der europäischen formelhaften Sprache betrachtet werden. Informationen dieser Art wurden der Sekundärliteratur entnommen und bei der Formulierung der kulturhistorisch relevanten Aussagen über die Ausgangskonzepte berücksichtigt.
Abb. 8: Erfassungsmaske „Zusätzliche Angaben“
Bündelung der grammatischen und lexikalischen Varianten einer Wendung Einzelne dokumentierte formelhafte Wendungen stehen im HiFoS-Belegkorpus zunächst isoliert voneinander. In dieser Art von Dokumentation bestand das erste Ziel des HiFoS-Projekts. Es ist insofern ein wichtiges Ziel, als auf diese Weise formelhafte Wendungen dokumentiert und weiterer Forschung zur Verfügung gestellt werden konnten, die bis jetzt kaum bis gar nicht die Aufmerksamkeit der historischen Lexikographie gefunden haben. Die Dokumentation war aber nicht das einzige Ziel. Wie oben in Kap. 4.3.3 bereits bemerkt, wurde die Datenbank von Anfang an als ein analytisches Werkzeug zur Erforschung der synchronen und diachronen Dynamik der formelhaften
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Wendungen verstanden. Um dieses Ziel zu erreichen, war es nötig, isoliert stehende Belege nach unterschiedlichen Kriterien für sprachhistorische Analysen zu bündeln. Diese Kriterien konnten von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern abhängig von der Fragestellung beliebig definiert werden. Abfragbar sind alle Ebenen (Belege sowie Quellen) und alle Felder der Datenbank, sodass die Belege gleichzeitig ganzunterschiedlichen Gruppen und mehreren Gruppen zugeordnet werden können. Es ist z.B. vorgesehen, semantisch ähnliche Belege, Belege aus einer Quelle, einer Textsorte (vgl. dazu Kap. 6), eines Autors bzw. Belege, die zu einem thematischen Bereich oder einem Ausgangskonzeptgehören, zusammenführen und diese Gruppen auch auf Dauer speichern zu können. Grammatische und lexikalische Varianten zu einer „Nennform“ können über das Kriterium „Nennform“ gruppiert werden.51 Für die Formulierung der „Nennformen“ zu den Varianten einer Wendung wurde wie auch auf der Ebene des einzelnen Belegs das Neuhochdeutsche als Bezugssystem benutzt. Bei der Übertragung ins Neuhochdeutsche werden die Metalemmata aus der Erfassungsmaske „Lexikalische Besetzung und Morphosyntax“ im Belegkorpus benutzt. Wie oben bereits erwähnt, hat diese Form sprachhistorisch keinen Aussagewert, bildet nicht die Grundlage für die Kommentierung der Variation in der Gruppe und erfüllt rein technische Funktionen der Zusammenfassung der Varianten. Diese Einstellung zur „Nennform“ als terminus technicus erlaubt ferner ein methodisches Problem zu umgehen, das in einer historisch orientierten Untersuchung nicht eindeutig zu lösen ist. Wie soll nämlich insbesondere im Falle der nicht ausreichenden Belegdichte entschieden werden, ob die vorhandenen lexikalischen Varianten in der Tat Varianten einer Wendung und nicht Synonyme sind? Die ersteren können zu einer Gruppe zusammengefasst werden; die letzteren würden die Formulierung von zwei „Nennformen“ erfordern und wären auch folglich Bestandteile von zwei Gruppen.52 Ausschlaggebend war für die Entscheidung im HiFoS-Projekt stets die Bedeutung der Wendungen: Führt die lexikalische Variation zu größeren Veränderungen der aktuellen Bedeutung, wurden die Belege in unterschiedliche Gruppen mit entsprechenden Kommentierungen eingetragen. Die digitalen Möglichkeiten einer relationalen Datenbank erlauben die
|| 51 Die auf diese Weise gebildeten Varianten liegen der Analyse der Verfestigungsprozesse in Kap. 5 zugrunde. 52 Bei grammatischen Varianten stellt sich das Problem nicht. Sie sind in der HiFoS-Datenbank immer zu einer Gruppe zusammengefasst. Das digitale Medium einer relationalen Datenbank erspart die Notwendigkeit der Auswahl einer bestimmten Notationsform. Es erlaubt, alle Varianten anzuführen und die Analysen auf eben diese Varianten und nicht die Nennform zu richten.
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komfortable Vernetzung solcher Gruppen sowie ihr schnelles Auffinden. Allerdings ist das Verständnis dessen, was eine größere semantische Veränderung ist, nicht einfach zu operationalisieren. Die Ermittlung der aktuellen Bedeutung kann auch durch die zeitliche Distanz zum Text erschwert werden. All das unterstreicht nochmals, dass im Zentrum der sprachhistorischen Analysen eigentlich nur die konkret vorkommenden Varianten stehen können, deren Vielfalt nicht hinter den Gruppenüberschriften verloren gehen darf, auch wenn die Überschriften – technisch gesehen – dazu verhelfen, das komplette Bild über die Vielfalt zu bekommen und deshalb auch nützlich sind. Nur über konkrete Varianten lässt sich ein Teil des lexikalischen Systems des älteren Deutsch ermitteln, der bis jetzt wenig Beachtung gefunden hat. Rückschlüsse auf die dialektale Variation im Bereich der Formelhaftigkeit wären möglich, sie stellen ebenfalls ein offenes Forschungsfeld dar. Die Gruppierung kann manuell erfolgen: Nachdem das Kriterium für die Gruppenbildung definiert wurde (z.B. „Nennform“), können über die Suchfunktion die entsprechenden Belege dazu angezeigt werden. Interessiert man sich z.B. für die grammatischen und lexikalischen Varianten der Paarformel gut und übel, so sollen in der Suchmaske die Konstituenten gut und übel in Neuhochdeutsch und zur Einschränkung der Suche noch der Typ „Paarformel“ angeben werden. Im Output erscheint ein Subkorpus mit derzeit 25 Belegen, die nun zu engerer Betrachtung zu einer Gruppe zusammengefasst und als Gruppe für einen unbegrenzten Zeitraum gespeichert werden können. Das Analyseergebnis wird in den Kommentarfeldern zu dieser Gruppe notiert. So ist in Bezug auf die Paarformel festzuhalten, dass sowohl die Morphosyntax als auch die Semantik in Bewegung sind: Die Konstituenten können in den Plural versetzt, mit dem bestimmten Artikel versehen und substantiviert werden; ihre Reihenfolge kann vertauscht werden. Es liegt Varianz in der Konjunktion vor (Substitution von und durch oder oder wider). Die Paarformel kann durch eine Präposition (z.B. ze oder an) erweitert werden. Auch wenn die Suchfunktion das Formulieren komplexer Anfragen ermöglicht, ist dieses Werkzeug für die Belegbündelung nicht optimal. Daher wurde in der Datenbank zusätzlich zu Suchmasken ein Programm implementiert, das Ähnlichkeiten zwischen Belegen automatisch berechnet und keine linguistische Vorverarbeitung (außer der Normierung der orthographischen Variation) erfordert (Dostert 2009). Es wird hierbei davon ausgegangen, dass zwei Belege umso ähnlicher sind, je mehr N- genauer Bi-Gramme der einzelnen Attribute übereinstimmen (vgl. Abbildung 9). Das Programm erhält als Eingabe einen Referenzbeleg und berechnet paarweise die Ähnlichkeit zwischen diesem und allen in der HiFoS-Datenbank gespeicherten Belegen. Als Ergebnis erscheint eine absteigend
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nach dem Grad der Ähnlichkeit sortierte Liste der Belege mit den höchsten Übereinstimmungen am Anfang der Liste. Die betrachteten Attribute können der jeweiligen Fragestellung entsprechend individuell ausgewählt und unterschiedlich stark gewichtet werden. Mithilfe der Ähnlichkeitssuche können grammatische Varianten einer Wendung (vgl. Abbildung 9: er zimmert auf den Regenbogen, sie zimmern auf den Regenbogen, auf den Regenboden zimmern, auf die Regenbögen zimmern) auch ohne linguistische Vorverarbeitung besonders gut zusammengeführt werden. Einer Weiterentwicklung bedürfen sie aber im Bereich der Bündelung der lexikalischen Varianten (er baut/zimmert auf den Regenbogen/Sand/Wind/Eis). Wie semantische Verfahren (Heid 2008, 353; Agirre 2006, 220) zu dieser Weiterentwicklung eingesetzt werden können, wäre eine lohnende Fragestellung für weitere Forschung.
Abb. 9: Ähnlichkeitsbestimmung mit N-Grammen
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Fazit In diesem Kapitel wurde ein möglicher Weg zur Methodik der Erforschung der historischen Formelhaftigkeit und ihrer Dynamik aufgezeigt. Der Vorschlag weiß die enormen Vorteile der Korpuslinguistik und die dadurch auch für die Untersuchung der Formelhaftigkeit erzielten Fortschritte zu schätzen. Er trägt aber in erster Linie der Tatsache Rechnung, dass gegenwärtig kaum frei zugängliche elektronische Textkorpora für das ältere Deutsch vorliegen, die aus vollständigen Texten bestehen, philologisch verlässlich sind, eine übergreifende Suche über die Sprachepochen hinweg erlauben und im Rahmen eines zeitlich begrenzten thematisch stark fokussierten Projekts mit spezifischen nicht korpuslinguistischen Zielen eigentlich auch nicht zu erstellen sind. Im Jahr 2007, als das HiFoS-Projekt seine Arbeit aufgenommen hat, sah der state of the art in der historischen Korpuslinguistik des Deutschen noch anders aus. Der Vorschlag trägt aber auch der Tatsache Rechnung, dass selbst ein großes elektronisches Textkorpus nicht alle Schwierigkeiten im Bereich der historischen Formelhaftigkeit lösen kann, z.B. angesichts der Tatsache, dass am Material der modernen Sprachen erprobte Werkzeuge für die Identifikation formelhafter Wendungen und ihre Annotation gegenwärtig nur für einige wenige Typen der Wendungen geeignet sind und an historischen Daten mit hoher Variation und fehlender Normierung scheitern. Für die Annotation formelhafter Wendungen fehlen jegliche Standards. Solche Spezifika der formelhaften Wendungen wie die große Diskrepanz zwischen der type- und token-Frequenz fordern (genauso wie die Komplexität mancher syntaktischer und grammatischer Phänomene, die die Grenzen eines einzelnen Wortes überschreiten) die gängigen Kriterien der Korpuserstellung heraus und würden vermutlich ein anderes Korpusdesign (einschließlich der Annotationsverfahren) verlangen. Wie es denn auszusehen hat, bleibt eine offene Forschungsfrage, auf die auch die historische Linguistik und die Forschung zur historischen formelhaften Sprache im Moment keine Antwort wissen. Insgesamt sind die kritischen Ausführungen in diesem Kapitel nicht als ein Kapitulieren vor unüberwindbaren Schwierigkeiten zu verstehen, sondern als ein Appell, sich mit diesen in Zukunft im Rahmen der speziell dafür eingerichteten Projekte auseinanderzusetzen. Für die Gegenwart setzt der Vorschlag auf die Erstellung eines umfassenden Belegkorpus, das auf manueller (genauer: intellektueller) Exzerption von Belegen aus Texten (nicht Wörterbüchern), ihrer genauen Dokumentation und möglichst textnaher Annotation in einer webbasierten relationalen Datenbank beruht, die über die Möglichkeiten verfügt, als ein analyti-
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sches Recherchetool zu fungieren und einzelne Funde zu dynamischen Formulierungstraditionen im Wandel zusammenzufügen. Dabei kann das Ziel einer umfassenden Dokumentation nur erreicht werden, wenn einzelne Wendungen als Bestandteile historischer Formulierungstraditionen im vorgeschlagenen weiten Sinn für formelhaft gehalten werden. Zu welchen Ergebnissen die hier vorgestellte Methodik führt, zeigen die folgenden Kapitel.
5 Trying to chart the directions. Wege der Entstehung mikrostruktureller Formelhaftigkeit It would not be entirely inappropriate to regard languages in their diachronic aspect as gigantic expression-compacting machines. (Langacker 1977, 106) One is first struck by the fixity and regularity of phrases, then by their flexibility and variability, then by the characteristically creative extensions and adaptations which occur, sometimes more often than the ‚ordinary‘ form. (Sinclair 1991, 104) […] it’s a bit like trying to chart the directions in which an ice skater can glide, and ending up by saying ‚Every which way‘. (Aitchison 32001, 122)
Auch wenn sich die Einstellungen zu formelhaften Wendungen in unterschiedlichen Epochen verändern (Kap. 3), bleiben sie als eines der wichtigsten Mittel der Kommunikation zu allen historischen Zeiten und in allen Sprachen intakt (Kap. 1, 2 und 4). Die Gründe für die Entstehung solcher Mehrworteinheiten als universalsprachliches Phänomen sind kognitiver und kommunikativer Art. Sprache manifestiert sich grundsätzlich als größere „chunks of linguistic experience“, „store of units of varying sizes […] with varying degree of strength, productivity and connection with other units“ (Bybee 1998, 421–423). Die Speicherung des prozeduralen sprachlichen Wissens in Form von den mit anderen Einheiten (Einzellexemen und abstrakten grammatischen Strukturen) und mit der außersprachlichen Wirklichkeit verbundenen holistischen Einheiten ist kognitiv und kommunikativ sowohl für die Kodierung der Informationen als auch für ihre Dekodierung effizienter. Die Frage danach, warum solche Einheiten überhaupt entstehen, wurde übereinstimmend auf die erwähnte Weise seitens verschiedener Disziplinen und Forschungsrichtungen beantwortet (Kap. 1). Die genannten Gründe dürfen für sprachhistorische Kommunikationssituationen in gleichem Maße gelten wie für die Gegenwart (Kap. 2) und werden auch in der vorliegenden Untersuchung geteilt. Bereits 1977 weist Ronald Langacker, dessen Forschung die Entstehung der Konstruktionsgrammatiken mit geprägt hat, auf den wesentlichen Anteil der Wortverbindungen in einer Sprache und ihre entscheidende Rolle im Prozess der diachronen Dynamik hin. Das erste einleitende Zitat ist ein kurz gehaltener Beleg dafür. Obwohl Langacker seine Ausführungen primär am englischen Material aufbaut, attestiert er seiner Beobachtung einen universalen Charakter.
DOI 10.1515/9783110494884-006
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Hingegen sehen die Antworten auf die Frage, wie die Entstehungswege der formelhaften Wendungen konkret verlaufen, nicht so einheitlich aus. Deshalb steht diese Frage im Zentrum des aktuellen Kapitels. Generell wird die Entstehung der formelhaften Wendungen als Verfestigung ihrer Struktur und Bedeutung im Laufe der Zeit begriffen. Festigkeit als Endprodukt galt bis vor kurzem insbesondere im Rahmen der Phraseologieforschung als das definitorische Merkmal der Formelhaftigkeit. Forschungsgeschichtlich reicht diese Definition in die Anfänge der Phraseologieforschung zurück und galt lange unangefochten, weil das empirische Material fast ausschließlich den Wörterbüchern entnommen wurde. Korpuslinguistische Untersuchungen an geschriebener Sprache sowie die Gesprochene Sprache-Forschung haben gezeigt, dass Variation für die Verwendung der formelhaften Wendungen in der Moderne genauso typisch ist. Invarianz und Variabilität sind in dialektischer komplementärer Weise an der Entstehung der Festigkeit beteiligt. Ein relativ früher Beleg dafür ist das zweite einleitende Zitat von John Sinclair. Auch wenn Burger im Einklang mit aktuellen Forschungsergebnissen in der neusten Auflage seiner „Einführung in die Phraseologie“ (52015, 24) das Merkmal der strukturellen Festigkeit zurecht stark relaviert, ist seiner Beobachtung in der vierten Auflage, „die phraseologische Bedeutung kommt nur dann zustande, wenn die Wortverbindung in einer bestimmten morphosyntaktischen Ausprägung und einer bestimmten lexikalischen Besetzung formuliert wird“ (Burger 42010, 23), grundsätzlich zuzustimmen, zumal Festigkeit nach wie vor der Abgrenzung der formelhaften von freien Wortverbindungen gilt. Festigkeit als Prozess, genauer gesagt Verfestigung, ist eine komplizierteSprachwandelerscheinung, die sich bis jetzt einer systematischen Beschreibung unter Heranziehung der gängigen Theorien des Sprachwandels entzogen hat, obwohl solche Versuche seitens der Phraseologie-, der Grammatikalisierungs-, der Lexikalisierungsforschung und kürzlich der diachron ausgerichteten Konstruktionsgrammatik unternommen werden. Im Weiteren soll geprüft werden, ob die Entstehungswege des Formelhaften in der Tat genauso irregulär und unvorhersagbar sind wie die im dritten einleitenden Zitat metaphorisch angedeuteten Spuren des Eiskunstläufers oder ob sich doch bestimmte Richtungen und Regelmäßigkeiten ausmachen lassen. Die Anführungszeichen beim Begriff „Verfestigungsprozesse“ in der Kapitelüberschrift sollen zeigen, dass es mir auf keinen Fall um das teleologische lineare Verständnis der inner- und außersprachlichen Veränderungen von freien zu festen Wortverbindungen geht. Dafür werde ich im Folgenden kein einziges Beispiel anführen können. Vielmehr geht es mir um die Beschreibung der kleinschrittigen,oft zyklischen, zeitgleich bzw. zeitverschoben verlaufenden Veränderungen
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auf unterschiedlichen Ebenen der formelhaften Wendungen im Inhalts- und Ausdrucksplan sowie nach Möglichkeit um die Aufdeckung der diese Veränderungen begünstigenden Faktoren. In diesem Sinne ist auch die Metapher Jean Aitchisons gemeint, die sich zwar ausschließlich auf den Bedeutungswandel bezieht, aber in meinen Augen auch generell auf den Wandel im Bereich der formelhaften Wendungen angewandt werden kann: Auch wenn es nicht immer möglich ist, klare Veränderungspfade aufzuzeigen, ist die Auseinandersetzung mit den dazu führenden Faktoren lohnenswert. Beginnen möchte ich mit der theoretischen Diskussion (5.1) über einige bereits bekannte Spurenverläufe des Eiskunstläufers, die auch für die Analyse meiner Beispiele relevant sein werden. Die Richtung des Sprachwandels, seine Regelhaftigkeit bzw. ihr Fehlen scheinen mir vom Typ der formelhaften Wendung abhängig zu sein.1 Deshalb wähle ich für die Beispielanalyse in den Kapiteln 5.2 bis 5.3 zwei unterschiedliche Typen aus (Routineformeln und Kollokationen), die in allen sprachhistorischen Epochen des Deutschen produktiv, sprachhistorisch kaum erforscht, m.W. kein Gegenstand der existierenden Sprachwandeltheoriensind und doch einige „Gesetzmäßigkeiten“ der Verfestigung aufweisen. Mit Idiomen (Kap. 5.4) liegt hingegen ein weniger produktiver Typ vor, der mir die Rolle ganz anderer Faktoren des Sprachwandels und andere Abläufe zu zeigen erlaubt. Wie in den früheren Kapiteln liegt der Schwer- und Ausgangspunkt meiner Ausführungen im Althochdeutschen. Da Sprachwandelprozesse aber erst in der Diachronie sichtbar werden, schließe ich den Analysen der synchronen Verwendung im Althochdeutschen erste kursorische Auswertungen der mhd. und fnhd. Daten an und vergleiche die Ergebnisse mit ähnlichen Untersuchungen am altenglischen Material.
5.1 Diachrone Verfestigungsprozesse: theoretische Einblicke Die Suche nach der Antwort auf die Frage, wie Formelhaftigkeit auf der Ebene des einzelnen Ausdrucks entsteht, verteilt sich auf mehrere linguistische Teildisziplinen bzw. Theorien. Sie umfasst in meinen Augen zumindest drei Gruppen von Fragen: a) nach den Ebenen, auf denen sich die Variation und der Wandel konkret abspielen, b) nach den treibenden Faktoren und c) nach den Regeln/Regelmäßigkeiten der Verfestigungsprozesse bzw. ihrem Fehlen. In den herangezogenen Theorien werden diese Fragen abhängig vom Untersuchungsgegenstand unterschiedlich gewichtet und beantwortet.
|| 1 Vgl. auch Burger (42010, 29).
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5.1.1 Variation und Wandel in der Phraseologie- und Parömiologieforschung In der klassischen Phraseologie- bzw. Parömiologieforschung wird unter „Verfestigung“ sowohl die Entstehung der strukturellen Festigkeit (die Festlegung der morphosyntaktischen Form und der lexikalischen Besetzung) als auch die Entstehung der semantischen Festigkeit (einer festgelegten konventionalisierten idiomatischen Bedeutung) verstanden. Die internationale Phraseologieforschung war bis vor Kurzem aus verschiedenen methodischen und forschungsgeschichtlichen Gründen (Kap. 2.4) überwiegend gegenwartssprachlich orientiert; das Interesse der Sprachwandelforschung galt ihrerseits anderen sprachlichen Ebenen, vor allem der phonetisch-phonologischen, morphologischen, morphosyntaktischen, semantischen, pragmatischen und lexikalischen. Für diese Ebenen existieren gut ausgearbeitete Theorien, die den Sprachwandel mehr oder weniger erschöpfend erklären. Berührungspunkte gab es zwischen Sprachwandel- und Phraseologieforschung kaum, u.a. weil jede dieser Theorien eine bestimmte Ebene des Sprachsystems in den Blick nimmt und die formelhafte Sprache (oder enger Phraseologie) sich solchen Zuordnungen entzieht. Angesichts der typologischen und funktionalen Vielfalt der Wendungen, aber auch aufgrund ihres Charakters als Zeichen der sekundären Nomination liegen sie oft quer bzw. zwischen den üblichen Systemebenen Lexik, Morphosyntax, Semantik, Pragmatik, Stilistik und vereinen in sich die Merkmale all dieser Ebenen. Dementsprechend vollziehen sich die Variation und der Wandel im Bereich der Formelhaftigkeit auf all diesen Ebenen und tangieren auch die Typologie und gegebenenfalls die bildliche Grundlage der Wendungen (Dräger 2011, Filatkina 2013). Die Antworten auf die Frage nach den Faktoren und/oder Regelmäßigkeiten rangieren in der Phraseologieforschung zwischen den frühen Versuchen, den Wandel im Bereich der Sprichwörter zu modellieren(vgl. bereits Gvozdarev 1981), bis hin zur Postulierung der absoluten Unmöglichkeit solcher Unterfangen, insbesondere bei Idiomen. So sehen Baranov/Dobrovol’skij (2013, 63) die Gründe der Verfestigung bei Idiomen eher im außersprachlichen Bereich (die kulturelle Relevanz des Spendertextes, der kulturell-historische Kontext, etwa bei Entlehnungen und Fremdwörtern, Steigerung des Prestigegrades bzw. die Verbreitung bestimmter Sub-Sprachen, darunter Jargons) und betonen, dass die Rolle der linguistischen Faktoren sehr gering ist:
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Im Rahmen der Linguistik scheint es unmöglich zu sein, die wahren Gründe der Verfestigung genau aufzudecken. […] Meistens sind die Gründe der Festigkeit außersprachlich zu erklären. […] Viele Gründe der Usualisierung bleiben allerdings völlig ungeklärt.2
Ähnlich argumentiert Dobrovol’skij (2013, 452): Das Idiomatikon unterliegt zu einem großen Grad ‚den Launen des Usus‘, die sowohl das Vorkommen der nicht regelbasierten Varianten als auch der individuellen Restriktionen erwarten lassen. In einigen Fällen ist eine bestimmte Variante standardgemäß, in anderen nicht, wobei die Angemessenheit in einigen Fällen durch bestimmte Regeln erklärt werden kann, in anderen – durch sprachliche Zufälle. Genau diese Unmöglichkeit, im Voraus bestimmen zu können, welche Modifikationen sich für welche Idiome als usuell erweisen werden, macht die Suche nach jeglichen regulären Gesetzmäßigkeiten auf diesem Gebiet zu einer nicht trivialen Aufgabe.3
Mokienkos Bestreben, Varianten eines bestimmten Phraseologismus aus einer Sprache, aus verwandten Sprachen und Dialekten und schließlich auch aus den genetisch nicht verwandten Sprachen um ein strukturell-semantisches Modell (sic!) zu gruppieren, hat die slawische historische Phraseologieforschung lange geprägt (Mokienko 2002). Die abstrakten Modelle fungieren bei diesem Herangehen als „technische“ Werkzeuge, Modelle der Analyse, nicht der Synthese, die den Forscher/die Forscherin zur Rekonstruktion des Prototyps einer Wendung und ihrer Etymologie hinführen sollen. Modellierungsversuche ziehen sich wie ein roter Faden durch die gesamte Parömio-logie (Kuusi 1974; Röhrich/Mieder 1977),4 wo sie teilweise auf die Klassifikation Permjakovs (1979/1984) zurückgehen. Laut dieser Klassifikation fungieren die auf der Inhaltsebene ähnlichen Sprichwörter (dt. Schmiede das Eisen, solange es heiß ist; ostafrk. Forme den Lehm, solange er feucht ist; hebr. Bereite den Kürbis zu, solange das Feuer noch nicht erloschen ist) als Varianten einer invarianten Situation, die sie entweder bezeichnen oder modellieren. Dass Sprichwörter aufgrund der Ähnlichkeit auf der Ausdrucksebene gruppiert werden können, wurde von Permjakov ebenfalls früh bemerkt, vgl. seinen Begriff formbildende Gruppe anhand der sprachlichen Floskeln (auch logische Modelle) wie z.B. Wenn […] dann, wo […] da, wie […] so, wer […] der usw. Im deutlichen Unterschied
|| 2 Original auf Russisch, Übersetzung der Verfasserin. 3 Original auf Russisch, Übersetzung der Verfasserin. Vgl. ähnlich bereits Burger/Buhofer/Sialm (1982, 319). 4 Vgl. insbesondere Röhrich/Mieder (1977, 60): „In sich ständig wiederholende Strukturmodelle und Satzmuster sind immer wieder neue Inhalte gegossen und damit sprichwörtlich geworden.“
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zur Konstruktionsgrammatik (Kap. 5.1.3) erfolgten diese Modellierungen allerdings nicht im Sinne eines Form-Bedeutungspaares, sondern im Entweder-OderModus, also entweder auf der Basis der Inhaltsebene oder auf der Basis der Ausdrucksebene. Beides kombiniert Steyer (2012, 300–310; 2013) und bestätigt die Existenz solcher Sprichwortmuster und Strukturformeln für das Gegenwartsdeutsche mit korpuslinguistischen Methoden. Ihren primär lexikalistischen Ansatz der holistischen usuellen Wortverbindungen habe ich bereits in Kap. 1.8.2 vorgestellt. Für die Frage nach den Verfestigungsprozessen ist dieser Ansatz wiederum insofern wichtig, als Musterhaftigkeit als genuines Sprachprinzip, nicht als eine absolute Festigkeit verstanden wird. Musterhaftigkeit liegt vielmehr der strukturell-semantischen Festigkeit unterschiedlicher Typen der Wortverbindungen (aber eben aller dieser Typen) zugrunde, entsteht nicht regelgeleitet und kaum vorhersagbar. Auch in der Gegenwart sind Wortverbindungen laut Steyers Untersuchung selten absolut lexikalisch fest. Festigkeit bezieht sich im Regelfall auf eine der Komponenten und wird wesentlich durch die anderen Kontextpartner innerhalb und außerhalb der Wortverbindung begünstigt, vgl. insbesondere die Beispiele um die Ohren vs. bis über beide Ohren oder sich fragen vs. sich fragen lassen müssen in Steyer (2013, 57–60). Die lexikalischen Füller eines Slots zeichnen sich durch eine graduelle Typikalität des Vorkommens aus, die aber selbst im Falle der niedrigen Ausprägung (etwa bei singulär bzw. sehr selten belegten Füllern, den so genannten ad hoc- oder okkasionellen Komponenten) nicht zufällig ist, sondern den im prototypischen Bereich vorgegebenen Mustern folgt. Steyer kommt zum Schluss, dass lexikalisch verwandte Sprichwortmuster nur in wenigen Fällen monosem sind (Der Ton/Unterton/… macht die Musik); nur in solchen Fällen stammen die variablen Konstituenten für lexikalische Slots aus einem bzw. aus mehreren eng verwandten Wortfeldern. Die meisten lexikalischen Varianten bringen trotz invarianter Gesamtbedeutung neue Teilbedeutungen ein (Es ist noch kein Meister/Star/Redner vom Himmel gefallen) oder konstituieren ganz andere Bedeutungen (Der Markt/das Geld macht die Musik). Steyer (2012, 310) plädiert dafür, in solchen Fällen auch neue Muster anzunehmen. Vergleichbare Studien am diachronen Material liegen zurzeit nicht vor. Die Idee über die Musterhaftigkeit und somit auch Modellierbarkeit findet in der synchron ausgerichteten Phraseologieforschung eine immer weitere Verbreitung, vgl. Fleischer (21997, 193–197) zu Phraseoschablonen, modellhaften komparativen Phraseologismen und Paarformeln, Feilke (1996) spricht von Ausdrucksmodellen. In die Nähe der Konstruktionsgrammatik (Kap. 5.1.3) kommt die von Burger (2012a, 15) geäußerte Beobachtung:
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Von Variation in der Phraseologie zu sprechen, hat nur einen Sinn, wenn hinter den Varianten eine in gewissem Maße stabile Einheit erkennbar ist. Diese Einheit ist grundsätzlich semantisch zu bestimmen.
Hier wird die Existenz eines Modells, eines Schemas oder eben einer Konstruktion angenommen, die im Sinne einer Abstraktion/Generalisierung als übergeordnetes Dach fungiert und die nach einem ähnlichen Muster entstehenden Varianten zusammenführt. Aus der Perspektive der Konstruktionsgrammatik wäre zu ergänzen, dass diese Generalisierung nicht nur semantisch, sondern auch kognitiv und sozial zu bestimmen wäre, bei allen Schwierigkeiten, die diese Kategorien für diachrone Studien mit sich bringen. Der Vorteil der Untersuchungen zu strukturellen und semantischen Verfestigungsprozessen besteht darin, dass seit Beginn der Diskussion unter dem Stichwort derivationelle Basis die Rolle des Kontextes berücksichtigt wurde (Sialm 1982, 323–330). Als solche konnte eine freie Wendung, ein anderer Phraseologismus, ein Text, eine bestimmte Kommunikationssituation (z.B. der Gebrauch in Fachsprachen) bzw. die Verwendung in einer anderen Sprache fungieren. Die Veränderungen des außersprachlichen Kontextes spielen bei der Dynamik der formelhaften Wendungen eine wichtigere Rolle als z.B. beim grammatischen Wandel. Die Veränderung des außersprachlichen Kontextes (z.B. die Abschaffung der gesetzlich geregelten Bestrafungsmethoden wie im Fall von jemanden auf die Folter spannen) setzt eine (freie) Wortverbindung aus dem rechtlichen Bereich als Bildspender für eine neue – idiomatische – Bedeutung (in diesem Fall ‚jemanden neugierig machen‘) in der Allgemeinsprache frei (Schowe 1994, 210). Die Idiomatisierung von Aller guten Dinge sind drei, etwas auf die lange Bank schieben oder Wer A sagt, muss auch B sagen wird nur dank der Statusveränderung dieser Wendungen im rechtlichen Kontext des Mittelalters ermöglicht, die sie für den Übergang in die allgemeine Sprachverwendung, wo die Idiomatisierung auch erst stattfindet, öffnen (Schowe 1994, 217–224). Die Verankerung bzw. die Herkunft der Wendungen aus großräumig verbreiteten Texten wie etwa dem Sachsenspiegel oder der Bibel begünstigen ihre Verbreitung, aber auch ihre Verfestigung. Hüpper/Topalovic/Elspaß (2002) weisen dies für Paarformeln nach,5 Piirainen (2012) für figurative Wendungen, die heut-
|| 5 Den ahd. und frühmhd. (bis 1200) Paarformeln sind gleich drei Untersuchungen Jeeps (1987; 1995; 2006) gewidmet. Obwohl die Studien immer sehr textnah sind, geht es dort weniger um den Einfluss der Texttradition auf den Verfestigungsprozess. Für die Verwendung der Paarformeln bei Notker stellt Jeep (1987, 166–167) doch einige Regelmäßigkeiten fest. So bemerkt er, dass fast die Hälfte aller Wendungen dieser Art stabreimende Glieder und dieselbe Silbenzahl
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zutage zu weitverbreiteten Idiomen quer durch die Grenzen der genetisch verwandten Sprachen gehören. Soweit ich sehe, fangen solche außersprachlichen Faktoren erst an, in konstruktionsgrammatischen Diskussionen eine Rolle zu spielen; ihre Berücksichtigung wird programmatisch gefordert, gleichwohl wird auch darauf hingewiesen, dass die nötigen Analysekategorien noch fehlen.6 Diskurs-, korpus- und textlinguistische Diskussionen über die grundsätzliche Musterhaftigkeit der gesprochenen und geschriebenen Kommunikation zeigen aber, dass solche Untersuchungen auch im Rahmen der Phraseologieforschung fortgesetzt bzw. auf einem neuen Niveau intensiviert werden müssen. Für die Untersuchung der Verfestigungsprozesse sind sie insofern relevant, als sie, wie z.B. bereits in Fillmores (1977) „Scenes-and-Frames-Ansatz“, eine enge feste Beziehung zwischen nicht sprachlichen Elementen der konzeptuellen „Szenen“ und Elementen sprachlich organisierter „Frames“ annehmen und auf diese Weise die sprachoberflächliche Typik bestimmter Texte bzw. Diskurse erklären. Diese enge Beziehung manifestiert sich u.a. in der wiederholten Verwendung gleicher Ausdrücke; ihre Untersuchung erfordert einen mentalitätsgeschichtlichen und kulturanalytischen Zugang (Bubenhofer 2009; 2015; Fiehler/Barden/Elstermann/ Kraft 2004; Linke 2011; Tienken 2015; Wengeler 2003). Der Nachteil der älteren phraseologischen Forschung ist die wenig empirisch ausgerichtete textbasierte Vorgehensweise und folglich die Unfähigkeit, die Dynamik in kleineren Schritten zu verfolgen. Der Grund dafür besteht allerdings nicht in der prinzipiellen Ignoranz der genauen Veränderungsschritte seitens der Phraseologieforschung, sondern 1) in der Unmöglichkeit ihrer Untersuchung wegen des nicht (ausreichend) vorliegenden Datenmaterials und 2) im grundsätzlichen Problem jeder sprachhistorischen Forschung, nämlich der großen Überlieferungslücken selbst in vorhandenen Textdaten, die das Nachzeichnen ununterbrochener Verfestigungswege erheblich erschweren. Einen der ersten Versuche, die konkreten kleineren Schritteder syntaktischen Verfestigung zu benennen und zu systematisieren, unternehmen in Anlehnung an die sowjetische Phraseologieforschung Burger/Linke (22008, 746–753).7 Sie schließen solche Prozesse mit ein wie Reduktion von lexikalischen Varianten, Verfestigung der morphosyntaktischen Strukturdurch die Fixierung der Artikel || aufweisen. Bei Paarformeln mit ungleicher Silbenzahl folgt die silbenmäßig längere Konstituente doppelt so oft an zweiter Stelle der kürzeren Konstituente. Semantisch gesehen ist die Gegensätzlichkeit die frequentere Relation als die Synonymie. 6 Vgl. exemplarisch für die Synchronie Ziem (2015), für die Diachronie – Filatkina (2014); Fried (2009; 2013); Östman/Trousdale (2013) und Weber (2015). 7 Vgl. auch Burger/Buhofer/Sialm (1982, 68–91, 70–79, 323–330); Burger (52015, 22–24 und 138– 156); Fleischer (21997, 205–213).
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oder Numerusformen auf jeweils eine Variante, Festlegung auf die Diminutivform, Festlegung auf die affirmative/negative Variante, Fixierung der Wortfolge, Substitution im Konstituentenbestand usw. Aurich (2012) bringt für die Annahme, dass die Verfestigung in der Tat über die Reduktion der Varianten verläuft, einen quantitativen Nachweis: Nur 24,7% aller heute noch bekannten englischen Sprichwörter sind in einer absolut unveränderten Form erhalten geblieben; die Zahl der Varianten sinkt von 10–17 pro Sprichwort im Mittelalter bis zu 5,45 in der Frühen Neuzeit. Hüpper/Topalovic/Elspaß (2002) gelingt es, für Paarformeln im Rechtskontext nachzuweisen, dass sie dort lexikalisch bereits sehr früh fest sind, weil ein vereinheitlichendes Recht wie der großräumig über Jahrhunderte wirkende Sachsenspiegel sprachliche Normen vorgibt; morphosyntaktische Variabilität (z.B. die Umkehrung der Reihenfolge der Konstituenten) bleibt hingegen lange in Abhängigkeit des syntaktischen Kontextes und der Stilistik erhalten. Daraus leiten die Autorinnenund Autoren (ebd., 96) die folgenden Verfestigungsschritte im Sinne eines ‚Phraseologisierungspfades‘ ab: 1) Festlegung des Lexembestandes > 2) Entwicklung einer Reihenfolgepräferenz (die gerade nicht durch das Behaghelsche Gesetz der wachsenden Glieder oder Müllers Salienzkriterien bestimmt wird) > 3) Festigung der Morphosyntax. Als entscheidenden Faktor und die treibende Kraft heben sie den Usus, die Verwendung der Paarformeln in einem großräumig wirkenden Text – dem Sachsenspiegel – hervor. Während auch Schowe (1994, 154) diese Abfolge der Verfestigungsschritte für Paarformeln (mit Haut und Haar) bestätigt, scheint sie für Idiome nicht zu gelten: Bei vom Galgen aufs Rad kommen (ebd., 166) ergibt sich eine Fixierung der Wortfolge erst im weiteren Verlauf der Verfestigung mit zunehmender Idiomatisierung. Noch im 19. Jahrhundert lassen sich Varianten nachweisen. Das Augenmerk liegt bei solchen Studien eher auf der phraseologischen Oberfläche, aber der ebenenübergreifende Charakter des Wandels ist auch diesen Ausführungen nicht fremd. So verfestigt sich im Laufe der Geschichte beim Idiom ein Auge auf jemanden/etwas werfen nicht nur die substantivische Konstituente Auge in der Kombination mit dem unbestimmten Artikel und in der Singularform (Burger/Linke 22008, 747–748). Auch der Skopus wird breiter und verschiebt sich von dem bereits in der Bibel belegten Bezug auf Personenauf Nicht-Lebewesen und Gegenstände. Die figurative Bedeutung verändert sich insgesamt von ‚die Augen von jemandem nicht abwenden können‘ zu ‚sich für jemanden/etwas zu
5.1 Diachrone Verfestigungsprozesse: theoretische Einblicke | 187
interessieren beginnen‘ (Duden 11, 72). Piirainen (2016, 564) erklärt diesen Wandel durch eine Kontanimation der biblischen Wendung mit einem wohl ursprünglich lexikalisch und bildlich ähnlichen, aber semantisch komplet abweichenden Idiom, das im modernen Deutschen als einen Blick auf jemanden/etwas werfen ‚jemanden/etwas kurz ansehen‘ bekannt ist. Ebenfalls läuft die morphosyntaktische Verkürzung der frnhd. Paarformel über Hals und Kopf vermutlich parallel zum allmählichen Verblassen der zugrundliegenden höchst konkreten Vorstellung (der bildlichen Grundlage) des mit dem Kopf Vornüberstürzens und sich dabei Überschlagens (Burger/Linke 22008, 748). Diese Ebene des mentalen Bildes bestimmt zu einem gewissen Grad das diskursive Verhalten und transformationelle syntaktische Restriktionen der formelhaften Wendungen mit (Dobrovol’skij 2013; Dobrovol’skij/Piirainen 2009) und spielt auch bei der Entstehung der semantischen Festigkeit, u.a. auch der Idiomatisierung, eine Rolle. An der semantischen Verfestigung im Bereich der formelhaften Wendungen sind die gleichen Prozesse beteiligt, die den semantischen Wandel auch in der freien Verwendung prägen, d.h. Bedeutungserweiterung und verengung, Meliorisierung und Pejorisierung, Bedeutungsverschiebung und – übertragung (Nübling/Dammel/Duke/Szczepaniak 42013, 115–146), wobei bei der letzteren Metaphorisierungen, Metonymisierungen, Implikaturen und Euphemisierungen bei allen idiomatischen Wendungen wirken. Vermutlich ist insbesondere die semantische Verfestigung „den Launen des Usus“ (Dobrovol’skij 2013, 452) unterworfen, zumal die konkrete Bedeutung und/oder das zugrunde liegende mentale Bild (die innere Form) kaum die Prognosen zulassen, wann welcher Prozess greifen wird.8 Allerdings hat die Theorie der konzeptuellen Metaphern bereits in ihrer frühesten Fassung auf einige kognitive Regelmäßigkeiten der metaphorischen und metonymischen Umdeutungen hingewiesen (Lakoff/Johnson 1980). Die Metaphorisierung, die Metonymisierung und die Implikatur gehen auf die Konversationsmaximen zurück, die sprachenübergreifend und grundlegend für das Kooperationsprinzip der Kommukation sind (Grice 1975). Dass semantischer Wandel nicht immer arbiträr und zufällig ist, zeigen auch die am Material mehrerer Sprachen abgehaltenen Untersuchungen zu Diskursmarkern, vgl. exemplarisch
|| 8 Vgl. dazu Nübling/Dammel/Duke/Szczepaniak (42013, 132): „Unser Wissen über die Ursachen und Faktoren semantischen Wandels ist noch rudimentär. Niemals verläuft semantischer Wandel nach festen, gar voraussagbaren Prinzipien, wie dies z.B. (in Maßen) beim phonologischen Wandel der Fall ist.“ Vgl. auch die Kellersche Auffassung des semantischen Wandels als Phänomen der unsichtbaren Hand, der weder naturgesetzlichen Prinzipien folgt noch das Ergebnis menschlichen Willens (aber durchaus menschlichen Handelns) ist (Keller 32003).
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König (1991a, 169; 1991b, 31), Traugott/Dasher (2005, 152–189) und Sweetser (1990). Auch in diesem Bereich können Spenderdomänen festgestellt werden, aus denen sich Diskurspartikeln bestimmter Zieldomänen bzw. mit bestimmten Funktionen herausbilden: […] different languages may favor differnt kinds of ADVs at differenttimes in their histories, but the direction of change involved in the recruitment of members of one adverb type into another is unidirectional. […] The direction of change is […] entirely regular, specially from verb-modifier to sentence-modifier, from relatively concrete to relatively abstract and nonreferential, from contentful to procedural. (Traugott/Dasher 2005, 188–189)
In Bezug auf die Idiome gestaltet sich dieser Weg etwas anders: Hier verläuft die semantische Verfestigung eher nicht linear von konkret zu idiomatischund öfter geht es gar nicht um den Übergang von konkret zu idiomatisch, sondern um kleinere Bedeutungsverschiebungen (gegebenenfalls beim parallelen Weiterleben der älteren Bedeutungen), vgl. dazu unten Kap. 5.4. Remotivierungen, d.h. die Umdeutungen der opak gewordenen Bildlichkeit, sind ebenfalls möglich. Neben der Veränderungen in der außersprachlichen Wirklichkeit wurde in der Phraseologieforschung lange die Rolle der Kodifizierung bei der strukturellen und semantischen Verfestigung diskutiert (Friedrich 2006, 47; Burger 2012a, 11; Dräger 2011, 198; von Polenz 22000, 64–65). Burger (2012a, 11) behauptet, dass mittlerweile Konsens darüber zu bestehen scheint, dass die Entwicklung in zwei Phasen zerfällt – eine Phrase zunehmender Verfestigung der Phraseme, besonders durch die Kodifizierung und Normierung der Schriftsprache und eine darauf folgende Phase potentieller formaler und/oder semantischer Veränderungen dieser Phraseme.
Komenda-Earle (2015, 20–21) konkretisiert: Bis ins 18. Jahrhundert hinein sei die Entwicklung der Phraseologie durch Verfestigungsprozesse bestimmt, die auf der Herausbildung einer relativ festen Form durch Erwerbung der Elemente und ihre schrittweise Konsolidierung konzentriert ist. Im Neuhochdeutschen verschiebe sich diese Tendenz insofern, als etablierte, relativ gefestigte Phraseologismen Prozessen des semantischen und strukturellen Wandels unterliegen. Die folgenden Fallstudien zu Routineformeln, Kollokationen und Idiomen in der deutschen Sprachgeschichte werden zeigen, dass die Relevanz der Kodifizierung zwar nicht gänzlich abgetan, so doch hinterfragt werden muss (vgl. dazu auch Kap. 4.1 und 4.1.1).
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5.1.2 Variation und Wandel in der Grammatikalisierungs- und Lexikalisierungsforschung Die Theorien der Grammatikalisierung und Lexikalisierung können ebenfalls zur Beantwortung der Fragen nach der Entstehung der formelhaften Wendungen herangezogen werden, weil sie schwerpunktmäßig auf die Untersuchung der synchronen Variation und des diachronen Wandels ausgelegt sind und dabei beide Untersuchungsperspektiven zurecht nur metasprachlich, nicht analytisch auseinanderhalten. Die Ähnlichkeit der für Verfestigungsprozesse relevanten Mechanismen wird für die Gegenwart wie für historische Zeiten programmatisch postuliert (Bybee 2010, 203; Heine/Kuteva 2007, 169). Wie in Kap. 2.2 bereits gezeigt, gehen beide Ansätze als gebrauchsbasierte Erklärungsmodi nicht vom Einzellexem bzw. -morphem aus, sondern von der grundsätzlichen Einteilung der sprachlichenMittel in größere holistische Einheiten, die sowohl kompositionell als auch nicht kompositionell sein können und über kognitive/mentale Repräsentationen verfügen (Bybee 2006; 2011, 73; Bybee/ Torres Cacoullos 2009, 188). Dabei können die Prozesse der Lexikalisierung/ Grammatikalisierung bei Mehrworteinheiten sowohl beginnen (vgl. engl. I want to > wonna; in dede > indeed; dt. hiu tagu > hiute > heute10), als auch mit diesen enden (dt. auf Grund von, nicht nur – sondern auch, engl.: instead of, be going to). Sprachwandel vollzieht sich immer im kollektiven Gebrauch(Bybee 2010, 112), nicht im System im Sinne von Grammatiken und Wörterbüchern und nicht individuell.11 Er ist nicht in erster Linie durch Spracherwerb ausgelöst und findet in bestimmten Kontexten bzw. in der Sprecher-Hörer-Interaktion (Detges/Waltereit 2002; Winter Froemel 2013; 2014) statt.12 Die gebrauchsbasierte Orientierung der Grammatikalisierung und Lexikalisierung kommt in letzter Zeit noch deutlicher zum Ausdruck, weil die anfänglich etwas vernachlässigte Rolle der außersprachlichen Faktoren stärker in den Mittelpunkt rückt.13 Von Variation und
|| 9 Vgl. Heine/Kuteva (2007, 16): „There is no indication that the principles of language change in early language were significantly different from the ones we observe in modern languages.“ 10 Vgl. zahlreiche Beispiele in der Sekundärliteratur zur Univerbierung (stellvertretend Szczepaniak 22011, 17). 11 Vgl. dazu zuletzt Traugott (2015, 53): „[…] I assume that change is change in usage; not grammars. […] Furthermore, innovations made by individual users do not count as changes; only those that are replicated, transmitted to other users, and therefore conventionalized, do so […].“ 12 Vgl. Bybee/Perkins/Pagliuca (1994, 297): „[e]verything that happens to the meaning of a gram happens because of the contexts in which it is used. “ 13 Bybee (1998, 434) bemerkt allerdings bereits sehr früh: „The role of the extralinguistic and the linguistic context is extremely important: the context itself activates linguistic units, making
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Wandel ist nicht ein isoliertes Lexem betroffen, sondern die unmittelbare syntagmatische Umgebung dieses Lexems, die darauf einwirkt. Heine (2002) spricht bereits früh von bridging contexts und bringt die Reanalyse als einen wichtigen Auslösemechanismus ins Spiel.Die Reanalyse bedeutet dabei nicht unbedingt eine komplette Bedeutungserneuerung bei Verlust der ursprünglichen Seme, sondern eher kleinschrittige Verschiebungen, auch pragmatischer Art (vgl. den Begriff pragmatic inferencing in Bybee 2003, 604 und die Diskussion über die Pragmatikalisierung als Teil der Grammatikalisierung, z.B. in Diewald 2011). Neben der Reanalyse wurde auch die Rolle der Innovation/Kreativität14 und der konversationellen Implikatur hervorgehoben (vgl. Heine/Kuteva 2007, 16), was davon zeugt, dass Grammatik nicht nur rein kognitiv, nicht nur individuell mental gespeichert ist, sondern auch außerhalb der Kognition als ein von den Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft geteiltes konventionelles und kontextualisiertes System existiert. Die neuen Kontexte können sich durch die wiederholte Verwendung bzw. in Analogie zu potentiellen möglichen Strukturen zu konventionalisierten Verwendungsweisen verfestigen (switch contexts in der Terminologie von Heine15). Kognitive Repräsentationen sind keine Einzelwendungen, sondern Gruppen von ähnlichen Konstruktionen,16 die unterschiedliche Entwicklungen durchmachen. Variation und Wandel sind somit solchen Gruppen automatisch inhärent; sie sind gleichzeitig ein Nachweis für das bestehende Kontinuum in der kognitiven Verarbeitung zwischen den freien (und produktiven) und formelhaften, festen (teilweise irregulären und unproduktiven) Wendungen.17
|| relevant words and phrases very easy to access under appropriate conditions. Similarly, the same units in other contexts may be difficult to perceive correctly or to access in production.“ Ausführlich zur Rolle der sozialen und kulturellen Faktoren bei den Prozessen der Grammatikalisierung siehe Bybee (2010, 194–221). 14 Vgl. dazu Heine/Kuteva (2007, 16–17): „[…] creativity […] is about modifying rules or constraints by using and combining the existing means in novel ways, proposing new meanings and structures. […] the emergent and development of human language is the result of a strategy whereby means that are readily available are used for novel purposes.“ 15 Vgl. auch Diewald (22008, 82) zu untypischen, kritischen und isolierenden Kontexten. 16 Bybee (2006, 718): „[…] exemplars of words or phrases that are similar on different dimensions are grouped together in cognitive representations.“ 17 Insbesondere in Bybee/Torres Cacoullos (2009) wird die wichtige Rolle der formelhaften Wendungen (hier prefabs genannt) für den Prozess der Grammatikalisierung hervorgehoben: Als polylexikalische Einheiten fungieren sie als Kontexte/syntagmatische Umgebungen, in denen sich die Bedeutungen bestimmter Konstituenten verändern können. Auf diese Weise tragen sie zum Wandel der ganzen Konstruktion, d.h. z.B. zu ihrer Grammatikalisierung, bei.
5.1 Diachrone Verfestigungsprozesse: theoretische Einblicke | 191
In der Grammatikalisierungs- sowie in der Lexikalisierungsforschung wurdeder Sprachwandel von Beginn an als ein Prozess betrachtet, der sich in kleineren Schritten, im natürlichen Sprachgebrauch und oft ebenenübergreifend vollzieht. Gerade die Mechanismen des Wandels und der Variation, von denen beide Ansätze ausgehen, decken viele Parallelen zwischen diesen auf und veranschaulichen die Schwierigkeit ihrer deutlichen Abgrenzung voneinander. Tabelle 6 fasst die Gemeinsamkeiten zusammen, ohne allerdings auch die Unterschiede außer Acht zu lassen: Tab. 6: Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Grammatikalisierung und der Lexikalisierung (nach Brinton/Traugott 2005, 110)
Parameter
Lexicalization
Grammaticalization
A
Gradualness
+
+
B
Unidirectionality
+
+
C
Fusion
+
+
D
Coalescence
+
+
E
Demotivation
+
+
F
Metaphorization/metonymization
+
+
G
Decategorialization
-
+
H
Bleaching
-
+
I
Subjectification
-
+
J
Productivity
-
+
K
Frequency
-
+
L
Typological generality
-
+
Entgegen der Annahme der bisherigen Forschung stellt die Lexikalisierung nicht eine Umkehrung der Grammatikalisierung dar; beide Prozesse verlaufen eher komplementär und führen zur Bildung unterschiedlich komplexer, nicht homogener Einheiten, an deren Verfestigung in der Regel mehrere Mechanismen beteiligt sind. Die Versuche, nur einen dieser Prozesse für Sprachwandel und somit auch für die Entstehung der Formelhaftigkeit verantwortlich zu machen, würde über die Unterschiede in Typen, Formen und Funktionen der entstehenden Einheiten hinwegtäuschen. Deshalb sprechen sich Brinton/Traugott (2005) für eine integrierte Betrachtung der Lexikalisierung und Grammatikalisierung als „adoptation into the inventory“ (nicht separat ins Lexikon oder in die Grammatik; Brinton/Traugott 2005, 90) aus und sehen die entscheidenden Unterschiede in den Produkten der beiden Prozesse. Wenn Definitionen in Abgrenzung zueinander
192 | 5 Wege der Entstehung mikrostruktureller Formelhaftigkeit
vorgenommen werden sollen, dann sind sie nur im engen Sinn möglich. So definieren Brinton/Traugott (2005, 96) die Lexikalisierung im engen Sinn als: […] the change whereby in certain linguistic contexts speakers use a syntactic construction or word formation as a new contentful form with formal and semantic properties that are not completely derivable or predictable from the constituens of the construction or the word formation pattern. Over time there may be further loss of internal constituency and the item may become more lexical.
Grammatikalisierung ist hingegen […] the change whereby in certain linguistic contexts speakers use parts of a construction with a grammatical function. Over time the resulting grammatical item may become more grammatical by acquiring more grammatical functions and expanding its host-classes. (Brinton/Traugott, ebd.)
Sowohl bei der Grammatikalisierung als auch bei der Lexikalisierung entstehen komplexe Einheiten, die allerdings bei der Lexikalisierung immer lexikalisch (contentful) und in offenen Klassen organisiert, bei der Grammatikalisierung hingegen grammatisch (procedural/nicht referentiell) sind und geschlossene Paradigmen bilden. Die semantische Idiomatisierung spielt bei beiden Verfestigungsprozessen eine wichtige Rolle, allerdings muss sie bei der Lexikalisierung als Hinzufügung einer bzw. mehrerer konkreten Bedeutung(en) („addition of concrete meaning“) verstanden werden, bei der Grammatikalisierung im klassischen Fall als Generalisierung, Verlust an Bedeutung („bleaching“).18 Die Lexikalisierung ist in der Auffassung Brintons/Traugotts typologisch idiosynkratisch, sprachgebunden, irregulär und eher unidirektional; die Grammatikalisierung typologisch generalisierbar, zwischensprachlich identisch (Intentionsverben > Modalverben, „verbs of motion“ > Futurmarker) und insofern unidirektional, als die Veränderungen den Pfad DISKURS > SYNTAX > MORPHOLOGIE > (MORPHO-)PHONOLOGIE > NULL (Givón 1979, 209) durchlaufen. Die Lexikalisierung zieht Verlust an Produktivität (type-Frequenz) und teilweise auch Reduzierung der token-Frequenz
|| 18 Bei der Betrachtung der Einheiten, die bis jetzt als Gegenbeispiele für die Grammatikalisierung angeführt worden sind, z.B. der Diskursmarker, erweist sich das Kriterium der Reduktion und semantischen Verblassung als problematisch. Die Verwendung der Ausgangslexeme in bestimmten Diskursen und ihre Pragmatikalisierung, d.h. die semantisch-pragmatische Expansion, tragen zu ihrer Reanalyse als Diskursmarker bei. Traugott (2003, 645) schlägt eine andere Definition der Grammatikalisierung vor: „The process whereby lexical material in highly constrained pragmatic and morphosyntactic contexts is assigned grammatical function, and once grammatical, is assigned increasingly grammatical, operator-like function.“
5.1 Diachrone Verfestigungsprozesse: theoretische Einblicke | 193
nach sich; die Grammatikalisierung führt zur Steigerung der Produktivität und Frequenz. Die Phraseologieforschung liefert zum Kriterium der Unidirektionalität zahlreiche Gegenbeispiele. Synchron völlig opake und somit hochgradig lexikalisierte Idiome (z.B. mit Kind und Kegel) können remotiviert werden. Aber auch innerhalb der Grammatikalisierungs- und Lexikalisierungsforschung stößt das Kriterium auf Widerspruch. Die prominentesten Beispiele sind Diskursmarker und Funktionsverbgefüge (engl. „composite predicates“: give a response, make a promise, have a try, take a look, do a study), die ich als „graue Zonen“ bewusst auch zum Gegenstand meiner Untersuchungen in den Kap. 5.2 und 5.3 mache. Weder Diskursmarker noch Funktionsverbgefüge lassen sich eindeutig dem grammatischen oder dem lexikalischen Pol zuordnen. Brinton/Traugott (2005, 130–132) bemerken z.B. dass die composite predicates in der Geschichte des Englischen immer vorhanden, obwohl weniger frequent, stärker semantisch transparent und weniger fest waren. An ihrer Bildung waren seit den frühsten Überlieferungsepochen die gleichen Verben don ‚do‘, habban ‚have‘, niman ‚take‘, sellan ‚give‘ und später macian ‚make‘ beteiligt. Mit der Entwicklung und Obligatorisierung des Artikels werden laut Brinton/Traugott die Funktionsverbgefüge mit markanten, zählbaren Situationen assoziiert, in denen die Bedeutungsunterschiede gegenüber den Vollverben (z.B. bathe ,(cause to) washʻ und have a bath ,prepare a bathʻ) und der telische Aspekt entstehen. Funktionsverbgefüge ohne das light verb halten die Autorinnen für Produkte der Lexikalisierung, solche mit diesem – für Produkte der Grammatikalisierung, weil Hilfsverben wie jeder grammatische Marker produktiv sind und eine klar identifizierbare grammatische (aspektuale bzw. dynamische/statische) Funktion erfüllen. Diskursmarker (z.B. engl. look ye/you (here)) stellen laut Brinton/Traugott trotz des weiten Skopus und der fehlenden strikten syntaktischen Fixierung insofern Ergebnisse der Grammatikalisierung dar, als sie zu einer invariablen partikelähnlichen Form dekategorialisiert und desemantisiert sind. Die in den letzten 40 Jahren florierende synchron orientierte Forschung zu Diskursmarkern beweist wie keine andere die unscharfen Grenzen zwischen Grammatik und Lexikon und hat zu Plädoyes für ein breiteres Verständnis der Grammatik und der Grammatikalisierung nicht ausschließlich als Reduktion, sondern auch als funktionale Expansion geführt (vgl. exemplarisch Auer/Günthner 2005; Diewald 2011; Himmelmann 2004). Wie in Kap. 5.2 noch zu zeigen sein wird, unterliegt die Entstehung der den Diskursmarkern nahe kommenden Routineformeln im historischen Deutsch auch gewissen Regelmäßigkeiten, die sich mit den Verfestigungswegen im Altenglischen teilweise decken. Die Lexikalisierungspfade lassen somit auch einen bestimmten Grad an Generalität zu.
194 | 5 Wege der Entstehung mikrostruktureller Formelhaftigkeit
Während die Grammatikalisierungs- und die Phraseologieforschung bei der Untersuchung der Rolle der Reanalyse, der Analogie, der Innovation/Kreativität und der konversationellen Implikatur zu den gleichen Ergebnissen kommen, scheinen sie sich bei dem Kriterium der Frequenz grundsätzlich zu unterscheiden. Obwohl die neueren Arbeiten zur Grammatikalisierung und Lexikalisierung zwischen Frequenz und Wiederholung unterscheiden und eher die letztere für relevant halten, bleibt die Rolle dieses Faktors doch allgemein groß. Die durch chunking entstehenden Mehrworteinheiten, so exemplarisch Bybee (2011, 71) zu engl. be going to und in spite of, werden in immer stärkerem Maße autonom gegenüber der Bedeutung ihrer Konstituenten; die Frequenz verstärke im Verlauf der Zeit die Verbindungen zwischen den Konstituenten, sodass sie im Ergebnis holistisch wahrgenommen werden. Die Wahrnehmung als eine holistische Einheit führe zur Erlangung neuer pragmatischer Funktionen und Bedeutungen der Sequenz als Ganzheit. Der Endpunkt dieses semantischen Wandels sei die Generalisierung, die zur Öffnung der Sequenz für weitere neue Kontexte und der weiteren Bedeutungsverblassung führe. Dabei solle sowohl die hohe (etwa Suppletion bei Verben und der Erhalt einer veralteten Negationsform (no-negation) im Englischen) als auch die niedrige Frequenz (als Paradebeispiel dafür werden Idiome und Kollokationen genannt) Variation und Sprachwandel verhindern (conserving effect, Bybee 2006, 715). Hochfrequente Einheiten werden in irregulären Formen kognitiv repräsentiert (Bybee 2003, 61919); niedrig frequente Einheiten unterliegen Konventionalisierung und verschwinden; Sprachwandelprozesse nach Analogie seien für solche Einheiten nicht typisch.20 Dem ist aus der Sicht der historischen formelhaften Sprache Einiges entgegenzusetzen. Auch wenn das Kriterium der Frequenz insgesamt ohne Zweifel berücksichtigt werden muss, gestaltet sich seine Wirkung auf die Verfestigungsprozesse der formelhaften Wendungen geringer als in der Grammatikalisierungsforschung (vor allem am Material der hoch frequenten abstrakten grammatischen Konstruktionen!) angenommen. Wie in den folgenden Abschnitten des vorliegenden Kapitels noch zu zeigen sein wird, sind formelhafte Wendungen in allen sprachhistorischen Epochen token-mäßig niedrig frequente Einheiten. Nichtsdestotrotz unterliegen sie seit Beginn der Überlieferung vielfältigen Variationsund Wandelprozessen (Filatkina 2013; Dräger 2011), die selbst für stark irreguläre Idiome mit unikalen Konstituenten und morphosyntaktischen Restriktionen
|| 19 Vgl. auch Bybee (2006, 714): „[…] the fact that high-frequency exemplars of constructions can resist change is taken as evidence that such exemplars have cognitive representation.“ 20 Bybee (2006, 719): „low levels of repetition lead to conventionalization only (as in prefabs and idioms).“
5.1 Diachrone Verfestigungsprozesse: theoretische Einblicke | 195
nicht fremd sind (Stumpf 2015). Irregularitäten können also auch bei niedrig frequenten Einheiten entstehen; in der Phraseologieforschung galten sie lange gar als definitorische Merkmale der Idiome. Das Ausmaß der Frequenz scheint mir deshalb für das Eintreten bzw. Ausbleiben des Wandels nicht ausschlaggebend. Ferner verwischt die Tatsache, dass im Bereich der formelhaften Wendungen wie in der freien Verwendung ähnliche Kriterien die Variation und den Wandel steuern, die Grenzen zwischen unproduktiven, idiosynkratischen und produktiven, abstrakten Mehrwortverbindungen noch stärker.
5.1.3 Variation und Wandel in der historisch orientierten Konstruktionsgrammatik In der immer deutlicher werdenden Betonung des ebenenübergreifenden Charakters der formelhaften Sprachwandelprozesse überschneidet sich die Phraseologieforschung (5.1.1) nicht nur mit der gebrauchsbasierten Theorie der Grammatikalisierung/Lexikalisierung (Kap. 5.1.2), sondern auch mit der historisch orientierten Konstruktionsgrammatik (Traugott 2003). Ihre wichtigsten Postulate habe ich in Kap. 2.3 bereits dargestellt, an dieser Stelle greife ich die Erkenntnisse der Konstruktionsgrammatik in Bezug auf die Verfestigungsprozesse und ihre Faktoren auf. Auch wenn in der Konstruktionsgrammatik anfänglich die synchrone Variation im Fokus stand (vgl. Kap. 1.6), wird die Notwendigkeit der Untersuchung der diachronen Variation immer stärker hervorgehoben (Barðdal/Smirnova/Sommerer/Gildea 2015; Bergs/Diewald 2008; Birkner 2007; Diewald 22008; 2008; Hilpert 2011; Smirnova 2011; Traugott/Trousdale 2013). Das breite Verständnis des Objektbereichs als konventionalisiertes arbiträres Form-Bedeutungspaar führt zwangsläufig zu einem wichtigen Credo der Konstruktionsgrammatik: Sie geht grundsätzlich davon aus, dass der Sprachwandel syntagmatische Strukturen als ganze, holistische Einheiten betrifft und dass die Veränderungen und Variation sich auf mehreren Ebenen gleichzeitig, ebenenübergreifend und konstruktionsübergreifend abspielen. Am deutlichsten kam diese Idee bereits in Goldbergs Konzept der Vererbung (inheritance; 1995, 67–100) zum Ausdruck, in dem Realisierungen einer Generalisierung als ein Netzwerk von verwandten Konstrukten (Varianten) verstanden wurden. Den Verfestigungsprozessen widmet sich die Konstruktionsgrammatik zum einen unter dem Begriff der Konstruktionalisierung (constructionalization), die z.B. in Traugott/Trousdale (2013, 1) oder Traugott (2014, 5) als Entstehung neuer
196 | 5 Wege der Entstehung mikrostruktureller Formelhaftigkeit
Konstruktionen definiert wird; zum anderen unter dem Begriff des Konstruktionswandels (constructional change), der sich auf den Wandel innerhalb der Konstruktionen, in ihrer Struktur und Semantik, bezieht (vgl. Kap. 2.3). Der Konstruktionswandel kann der Konstruktionalisierung sowohl vorangehen als auch folgen, was automatisch die Dynamik selbst bei konventionalisierten Konstruktionen und in ihren Netzwerken impliziert.21 Nach Ansicht der meisten Vertreter dieser Theorie wird der Konstuktionswandel durch die pragmatische Innovation (Schritt 1, vgl. Abbildung 10) initiiert, die zunächst semantische Veränderungen nach sich zieht (Schritt 2) und dann (oft bei simultaner Wirkung der Analogie) die (eher syntaktisch verstandene) Reanalyse auslöst (Schritt 3).22 Dabei kann die Reanalyse die Interpretation eines Kontextes, eines Syntagmas als eine holistische Einheit bedeuten. Aus der Perspektive der verbgrammatischen Konstruktionen (Perfekt, Verlaufsform, modale Infinitive, Passiv, Doppelperfekt) behauptet dies z.B. Rödel (2014, 219): Der Prozess der Entstehung einer Konstruktion „beginnt offenbar dort, wo Produzent und Rezipient einen solchen syntaktischen Komplex nicht mehr additiv, sondern als neue Gesamtheit analysieren.“ Er erhebt somit die Nicht-Kompositionalität zu einem notwendigen Kriterium auf dem Weg von einem Konstrukt zu einer Konstruktion und zu einem „starken“ definitorischen Merkmal einer Konstruktion (Rödel 2014, 220). Die entstehende Nicht-Kompositionalität ist eine Form der Reduktion (Traugott 2014, 6), die darauf folgende Kontext- bzw. Bedeutungserweiterung führthingegen zur Expansion, d.h. Schematisierung und steigenden Produktivität. Der Frequenz kommt als einem Epiphänomen des Konstruktionswandels eine entscheidende Rolle zu. Der letzte Schritt 4 (Konstruktionalisierung) ist erfolgt, wenn die neu entstandene Bedeutung und die reanalysierte Form sich als ein neuer Knoten im Konstruktikon verfestigen und sich von der Ausgangskonstruktion unterscheiden. In Abbildung 10 sind die Schritte des Konstruktions-
|| 21 Dass nicht jeder Konstruktionswandel zur Entstehung neuer Konstruktionen führt, kann am Beispiel der Annahme der schwachen/regulären Flexion bei Verben verdeutlicht werden. Während bei melken – molk – gemolken > melken – melkte – (gemelkt) die Veränderung in der Form keine semantische Veränderung nach sich zieht und nicht zur Entstehung einer neuen Konstruktion führt, haben sich die Verben senden – sandte – gesandt und senden – sendete – gesendet auch semantisch auseinanderentwickelt, indem die rückumlautende (unregelmäßige) Form für ‚mit der Post verschicken‘, und die regelmäßige für ‚ausstrahlen‘ steht. 22 Traugott/Trousdale (2013, 35–37) verwenden statt Reanalyse den Begriff neoanalysis, statt Analogie sprechen sie von analogization und analogical thinking (ebd, 37–38).
5.1 Diachrone Verfestigungsprozesse: theoretische Einblicke | 197
wandels bzw. der Konstruktionalisierung durch die aus der Grammatikalisierungstheorie bekannten Kriterien ergänzt. Innovation
> sem. Reinterpret. > Reanalyse
Pragmatik
> Semantik
untypischer Kontext kritischer Kontext
> Konventionalisierung
> Syntax, Form > Form und Bedeutung isolierender Kontext
FREQUENZ IM SPRACHGEBRAUCH; ANALOGIE SCHRITT 1
> SCHRITT 2
> SCHRITT 3
Konstruktionswandel
> SCHRITT 4 Konstruktionalisierung
Abb. 10: Der Pfad der Konstruktionalisierung
Je mehr sich die Konstruktionsgrammatik dem historischen empirischen Material zuwendet, desto lauter werden die Behauptungen, dass die Entstehung eines konventionalisierten Form-Bedeutungspaares nicht zwingend die ununterbrochene Existenz solch einer Paarung im Verlauf des Konstruktionswandels und der Konstruktionalisierung bedeutet. Traugott (2014, 8–10) bringt für die Konstruktion be going to23 als Kopplung der temporalen Bedeutung an die auxiliarisierte Syntax die korpuslinguistische Evidenz für das bis ins frühe 18. Jahrhundert andauernde semantisch-syntaktische Ungleichgewicht: Die Reanalyse als Auxiliar und der Eintritt in das Paradigma der ähnlichen Hilfsverbkonstruktionen (have to, ought to) erfolgen hundert Jahre später als die erste semantische Veränderung. Ein ähnliches Beispiel ist die Geschichte der englischen Quantifizierer a lot/bit/shed of (Brems 2012; Traugott/Trousdale 2013, 27); die Beispiele für das Deutsche bringt Smirnova (2015). Die kleinen Schritte des Konstruktionswandels erfolgen somit nicht holistisch, sondern auf einzelne Konstituenten bzw. Ebenen bezogen (Traugott 2014, 9: „feature by feature“). Mehr noch: Die kleinschrittigen Veränderungen können sowohl Grammatikalisierungs-, als auch Lexikalisierungsprozesse sein. Die historisch ausgerichtete Konstruktionsgrammatik inkorporiert somit die Erkenntnisse der beiden
|| 23 Das Beispiel wurde in der Literatur zur Grammatikalisierung bereits oft behandelt, vgl. stellvertretend Bybee (2010, 107–110).
198 | 5 Wege der Entstehung mikrostruktureller Formelhaftigkeit
Theorien als gleichberechtigte Prozesse der Konstruktionalisierung, da sie nicht von Lexik und Grammatik, sondern vom zeichenhaften Charakter einer Konstruktion ausgeht. „Den Streit“ zwischen der Grammatikalisierung und Lexikalisierung glaubt die Konstruktionsgrammatik insofern lösen zu können, als sie beide Prozesse – grammatical/procedural constructionalization und lexical/contentful constructionalization (Traugott 2014; Trousdale 2008) – nicht orthogonal gegenüberstellt,24 sondern eng verbunden in die Verfestigungsprozesse integriert. Die Frage, welche Prozesse denn für die Verfestigung in den „grauen Zonen“ der Grammatikalisierung und Lexikalisierung, d.h. bei Kollokationen und Diskursmarkern, verantwortlich sind, sollte sich in dieser abgrenzenden Schärfe nicht (mehr) stellen. Die idiomatische Kollokation des Englischen TO GIVE + GERUND (he gave the team a talking, she gave him a kicking) rechnen z.B. Traugott/ Trousdale (2013, 239) und Trousdale (2008, 168) zu einer hybriden Konstruktion, weil bei ihrer Verfestigung einerseits die Funktionen des Vollverbs give und der Nominalphrase sich prozedural verändern und den telischen Aspekt entwickeln. Dies stellt die Konstruktion in die Nähe der regulären und produktiven Funktionsverbgefüge (etwa he gave a snort ‚he snorted‘) sowie der ditransitiven Konstruktionen (he gave him a present). Andererseits wird die Semantik des Verbs referentiell und idiomatisch.In den folgenden Kapiteln 5.2 und 5.3. werde ich versuchen, diese Hybridität der Verfestigung für formelhafte Wendungen nachzuweisen. Mit Blick auf ihren integrativen Charakter sollte sich das Paradigma der historischen Konstruktionsgrammatik auch für die Erklärung der Variation und des Wandels im Bereich der Idiome im engen Sinn als ein Typ der formelhaften Wendungen eignen. Sie bilden ebenfalls eine graue Zoneoder – mit Hilpert (2011, 71) formuliert – das „theoretische Niemandsland“, da sie sich zwischen der Syntax, der Grammatik und dem Lexikon bewegen und deshalb von allen bekannten Sprachwandel-theorien aufgrund der primären Ausrichtung der letzteren auf eine Ebene unberührt geblieben sind. Soweit ich sehe, liegen im Moment noch keine historischen konstruktionsgrammatischen Untersuchungen dazu vor, obwohl ihre Notwendigkeit hervorgehoben wird und die ersten Versuche am Beispiel der idiomatischen Modellbildungen unternommen wurden, vgl. Traugott (2014, 11–16) zu engl. X be the new Y mit Mikrokonstruktionen [XColour is the new black], z.B. Pink is the new black; [XAdjectiv,not a colour is the new YAdjective, not a colour], z.B. Fake is the new real;
|| 24 Dazu bereits Brinton/Traugott (2005).
5.2 Routineformeln | 199
[Xnoun is the new Ynoun], z.B. Programming is the new literacy.25
In Kap. 5.4 gehe ich bei der Analyse der Idiome von der Annahme aus, dass sich die kleinschrittigen Veränderungen auf verschiedenen Ebenen (also der eigentliche Konstruktionswandel) auf der Hintergrundfolie eines kognitiv und kommunikativ etablierten abstrakten Schemas/Musters abspielen. Dieses Muster enthält lexikalische, morphosyntaktische wie morphologische Slots, die in der Diachronie zwar variabel gefüllt werden können, deren Variation durch das Muster (und andere außersprachliche Faktoren!) aber auch eingeschränkt bzw. selektiert wird. Der Mehrwert der Konstruktionsgrammatik besteht m.E. darin, dass sie den Wandel auch auf der Ebene der zugrunde liegenden Muster annimmt und in seinen Auswirkungen auf den Wandel der dazugehörigen Meso- und Mikrokonstruktionen hin betrachtet. Bei der Untersuchung der Einheiten, die erst synchron als Produkte der Verfestigung analysiert werden und diachron einer äußeren wie inneren Dynamik unterliegen, rückt diese These in ein neues Licht. Bei der folgenden Analyse der Beispiele integriere ich einzelne Aspekte von allen drei dargestellten Herangehensweisen und richte mein Augenmerk primär auf die relevanten Charakteristika des Wandels auf der Ebene der konkreten formelhaften Wendungen (nicht der (Sub-)Schemata im konstruktionsgrammatischen Sinn). Dabei wird es sich zeigen, dass einerseits keine dieser Herangehensweisen allein für die Erklärung der Variation und des Wandels auf der Ebene der formelhaften Wendungen ausreicht und dass andererseits auch die neuesten konstruktionsgrammatischen Methoden nicht über die Erkenntnisse der älteren sprachhistorischen Forschung hinausgehen.
5.2 Routineformeln 5.2.1 Sino daz chit nu _ih – Verfestigungswege von senu/see (hear) und nhd. sieh(e) 5.2.1.1 Verwendung von sieh(e) im Neuhochdeutschen Die Wörterbücher und Grammatiken des Neuhochdeutschen geben erstaunlich wenig Auskunft über die Verwendung von sieh(e). Die sonst sehr ausführlich auf andere Partikeln eingehende und die aktuelle Forschung einbeziehende IDS Grammatik (Zifonun/Hoffmann/Strecker 1997) enthält keinerlei Informationen dazu, weder im Teil zu Interjektionen (1, 362–408) oder Partikeln (1, 56–62) noch
|| 25 Vgl. ähnlich Israel (1996) zur engl. way-Konstruktion.
200 | 5 Wege der Entstehung mikrostruktureller Formelhaftigkeit
bei Abhandlungen zum Imperativ (3, 1724–1731).26 Laut Duden 9 „Richtiges und gutes Deutsch“ (72011, 772) ist die Interjektion ein Imperativ vom Verb sehen, fungiert als Verweis auf Textstellen und kann nur ein Akkusativobjekt nach sich ziehen, z.B.: siehe beiliegenden (nicht: beiliegender) Prospekt. Das Wörterbuch (ebd., 745) verweist auch auf Kontexte, in denen es zu Verwechselung zwischen den Verben sehen und schauen kommen kann, obwohl es aus den Beschreibungen nicht klar wird, ob hier siehe tatsächlich nur ein Imperativ des Verbs ist oder wie bei der ersten Verwendung auch textorganisierende Funktionen im Sinne einer Routineformel übernehmen kann. Das Wörterbuch gibt an, dass schauen landschaftlich, besonders süddeutsch, und österreichisch anstelle von sehen gebraucht wird und immer das bewusste Hinsehen auf etwas ausdrückt, z.B.: Schau (statt: sieh) einmal! Du musst schauen (statt: sehen), dass du bald fertig wirst. Der Blick ins DEREKO (Teilkorpus für geschriebenes Deutsch) relativiert diese etwas einseitige Darstellung. Den im Wörterbuch beschriebenen Gebrauch veranschaulicht exemplarisch Beispiel (1a). Auch wenn dies laut der Trefferliste die prototypische Verwendungsweise ist, illustrieren die Beispiele (1b) und (1c) einen anderen Gebrauch. Sie weichen von (1a) insofern ab, als anstelle eines Akkusativobjekts Lokaladverbien vorkommen. In (1b) übernimmt die Wendung eine textorganisierende, verweisende Funktion einer festen Routineformel, steht satzfinal und nicht in den vorangehenden Satz integriert. In (1c) hingegen liegt eine imperativische Verbalphrase mit der Bedeutung ‚Nimm visuell wahr!‘ vor, die syntaktisch einen Hauptsatz bildet; sie ist parataktisch und konjunktionslos an den folgenden Satz gebunden. Im Gegensatz dazu ist die Bedeutung von sieh (mal) in (1d) und (1e) nicht konkret. Beide Belege sind dem DEREKO-Teilkorpus „Wikipedia-Diskussionen“ entnommen und stehen jedes Mal satzinitial am Anfang eines neuen Diskussionsbeitrags. Sie dienen der Markierung dieses Anfangs, der Steuerung der Aufmerksamkeit27 auf die Inhalte des folgenden Satzes sowie der impliziten emphatischen Betonung ihrer Wichtigkeit. Die Verbindung mit der Partikel mal ist nicht fest, vgl. exemplarisch (1e). Die Tatsache, dass beide Matrixsätze auch ohne diese Wendungen verständlich sind, spricht für die Verwendung der letzteren als pragmatische Marker mit einem niedrigen Grad der syntaktischen Integriertheit. In dieser Funktion kann der lexikalische Slot auch durch andere sensorische bzw. auditive Verben besetzt werden, vgl. Beispiel (1f) mit dem synonymen Verb schauen.
|| 26 In den anderen konsultierten Quellen sieht es ähnlich aus, vgl. z.B. Duden 4, Eisenberg (1999; 22004), Weinrich (1993), Duden Universalwörterbuch, DWDS. 27 Zu dieser Funktion bei nhd. schau mal, Schauen Sie (mal), sieh mal, sehen Sie (mal) vgl. Stein (1995, 242).
5.2 Routineformeln | 201
(1a) Vor dem Spiel machen die Fans ihrem Unmut über die Spenden-Posse (siehe Text unten) mit wütenden Plakaten Luft. „Bill Stewart, du hast fertig“ und „Capla und Stewart, wir schämen uns für euch“ steht da zu lesen. (Hamburger Morgenpost, 09.01.2008) (1b) Der Autor und Regisseur: Hardi Sturms Kinoerstling soll eine fantastische Dramödie sein. Fantastisch-Magisches blitzt zwar gelegentlich auf, kann sich aber nicht richtig entfalten. Zum einen liegt das an Hauptdarsteller Max Riemelt (siehe oben). (Hamburger Morgenpost, 10.04.2008) (1c) „Wer Frau Klaralotti Sturzenegger als Regierungsrätin bestätigen will, der erhebe seine Hand“, rief der Landweibel. Und siehe da, dort unten hob die Tochter des Landammanns von Innerrhoden wahrhaftig die Hand. (St. Galler Tagblatt, 01.09.1997) (1d) Sieh mal, eine apodiktische Behauptung wird doch durch ihre gebetsmühlenartige Wiederholung nicht richtiger. Es ist eben kein ausreichender Beleg vorhanden. (23:03, 1. Mär. 2010 (CET); WDD13/A01.21579: Diskussion:Antikommunismus) (1e) ah, sieh, ich bin nicht so sattelfest. ;-) wieder Ausseerland (den tippfehler mach ich auch immer..): so scheints mir auch angemessener, und google gibt ungefähr 260.000 „Ausseerland“, 24.700 für „Ausseer Land“ (WDD13/A22.35869: Diskussion:Ausseerland) (1f) […] ich befinde mich in einer Situation, in der es für mich wichtig ist, dass man manchmal ausgetretene Pfade verlässt, um Neues auszuprobieren. Schau mal, ich habe jetzt 20 Jahre professionelle Arbeit hinter mir, ich bin eine etablierte Künstlerin. (Mannheimer Morgen, 12.01.2002)
Bereits das DWB (16, 145) verzeichnet zusätzlich zu der verweisenden Funktion zahlreiche Belege mit den imperativisch verwendeten siehmal, sehn sie, sehn sie mal; die Belege sind mit dem Kommentar ‚sehr gebräuchlich in der Umgangssprache‘ und der Paraphrase ‚kann bezeichnen, dass etwas überraschend ist, anders kommt als man dachte‘ versehen. In dieser Verwendung variiertdie Form siehe mit der e-losen (und für starke Verben prototypischen) Form sieh.28 Die letztere ist allerdings nicht auf umgangssprachliche Kontexte beschränkt. Laut DWB (16, 146) zeichnet der epideiktische Gebrauch von sieh und siehe literarische Texte aus; die Wendung ist bei Schiller, Goethe und Lessing ein parenthetischer Marker der Aufmerksamkeitssteuerung und ein rhetorisches Mittel der Emphase.
|| 28 Zur Geschichte vgl. Habermann (1997, 439–440).
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Bei folgenden zwei Belegen aus dem Wörterbuch kommt dies besonders deutlich zum Ausdruck: ich taumelte bebend auf, und siehe da war mirs, als säh ich aufflammen den ganzen horizont in feuriger lohe. SCHILLER räuber 5, 1 (DWB, 16, 145) er zählt die häupter seiner lieben | und sieh! ihm fehlt kein theures haupt. SCHILLER 11, 312 (DWB, 16, 146)
5.2.1.2 Das Netz der sieh(e)-Belege im Althochdeutschen Die genaue semantisch-pragmatische Entsprechung zu nhd. Schau mal! ist im Althochdeutschen mit dem Verb scouw@n ‚ansehen, erblicken, anschauen, betrachten, erforschen‘ nicht belegt. Zur formelhaften Wendung nhd. sieh(e) finden sich im Althochdeutschen 121 Belegstellen, davon 66 mit der Konstituente senu/ sino/sinu, 52 Mal folgt die Wendung dem Muster SEE + (PRON) + (NU/THO); die synonymen seegi bzw.eggo sind zweimal und einmal belegt. Die meisten ahd. Entsprechungen stehen für die lat. Interjektion ecce ‚Schau mal! Hier‘ bzw. für lat. en in der gleichen Bedeutung. Interessanterweise wird die Routineformel in der lat. Wortgestalt das einzige Mal ausgerechnet in einem autochthonen ahd. Text, der kein Übersetzungswerk darstellt, verwendet, nämlich in Otfrids ‚Evangelienharmonie‘, vgl. (2a): (2a) Giang pilatus zi in tho fram ioh selbon Christus mit imo nam | uuaz mag ih zellen quad er mer. hiar eggo kuning iuer (Otfrid, Evangelienbuch, 140v, IV 24, 12; ID 23588) Pilatus ging dann zu ihnen hin‚ auch nahm er Christus selbst mit sich. „Was kann ich mehr erzählen?“ sagte er‚ „hier‚ seht‚ euer König!“
Das ist allerdings der einzige Beleg dieser Art. Genauso singulär ist die formelhafte Wendung seegi, die in der HiFoS-Belegdatenbank auf zwei Stellen aus dem ahd. Isidor beschränkt ist. Das ‚Althochdeutsche Wörterbuch‘ von R. Schützeichel (2006, 292) führt sie ebenfalls mit der Sigle I (= Isidor) als Interjektion zu lat. ecce ‚wohlan, sieh‘ an, vgl. (2b): 29
|| 29 Zur besseren Anschaulichkeit weiche ich bei allen folgenden Belegen von der in Kap. 3, Anmerkung 4 erläuterten Zitierweise insofern ab, als ich den eigentlichen Beleg fett hervorhebe und den lat. Kontext kursiv darstelle. Alle anderen Angaben bleiben unverändert.
5.2 Routineformeln | 203
(2b) ecce deus | qui loquitur ecce spiritus eius seegi got dhar | sprah seegi siin gheist ist auh | after dhiu saar chimeinit (Isidor, Hs. P, 17, 14; ID 25182; 25181) „Siehe!“ Gott sprach da‚ „siehe‚ sein Geist ist auch danach zugleich gemeint.“
An beiden Stellen in (2b) ist wie bei Beleg (2a) die historische wörtliche Bedeutung spürbar. Insbesondere durch eggo in (2a) wird der Aufruf ausgedrückt, sich den König im wörtlichen Sinn mit den Augen anzuschauen. Ausgedrückt wird in (2b) nicht der wörtlich gemeinte Aufruf, etwas optisch wahrzunehmen, sondern die Aufforderung sich etwas, was eigentlich visuell gar nicht wahrzunehmen ist, zu merken, aufmerksam zu verfolgen. Die Zugehörigkeit zu einem gehobenen Stilregister des biblischen Kontextes ist deutlich zu spüren. Die Bedeutung ist hier metaphorisch. Seegi erfordert beide Male kein direktes Objekt und bezieht sich nicht auf ein einzelnes Wort, sondern auf den gesamten Satz. Das Nebeneinander der wörtlichen und metaphorischen Verwendungsweise verfolge ich im Folgenden genauer anhand der besser belegten Routineformeln senu/sinu/sino und see (hear). Beide lassen eine unterschiedliche Textdistribution erkennen: Während senu/sinu/sinomit 65 Belegstellen überwiegend im ‚Tatian‘ (entstanden um das Jahr 830) vorkommt,30 ist die Wendung see (hear) eher für den ahd. ‚Isidor‘ (Ende des 8. Jahrhunderts) typisch (11 Kontexte).31 5.2.1.2.1 See (hear) In der frühen ahd. Überlieferung (‚Isidor‘) ist die Routineformel see in der wörtlichen Bedeutung belegt, vgl. Beispiel (3). In der HiFoS-Datenbank ist das der einzige Beleg: (3) et n[un]c d[omi]n[u]s d[eu]s misit | me et sp[iritu]s ei[us] E[cce] duę p[er]|sone d[omi]n[u]s et sp[iritu]s eius q[ui] mit|tunt et t[er]tia p[er]sone ei[us]de[m] | d[omi]ni qui mittit[ur] Endi nu sendida mih | druhtin got endi siin gheist See hear | zuuene dhero heido got endi siin gheist | dhea sendidon endi dher dhritto heit | ist selbes druhtines christes dhes chisen|didin (Isidor Hs. P, 9vb, 10; ID 13288)
|| 30 Acht weitere Beispiele für senu/sino finden sich bei Notker und fünf bei Williram. 31 Die HiFoS-Datenbank führt nur eine Tatian-Belegstelle an. Es finden sich außerdem drei Beispiele aus dem Werk Notkers, ein Notkerglossator-Beleg, zwei Stellen aus der ‚Althochdeutschen Benediktinerregel‘ und jeweils eine Stelle aus dem Williram und Otfrid.
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Und nun sendete mich der Herr‚ Gott und sein Geist. Siehe hier zwei der Personen‚ Gott und seinen Geist‚ die‚ die aussenden‚ und die dritte Person ist [die] desselben Herrn Christus‚ des Ausgesandten.
Auf see folgen ein lokales Adverb und eine Nominalphrase in der Funktion eines Akkusativobjekts. Die Bedeutung ist insofern wörtlich, als in der Tat ein Aufruf ausgedrückt wird, das zu betrachten, was visuell wahrgenommen werden kann. In sieben weiteren Kontexten ist eine eindeutige Bestimmung der Bedeutung als wörtlich schwierig. Diese Gruppe illustrieren exemplarisch die Beispiele (4) bis (6): (4) Quia ecce ego com|mouebo celum et ter|ram et ueniet desidera|tus Cunctis gentibus| Huuanda see ih chihru|oru himil endi ęrdha endi quhi|mit dher uuilligo allem dheodom (Isidor Hs. P, 9rb, 18; ID 23163) Denn siehe‚ ich erschüttere Himmel und Erde und es kommt der Erwünschte zu allen Völkern. (5) Ecce trina[m] s[an]c[t]ificatione[m] | sub una c[on]fessione celes|tis p[er]sultat exercitus | See hear nu dhea dhrifaldiu hei|lacnissa undar eineru biiihti | dhazs himilisca folc so mendit (Isidor Hs. P, 10vb, 18; ID 13290) Siehe‚ hier nun bejubelt die himmlische Schar die dreifaltige Heiligkeit unter einem Bekenntnis so. (6) Ecce inquit puer | m[eu]s suscipia[m] eu[m] | Quhad got see miin chnecht ih inan infahu (Isidor Hs. P, 9vb, 17; ID 13289) Gott sagte: „Siehe‚ mein Diener‚ ich empfange ihn.“
Die syntaktische Einbettung der Routineformel unterscheidet sich in diesen Belegen von der im Beleg (3). See steht satzeinleitend, wird aber nicht von einer Nominalphrase begleitet und bezieht sich auf die gesamte folgende Aussage. Diese folgt in Form eines Hauptsatzes unmittelbar und konjunktionslos auf die Routineformel (Beispiele 4 und 5) oder wird durch eine Anrede (mein Diener) von der Routineformel abgetrennt (Beispiel 6). Die konkreteperzeptive Bedeutung ist zwar noch spürbar, aber nicht mehr ausschlaggebend, weil im Vordergrund die exklamatorische rhetorische Funktion der Aufmerksamkeitssteuerung und die Markierung des Beginns eines neuen Redebeitrags stehen. Nicht eindeutig wörtlich bzw. übertragen ist die Bedeutung von see in diesen Beispielen, weil die fol-
5.2 Routineformeln | 205
gende Aussage Handlungen beschreibt, die sowohl konkret ‚visuell wahrnehmbar‘ als auch metaphorisch ‚verständlich, vorstellbar‘ sind. Der Inhalt aller drei Beispiele wäre auch ohne die Routineformel verständlich. Insofern kommt see einem parenthetischen pragmatischen Marker nahe. Noch deutlicher kommen die zuletzt genannten Funktionen in weiteren Belegen zum Vorschein, die ich mit Hilfe der Beispiele (7a-b) veranschauliche: (7a) Ecce tria | pat[er] qui mittit et uer|bum q[uo]d mittitur et sp[iritu]s eius qui flat See | hear meinit nu dhri fater ist | der sendida endi uuort ist | dhazs chisendida endi siin ghe|ist ist dher adhmot (IsidorHs. P, 8rb, 17; ID 13286) Siehe‚ hier meint er nun drei: Der Vater ist [der]‚ der sandte und das Wort ist das Gesandte und sein Geist ist [der]‚ der atmet. (7b) Quis e[st] igit[ur] iste d[eu]s unc|tus a d[e]o respondeant | nob[is] Ecce d[eu]s unctus a d[e]o | d[icitu]r [...] Huuer ist dhanne dhese chisalbodo | got fona gote antuurdeen nu uns | dhea unchilaubendun See hear | nu ist fona gode chiquhedan got chi|salbot [...] (IsidorHs. P, 3rb, 3; ID 13281) „Wer ist dann dieser gesalbte Gott von Gott?“ mögen uns nun die Ungläubigen antworten. Siehe‚ hier wird nun von Gott [als] gesalbter Gott gesprochen [...]
Von der ursprünglichen wörtlichen Bedeutung des Ausgangsverbs ist die Routineformel see (hear) noch weiter entfernt. An der syntaktischen Einbettung ändert sich aber nichts: Auf die Interjektion folgt das lokale Adverb hear, das einen Hauptsatz einführt. Die semantische Verbindung zwischen der Interjektion und dem Hauptsatz ist loser, denn in den Hauptsätzen werden Tätigkeiten zum Ausdruck gebracht, die man nicht im konkreten Sinn ‚sehen‘ kann. In Beispiel (7a) drückt die Wendung die Forderung aus, zu verstehen, was gemeint ist; in (7b) ist von sprechendie Rede. See tritt in einem erklärenden Kontext auf und wäre ins Neuhochdeutsche auch mit ‚Verstehe! Merke Dir!‘ übersetzbar. Die HiFoS-Datenbank liefert keinen Nachweis für die Verwendung der Interjektion see(hear)in der späteren ahd. Überlieferung. Bei Notker ist die polylexikalische Wendung sih no(h)/sih nu als Entsprechung zu lat. ecce belegt.32 In Schützeichel (2006) und Sehrt/Legner (1955) wird sie allerdings nicht als Interjektion, sondern als 2. P. Sg. Imper. des Verbs sehen geführt. Ungeachtet dessen, ob die syntagmatische Einbettung der Wendung parenthetisch (8a) oder nicht || 32 Ich analysiere hier ausschließlich diese Wortverbindung VERB + PARTIKEL und lasse die mehrfach belegte Verwendung des Imperativs sih bzw. sih ana außer Acht, weil sich ihre Funktionen und die syntagmatische Einbettung von den hier beschriebenen unterscheiden.
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parenthetisch (8b) ausfällt, ist ihre Bedeutung aber übertragen im Sinne des die Aufmerksamkeit erregenden Markers ‚Verstehe! Merke dir!‘ zu interpretieren. (8a) Ecce deus salutator meus . Fiducialiter agam et non timebo. Sih nu . Got ist min haltare bediu uuerchon ich paldo . Unde ne-ruocho . quid faciat mihi homo. (Notker, Psalterauslegung, 540, 11) (8b) Quoniam ecce inimici tui peribunt . Et dispergentur omnes qui operantur iniquitatem. Also dar ana skinet . sih nu . daz in iudicio dine [= in suono tage] dine fienda ferloren uuerdent . unde alle die ze uuorfen uuerdent . die unreht uurchent. (Notker, Psalterauslegung, 343, 19)
Halten wir fest: Bereits in einem der ältesten ahd. Texte kommt die Routineformel see (hear) wie auch sonst im biblischen Kontext und im Einklang mit antiken rhetorischen Traditionen als parenthetischer pragmatischer Marker vor, steht satzeinleitend und führt meistens einen Hauptsatz ein. Die konkrete/perzeptive Bedeutung ist spürbar, doch in der Mehrheit der Kontexte bereits im frühen Althochdeutschen eher abgeschwächt, insbesondere in den Kontexten, in denen in dem auf den Marker folgenden Hauptsatz eine abstrakte, nicht visuell wahrnehmbare Tätigkeit zum Ausdruck gebracht wird. Für die späte ahd. Überlieferung, z.B. bei Notker, liefert die HiFoS-Datenbank keine Nachweise für see (hear), allerdings kommt unabhängig von der syntagmatischen Einbettung (als Parenthese oder nicht) die Wendung sih nu(h) überwiegend in der abstrakten satzmodellierenden Bedeutung ‚Merke dir! Verstehe!‘ vor. Die textorganisierende Funktion kann für ahd. see (hear) nicht nachgewiesen werden. 5.2.1.2.2 Senu/seno/sino Bereits in der frühen ahd. Überlieferung, im ‚Althochdeutschen Tatian‘ (um 830), wird senu syntaktisch nach folgenden Mustern eingebettet: senu + (tho) + HauptS senu nu + HauptS senunu + tho + HauptS senu + Konj(wie, den, wo)+ NebenS senunu + NP senu + (tho) + NP senu + Advlokal+ (VerbImper)
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In den prototypischen Kontexten leitet senu einen Hauptsatz ein. Die Verbindung erfolgt konjunktionslos; zwischen dem eingeleiteten Hauptsatz und der formelhaften Wendung kann das Adverb tho ‚da‘ stehen; seine Verwendung ist allerdings fakultativ, das Adverb kann auch mit senu zusammengeschrieben erscheinen. Den hohen Grad der syntaktischen Fusionierung der beiden Teile se- und – nu bereits in den ältesten ahd. Texten beweist die Möglichkeit der Kombination von senu mit der semantisch ähnlichen Partikel nu, die getrennt oder zusammengeschrieben vorkommen kann. Die Möglichkeit dieser tautologischen Kombination spricht ferner für die vor der ahd. Zeit stattgefundene Reanalyse der Wendung als holistische Einheit. Die Erweiterung der Struktur durch das Adverb tho zu senunu/senu nu + tho sind als Einleitungen zu Hauptsätzen ebenfalls belegt. Die Kontexte erlauben allerdings oft keine eindeutige Zuordnung des Adverbs entweder zur Partikel oder zum Hauptsatz. Steht nach senu eine Konjunktion, dann folgt ihr ein Nebensatz. In diesen satzinitialen Fällen bezieht sich senu auf den gesamten Haupt- bzw. Nebensatz und nicht auf ein einzelnes Wort. Das Letztere ist nur dann der Fall, wenn senu eine Nominalphrase einleitet bzw. von einem Adverb in räumlicher Bedeutung (hier, dort) begleitet wird. Beispiele für die nicht satzeinleitende Verwendung liegen im Belegkorpus ebenfalls vor, sind allerdings selten, vgl. die Belege (9) und (10), wobei die Partikel in (10) zwischen zwei parataktisch aneinander gereihten Hauptsätzen steht, sodass die Verwendung hier auch als satzinitial interpretiert werden kann. (9) Et adhuc ipso loquente | ecce iudas unus de duodecim | cum accepisset cohortem | uenit et cum eo turba multa Inti imo noh thanne sprehhentemo | senu tho iudas ein fon then zuelifin | mit diu her tho intfieng thia samanunga | quam inti mit imo mihil menigi (Tatian, 296, 5; ID 12668) Und während er noch zu ihm sprach‚ seht‚ da kam Judas‚ einer von den Zwölf‚ als er die Schar empfangen hatte‚ und mit ihm eine große Menge. (10) et timens abii et abscondi | talentum tuum In terra | ecce habes quod tuum est. Inti forhtenti gieng Inti gibarc | thina talenta In erdu | seno nu habes thaz dar thin ist. (Tatian, 262, 29; ID 12515) Und ich ging weg‚ weil ich mich fürchtete‚ und verbarg deine Talente in der Erde; siehe‚ nun hast du‚ was dein ist.
Aus semantischer Sicht lassen sich vier Verwendungsweisen unterscheiden, die zwar zwischen der wörtlichen, nicht parenthetischen Verwendung hin zum parenthetischen übertragenen Gebrauch im Sinne eines Aufmerksamkeitsmarkers
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variieren, im Althochdeutschen aber keine chronologische Abfolge dieser Veränderungen feststellen lassen. Bezieht sich die Wendung konjunktionslos auf eine Nominalphrase oder leitet sie mit Hilfe einer Konjunktion einen Nebensatz ein, ist ihre Verwendung als nicht parenthetisch zu beschreiben. Sie liegt in acht von insgesamt 65 Verwendungskontexten vor und ist mit den Belegen in (11) veranschaulicht: (11a) et ecce mulier | quae habebat sp[iritu]m infirmitatis | annis decem et octo | et erat inclinata | nec omnino poterat sursum | respicere senu tho uuib | thiu habeta geist unmahti | ahtozehen iár | inti uuas nidar gineigit (Tatian, 163, 30 Lc; ID 13073) Siehe dort die Frau‚ die achtzehn Jahre lang einen Geist der Krankheit hatte und niedergebeugt war und überhaupt nicht aufschauen konnte. (11b) Altera die Iteru[m] stabat Iohannes | et ex discipulis eius duo. | et respiciens ih[esu]m | ambulante[m] dicit. ecce agnus d[e]i. | ecce qui tollet peccata mundi. Andares tages abur stuont iohannes | Inti fon sinen iungiron zuene | Inti giscouuota then heilant | gangantan Inti quad. seno gotes lamp. | seno ther nimit sunta mittiligartes (Tatian, 51, 4 Io; ID 12040; ID 12037) Am anderen Tag stand Johannes und zwei von seinen Jüngern wieder da und er erblickte den Heiland‚ der umherging‚ und sagte: „Seht das Lamm Gottes. Seht den‚ der die Sünde der Welt nimmt.“ (11c) EN IPSE | stat post | parietem | n[ost]r[u]m | SÍNO . uua ér sélbo stêt hínter | únser uuénte (Williram, Hohenliedkommentar, 17v, 1c; ID 2966) Siehe nur‚ wo er selbst steht hinter unserer Wand. (11d) Interrogatus autem | a phariseis | quando uenit regnum d[e]i | respondit eis et dixit | non uenit regnum d[e]i | cum obseruatione | neque dicent ecce hic | aut ecce illic | ecce enim regnum d[e]i Intra uos est her tho gifraget | fon then phariseis | uuanne cumit gotes richi | tho antlingita her in Inti quad | nicumit gotes richi | mit bihaltnesse | noh niquedent. senu hier | oda thar | uuanta gotes ríchi ist Inin íu (Tatian, 242, 6 Lc; ID 12953) Als er von den Pharisäern gefragt wurde‚ wann Gottes Reich kommt‚ da antwortete er ihnen und sagte: „Das Reich Gottes kommt weder äußerlich sichtbar noch sagen sie: ‚Siehe hier‘ oder ‚Dort!‘‚ denn Gottes Reich ist unter euch.“
5.2 Routineformeln | 209
Die Bedeutung von senu ist in diesen Beispielen insofern wörtlich, als die eigentliche Bedeutung des Verbs sehen exklamativ zum Ausdruck gebracht wird: Man soll ein Lebewesen (11a-c) perzeptiv wahrnehmen bzw. die Augen in eine bestimmte Richtung lenken (11d). Ich halte diese Verwendungsweise für nicht parenthetisch, weil die formelhafte Wendung vollständig in die Struktur der Sätze integriert und ohne Inhaltsverlust unverzichtbar ist. In der zweiten Gruppe der Belege lässt sich diese nicht parenthetische Verwendungsweise ebenfalls beobachten, allerdings ist die wörtliche Bedeutung ‚sehen‘ etwas verblasst, weil der Aufruf zur Wahrnehmung rhetorisch, epideiktisch gemeint ist und sich nicht auf das konkret Wahrnehmbare bezieht. Mit zwei Belegenist dies allerdings die kleinste Gruppe der Verwendungskontexte von senu, vgl. die Beispiele in (12): (12a) in quo mihi bene complacuit | ipsum audite. | Et audientes discipuli | ceciderunt in faciem suam | [et] timuerunt ualde. leoht uuolcan | biscatauuita sie | inti senu tho stemma fon uolcane | sus quedenti . thiz ist min sun leobar | in themo mir uuola gilicheta | imo horet. | inti gihorente thie iungoron | fielun in iro annuzi | inti foruhtun thrato (Tatian, 146, 1 Mt; ID 31950) Eine Lichtwolke überschattete sie und‚ seht da eine Stimme aus der Wolke‚ die Folgendes sagt: „Dies ist mein lieber Sohn‚ an dem ich großes Gefallen finde. Hört ihm zu.“ Und die Jünger fielen zu Boden und fürchteten sich sehr. (12b) dixerunt ero iudæj | ecce quomodo amabat tho quadun Imo thie iudæj | senu uuvo her Inan minnota (Tatian, 232, 20 Io; ID 13420) Da sagten die Judäer zu ihm: „Seht nur‚ wie er ihn liebte.“
Die Belege der dritten (13) und vierten (14) Gruppe demonstrieren die parenthetische Verwendung der formelhaften Wendung senu insofern, als sie nicht in die Struktur des Satzes integriert ist, satzeinleitend steht und sich auf die gesamte folgende Äußerung bezieht. In der dritten Gruppe der Belege (26 Stellen von 65) ist die Bedeutung wörtlich und somitmit der Bedeutung von senu in den Belegen in (11) vergleichbar. Auch hier wird im perzeptiven Sinn der Aufruf/die Aufforderung ausgesprochen, sich etwas konkret Wahrnehmbares anzuschauen: das wüst werdende Haus (13a), den entgegenkommenden Jesus (13b, d) bzw.eine andere Person (Bräutigam in (13c), Mann in (13e)). Die Belege der Gruppen (11) und (13) unterscheiden sich voneinander somit syntaktisch durch das Vorliegen einer Parenthese in (13) und ihr Fehlen in (11).
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(13a) ecce relinquitur uobis | domus u[est]ra deserta. | dico enim uobis | non me uidebitis a modo | donec dicatis | benedictus qui uenit | In nomine d[omi]ni senu nuuuirdit íu forlazan | íuuuer hús uuvosti. | ih quidu íu | nigisehet ir mih fon nu | ér thanne irquædet | gisegenot si thiedar cumit | In trohtines namon (Tatian, 248, 8 Mt; ID 12977) Siehe! Jetzt wird euch euer Haus wüst hinterlassen. Ich sage euch‚ ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen‚ ehe ihr sagt: Gesegnet sei der‚ der dort kommt im Namen des Herrn. (13b) Et ecce ih[esu]s | occurrit illis dicens. | hauete Inti senu tho ther heilant | Ingegin quam In quaedenti. | heile uúeset. (Tatian, 328, 25 Mt; ID 12817) Und siehe da‚ der Heiland kam ihnen entgegen [und] sagte: „Seid gegrüßt!“ (13c) media autem nocte clamor | factus est. | ecce sponsus uenit In mitteru naht ruoft | uuard gitan. | senu nu cumit ther brutigomo (Tatian, 260, 16 Mt; ID 12509) Um Mitternacht wurde ein Ruf getan/wurde gerufen: „Seht‚ nun kommt der Bräutigam.“ (13d) Tunc si quis uobis dixerit | ecce hic chr[istu]s aut illic | nolite credere. thanne oba uuer quaede | senu hier ist christus oda thár | nicurit gilouban. (Tatian, 254, 3 Mt; ID 12483) Denn wenn jemand euch sage: „Seht‚ hier ist Christus“ oder „dort“‚ sollt ihr nicht glauben. (13e) [et] ipsi obseruabant eum. | et ecce homo quidam | hydropicus. erat ante illum Inti sie bihieltun ínan. | Inti sinu sum man | uuazzarsioh. uuas fora ímo (Tatian, 179, 25 Lc; ID 12481) Und sie beobachteten ihn. Und siehe‚ (irgend)ein wassersüchtiger Mensch war vor ihm.
In der fast genauso großen vierten Gruppe (30 Stellen von insgesamt 65) bezieht sich das parenthetische senu auf einen abstrakten Kontext. Die Funktionen der formelhaften Wendung verändern sich bei Belegen dieser Gruppe in Richtung Aufmerksamkeitssignal, das nicht einfach dazu auffordert, etwas visuell wahrzunehmen, sondern etwas zu verstehen und sich zu merken. Senu bezieht sich jedes Mal auf die gesamte folgende Äußerung, die keine perzeptive Handlung bzw. kein im wörtlichen Sinn wahrnehmbares Objekt oder Ereignis zum Ausdruck bringt. In (14c) und (14f) ist außerdem von vergangenen Ereignissen die
5.2 Routineformeln | 211
Rede, die zum Zeitpunkt der Aussage nicht visuell vorstellbar sein können. Die Belege in (14) sind deshalb mit zwei nicht parenthetisch verwendeten senu-Beispielen in (12) vergleichbar: (14a) ecce | anni tres sunt. ex quo uenio | quaerens fructum | in ficulnea hac | et non inuenio senu nú | sint thriu iar. fon thiu ih quementi | suochen uuahsmon | in thesemo phigboume | inti nifintu (Tatian, 163, 16 Lc; ID 13072) Siehe! Jetzt sind es drei Jahre‚ in denen ich die Früchte an diesem Feigenbaum zu suchen kam und finde [sie] nicht. (14b) pater ergo illius | egressus coepit rogare illum. | at ille respondens dixit patri suo; | ecce tot annis seruio tibi | et numquam mandatu[m] tuu[m] | praeterij. et numquam | dedisti mihi hedum | ut cum amicis meis epularer. sin fater | uzgangenti bigonda tho fragen inan | her tho antuurtenti quad sinemo fater. | senu so manigiu iar theonon thir | inti neo in altre thin bibot | niubargieng inti neo in altre | nigabi mir zikin | thaz ih minen friunton gomuti (Tatian, 156, 26 Lc; ID 13050) Als sein Vater hinauskam‚ da begann er ihn zu fragen. Er antwortete darauf [und] sagte seinem Vater: „Siehe! So viele Jahre diene ich dir und nie in dieser Zeit übertrat ich dein Gebot. Und nie in dieser Zeit gabst du mir eine Ziege‚ damit ich meine Freunde speiste.“ (14c) et ecce praecedit uos | In galileam ibi eum uidebitis | ecce praedixit uobis. Inti senu her forafuor íuuuih | In galileam thar gisehet ir inan | senu bifora sagata her iz íu. (Tatian, 325, 10 Lc, Mt; ID 12813; ID 12814) Und seht! Er fuhr euch voraus nach Galiläa‚ dort werdet ihr ihn sehen‚ seht‚ er sagte es euch voraus. (14d) Nam remisi uos ad illum | et ecce nihil dignum | morte actum est ei. ih santa iúuuih uuidar zimo | Inti senu nu niouuiht uuirdic | tode ist imo getan. (Tatian, 308, 19 Lc; ID 12678) Ich sandte euch wieder zu ihm. Und seht nun! Mit dem Tod ist ihm nichts Würdiges getan. (14e) Quid me interrogas | Interroga eos qui audierunt | quid locutus sum ipsis | ecce hii sciunt quae dixerim ego uuaz frages mih | frage thiediz gihortun | uuaz ih in sprahi | senu thie uuizzun thiu ih in quad (Tatian, 300, 23 Io, ID 12673)
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Was fragst du mich? Frage die‚ die das gehört haben‚ was ich zu ihnen sprach. Siehe! Die wissen das‚ was ich ihnen sagte. (14f) Et adhuc ipso loquente | ecce iudas unus de duodecim | cum accepisset cohortem | uenit et cum eo turba multa Inti imo noh thanne sprehhentemo | senu tho iudas ein fon then zuelifin | mit diu her tho intfieng thia samanunga | quam inti mit imo mihil menigi (Tatian, 296, 5; ID 12668) Und während er noch zu ihm sprach [und während zu ihm sprechend]‚ seht‚ da kam Judas‚ einer von den Zwölf‚ als er die Schar empfangen hatte‚ und mit ihm eine große Menge. (14g) Respondit eis ih[esu]s | a modo creditis | ecce uenit hora et iam uenit | ut dispergamini tho antlingita in ther heilant | fon nu giloubet ir | senu cumit zit nu iu cumit | thaz ir uuerdet zispreite (Tatian, 290, 1 Io; ID 12653) Da antwortete ihnen der Heiland: „Von nun an glaubt ihr‚ seht‚ es kommt nun für Euch die Zeit‚ [es] kommt‚ dass ihr zerstreut werdet.“ (14h) Ecce ego mitto uos sicut oues | in medio luporum.‚ estote ergo | prudentes sicut serpentes. | et simplices sicut columbę. | Cauete autem ab hominibus. | tradent enim uos in conciliis. Senonúih sentu íuuih samosó scáf | In mitte uuolua. uueset | uúise samaso nátrun | Inti lúttare sósó tubun (Tatian, 77, 19 Mt; ID 12411) Seht nun! Ich sende euch wie Schafe mitten unter Wölfe. [Darum] seid klug wie [die] Schlangen und aufrichtig wie [die] Tauben. Hütet euch aber vor den Menschen‚ sie überantworten euch ihren Gerichten. (14i) et ait maria‚ magnificat anima mea | d[omi]n[u]m‚ et exultauit sp[iritu]s meus In d[e]o | salutari meo‚ | quia respexit humilitatem | ancillae suȩ ecce enim ex hoc | beatam mé dicent omnes generationes‚ [...] thô quad maria. mihhiloso mîn sela | truhtin‚ Inti gifah mîn geist In gote | minemo heilante‚ | bithiu uuanta her giscouuta ôdmuoti | sinero thiuui senonu fon thiu | saliga mih quedent allu (Tatian, 29, 31 Lc, ID 11780) Da sprach Maria: „Meine Seele verherrliche den Herrn‚ und mein Geist freute sich in Gott, meinem Heiland‚ denn er schaute die Niedrigkeit seiner Magd. Siehe! Seitdem nennen mich alle Geschlechter selig‚ [...]“ (14j) ecce enim ut facta est uox | salutationis tuae In auribus meis | exultauit In gaudio Infans In utero meo.
5.2 Routineformeln | 213
senonu sô sliumo sô thiu stemna uuard | thines heilizinnes In minen óron | gifah In gifehen kind In minemo reue. (Tatian, 29, 21 Lc; ID 11613) Denn siehe! Sobald die Stimme deines Grußes in meinen Ohren erklang‚ freute sich das Kind in meinem Schoß in Freude.
Wie oben bemerkt, ist das fusionierte senu/seno als Interjektion eher in den ältesten ahd. Texten, vor allem in ‚Tatian‘, anzutreffen. In den sechs Notker-Stellen, die alle überwiegend aus seiner Psalterauslegung, also einem Text vom Ende der ahd. Zeit, stammen, liegt die Wendung in zusammengeschriebener Form nur in der parenthetischen metaphorischen Verwendung als pragmatischer Marker mit der Bedeutung ‚Versteh! Merke dir!‘ vor, vgl. exemplarisch Beleg (15). An dieser Stelle paraphrasiert/erklärt der Autor die Interjektion sino durch die bei ihm genauso oft belegte Wendung nu sih „nun siehe, schau“: (15) Ecce ipſi peccatoreſ [et] habundan|teſ . inſȩculo obtinuer[unt] diuitiaſ . Síno . daz chît . nû _ih . uuâr | ſiê ſúndige ſint . unde doh kenúhtige ſint . ioh uuérltrîhtuôma | hábent. (Notker, Psalmenauslegung, 256, 26; ID 8963) Siehe jetzt‚ das heißt: Nun denn siehe! Wahrlich‚ sie sind Sünder und sind dennoch reichlich versorgt. Sie haben sogar irdische Reichtümer.
Ob diese Stelle als Hinweis auf die stärker werdende Opazität der Interjektion bzw. ihre Reanalyse als VERBIMPER + NU interpretiert werden kann, muss aufgrund der Singularität des Belegs unbeantwortet bleiben. Halten wir in Bezug auf die Routineformel senu fest: Bereits in der frühsten ahd. Überlieferung kommt die Wendung in einer festen fusionierten Form vor, die so opak zu sein scheint, dass sie die „tautologische“ Wiederholung der Partikel nu (senu nu) erlaubt. Von einigen Ausnahmen abgesehen, ist die Wendung stark syntaktisiert, insofern, als sie satzeinleitend steht und in der Mehrheit der Fälle den Aussagegehalt des gesamten Satzes modelliert. In den ahd. Texten dominiert der parenthetische Gebrauch als pragmatischer Marker. Die konkrete/ wörtliche/perzeptive Bedeutung ‚Aufruf, sich etwas anzusehen‘ und die metaphorische/abstrakte Bedeutung ‚Aufruf, sich etwas zu merken, zu verstehen‘ halten sich die Waage, ohne dass sich eine Chronologie des Übergangs von wörtlich zu übertragen feststellen ließe. Lediglich in der Notkerschen Psalmenauslegung (Ende der ahd. Zeit) übernimmt sino einheitlich die Funktionen des pragmatischen Markers ‚Verstehe! Merke es dir!‘
214 | 5 Wege der Entstehung mikrostruktureller Formelhaftigkeit
5.2.1.3 Vergleich mit dem Altenglischen Brinton (2001) untersucht die Entstehung der engl. Routineformeln (now) look (here)/look you/lookee/lookahere/lookit. Die Wendung ist semantisch-pragmatisch nicht absolut äquivalent mit den hier betrachteten deutschen Wendungen, aber Brinton (2001, 190–192) weist selbst auf parallele Entwicklungen bei Verbindungen mit anderen sensorischen/auditiven Verben listen, hear, hark(en) hin. Sie stellt auch die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu engl. see (here/now) dar, einer Wendung, die den ahd. Belegen näher kommt. Tabelle 7 fasst die Entwicklung bei den engl. look-Wendungen zusammen: Tab. 7: Die Entstehung der pragmatischen Marker (now) look (here)/look you/lookee/lookahere/lookit im Englischen (nach Brinton 2001, 190)
Free collocation
Fixed formula
Univerbated form/ Pragmatic marker
look (that/how)s[…]
look you/ye (here)s[…]
lookee (here) > look (here) lookahere
look to NP
look to it/that > look to’t
lookit
Für das Altenglischedefiniert sie zwei Entstehungspfade, die zu zwei formal unterschiedlichen, aber semantisch und funktional ähnlichen pragmatischen Markern führen. Die Entwicklung beginnt im Mittelenglischen33 stets mit einer freien Verbindung eines Verbs im Imperativ, die entweder einen Nebensatz oder eine Nominalphrase einleitet. Bereits auf dieser ersten Stufe sind die freien Verbindungen polysem, weil sie sowohl wörtlich/perzeptuell als auch nicht wörtlich verwendet werden können. Ab dem 17. Jahrhundert stellt Brinton (2001, 189) die syntaktische Verfestigung, die Festlegung der Wortfolge, die Reduktion der morphologischen Form und die Reanalyse des Matrixsatzes zum Satzadjunk fest. Auf der dritten und letzten Stufe (19. Jahrhundert) werden die Wendungen univerbiert und in ihrer Position im Vor-Vorfeld fixiert. Dabei bleibt die ursprüngliche konkrete Bedeutung auf allen Entwicklungsstufen (so auch beim pragmatischen Marker) erhalten. Der Entstehungsweg der Wendung see (here/now) unterscheidet sich vom skizzierten laut Brinton (2001, 191) nur hinsichtlich des Nichteintretens der Reanalyse, da z.B. die die Wendungen begleitenden subordinierenden
|| 33 Genauer formuliert: Brinton (2001) beginnt ihre Untersuchung im Mittelenglischen und lässt die Vorstufe des Altenglischen unberücksichtigt.
5.2 Routineformeln | 215
Konjunktionen what oder how nicht getilgt werden. Dem in der Sekundärliteratur zur Grammatikalisierung (z.B. Hopper/Traugott 1993) vorgeschlagenen Pfad FULL VERB > QUASI AUXILIARY > AUXILIARY > CLITIC > AFFIX setzt Brinton (2001, 195; 2006, 324) einen anderen entgegen, nämlich: MATRIX IMPERATIVE > MATRIX IMPERATIVE/PARENTHETICAL > PRAGMATIC MARKER.
5.2.1.4 Zwischenfazit:Verfestigung der ahd. sieh(e)-Belege Sowohl mit der Routineformel see (hear) als auch mit senu/seno/sino liegen bereits im Althochdeutschen feste Wendungen vor, wobei das Merkmal Festigkeit sowohl der univerbierten Kernstruktur als auch der Semantik zu attestieren ist. Der lat. Einfluss ist für die (pragmatische) Verfestigung der Wendung entscheidend: In den HiFoS-Daten steht sie fast ausnahmslos als unmittelbares Pendant für lat. ecce/en. Die syntaktische Einbettung und der Skopus sind variabel und weisen ein breites Spektrum an Verwendungsmöglichkeiten vom nicht parenthetischen Bezug auf die unmittelbar folgende Nominalphrase bis hin zu einer Parenthese mit Matrix- bzw. Nebensatzbezug auf. Eine chronologische Abfolge bzw. eine Ablösung dieser syntaktischen Vielfalt lässt sich im Althochdeutschen bei beiden Wendungen nicht feststellen. Würde man mit Blick auf die bereits früh konventionalisierte und feste Kernstruktur die Wendungen konstruktionsgrammatisch im Sinne eines Form-Bedeutungspaaresinterpretieren wollen, müsste die semantisch-pragmatische Mehrdeutigkeit bei Formkonstanz berücksichtigt werden. Sowohl wörtlich (vgl. etwa die Beispiele in (13)) als auch nicht wörtlich gemeinte Belege (z.B. 14) können die Form einer Parenthese annehmen und umgekehrt: Die nicht parenthetische Form kann wörtlich (11) und nicht wörtlich Gemeintes (12) darstellen. Die parenthetischen wie nicht parenthetischen Kontexte mit see (hear) und senu/sino/seno in wörtlicher Verwendung bilden in meinen Augen die Grundlage für die spätere Entstehung des textverweisenden Markers nhd. sieh(e) den Anhang/oben/da. Dabei ist die Erweiterung des Skopus vom unmittelbaren Akkusativobjekt über den Satzbezug hin zum Text bzw. zu Textteilen das Merkmal der Verfestigung. Wie gezeigt, begegnet die Wendung im Althochdeutschen nur im biblischen Kontext. Die bereits im Althochdeutschen vorhandene Möglichkeit des metaphorischen Gebrauchs als aufmerksamkeitssteuernde Routineformel ‚Versteh, merke es dir!‘ ist auch im Neuhochdeutschen in literarischen Kontexten belegt; sie ist
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aber vermutlich wegen oder dank der emphatischen Färbung nicht ausschließlich auf den schriftsprachlichen Kontext eingeschränkt.34 In der Alltagssprache entwickelt die Wendung ein Netz von synonymen Routineformeln (sieh mal, sehn sie, sehn sie mal, schau mal, kuck mal usw.), in denen sich die Imperativform mit einer anderen Partikel (eher mal statt nun) und/oder mit den Personalpronomina verbindet (Stein 1995, 242). Auch andere sensorischen Verben gehen solche Verbindungen ein, vgl. etwa hör mal. Da die zugänglichen Korpora des Mittelhochdeutschen keine Belege zum univerbierten senu/sino/seno, sehr wohl aber zu den getrennt geschriebenen nu sêh/sêh (nu, hie)-Wendungen mit der Partikel nu in prä- und postverbaler Stellung enthalten, ist anzunehmen, dass der Verfestigungsprozess bereits seit dem Ende der ahd. Zeit von einer syntaktischen Reanalyse und Wiederherstellung der semantischen Transparenz VERBimper + PARTIKEL bzw. PARTIKEL + VERBimper begleitet ist. Obwohl sich die letzte Stufe – die Verfestigung als textstrukturierender Verweismarker bzw. Expletiv im Vor-Vorfeld – sich im Althochdeutschen nicht abzeichnet, kann von gewissen Gemeinsamkeiten zwischen Deutsch und Englisch und somit auch von Regelhaftigkeit auf den Anfangsstufen der Verfestigung gesprochen werden. Im Deutschen markieren wie im Englischen die imperativen Kontexte den Ausgangspunkt der Entwicklung. In beiden Sprachen gehen die Imperative der perzeptuellen Verben Verbindungen mit Synsemantika ein und verändern sich metaphorisch zu aufmerksamkeitssteuernden pragmatischen Markern, ohne allerdings die ursprüngliche konkrete Bedeutung zu verlieren. Die Möglichkeit der Parenthese, die an die emphatische Verwendung gekoppelt werden kann, bildet ferner eine weitere den beiden Sprachen gemeinsame Zwischenstufe. Im Deutschen findet allerdings der erste Übergang von einer freien zu einer festen Wortverbindung bereits in der voralthochdeutschen Zeit statt und erfolgt unter dem starken Einfluss des Lateinischen sowie der antiken rhetorischen Traditionen des epideiktischen Ausdrucks. Die Opazität der Verbindung VERBimper + PARTIKEL erklärt die tautologischen Verbindungen wie senu nu (tho) bereits im Althochdeutschen und begünstigt die Wiederherstellung der Transparenz im Mittelhochdeutschen. Das ist allerdings eine andere Art der Reanalyse als die, die Brinton (2001) für das Mittelenglische beobachtet.
|| 34 Vgl. bereits mhd. sê (hie)/nu sê und die Begelstellen in den Wörterbüchern des Mittelhochdeutschen (www.woerterbuchnetz.de).
5.2 Routineformeln | 217
5.2.2 Ih meino: Evidenzen aus dem Althochdeutschen 5.2.2.1 Die Verwendung im (gesprochenen) Neuhochdeutsch Genauso wie bei sieh(e) mal wird meinen in den meisten Wörterbüchern und Grammatiken des Deutschen lediglich in seinen traditionellen Verwendungsweisen erwähnt, d.h. meinen gilt als Vollverb der Klasse der Verba sentiendi und verfügt über die folgenden Bedeutungen: 1) ‚eine Meinung haben, der Ansicht sein‘, 2) ‚bei einer Äußerung im Sinn haben‘, 3) ‚etwas sagen/ausdrücken wollen‘. Meinen oder genauer die Wendung ich meine kann ein direktes Objekt, einen mit dass eingeleiteten Objekt- oder Komplementsatz bzw. (in der Umgangssprache) einen konjunktionslosen Komplement- bzw. Inhaltssatz nach sich ziehen (Eisenberg 1999, 308; Duden 4, 1042). Der in diesem Zusammenhang u.a. von der Duden 4 Grammatik verwendete Begriff desInhaltssatzes verweist darauf, dass es sich um Objekt- und Subjektsätze handelt, deren genaue Art von dem Wort (oft einem Vollverb) bestimmt wird, von dem der Nebensatz abhängt (Duden 4,1045). Stein (1995, 239) weist allerdings auf eine andere Funktion von ich meine im gesprochenen Deutsch hin. Die formelhafte Wendung betrachtet er als ein Gliederungssingnal, ein Element der Gesprächssteuerung zur Übernahme oder Sicherung bzw. Beanspruchung oder Eroberung der Sprecherrolle, als Formulierungshilfe, Paraphrasenindikator, Korrektursignal, Markierungssignal bei Einschüben bzw. als ein Element der impliziten Themasteuerung. Auch Auer (1998), Auer/Günthner (2003; 2005), Günthner/Imo (2003) und Imo (2007) beobachten in den Daten gesprochener Umgangssprache ich mein-Verwendungen, die sich sowohl in formaler als auch funktionaler Hinsicht von den in Wörterbüchern und Grammatiken dargestellten Angaben unterscheiden. Sprecherinnen und Sprecher reanalysieren im gegenwärtigen gesprochenenDeutsch ich mein-Matrixsätze als diskursorganisatorische Phrasen im Vor-Vorfeld unabhängigerSyntagmen, oft mit Klitisierung und sogar Tilgung des Pronomens der 1. Ps. Sg.: ich meine, dass wir ihr noch eine Chance geben sollten > ich meine, wir sollten ihr noch eine Chance geben > mein wir sollten ihr noch ne Chance geben. (Auer/Günthner 2003, 9)
Dabei sehen sie in Kontexten wie (b) die Grundlage für diesen Übergang. Als Diskursmarker hat mein in (c) eine andere Funktion als die eines klassischen Verbum sentiendi, nämlich vor allem einediskursorganisierende Funktion als Disfluenzmarker in Zusammenhang mit einerSelbstkorrektur, Explikation, Sequenzorganisation, Einleitung von Zusammenfassungen und/oder Nichtübereinstim-
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mungen. Der semantische Gehalt des Verbs meinen ist in dieser Verwendungsweise verblasst. Günthner/Imo (2003, 28) fassen die Entwicklung zum Diskursmarkerin der gesprochenen Umgangssprache wie folgt zusammen:
Abb. 11: Die Entstehung des Diskursmarkers ich mein im gesprochenen Deutsch (nach Günthner/Imo 2003, 28)
Für die Klassifikation als Diskursmarker sprechen laut Günthner/Imo (2003) vor allem die syntaktisch und semantisch lockere Anbindung an den folgenden Satz, das Fehlen der den Nebensatz typischerweise einleitenden Subjunktoren, die Fixierung auf das Vor-Vorfeld der Äußerung sowie die Unmöglichkeit der bedeutungswahrenden Umformungenin einen Matrixsatz mit einem durch dass eingeleiteten Komplementsatz. Ich mein als Diskursmarker ist fähig, nicht nur Komplementsätze nach sich zu ziehen, sondern auch interrogative und imperative Äußerungen. Das Relevanzzentrum hat sich somit auf der letzten Etappe der Entwicklung weg von der ich mein-Phrase hin zum Folgesyntagma verlagert. Die ursprüngliche Bedeutung der Ankündigung einer Meinungskundgabe tritt zuguns-
5.2 Routineformeln | 219
ten diskursorganisatorischer Funktionen der Rederechtzuweisung, Selbstkorrektur (Neufokussierung, Präzisierung) sowie der Kontextualisierung eines Bruchs im Diskurszusammenhang zurück. Die syntaktische Reanalyse und semantische Verblasstheit bedeuten allerdings auch in der gesprochenen Umgangssprache nicht den kompletten Verlust der ursprünglichen Bedeutung und Syntax. Die Übersicht in Abbildung 11 ist somit nicht zwingend als eine lineare Entwicklung vom Matrixsatz zum Diskursmarker zu verstehen, sondern als eine domänenund medienspezifische Koexistenz von unterschiedlichen Verwendungsmöglichkeiten. 5.2.2.2 Die Verwendung im Althochdeutschen Die HiFoS-Datenbank führt 165 Kontexte für ih meino an. In qualitativer Hinsicht tut sich gleich ein Unterschied zum Englischen (vgl. unten Kap. 5.2.2.3) auf: Angesichts der geringen Zahl der Belege (drei für ic mæne und kein einziger für ic gemæne) in den Textkorpora des Altenglischen überspringt Brinton (2007, 43) diese Sprachstufe komplett. Mit Ausnahme einer Stelle in der ‚Weingartner Buchunterschrift‘, zwei Otfrid-Stellen und vier Williram-Belegen konzentriert sich die Verwendung im älteren Deutsch laut Einträgen in der HiFoS-Datenbank auf das Werk Notkers, also auf schriftliche Texte par excellence. Das Ziel, in diesen Texten nach Verwendung von ih meino als Diskursmarker zu suchen, der seitens der Forschung als ein definierendes Merkmal ausschließlich der gesprochenen und gegenwärtigen Sprache attestiert wird, mag daher auf den ersten Blick überraschen. Dieses Ziel wird aber gar nicht aufgestellt. Die folgenden Analysen sind vom Bestreben geleitet, die Verwendung von ih meino als einer der geläufigsten formelhaften Wendung in den ahd. Texten in ihrer Vielfalt und mit Blick auf potentielle Variationen zu beschreiben und nach ihrem Beitrag zur Theorie der Verfestigungsprozesse als Teil des Sprachwandels zu befragen. Dabei wird sich allerdings zeigen, dass schriftliche Texte durchaus ambige Verwendungen von ih meino bereits im Althochdeutschen aufweisen, die als mögliche Auslöser für den viel später stattfindenden Wandel zum Diskursmarker interpretiert werden können. In den ahd. Nachschlagewerken ist die formelhafte Wendung kaum lexikographisch erfasst. Lediglich Schützeichel (2006, 232) führt sie unter dem Lemma meinen in der Form ih meino und der knappen Paraphrase ‚das heißt, nämlich‘ an. Das schwache ahd. Verb meinen stimmt laut Angaben des Wörterbuchs einerseits semantisch mit nhd. meinen‚ (in Bezug auf jemanden, etwas) eine bestimmte Ansicht, Meinung haben, vertreten, sagen‘ bzw. ‚(bei einer Äußerung, Handlung o.Ä.) im Sinn, im Auge haben‘ überein. Andererseits steht es für ‚be-
220 | 5 Wege der Entstehung mikrostruktureller Formelhaftigkeit
deuten, heißen, bezeichnen‘, was die Verwendung des Verbs als Konstituente einer anderen formelhaften Wendung – thaz meinit ‚das bedeutet, das heißt‘ – erklärt und die Wendung in eine andere Gruppe ähnlicher Ausdrücke (thaz chit, thaz heizzit, thaz ist arrekit, thaz ist, thaz bizeichinet/bizeinit, thaz bouhnit usw.) verlagert. Auch wenn die formelhafte Kombination des Demonstrativpronomens thaz mit den Verbi sentiendi bzw. dicendi im Folgenden unberücksichtigt bleibt, wird es deutlich, dass das Sem ‚heißen, bedeuten‘ für das semantisch-pragmatische Profil von ih meinoausschlaggebend ist. Die Wendung bezieht sich in unserem Belegkorpus nur an vier Stellen unmittelbar auf lat. id est, einmal auf hoc est; in allen anderen Fällen steht sie ohne ein fremdsprachiges Pendant. Das zugrunde liegende Muster PERS.-PRON. 1. P. SG. + MEINO ist im Althochdeutschen bereits fest und lässt weder Inversionen (*meino ih) noch Strukturerweiterungen (*ih meino uu$rl0h(h)o) bzw. morphosyntaktische Reduktion (meino) zu. Insbesondere die Reduktion wäre angesichts der für das Althochdeutsche typischen synthetischen Markierung der grammatischen Kategorien Person und Numerus am Verb gut vorstellbar; in der HiFoS-Datenbank liegt dafür aber keine Evidenz vor.35 Betrachtet man die für historische Formulierungstraditionen zentrale Rolle der Wahrheitsbeteuerungen,36 erscheint auch die Erweiterung durch das intensivierende Adverb uu$rl0h(h)o möglich. Aber auch solche Belege fehlen im analysierten Material, was sich durch die Funktionen der Wendung ih meino erklären lässt: Wie die Belege unten noch illustrieren werden, besteht die primäre Funktion der Wendung im Althochdeutschen nicht in der (inter)subjektiven Übermittlung einer persönlichen Mitteilung, die eine emphatische Verstärkung hätte benötigen können, sondern im Ausdruck einer Erklärung, Präzision und Paraphrasierung im wissensvermittelnden bzw. metasprachlichen (nicht metakommunikativen) Kontext, der keine Intensivierung braucht. In (16a) und (16b) ist zwar die Erweiterung des syntaktischen Musters PERS.-PRON. 1. P. SG. + MEINO dokumentiert, allerdings ist es auch anders realisiert und dient dem Ausdruck einer anderen – der metakommunikativen – Funktion. In (16a) teilt der Autor dem Leser seine Absicht etwas auszulegen mit, die Intention wird durch die Verwendung von wellen klar angezeigt. In (16b) ist ih meinu Bestandteil eines Relativsatzes so ih meinu ‚wie ich meine‘. Auch hier ist mit Blick auf die sich vom erklärenden ih meino unterscheidende Funktion (persönliche Kommentierung) von einem anderen zugrunde liegenden Muster auszugehen.
|| 35 Im Gegensatz dazu ist die Routineformel uuanu ‚ich wähne, denke‘ in nicht polylexikalischer Form überliefert. 36 Dazu ausführlicher in Kap. 5.2.3.
5.2 Routineformeln | 221
(16a) Ih uuille hiar gimeinen · uuaz thie engila bizeinen | thie sconun ioh thie uuizun · thie in Christes grabe sazun (Otfrid, Evangelienbuch, 161v, V 8, 1; ID 11590) Ich werde hier auslegen‚ was die Engel bezeichnen‚ die schönen und die weißen‚ die an Christi Grabe saßen. (16b) Vuanta thaz ist funtan . unz uuir haben nan gisuntan | thaz leben uuir so ih meinu. mit freuui ioh mit heilV (Otfrid, Evangelienbuch, 3r, 80; ID 9534) Denn das ist erkannt: Solange wir ihn lebend [bei uns] haben‚ solange leben wir‚ wie ich meine‚ mit Freude und mit Segen.
Die prototypische Verwendung zum Ziel der Erklärung, Präzision und Paraphrasierung im wissensvermittelnden bzw. metalinguistischen Kontext illustrieren die Belege in (17): (17a) Áber anię dáz | chît recognitio gáb íro uuílligo dén ſpiegel · dén óuh íro ze | gíbo gáb ſapientia · únde ín íro gíbohûſ keſtalta · dáz ſi dâr | ínne ſíh pechénnende íh méino déſ · taz ſi celeſtiſ iſt · uuidere | geſínnen chúnne ze íro ánagenne (Notker, Martianus Capella, 13, 12; ID 3135) Aber Aniae‚ das heißt recognitia (Wiedererkennung)‚ gab ihr bereitwillig den Spiegel‚ sapientia (die Weisheit)gab denihr auch zur Gabeund [den] stellte sie in ihr Gabenhaus‚ damit sie‚ sich darin erkennend – ich meine das: [erkennend]‚ dass sie celestis (himmlisch) ist – wieder zu ihrem Anfang zurückkehren könne. (17b) Hérton geſtílleſt tû diu uuéter · íh méino gehéi · únde | gerégene · (Notker, Martianus Capella, 3, 22; ID 3120) Abwechselnd beruhigst (zügelst) du die Wetter(typen)‚ ich meine Hitze und Regen. (17c) Hugi uueih thir sageti . ni uuis zi dumpmuati | firnim thesa lera . so zellu ih thir es mera | Ih meinu s[anct]a[m] mariun . kuningin thia richun (Otfrid, Evangelienharmonie,15r, I 3, 31; ID 9560) Bedenke‚ was ich dir sagte. Sei nicht zu unverständig‚ vernimm diese Lehre‚ dann erzähle ich dir davon mehr. Ich meine [die] heilige Maria‚ [die] Königin‚ die Mächtige. (17d) In iro chameron . ih meîno in | herzon dar fréuuent ſie ſih . Alſo Pauluſ chit. […] (Notker, Psalmenauslegung, 538, 12; ID 9259) In ihren Kammern‚ ich meine in den Herzen‚ dort freuen sie sich. Wie Paulus spricht: [...].
222 | 5 Wege der Entstehung mikrostruktureller Formelhaftigkeit
Semantisch weisen die Beispielein (17) Gemeinsamkeiten mit den nhd. ich meineBelegen des Typs 1 und 2 bei Günthner/Imo (2003) auf, vgl. die Übersicht in Abbildung 11 oben; syntaktisch kann das direkte Objekt aber unterschiedlich realisiert werden. Tabelle 8 gibt einen quantitativen Überblick über die unterschiedlichen Möglichkeiten der syntaktischen Einbettung der Wendung und weist gleichzeitig darauf hin, dass historisch die daz-Nebensätze nicht die geläufigsten Begleiter von ih meino sind, obwohl daz die geläufigste Nebensatzkonjunktion im Althochdeutschen ist (AhdGr, II, 149): Tab. 8: Syntaktische Einbettung von ih meino im Althochdeutschen
AkkO
ih 37 meino
NP
dazNebenS
RelativS
ATTR
PP
VP
21
19
17
15
13
6
Ih meino steht unabhängig von der jeweiligen konkreten Realisierung als Parenthese mitten im Haupt- oder Nebensatz. Ungeachtet der Unterschiede in der syntaktischen Einbettung dient die Wendung der Präzisierung, indem sie die erklärenden Beispiele einführt, die einer Äußerung (oder deren Teil) vorangehen. Ferner besteht ihre Funktion in der Paraphrasierung, bei der der volkssprachige Ausdruck durch das lat. Äquivalent erläutert bzw. durch ähnliche Ausdrucksweisen umschrieben wird. Ih meino kann auch eine literale Paraphrasierung des metaphorisch verwendeten Ausdrucks einleiten, vgl. Beispiel (17d). Das Verb meinen weist hier seine volle Bedeutung ‚heißen, bedeuten‘ auf, die Routineformel kann durch ähnliche erläuternde Wendungen (daz chid, daz heizzet) ersetzt werden. Im ahd. Material der HiFoS-Datenbank lässt sich kein einziger Beleg für die finale Position der Wendung finden. Interessanterweise sind aber auch die initialen Verwendungen nicht die prototypischen. Bei der geläufigsten Kombination IH MEINO + AKKO ist die initiale Position in 14 von 37 Fällen belegt; bei der Kombination mit einer NP steht die Wendung in unserem Datenmaterial nur sechsmal initial, d.h. am Anfang einer syntaktisch und semantisch abhängigen Nominalphrase. Beispiel (17b) veranschaulicht diese Verwendung. Typischer sind Kontexte wie (17a) oder (17d), in denen ih meino als eine Parenthese in die Mitte eines größeren Haupt- oder Nebensatzes eingeschoben wird. Die verbale Konstituente entfaltet in solchen Kontexten nach wie vor ihre volle Bedeutung ‚bedeuten, heißen‘.
5.2 Routineformeln | 223
Diese parenthetische Funktion kommt in 35 weiteren Fällen noch deutlicher zum Ausdruck. Hierbei steht ih meino aber ausschließlich initial und leitet entweder einen Nebensatz, der kein expliziter daz-Komplementsatz ist, oder ein hauptsatzähnliches Syntagma ein. Mir scheinendie semantische Verbindung innerhalb der Wendung und die volle Bedeutung des Verbs meinen hier etwas verblasst zu sein. Die Belege rücken somit in die Nähe der Beispielgruppe 4 „Zwischenstufe zwischen Matrixsatz/phrasalem Element und Diskursmarker“ bei Günthner/Imo (2003). Fünf ahd. Beispiele in (18) veranschaulichen exemplarisch diese Gruppe im Althochdeutschen: (18a) Uuâ|re iz utrumlibet. táz chît péidero uuán. | sô gîenge iz kelîcho· Similit[er] eni[m][ue]l fieret. | [ue]l no[n] fieret·Íh méino kelîcho máhtî geské|hen. dáz iz uuúrte. álde neuuúrte· (Notker, De interpretatione, 176, 10; ID 4841) Wäre es ein Beliebiger von beiden‚ – das heißt: die Meinung beider‚ – so ginge es ähnlich. Denn ebenso: entweder es geschieht oder geschieht nicht. Ich meine‚ genauso könnte es geschehen‚ dass es würde oder nicht würde. (18b) tíu ſélba ſatyra | únſémfte getân íſt · mít lángemo dúnſe · íh méino | uuanda nóh ſepte[m] libri fore ſínt · (Notker, Martianus Capella, 169, 21; ID 4716) Diese Satire istschwierig beschaffen mitlangem Sichhinziehen. Ich meine‚ weil noch sieben Bücher ausstehen. (18c) Tíz | iſt ſec[un]d[u]m rhetorica[m]emphaticoſ keſág[et] · táz chît míchellicho · lati|ne chît iz exaggeratiue · Íh méino uuío ióh ſélbes iouiſ ſtella · tiu | fóre fílo glánz íſt · tánne úrouge uuírt · ſô diu ſúnna ſtât ſkînen · (Notker, Martianus Capella, 63, 16; ID 4406) Das ist secundum rhetoricam (nach der Rhetorik) emphaticus (emphatisch) gesagt‚ das heißt außerordentlich/übertrieben‚ latine (lateinisch) heißt es exaggerativ. Ich meine‚ wie auch selbst iouis stella (der Stern Jupiters)‚ der vorher sehr hell ist‚ dann unsichtbar wird‚ wenn die Sonne zu scheinen beginnt. (18d) So úerit iz ouh. ube álle|lih féstenunga állelîcho getân uuírdet. | ih méino. dâr nemag ouh keskéhen daz | angulares sámint uuâr sagen (Notker, De interpretatione, 191, 11; ID 4018) (Eben)so geht es auch‚wenn eine allgemeine Bejahung auf eine allgemeine Weise getan wird. Ich meine‚ auch dort kann nicht geschehen‚ dass die angulares (Eckpfeiler) zusammen die Wahrheit sagen.
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(18e) Íh méi|no . dáZ tû ſáhe zuêne díne ſúne . ſáment fóne | dînemo hûſ kefûoret uuérden. mít állero dero | hêrrôn mánegi . únde mít álleſ teſ líuteſ méndi (Notker, Boethius, De consolatione philosophiae, 63, 27; ID 3698) Ich meine‚ als du sahst‚ [dass] deine zwei Söhne zusammen aus deinem Haus geführt werden‚ mit einer Vielzahl aller dieser Herren und mit dem Jubel des ganzen Volkes.
Ähnlich wie Auer (1998) und Günthner/Imo (2003) in Bezug auf die Beispiele aus der gesprochenen Sprache interpretiere ich die durch ih meino in ahd. per se schriftsprachlichen Texten eingeleiteten Teile als Matrixsätze mit abhängigenHauptsätzen, die das semantische Relevanzzentrum der Aussagen bilden. Zwar liegt im durch uuanda ‚weil‘ eingeleiteten Beispiel (18b) nicht explizit ein Hauptsatz vor, aber auch für diese Stelle gilt wie für die anderen Belege in Gruppe (18), dass die folgende Information nicht einfach eine verdeutlichende Paraphrase bzw. ein illustrierendes Beispiel ist, sondern eine für den Leser neue Information. Durch ihr Novum rückt siein den Vordergrund, und der abhängige hauptsatzähnliche Satz wird pragmatischaufgewertet. Die zentrale kommunikative Aktivität liegt nicht bei ih meino, sondern bei darauf folgenden abhängigen Sätzen. Derabhängige Satz enthält nun die zentrale Information und die für den Fortgang der Erläuterung relevante Äußerung. Ih meino ist als eine holistische Einheit in ambiger Verwendung zu verstehen: Sie leitet Erklärungen ein, fungiert aber gleichzeitig auch sequenzorganisierend; sie ist etwas loser an den folgenden Satz gebunden, in der initialen Stellung aber fest. Die Annahme dieser pragmatischen Funktionen und die parenthetische satzinitiale Verwendung bedeuten im Althochdeutschen keine chronologische Ablösung, sondern eine Koexistenz der Verwendungsmöglichkeiten (17) und (18). 5.2.2.3 Vergleich mit ae. I mean und Zwischenfazit zu Verfestigungsprozessen im Althochdeutschen Mit Brinton (2006; 2007) liegen zwei Untersuchungen für das Altenglische vor, die vergleichend zu Analysen des deutschen Materials herangezogen werden können. Wie in Kap. 5.2.2.2 bereits erwähnt, fällt im zwischensprachlichen Vergleich zunächst der quantitative Unterschied auf: Während das Fehlen der frühen Belege im ältesten Englischen Brinton (2006; 2007) dazu anleitet, ihre Untersuchung im Mittelenglischen zu beginnen, gehört ih meino mit 165 Treffern zu einer gut überlieferten Wendung des Althochdeutschen. Brinton knüpft an den am Gegenwartsenglischen erarbeiteten Verfestigungspfad MATRIX CLAUSE > MATRIX CLAUSE/PARENTHETICAL DISJUNCT > PRAGMATIC MARKER an und relativiert diesen insofern, als die historische Korpusevidenz den Beginn der
5.2 Routineformeln | 225
Entwicklung beim Matrixsatz, insbesondere beim dass-Inhaltssatz, nicht bestätigt. Die viel häufigeren Begleiter von engl. I mean sind in historischen Texten phrasale Elemente NP, VP, AP, PP, AdvP; der Skopus ist satzintern auf diese Elemente beschränkt (Brinton 2007, 58; 2006, 324). Tendenziell weisen auch die vorliegenden Analysen des ahd. Materials in die gleiche Richtung. Der weitere Verlauf der Entwicklung über ambige Kontexte mit ih meino in parenthetischer Stellung hin zum pragmatischen Marker scheint auch für das Deutsche zu gelten, kann jedoch bereits im Althochdeutschen nachgewiesen werden und betrifft in erster Linie ih meino in initialer Stellung vor dem abhängigen Nebensatz bzw. dem hauptsatzähnlichen Syntagma, vgl. die Beispiele (18). Brinton datiert diese Entwicklung im Englischen auf die spätmittelenglische Zeit. Vor allem in diesen initialen Parenthesen sind im Deutschen am deutlichsten die Anfänge des semantischen Verblassens bei der verbalen Konstituente greifbar. Für das Englische schlägt Brinton (2006, 58–59) die folgende Chronologie der semantischen Entwicklung vor: Tab. 9: Die Chronologie der semantischen Entwicklung von engl. I mean (nach Brinton 2006, 58–59)
Function
Old English
Middle English
metalinguistic
‘I intend the previous discourse to signify/have the meaning’
‘I’m making the ‘I’m repairing/cor- ‘I’m exemplifying previous disrecting the previous the previous discourse more discourse’ course’ precise/explicit’
metacommunicative/ subjective
‘I’m reformulating the previous discourse (perhaps contrastively)’
Early Modern English
Modern English
‘I’m emphasizing the importance/veracity of the previous or following discourse’
‘I’m evaluating the previous discourse’ ‘I’m serious when I say’
226 | 5 Wege der Entstehung mikrostruktureller Formelhaftigkeit
Function intersubjective
Old English
Middle English ‘I’m implying more than I’m saying’
Early Modern English
Modern English ‘I’m saying this because’
Die Chronologie gilt insofern auch für das Deutsche, als die metalinguistischen Funktionen auch in den hier analysierten Daten den Anfang der Veränderungen zur metakommunikativen Verwendung hin markieren. Das Verblassen der Bedeutung erfolgt auch im Deutschen von ‚in Ansicht haben, bedeuten, heißen‘ zu ‚paraphrasieren, präzisieren, umformulieren‘, ohne dass es aber zum kompletten Schwund der Ausgangssemantik kommt. Allerdings tritt diese semantische Veränderung in unseren Daten bereits im Althochdeutschen ein, also viel früher als im Englischen, und scheint an die zeitgleich sich verändernde Form – die Fixierung in der initialen, satzeinleitenden Position – gekoppelt zu sein. Das analysierte Material erlaubt hier somit bereits früh die Existenz eines Form-Bedeutungspaares im konstruktionsgrammatischen Sinn anzunehmen, wenn man der Polysemie und den ebenfalls überlieferten Möglichkeiten der nicht initialen Verwendung Rechnung trägt. Wie oben bereits erwähnt, entfällt der Großteil der HiFoS-Belege auf die Werke Notkers. Das scheint mir kein Zufall zu sein: Sie stehen im pädagogischen Kontext der Wissensvermittlung und müssen als Übersetzungs- und Auslegungswerke vor dem Hintergrund zeitgenössischer quadrivialer Bildung und christlicher exegetischer Interpretationstechniken verstanden werden. Dass gerade solche Texte bzw. Diskurse auf die Entstehung und Verfestigung metalinguistischer und metakommunikativer formelhafter Wendung einwirken, ist offensichtlich. Wie sich ihre Entwicklung außerhalb dieser Texte und in späteren Epochen gestaltet, muss für das Deutsche noch untersucht werden.
5.2.3 Wahrheitsbeteuerungen im älteren Deutsch und ihre Funktionen Für die nächste Gruppe der formelhaften Wendungen fehlt im modernen Deutsch eine unmittelbare Vergleichsbasis. Ich beginne das Kapitel deshalb im Gegensatz zu den vorangehenden Kapiteln mit der Analyse des ahd. und as. Materials, verzahne diese Analysen enger mit den ähnlichen Studien zum Altenglischen und leite dann zum Neuhochdeutschen über. Es handelt sich um formelhafte Wendungen, die ich Wahrheitsbeteuerungen nenne. Mit 351 Belegen in der HiFoS-Da-
5.2 Routineformeln | 227
tenbank gehören sie zum festen Bestandteil der altdeutschen formelhaften Sprache. Abbildung 12 gibt einen Überblick über die geläufigsten37 und für die weiteren Ausführungen relevanten Wendungen:
Abb. 12: Das Feld der Wahrheitsbeteuerungen im älteren Deutsch
Mit Ausnahme von as. hwat handelt es sich bei den geläufigsten Wendungen um Nominal- bzw. Verbalphrasen mit dem Adjektiv w$r ‚wahr, wahrhaft, wirklich, richtig‘ (Schützeichel 2006, 397) oder dem davon abgeleiteten Substantiv (Substantivierung) w$r (st. N.)/w$ra (st. F.) ‚Wahrheit, das Wahre‘ (Schützeichel 2006, 397–398). Als ein adjektivisches bzw. adverbiales Attribut begegnet w$r als Konstituente der Routineformeln w$r quidu/zellu/sagen ih iu „wahr spreche/erzähle/ sage ich Euch“ bzw. daz ist w$r „das ist wahr“.38 Gemeinsam ist all diesen Wen-
|| 37 Mit sieben Belegen ist ferner die Interjektion teruwe ‚in Treue‘ (vor allem in ‚Althochdeutschen (Pariser) Gesprächen‘) als wahrheitsbekräftigende Partikel belegt. Vereinzelt bis singulär kommen ebenfalls mit w$ru, in w$rnissu, te suothen, giwissound rehto vor. Sie bleiben weiter unberücksichtigt. 38 Sechs Mal findet sich die Routineformel ih mag dir zellen/sagen w$ron worton „ich kann dir mit wahren Worten erzählen“, die im Vergleich zu anderen formelhaften Wendungen seltener auftritt und weder in der Abbildung noch bei weiteren Ausführungen berücksichtigt wird. Zur Rolle der semantisch teilweise ähnlichen Routineformeln ih sagen thir (ein) und fernim (vone
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dungen ihre Funktion als Formeln, mit denen der wahrhafte Charakter der vorangehenden bzw. folgenden Aussage beteuert oder bekräftigt wird. Dass sie in der volkssprachigen Literatur quer durch verschiedene Epochen des Deutschen oft vorkommen, wurde seitens der sprach- und literaturhistorischen Forschung bereits früh bemerkt (Burger 1977, 17–18; Wackernagel 1874, 210; Grimm 1840). Allerdings wurde ihre Verwendung entweder aus rein technischen Gründen der Reimherstellung (‚Platzfüller‘) oder als ein Indiz für einen besonders volkstümlichen Charakter der Dichtung und Prosa in der Volkssprache erklärt. Die Tatsache, dass die namhaftesten Autoren des Mittelalters und der Vormoderne unabhängig von der Textsorte zu wahrheitsbeteuernden formelhaften Wendungen greifen, spricht gegen die erste Annahme (vgl. zur Heldendichtung und Hagiographie Hanauska 2014). Ihre Verbreitung im lat. Schrifttum aus der Zeitspanne 200 v.Chr.-200 n.Chr. (Kroon 1995) widerlegt die zweite Behauptung. Vielmehr sind die Gründe und die Anfänge solcher Formulierungstraditionen m.E. in der Sprachphilosophie Platons zu suchen, die Sprache nicht als ein formales System betrachtet, das sich der Mensch zur Befriedigung seiner Interessen geschaffen hat, sondern als ein Mittel des Redens und Benennens, daszwar durch Abmachung und Übereinkunft entsteht, aber nur den Schein des Wesens der Dinge darstellt und vor allem dazu fähig sein soll, „Wahres“ (das unveränderlich Wahre der Idee, eidos) abzubilden. Sprache ist somit ein Mittel zur Erkenntnis des „unveränderlich Wahren“. Im Sinne dieser Philosophie wird die Erkenntnis der Wahrheit zur conditio sine qua non in der Redekunst Platons erhoben; evidentia (die Augenscheinlichkeit) ist für Quintilian eines der wichtigsten Mittel zur Steigerung des Ausdrucks (Ueding/Steinbrink 42005, 18–23; 285). Eines der Ziele der Rhetoriklehre ist es seitdem (vgl. etwa Aristoteles oder Cicero), Mittel bereitzustellen, die den Redner/Schreiber in die Lage versetzen, die Zuhörer/Leser zu überzeugen. Diese Wirkungsfunktion der Rede/des Geschriebenen kann er durch die Belehrung (pragma, docere), die auf einen rationalen Erkenntnisprozess abzielt, die emotionale Stimulierung des Publikums (ethos, delectare, conciliare) und die Erregung der Leidenschaften (pathos, movere, concitare) erreichen. Die drei aufgezählten officia oratoris der Redekunst decken sich weitgehend mit den Aufgaben der mittelalterlichen und vormodernen Literatur, die entsprechend auch auf die gleichen Mittel zurückgreift, und so auch auf die wahrheitsbeteuernden formelhaften Wendungen.
|| allen/sar in rihti) im Kontext der mittelalterlichen Wissensvermittlung vgl. Filatkina/Hanauska (2010). Zu beteuernden Routineformeln aus der Perspektive der gesprochenen Sprache Burger (1977, 17–18).
5.2 Routineformeln | 229
Es handelt sich bei solchen Wendungen um die bereits im älteren Deutsch stark formelhaft geprägten Ausdrucksweisen. In Bezug auf st. N. w$r und st. F. w$ra vermerkt das Schützeichel’sche Wörterbuch, dass die Substantive gebunden als Konstituenten der adverbialen formelhaften Wendungen inw$r(a), in w$r(a) m0n, in m0na w$r(a), in/zi w$re, in/ziw$ru, in/zi w$r@n ‚in Wahrheit, fürwahr, gewiss, wahrlich, nämlich‘ vorkommen. Wie Abbildung 12 zeigt, sind sie im Althochdeutschen die geläufigsten Mittel der Wahrheitsbestätigung. Genauere Angaben zur funktionalen Vielfalt der Wendungen bzw. zu den Unterschieden in ihrer syntaktischen Einbettung fehlen. Genauso fehlen m.W. jegliche historische Beschreibungen zur Diachronie des Wandels der wahrheitsbeteuernden polylexikalischen Wendung zi w$re zum Adverb mit Skopus auf dem Satz oder gar zum einräumenden Marker zwar, der die ursprüngliche Funktion der Wahrheitsbeteuerung völlig einbüßt und sich aus dem Netz der ähnlichen formelhaften Wendungen löst. Das vorliegende Unterkapitel setzt sich solch eine Beschreibung zum Ziel und betrachtet die Wendungen aus der Perspektive ihrer Entstehung und Variation. Um die Gesetztmäßigkeiten der Verfestigungsprozesse bzw. ihr Fehlen nachzuweisen, werden sowohl die in den älteren Texten weniger produktive Wendung hwat (Kap. 5.2.3.1) als auch die geläufigsten Vertreter der Wahrheitsbeteuerungen – die zi w$ru- und in w$r- Gruppe (Kap. 5.2.3.2 und Kap. 5.2.3.3) behandelt. Dass Wahrheitsbeteuerungen keine Platzfüller sind, beweist ihre Verbreitung nicht nur im älteren Deutsch, sondern auch im Altenglischen, und da insbesondere in Prosatexten (Lenker 2000, 232). Brinton (2006) und Lenker (2000; 2003) weisen auf die hohe Frequenz der Adverbien hw#t, treowlice, forsoothe, witodlice und so\lice mit der Bedeutung ‚verily, truly, ordained‘ in historischen englischen Texten unterschiedlicher Gattungen hin. Die Adverbien sind mit Hilfe des Suffixes -e von Adjektiven witodlic und so\lic abgeleitet, die ihrerseits ebenfalls Derivate von den Adjektiven witod ‚certain, appointed, ordained‘ und so\ ‚true‘ sind (Lenker 2000; 2003, 274–278).39 In Anlehnung an Traugott (1995) schlagen Brinton (2006, 318–319) und (Lenker 2000, 235–238; 2007, 86–89) für die Entwicklung zum Diskursmarker den folgenden Verfestigungspfad vor: PREDICATE ADVERB > SENTENCE ADVERB > PRAGMATIC MARKER.
Der Beginn der Entwicklung liegt also beim Prädikatsadverb, das sich syntaktisch eng auf dieses Prädikat bezieht und semantisch zum Ausdruck bringt, dass die im Prädikat versprachlichte Handlung wahrhaftig geschehen ist. Bereits die äl-
|| 39 so\ ist allerdings auch als Substantiv in der Bedeutung ‚truth‘ belegt.
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testen englischen Texte überliefern parallel die emphatische (modale) Verwendung der Adverbien. Die Adverbien stehen im Englischen in direkter Rede mit dem Subjekt in der 1. P. Sg.; der Sprecher ist gleichzeitig der Aktant der Handlung. In diesem Sinne behaupten Brinton und Lenker, dass das Prädikatsadverb als manner adverb/adjunct fungiert. Die Entwicklung setzt mit der Verlagerung (und Vergrößerung) des Skopus von der Prädikatsgruppe auf den ganzen Satz ein, die sich semantisch darin spiegelt, dass der Kern der Aussage sich von der Beschreibung der Handlung als wahrhafte auf die modale und subjektive Kommentierung verschiebt, dass das im Satz Gesagte wahrhaftig ist (style/content disjunct, dt. Modalpartikel). Diese Veränderung im Skopus führt zur verstärkten syntaktischen Flexibilität, witodlice und so\lice werden optional. Der Sprecher muss mit dem Aktanten nicht identisch sein, der letztere kann sogar in Passivsätzen fehlen. Die Funktion verändert sich schließlich von referenziell zu metatextuell: Beim dritten Stadium (pragmatischer Marker) verblasst der Bezug zur Wahrhaftigkeit komplett; die Wendungen markieren Abschnittsgrenzen, insbesondere den Beginn eines neuen Abschnitts, bzw. thematische Diskontinuität und werden in der initialen Position syntaktisiert. Alle drei Etappen der Verfestigung beobachtet Lenker (2000) parallel zueinander bereits in den ältesten englischen Texten. 5.2.3.1 hwat Alle 23 altdeutschen Belege stammen aus dem as. ‚Heliand‘ und der ‚Altsächsischen Genesis‘. Im ‚Altsächsischen Wörterbuch‘ (Tiefenbach 2010, 190) ist hwat als eine Interjektion mit der Bedeutung ‚in der Tat, wahrhaftig, sieh/hör nur‘ verzeichnet und den neuenglischen Ausdrücken indeed, truly, lo, behold, listen gegenübergestellt. Brinton (1996a, 181–210) weist auf die Produktivität der Wendung hw#t‚what‘ in älteren englischen Texten hin, insbesondere in Versen. Dort kommt sie in initialer Stellung in Kombination mit dem Personalpronomen der 1./2. P. als Marker in hauptsächlich vier Funktionen vor: a) Hw#t ist hörerorientiert und lenkt die Aufmerksamkeit der Hörer auf die kommenden Informationen hin. Als intersubjektiver marker of positive politeness (Brinton 1996a, 188) stellt hw#t eine kommunikative Verbindung zwischen dem Verfasser/Schreiber und dem Rezipienten her. b) Hw#t weckt das Interesse des Rezipienten an diesen Informationen, hebt sie als relevant und wichtig hervor und ruft ihn auf, sich diese Informationen zu merken. c) In einigen Fällen betont die Wendung, dass die Informationen zum allgemeinen Wissensgut gehören und bekannt sind. Sie geht typischerweise einem Matrixsatz voran, der das Zustandekommen solcher Wissensbestände erklärt
5.2 Routineformeln | 231
(Verweise auf die Bibel, bekannte Autoren und Persönlichkeiten usw.). Sie kann allerdings auch für den Rezipienten neue und unbekannte Wissensbestände als solche einführen und kommentieren. In diesem Sinn hat hw#t auch metatextuelle bzw. textorganisierende Funktionen. d) Hw#t drückt Überraschung aus (Brinton 1996a, 187; 2006, 313). Der Verwendung von hw#t im älteren Englisch attestiert Brinton (1996a, 210) einen komplexen (insbesondere ab der mittelenglischen Zeit), aber unidirektionalen Charakter vom Interrogativpronomen in direkten Fragen mit propositionaler Bedeutung über die Konjunktion/das Fragepronomen in indirekten Fragen hin zum pragmatischen Marker mit textuellen und intersubjektiven Funktionen. Dabei hält sie die Frage offen, ob sich die pragmatische Funktion vom Interrogativpronomen oder von der Konjunktion her entwickelt. Im ‚Heliand‘ und in der ‚Altsächsischen Genesis‘ ist die beschriebene Entwicklung in dieser Form nicht greifbar. Die Texte überliefern eher den Endpunkt dieses Verfestigungswegs, der sich vor allem in der einheitlichen festen syntaktischen Einbettung von hw#t manifestiert: Die Wendung tritt ausschließlich initial, überwiegend in der direkten Rede der dialogischen Passagen und in der Kombination mit dem 1./2. Pers.-Pron. Sg. oder Pl. auf. Syntaktisch ist sie kaum in die folgenden Matrixsätze integriert und wird parenthetisch verwendet. Im syntaktischen Sinn wäre sie auslassbar, allerdings dient die Wendung wie in altenglischen Texten (Brinton 1996a; 2006) der Herstellung der Verbindung zwischen dem Hörer und dem Leser und ist auch in der deutschen Überlieferung hörerorientiert. Ihre pragmatischen Funktionen fallen im Deutschen allerdings etwas enger aus als in englischen Texten; sie beschränken sich auf a) und b) in Brintons Klassifikation (s. oben). Hwat ist in unseren Daten ausschließlich ein wahrheitsbekräftigender Marker‚ mit dem eine für den Hörer/Leser neue Aussage/Behauptung eingeleitet wird. Der Sprecher betont damit, dass die auf seinen Adressaten gerichtete Aussage dem allgemeinen Wissen entspricht bzw. auf allgemeine (etwa durch die Bibel verbreitete) Fakten rekurriert. Der wahrheitsbeteuernde Charakter tritt insbesondere in Kontexten wie (19) deutlich in Erscheinung. (19a) huat ſagda ik thi te uuaron | quat hie ef thu gilobian uuili than | niſt nulang te thiu huat thu hier | antkennean ſcalt craft drohtineſ (Heliand, 115r, 26; ID 23383) „Fürwahr‚ ich sagte dir wahrlich“‚ sprach er‚ „wenn du glauben willst‚ dann ist [es] nun nicht lange dazu. Fürwahr‚ du wirst hier die Macht des Herrn erkennen.“
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(19b) huat thu mah|tiſ gitroian uuell uuitan that | te uuaron that thi uuatereſ ſtrom | an them ſeuue innan thineſ ſitheſ | nimahti laguſtron gileſtian ſo | lango ſo thu haƀiſ giloƀon te mi (Heliand, 82v, 14; ID 6495) Wahrlich‚ du konntest wohl vertrauen‚ das in Wahrheit wissen‚ dass dir der Wasserstrom in dem Meer in deinem Weg‚ der Meeresstrom‚ nichts anhaben konnte‚ so lange du Glauben in mich hast. (19c) uuilthu minas uuħit. | drotin hebbian huat it all an thinu[m] duoma stéd; Ik libbio bithinum lehene. endi ik gilobi an thi fromin the gouda (Altsächsische Genesis, 2r, 8; ID 9288) Willst du nichts von meinem haben‚ Herr? Wahrlich‚ es steht alles in deiner Macht. Ich lebe auf deinem Lehen und ich glaube an dich‚ mein guter Herr. (19d) huat | thu giuuald habiſ quat hie ge an | erthu ge an himile helag drohtin | uppe endi nithare biſt thu alo | uualdo gumono geſto endi uui thina | iungron ſind (Heliand, 67v, 18; ID 6219) „Fürwahr‚ du hast Macht‚“ sprach er‚ „sowohl auf der Erde als auch im Himmel‚ heiliger Herrscher‚ oben und unten bist du der Allwaltende über die Seelen der Menschen und wir sind deine Jünger.“
Bei der Szene der Auferweckung des Lazarus (19a) möchte Jesus sein Grab öffnen lassen. Martha weist ihn jedoch darauf hin‚ dass der Verwesungsprozess bereits eingesetzt haben muss. Dem widerspricht Jesus und verwendet zur Bekräftigung seiner Aussage hwat gleich zweimal und in der Kombination mit einer anderen pragmatisch synonymen Wendung sagta ik thie te uuaron „ich sagte dir wahrlich“.40 Auf eine ähnliche Weise ist diese Funktion in (19b) durch die Kollokation uuitan te uuaron ‚in Wahrheit wissen‘ unterstützt. In unseren Daten kommt die Wendung als eine intensivierende emphatisch verwendete Partikel in Äußerungen vor, die zum allgemeinen Wissensbestand gehören (19c-d). 5.2.3.2 zi w$re/zi w$ru/zi w$ron/te w$ron Ein viel komlexeres Verwendungsprofil ist bei der formelhaften Wendung zi w$re mit ihren Varianten zi w$ru/zi w$ron und der nur im ‚Heliand‘ belegten Form te waron festzustellen. Der Verfestigungsweg scheint sich auch von dem der vergleichbaren englischen Wendungen zu unterscheiden, wenngleich durch die spezifische Textdistribution der Wendung im Althochdeutschen eine erhebliche || 40 Vgl. dazu ausführlicher in Kap. 5.2.3.2.
5.2 Routineformeln | 233
Einschränkung ihrer Untersuchung entsteht: Von 103 Treffern entfällt fast die Hälfte (43 Belege) auf die gereimte ‚Evangelienharmonie‘ Otfrids.41 Das Vorkommen der Wendung ist oft reimbedingt und erschwert somit die Aussagen über ihre tatsächlichen Funktionen. Allerdings wies bereits Büge (1908, 42) nach, dass Otfrid an zahlreichen Stellen auf Beteuerungsformeln wie daz ist w$r verzichtet, obwohl sie sich dem Reim nach angeboten hätten. Und umgekehrt: Bei Otfrid stehen sie an Stellen, an denen bereits ein Reimwort vorhanden ist bzw. eine leichte Wortumstellung den Reim ergeben hätte: All dies lehrt uns, dass die Beteuerungen nicht nur nicht zufällig, sondern direkt beabsichtigt sind, dass z.T. eher sar und thar Flickwörter sind, als die darauf reimende Formel.42
Hanauska (2012) stellt einen ähnlichen Gebrauch der wahrheitsbeteuernden formelhaften Wendungen im Evangelienbuch des Heliand-Dichters fest. Obwohl er mit solchen Formulierungen etwas zurückhaltender umgeht, unterliegen sie hier nicht dem Reimzwang und treten der Ansicht entgegen, sie würden vornehmlich als technisches Flickwerk benutzt. Mit ahd. zi w$re liegt eine Präpositionalphrase vor, die aus der Präposition zi und dem st. F. w$ra ‚Wahrheit‘ besteht. Ähnliches gilt auch für die Variante te w$ron, die nur im ‚Heliand‘ vorkommt (vgl. auch ‚Altsächsisches Wörterbuch‘ 2010, 441). Die Angaben in Schützeichel (2006, 397) lassen vermuten, dass es sich beim Substantiv um eine gebundene Komponente handelt, die auf diese Präpositionalphrase und ihre Varianten zi w$ru, in w$r(a), in w$re, mit w$ru beschränkt ist. Während die flexionmorphologische Variation ausschließlich reimabhängig ist, verursacht die Wahl der Präposition die Unterschiede im Gebrauch. Hier unterscheiden sich die Ergebnisse der vorliegenden Analyse von der Darstellung im Wörterbuch, das die Varianten einheitlich dem Lemma w$ra1 zuordnet und mit der Paraphrase ‚fürwahr, in Wahrheit‘ versieht. Obwohl die Wendungen den Angaben des Wörterbuchs entsprechend überwiegend in Otfrids ‚Evangelienharmonie‘ vorkommen, sind in der HiFoS-Datenbank zusätzlich einige Belegstellen bei Notker, im ‚Georgslied‘, ‚Isidor‘ und im ‚Tatian‘ verzeichnet. Nur in 22 Kontexten ist zi w$re eindeutig als ein parenthetisch verwendeter pragmatischer Marker zu klassifizieren, dessen Skopus den ganzen Satz betrifft.
|| 41 Eine Zusammenstellung der beteuernden formelhaften Wendungen bei Otfrid und in einigen weiteren ahd. wie mhd. Textdenkmälern findet sich in Büge (1908, 15–38). 42 Büges Analyse steht im deutlichen Gegesatz zu der in der älteren literaturhistorischen Forschung sonst verbreiteten Meinung, Otfrid würde genauso wie andere namhafte Autoren gerade solche formelhaften Wendungen als „technisches Flickwerk“ verwenden (vgl. Wackernagel 1874, 210; Goergens 1910, XIV).
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Von diesen 22 Fällen ist zi w$re aber 17 Mal Bestandteil anderer Routineformeln, innerhalb deren zi w$re die primären Funktionen eines intensivierenden Adverbs zu den Prädikaten sagen und wissen übernimmt. Solche Routineformeln sind z.B. daz sagen ih dir zi w$re ‚ich sage es dir wahrlich‘ saget man thaz zi uu$ru ‚man sagt das wahrlich‘ that seggiu ik iu te uu$ron43 ‚das sage ich Euch wahrlich‘ daz wizzen wir/thaz uuizist thu zi uu$ru/zi w$re ‚das wissen wir/weißt du wahrlich‘
Die Beispiele in (20) veranschaulichen beide Verwendungsweisen: (20a) Atqui. ſi eſt di|gna collatio diuini preſentiſ et humani. Zeuuâre. úbe dehéin gériſtig uuí|dermeʒunga ſîn mág. mánneſ únde góteſ kágenuuerti. (Notker, Boethius, De consolatione philosophiae, 266, 4; ID 5903) Wahrlich! ob irgendein passender Vergleich existieren kann bezüglich des Menschen und Gottes Gegenwart. (20b) beghont ez der rhike man | filo ahrto zurnen do ihez er goriion binten ahnen rad uuinten | ce uuare shaghen ihk ecſ ihuuſ ſhie praken inen en ceniuu | daz uuez ihk daz iſt aleuuar uhffher ſtuont ſihk gorio dar (Georgslied, 201r, 14; ID 3268) Der mächtige Mann begann sich sehr stark zu ärgern‚ da befahl er‚ Georg zu binden [und] auf ein Rad zu flechten. Ich sage euch in Wahrheit: sie brachen ihn in zehn [Stücke]. Das weiß ich‚ das ist ganz wahr: Georg erstand da [vom Tod].
In (20a) steht die ahd. Wendung als ein pragmatisches und syntaktisches Äquivalent dem lat. atqui gegenüber. Wie im Lateinischen steht die Wendung initial und syntaktisch gesehen lose und isoliert vor dem folgenden Satz. Trotz der initialen relativ abgekoppelten syntaktischen Stellung ist die referentielle Bedeutung einer Wahrheitsbeteuerung vorhanden. Mit der Wendung kommentiert der Autor die folgenden Aussagen und bekräftigt ihren wahrheitsgetreuen Inhalt. In dieser semantischen Hinsicht ist zi w$re in (20a) mit den Funktionen von zi w$re
|| 43 Im ‚Heliand‘ begegnet die Wendung oft auch nicht parenthetisch, im Sinne eines Hauptsatzes, in dem die Absicht erklärt wird, etwas Bestimmtes zu vermitteln; die eigentliche Mitteilung erfolgt unmittelbar in dem durch die Konjunktion eingeleiteten Nebensatz, vgl. exemplarisch: nu ſeggiu ik iu te | uuaron thoh That gi noh ſculun ſit|tian giſehan an thia ſuithrun half | godeſ marean manneſ ſuno an me|gin crafte theſ alo uualdon fader „Nun sage ich euchin Wahrheitdoch‚ dass ihr noch an der rechten Seite Gottes den ruhmreichen Menschensohn sitzen sehen werdet‚ in der Macht des allwaltenden Vaters“ (Otfrid, Evangelienharmonie, 144r, 14; ID 7395).
5.2 Routineformeln | 235
als Bestandteil anderer Routineformeln (20b) und als intensivierendes Adverb vergleichbar, wenngleich der Skopus in (20a) auf den gesamten Satz gerichtet ist. Zusätzlich zu diesen Kontexten seien zwei Belegstellen (vgl. 21) angeführt, in denen die intensivierende Funktion der emphatischen Wahrheitsbeteuerung nicht im Vordergrund zu stehen scheint. Im Gegensatz zu den Belegen in (20) schließt zi w$re in den Kontexten wie (21) eine präzisierende Parenthese ab, steht am Ende der Parenthesen, gehört nicht der Prädikatsgruppe an und vermittelt kaum die Einstellung des Autors zum Gesagten. Auch wenn die Verwendung und die finale Stellung durch den Reim bedingt sein mögen, liegt die pragmatische Funktion eher im Bereich der Textorganisation bzw. Textstrukturierung. Von einer adverbialen Gruppe mit einer emphatischen Bedeutung ist zi w$re an diesen zwei Stellen in meinen Augen noch weiter entfernt als in den Beispielen (20), allerdings liefert die HiFoS-Datenbank für zi w$re als textorganisierender Marker einzig diese angeführten Treffer und einen weiteren ähnlich gelagerten HeliandBeleg für te w$ron. (21a) Nu er thaz so uuilit uuerren . thaz mithoNt scal irthorren | thie fogala ouh zi uuare thie iu sint undiure | Uuio harto mihiles mer · suorget druhtin iuer | thu mo liabara bist· thanne al gifugiles thaz ist (Otfrid, Evangelienharmonie, 69v, II 22, 18; ID 9813) Wenn er nun das [= das Gras‚ die Blumen] so kleiden will‚ das nächstens verdorren soll‚ fürwahr auch die Vögel‚ diefür euch wertlos sind‚ wie sehr viel mehr sorgt sich der Herr um euch. Du bist ihm lieber als alle Vögel‚ die es gibt. (21b) Euuiniga drutscaf . niazen se iamer soso ih quad | in himile zi uuare . mit ludouuige tharE (Otfrid, Evangelienharmonie, 3r, 86; ID 9536) Ewige Freundschaftmögen sie immerdar genießen‚ so wie ich sagte‚ im Himmel wahrlich‚ dort mit Ludwig.
In der absoluten Mehrheit der Belege sind ahd. zi w$re sowie ihre morphologischen reimbedingten Varianten präpositionale (adverbiale) Phrasen mit ambigen Funktionen: Sie können charakterisierend, eher referentiell und attributiv (22ab) oder emphatisch als Intensivierer und Marker der Wahrheitsbeteuerung (22cf) verwendet werden. (22a) Gibarg er sih zi uuare ioh giang ouh uz tho sare| uzar iro hanton fon sinen fianton (Otfrid, Evangelienharmonie, 97r, III, 18, 73; ID 11159)
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Er verbarg sich wahrlich (wirklich) und ging auch da schnell weg‚ aus ihren Händen‚ von seinen Feinden. (22b) Thuo ſia that | geld haƀdun gileſtid te iro land uuiſun | Thuo fuorun im eft thie liudi thanan| uueroſ an iro uuilleon endi thar an |them uuihe afſtuod mahtig barn godeſ | ſio ina thiu muoder thar ne uuiſſa te | uuarun (Heliand, 25r, 14; ID 5523) Als sie das Opfer nach ihrer Landessitte dargebracht hatten‚ da fuhren die Leutewieder weg‚ die Männer gemäß ihrer Absicht‚ und dort blieb zurück im Tempel das mächtige Kind Gottes‚ da, wo die Mutter es wahrlich (wirklich) nicht vermutete. (22c) Thu lougnis min zi uuare . er hinaht hano krahe | in notlichemo thinge . er thaz huan singe (Otfrid, Evangelienharmonie, 129r, IV 13, 35; ID 11246) Du verleugnest mich wahrlich‚ bevor heute Nacht der Hahn kräht‚ in gefahrvoller Lage‚ bevor das Huhn singt. (22d) Post passi|onem igitur christi ue|nit titus et debel|lauit iudeos et destru|xit urbem et templum Dhiz | uuard al so chidaan ziuuare dhuo | titus after dheru christes passione quham | endi nam sigu in dhem iudeoliudim | endi zistrudida dhea burc ioh | dhazs gotes tempil (Isidor (Hs. P), 14rb, 19; ID 3817) Dieses wurde alles wahrlich genauso getan‚ als Titus nach der Passion Christi ankam und den Sieg über die Juden errang und die Stadt und den Tempel Gottes zerstörte. (22e) Er ist gilobot harto . selben kristes uuorto | in buachon zi uuare . maht selbo iz lesan tharE (Otfrid, Evangelienharmonie, 191v, 38; ID 12224) Er wird in den Büchern [durch] Christi eigene Worte wahrhaftig sehr gelobt‚ du kannst es dort selbst lesen. (22f) et statim fuit | nauis ad terram quam ibant. | Qui autem in nauicula erant. | uenerunt et adorauerunt eum | dicentes; uere filius dei és. Inti sár uuás | thaz skef zi lante zi themo sie fuorun | thiethar in themo skefe uuarun | quamun Inti betotun inan | quedante. ziuuáre gotes sún bist (Tatian, 120, 16 Mt, Io; ID 22938) Und sogleich war das Boot am Land‚ zu dem sie fuhren. Diejenigen‚ die im Boot waren‚ kamen und beteten ihn an und sagten: „Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!“
5.2 Routineformeln | 237
So geht es dem Autor in (22a) nicht darum, den Wahrheitsgrad seiner Aussagen zu beteuern, sondern um die Behauptung, dass Jesus sich in der Tat, in Wirklichkeit verbergen konnte. Ähnlich und besonders oft belegt ist diese Bedeutung von te uu$ron im ‚Heliand‘ (22b). Tiefenbach (2010, 441) versieht die Wendung auch in seinem Wörterbuch nicht mit dem Vermerk ‚Interjektion‘. Die Wendung steht im Umfeld des Prädikats im Satzinneren, ist mit Blick auf ihre Bedeutung unverzichtbar und spricht für die Zuordnung zur ersten Stufe des Verfestigungspfades predicate clause in der Terminologie von Traugott (1995). Außerdem weist te w$ron im ‚Heliand‘ eine besondere Affinität zu nur zwei Verben – sagen und wissenauf; andere Verben (z.B. gebieten, verstehen, sein, glauben, senden, malon ‚verkünden‘, tun) sind Einzelfälle. Anders verhält es sich bei den Beispielen (22c-f), die eher nicht den referentiellen, sondern den emphatischen Gebrauch veranschaulichen. Hier kommt ahd. zi w$re überwiegend in der Autorenrede vor, in der der Sprecher/Autor einen Kommentar abgibt, der sich aber nicht auf die eigene Handlung, sondern auf die der dritten oder zweiten Person bezieht. Der Aktant der Handlung ist mit dem Sprecher nicht identisch; die Wendung verbindet sich fast ausschließlich mit Personalpronomina der 2. und 3. P. Sg. oder Pl. Die intensivierende Verwendung erweitert den Skopus der Wendung, indem sie nicht mehr ausschließlich die im Prädikat ausgedrückte Wendung intensiviert, sondern die Proposition des gesamten Satzes. Aus syntaktischer Sicht wäre ze w$re verzichtbar; die Wendung gehört nicht unbedingt zum syntaktischen Kern der Sätze und ist mit Blick auf ihre Stellung flexibel, soweit uns die Zwänge des Reims bei Otfrid-Belegen hier diese Schlussfolgerung erlauben. Sie kann nach wie vor im Umfeld des Prädikats im Satzinneren (22c-d), final (22e) bzw. satzeinleitend (22f) stehen. Diese Art der syntaktischen Einbettung in Kombination mit der kommentierenden Funktion attestiert Lenker (2000, 234) der zweiten Stufe der Verfestigung der entsprechenden altenglischen ‚Wahrheitsadverbien‘ und interpretiert sie als ein Indiz für die fortschreitende Entwicklung Richtung textorganisierender Diskursmarker. Ihre Argumentation baut sie auf der Beobachtung auf, dass der Skopus von engl. witodlice und so\lice den Prädikatsrahmen überschreitet. Das ist in den angeführten ahd. Belegen in meinen Augen teilweise auch der Fall, vgl. insbesondere Beleg (22f). Im Vergleich zum Altenglischen schwankt ahd. zi w$re also vor allem zwischen Stufe 1 und Stufe 2 des Pfades SATZINTERNES ADVERB/PRÄDIKATSADVERB > SATZADVERB MIT BREITEM SKOPUS > DISKURSMARKER. Semantisch weist es autorkommentierende und evaluative Funktionen auf, die ambig sind und entweder auf die referentielle oder die emphatische Charakterisierung der im Prädikat vor allem durch verba dicendi versprachlichten Handlungen gerichtet sind. Mit Ausnahme
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der Kontexte wie in (20b) sind es Handlungen, die nicht sprecherorientiert sind, sondern von anderen Personen vollzogen und vom Autor/Sprecher kommentiert werden. Beispiele wie in (20b) sind zwar nicht zahlreich, illustrieren aber die Verwendung von zi w$re als Bestandteil einer anderen festen formelhaften Wendung, die womöglich auch ihren eigenständigen parenthetischen Gebrauch (wie etwa in 20a) begünstigt. Ebenso nicht zahlreich, aber ambig sind Beispiele wie in (22f), die die Annahme eines breiten Skopus mit der satzeinleitenden Stellung von zi w$re erlauben, und die Belege (21), in denen zi w$re eine präzisierende Parenthese abschließt und sich somit in Richtung textorganisierender Marker bewegt. Die für das Altenglische typische Verwendung als textstrukturierender Marker des Beginns neuer inhaltlicher Abschnitte (boundary marker, Stufe 3) lässt sich in meinem Belegkorpus nicht nachweisen (vgl. Kap. 5.2.3.5).44 Die unterschiedlichen Verwendungskontexte lassen im Althochdeutschen keine chronologische Dynamik erkennen und sind als ein komplexes, oft ambiges Nebeneinander zu verstehen, das sich auf den Stufen 1 und 2 abspielt. 5.2.3.3 in w$r/in w$ra/in w$re/in w$ru/in w$ron/in w$r m0n Die Analyse der zweiten formelhaften Wendung aus der Gruppe der Wahrheitsbeteuerungen ergibt hingegen ein einheitlicheres Bild. Auch bei in w$r sind die flexivischen Varianten in w$ra/in w$re/in w$ru/in w$ron wie bei zi w$ru reimabhängig. Im Gegensatz zu zi w$ru scheint aber in w$r auf dem Verfestigungspfad weiter vorangeschritten zu sein und eher die Stufe 2 SATZADVERB MIT BREITEM SKOPUS erreicht zu haben. Textstrukturierender Diskursmarker ist allerdings auch ahd. in w$r nicht. Mit 66 Belegen aus Otfrids Evangelienharmonie und einem Beleg aus dem ‚Althochdeutschen Tatian‘ weist die Wendung aber eine klare Textpräferenz auf, die in Bezug auf die zi w$re-Gruppe nur bedingt festgestellt werden konnte. Von diesen insgesamt 66 Stellen kann nur in Bezug auf zwei die Verwendung als neutrales unmarkiertes Prädikatsadverb mit engem Skopus auf der Prädikatsgruppe (Stufe 1) festgestellt werden. Hier tut sich ein Unterschied gegenüber zi w$re auf, da die zuletzt genannte Wendung deutlich häufiger in nicht emphatischen Kontexten vorkam. Auch der Gebrauch von in w$r als Bestandteil anderer Routineformeln lässt Unterschiede erkennen. Während die Wendungen Ih sagen dir zi w$ru und thaz uuizist thu zi uu$ru einen Nebensatz nach sich ziehen können,
|| 44 Zur Verwendung von und zwar und zwar – aber im gesprochenen Nhd. vgl. zuletzt ausführlich Günthner (2012; 2015 a,b; 2016). Die Verwendung von zwar – aber in Pressetexten untersuchen Leuschner/Van den Nest (2012 a,b).
5.2 Routineformeln | 239
der durch eine Konjunktion mit dem Hauptsatz verbunden ist, stehen die in w$rBelegeeher konjunktionslos und parenthetisch und somit syntaktischvom Kern der folgenden Aussage isoliert da. Die emphatische Bedeutung wird durch zusätzliche Mittel unterstützt, vgl. die Belege in (23): (23a) Er suar tho filu gerno . quad ni uuari thero manno | mit eidu iz deta festi . thaz er then man ni uuesti | Ih sagen iu quad in uuara . ni bin ih thera fuara | ni machon ih then urheiz . ih uuiht ouh suliches ni uueiz (Otfrid, Evangelienharmonie, 134r, IV 18, 17; ID 11278) Er schwor da sehr eifrig‚ er sagte‚ er wäre nicht einer von den Männern. Mit einem Eid bekräftigte er das‚ dass er den Mann nicht kennen würde. „Ich sage euch“‚ sagte er „wahrlich‚ ich bin nicht [aus] der Schar‚ ich mache nicht den Aufruhr‚ ich weiß auch nichts davon.“ (23b) Ni zemo antdagen min · quam er auur sama zi in | uuanta ih sagen thir in uuar · sie uuarun auur saman thar (Otfrid, Evangelienharmonie, 165r, V 11, 6; ID 11802) Nicht weniger/ebenso am Oktavtag kam er wiederum auf die gleiche Weise zu ihnen‚ denn‚ ich sage dir in Wahrheit‚ sie waren wiederum gemeinsam da. (23c) Ni mahtu irzellen thaz in uuar . uuio filu thu liebes sihist thar | unsan druhtin thanne . ioh sine liebon alle (Otfrid, Evangelienharmonie, 179v, V 22, 13; ID 11697) Du kannst das nicht wahrheitsgemäß erzählen‚ wie viel Freude du dort erblickst‚ unseren Herrn dann und alle seine Jünger.
In (23a) steht die Wendung initial in der Figurenrede im Kontext der Eidesleistung bzw. des Schwurs. Lexeme wie swerian ‚schwören‘, filo harto ‚eifrig‘, festi tuon ‚bekräftigen‘ sowie die parataktische Aneinanderreihung der eigentlichen Schwursätze umrahmen die formelhafte Wendung und sprechen für ihren emphatischen Gebrauch. Ein noch deutlicherer Fall liegt in (23b) vor: Hier steht die Wendung inmitten eines Nebensatzes, auf welchen ihr Skopus auch gerichtet ist. Textstelle (23c) illustriert den selten vorkommenden Gebrauch des Belegs als Hauptsatz mit einem abhängigen und durch eine Konjunktion eingeführten Nebensatz. Nichtsdestotrotz ist die Bedeutung von in w$r verblasst, weil es bei der gesamten Aussage ni mahtu irzellen thaz in uuar dem Sprecher nicht darum geht,
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dem Hörer mitzuteilen, dass er bestimmte Inhalte nicht wahrheitsgemäß darstellen kann, sondern darum, dass er diese im Sinne des rhetorischen Unsagbarkeitstopos45 überhaupt nicht beschreiben kann. Aber auch wenn in w$r nicht als Konstituente einer anderen längeren Wendung, sondern eigenständig vorkommt, ist sie im Gegesatz zu zi w$ru ein eindeutigeres Mittel der Intensivierung und Emphase, das nicht nur die Prädikatsgruppe modifiziert, sondern über den größeren Skopus verfügt. Wie die Belege in (24) veranschaulichen, steht in w$r auch nicht unbedingt im Umfeld einer Prädikatsgruppe, sondern kann sich auf Nominalphrasen (24a-b) bzw. einfache Substantive (24c) beziehen. Liegt eine Kombination mit einem Verb vor, sind es im deutlichen Unterschied zu zi w$re in der Regel gerade nicht die Verba dicendi bzw. das Verb wissen, vgl. die Belege (24d-e). Wie in den Belegen in (23) kommt in w$r auch außerhalb der formelhaften Wendungih sagen dir in uu$r zusammen mit anderen emphatischen wahrheitsbeteuernden Wendungen vor, vgl. in (24b) uuaz zellu ih thir es mera und thaz ist uuar; zi uuare in (24c) sowie rehto und thaz giloubet mir in (24e). (24a) Antuurtita lindo . ther keisor euuinigo tho | ther kuning himilisgo in uuar . themo herizohen thar (Otfrid, Evangelienharmonie, 140v, IV 23, 40; ID 23526) Der ewige Kaiser‚ der himmlische König fürwahr‚ antwortete da sanft dem Statthalter dort. (24b) Druhtin selbo in uuara . uuaz zellu ih thir es mera | ioh thie mit imo in note . uuarun uuallonte | Sint sie untar mennisgon . after gote furiston | in himilriche ouh thaz ist uuar (Otfrid, Evangelienharmonie, 125r, IV 9, 25; ID 21787) Der Herr selbst fürwahr – was erzähle ich dir davon mehr? – und die, [die] mit ihm in der Tat umhergezogen waren‚ sie sind unter den Menschen nach Gott auch Fürsten im Himmelreich‚ das ist wahr.
|| 45 Der Topos wird in der Rhetoriklehre als „die Betonung der Unfähigkeit, dem Stoff gerecht zu werden“ (Curtius 1961, 168) definiert und in der Literatur seit Homer als zentral hervorgehoben.
5.2 Routineformeln | 241
(24c) Euangelion in uuar . thie zeigont uns so sama thar | gibietent uns zi uuare . uuir unsih minnon hiarE (Otfrid, Evangelienharmonie, 194r, 141; ID 12434) Die Evangelien wahrlich‚ die weisen uns ebenso daraufhin‚ sie gebieten uns wahrlich‚ [dass] wir uns hier lieben. (24d) Ingegin imo fuar in uuar . unfirslagan heri thar | manno mihil menigi . sie uuarun einon zuelifi | Mit speron ioh mit suerton . bihiazun sih mit uuorton | thaz man nan gifiangi . mit niauuihtu er ningiangi (Otfrid, Evangelienharmonie, 132r, IV 16, 17; ID 25643) Es ging ihm [= Christus] wahrlich das endlose Heer‚eine große Menge [an] Menschen‚ entgegen‚ sie alleine warenzwölf. Mit Speeren und Schwertern‚ mit Worten vermaßen sie sich‚ dass man ihn finge‚ dass er ihnen keinesfalls entginge. (24e) Ni drinku ih rehto in uuara . thes rebekunnes mera | fon themo uuahsmen furdir . thaz giloubet mir (Otfrid, Evangelienharmonie, 125r, IV 10, 5; ID 25648) Ich trinke fürwahr sicher nicht mehr von dem Wein‚ von der Frucht fortan‚ das glaubt mir.
Für eine im Vergleich zu zi w$re stärker ausgeprägte emphatische Funktion bei in w$r sprechen auch die Möglichkeiten der Intensivierung der Wendung innerhalb ihrer Struktur. Von 66 in w$r-Belegen sind 20 durch das nachgestellte und unflektierte Personalpronomen m0n erweitert, vgl. die Beispiele (25a-b). Obwohl die Bedeutung des Pronomens innerhalb der Wendung in w$r m0n „in meiner Wahrheit“ völlig verblasst und sein Vorkommen insgesamt reimbedingt ist, verstärkt es den subjektiven Charakter des Autorkommentars und modifiziert den Inhalt der gesamten folgenden Aussage. In der erweiterten Form kommt die Wendung überwiegend in der Autorenrede, allerdings ausschließlich bei Otfrid, vor. Für ähnliche Erweiterungen bei zi w$re findet sich in der HiFoS-Datenbank kein einziger Nachweis. (25a) Lis allo buah thio the sin . ni findist iz in uuar min | thaz man io thaz gitadi . so diuran scaz irbati (Otfrid, Evangelienharmonie, 149v, IV 35, 11; ID 12183) Lies alle Bücher‚ die es gibt‚ du findest es fürwahr nicht‚ dass ein Mensch jemals so gehandelt hätte‚ einen so teuren Schatz erbeten hätte.
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(25b) In muat in iz ni lazen · ouh uuiht inan ni riazen | ni durfun sie in uuar min · er sprichit scioro mit in (Otfrid, Evangelienharmonie, 157v, V 4, 64; ID 11534) In das Herz mögen sie es nicht lassen‚ auch brauchen sieihn nicht irgendwie zu betrauern‚ fürwahr‚ er spricht bald mit ihnen.
44 Mal (wieder nur bei Otfrid) ist die Wendung in alaw$r(i) „in aller Wahrheit“ ‚ganz sicher, ganz wahr, fürwahr, durch und durch wahr, uneingeschränkt wahr, unbezweifelbar‘ belegt.46 Diesem Befund stehen in unseren Daten nur drei zi alaw$ru-Belege gegenüber. In alaw$r(i) spiegelt sich die Verwendung von in w$r wider: Es kann wie in (26a) in die Struktur einer anderen Wendung (ih sagen iu in alauu$r) integriert sein und dort eher als Prädikatsadverb in der neutralen Bedeutung ‚ich lüge nicht, ich sage das wahrheitsgetreu‘ fungieren. In (26a) wird dies insbesondere durch den zweiten Satz thaz ni hiluh iuih sar „das verhehle ich Euch überhaupt nicht“ deutlich. Gerade durch diese Einbindung kommt auch in alaw$r eine parenthetische Funktion zu. Von deutlicherer Ausprägung der emphatischen Funktion zeugen zum einen die Möglichkeit der Verbindung von in w$r mit Verben, die nicht unbedingt ein beteuerndes Adverb für die im Verb ausgedrückte Handlung verlangen, z.B. genesen in (26b), und weder Sprechakt noch performative Verben sind, sowie zum anderen die Anknüpfung an gar keine Prädikatsgruppe, sondern z.B. an eine Präpositionalphrase (26c). Wie bei in w$r-Belegen stehen zahlreiche andere wahrheitsbeteuernde Wendungen in unmittelbarer Nähe von in alaw$ri, vgl. das Adverb rehto ‚wirklich‘ in (26b) sowie giuu$ro „wahrhaft“ ‚gewiss, wirklich‘, in uu$r mīn „in meiner Wahheit“ ‚fürwahr‘ und thes sist thu mir giloubo „das sollst du mir glauben“ in (26c). Die stärker als bei zi w$re ausgeprägte Emphase bei der Bestätigung der Wahrheit und die weniger ambige Bedeutung ist in allen Fällen unverkennbar. (26a) Giuuisso ih sagen iu in alauuar . thaz ni hiluh iuih sar | ni eigut ir merun guati . thanne thiz heroti (ID 23518) Sicher sage ich euch fürwahr‚ das verhehle ich euch überhaupt nicht‚ ihr habt nicht mehr Güte als diese Obrigkeit. (26b) Zaltun imo ouh innan thes · thrato filu liebes | thaz rehto in alauuari · sin sun gineran uuari (ID 10418) Sie erzählten ihm auch währenddessen schnell viel Angenehmes‚ dass sein Sohn wirklich in Wahrheit genesen wäre.
|| 46 Vgl. zur Verbreitung der Wendung nur bei Otfrid auch EWAhd (1, 152), AWB (1, 190–193).
5.2 Routineformeln | 243
(26c) Nist quad er thiu ummaht · so fram zi dod imo braht· | io so in alauuari · zi druhtines diuri| Thaz in thera ummahti · thes gotes sunes mahti | uuerthen filu maro · thaz uuizit ir giuuaro | Habeta er in uuar min · minna liublicho sin | ioh thero zueio uuibo · thes sist thu mir giloubo (ID 11341) „Diese Krankheit“‚ sprach er‚ „wurde ihm soweit nicht zum Tod gebracht‚ sondern fürwahr zur Ehre des Herrn‚ damit in der Krankheit die Mächte des Gottessohnes sehr bekannt werden‚ das sollt ihr wahrlich wissen.“ Er liebte ihn wahrlich zärtlich und auch die beiden Frauen‚ das glaube mir.
5.2.3.4 Zwischenfazit: Verfestigungsprozesse bei Wahrheitsbeteuerungen und nhd. zwar Weder hwat noch in w$r sind in den Nachschlagewerken für das Mittelhochdeutsche belegt. Während das für hwat zu erwarten war, ist das Ergebnis für in w$r überraschend. Trotz der bereits im Althochdeutschen klar ausgeprägten Funktionen als emphatischer Marker der Wahrheitsbestätigung, die durch strukturelle Erweiterungen (in w$r mīn, in alaw$ru) verstärkt werden konnten, ist die Wendung in ihrer Distribution auf das Werk Otfrids beschränkt. Diese Einschränkung ist bei der synonymen zi w$ru-Gruppe nicht vorhanden. Sind die wahrheitsbeteuernden Funktionen in dieser Gruppe im Althochdeutschen im Vergleich zu in w$r etwas weniger etabliert, werden sie im Mittel- und Frühneuhochdeutschen verstärkt und durch synonyme bî wâr und vür wâr unterstützt. Die Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank liefert alleine für z(e)wâr 2217 Treffer, von denen die meisten univerbiert sind und in wahrheitsbeteuernden Funktionen vorkommen.47 Auch im Mittel- und Frühneuhochdeutschen lässt sich keine Text(sorten)präferenz erkennen. Der Gebrauch der Wendung erklärt sich in diesen Texten wie im Althochdeutschen durch die nachhaltige Wirkung der antiken rhetorischen Prinzipien der Erkenntnis der Wahrheit und der Augenscheinlichkeit. Den Anspruch, nur Wahrhaftes zu berichten, stellt Hanauska (2014) bei allen fünf von ihr untersuchten mittelalterlichen Chroniken der Stadt Köln fest. Dabei scheint die Diskrepanz zwischen dem faktengestützen, objektiven Geschehen und dem tendenziös gestalteten Bericht, der das reale Geschehen eigenen Zielen unterwirft, kein Problem darzustellen: „Trotz manipulativer Eingriffe in das Handlungsgeschehen […] berufen sich die Verfasser auf die Realität und damit auch auf die Wahrhaftigkeit dessen, was sie berichten“ (Hanauska 2014, 429). Allerdings tun sie das auf unterschiedliche Art und Weise. In den zeitgenössischen Werken wird laut Hanauska (2014, 429) auf eine Identifizierung der Quellen, auf || 47 http://mhdbdb.sbg.ac.at:8000/mhdbdb/App?action=TextQueryModule&string=czwar&texts=%21&startButton=Start+search&contextSelectListSize=1&contextUnit=1&verticalDetail=3&maxTableSize=100&horizontalDetail=3&nrTextLines=3 (letzter Zugriff: Januar 2016).
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die sich die Erzähler berufen, verzichtet. Für die Verfasser der Reimchroniken gilt hingegen, dass der bloße Verweis auf die schriftliche Überlieferung ähnlich wie die Zeugenschaft des Verfassers/Erzählers Überzeugungskraft besitzt und sich daher als Mittel der Wahrheitsbestätigung eignet. Die Legitimierung des Berichteten war insbesondere für die Chroniken wichtig, die sich auf die vergangenen Ereignisse stützen. Hier schien die bloße Form der Wahrheitsbeteuerung das is wair den Kölner Chronisten nicht ausreichend zu sein: Das Wort des Verfassers hat zwar durchaus Gewicht, aber die Tatsache, dass er selbst die Wahrheit seines Berichts nicht aus eigener Erfahrung bestätigen kann, macht es notwendig, andere Strategien der Legitimierung zu wählen. Die Berufung auf anerkannte Autoritäten nimmt aus diesem Grund einen höheren Stellenwert ein, da diese als Garanten für die Glaubwürdigkeit des Ausgesagten gelten. (Hanauska 2014, 432)
Die Auswertung der z(e)wâr-Belege in der Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank zeugt davon, dass diese Funktion ihre dominierende Position behält. Allerdings finden sich im Mittel- und Frühneuhochdeutschen gleichzeitig Kontexte, die diese Zuordnung nicht mehr eindeutig erlauben. Drei Beispiele seien hier exemplarisch angeführt: (27a) hêrre, ich hân gevlizzen | an iegelîchem seitspil | und enkan doch keines alsô vil, | ine kunde es gerne mêre. ouch hân ich diese lêre niht vil manegen tac getriben | und zwâre ich bin derbî beliben | under mâlen kûme siben jâr | oder lützel mêre, daz ist wâr. (Gottfried von Straßburg, Tristan, 3666–3674) Herr, ich habe mich bemüht | um alle Arten von Saitenspiel, | kann aber doch keine so gut, | dass ich sie nicht gerne besser könnte. | Zudem habe ich diese Kunst | nicht lange ausgeübt. | Wahrhaftig/und zwar, ich bin dabei geblieben | mit Unterbrechungen nur sieben Jahre | oder ein wenig mehr, das ist wahr. (27b) Sitzt sei dann in einem wagen | Mit reichem gsmid al durch beschlagen, | Da pei sich mein hertz versicht: | Der minner schaft an phenning nicht. | Der blüetent bach rint aus den wunden, | Die da geschehent ze den stunden, So der minner umb einn schaden | Wirt gestochen und geschlagen. | Den swartzen gaist zur tenken hand | Tuon ich dir ieso bekannt: | Ein böser engel ist er zwar, | Deiner sele gar zgevar. (Heinrich Wittenwiller, Der Ring, 2443–2454) Ferner sitzt sie in einem Wagen, der mit reichem Geschmeide überall beschlagen ist, das verstehe ich so: Der Liebhaber richtet ohne Geld nichts aus. Der Blutbach rinnt aus den Wunden, die ihm da zugefügt werden, wo der Liebende einer Verfehlung wegen gestochen und geschlagen wird. Den schwarzen Geist zur Linken deute ich dir
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jetzt: wahrhaftig/und zwar, er ist ein böser Engel, der deiner Seele höchst gefährlich ist. (27c) „Jâ“ sprach der ander „ich weiz wol, | ir tuot vil rehte als elliu wîp. | […] iuch dunket ie daz arge guot, | daz guote dunket iuch ie arc. | […] ir sît verkêret alle wîs: | iu sint die tumben alle wîs, | iu sint die wîsen alle tump; | ir machet ûz dem slehten crump | und ûz dem crumben wider sleht; | […] ir minnet, daz iuch hazzet; | ir hazzet, daz iuch minnet. | […] der iuch dâ wil, desn welt ir niht | und welt den, der iuch niene wil. | ir sît daz irresameste spil, | daz ieman ûf dem brete kan. | er ist ein sinnelôser man, | der âne bürgen durch daz wîp | iemer geveilet den lîp. | und zwâre iedoch dar umbe niht, | swes ir jeht oder mîn vrouwe giht, | ez wirt al anders ûf geleit | oder man brichet mir den eit.“ (Gottfried von Straßburg, Tristan, 9866–9896) „Ja“, sagte er wieder, „ich sehe schon, | Ihr handelt genau wie alle Frauen. | […] Ihr haltet das Böse für gut | und das Gute für Böse. | […] Ihr seid durch und durch verkehrt. | Die Törichten gelten Euch weise, | die Weisen töricht. | Den Geraden biegt Ihr krumm, | den Krummen gerade. | […] Ihr liebt, was Euch hasst; | Ihr hasst, was Euch liebt. […] Der Euch will, den wollt Ihr nicht | und wollt stattdessen den, der Euch nicht will. | Ihr seid das ungewisseste Spiel, | das man auf einem Brett spielen kann. | Der ist ein Tor, | der ohne Sicherheiten für eine Frau | sein Leben riskiert. | Und doch wird es wahrlich/zwar nicht so kommen, | wie Ihr sagt oder meine Herrin. | Entweder es kommen noch andere Gründe, | oder Ihr seid wortbrüchig.“
Beleg-Kontext (27a) ist ein Ausschnitt aus dem mhd.Dialog zwischen dem König Marke von Cornwall und Tristan, indem der Onkel seinen Neffen für seine musikalische Begabung lobt. Das initial stehende zwâre in Kombination mit der Konjunktion und ist nicht eindeutig als eine Wahrheitsbeteuerung zu verstehen. Anaphorisch knüpft die Wendung an die unmittelbar vorangehende Behauptung Tristans, er habe das Spielen nicht lange praktiziert, an. Kataphorisch leitet zwâre eine Erläuterung zu dieser Äußerung ein – ‚genau genommen waren es sieben Jahre‘. Auch wenn die abschließende Routineformel daz ist wâr auch den Marker zwâre in die Nähe des Feldes ‚Wahrheitsbeteurungen‘ rückt, tritt diese emphatische Funktion bei zwâre in meinen Augen in den Hintergrund. Die Stelle kann als ein früher Beleg für die gegenwartssprachliche Bedeutung von zwar als ein Marker der Erläuterung einer unmittelbar vorher gemachten Äußerung interpretiert werden. Duden Universalwörterbuch führt nhd. zwar zwar ausschliesslich als ein Adverb und nicht als eine formelhafte Partikel an, vermerkt aber dazu, dass es insbesondere mit dem voranstehenden und synonym zu genauer gesagt verwendet wird. Genauso lässt sich die Bedeutung von zwar im frnhd. Roman ‚Der Ring‘ in (27b) paraphrasieren, unterstützt durch den Matrixsatz mit der Absichtserklärung der Deutung „Den schwarzen Geist deute ich dir jetzt.“ Die Stelle deutet aber
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gleichzeitig darauf hin, dass die Syntaktisierung der Wendung im Frühneuhochdeutschen noch nicht erfolgt ist. Im Gegensatz zu der heute üblichen in Bezug auf den klärenden Zusatz einleitenden Position steht die Wendung in (27b) final. Einen Übergangskontext veranschaulicht auch Beispiel (27c), allerdings verändert sich die Bedeutung hier nicht von einer Wahrheitsbeteuerung zum Erklärungsmarker, sondern von der Wahrheitsbeteuerung zum Marker der Einschränkung. Nachdem am Ende der Szene „Der Kampf mit dem Drachen“ Tristan als echter Drachentöter gerettet wurde und die Entlarvung des Truchseßenals Leugner kurz bevorsteht, kommt es zur Gerichtsverhandlung, in deren Verlauf der Truchseß sich doch als Drachentöter preisen und sein angebliches Recht auf Isolde geltend machen will. Der Beleg ist seiner Rede über das Wesen der Frauen entnommen, in der er u.a. Isolde verhöhnt, indem er ihr Zwiespältigkeit vorwirft. Der mit und zwâre beginnende Satz bringt nicht primär eine Wahrheitsbeteuerung, sondern Folgendes zum Ausdruck: Zwar beschuldigt man Truchseß der Täuschung, aber so wird es nicht sein, denn er ist kein Lügner; wenn dem so sei, muss man dies mit anderen Argumenten beweisen. In meinen Augen liegt hier eine Feststellung vor, der eine Einschränkung folgt; die Verwendung von zwâre kommt der Bedeutung von zwar im Neuhochdeutschen nahe, die Duden Universalwörterbuch mit dem folgenden Beispiel illustriert: das ist zwar verboten, aber es hält sich keiner daran. Das DWB (32, 950–954) datiert die Ausbreitung dieser einräumenden Bedeutung auf das 17. Jahrhundert und sieht den Grund dafür in „der ständigen verwendung in verneinten sätzen“ und in der Verbindung mit den Konjunktionen aber, doch und sondern. Genau dieses Kombinationsprofil weist zwâre im Beleg-Kontext (27c) auf. In Bezug auf die Frage nach der Regelhaftigkeit der Verfestigung zeigen die analysierten deutschen und die zum Vergleich herangezogenen altenglischen Beispiele, dass diese zwar festgestellt werden kann, aber auf einem sehr abstrakten Niveau als Entwicklung eines Prädikatsadverbs zu einem Diskurs- bzw. Textmarker. Im Deutschen nimmt die Entwicklung bei einem bereits verfestigten Syntagma ihren Anfang, dessen Skopus bereits im Althochdeutschen den Rahmen eines Prädikats überschreiten kann und dessen pragmatischen Funktionen mehr oder weniger klar im Bereich der parenthetischen Emphase liegen. Nach der wohl im Mittelhochdeutschen vollzogenen Univerbierung und der allmählichen Reduktion der Varianten bleibt die Form konstant; die Bedeutung verändert sich aber weiter und entwickelt sich weg von der Bedeutung der vergleichbaren englischen Wendungen. Aus einer wahrheitsbeteuernden formelhaften Wendung entstehen im Deutschen keine Textmarker zur Markierung neuer Textabschnitte, sondern Marker der Erklärung bzw. der Einschränkung, die etwa im gesproche-
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nen Deutsch eine zeitlich projizierende Komponente haben und insofern responsiv ausgerichtet sind, als sie als Ressource fungieren, um eine bereits abgeschlossene Äußerung in Abstimmung mit den Reaktionen des Gegenübers zu modifizieren (zwar – aber) oder zu präzisieren (und zwar) (Günthner 2015b, 215; vgl auch Günthner 2012; 2015a; 2016). Bis in die frnhd. Zeit kann allerdings nicht von einer Ablösung der alten Funktionen durch neue gesprochen werden. Der Verfestigungsweg kann in meinen Augen weder als eine Konstruktionalisierung noch als eine Grammatikalisierung oder Pragmatikalisierung beschrieben werden, vor allem weil nicht vom Übergang eines lexikalischen bzw. grammatischen Zeichens in die Klasse der Diskursmarker gesprochen werden kann, sondern von einer Koexistenz und späterer (nhd.) Ablösung alter durch neue pragmatische Funktionen. In den ahd. Daten des HiFoS-Projekts ist zi w$re die geläufigste Wahrheitsbeteuerung. Sie ist gleichzeitig auch die am stärksten ambige und die am wenigsten auf einen Autor bzw. eine Textsorte beschränkte Wendung. Diese semantischpragmatische „Offenheit“ und die Ambiguität begünstigen aus meiner Sicht den Erhalt der Wendung bis in die nhd. Zeit sowie die kaum vorhersagbare und reguläre Veränderung der Bedeutung von einer wahrheitsbeteuernden zu einer einräumenden Formel. Bei der konkurrierenden in w$r-Gruppe konnten diese Offenheit in der Semantik, im Funktionsspektrum und in der Distribution nicht festgestellt werden. Die Verfestigung scheint mir in diesem Fall mit der funktionalen Umschichtung im gesamten Feld der Wahrheitsbeteuerungen einherzugehen. Ohne behaupten zu wollen, dass der Anspruch des Wahrhaften bei moderner Kommunikation keine Rolle mehr spielt, haben Beteuerungen dieser Art doch insofern funktionale Einbußen erfahren, als gefragt werden muss, ob noch der Bezug zur Wahrheit oder eher zur Faktizität angestrebt wird. Soweit ich sehe, sind im Laufe der Geschichte genau die Wendungen verloren gegangen bzw. unterlagen genau solche Wendungen markanten Wandelprozessen, die explizit die Bedeutung des Wahrhaften aufwiesen. Wendungen ohne den expliziten Bezug blieben unverändert (gewiss) und sind sogar neu hinzugekommen (freilich, sicher, in der Tat, zugegebenermaßen, wohl).
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5.3 Kollokationen 5.3.1 Kollokationen (Funktionsverbgefüge) im Neuhochdeutschen Die Kollokationsforschung markiert im englischsprachigen Bereich den Beginn der Phraseologieforschung. Hingegen sind Kollokationen in der deutschsprachigen Linguistik früh und lange an den Rand der Phraseologie verschoben worden. Diese Ausgangssituation hat sich langsam mit der Entstehung der Korpuslinguistik und den neuen Erkenntnissen der Formulierungs- und Kommunikationstheorie geändert. In dem weder modular noch radial aufgebauten Konzept der formelhaften Sprache, das der vorliegenden Untersuchung zugrunde liegt, nehmen Kollokationen einen wichtigen Platz ein. Was diesen Typ der formelhaften Wendungen für die wissenschaftliche Auseinandersetzung so attraktiv macht, sind große Unterschiede im rezeptiven und produktiven Sprachumgang mit ihm. Beim Textverständis bereiten Kollokationen selten Schwierigkeiten. Als semantisch meistens völlig reguläre Einheiten fallen sie beim Lesen oder Hören nicht einmal auf und werden übersehen. Sie fallen nur dann auf, wenn sie in typischen Kontexten fehlen bzw. falsch verwendet werden. Die fehlerhafte Verwendung bezieht sich oft auf die falsche/untypische Kombination zweier oder mehrerer Lexeme in der Struktur der Wendung. Die korrekte Kombinatorik bildet eine der größten Schwierigkeiten beim Schreiben bzw. Sprechen, weil sich unter Kollokationen Wortverbindungen unterschiedlichen Festigkeits- und Variationsgrades finden, der nie anhand der Ausgangsform vorausgesagt werden kann. Das neue Kollokationswörterbuch (Häcki Buhofer/Dräger/Meier/Roth 2014, IX), dessen Entstehung durch diese Vielfältigkeit der Kollokationen auch motiviert war, führt dazu gute Beispiele an: Während es beispielsweise für die Wortverbindung eine Meinung äußern einige akzeptierte Alternativformulierungen gibt (ihre/seine Meinung sagen, ihre/seine Meinung kundtun), ist die Verbindung sich eine Meinung bilden ohne gebräuchliche Alternative: Formulierungen wie *sich eine Meinung verschaffen oder *sich eine Meinung machen versteht man zwar, aber es sind keine sprachüblichen Ausdrücke. Die Festigkeit von Wortverbindungen geht in einzelnen Fällen soweit, dass ein Wort wie beispielsweise Amok notwendigerweise ein anderes nach sich zieht; in diesem Fall das Verb laufen.
Aber auch für die wissenschaftliche Auseinandersetzung bereiten Kollokationen, und insbesondere einer ihrer Typen, die so genannten Funktionsverbgefüge (z.B. Beobachtungen anstellen, in Aufregung bringen, zur Diskussion stellen usw.), große Schwierigkeiten. In der kaum überschaubaren Forschungsliteratur der letzten 50 Jahre (vgl. bereits von Polenz 1963) werden sie vor allem wegen ihrer nicht
5.3 Kollokationen | 249
festgelegten Grenzen zur freien Syntax einerseits und zu den idiomatischen Phraseologismen andererseits unterschiedlich gehandelt. Sie werden traditionell wie folgt definiert: Funktionsverbgefüge (Abk. FVG. Auch: Schwellform, Streckform) Mehr oder weniger feste Redewendung, deren Bedeutung zwar regulär48 aus den Bedeutungen der Einzelteile rekonstruierbar ist, bei denen jedoch das Verb, im Vergleich zum „normalen“ Gebrauch als Vollverb, ähnlich einem Hilfsverb oder einer Kopula primär dazu dient, die Tempus-, Modus- und Genusmerkmale zu tragen, die die Prädikation erfordert. Von zentraler Wichtigkeit für die Bedeutung des FVG ist die Bedeutung des in ihm enthaltenen Nomens, während die lexikalische Bedeutung des Funktionsverbs gegenüber der des ursprünglichen Vollverbs „verblaßt“ ist – zugunsten der durchaus semant[isch] relevanten Aspekt- und Aktionsmerkmale. Daß es sich um feste Redewendungen (Phraseologismen) handelt, zeigt sich u.a. daran, daß dem Nomen in der Regel kein Attribut hinzugefügt werden kann, daß das Nomen bzw. die Präpositionalphrase weder pronominalisierbar noch erfragbar ist, daß die Negation durch nicht (nicht kein) ausgedrückt wird, daß sich das ganze Gefüge wortstellungsmäßig wie ein Verb (z.B. ein Partikelverb) verhält, daß das Gefüge als Ganzes klare Rektionseigenschaften hat. […] Die FVG sind lange Zeit von den Sprachkritikern verpönt worden, weil sie mit Schuld am sog. „Nominalstil“ seien. Die Bezeichnung „Streckform“, die gelegentlich für FVG verwendet wird, deutet an, daß es sich um umständliche Formen handele für etwas, was ein einfaches Verb passend ausdrücken könnte. […] Aber ausführliche ling[uistische] Untersuchungen haben gezeigt, daß sie nicht immer einem einfachen Verb äquivalent sind, also eine Wortschatzbereicherung sein können. (Metzler Lexikon Sprache 2000, 225–226)
5.3.2 Kollokationen (Funktionsverbgefüge) sprachhistorisch Funktionsverbgefüge sind Gegenstände fast aller modernen Grammatiken des Deutschen, vgl. stellvertretend Zifonun/Hoffmann/Strecker u.a. (1997, 702–705) und Eisenberg (1999, 229–307). Die Hauptmerkmale Ausdruck der grammatischen Kategorie Aspekt bzw. Aktionsart, Verlust der syntaktischen Variabilität, Dekategorialisierung substantivischer Konstituenten, semantische Verblasstheit bei Verben und die formal-semantische Einheit der Funktionsverbgefüge begründen die Auffassung, dass diese Wendungen einen grammatischen Status hätten und als Ergebnisse der Grammatikalisierung zu betrachten seien (Lehmann 1991, 517– 520; Leiss 1992, 255–271; 2000, 209–213). Mehrfach und in Bezug auf verschiedene Sprachen49 ist die These geäußert worden, dass die im Laufe der Geschichte
|| 48 Hervorhebungen durch NF. 49 Für das Französische vgl. den Überblick in van Pottelberge (2007), für das Englische – Brinton (1996b); Brinton/Akimoto (1999c) und Hopper (1991b).
250 | 5 Wege der Entstehung mikrostruktureller Formelhaftigkeit
steigende Produktivität der Funktionsverbgefüge mit der zunehmenden Tendenz zum syntaktischen Analytismus verknüpft ist. Funktionsverbgefüge werden jedoch nicht nach vorhersagbaren Regeln und nicht regulär aus verwandten Vollverben gebildet. Ihre Funktionen als alternative Ausdrücke zur Markierung der Aktionsartendifferenzierung, Präzisierung der Zahl und Art der Aktanten der Verbalhandlung oder ihre textlinguistischen Funktionen (z.B. Vorwegnahme oder Wiederaufnahme der nominalen Komponente in einem breiteren Textzusammenhang, Gebundenheit an bestimmte (fachsprachliche) Diskurse) rücken sie in die Nähe des lexikalisch-idiomatischen Pols und lassen ihren historischen Werdegang als Prozess der Lexikalisierung bzw. Idiomatisierung begreifen.50 Die Frage nach der Entstehung der Funktionsverbgefüge ist genuin historisch und begründet meine Wahl dieses Typs der formelhaften Wendungen für das vorliegende Kapitel. Während für alle Epochen des Englischen einschlägige Untersuchungen vorliegen (vgl. Brinton 1996b; Brinton/Akimoto 1999c), ist über die Entwicklung im Deutschen wenig Systematisches bekannt. Etwas zugespitzt kann sogar behauptet werden, dass über diesen im Deutschen sehr produktiven Typ der formelhaften Wendungen der sprachhistorischen Forschung die spärlichsten Informationen vorliegen.51 Dass Funktionsverbgefüge bereits im Althochdeutschen produktiv waren, zeigen Relleke (1974) und Blum (1986, anhand der Wendungen mit habēn). Beide Untersuchungen stellen die Entwicklung der Funktionsverbgefüge im Deutschen bereits früh in die Reihe der sonstigen wichtigen Sprachwandelprozesse. Zum einen erklären sie die seit der ahd. Zeit kontinuierlich steigende Produktivität solcher Wendungen durch die Abschwächung der klassenbildenden, für die Unterscheidung der Aktionsarten zuständigen Suffixe -jan (Faktitiva/Kausativa), -ōn (Ornativa) und -ēn (Inchoativa) bei schwachen Vollverben (Blum 1986, 84–85; Relleke 1974, 25). Die synthetische Markierung der Aktionsart ist bei den jan-Verben im Althochdeutschen vollständig verschwunden, bei -ōn und -ēn-Verben kann sie ambig sein (AhdGr, II, 103–107). Zum anderen erlangen die Funktionsverbgefüge die Fähigkeit, Passiv auszudrücken, also eine grammatische Kategorie, die sich im Althochdeutschen auszubilden beginnt (Blum 1986, 89–90). Die
|| 50 Für das Deutsche vgl. von Polenz (1987); van Pottelberge (2001; 2007); für das Englische – Traugott (1999). 51 Ansatzweise zu Zeitungstexten des 17. Jahrhunderts vgl. Mackensen (1964, 163–166), zur Problematik der EDV-unterstützten Untersuchung der historischen Funktionsverbgefüge Rössing-Hager (1988, 296–300; 1991, 294–296) und Petry (1991).
5.3 Kollokationen | 251
Untersuchungen zu nhd. Funktionsverbgefügen unterstreichen die Klammerfähigkeit als eine besondere syntaktische Leistung dieser Wendungen (von Polenz 1963). Ansätze für dieses für das Neuhochdeutsche kennzeichnende Merkmal bilden sich bereits im Althochdeutschenheraus (Relleke 1974, 23). Alle drei Sprachwandelprozesse seien für Rellekeaußerdem Belege für den wachsenden syntaktischen Analytismus des Deutschen. Die steigende Tendenz lässt sich auch im Mittelhochdeutschen weiterverfolgen. Tao (1997) ermittelt in nur 39 mhd. Texten 890 Belege für den präpositionalen Typ der Funktionsverbgefüge. Diese verteilen sich auf 499 unterschiedliche Funktionsverbgefügetypen, wobei als Funktionsverben nur acht vorkommen (bringen, haben, komen, nemen, setzen, sîn/wesen, stân und werden) und unter Substantiven im deutlichen Unterschied zum Neuhochdeutschen die Abstrakta dominieren. Auffällig ist laut Tao (1997, 82–83) der im Vergleich zum Neuhochdeutschen niedrigere Grad an Lexikalisierung neben einem geringeren Grad an valenzgrammatisch-distributioneller und satzsemantischer Modellierung bzw. Systematisierung. Burger (2012a, 14) stellt für die Zeitungstexte vom Ende des 18. Jahrhunderts eine starke Verbreitung der Gruppen mit weniger spezifischen Verben wie setzen, machen und tun fest, z.B.: einen Angriff thun, Einfälle thun, Widerstand thun, jemandem Einhalt thun, einen Vorschlag/Vorschläge thun, eine Forderung an jemanden thun, eine Reise thun, eine Fahrt thun, einen Fußball thun. Dabei weisen die entsprechenden nhd. Kollokationen häufig semantisch spezifischere Verben auf.52 Somit geht die Entwicklung laut Burger (2012a) gleichzeitig in Richtung steigende Produktivität der Funktionsverbgefüge, aber innerhalb dieser nicht zurück zu den einfachen Verben wie machen, tun usw., sondern eher in Richtung eines größeren Spektrums von Kollokatoren. Die Untersuchung von So (1991) stellt eine
|| 52 Die ähnliche Tendenz zur Spezifizierung des Verbs lässt sich bei einem besonderen Typ der Funktionsverbgefüge feststellen, bei den so genannten kognaten Objekten, d.h. (mindestens) zweigliedrigen Wendungen, die zwei oder mehr stammverwandte Elemente enthalten (mhd. slag slân, troum tröumen, trit treten, gâbe geben usw.). Diese sind für die historischen Sprachstufen des Deutschen typisch und verlieren ab ca. 1450 substantiell an ihrer Produktivität vor allem durch den Ersatz des stammverwandten Verbs (Ruge 2015). In der HiFoS-Datenbank sind kognate Objekte mit 15 Belegen vertreten, die sich auf folgende types verteilen: giheiz giheizan ‚ein Gelöbnis ablegen‘, fasta fast)n ‚heilige Fastentage feiern‘, (des) t@des sterban ‚eines bestimmten Todes sterben‘, geba geban ‚ein Geschenk überreichen/machen‘, werk werk@n/wirken ‚ein Werk/ eine Tat vollbringen‘, fruma frum(m)en ‚Nutzen vollbringen‘, zi anasihte sehan ‚jn. von Angesicht zu Angesicht sehen‘, zi stete stān ‚unverändert bestehen bleiben‘, in stete stān ‚stillstehen, fest bleiben‘, gehaba hab)n ‚eine bestimmte Haltung haben‘, for(h)ta for(h)ten ‚Angst empfinden‘ und sang singan ‚ein Lied singen‘.
252 | 5 Wege der Entstehung mikrostruktureller Formelhaftigkeit
ähnliche Tendenz sowohl in Bezug auf die Typen der Funktionsverbgefüge als auch ihre token-Frequenz für populärwissenschaftliche Texte ab 1600 und ihre wesentliche Intensivierung trotz der sich gleichzeitig anbahnenden Sprachkritik im 19. Jahrhundert fest. Der Gesamtanteil der Funktionsverbgefüge an Prädikatsausdrücken steigt auch in den Gesetzestexten des 18.-20. Jahrhunderts, insbesondere in der Funktion der analytischen Kausativa und der aktionalen Markierung (Seifert 2004, 251). Für die folgenden Analysen wähle ich aus dem gesamten Teilkorpus der ahd. Kollokationen solche mit den verbalen Konstituenten, die auch im Neuhochdeutschen den Status der ‚leichten Verben‘ innehaben, und untersuche sowohl das Verhältnis der Funktionsverbgefüge zu einfachen Vollverben als auch die semantisch-syntaktischen Verbindungsprofile innerhalb der formelhaften Wendungen.
5.3.3 Kollokationen (Funktionsverbgefüge) im Althochdeutschen
200 180 160 140 120 100 80 60 40 20 0
Abb. 13: Kollokationen im Althochdeutschen
Von 9681 ahd. Belegen in der HiFoS-Datenbank sind 3247 Kollokationen, davon kommen 750 dem Status als Funktionsverbgefüge nahe. Mit diesen Zahlen kann
5.3 Kollokationen | 253
die These nach der Verknüpfung der Ausbreitung dieser formelhaften Wendungen mit dem steigenden Analytismus des Deutschen noch nicht widerlegt, aber zumindest hinterfragt werden. Abbildung 13 veranschaulicht, dass zum Teil die gleichen Verben, die im Neuhochdeutschen produktive Funktionsverben sind, bereits im Althochdeutschen als solche bezeichnet werden können. Mit geban an dritter Stelle werden auch die Unterschiede klar. Allerdings entfällt ein Großteil der Belege mit diesem Funktionsverb auf nur einen Typ, nämlich das Funktionsverbgefüge antwurti geban/zi antwurte geban. In der Gruppe quedan/sag)n/ sprehhan sind Verben zusammengefasst, die im Gegenwartsdeutschen kaum für die Bildung von Funktionsverbgefügen benutzt werden, im Althochdeutschen ist die Gruppe durch Wendungen wie urkundi quedan/sag)n/sprehhan ‚Zeugnis ablegen‘ (vs. urchund@n), lob quedan/sag)n/sprehhan ‚jm. Lob aussprechen, jn. würdigen‘ (vs. lob@n), bismarunga quedan/sag)n/sprehhan ‚jn. verspotten, lästern, schmähen‘ (vs. bismar@n) usw. vertreten und besetzt das Mittelfeld der Skala. Während kommen und bringen zu den produktivsten Funktionsverben im Neuhochdeutschen gehören (von Polenz 1963; So 1991, 219–220; van Pottelberge 2001, 301–410), stehen sie laut den Daten des HiFoS-Projekts im Althochdeutschen eher am Ende der Produktivitätsskala. Dieser ahd. Befund unterscheidet sich auch von Taos Ergebnissen für das Mittelhochdeutsche: Mit 2500 komenund mehr als 700 bringen-Stellen rechnet er diese beiden Verben zu den häufigsten Funktionsverben im Mittelhochdeutschen (Tao 1997, 20). Im Weiteren untersuche ich die Funktionsverbgefüge mit den zwei häufigsten Funktionsverben habēn und tuon. Bei der Auswahl der Funktionsverbgefüge verwende ich eine enge Definition, d.h. ich berücksichtige ausschließlich nicht idiomatische formelhafte Wendungen, die aus einem substantivischen Nomen actionis, das einen Zustand, einen Vorgang oder eine Tätigkeit ausdrückt, bzw. einem Abstraktum,das ähnlich wie ein Verb prädikative Funktionen erfüllt, einem Verb und gegebenenfalls einer Präposition bestehen, die die syntaktische Funktion einer Prädikatsgruppe übernehmen und einem semantisch ähnlichen Vollverb gegenübergestellt werden können. Mit Blick auf diese Definition müssen trotz ihrer Produktivität im Althochdeutschen folgende habēn-Wendungen unberücksichtigt bleiben: teiles habēn ‚Gemeinsamkeiten haben mit jm.‘ sunne habēn ‚keinen Hinderrungsgrund haben‘ fore ougen habēn ‚1. etw. sehen, 2. etw. beachten, 3. sich an etw. beständig erinnern, stets an etwas denken‘ wort/ze worte habēn ‚1. das Wort ergreifen, bereit sein zu antworten, 2. einen bestimmten Ruf haben, 3. etw. sagen, vorbringen‘ untar handon habēn ‚jn. in seiner Macht haben‘ in henti habēn ‚1. besitzen, 2. etw./jn. greifbar nahe haben‘
254 | 5 Wege der Entstehung mikrostruktureller Formelhaftigkeit
then tiuval habēn ‚vom Teufel besessen sein‘ zi karle/kar(e)l habēn ‚jn. zum Ehemann haben, verheiratet sein‘ in herzen habēn ‚an etw. beständig denken, es stets im Bewusstsein haben‘ in (h)reve habēn ‚im Mutterleib haben, schwanger sein‘
All diese Wendungen sind dreimal oder mehr belegt und sind als produktive Kollokationen des Althochdeutschen zu bezeichnen. Der oben angeführten Definition eines Funktionsverbgefüges entsprechen sie allerdings aufgrund des Idiomatizitätsgrades oder des abweichenden Charakters des substantivischen Kollokats (kein Nomen actionis) nicht und scheiden deshalb aus. Ähnliches gilt auch für die Kollokationen mit den Verben wesan/sīn oder werdan, die eher Verbindungen mit Adjektiven eingehen (kunt wesan/sīn, hold wesan/sīn, leid wesan, mildi werdan, bīgihtīg sīn/werdan ‚etwas beichten, bekennen‘, giuuār sīn/werdan) und trotz ihrer Produktivität im Weiteren unberücksichtigt bleiben.53 Formelhafte Wendungen mit wesan/sīn und werdan, die der angeführten Definition der Funktionsverbgefüge entsprechen, ziehe ich hingegen bei der Analyse der habēn-Belege zum Vergleich heran. Die enge Definition erklärt zum Teil die geringe Produktivität von queman und bringan als Konstituenten der Funktionsverbgefüge. Die Verben sind zwar geläufige Kollokate, aber eben keine Funktionsverben; die Wendungen, in denen sie in der HiFoS-Datenbank am frequentesten belegt sind, müssen oft als Idiome klassifiziert werden und enthalten kein Nomen actionis. Sie sind genauso wie Funktionsverbgefüge fähig zur Reihenbildung, scheiden allerdings aufgrund der engen Definition aus, vgl. die folgenden Beispiele: zi ougen bringan ‚erscheinen lassen, sichtbar machen‘ zi ougen queman ‚zum Vorschein kommen, erscheinen‘54 zi/in handen bringan ‚übergeben, jm. etw. in die Hand geben‘ zi handen/in henti queman ‚zuteil werden, ein Teil von etwas werden‘ [jn.] an lioht bringan ‚[jn., ein Kind] zur Welt bringen, ein Kind gebären‘ an lioht queman/an desa werold queman ‚zur Welt kommen, geboren werden‘
5.3.3.1 Funktionsverbgefüge mit habēn Tabelle 10 gibt einen Überblick über die ahd. Funktionsverbgefüge mit habēn. Sie ist alphabetisch nach der substantivischen Konstituente sortiert.
|| 53 Aus dem gleichen Grund bleiben die hochproduktiven Kollokationen (eben keine Funktionsverbgefüge) kunt tuon/kunt geban und wola/ubil tuon unberücksichtigt. 54 Vgl. auch fore ougon habēn/fore ougen sīn/wesan ‚1. gegenwärtig sein, vor Augen liegen; 2. sichtbar sein‘.
5.3 Kollokationen | 255
Tab. 10: Ahd. Funktionsverbgefüge mit habēn (types)
habēn
Paraphrase
Vollverb
abanst
neidisch sein, Missgunst haben
abanstōn
in āgezze, āgez
etw./jn. vergessen (mit Gen.)
~ āgezōn, irgezzan, forgezzan
thaz altar
das rechte Alter haben, alt ge- (ir)altēn nug sein
anafang
einen Anfang machen, beginnen
anafang@n (?)
anageni
einen Anfang haben, beginnen
—
anasiht
js. Anblick haben, jn. sehen (mit Gen.)
~ anasehan
anton
neidisch sein, Missgunst haben
antōn
antsegida, antseida
eine Rechtfertigung, Entschul- antseidōn, antsegidōn digung haben können, sich rechtfertigen, entschuldigen können
arbeiti
Bedrängnis haben, bedrängt ~ arbeiten, arbeitōn sein, Mühsal haben müssen (mit modaler und passiver Bedeutung)
balda
Vertrauen haben, jm. vertrauen (mit in + Dat.)
~ baldēn
beldida, beldī
1. Zuversicht haben, zuversichlich sein 2. Heftigkeit, Ungestüm haben 3. Mut, Beherztheit haben
~ belden ‚1. jn. kühn, tapfer, beherzt machen (transitiv und faktitiv); 2. zuversichtlich sein‘
bigin
beginnen, seinen Anfang haben
(bi)ginnan, inginnan
bihaltida
etw. einhalten
(bi)haltan
bikennida
Erkenntnis haben, etw. erken- ~ bikennen (mit Akk.) nen (mit Gen.)
zi bismere
jn. verspotten, verhöhnen
bismarōn
piwartan
auf jmdn. achten, behüten, umsorgen
wartēn
thank
bedankt/belohnt sein (mit passiver Bedeutung)
~ (gi)thankōn
256 | 5 Wege der Entstehung mikrostruktureller Formelhaftigkeit
habēn
Paraphrase
Vollverb
thrucnessi
bedrückt sein, Bedrängnis ha- ~ thruken ben (mit passiver Bedeutung)
thurftī, n@tthurfti
etw. nötig haben, müssen (mit Gen.; mit zi + flekt. Inf.; auch mit modaler Bedeutung ‚etw. tun müssen‘)
~ thurfan, bithurfan, githurfan
ebandolunga
Mitleid, Erbarmen mit jm. haben, sich erbarmen
—
enti
ein Ende haben, enden
entōn
ēra
Ansehen haben, angesehen sein; vor jm. Ehrfurcht empfinden (mit Gen.)
~ērēn, ērōn
fart
Bewegung haben, sich bewegen, in Bewegung sein
faran
fartraganiī
Geduld, das Ertragen haben; etwas ertragen
firtragan
thaz fera(c)h
Leben haben, leben
—
festī
Halt, Sicherheit haben
~ festen, (gi)festinōn
in firsihti
verachten
firsehan ‚verschmähen, verachten‘
flīz
eifrig in etw. sein, sich bemü- ~ (gi)flīz(z)an hen, sich befleißigen (mit zi + flektiertes Inf.)
fluht, zuofluht
Zuflucht haben, zu jm. fliehen ~ fliohan ‚fliehen, entfliehen‘ können (mit modaler Bedeutung)
fluob(a)ra
Trost haben, getröstet sein (mit passiver Bedeutung)
follūn
Genüge haben, zufrieden sein ~ follōn ‚erfüllen, befriedigen‘
for(ah)tūn
sich fürchten
for(h)ten
forewizzeda
etw. vorherwissen (mit Gen.)
~ forewizen
frēhtī
Verdienste haben
gefrēhtōn
fressun, pfressa
Bedrängnis haben, bedrängt sein, Mühsal haben
—
fridu, in fride
Schutz, Sicherheit vor jm. ha- ~ gefridōn ben, geschützt sein (mit Dat.; mit passiver Bedeutung)
fulleist
Bestätigung haben für etw. (mit Gen. und Objektsatz)
~ fluob(i)ren
# folleisten ‚1. jm. helfen, 2. Vorsorge tragen für etw.,
5.3 Kollokationen | 257
habēn
Paraphrase
Vollverb 3. etw. unterstützen, 4. jm. förderlich sein, 5. zu Gebote stehen, sich bieten‘
in gagenwerti
jm. gegewärtig sein
gigaganuuerten
gang
sich bewegen
gangan
gebārda
ein bestimmtes Verhalten ha- ~ gibāren, gibārōn ben, sich in einer bestimmten Weise verhalten
gehaba
eine (bestimmte) Haltung haben
~ gihabēn
geskiht
geschehen können (mit modaler Bedeutung)
~ gesc(h)ehan
in gewonaheiti
sich etwas zur Gewohnheit machen
— (giwon sīn/wesan)
in githāhti
etw. in Gedanken, im Sinn ha- (gi)thenken ben, auf etw. bedacht sein, auf etw. sinnen
githanka
bestimmte Bestrebungen haben
githingī, gethingon
Hoffnung haben, hoffen (mit ~ githingen Gen.; ana + (refl.) Dat., Akk.; in, zi + Dat., zi + flekt. Inf., Objektsatz)
(gi)thult
Geduld haben mit jm., geduldig sein (mit in, mit, untar + (refl.) Dat.)
~ githulten
gilīhhī
eine bestimmte Gestalt, ein bestimmtes Aussehen haben
# gilīhhen ‚ähnlich machen, sein, werden‘
gilouba, giloubon
Glauben haben, gläubig sein (mit Gen.)
~ gilouben
in gilusti
etw. begehren, nach etw. ver- (gi)lusten langen
gināda
Mitleid, Erbarmen haben, sich ~ ginādēn erbarmen (mit Gen.)
gingon
Verlangen nach etw. haben (mit zi + Dat.)
~ gingēn
in githuuange
in der Macht/unter Kontrolle haben
(gi)thwingan
(gi)thenken
258 | 5 Wege der Entstehung mikrostruktureller Formelhaftigkeit
habēn
Paraphrase
Vollverb
githwing
zu etw. gezwungen sein/wer- ~ (gi)thwingan den können (mit passiver und modaler Bedeutung)
(gi)sin
Verlangen haben nach etw., ~ sinnan den Sinn richten auf etw. (mit zi + Dat., Adv.)
gismakmom
einen bestimmten Geschmack ~ sme(c)chen haben
gitruobnessī
bedrückt sein
giwalt
1. Macht haben, mächtig sein ~ (gi)waltan 2. Macht/Kontrolle über etw. haben, etw. (z.B. die Stimme) beherrschen (mit Gen. oder Präpositionalobjekt ana, uuidar + Dat, ubar + Akk.; mit zi + flekt. Inf.)
giuuizzi
Einsicht haben in etw. (mit Gen.)
# wiz(z)an ‚wissen, kennen, erkennen‘ # giwiz(z)ēn ‚befähigt, geeignet sein‘
giuuurhtī
Verdienste haben
—
guollīhhī
Ansehen, Ruhm haben
(ge)guollihhōn ‚verherrlichen, rühmen‘
haz, in hazze
jn. hassen (mit in + Dat.)
~ haz(z)ēn
helfa
Hilfe haben, unterstützt wer- ~ helfan den (mit passiver Bedeutung)
hērtuom
die Herrschaft über etw. inne haben, herrschen
gihērēn
in hucta, gihugti, guhigti
etw. im Gedächtnis behalten
hug(g)en
huldī
Zuneigung haben, js. Gunst genießen (mit passiver Bedeutung)
~ hulden, gihulden
hungar
Hunger haben
hungirōn, hungaren
ze huohe
jn. verhöhnen, verspotten
huohōn
infindida
Mitleid, Erbarmen haben, sich intfindan u.a. ‚mit jm. mitleierbarmen den, mitfühlen‘
truoben ‚trüben, verwirren‘, mit Gen. ‚betrübt sein‘ (gi)truoben ‚trüben, verwirren‘, mit Refl.-Pron. ‚betrübt werden‘ truobēn ‚betrübt, dunkel werden‘ (N, T)
5.3 Kollokationen | 259
habēn
Paraphrase
Vollverb
irbarmida
Mitleid, Erbarmen haben, sich ~ irbarmēn erbarmen (mit Gen.)
thia jugund
jung sein
~ jungen ‚verjüngen‘, ~ erjungēn ‚wieder jung werden‘
klaga
sich beklagen können (mit modaler Bedeutung)
~ klagēn, klagōn, giklagōn, beklagōn
leid
Leid haben, Kummer haben, in seinen Erwartungen enttäuscht sein
leidēn
līb
am Leben sein, leben
leben
ze lieben
jm. zugeneigt sein
(ge)lieben
lioht
hell sein, Helligkeit haben
liehten
lougen
etw. leugnen (mit Gen.)
~ (gi)lougnen
lustsamī
Freude/Vergnügen haben, sich freuen (mit ana + Dat.)
~ lustsamōn
(h)lūtūn
einen bestimmten Klang haben
~ lūten
maht
Macht haben, mächtig sein
—
mārī
berühmt sein, Berühmtheit haben
māren, gimāren, irmāren
mendī, mandunga
Freude/Vergnügen haben, sich freuen
menden
mez
ein bestimmtes Maß haben (mit passiver Bedeutung)
~ mez(z)an
minna, minnūn
jn. lieben, Liebe empfinden (mit Gen., mit ana, untar, zi + Dat.)
~ minnōn
munt
Schutz haben, von jm. ge~ (gi)muntōn schützt werden (mit fona + Dat.; mit passiver Bedeutung)
muohī
Bedrängnis haben, bedrängt sein, Mühsal haben (mit passiver Bedeutung)
—
thaz muot
nach etwas streben, die Gesinnung haben etw. zu tun (mit Objektsatz, Adv.)
—
nīd
von Hass erfüllt sein, hassen
nīd@n (nur Ps. SchG)
260 | 5 Wege der Entstehung mikrostruktureller Formelhaftigkeit
habēn
Paraphrase
Vollverb
nōt
Bedrängnis haben, bedrängt sein, Mühsal haben (mit passiver Bedeutung)
~ nōtēn ‚in Not geraten‘ (gi)nōten ‚zwingen, nötigen, drängen‘
rāt
js. Rat haben, von jm. beraten ~ rātan sein (mit passiver Bedeutung)
reda
Vernunft haben
reht
1. Recht haben rehtōn, rihten 2. im Recht sein, gerecht sein, Gerechtigkeit üben
restī
Ruhe haben
(h)ringūn
einen Kampf führen, kämpfen ~ ringan (mit uuidar, adversus + Akk.)
(h)riuwa, (h)riuuuūn
Reue empfinden, Kummer ha- riuwēn, geriuwen, (h)riuwan ben
untar ruohha, ruohha, ruohhūn
1. für jn. sorgen, in Obhut haben, betreuen 2. jm. Beachtung schenken, jn. beachten (mit Gen.)
~ ruohhen
in ruovu
etw. zählen
—
ruowa
Ruhe haben
ruowan
setī
satt/gesättigt sein
satēn, (gi)satōn
scirm, in scirme
Schutz haben, geschützt sein ~ scirmen, bescirmen, gescir(mit ana, fona + Dat.; mit pas- men siver Bedeutung)
sibba
(inneren) Frieden haben
—
den sigu
den Sieg haben, Sieger sein
—
sihhura
eine Entschuldigung für etw. haben, sich entschuldigen können (mit modaler Bedeutung)
~ sihhorōn
zi site
etw. zur Gewohnheit haben, gewöhnt sein, etw. zu tun
— (sitīg sīn/wesan, nur N)
ze spotte
jn. verspotten
spottōn, bespotten, pespottōn
stanc
riechen, duften
stinkan
stata
bestehen, Bestand haben
stāten ‚fest machen, festigen‘, statōn ‚stehen bleiben‘
suorgūn
sich um etw./jn. kümmern (mit Gen.)
~ suuorgēn
—
resten
5.3 Kollokationen | 261
habēn
Paraphrase
Vollverb
sweib
einen bestimmten Umlauf ha- ~ sweibōn, swebēn ben
swīgalī
schweigen, in Schweigen ver- swīgēn harren
eina/dia tāt
eine bestimmte Wirkung haben, wirklich sein
—
teil
1. ein Teil von jm. sein 2. teilhaben an etw.
teilen, teilōn
trōst
Zuversicht haben, zuversicht- # (gi)trōsten lich sein ‚trösten, aufrichten, Mut zusprechen, die Zuversicht geben‘
untarskeit
eine Unterscheidung machen in etw., etw. unterscheiden, unterschieden werden (mit passiver Bedeutung)
urloub
Erlaubnis haben, etw. machen ~ arlouben dürfen (mit passiver Bedeutung)
ūzlāz
ein Ende haben, enden (mit aktiver Bedeutung)
~ ūzlāzan ‚beenden‘
(h)warba
sich bewegen
warb@n (? SchG.)
werc
1. Betätigung haben, sich be- ~ werkōn, wirken, wirkan tätigen können (mit modaler Bedeutung) 2. auf eine bestimmte Art und Weise handeln
werltkireda
Verlangen, Begierde nach etw. Irdischem/Weltlichem haben
—
widerfart
Rückkehr haben, rückkehren
widerfaran
uuīg
kämpfen müssen (mit modaler Bedeutung)
wīgan, wīgēn (beide bei Schützeichel (2006, 415) nur als Glossenwortschatz angeführt)
willion
den Willen zu etw. haben (mit ~ wellen/wollen zi + flekt. Inf., lat. Inf.)
wirtscaft
(Fest-)Mahl haben
uuīzī
Strafe haben, bestraft werden ~ (h)uuīzzin@n (mit passiver Bedeutung)
~ untarsceidan
—
262 | 5 Wege der Entstehung mikrostruktureller Formelhaftigkeit
habēn
Paraphrase
Vollverb
thia wunna
Freude/Vergnügen haben, sich freuen
—
zuofirsiht
Vertrauen, Hoffnung auf etw. haben
—
zwīval
zweifeln (mit Gen.)
~ zwīvolōn ‚zweifeln‘, ~ zwīvelen ‚zweifeln lassen‘
Insgesamt finden sich in der HiFoS-Datenbank 180 Belege (tokens) für Funktionsverbgefüge mit habēn. Sie verteilen sich auf 128 in Tabelle 10 aufgelistete Typen, d.h. auf 128 Verbindungen des Verbs habēn mit unterschiedlichen substantivischen Konstituenten. Die Zufälligkeit der ahd. Überlieferung im Auge behaltend lässt sich somit als Erstes festhalten, dass habēn zwar das geläufigste Funktionsverb im Althochdeutschen ist, allerdings kein Funktionsverb, das zur Bildung mehrfach belegter Typen der Funktionsverbgefüge beiträgt. Mehr als dreimal sind folgende 20 in Beispiel (28) aufgezählten habēn-Wendungen belegt, alle anderen sind singuläre Funde:55 (28) anafang habēn ‚einen Anfang machen, beginnen‘ thurftī habēn ‚etw. nötig haben, müssen‘ (gi)thult habēn ‚Geduld haben mit jmdm., geduldig sein‘ fluht/zuofuht habēn ‚Zuflucht haben, zu jm. fliehen können‘ for(ah)tūn habēn ‚etw. fürchten‘ fridu/in fride habēn ‚Schutz haben, geschützt sein‘ gilouba/giloubon habēn ‚Glauben haben, an etw. glauben‘ ginādahabēn ‚Mitleid, Erbarmen haben, sich erbarmen‘ githingī/gethingon habēn ‚Hoffnung haben, hoffen‘ giwalt habēn ‚Macht/Kontrolle haben über jm./etw.‘ helfa habēn ‚Hilfe haben, unterstützt werden‘ in hucta/gihugti/guhigti habēn ‚etw. im Gedächtnis behalten‘
|| 55 Bei Funktionsverbgefügen mit wesan/sīn gestaltet sich die Verteilung auf Typen im Großen und Ganzen ähnlich: Für 80 Belege in der HiFoS-Datendank können 31 Typen definiert werden. Dabei ist thurft wesan ‚jm. ist etw. nötig, notwendig‘ 29 Mal belegt (bei habēn findet sich kein einziges Funktionsverbgefüge mit dieser Belegdichte), [jm.] wuntar wesan/sīn – sechsmal, ze muote/in muote wesan/sīn und ze leibo wesan – jeweils viermal sowie in der fari/in ferte wesan – dreimal. Alle anderen Belege sind singuläre Funde. Die 82 werdan-Funktionsverbgefüge verteilen sich auf 22 Typen, wobei zi leibu werdan ‚übrig bleiben, zurückbleiben‘ mit 43 Belegen mehr als die Hälfte aller Belege dieser Gruppe ausmacht. Mehr als dreimal sind außerdem lediglich buoz werdan ‚gesund werden, Besserung erfahren‘ und zi frumu werdan ‚1. jm. zum Heil werden; 2. jm. nützlich werden‘ belegt.
5.3 Kollokationen | 263
ze huohe habēn ‚jn. verspotten‘ lustsamī habēn ‚Freude/Vergnügen haben, sich freuen‘ minna/minnūn habēn ‚jn. lieben, Liebe empfinden‘ (h)riuwa/(h)riuuuūn habēn ‚Reue empfinden, Kummer haben‘ (gi)sin habēn ‚Verlangen haben nach etw., den Sinn richten auf etw.‘ ūzlāz/enti habēn ‚ein Ende haben, enden‘ werk habēn ‚1. Betätigung haben, sich betätigen können, 2. auf eine bestimmte Art und Weise handeln‘ willion habēn ‚den Willen zu etw. haben‘
Parallel mit der zeitgleich verlaufenden Desemantisierung von habēn in der freien Verwendung und seiner Grammatikalisierung zum Passivauxiliar bzw. Hilfsverb der Perfektperiphrase belegen die Beispiele in Tabelle 10 und in (28) seine Entwicklung zum desemantisierten Funktionsverb.56 Während in den Wendungen stanc, gismakmom, mez, hungar, enti, anafang habēn u.a. die ursprüngliche Bedeutung ‚etw. besitzen, etw. zur Verfügung haben‘ noch spürbar ist, tritt sie in den Belegen, die ohne Bedeutungsunterschied mit einem Vollverb bzw. mit Adjektiv + sein paraphrasiert werden können, stärker in den Hintergrund, z.B. minna habēn > minnōn, gitruobnessi habēn > truobi wesan/sīn. Das Verb übernimmt hier eine „Zuordnungsfunktion von Zuständen, Vorgängen und Tätigkeiten zu einem Träger oder Agens“ (Blum 1986, 84). Noch deutlicher kommt die Desemantisierung in Wendungen zum Ausdruck, in denen sich habēn mit einem Substantiv verbindet, das einen Vorgang bezeichnet und somit semantisch mit der Verbbedeutung ‚zur Verfügung haben, besitzen‘ kollidiert, z.B. āgez habēn „etw. *Vergessen haben“, und in präpositionalen Funktionsverbgefügen wie in āgezze habēn „etw.in *Vergessen haben“, ze lieben habēn „jn. zu *Liebe haben“ oder in hazze habēn „etw.in *Hass haben“. Solche Wendungen verstoßen auch gegen die ursprüngliche Valenz des Verbs haben + Akkusativobjekt. Interessanterweise variiert das Verb hab)n aber genau in solchen Fällen mit dem synonymen PräteritoPräsens-Verb (h)eigan, das im Althochdeustchen ausschließlich die Semantik eines Vollverbs ‚haben, besitzen, enthalten, erhalten, Grund haben, halten für‘ aufweist (AWB, 3, 100–103). In der HiFoS-Datenbank sind fünf Belege mit diesem Verb vorhanden, und zwar für die Funktionsverbgefüge in āgezze eigan ‚vergessen‘, ze huohe eigan ‚verspotten‘ (zweimal), in firsihti eigan ‚verachten, verspotten‘ und teil eigan ‚einen Anteil haben, teilhaben an etw.‘57 Zusätzlich variiert habēn ohne erkennbare semantische Unterschiede mit wesan/sīn. Von 31 Typen
|| 56 Zur Abgrenzung dieses Begriffs vom Begriff Hilfsverb vgl. von Polenz (1963, 26). 57 AWB (3, 103) listet außerdem zwei Belegstellen für eigan als Bestandteil der formelhaften Wahrheitsbeteuerung s@ eigi ih guot ‚so wahr ich Gutes haben möge, fürwahr‘ auf.
264 | 5 Wege der Entstehung mikrostruktureller Formelhaftigkeit
der wesan/sīn-Wendungen lassen 12, also rund ein Drittel, auch Kombinationen mit habēn zu, z.B. thurft wesan, ze anasihte wesan, ze muote/in muote wesan/sīn, in lībe wesan, mit/in giwelti/giwalte wesan, follūn wesan, in ther fari/in ferte wesan, zi/at enti wesan, in flīze wesan, n@t wesan, an helpun wesan, in fluohte wesan. Von 22 Typen der werdan-Belege kommen neun auch mit habēn vor: zi leide werdan, zi helphun werdan, n@t werdan, zi āgezze werdan, zi leibu werdan, zi gewoneheite werdan, zi heili werdan, zi huohe werdan und zi uuillien werdan. Trotz dieser Belege ist das desemantisierte hab)n ein fester Bestandteil der ahd. Funktionsverbgefüge. Bei präpositionalen Funktionsverbgefügen scheint seit der ahd. Zeit der Gebrauch bestimmter Präpositionenrelativ fest zu sein. Gebräuchlich sind in der Gegenwart wie in der Sprachgeschichte vor allem die Präpositionen zu und in.58 Bei den ahd. habēn-Funktionsverbgefügen sind sie die einzigen Präpositionen, mit Ausnahme von untar ruohha habēn, die in der HiFoS-Datenbank als ein singulärer Beleg (Althochdeutsche Benediktinerregel 27, 1a für lat. sub cura habere) erfasst ist. Die Präposition in ist deutlich in der Überzahl.59 Entgegen der für das Althochdeutsche typischen Mehrdeutigkeit und semantischen Vagheit der Präpositionen (vgl. die entsprechenden Einträge im AWB) weisen sie als Bestandteil der Funktionsverbgefüge entweder die konkrete richtungsbezeichnende Bedeutung auf oder sind genauso wie das Verb habēn desemantisiert.60 Nicht festgelegtscheint die Verwendung der Determinativa in der Funktion der Artikel bzw. der Artikelwörter zu sein. Die meisten ahd. Funktionsverbgefüge sind artikellos, was mit Hinblick auf die allgemeine Artikellosigkeit des Althochdeutschen nicht überrascht.61 Der bestimmte Artikel ist erst im Entstehen und nicht obligatorisch, der unbestimmte Artikel ist auch in den späten ahd. Texten (etwa bei Notker) nicht belegt (AhdGr, II, 27). Von 180 ahd. hab)n-Wendungen enthalten neun ein Determinativ; an einer Stelle wird das Zahlwort ein verwendet, das dem unbestimmten Artikel nahe kommt, mit diesem aber nicht identisch
|| 58 Vgl. für das Mittelhochdeutsche Tao (1997, 46): In seinem Korpus sind insgesamt zehn Präpositionen belegt, von denen in und ze die mit Abstand häufigsten sind. 59 Das ist bei werdan-Funktionsverbgefügen anders; hier dominiert deutlich die Präposition zi. 60 Dies gilt auch für wesan/sīn-Funktionsverbgefüge. Jeweils einmal kommen die Präpositionen mit (mit gewalti wesan bei Otfrid, Evangelienharmonie, 143v, IV 27, 12; ID 23421) und at (at ende wesan, Hildebrandslied, 1r, 22, ID 3161) vor; dreimal ist an belegt (an liehta wesan, Altsächsische Genesis, 1r, 7;ID 13712; an helpun wesan, Heliand, 105v, 13;ID 6963 und an treuuan wesan ‚im sicheren Geleit sein‘, Altsächsische Genesis, 2v, 41; ID 13718). 61 Die Artikellosigkeit dauert bei Funktionsverbgefügen auch im Mittelhochdeutschen an, vgl. Tao (1997, 52).
5.3 Kollokationen | 265
ist. In einigen Fällen ist die Verwendung des Determinativs durch die Bestimmtheit des Kontextes anaphorisch bzw. kataphorisch erklärbar. So wird in (29a) das Funktionsverbgefüge durch den Superlativ des Adjektivs erweitert, in (29b) bestimmt der nebengeordnete Objektsatz, um welche Hoffnung es geht. In (29c) erfolgt die Bestimmung durch den Finalsatz und erfordert in der nhd. Übersetzung die adjektivische Erweiterung das richtige, bestimmte Alter. In allen drei Kontexten kann die deiktische, textsyntaktische Funktion der Determinativpronomina festgestellt werden, die gegen das Vorliegen eines desemantisierten, grammatikalisierten bestimmten Artikels spricht. Die Wendungen (29a) und (29b) kommen an anderen Stellen auch ohne Artikel bzw. Determinativ vor und sind somit wenig lexikalisiert. (29a) uuánte ap[osto]li únte martyres dîeder | mít íro sélbes blûote hímelrîche | árnoton . dîe hábent oûh | dâr dîe mêiston êra . únte | daz hêresta gesídele! áls | íz quît . Nimis c[on]fortat[vs] e[st] | p[ri]ncipat[vs] eoru[m]. (Williram, Hoheliedkommentar 24r, 15; ID 29570) Denn die Apostel und Märtyrer‚ die mit ihrem eigenen Blut das Himmelreich erwarben‚ die haben auch da die höchsten Ehren und den erhabensten Platz‚ wie es heißt: Sehr gestärkt ist ihre Herrschaft. (29b) Íh uuíl ióh | dén gedíngon an ín há|ban ./ daz íh mîne mûoter | synagogam. díu míh êrest | zelôiben brín|ge ./ cum plenitudo gen|tium intrauerit. (Williram, Hoheliedkommentar 21v, 23c; ID 29572) Ich will auch die Hoffnung auf ihn haben‚ dass ich meine Mutter‚ die Synagoge‚ die mich zu allererst zum Glauben führte‚ mit seiner Hilfe ebenfalls auch wieder zum Glauben führe‚ die mit der Gesamtheit des Volkes eintreten wird. (29c) Nist kund uns thaz girati · uuer thiu ougun imo indati | thes leuuen ouh ni uuollen · so uuir iu hiar nu zellen | Frag[et] inan es in uuar · er hab[et] iu thaz altar | thaz er in thesen thingon · firsprechan mag sih selbon (Otfrid, Evangelienbuch 100v, III 20, 93; ID 29202) Uns ist das Geheimnis nicht bekannt‚ wer ihm die Augen öffnete‚ dafür wollen wir auch nicht verantwortlich sein‚ wie wir euch hier nun berichten. Fragt ihn es wahrlich‚ er hat bereits das rechte Alter‚ damit er in diesen Dingen sich selbst rechtfertigen kann.
Die Kontexte in (30) enthalten hingegen keinerlei Hinweise, die die Verwendung des Determinativs in der Funktion des bestimmten Artikels begründen würden.
266 | 5 Wege der Entstehung mikrostruktureller Formelhaftigkeit
Ich interpretiere die Konstituenten thia in (30a,c) und thaz in (30b) nicht als Determinative, sondern in der Tat als bestimmte Artikel, die funktionslos geworden zu sein scheinen. Die Belege sind insofern aufschlussreich, als sie den Verlust der Funktionalität des Artikels zu der Zeit demonstrieren, in der der bestimmte Artikel erst im Entstehen begriffen ist. (30a) Uueiz themo ouh baz zauueta · ther thia iugund habeta| then ginoz firliaf er fram · ioh er zi demo grabe quam (Otfrid, Evangelienbuch 157v, V 5, 5; ID 23399) Ich weiß‚ dem glückte es auch besser‚ der jung war [der die Jugend/das junge Alter hatte]‚ dem Gefährten lief er voraus‚ und kam auch eher zu dem Grabe. (30b) Az er fora in tho thare · thaz uuestin sie zi uuare | thaz er thaz ferah habeta · in lichamen lebeta (Otfrid, Evangelienbuch 166r, V 11, 42; ID 23417) Da aß er dort vor ihnen‚ damit sie in Wahrheit wüssten‚ dass er lebte [das Leben hatte]‚ im Körper lebte. (30c) Alia uero numqua[m] sunt | actu . sed potestate solu[m]. Súmelîchiu nehá| bent tia tât núbe échert tia máht. (Notker, De interpretatione 236, 5; ID 29481) Einige haben keine Wirkung (sind nicht wirklich)‚ sondern nur die Macht/Kraft. (30d) Bonitas máchôt bonu[m]. participatione sui . sô tûot óuh unu[m]. Pedíu hábent | siu éina tât. (Notker, Boethius, De consolatione philosophiae (Hs. A) 165, 10; ID 29342) Die Güte schafft das Gute‚ [...]‚ so tut auch das Einzige. Daher haben sie eine Wirkung [Auf diese Weise wirken sie].
In (30a) bezieht sich der erste Hauptsatz nicht auf eine bestimmte Person und hat einen allgemeinen Charakter. In (30b) erbringt Jesus dadurch‚ dass er gemeinsam mit den Jüngern isst‚ den Beweis‚ dass er tatsächlich auferstanden und am Leben ist. Dieser inhaltliche Bezug erfordert aber keinen bestimmten Artikel und führt nicht zu derdem Beleg (29c) ähnlichen Paraphrase ‚ein bestimmtes Leben führen, auf eine bestimmte Art und Weise am Leben sein‘. Die synonyme Wendung līb hab)n ist auch in Kontexten mit Jesus-Bezug artikellos. Blum (1986, 92) macht Otfrids Versmaß für den Artikelgebrauch in (30b) verantwortlich. Allerdings wäre
5.3 Kollokationen | 267
es in meinen Augen auch ohne Artikel an beiden Stellen (30a-b) nicht zerstört.62 Ferner sind die Belege (30c-d) zwei Prosawerken entnommen. Der allgemeine, nicht näher bestimmbare Charakter des Kontextes in (30c) ist offensichtlich. Allerdings weist das Funktionsverbgefüge dia tāt hab)n den bestimmten Artikel auf. Die gleiche Wendung ist in einem anderen Notker-Werk (30d) mit einem unbestimmten Artikel belegt,63 wobei mir der unbestimmte Artikel hier gerade nicht die Unbestimmtheit, sondern die Bestimmtheit auszudrücken scheint: Das Funktionsverbgefüge nimmt anaphorisch Bezug auf die Handlungen der abstrakten Kategorien Güte und Einzigartigkeit und fasst die Ergebnisse dieser im vorangehenden Satz beschriebenen Handlungen zusammen. Mit der Wendung wird behauptet, dass die Kategorien auf diese, und nicht eine andere Art wirken. Ein dient hier somit der Spezifizierung64 und kommt in seiner Funktion auch anderen Möglichkeiten der syntaktischen Erweiterung nahe, vgl. die Beispiele (32) unten. Die Möglichkeit der Verwendung unterschiedlicher Determinativpronomina abhängig vom Kontext beweist im Allgemeinen den geringeren Lexikalisierungsgrad der ahd. Wendungen. Eine im Vergleich zur verbalen Konstituente, Präposition oder Artikel größere Variation weisen die ahd. Funktionsverbgefüge bei den substantivischen Konstituenten auf. Es lassen sich Gruppen von synonymen Wendungen ermitteln, die für das Neuhochdeutsche in dieser Form nicht mehr typisch sind. Sie sind in (31) zusammengestellt: (31a) neidisch sein, Missgunst haben abanst habēn ‚Missgunst, Neid, Eifersucht, unfreundliche Einstellung‘ anton habēn ‚Missgunst, Eifersucht, Ärgernis, Anlaß zur eifernden Erregung‘ (31b) Mitleid, Erbarmen mit jm. haben, sich erbarmen ebandolunga habēn irbarmida habēn gināda habēn infindida habēn
|| 62 In Kollokationen mit anderen Verben ist ferah artikellos, vgl. z.B. ferah firgeban ‚jn. begnadigen, indem man ihm das Leben schenkt‘ (Heliand 153r, 6; ID 7459); ferah geban (Tatian 185, 9 Mt; Tatian 185, 9 Mt Lc; ID 23103 und 27339; an beiden Stellen allerdings mit dem Pronomen sīn), zi fer(ah)he stehhan ‚jmdn. tödlich verwunden‘ (O 5, 11, 26), ferah sellen ‚das Leben hingeben, opfern für jmdn. etw.‘ (O 4, 5, 50), ferah neman ‚jm. das Leben nehmen, ihn töten‘ (Heliand 108v, 3, ID 6981) u.a. Vgl. anders [jm. Dat.] thiu ferhu bineman ‚jn. töten‘ (Heliand 152r, 1; ID 7446). 63 Das ist der einzige Beleg in der HiFoS-Datenbank, der den Gebrauch der hab)n-Funktionsverbgefüge mit einem unbestimmten Artikel veranschaulicht. 64 Zu dieser Funktion des unbestimmten Artikels vgl. auch AhdGr (II, 26).
268 | 5 Wege der Entstehung mikrostruktureller Formelhaftigkeit
compassionem haben (31c) sich etwas zur Gewohnheit machen, etw. zur Gewohnheit haben, gewöhnt sein, etw. zu tun in gewoneheite habēn zi site habēn (31d) jn. verhöhnen, verspotten ze huohe habēn ze spotte habēn zi bismere habēn (31e) Verlangen nach etw. haben gingon habēn in gilusti habēn (gi)sin habēn (31f) Bedrängnis haben, bedrängt sein, Mühsal haben arbeit habēn fressun/pfressa habēn nōt habēn muohī habēn pressuram habēn (31g) Schutz haben, geschützt sein scirm/in scirme habēn fridu/in fride habēn pacem habēn (31h) Ruhe haben ruowa habēn restī habēn tranquillitatem habēn ‚(innere) Ruhe haben‘ (31i) einen Kampf führen, kämpfen (müssen) (h)ringūn habēn uuīg habēn (31j) Verdienste haben frēhtī habēn giuuurhtī habēn (31k) Freude/Vergnügen haben, sich freuen mendī/mandunga habēn thia wunna habēn lustsamī habēn
5.3 Kollokationen | 269
(31l) bedrückt sein thrucnessī habēn gitruobnessī habēn luctum et mȩrorem habēn (31m) beginnen, seinen Anfang haben, einen Anfang machen bigin habēn anafang habēn anageni habēn (31n) Bewegung haben, sich bewegen, in Bewegung sein fart habēn widerfart habēn (h)warba habēn gang habēn motum habēn (31o) von Hass erfüllt sein, hassen nīd habēn haz/in hazze habēn (31p) ein Ende haben, enden enti habēn ūzlāz habēn finem habēn ‚eine Ende haben, vollenden, enden‘ (31q) Macht haben, etwas unter Kontrolle haben, mächtig sein; Macht (= Fähigkeit) haben giwalt habēn maht habēn in githuuange habēn potentiam habēn ‚Macht (= Fähigkeit) haben‘ potestatem habēn ‚Macht, Gewalt über jm. haben‘ Than ſcalt thu eft uuord ſpre|kan hebbean thinera ſtemna giuuald (Heliand 9r, 16, ID 5323) Dann sollst du wieder in Wort sprechen‚ Macht über deine Stimme haben (sprechen können, die Stimme beherrschen). habda im eft eſ ſpraka giuuald | giuuitaeſ endi uuiſu (Heliand 11r, 1; ID 5344) Er hatte wieder die Macht über seine Sprache‚ [über] Verstand und Weisheit. (31r) etw. nötig haben, müssen thurftī habēn nōtthurftī habēn
270 | 5 Wege der Entstehung mikrostruktureller Formelhaftigkeit
(31s) guollīhhī/dignitatem habēn ‚Ansehen/Ruhm haben, angesehen sein‘ zuofirsiht/spem habēn ‚Vertrauen, Hoffnung auf etw. haben‘ gilouba/giloubon/fidem habēn ‚Glauben haben, gläubig sein‘ (gi)thult/tolerantiam habēn ‚Geduld haben‘ minna/minnūn/dilectionem/caritatem habēn ‚Liebe haben‘
Die Analyse dieser Beispielgruppen beweist die im Vergleich zum Neuhochdeutschen weniger lexikalisierte, weniger feste Struktur der ahd. Funktionsverbgefüge. Besonders deutlich veranschaulichen dies solche Belege, in denen die ahd. Konstituente mit der lat. variiert, ohne dass im zwischensprachlichen Vergleich ein semantischer bzw. pragmatischer Unterschied ermittelt werden kann, vgl. (31b, f, g, h, l, n, p, q) und die Zusammenstellung in (31s). Auf den ersten Blick würden gerade solche Sprachmischungen erlauben, die Entstehung der Funktionsverbgefüge aus dem Lateinischen abzuleiten. Betrachtet man allerdings die Konstituenten nicht isoliert, sondern die gesamte Wendung als ein holistisches Gefüge, kann diese Ableitung zumindest für die HiFoS-Daten nicht gelten. Auch wenn der Einfluss des Lateinischen nicht ganz auszuschließen ist, ist er als eine Begleiterscheinung und nicht als ein Auslöser zu bewerten: In 51 von 180 Fällen basiert die ahd. Wendung auf der syntaktisch absolut äquivalenten lat. Fügung Substantiv + habere. Synchron gesehen können allerdings die Gründe für die Variation doch semantisch erklärt werden, sodass die angeführten Beleggruppen in manchen Fällen lediglich als Quasisynonyme betrachtet werden müssen. Die Belege in (31a) abanst habēn und anton habēn sind in der HiFoS-Datenbank und im AWB (4, 557) beide ähnlich mit ‚neidisch sein, Missgunst haben‘ paraphrasiert. Allerdings unterscheiden sich die substantivischen Konstituenten in der freien Verwendung leicht voneinander: abanst steht laut AWB (4, 557) für ‚Missgunst, Neid, Eifersucht, unfreundliche Einstellung‘, anton für ‚Missgunst, Eifersucht, Ärgernis, Anlaß zur eifernden Erregung.‘ Ähnliches gilt auch für die Beispiele (31q): Die in den Funktionsverbgefügen ohnehin seltener als giwalt belegte Konstituente maht verfügt nicht über die Bedeutung ‚Fähigkeit, etwas zu kontrollieren, beherrschen‘, die bei giwalt in den in (31q) angeführten Textstellen aktualisiert wird. Beide Male handelt es sich um die Szene der Geburt Johannes des Täufers, in der Zacharias zur Strafe für seine Zweifel bis zur Geburt seines Sohnes stumm wird und später seine Sprechfähigkeit wiedererlangt. In (31b) ist der Unterschied zwischen ebandolunga und infindida in der Tat nicht ersichtlich, beide Lexeme stehen für lat. compassio und sind bereits im Althochdeutschen selten. Mit irbarmida hingegen wird neben compassio auch lat. misericordia übersetzt, das Lexem ist im Althochdeutschen gut belegt und mehrdeutig, vgl. die Angaben im AWB (1, 819–820). In
5.3 Kollokationen | 271
(31r) liegt der Unterschied zwischen thurftī habēn und nōtthurftī habēn in der stärkeren Expressivität des Kompositums, obwohl beide für lat. necesse habere stehen. In der Diachronie führen semantische Veränderungen bei substantivischen Konstituenten bzw. ihr Aussterben auf dem Weg zum Neuhochdeutschen zur stärkeren Lexikalisierung und Verfestigung der Struktur der Funktionsverbgefüge. Die synchrone Variation im Bereich der substantivischen Konstituenten beweist den weniger ausgeprägten Lexikalisierungsgrad der ahd. Wendungen. In die gleiche Richtung weisen die Möglichkeiten der strukturellen Erweiterung, die bei den entsprechenden nhd. Funktionsverbgefügen weniger bis kaum akzeptabel sind. Die Beispiele (32-36) veranschaulichen exemplarisch die Möglichkeiten der Erweiterung.65 Sie gelten auch für die Funktionsverbgefüge mit wesan/sīn, werdan, queman und bringan, sind dort allerdings viel weniger geläufig. (32) adjektivisches/adverbiales Attribut (20 Mal) (32a) Potuit tenere inuictu[m] uultu[m]. Tér máh|ta háben uéste gehaba. (Notker, Boethius, De consolatione philosophiae (Hs. A) 18, 2; ID 29306) Dieser konnte eine unerschütterliche Haltung haben. (32b) Extim[us] u[er]o . maiore ambitu rotat[us] . quanto | a puncti | media indiuiduitate discedit . tanto a[m]pliorib[us] spaciis explicat[ur] . Et hic . Áber der | ûzerôsto mêren suéib hábende . sô fílo uuîtor síh zetûot . sô fílo er férrôr íst . fóne | déro gnôti des stúpfes târ in míttemen. (Notker, Boethius, De consolatione philosophiae (Hs. A) 215, 9; ID 29340) Aber der äußerste‚ den größeren Umlauf habende‚ breitet sich umso weiter aus‚ je entfernter er von der Unteilbarkeit des Punktes dort in der Mitte ist. (33) Personalpronomen (20 Mal)
|| 65 Jeweils einmal ist außerdem die strukturelle Erweiterung durch eine komparative Nominalphrase (diu geschrift habet samo drâte uart also daz berguuazzer (Williram, Hoheliedkommentar 33v, 22c) „die Schrift hat so eine gewaltige Schnelligkeit wie das Bergwasser“), ein Interrogativpronomen (uuanda du mir gabe so uuelih reht ih habo (Notker, Psalmenauslegung 520, 22) „weil du [sie] mir gabst, welche Gerechtigkeit auch immer ich übe“) und ein Demonstrativpronomen (ioh ih thiz leid ni habeti (Otfrid, Evangelienharmonie 107v, III 24, 52) „und ich hätte diesen Kummer nicht“) belegt.
272 | 5 Wege der Entstehung mikrostruktureller Formelhaftigkeit
Ir sult oGch pitten vmbe alle die die in chir[ch]uert sint das si vnser h[er]re got habe in | sime fride vñ in sime · scherme (Süddeutscher (Münchner) Glauben und Beichte (B) 1v, 6; ID 30976) Ihr sollt auch für all die bitten‚ die auf Wallfahrt sind‚ damit unser Herr Gott sie unter seinem Schutz und unter seinem Schirm habe. (34) Genitivattribut (12 Mal) Et relicta p[re]stantia c[on]scientiae | uirtutisq[ue] . postulatis p[re]mia de alienis sermunculis. Únde nehéina | uuára tûondo déro stíuri déro geuuízzedo . álde déro túgede . | uuéllent ir déro uuórto dáng háben . tíu fóne ánderên châmen (Notker, Boethius, De consolatione philosophiae (Hs. A) 100, 17; ID 29351) Und ohne sich der Leitung des Gewissens oder der Tugend anzunehmen‚ wollt ihr für die Worte belohnt werden‚ die von den anderen kamen. (35) Indefinitpronomen (11 Mal) (35a) doh maht dunu aodlihho | ibu dir din ellen taoc. In ſuſ heremo man hruſti gi|ṕinnan rauba bihrahanen. ibu du dar enic reht ha|beſ. (Hildebrandslied 76v, 21; ID 3177) Doch kannst du nun leicht‚ wenn dir deine Kraft reicht‚ von einem so ehrwürdigen Mann [die] Rüstung gewinnen‚ die Beute rauben‚ wenn du dazu irgendein Recht hast. (35b) Putasne igit[ur] ulla[m] eius hominis potential[m] . qui n[on] | possit efficere . [...] | Uuânest tû dén háben dehéina máht . tér dáz ketûon ne|mág . [...] (Notker, Boethius, De consolatione philosophiae (Hs. A) 91, 20;ID 29334) Glaubst du‚ der hat irgendeine Macht‚ der das nicht machen kann. (36) Nebensatz und Pronominalisierung (sechsmal) (36a) Haec est qua facti sumus ad imaginem [et] | similitudinem dei. Haec est . quadistamus | abrutis animalibus. Tíu máht dero sêlo ge|gébin íst . kûot únde úbel ze bechénnin|ne únde uuâr únde lúgi . dáz íst réda. | Tía hábendo . íst ter mán cóte gelîh . án|derên dîeren úngelîh. (Notker, De syllogismis 44r, 14; ID 29486) Die Fähigkeit ist dem Geist gegeben‚ Gut und Übel sowie Wahrheit und Lüge zu erkennen. Das ist die Vernunft. [Dadurch‚ dass der Mensch] sie hat‚ ist der Mensch dem Gott gleich [und] anderen Tieren ungleich.
5.3 Kollokationen | 273
(36b) Erit igit[ur] quisq[ue] c[on]tent[us] p[er]uulgatagloria int[er] | suos . Sô mûoz îo mánnolîh keuágo sîn déro gûollichi . dîa er únder | dien sînên háben mág. (Notker, Boethius, De consolatione philosophiae (Hs. A) 99, 10; ID 29308) So soll jeder Mensch stets mit dem Ansehen zufrieden sein‚ das er unter den Seinen [= Mitmenschen] haben kann.
Die Übersicht zeigt, dass einerseits die von Tao (1997, 51) für die mhd. komen- und bringen-Funktionsverbgefüge erarbeiteten Möglichkeiten der strukturellen Erweiterung bereits im Althochdeutschen angelegt sind und hier auch für die hab)n-Wendungen gelten. Eine weitere Übereinstimmung besteht im quantitativen Bereich: In den beiden ältesten Sprachstufen des Deutschen gehören die Erweiterungen durch ein adjektivisches Attribut und Personal- bzw. Indefinitpronomina zu den häufigsten Erweiterungstypen. Wie noch im Mittelhochdeutschen kommt es im Althochdeutschen äußerst selten zur Kombination unterschiedlicher Erweiterungstypen; ebenso selten ist die Anhäufung zweier und/oder mehrerer adjektivischen Attribute. Dies kann im Neuhochdeutschen durchaus der Fall sein. Die prädikative Funktion des gesamten Gefüges bleibt trotz der adjektivischen und pronominalen Erweiterungen erhalten. Den Grund für solche Erweiterungen sehe ich im präziseren, in manchen Fällen emotional/modal gefärbten Ausdruck, der bei der Verwendung des verwandten Vollverbs kaum zu erreichen wäre. In anderen Fällen erlauben die Funktionsverbgefüge komplexe periphrastische Umschreibungen zu umgehen oder füllen gar lexikalische bzw. morphologisch-syntaktische Lücken aus. So stimmen die Bedeutungen der formelhaften Wendungen in (32a-b) nur teilweise mit den Bedeutungen der entsprechenden Vollverben überein (vgl. die Angaben in Tabelle 11). Auch ohne die adjektivischen Erweiterungen müssen die Paraphrasen hier als ‚eine bestimmte (innere) Haltung haben‘ und ‚einen bestimmten Umlauf haben‘ formuliert werden. In Bezug auf Beispiel (32b) bemerkt bereits Blum (1986, 91), dass die Ergänzung des Funktionsverbgefüges durch das zugehörige Verb auch zum Ersatz des Attributs mēro durch eine kompliziertere Adverbialbestimmung mit dem Sinn ‚in einem größeren Bogen‘ führen würde. Andere Beispiele dieser Art sind in Tabelle 10 mit dem Tildesymbol (~) vor dem Vollverb in der dritten Spalte gekennzeichnet. Adjektivische Erweiterungen können ferner vollständig lexikalisiert sein und sich von dem nicht erweiterten Funktionsverbgefüge semantisch unterscheiden. Dies ist z.B. bei (den) ēuuīgan/ēuuīn līb habēn ‚ewiges Leben haben, das Leben der unsterblichen Seele nach dem physischen Tod des Menschen haben‘ gegenüber līb habēn ‚leben, am Leben sein‘ der Fall. Auch das Funktionsverbgefüge
274 | 5 Wege der Entstehung mikrostruktureller Formelhaftigkeit
fulleist habēn ‚Bestätigung haben für etw.‘ weist im Vergleich zum Vollverb folleisten eine andere (engere, spezifischere) Bedeutung auf (vgl. die Angaben im AWB, 3, 1059–1060). Solche Fälle sind in Tabelle 10 mit dem Zeichen # vor dem Vollverb in der dritten Spalte markiert. Auch wenn bei den Erweiterungen durch Personalpronomina das Althochdeutsche sich wenig vom Neuhochdeutschen unterscheidet, fällt in Beleg (33) die Hervorhebung des durch das Funktionsverbgefüge ausgedrückten Vorganges auf, die bei der Verwendung des Vollverbs nicht zu erreichen wäre. Durch die parataktische Aneinanderreihung zweier synonymer Wendungen wird die Hervorhebung im Althochdeutschen noch verstärkt. Dass dies kein Einzelfall ist, zeigen auch andere Stellen, vgl. etwa die Stelle Otfrid, Evangelienbuch 139r, IV 22, 25 (ID 12363): Fialun tho in iro knio . zi hue hab[et]un inan io | zi bismere thrato . suslichero dato „Sie fielen da auf ihre Knie‚ sie verspottetenihn immerfort [und] verhöhnten [ihn]sehrdurchderartigeTaten.“ Die Genitivattribute, die bei den Funktionsverbgefügen in der HiFoS-Datenbank nur einmal nachgestellt sind und sonst dem Usus der freien Verwendung im Althochdeutschen entsprechend immer pränominal stehen, können zu obligatorischen Attributen der Wendungen gehören und sind in diesem Sinne keine Erweiterungen. Solch einen Fall veranschaulicht exemplarisch Beispiel (34). Allerdings verfügt die Wendung über die passivische Bedeutung ‚belohnt werden für etwas‘ und fungiert als Ersatz für die im Althochdeutschen erst entstehende Passivperiphrase. Auch das ist kein Einzelfall; das AWB (4, 561–562) führt eine ganze Reihe von weiteren habēn-Funktionsverbgefügen mit passivischer Bedeutung, darunter arbeiti habēn, thrucnessi habēn, githuuing habēn, fluobara habēn, helfa habēn, urloub habēn, huldī habēnusw.66 Auch solche Fälle sind in Tabelle 10 mit der Tilde markiert. Neben dem „Auffüllen der Lücken“ im morphosyntaktischen System können Funktionsverbgefüge die einzige flexible lexikalische Ausdrucksmöglichkeit für einen Sachverhalt sein, die zusätzlich auch die strukturuelle Erweiterung zulässt. Dies veranschaulichen die Beispiele (35). Reht habēn (35a) bezeichnet einen Zustand, das dazugehörige Verb rihten ist hingegen ein Kausativum mit der Bedeutung ‚jm. Recht schaffen, zum Recht verhelfen‘. Laut Blum (1986, 90) ist ein dem Funktionsverbgefüge entsprechendes Zustandsverb im Althochdeutschen nicht
|| 66 Ähnliches gilt auch für modale Bedeutungen, die in Funktionsverbgefügen transportiert werden und in den dazugehörigen Vollverben fehlen, vgl. antsegida/antseida habēn ‚sich rechtfertigen , entschuldigen können‘, fluht/zuofluht habēn ‚fliehen können‘, klaga habēn ‚sich beklagen können‘, sihhura habēn ‚sich entschuldigen können‘, werc habēn ‚sich betätigen können‘, uuīg habēn ‚kämpfen müssen‘ u.a. Wendungen. Dazu ausführlich AWB (4, 560–561).
5.3 Kollokationen | 275
belegt. Es fehlt auch für die Wendung maht habēn (35b). Ähnlich gelagert ist die oben in (30b) angeführte Wendung daz ferah habēn: Das entsprechende Vollverb fehlt, die Bedeutung ‚leben‘ kann allerdings durch die synonyme Wendung līb habēn ausgedrückt werden. Das Fehlen des zugehörigen Vollverbs ist in Tabelle 10 durch das Sonderzeichen — (Geviertstrich) kenntlich gemacht. Dieser Gruppe sind auch Funktionsverbgefüge wie uuīg habēn zuzuordnen, die sich von zugehörigen Vollverben nicht nur durch ihre modale Bedeutung unterscheiden (vgl. Tabelle 10), sondern auch dadurch, dass die Vollverben in der Textüberlieferung selten bis gar nicht vorkommen: wīgan und wīgēn sind bei Schützeichel (2006, 415) z.B. nur als Belege aus dem Glossenwortschatz markiert. Als eine wesentliche Leistung der Funktionsverbgefüge (auch in der nicht erweiterten Form) wird in der Forschungsliteratur der Ausdruck der Aktionsart hervorgehoben, die sich vom zugehörigen Vollverb unterscheiden kann. Die Bestimmung der Aktionsart ist bei habēn-Funktionsverbgefügen erschwert, da sich das Verb vor allem mit Abstrakta verbindet, die Zustände bezeichnen (vgl. auch Blum 1986, 88). Das gesamte Gefüge ist somit durativ zu verstehen. Wie Tabelle 10 veranschaulicht, kann fast jedes habēn-Funktionsverbgefüge einem Vollverb gegenübergestellt werden. Die Unterschiede sind nicht immer klar, z.B. bihaltida habēn ‚etw. einhalten‘ vs. (bi)haltan ‚halten, behalten, erhalten‘, līb habēn vs. leben, ze huohe habēn vs. huohōn, beide mit der Paraphrase ‚jn. verhöhnen, verspotten‘. Allerdings treten sie in anderen Fällen deutlich in Erscheinung. Balda habēn bedeutet z.B. durativ ‚Vertrauen haben‘, das entsprechende schwache Verb baldēn ‚Mut fassen, mutig werden‘ ist ein typisches inchoatives schwaches ēn-Verb, auf dessen Semantik des Zustandswechsels das AWB (1, 788–789) auch explizit in der Bedeutungsparaphrase hinweist. Außerdem ist das Vollverb baldēn von seiner Valenz her objektlos, das Funktionsverbgefüge balda habēn erfordert ein präpositionales Objekt in + Dat. und trägt durch diese Erweiterung zum präziseren Ausdruck bei. Ähnlich ist bei bikennida habēn ein Genitivobjekt obligatorisch, das Verb bikennen verlangt insbesondere in der dem Funktionsverbgefüge nahe kommenden Bedeutung ‚jmdn. (vor allem Gott, auch Christus) in seiner Wesensart erkennen, wahrnehmen, kennen lernen‘ den Akkusativ der Person bzw. ein Accusativus cum infinitivo (AWB, 5, 97–98). Besonders ausgeprägt scheint die Valenzvariation beim Funktionsverbgefüge giwalt habēn zu sein (mit Gen. oder Präpositionalobjekt ana, uuidar + Dat, ubar + Akk.), was im deutlichen Kontrast zum Vollverb (gi)waltan (nur mit Gen.) steht. Schließlich bietet ein Funktionsverbgefüge die Möglichkeiten der Präzisierung durch die strukturellen Erweiterungen mit Hilfe der Pronominalisierung (36a) oder des Nebensatzes (36b), der in der Regel ein Relativ- oder ein Objektsatz
276 | 5 Wege der Entstehung mikrostruktureller Formelhaftigkeit
ist. Diese Flexibilität entfällt bei Formulierungen mit Vollverben. Allerdings lassen sich auch sporadisch Beispiele finden, in denen die Funktionsverbgefüge in unmittelbarer Umgebung der zugehörigen Vollverben stehen und die Gründe für ihre Verwendung eher im stilistischen Bereich vermuten lassen. Dazu das Beispiel (37), in dem Notker das Funktionsverbgefüge in dem Teil gebraucht, der unmittelbar/wörtlich auf keine lat. Vorlage zurückgeht, aber dem besseren Verständnis der vorangehenden lat. Stelle des Psalters dienen soll: (37) Aduerſum me inſultabant . qui | ſedebant in porta . i . in publico. Diê húhoton mîn die únder dé|mo búrgetóre ſâzzen . Dâr diê liûte ín unde ûz fuôren . dâr há|beton ſiê mih! ze huôhe. (Notker, Psalmenauslegung 237, 7; ID 7107) Sie beschimpften mich‚ die im Tor saßen‚ d.h. in der Öffentlichkeit. Jene verhöhnten mich‚ die unter dem Stadttor saßen. Dort‚ wo die Leute ein und aus gingen‚ dort verspotteten sie mich.
5.3.3.2 Funktionsverbgefüge mit tuon/mahh@n Ein größerer Unterschied gegenüber dem Neuhochdeutschen zeigt sich bei Funktionsverbgefügen mit tuon/mahh@n. Mit 140 Belegen nehmen Funktionsverbgefüge mit tuon im Althochdeutschen Platz 2 ein; das Verb gehört wie im Altenglischen zu den produktivsten Funktionsverben. Von Polenz (1963, 16) stellt hingegen für das Neuhochdeutsche die geringe Geläufigkeit dieser Verben fest und sieht die Gründe dafür zum einen in der umgangssprachlichen Markierung der beiden Verben, zum anderen in der Tatsache, dass sie für die Aktionsartbezeichnung nicht geeignet sind. Allerdings liegt mit tuon wie auch schon mit habēn auch im Althochdeutschen kein Verb vor, das per se aspekt- bzw. aktionsartgebunden ist (AhdGr, II, 107). Das synonyme mahh@n ist bei weitem kein geläufiges Funktionsverb (vgl. Abbildung 13 oben). In der HiFoS-Datenbank finden sich dazu nur sieben Belege (tokens), die sieben unterschiedliche Typen (types) bilden. Die tuon-Funktionsverbgefüge liefern weitere Beweise für die Ergebnisse, die bereits bei der Analyse der habēn-Wendungen erzielt werden konnten. Auch diese Belege sind im Althochdeutschen weniger grammatikalisiert, weil sie nicht primär dem Ausdruck des Aspekts bzw. der Aktionsarten dienen. Sie sind weniger idiomatisch: Auch wenn das Verb tuon wie habēn zu einem großen Teil desemantisiert zu sein scheint, weisen die substantivischen Konstituenten öfter eine transparente und sehr spezifische, konkrete Bedeutung auf. Die tuon-Funktionsverbgefüge schließen sogar öfter als habēn-Belege lexikalische Lücken und können keinem Vollverb gegenübergestellt werden (vgl. die Übersicht in Tabelle 11
5.3 Kollokationen | 277
unten). Sie sind insofern weniger lexikalisiert, als sie die gleichen Typen der strukturellen Erweiterung zulassen als die Funktionsverbgefüge mit habēn. Ein weiteres Indiz dafür mögen die Kontexte liefern, in denen die Funktionsverbgefüge in negierter Form vorkommen. Während im Neuhochdeutschen die Negation im Normalfall mit Hilfe der Negativpartikel kein erfolgt, vor dem bedeutungstragenden Substantiv steht und sich somit auf die gesamte Wendung als eine holistische Einheit bezieht (keinen Beschluss fassen, keine Entschuldigung haben, keine Frage stellen), spiegeln sowohl die habēn- als auch die tuon-Funktionsverbgefüge den üblichen Gebrauch der Negation in der freien Verwendung wider (AhdGr, II, 135; Jäger 2008, 321–323): Negiert wird auch noch bei Otfrid und Notker mit der vor dem Funktionsverb stehenden Verneinungspartikel ni. Die Beispiele (38a-c) stehen prototypisch für solche Fälle. Bei (38c) kann zwar die Wirkung des Versmaßes nicht ganz ausgeschlossen werden, allerdings ist dieser Beleg insofern interessant, als das Funktionsverbgefüge hier um das Indefinitivpronomen dehein ‚irgendein‘ erweitert ist, das negiert werden könnte. Dies ist hier nicht der Fall, obwohl diese Art der Negation im Althochdeutschen in Konkurrenz zu ni steht (Jäger 2008, 321–323), in Kombination mit dieser die Mehrfachnegation bildet und in anderen Funktionsverbgefügen auch belegt ist (38d). Lediglich würde nur die in (38e) dokumentierte Negation die Annahme des stärker lexikalisierten, holistischen Charakters der Wendung zulassen. (38a) Si non uenissem et locutus fuissem eis | peccatum non haberent. | nunc autem excusationem | non habent de peccato suo obih niquami Inti sprahi zi in | thanne nihabetin sie sunta | nu sihhura | ni habent fon iro sunton (Tatian 285, 22 Io; ID 31298) Wenn ich nicht käme und zu ihnen sprechen würde‚ dann hätten sie keine Sünde. Nun haben sie keine Entschuldigung für ihre Sünden. (38b) Ni buaztut ir mir thaz ist uuar · thurst inti hungar · | ir mih ouh ni uuattut · in siuchi drost ni datut (Otfrid, Evangelienbuch 178r, V 20, 106; ID 23435) Ihr stilltet mir nicht‚ das ist wahr‚ Durst und Hunger. Ihr kleidetet mich auch nicht und brachtet mir in Krankheit keinen Trost. (38c) Ni mag thiu uuorolt uuizit thaz ·haben in iu theheinan haz | in abuh keren zi iu thaz muat · so ther liut zi mir duat (Otfrid, Evangelienbuch 91v, III 15, 29; ID 29207)
278 | 5 Wege der Entstehung mikrostruktureller Formelhaftigkeit
Die Welt kann auf euch keinen Hass haben‚ das sollt ihr wissen‚ die Gesinnung gegenüber euch ins Böse verkehren‚ wie [es] das Volk mir gegenüber tut. (38d) Non habes ius querel[ae] . ta[m]qua[m] p[er]dideris p[ro]rsus tua . Tû ne|hábest nehéina réhta chlága . sámo so dû daz tîn ferló|ren éigîst. (Notker, Boethius, De consolatione philosophiae (Hs. A) 49, 11; ID 29349) Du beklagst dich nicht richtig/zutreffend/berechtigt‚ ebenso wie du das Deine verloren hättest. (38e) Et relicta prestantia conscientiae | uirtutisque . postulatis premia de alienis sermunculis. Únde nehéina | uuára tûondo déro stíuri déro geuuízzedo . álde déro túgede . | uuéllent ir déro uuórto dáng háben . tíu fóne ánderên châmen (Notker, Boethius, De consolatione philosophiae (Hs. A) 100, 16; ID 29375) Und ohne sich der Leitung des Wissens oder der Tugend anzunehmen‚ wollt ihr für die Worte belohnt werden‚ die von den anderen kamen.
Mit Blick auf die doch auffälligen Unterschiede zum Neuhochdeutschen (insbesondere bezüglich der Produktivität des Funktionsverbs) und zum besseren Vergleich mit den ahd. habēn-Wendungen seien die Typen der tuon/mahh@n-Funktionsverbgefüge in Tabelle 11 ähnlich zu Tabelle 10 zusammengestellt. Tab. 11: Funktionsverbgefüge mit tuon in der HiFoS-Datenbank (types)
tuon
Paraphrase
Vollverb
abantlob
das Abendlob abhalten, das abendliche Stundengebet (Vesper) feiern
—
ablāz
Sünden vergeben, Ablass von Sünden vergeben
alamu(o)sa(n)
Almosen geben, spenden
anarāti
an jm. Verrat begehen, jn. ver- anarāten raten
anaruofti
betteln, jn. anflehen, um Hilfe anaruofan rufen
angust
jm. Angst machen, jn. in die Enge treiben, ängstigen
—
angusten ‚1. intrans. sich ängstigen; 2. trans. jn. ängstigen, in Angst versetzen‘
5.3 Kollokationen | 279
tuon
Paraphrase
Vollverb giangusten ‚jn. bedrängen, ängstigen‘
ārunti
eine Botschaft vortragen, überbringen
ārunt@n, ārunten (nur Gl.)
āswih
jm. Übles antun, Böses zufügen, jn. verraten, verlassen
āswihh@n
bījiht, gijiht
seine Beichte ablegen, beich- (bi)jehan, gijehan (mit Gen., ten Dat. pers., rei)
bīta, bītūn
mit etw. zögern, etw. unterlassen
bītan
brūtlouft
eine Hochzeit bereiten, ausrichten
brūten
bruttī
jm. Schrecken, Furcht einjagen, einflößen
brutten
buoz
jn. heilen, jm. Heilung bringen
bouzen
thank
danken, Dank abstatten
(gi)thank@n
thion@st
Dienst (oft Gottesdienst) abhalten
(gi)thion@n
thiuba
Diebstahl begehen
githiuben
throuuua
jm. drohen
throuuuen
enti
einer Sache ein Ende setzen, etw. beenden
(gi)ent@n
festī(n)
etw. bekräftigen, bestätigen; etw. bewirken
festin@n
frāgūn
eine Frage stellen, fragen
frāg)n
(thia) frist
Gelegenheit, Möglichkeit, An- — lass geben zu etw., etw. zulassen
thia furefart
vorausgehen
gewerī
eine rechtsgültige Einsetzung — eines anderen in einen rechtlichen Status vollziehen
githank
die Gedanken auf etw. richten, sich auf etw. konzentrieren, an etw. denken
~ (gi)thenken
then giheiz
ein Gelöbnis aussprechen
giheizan
gihugt
sich erinnern (mit Gen.)
~ (gi)huggen ‚sich erinnern‘
fur(i)faran (mit Akk.)
280 | 5 Wege der Entstehung mikrostruktureller Formelhaftigkeit
tuon
Paraphrase
Vollverb
zi gihugte
etw. erwähnen (mit uneingeleitetem Nebensatz)
bihuggen ‚bemerken‘
giloubo
jm. etw. versichern, jm. etw. bestätigen
~ gilouben ‚jm./einer Sache Glauben schenken, jm. vertrauen‘
gimuati
jm. eine Wohltat erweisen
—
ginuhtsamī
etw. büßen
# ginuhtsam@n ‚genügen, ausreichen, in Fülle vorhanden sein‘
(ein) girāti
Beschluss fassen
girātan
girida
etw. begehren
—
giriht
rächen, Rache vollziehen, üben
—
(zi) giwurti
sich etw. zur Freude machen
giwurten? (nur Gl.)
gouma
jm. ein Festmahl ausrichten, geben
~ goumen ‚essen, speisen‘
heilī
Rettung (der Seele), Erlösung bringen
heilen
helfa
jm. helfen, jm. beistehen
helfan
irfengida
eine Rückforderung geltend — machen, Recht auf eine Rückerstattung haben
it(a)wīz(ī)
jm. spotten, jn. schmähen, verhöhnen
itawīzen, it(a)wīz@n
eina klaga
etw. klagend äußern
klag@n
(zi) leide
jm. Leid zuführen
—
lioht
etw. erhellen, erleuchten
—
lob
jn. loben
lob@n
(zi) (h)lūtmāri
ausposaunen
—
māri
etw. verkündigen, öffentlich machen, etw. verbreiten
māren
morganlob
das Morgenlob abhalten, das morgendliche Stundengebet (Matutin) feiern
—
n@t
jm. Kummer bereiten, unangenehm sein (mit Dat.)
~ (gi)nōten ‚(mit Gen.) jn. zwingen, nötigen‘
reda
jm. etw. berichten
red@n
redina
sagen, sprechen
redin@n
5.3 Kollokationen | 281
tuon
Paraphrase
Vollverb
reht
Gerechtes tun, moralisch rich- ~ reht@n ‚Gerechtigkeit wiedertig/gerecht handeln fahren lassen‘ (nur N)
(h)riuwa
Buße tun, büßen, etw. bereuen
(h)riuwan, riuw)n, (h)riuw@n
ruohha
sich sorgen um etw., für etw. Sorge tragen
biruahhen (mit Akk.), nur O und Gl.
zi ruohh@n
sich bekümmern lassen durch ruohhen etw.
salunga
eine rechtsgültige Übereignung vollziehen (im Rahmen einer Vererbung, Schenkung)
—
sigelob
das Lob des Sieges verkünden
—
skrank
jn. betrügen
~ screnken ‚fangen, überlisten‘
spenda
etw. austeilen
spent@n
eina sprāh(h)a
sich beraten
sprāhh@n(nur N und Gl.)
s(w)orga
sich sorgen
s(w)org)n (mit Gen.), bis(w)org)n
swuaz(z)ī
schmeicheln
—
sunt(h)a
Sünden begehen, sündigen
—
sculd
Sünden begehen, sündigen
—
triuwa
etw. getreulich erfüllen
trū)n
tr@st
jn. trösten
(gi)tr@sten
twāla
sich verspäten
~ twāl@n ‚sich verzögern‘ (nur N und Gl.) ~ dwāl)n ‚zögern, verweilen‘ (nur O)
ubarwant, ubarwint
jn./etw. überwinden (mit Gen.)
—
urheiz
einen Aufstand/einen Aufruhr — machen
urteil(i)da
ein Urteil vollziehen
urteilen (nur Gl.)
wahha
wachen
wah(h))n
wāra
etw. wahrnehmen, sehen, be- — achten, beobachten, achtgeben
warta
Obacht geben auf etw., etw. hüten (mit Gen.)
wart)n
282 | 5 Wege der Entstehung mikrostruktureller Formelhaftigkeit
tuon
Paraphrase
Vollverb
w)
jn. quälen, schmerzen (mit Dat.)
—
werk
ein Werk vollbringen
(gi)werk@n
widarmuati
jm. Unrecht zufügen
—
willon
seinen Willen durchsetzen, nach seinem eigenen Willen handeln
—
wuntar
Wunder vollbringen
—
zeichan
Wunder vollbringen
—
zuht
jmdn. erziehen
(gi)zuht@n (nur Gl.)
Mit Blick auf das insgesamt selteneVorkommen des unbestimmten Artikels im Althochdeutschen bzw. die häufige Unsicherheit bei der Interpretation des Zahlworts ein als unbestimmter Artikel sind die Beispiele in (39a,b) auffällig. Inwiefern die Wendungen in dieser Form mit dem unbestimmten Artikel lexikalisiert sind, ist schwer zu beurteilen, weil sie in der HiFoS-Datenbank nur jeweils einmal belegt sind: (39a) Vuib ih zellu thir ein . uuaz drifit sulih zi uns zuein | ni quam min zit noh so fram . theih ouge uueih fon thir nam | Sar so thaz irscinit . uuaz mih fon thir rinit | so ist thir allen then dag . thaz herza filu riuag | Thaz thu zi mir nu quati · inti eina klaga es dati | mit gotkundlichen rachon · scal man sulih machon (Otfrid, Evangelienbuch 52v, II 8, 21; ID 29357) Frau‚ ich sage dir nur‚ inwiefern dies uns beide betrifft. Meine Zeit ist noch nicht so weit gekommen‚ sodass ich [jetzt] zeige‚ was ich von dir nahm/habe. Wenn das erst erscheint‚ was mich von dir berührt‚ so wird dir den ganzen Tag das Herz betrübt sein. Weil du nun zu mir sprachst und dich darüber beklagst mit göttlichen Dingen/Argumenten‚ soll man Solches tun. (39b) THie biscofa bi noti · ioh al thaz heroti | thuruh thesa racha · datun eina spracha (Otfrid, Evangelienbuch 109r, III 25, 2; ID 11378) Die Bischöfe und auch die ganze Obrigkeit hielten wegen dieser Angelegenheit sogar/ notwendigerweise eine Beratung ab.
Hingegen ist der bestimmte Artikel thia in (39c) semantisch verblasst und lexikalisiert. Laut AWB (3, 1391) ist furefart an diese Wendung gebunden und kommt jedes Mal mit dem bestimmten Artikel vor. In beiden Kontexten lässt sich der bestimmte Artikel allerdings weder textuell noch semantisch begründen.
5.3 Kollokationen | 283
(39c) Et tu puer p[ro]pheta altissimi uocaberis · prei|bis enim ante facie[m] d[omi]ni parare uias eius · Vnde du chint IO|HANNES du uuirdest keheizen des hohesten uuizego · du | tuost die fureuart · imo ze rechenonne sine uuega (Notker, Cantica 566, 10; ID 26372) Und du‚ Junge‚ wirst Prophet des Höchsten genannt werden‚ du wirst der Gegenwart des Herrn vorausgehen‚ seine Wege bereiten. Und du‚ Kind‚ Johannes‚ du wirst der Prophet des Höchsten genannt werden‚ du gehst voraus und bereitest seine Wege.
Das Gegenbeispiel liegt wiederum in (39d) vor: thaz ist wie in den habēn-Funktionsverbgefügen (29a-c) hier als Demonstrativpronomen zu verstehen, das kataphorisch den Bezug zwischen der Wohltat und dem Ritual der Namensvergabe herstellt: Die Wohltat besteht in der Vergabe eines bestimmten Namens. Die Verwendung des Demonstrativs ist kontextuell abhängig und somit nicht grammatikalisiert und nicht lexikalisiert. Den niedrigen Grad der Lexikalisierung veranschaulicht ferner das Beispiel (39e) mit der Wendung thaz girāti mahh@n ‚einen Beschluss fassen, etwas beschließen‘, die hinsichtlich der Artikelverwendung nicht festgelegt ist und auch die Variation beim Verb zulässt: Sie ist auch in der Form ein girati tuon überliefert. (39d) Got gibit in zi lonon . then selbon namon sconon | ioh duit in thaz gimuati . mit thes namen guati (Otfrid, Evangelienbuch 65v, II 16, 28;ID 23455) Gott gibt ihnen denselben schönen Namen zum Lohn und er tut ihnen die/diese Wohltat durch die Würde des Namens. (39e) Nu thie euarton bi noti . machont thaz girati (Otfrid, Evangelienbuch 114r, IV 1, 1; ID 25762) Nun fassen die Priester schließlich den Beschluss.
5.3.4 Vergleich mit dem Altenglischen Bereits auf der ältesten überlieferten Sprachstufe des Altenglischen beobachten Brinton/Akimoto (1999c) eine relativ hohe Verbreitung der Funktionsverbgefüge (engl. composite predicates), die im Laufe der Sprachgeschichte kontinuierlich steigt. Wie im Deutschen und im modernen Englisch liegt den altenglischen Funktionsverbgefügen das gleiche Muster zugrunde: VERB +SUBSTANTIVdeverb. Der Slot für die verbale Konstituente wird in der Sprachgeschichte wie im modernen Sprachgebrauch durch die gleichen Verben besetzt. Im Englischen sind es die Verben (ge)don, (ge)macian, sellan, giefan, niman und habban, mit don als das
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produktivste Funktionsverb, gefolgt von sellan ‚geben‘, niman und habban. Macian und giefan sind hingegen selten. Mit dem spätereintretenden Verlust an Produktivität bei don tun sich Parallelen zu ähnlichen Entwicklungen bei dt. tuon/ tun auf. Noch bis Ende des 18. Jahrhunderts (Burger 2012a, 14) sind die tuon-Kollokationen im Deutschen frequent und folgen auf die produktivsten hab)n-Belege, bis es zu einer Substitution durch spezifischere Verben kommt. Den Entstehungs- und Verfestigungsprozess bei Funktionsverbgefügen beschreiben Brinton/Akimoto (1999a, 16) und Traugott (1999) im Gegensatz zur älteren Forschung nicht entweder als Grammatikalisierung oder Lexikalisierung, sondern integrativ als einen Prozess, bei dem sowohl Grammatikalisierung als auch Lexikalisierung und Idiomatisierung eine Rolle spielen. In der Gewichtung der drei „treibenden Kräfte“ unterscheiden sich beide Konzepte voneinader. Sie sind in Tabelle 12 einander gegenübergestellt: Tab. 12: Entstehungsprozess der Funktionsverbgefüge (composite predicates) nach Brinton/Akimoto (1999a) und Traugott (1999)
Brinton/Akimoto (1999a, 16)
Traugott (1999, 248–250)
Stufe 1
freie Verwendung aller Konstituenten
phrasale Konstruktionen (semantisch kompositionell und nicht restringiert)
Stufe 2
syntaktische Stabilisierung zwischen dem Verb und dem Substantiv Dekategorialisierung beim Substantiv
Stufe 3
Reanalyse, z.B. [loose] [sight of X] > [loose sight of] [X]
Kollokationen = phrasale Lexikalisierung (präferiertes Kombinationsprofil, Restriktionen bei Kollokaten; teilweise kompositionell)
Stufe 4
Idiomatisierung in eine holistische lexikalische Einheit
Idiome = Idiomatisierung (minimal kompositionell und regulär)
Die Ähnlichkeiten mit der Grammatikalisierung werden in beiden Konzepten wegen der Annahme der Dekategorialisierung bei der substantivischen Konstituente gesehen, die sich etwa im Verlust des Artikels manifestiert. Ähnlich werden die Syntaktisierung mit dem Verb, die Reduzierung syntaktischer Variationsmöglichkeiten sowie der Ausdruck des Aspekts/der Aktionsart als eine der Funktionen dieser Wendungen gedeutet. Das Fehlen der produktiven Regeln, die die Vorhersage erlauben würden, welches Verb sich mit welchem Substantiv (mit oder ohne Artikel, mit oder ohne Präposition) verfestigt, spricht hingegen für die Le-
5.3 Kollokationen | 285
xikalisierung. Die Idiomatisierung liegt vor, weil die Gesamtbedeutung der Funktionsverbgefüge nicht von den Bedeutungen ihrer einzelnen Konstituenten abgeleitet werden kann (vgl. to loose sight, to give an answer). Am deutlichsten ist die Veränderung der Bedeutung von konkret zu abstrakt bei Verben. Den Funktionsverbgefügen im älteren Englisch attestieren Brinton/Akimoto (1999b, 54) und Traugott (1999, 259) übereinstimmend: – einen niedrigeren Grad an Grammatikalisierung, weil sie nicht konsequent zum Ausdruck des Aspekts verwendet werden und mit Simplexverben austauschbar sind, – einen niedrigeren Grad an Lexikalisierung, weil zahlreiche Erweiterungsund Substitutionsmöglichkeiten sowohl bei verbalen, als auch bei substantivischen Konstituenten vorliegen, und – einen niedrigeren Grad an Idiomatisierung, weil altenglische Funktionsverbgefüge semantisch transparent sind.
5.3.5 Zwischenfazit: Verfestigungsprozesse bei Kollokationen (Funktionsverbgefügen) im Althochdeutschen Aus sprachhistorischer Sicht bereitet die in Kap. 5.3.1 angeführte Definition der Funktionsverbgefüge gleich an allen fett hervorgehobenen Stellen Probleme. Wie an Beispielen gezeigt wurde, gestaltet sich zum einen das Verhältnis zwischen dem Funktionsverbgefüge und dem dazugehörigen Vollverb im Althochdeutschen anders als im Neuhochdeutschen. Zum anderen gilt die ‚semantische Leichtigkeit‘ für ahd. Verben als Konstituenten der Funktionsverbgefüge nicht in dem Maße, wie es im Neuhochdeutschen der Fall ist. Das Kriterium der Festigkeit ist auf diese formelhaften Wendungen wie generell auch auf alle anderen historischen Belege nur eingeschränkt anzuwenden.67 Die sprachkritische Einstellung als verpönte Ausdrucksweise muss, wenn überhaupt, ein Produkt der späteren Entwicklung sein, diefür das Althochdeutsche nicht gilt.68 Genauso wie im Altenglischen scheint die Entstehung der Funktionsverbgefüge im Deutschen nicht primär durch das Lateinische beeinflusst zu sein. Sie stellen frequente formelhafte Wendungen dar, deren Mehrwert vor allem in zusätzlichen Ausdrucksmöglichkeiten besteht, sei es lexikalischer oder morphosyntaktischer Art. Die Analyse des ahd. Materials zeigt, dass die Verfestigungsprozesse in diesem Bereich nicht im Entweder-Oder-Modus beschrieben werden || 67 Vgl. dazu Kap. 2.4. 68 Vgl. dazu Kap. 3.
286 | 5 Wege der Entstehung mikrostruktureller Formelhaftigkeit
können, sondern integrativ als das Zusammenwirken der Faktoren, die bei der Grammatikalisierung, Lexikalisierung und Idiomatisierung in Erscheinung treten. Auch im Althochdeutschen sind die meisten Wendungen weniger grammatikalisiert, weniger lexikalisiert und weniger idiomatisch. Zumindest die deutschen Daten liefern aber keine Indizien für die Annahme, dass die Verfestigung so geradlinig verläuft wie von Brinton/Akimoto (1999a,b) und Traugott (1999) für das Englische erarbeitet. So setzt die Entwicklung z.B. nicht immer bei freien Syntagmen an, weil bereits im Althochdeutschen hochgradig idiomatisierte Kollokationen vorliegen. Für die chronologische Abfolge Stufe 1 > Stufe 2/3 > Stufe 4 findet sich in unserem Material keine Evidenz. Vielmehr besteht das Inventar der ahd. Funktionsverbgefüge aus Wendungen, die alle als holistische Einheiten und innerstrukturell (in Bezug auf einzelne Konstituenten) unterschiedlich grammatikalisiert, lexikalisiert und idiomatisiert sind. Die Verfestigung verläuft nach dem Muster (ARTIKEL) + SUBSTANTIVdeverbal+ VERB, das für die Sprachgeschichte genauso wie für die Gegenwart gilt. Es muss aber hinterfragt werden, inwiefern dieses Muster als eine Makrokonstruktion im konstruktionsgrammatischen Sinn verstanden werden kann. Seit Beginn der schriftlichen Überlieferung ist dieses Muster zwar formal fest, es dient aber nicht zum Ausdruck einer bestimmten Bedeutung, sondern mehrerer Bedeutungen. Das Muster ist auch nur auf dieser abstrakten Ebene fest. Seine „Verletzung“ durch Erweiterungen bei konkreten Realisierungen eröffnet Freiraum für Variation und erhöht das Verwendungspotenzial der Wendungen, indem diesen die Beteiligung an den zeitgleich verlaufenden Sprachwandelprozessen ermöglicht wird. Die Fähigkeit, passivische Bedeutungen bzw. modale Einstellungen auszudrücken, deuten in diese Richtung.
5.4 Idiomatische formelhafte Wendungen Einen Bereich, in dem sich die Verfestigungsprozesse als weniger regelhaft gestalten, bilden die Idiome. Zwar lassen sich auch hier die regulären Prozesse beobachten, die für den morphosyntaktischen, lexikalischen und semantischen Wandel im Allgemeinen charakteristisch sind, vorhersagbare Entstehungswege, die z.B. den Grammatikalisierungspfaden ähnlich wären, lassen sich aber kaum ermitteln. Trotz der Tatsache, dass ausgerechnet Idiome aus kontrastiver Sicht viele Ähnlichkeiten aufweisen, scheinen die Prozesse ihrer Entstehung idiosynkratisch geprägt zu sein. Zum Teil spielen hier auch solche Faktoren eine Rolle, die in den gängigen Sprachwandeltheorien nicht berücksichtigt werden. Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, soll dies im Weiteren anhand von vier Beispielen veranschaulicht werden.
5.4 Idiomatische formelhafte Wendungen | 287
Idiome sind im Althochdeutschen weniger produktiv als z.B. Kollokationen. Die HiFoS-Datenbank enthält 334 Einheiten, die sich eindeutig als Idiome (nach Burger 52015, 33) klassifizieren lassen. Allerdings gibt es eine Reihe von Kollokationen, Sprichwörtern und Paarformeln, die ebenfalls das Merkmal der Idiomatizität aufweisen. Ich beschränke mich im vorliegenden Abschnitt auf Idiome im engen Sinn und ziehe aufgrund der niedrigen Frequenz im Althochdeutschen auch die mhd. und die frnhd. Daten heran.
5.4.1 wider/gegen den Stachel löcken Das erste Beispiel ist der im Althochdeutschenin Form einer Glosse singulär vorkommende Beleg (40), der bis in die heutige Zeit als Idiom gegen/wider den Stachel löcken/lecken bekannt ist. In Duden 11 ist das Idiom mit dem Vermerk ‚gehoben‘ und der Paraphrase ‚etwas, was als Einschränkung der persönlichen Freiheit empfunden wird, nicht hinnehmen, sich dem widersetzen‘ versehen. (40) Intendit arcum | ſuu[m]donec infirment[ur]. Got ſpánet ſînen bógen . unz ſiê geuuêi|chent. Er égot ín . unde tuot daz ſiê gehírment. Alſo er ſaulo té|ta . do er chad . QVID ME PERSEQVERIS? uuaz âhtiſt du mîn? DVRV[M] EST TI|BI CONTRA STIMVLVM CALCITRARE. dir i_t herte | uuider garte ze _pórnonne (Notkerglossator, Psalter, 198, 7a; ID 5065) Er spannt seinen Bogen‚ bis sie entkräftet werden.Gott spannt seinen Bogen‚ bis sie schwach werden. Er erschreckt sie und macht‚ dass sie aufhören. Wie er Saulus tat‚ als er sprach: Was verfolgst Du mich? Warum verfolgst du mich? Es ist schwer für dich, gegen den Stachel auszuschlagen. Für dich ist es hart‚ wider den Stachel zu löcken (dich aufzulehnen gegen den Stachel).
Die im Griechischen und Lateinischen geläufige Wendung (Röhrich 72004, 3, 1522; TPMA, 9, 93–9469) ist im älteren Deutsch ausschließlich im biblischen Kontext im Zusammenhang mit dem Bekehrungserlebnis des Saulus bekannt, so auch im Psalter: Dem Christenverfolger Saulus‚ der durch Gottes Berufung zum Apostel Paulus wird, fällt es schwer‚ sich gegen „den Stachel“ aufzulehnen. Mit dem ahd. gart ‚Stachel‘ (AWB, 4, 119; Schützeichel 62006, 130) ist dabei entweder die zur eigenen Gewohnheit gemachte Mehrheitshaltung gemeint‚ gegen die man
|| 69 An dieser Stelle sind im TPMA zahlreiche Belege aus anderen mittelalterlichen bzw. vormodernen Sprachen angeführt, was auf die große Verbreitung der Wendung in den historischen Zeiten hindeutet.
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sich trotz anderer eigener Überzeugung nicht auflehnt‚ oder aber gerade die moralisch richtige Haltung‚ zu der Gott aufruft und die das Gewissen einem auferlegt‚ gegen die man aber aufgrund seiner Gewohnheit verstößt. Seit diesem frühsten Beleg ist die Wendung semantisch irregulär, d.h. idiomatisch; die wörtliche etymologische Lesart70 ist auch im Althochdeutschen nicht greifbar. Das im Althochdeutschen ausschließlich bei Notker und nur dreifach belegte schwache Verb sporn@n ‚sich auflehnen‘ findet sich bereits in den mhd. Belegen nicht wieder: Unter den sechs im TPMA angeführten mhd. Stellen ist die Form wider dem/den garte streben die geläufigste; jeweils einmal sind die Formen geint dem garte spFrnen und in den gart vflecken belegt. Für die Verfestigung der Wendung in der heutigen Form scheint kein regulärer und üblicher Sprachwandelprozess verantwortlich zu sein, sondern der Gebrauch der Wendung durch Luther in seiner Bibelübersetzung. An der Stelle Apost 9,5 heißt es Es wird dir schweer werden wider den Stachel lecken. Dabei ist die Wahl des Verbs erstaunlich, da weder die mhd. noch die fnhd. oder modernen Nachschlagewerke auf die Produktivität des schwachen Verbs lecken in der Bedeutung ‚mit den Füßen ausschlagen, hüpfen, springen‘ zu schließen erlauben.71 Röhrich (72004, 3, 1522) weist darauf hin, dass der Gebrauch des Verbs auf das Mittelhochdeutsche beschränkt ist und Luther wahrscheinlich aus diesem Grund das Verb am Rand mit dem Zusatz „Das ist, springen, hupffen“ erklärt hat.72 Über die Bibelübersetzung findet die Wendung Eingang in zahlreiche sprichwörtliche Sammlungen und Wörterbücher, so ist es in der „Fecunda ratis“, bei Henisch, Kramer, Stieler, Eiselein, Wander und Simrock verzeichnet (vgl. die Belegstellen in DWB, 17, 385).73 Wahrscheinlich begünstigen diese Quellen trotz des archaischen Charakters der verbalen Konstituente und der insgesamt stark verblassten Etymologie die Verfestigung der Wendung bis zu einem gewissen Grad, allerdings wirddas ursprüngliche Lexem lecken im Neuhochdeutschen seit dem 17. Jahrhundert trotz Luthers Wortwahl und trotz der späteren Verwendung bei Lessing und Schiller (DWB, 17, 385; Besch 1999) nicht angenommen. An die Stelle dieser Konstituente
|| 70 Duden 11 notiert unter dem Lemma Stachel: „Mit „Stachel“ ist in dieser Wendung der mit einer Eisenspitze versehene Stock gemeint, mit dem man das Vieh vorantreibt. […] Die Wendung hat also ursprünglich die konkrete Bedeutung ‚gegen den Stock des Treibers ausschlagen‘“. 71 Vgl. das etymologisch verwandte Verb nhd. frohlocken, norw. (mundartlich) lakka ‚auf einem Fuß hüpfen, trippeln‘, schwed. (älter) lacka ‚springen, hüpfen, laufen, rennen‘ mit lit. lė͂kti ‚fliegen, laufen, rennen, stürzen‘, aind. ṛkṣálā ‚Fessel, Fußgelenk bei Huftieren‘, griech. láx (λάξ), lágdēn (λάγδην) ‚mit dem Fuße ausschlagend‘ (DWDS, unter dem Lemma löcken). 72 Vgl. anders mhd. leichen ‚hüpfen, aufsteigen‘, got. laikan ‚hüpfen, springen‘. 73 Maaler (1561, 383r) und Dasypodius (1535, 226r) enthalten zwar das Lemma Stachel, aber nicht dieses Idiom.
5.4 Idiomatische formelhafte Wendungen | 289
tritt das ebenfalls unproduktive, etymologisch nicht geklärte (EWKluge 252012, 564) und an diese Wendung gebundene Verb löcken.74 Laut Korpusanalysen in Stumpf (2015, 514) kommt das Verb zu 93% als Bestandteil dieser Wendung vor.
5.4.2 Perlen vor die Säue (werfen) Der Verfestigungsweg des zweiten Beispiels – des Idioms (41) Perlen vor die Säue (werfen)75 – lässt sich einerseits ebenfalls durch Luthers Einfluss erklären, ist allerdings viel komplexer als bei Beispiel (40). Das Idiom ist heute nicht nur im Deutschen verbreitet, sondern laut Piirainen (2012, 231–235) in vielen anderen europäischen Sprachen und darüber hinaus. Den Verbreitungsradius erklärt Piirainen durch die intertextuelle Motivation des Idioms: Es hat seinen Ursprung in der Bergpredigt im Matthäus Evangelium 7,6. Die biblische Herkunft macht deutlich, warum in der Struktur des Idioms die in der freien Verwendung nicht vorkommenden Konstituenten swines statt pigs im Englischen und zwijnen statt varkens im Niederländischen zu finden sind: Sie wurden aus der Textquelle, einer altertümlichen Übersetzung des Verses Matth. 7,6 „geerbt“ (Dobrovol’skij/Piirainen 2009, 35–36). Auf die Luthersche Bibelübersetzung geht auch die Konstituente Säue im deutschen Beleg zurück; dort heißt es: JR solt das Heiligthum nicht den Hunden geben | vnd ewre Perlen solt jr nicht fur die Sew werffen | Auff das sie die selbigen nicht zutretten mit jren Füssen | Vnd sich wenden | vnd euch zureissen. (Lutherbibel 1534; Matth. 7,6)
Intertextuell ist das Idiom für die meisten Sprecherinnen und Sprecher des Deutschen nicht mehr motiviert, dafür aber metaphorisch VERGEUDEN IST ETWAS WERTVOLLES VOR EIN SCHMUTZIGES/NIEDRIGES TIER WIE SCHWEIN ZU WERFEN und symbolisch (Perle als etwas Wertvolles und Schwein als niedriges, schmutziges Tier). Die Beispiele in (41) stellen eine Auswahl der heute typischen Verwendungskontexte dar, die ich dem DeReKo, dem Leipziger Wortschatzportal und dem DWDS-Korpus entnommen habe. In Bezug auf die Form ist festzustellen, dass
|| 74 Interessanterweise führt Campe noch Anfang des 19. Jahrhunderts (1808, 4, 572) die Wendung mit dem Verb lecken auf und erklärt ausführlich ihre bildliche Grundlage, vgl. „„es wird dir _chwer werden wider den Stachel au lecken“, d.h. ausau_chlagen.“ 75 Vgl. die umfangreiche Literatur zu diesem Idiom und seinen ikonographischen und theologischen Traditionen zuletzt in Piirainen (2012, 231–235). Vgl. außerdem Filatkina (2013; 2014), Gottwald/Hanauska (2013b).
290 | 5 Wege der Entstehung mikrostruktureller Formelhaftigkeit
diese stark spezifiziert ist, dahingehend, dass alle lexikalischen Slots fest besetzt sind. Insgesamt scheint mir die Kontextualisierung heute nach dem zugrunde liegenden Muster (41) präferiert zu sein. Im Kern des Idioms Perlen vor die Säue ist weder die lexikalische noch die grammatische Variation möglich. Die Substitution schmeißen statt werfen kommt in der gesamten Belegmenge einmal vor. Die verbale Konstituente werfen kann allerdings passivisch verwendet werden (41a) oder komplett fehlen (41b,c). Verwendungen wie in (41d,e) kommen nicht signifikant oft vor. Beispiel (41e) demonstriert zusätzlich die Möglichkeit der syntaktischen Erweiterung durch eine Nominalphrase mit Präposition in der Funktion eines Objekts. (41) Etwas (S/NP/Inf.)V(ist/wäre/bedeutet/halte ich für) Perlen vor die Säue (geworfen/zu werfen) (41a) Hier werden musikalische Perlen vor die Säue geworfen. (41b) Für die Meißelfunktion kann auch ein Billiggerät verwendet werden. Für diese Klopperei ein teueres Markengerät mit Drehstopp einzusetzen, halte ich für ‚Perlen vor die Säue‘. Mir wäre ein solches Gerät dafür zu schade. (41c) Die Elektor-Module an Conrad-Chassis anzuschließen, ist Perlen vor die Säue. (41d) Künstler haben das Recht, es auszusprechen, wenn sie das Gefühl haben, Perlen vor die Säue zu werfen. (41e) […] und die in Hundertschaften herangekarrten Kulturschaffenden sind es leid, ihre Perlen vor die Säue, bzw. vor leere Stuhlreihen zu werfen[…].
Wie die Form ist auch die Bedeutung fest; die Wendung ist idiomatisch im semantischen Sinn: Vergeudung, Verschwendung werden als Werfen von einem wertvollen Gegenstand vor ein Tier, das es nicht zu schätzen wissen kann, versprachlicht. Die Bedeutung ist gleichzeitig auch weit, weil eine beliebige Tätigkeit als Verschwendung mit dem Idiom kommentiert werden kann. Im gegenwärtigen Sprachgebrauch ist das Beispiel auf umgangssprachliche Kommunikationssituationen eingeschränkt. Zum nhd. Idiom Perlen vor die Säue (werfen) liefert die HiFoS-Datenbank 33 Belegstellen aus der Zeitspanne 9.-16. Jahrhundert. Dabei enthält diese Liste kaum Belege mit gleicher morphosyntaktischer Form bzw. gleicher lexikalischer Besetzung, vgl. die Auswahl in (41f-m): (41f) ſithor mah | hie mid iſ lerun uuerthan helithon te | helpu ſithor hie ina hlutteran uuet | Sundiono ſicoran ne ſculun gi ſuinon | teforan iuuua meri griotun macon | eftha methmo giſtriuni helag halſ | meni huand ſia it an horo ſpurnat | ſuiliuuat it an ſande
5.4 Idiomatische formelhafte Wendungen | 291
niuuitun ſubreſ | giſceth fagarero fratoho Sulic ſind | hier folc manag thia iuuua helag | uuord horean niuuilliat (Heliand 49r, 11; ID 5782) (41g) Nolite dare sanctum canibus. | neque mittatis margaritas uestras | ante porcos.’ ne forte conculcent eas | pedibus suis. et conuersi | disrumpant uós Nicuret heilagaz geban hunton | noh nisentet íuuara merigrozza | furi súin. min odouuan furtreten sie | mit iro fuozun Inti giuuentite | zibrehhent Iuuih (Tatian 72, 9 Mt; ID 12381) (41h) Si wellent daz daz iht witze sîn | swer rôtez golt under diu swîn | werfe und edel (ge)steine | des vreuwent si sich doch kleine | si wâren ie vür daz golt | der vil trüeben lachen holt | dâ bewellent si sich inne (Wirnt von Grafenberg, Wigalois, 1204, 75; ID 18019) (41i) Der wirt beroubet ûf der strâzen | Sô diu sêle den lîp muoz lâzen | Daz er dort in sînes vater lant | Niht kumen tar âne schœn gewant | Frâz hôchfart und gîtikeit | Brâhten uns von êrste in arbeit | Sô machte Kâîn durch nît und haz | Mit bluote sînes vater muoter naz | Do er Âbeln sînen bruoder sluoc | Der traz hât noch geverten genuoc | Des slangen rât und Êven tât | Brâhte alle die werlt in missetât | Des klaget meister Hugewitze | Daz zuht scham kunst und witze | Fleischlichem geluste entwîchen müezen | Und under der gîtikeit füezen | Ligen als vor swînen edel gesteine (Hugo von Trimberg, Der Renner, 1290-1300, 6305; ID 18039) (41j) Mit diesem peispil da/ sing ich von groben läuten | die zuht vnd er verneuten/ Wer nu dieselben sein | Der namen nenn ich kein/ sie uinden sich wol selber | die vnuerschempten kelber/ selb werden offenbär | Zwar/ sicher es ist wour*/ Wer würffet für die swein | muschgot vnd negelein/ den gleich ich einem toren | für war es ist uerloren/ wer singet oder seit | Zuht er vnd hupischkeit vor manchem groben leffel | der seinen wüsten deffel / rihtet vff pös gespey (M. Beheim, vor 1474-8, 230; ID 18031) (41k) ez habent auch andreu | kräuter gar wunderleicheu werch sam patönigekraut und | eisenkraut‚ daz ze latein verbena haizt. iedoch schol man | in diu kniel decken in disem strâzenlaufær‚ wan ez waer | niht tugentleich getân‚ der die halichait für die hunt | würfe und der daz edel gestain under der swein füez | würfe : zwâr‚ daz wær unpilleich. ich waiz daz wol‚ daz | liebeu kint selten prôt handelnt‚ dâ reis den hunden | etwaz von und andern zuckern (Konrad v. Megenberg, Buch der Natur, 13481350, 380, 22; ID 18026) (41l) Doch wæn er selten gesiget‚ | Der des alle wege pfliget‚ | Daz er sin swert ziehe | Und dâ mit wider vliehe‚ | Ê er deheinen slac gesleht. | […] Dâ wirt diu gimme in den mist | Getreten âne gewizzen (Diu Crône 26; ID 18041)
292 | 5 Wege der Entstehung mikrostruktureller Formelhaftigkeit
(41m) Idt is niet geborlich tzo werpen die edel Perlen vur die vercken. | Selich syn sy/ die die gauen zo werck setzen die yn got gegeuen hait ind dae mit gewynnen noch mere (Koelhoffsche Chronik 312v, 5; ID 15737)
Von Variation betroffen ist im Gegensatz zum gegenwärtigen Gebrauch des Idioms vor allem die erste substantivische Konstituente Perlen, die in den ältesten Belegen aus Heliand und Tatian, aber auch in den mhd. und fnhd. Texten als merigriotun/merrigroze/margariten ‚Margarite, Perle‘ vorkommt. Ab der mhd. Zeit ist die Substitution durch andere semantisch verwandte Lexeme möglich, so etwa durch rôtez golt und edel gesteine, edel gestain, muschgot vnd negelein, durch schöne rosen (in Kombination mit Perlen), durch das semantisch Abstraktere dat gude und durch diu gimme. Möglich ist auch die Erweiterung durch das adjektivische Attribut edel. Mit der Variation bei der Konstituente Perlen ist das Variationspotenzial noch nicht ausgeschöpft: Auch die zweite substantivische Konstituente – heute Säue – variiert zwischen giſuinon (ohne Artikel), swîn, diu swîn (hier allerdings reimbedingt), die schwein füez, die Säue, Schweine und Hunde, mist oder die vercken. Das gleiche gilt auch für die verbale Konstituente werfen; und selbst die Präposition für kann anders besetzt sein bzw. wegen des Vorkommens des präfigierten Verbs vorwerfen fehlen. All diese Beispiele veranschaulichen einen schwächeren Grad an Lexikalisierung in der Diachronie sowie synchron auf den historischen Sprachstufen des Deutschen. Sie zeigen ein Nebeneinander von Varianten mit unterschiedlicher Komponentenzahl, externer Valenz, die topologische Variation sowie morphologische, grammatische und lexikalische Variation. Auch die syntaktische Einbettung in Kontexte fällt im diachronen Vergleich anders aus als heute, sodass im Gegensatz zum gegenwärtigen Gebrauch nicht ein zugrunde liegendesMuster angenommen werden muss, sondern gleich mehrere im Sinne einer Konstruktionsfamilie (vgl. 42a bis 42f). Während die Patterns (42a) bis (42c) in der Tat eine Grundlage für die Entstehung ähnlicher Belege nach dem gleichen Schema bilden, sind die Muster (42d) bis (42f) singulär belegt. (42a) MAN SOLL NICHT/ES GEBÜHRT SICH NICHT + S(Pl/Sg (DefArt)) + (PRÄP) + DEFART(dat/Akk) + SCHWEINE/SÄUE/HUNDE + V(zu+Inf.) S: merrigriotun, die berli, schöne Rosen, das Gute, die edel Perlen V: hinzuzufügen, vorzuschütten, zu werfen (42b) NEGVIMP(ni sentet/werfet) + S + PRÄP + (DEFART) + SCHWEINE/SCHWEIN S: merrigriotun (42c) WER + (ADJ.) + S(Pl/Sg) + PRÄP + DEFART + SCHWEINEWERFE/WÜRFE, DER […] Adj.: rotes
5.4 Idiomatische formelhafte Wendungen | 293
Präp.: unter, für S: Gold, edel(ge)steine, edelgestein, Muskat und Nelken (42d) ETWAS(SPl) + LIGEN + ALS VOR SWÎNEN EDEL GESTEINE (42e) Dâ wirt diu gimme in den mist getreten (42f) die halichait für die hunt werfen und daz edel gestain under der swein füez werfen
All diesen Mustern liegt das gleiche mentale Bild zugrunde, nämlich die Vorstellung, die metaphorische Motivation, dass es eine Vergeudung ist, einen wertvollen Gegenstand vor niedrige Tiere zu werfen. Nur dieses mentale Bild bleibt im Verlauf der Geschichte konstant, wird aber sprachlich unterschiedlich realisiert und schließlich im Gegenwartsdeutschen nach einem wieder anderen syntaktischen Pattern fixiert. Angesichts der anders als heute gelagerten syntaktischen Einbettung und einer ausgeprägten semantisch-pragmatischen Komponente ‚Vermittlung der Moral, Belehrung‘ ist es für die älteren Stufen schwierig, die Wendung als Idiom zu bezeichnen. Es ist eher ein Sprichwort, eine Sentenz. Sprichwörter, feste Phrasen und Sentenzen dienen in der Diachronie oft als Ausgangsbasen für spätere Idiome. Auch die Bedeutung des Idioms Perlen vor die Säue werfen verändert sich im Laufe der Geschichte. Am deutlichsten sieht man den Wandel von nicht idiomatischer zur stark idiomatischen Verwendung mit opaker Motivation bzw. eine tiefgreifende Veränderung von (figurativer) Bedeutung 1 zu (figurativer) Bedeutung 2, aber solche Fälle sind nach den Ergebnissen des HiFoS-Projekts eher selten. Und Perlen vor die Säue werfen gehört nicht zu diesen Beispielen. Nichtsdestotrotz ist die Bedeutung der Wendung im Laufe der ganzen Geschichte einem Wandel unterworfen. Anhand der Kontexte aus dem gegenwärtigen Gebrauch kann die heutige Bedeutung als ‚etwas Wertvolles dem anbieten, der es nicht zu würdigen versteht‘ paraphrasiert werden. Betrachtet man die stilistische Konnotation und die pragmatische Funktion auch als Teil der Bedeutung, so fällt auf, dass die Wendung heute überwiegend umgangssprachlich und als Kommentar für eine sinnlose Handlung jeder Art verwendet wird: ‚Dies und jenes zu tun, wäre genauso sinnlos, wie wenn man Perlen vor die Säue werfen würde‘. In den ältesten deutschen in der Bibeltradition stehenden Texten (41f) und (41g) ist die Verwendung des Idioms stark durch seine Herkunft bestimmt. Wie in der Bergpredigt ist in Tatian und Heliand mit Perlen ausschließlich die Lehre Gottes, die heilige Lehre gemeint. Es heißt, dass man sie nicht bei Menschen vergeuden soll, die ihren Wert nicht zu schätzen wissen, denn es wäre sinnlos. Nur diese Handlung wird als sinnlos betrachtet. Die Wendung ist – soweit man das anhand
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zweier erhaltener Belege beurteilen kann – seit Beginn der deutschen Überlieferung idiomatisch und in ihrem Bezug auf Gottes Lehre an religiöse Kontexte gebunden. Das letztere schließt natürlich den Gebrauch in profanen Kontexten auch im Althochdeutschen prinzipiell nicht aus, allerdings findet sich im u.a. die gesamte ahd. Textüberlieferung umfassenden HiFoS-Korpus kein Beweis dafür. Die biblische Herkunft erlaubt nicht, die Wendung als umgangssprachlich zu bewerten; sie kommt eher in belehrenden, didaktischen Aussagen Man soll nicht [...] vor. In dieser Bedeutung begegnet die Wendung reichlich auch im Mittelhochdeutschen. Vermutlich seit Beginn des 13. Jahrhunderts ist der erste Bedeutungsschub zu beobachten: Im ‚Wigalois‘ des Wirnt von Grafenberg (41h) steht die Wendung im Prolog und bezieht sich nicht mehr auf die Lehre Gottes, sondern auf die Lehre des Autors, die er mit seinem Werk vermitteln möchte. Im Prolog bittet der Autor um Nachsicht für sein Werk und dessen aufmerksame Aufnahme, denn er will es nicht umsonst schreiben: Es wäre genauso unklug, wie wenn man Perlen und Edelsteine unter die Schweine werfen würde. Eine weitere Bedeutungserweiterung erfährt die Wendung im ‚Renner‘ gegen Ende des 13. Jahrhunderts (41i). An dieser Textstelle (nicht mehr im Prolog) werden die Laster aufgezählt‚ die dem Menschen Leid und Not gebracht und seine Vertreibung aus dem Paradies bewirkt haben. Dabei stellt der Autor fest, dass wertvolle Eigenschaften wie edle Bildung/Erziehung (zuht), Scham (scham), Wissen (kunst) und Weisheit (witze) den fleischlichen Bedürfnissen Raum gegeben haben und der Habsucht zu Opfer liegen wie Edelsteine vor den Schweinen. Eine Bedeutungserweiterung liegt hier insofern vor, als unter Wertvollem nicht mehr eine Lehre verstanden wird, sondern menschliche Tugenden. Der Bezug auf Tugenden bleibt bis ins 15. Jahrhundert hinein zentral: Bei Michel Beheim (41j) lesen wir z.B., dass ungeschlachte Menschen, die Bildung und Ehre ablehnen, mit Tieren wie Kalb, Esel oder Schwein verglichen und als Tore bezeichnet werden müssen. Wer sie ausbildet und erzieht, ist einem Toren gleich, der Schweinen Muskat und Nelken als teure, wertvolle Gewürze vorwirft. Bereits ab der Mitte des 14. Jahrhunderts ist mit dem Wertvollen auch das Wissen gemeint. So schreibt Konrand von Megenberg (41k) in seinem ‚Buch der Natur‘, dass das Wissen über Kräuter in einem „Straßenläufer“, einem Buch‚ das der Allgemeinheit zugänglich ist, geheim gehalten werden soll, weil es dafür zu schade ist. Die heutige Bedeutung des Idioms Perlen vor die Säue werfen ist somit das Ergebnis einer Bedeutungserweiterung in kleinen Schritten, die ihre Anfänge im 13. Jahrhundert hat. Die Bedeutungserweiterung geht einher mit den Änderungen in der Textsortenpräferenz, die sich darin manifestiert, dass die (eventuell
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überlieferungsgeschichtlich bedingte) Verbreitung in religiösen Kontextenüber den Verlust des semantischen Slots ‚Gottes Lehre‘ durchbrochen wird zugunsten der profanen. Diese Trennung ist für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit sehr schwierig, aber in Bezug auf die angeführten Kontexte lässt sie sich m.E. durchführen. Die Bedeutungserweiterung wird bei diesem Idiom aber auch durch den deutlichen Übergang vom gehobenen ins umgangssprachliche Stilregister begleitet, der nach den Ergebnissen des HiFoS-Projekts für die diachrone Dynamik der formelhaften Sprache genau in dieser Richtung prägend ist. Die Bedeutungserweiterung ist möglicherweise durch die Verdunklung der kulturhistorischen Grundlage zu erklären, die wie oben bemerkt in der Intertextualität besteht, und konkret darin, dass das Idiom aus der Bergpredigt des Matthäusevangeliums, die Jahrhunderte hindurch, bis in die allerjüngste Zeit, einen herausragenden, äußerst bekannten Text darstellte. Die Theorie des bildlichen Lexikons (Conventional Figurative Language Theory) geht von der Annahme aus, dass die bildliche Grundlage ein wichtiges Element des Inhaltsplans figurativer Einheiten ist und Auswirkungen auf die Verwendung der Idiome, d.h. auf ihre lexikalisierte figurative Bedeutung, hat (Dobrovol’skij/Piirainen 2009, 183). Die Analyse des Wandels beim Idiom Perlen vor die Säue werfen erlaubt die Vermutung, dass diese Annahme auch für die Diachronie der Entwicklung gilt und selbst dann greift, wenn die kulturhistorische Grundlage in der Intertextualität (und nicht nur in der synchron motivierbaren, auf der bildlichen Vorstellung basierenden wörtlichen Lesart) besteht. Wie oben gezeigt, hat die biblische Herkunft die ursprüngliche Verwendung des Belegs nur in Bezug auf die Lehre Gottes motiviert. Vermutlich sind sich die meisten (besonders kulturhistorisch nicht gebildeten) Muttersprachlerinnen und Muttersprachler des Deutschen der biblischen Herkunft nicht mehr bewusst. Hier findet also ein Wandel statt, der im Verblassen der kulturhistorischen Grundlage besteht und der m.E. eine Reihe von Konsequenzen mit sich zieht. Zum einen kann die Bedeutungserweiterung im Verblassen der Motivationsgrundlage ihren Ursprung haben: Je weniger bewusst die biblische Herkunft ist, desto uneingeschränkter ist der Kreis der Gebrauchskontexte. Es ist unwahrscheinlich, dass die These über das verblasste Bewusstsein der biblischen Herkunft für das Mittelalter und die frühe Neuzeit genauso wie für heute gelten kann. Allerdings beobachten wir seit dem 13. Jahrhundert den Verlust des Bezugs auf die Lehre Gottes und den Übergang der Wendung aus den Texten in zahlreiche Kunstwerke (etwa das Simultangemälde von Pieter Bruegel dem Älteren ‚Der Blaue Mantel‘, 1559 oder sein aus 12 Tafeln zusammengefügtes Werk ‚Zwölf Sprichwörter‘, 1558, um nur zwei bekannteste zu nennen), die didaktische Funktionen in einem nicht unbedingt theologischen Kontext bzw. gar keine didaktischen Funktionen hatten und auf denen nicht die Perlen,
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sondern die Blumen (Margeriten oder Rosen) geworfen werden – wohl basierend auf den Missverständnissen der griechischen und lateinischen biblischen Vorlagen in den Volkssprachen.76 Dieser Übergang kann den später ansetzenden Wandel im Bewusstsein beeinflusst haben. Zum zweiten kann der Wandel der kulturhistorischen Grundlage Auswirkungen auf die Form der Wendung gehabt haben. Oben wurde erwähnt, dass es im diachronen Schnitt 33 Belegstellen mit dieser Wendung gibt. Einige davon sind lexikalische Varianten, in denen die Konstituente Perlen durch andere semantisch verwandte Konstituenten substituiert worden war, z.B. Edelsteine oder gimme. Nimmt man an, dass diese Art von Substitution keine okkasionelle Modifikation ist, so ist sie nur möglich, wenn die kulturhistorische Grundlage opak wird. Den beschriebenen mehrschichtigen Verfestigungsweg des Idioms Perlen vor die Säue (werfen) veranschaulicht zusammenfassend Abbildung 14. Dass die Kodifizierung der Wendung in sprichwörtlichen Sammlungen und Wörterbüchernbei der Verfestigungeine geringe Rolle spielt, wurde bereits in Kap. 4.1.1 gezeigt. In den zeitgenössischen Wörterbüchern (Maaler, Dasypodius, Kiliaan; Chytraeus)fehlt die Wendung ganz, obwohl Dasypodius (1535, 126v) das Lemma Margarita, Ein b(rle enthält und dieses mit Verwendungsbeispielen illustriert. Die Quellen des 17., 18. und 19. Jahrhunderts (Campe, Stieler, Petri, Sanders) führen entweder implizit und unkommentiert die Varianten der Wendung an oderbieten das Idiom in der Form dar, in der es heute gerade nicht üblich ist (vgl. Kap. 4.1.1).
|| 76 Das Vorkommen der Konstituente Perlen für margaritas hat die Forschung auf eine Tradition der byzantinischen Kirche zurückgeführt, in der das heilige Brot, als kleine Brocken zerkrümelt, margaritas genannt wurde und das Neugriechische Perlen und Brotkrümel immer noch mit demselben Begriff bezeichnet (Röhrich 72004, 1148). So wäre die Bibelstelle sinngemäß zu interpretieren als ‚Wirf nicht den Hunden das geheiligte Fleisch und den Schweinen das geheiligte Brot vor‘. Zu Missverständnissen bzw. falschen Übersetzungen von griech. μαργαρίτης ‚Perle‘ über lat. margarīta ‚Perle‘ durch die mittelalterliche volkssprachliche Margerite als Blume vgl. auch Piirainen (2012, 231) und Mokienko (2011).
5.4 Idiomatische formelhafte Wendungen | 297
Abb. 14: Verfestigungsprozess des Idioms Perlen vor die Säue (werfen)
5.4.3 nach jemandes Pfeife/Geige tanzen Auch das dritte Beispiel – das Idiom nach jemandes Pfeife/Geige tanzen mit der Bedeutung ‚alles tun, was jemand von einem verlangt; jemandem gehorchen‘– stellt im gegenwärtigen Deutsch eine hochgradig lexikalisierte und verfestigte Wendung dar. Laut Piirainen (2012, 447–448) gehört es zu den weltweit verbeiteten Idiomen. Die Recherchen im DeReKoführenzu ca. 160 Treffern aus der Zeitspanne 1960 bis 2007. Die in den idiomatischen Wörterbüchern des Deutschen verzeichnete lexikalische Variante nach jemandes Geige tanzen kommt hingegen nur dreimal vor. Die Leerstelle jemandes wird in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle mit Possessivpronomina bzw. Personennamen besetzt, in acht Fällen kommen Adjektive in Possessivbedeutung vor (z.B. nach amerikanischer/orientalischer/schwarzer (im Sinne der Parteizugehörigkeit) Pfeife tanzen). Für Österreich und die Schweiz veranschaulichen drei Belege die Möglichkeit der Besetzung der Leerstelle durch den Artikel (nach der/einer Pfeife tanzen). Die substantivische Konstituente Pfeife erweist sich als konstant und stabil; die verbale Konstituente
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tanzen wird (eingeschränkt auf Präsens) flektiert. Korpusanalysen veranschaulichen außerdem die Möglichkeit des Aktionsartwechsels: jemanden nach jemandes Pfeife tanzen lassen. Der Ursprung der Wendung wird entweder in der Aesopschen Fabel „Der Fischer mit der Flöte“ (Röhrich 72004, 2, 1161) oder im biblischen neutestamentarischen Kontext (TPMA, 11, 268–269) vermutet. In der Fabel versucht ein Fischer, zunächst durch Flötenspiel die Fische an sich zu locken. Nach vergeblichen Versuchen greift er zum Netz, schleudert es ins Wasser hinab und fängt viele Fische. Nachdem er sie aus dem Netz auf den Strand geworfen hat und zappeln sieht, sagt er: (43a) „Ω κάκιστα ζὦα, ὔμετς, ӧτε μέν ηὔλουν, ούκ ὦρχεἶσθε νῦν δε, ὄτε πέπαυμαι, τοῦτο πράττετε (Aesop 27, zitiert nach TPMA, 11, 269) Oh, ihr slimmsten Lebewesen, als ich auf der Flöte spielte, tanztet ihr nicht, jetzt aber, da ich aufgehört habe, tut ihr es.“
An der entsprechenden biblischen Stelle wendet sich Jesus an seine Zeitgenossen und vergleicht sie mit Kindern, die auf dem Markt herumsitzen und sich gegenseitig zurufen: (43b) Dicunt: Cecinimus vobis, et non saltastis – Sie sagten: „Wir haben euch gesungen, und ihr habt nicht getanzt“ (Vulg. Matth. 11,17) Vnd sprechen, Wir haben euch gepfiffen, Vnd jr woltet nicht tantzen (Lutherbibel, ebd.) Cantavimus vobis tibiis, et non saltastis – Wir haben euch auf den Flöten gespielt, und ihr habt nicht getanzt (Vulg. Luc. 7,32) Wir haben euch gepfiffen, und jr habt nicht getantzet (Lutherbibel, ebd.)
Wie die Belege zeigen, geht die Wendung nur in ihrer bildlichen Grundlage auf die zitierten griechischen und lateinischen Quellen zurück. Über den weiteren Verfestigungsprozess beim Übergang ins Deutsche lässt sich nichts sagen, denn die Wendung ist nach dem heutigen Kenntnisstand erst ab dem Mittelhochdeutschen greifbar, vgl. die Belegauswahl aus TPMA (11, 268–269) in (43c-o):
5.4 Idiomatische formelhafte Wendungen | 299
(43c) mich hât daʒ rîche und ouch diu krône an sich genomen! Wol ûf, swer tanʒen welle nâch der gîgen (Walther v. d.Vogelweide, 19, 37, vor 1230) (43d) Und must am lesten tantʒen als die von zwürch pfiffen (Justinger, Berner Chron. 339, 207, 20; 1420–30) (43e) Vor dich, vor dich, vordencke mich nicht, Noch deyner pheyffe tantʒe ich nicht (Prov. Frid., 131; 2. H. 15. Jh.) (43f) Went gy moten na myner pypen springen (Totentanz, 20; 1463) (43g) Went se hebben ... noch myt leve noch myth pranghe Nummende konen darto brynghen, De de wil na erer pipen springhen (Redentiner Ostersp., 1464; 1214) (43h) He moste al na syner pypen dantzen (Hagen, Helmst. Chron. 162, S. 119; 1491) (43i) He heft leeff den ... de so dantʒet, alze he vore synget (Reinke Vos, 3893; 1498) (43j) Der gemein man můß im nach tantzen, wie er pfeiffet (Geiler, Brösamlin, I, 59d; 1517) (43k) De na der horen pypen danset, de is der schmede vry. Depudet, obsequitur scorto quicunque bilingui (Tunnicius, 645; 1513) (43l) Tantʒen nach irer alten geigen (Sachs VI, 381, 33; 1523) (43m) Du dantʒt nach deyner alten geygen (Sachs IV, 46, 27; 1534) (43n) Alls ir mir vor tancʒt, also sol ich nach springen (Füetrer, Lanzelot, 152; um 1467) (43o) Mer laist vns niet de | min die wile in huden syn ind niemans van vns engee alleyn vnder Sy. laist vns samen | gain mit houffen/ off dan vns yemans woulde moitwilligen . so moege wyr de[m]wedersta[n]t | doyn . want vur wair . geviel idt alsus dat Sy vnser meister wurde[n] dat wyr nae yr pijf|fen dantzen moisten wyr weren doit ind verdreuen. (Koelhoffsche Chronik, 225v, 35; 1499; ID 14184)
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Vom ersten deutschen Beleg bei Walther von der Vogelweide bis in die 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts hinein ist das heute eher umgangssprachliche Idiom vielfältig in der Chronistik, in einem Totentanz, in einem geistlichen Spiel, in der didaktischen Literatur, in Predigten und satirischen Werken überliefert. Die Verwendung in der Bibel sowie die vielfältige Visualisierung durch das Motiv der auf dem Zeigefinger eines Mannes „tanzenden“ Welt (vgl. exemplarisch Bruegels Simultangemälde „Die Niederländischen Sprichwörter“) begünstigen die Verbreitung bereits im Mittellater und in der Frühen Neuzeit. Die Wendung findet Eingang in vier parömiologische Sammlungen mit Autoritätsstatus (43e, k-m), was möglicherweise auch zu ihrer Bekanntheit beigetragen hat und auf die Zugehörigkeit der Wendung zu einem gehobenen Stilregister schließen lässt. Ich bezweifle allerdings auch hier, dass diese Sammlungen einen Einfluss auf die Verfestigung haben, denn sie überliefern die Wendung in den jeweils unterschiedlichen Formen und mit Ausnahme von (43e) auch in den Formen, die vom heutigen Gebrauch abweichen. Lediglich bei Stieler (1691/1968, II, 1438) findet sich der Eintrag Du soll_t mir _chon nach meiner Pfeife tanaen lernen; Campe (1808, 3, 618) notiert Nach eines Anderen Pfeife tanaen mF__en ‚_ich nach _einem Willen bequemen mF__en‘; die lexikalischen Varianten mit Geige oder Flöte fehlen. Bei der Konstanz der aktuellen Bedeutung ‚alles tun, was jemand von einem verlangt; jemandem gehorchen‘ und der seit Beginn der Überlieferung vorliegenden Idiomatizität bleiben die morphosyntaktische Struktur und lexikalische Besetzung bis hin zu Hans Sachs und über ihn hinaus beweglich. Auch wenn bei diesem Beispiel die Variationsvielfalt nicht in dem Maße wie beim Idiom Perlen vor die Säue werfen festgestellt werden kann, veranschaulichen die Beispiele (43c-o) doch die lexikalische Variation im Bereich der substantivischen und verbalen Konstituenten (z.B. die Substitution pfeife durch geige bzw. durch den Nebensatz wie er ihm vorsingt, wie er pfeift; tanzen durch springen oder die Erweiterung der Struktur durch Adjektiveinschub) sowie die morphosyntaktische Variation (die Negation oder die heute zumindest für den binnendeutschen Sprachraum untypische Null-Besetzungder Leerstelle jemandes). Auch wenn das Idiom nach jemandes Pfeife/Geige tanzen in erster Linie bildlich (und nicht formal) auf die Äsopsche Fabel bzw. die neutestamentarischen Evangelien zurückgeht, ist die Herkunft in diesem Fall für die Verfestigung und die Ausbreitung verantwortlich. Dafür könnte auch die Tatsache sprechen, dass die Wendung selbst in den Sprachen vorliegt, in denen man keine Anklänge an neutestamentarische Zitate vermuten würde. Filatkina/Kleine/Münch (2010, 237) führen zwei Belege aus dem westjiddischen Stanzenroman „Paris un‘ Wiene“ von (oder aus dem Umkreis von) Elija Levita, gedruckt im Jahr 1594, und einer idiomatischen Sammlung für das moderne Jiddische an. Zwar kann die Wendung in
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den jiddischen Stanzenroman aus der italienischen Vorlage gelangt sein, doch mussten sein Schöpfer und sein Publikum sie im Jiddischen kennen, damit das Verständnis der Stelle funktionieren konnte.
5.4.4 etwas auf dem Kerbholz haben Beim vierten Beispiel – dem Idiom etwas auf dem Kerbholz haben ‚etwas Unerlaubtes, Unrechtes, eine Straftat o.Ä. begangen haben‘ (Duden 11,408) – kann die Intertextualität nicht als Faktor betrachtet werden, der für die Entstehung, Ausbreitung und Verfestigung der Wendung entscheidend ist. Etymologisch handelt es sich hier um eine bildliche Grundlage aus dem Bereich der antiken Rechnungsführung. Laut DRW (7, 761–762), HRG (II, 223–225 und 701–703), Röhrich (72004, 2, 831–833) und DWB (11, 564) war das Kerbholz ein Holzstab, der vor der Einführung schriftlicher Rechnungslegung auf dem gesamten Territorium des heutigen Europa als das wichtigste Mittel der Aufzeichnung von Lieferungen und Arbeitsleistungen, ein Mittel der Buchführung diente und der sich in ländlichen Gegenden unter Bauern und Handwerkern bis ins 19. Jahrhundert hinein gehalten hat (Schmidt-Wiegand 1978, 702). In den Holzstock wurden Kerben unterschiedlicher Länge eingeschnitten, eingeritzt, eingefeilt, eingesägt bzw. eingebrannt, die unterschiedliche erbrachte Leistungen repräsentierten und als Zahlungserinnerung fungierten. Nach der erfolgten Zahlung wurden sie mit Messer, Hobel oder Feile beseitigt. Mir ist nicht bekannt, dass dieser Brauch trotz seiner Verbreitung in modernen Sprachen außer dem Deutschen Spuren in Form von idiomatischen Wendungen hinterlassen hat.77 Im Deutschen ist sowohl die textuelle als auch die lexikographische Überlieferung dünn besetzt. Laut HiFoS-Daten begegnet die Wendung erstmals 1512 in Thomas Murners ‚Schelmenzunfft‘; die zeitgenössische Überlieferung beschränkt sich auf diesen Text (Filatkina 2012).78 Die Tatsache, dass Murner diese Wendung aufnimmt, darauf ein ganzes Kapitel seiner Gesellschaftssatire aufbaut || 77 Das entsprechende Lemma fehlt im TPMA ganz, alle anderen konsultierten historischen und modernen Wörterbücher verzeichnen keine Wendungen mit der gleichen bildlichen Grundlage, vgl. für die modernen Sprachen Engl. to have something to answer for, to have blotted oneʼs copybook; Frz. ne pas avoir les mains blanches; Span. no tener la conciencia limpia, haber cometido un delito; Russ. иметь рыльце в пушку, иметь что-ли́бо на совести. 78 In zwei Kapiteln Thomas Murners ‚Narrenbeschwörung‘, auf die ‚Die Schelmenzunfft‘ in großen Teilen zurückgeht, wird ebenfalls das Bild eines edlen adligen Betrügers benutzt, vgl. Kap. 73 Vß einem holen hafen reden und Kap. 55 Under dem hietlin spilen; das hier zur Analyse vorliegende Idiom fehlt aber in den beiden Kapiteln.
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und sie innerhalb eines Kapitels in zahlreichen Varianten verwendet, spricht für einen hohen Bekanntheitsgrad, den sie zur damaligen Zeit gehabt haben muss. Wie die Belege in (44) zeigen, ist die Wendung bereits bei Murner idiomatisch, insbesondere in der Form an ein Kerbholz reden‚ blind drauf los reden‘ (DWB, 11, 564), allerdings unterscheidet sie sich semantisch von dem heutigen Idiom. Sie findet sich in der Form an ein Kerbholz reden im Titel des Kapitels und ist in einem Holzschnitt Hans Burgkmairs im gleichen Kapitel visualisiert (vgl. Abbildung 15).
Abb. 15: T. Murner, Schelmenzunfft, Druck C, Augsburg 1513, Bl. 16.
Ein junger edel angezogener adliger Mann hält in der rechten Hand das Kerbholz, auf dem die Kerben erkannt werden können, und bekennt mit Stolz, er darf zu den Schelmen gehören, weil er vielfach an ein Kerbholz geredet hat. Damit meint er, dass er finanzielle Versprechen gemacht hat, ohne sie je eingehalten bzw. Schulden bezahlt zu haben. Sein adliges Äußere stieß bei Wirten stets auf Vertrauen, weshalb es ihm gelungen ist, mehrfach und bewusst an das Kerbholz zu
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schneiden ‚Schulden zu machen‘ und unbezahlt sich davon zu machen, vgl. den Kapitelauschnitt in (44a). Das Recht, auf sein trügerisches Benehmen stolz zu sein, sieht der Protagonist im ähnlichen Verhalten der oberen gesellschaftlichen Schichten bestätigt; diese nimmt er sich sozusagen als Beispiel (44b). Erst am Ende des Kapitels kommt es zu einer Werteumkehrung und Verurteilung der Kerbredner (44c). (44b) Mein herr mir selber al_o thet | der mich auch an das kerbholta redt | Der kauffman thGt das auch im land | de_t minder i_t es mir ain _chand. (T. Murner, Schelmenzunfft, Druck C, Augsburg 1513, Bl. 17, Zeilen 15–18 im Kap. „An ain Kerbholtz reden“) (44c) Es i_t kain glaub meer auff erden | die herren _elbs kerbredner werden | Die dir ver_igeln und ver_chreiben | das all dein freünd nit von jn treiben | Sprich_t du de] / gGt brieff ich hab | _o _agen _y denn / fri_s darab | Und wilt du es nit la__en _ein | _o gang ver_igel du aim _chwein | Das arßloch / das der donder drein | _chlag / das ich _o grob mGß _ein. (T. Murner, Schelmenzunfft, Druck C, Augsburg 1513, Bl. Zeilen 19–28 im Kap. „An ain Kerbholtz reden“)
Wie die Textausschnitte zeigen, ist die Wendung bereits bei Murner idiomatisch, allerdings auf den Kontext der finanziellen Schulden beschränkt. Damit steht sie im Deutschen des 16. Jahrhunderts der zugrunde liegenden Ausgangsdomäne näher als dies heute der Fall ist und ist durchsichtiger in ihrer Motivation. Der weniger irreguläre Charakter der Wendung erlaubt ihre morphosyntaktische Variation: In nur 38 Zeilen des Kapitels ist die Wendung achtmal belegt, allerdings jedes Mal in einer anderen Form. Dabei kann sowohl die verbale als auch die substantivische Konstituente varieren; die verbale Konstituente lässt lexikalische Variation zu, die Variation im nominalen Bereich (Substantiv und Artikel) ist auf die Morphologie (Flexion und Wortbildung) beschränkt. Diese Variationsvielfalt und die im Vergleich zu heute weniger irreguläre Bedeutung bleiben bis zum letzten bisher bekannten Druck ‚Der Schelmenzunfft‘ aus dem Jahr 1688 erhalten (Filatkina 2012). Nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand bietet die historische Textüberlieferung keine Antwort auf die Frage, ab wann es zu der heutigen Bedeutung ‚etwas Unerlaubtes, Unrechtes, eine Straftat o.Ä. begangen haben‘ kommt. Diese ist im Vergleich zur älteren Bedeutung weiter, indem mit der Wendung nicht ausschließlich die strafbare Unterlassung der Begleichung der finanziellen Schulden gemeint ist, und kann in meinen Augen nur entstehen, wenn die bildliche Grund-
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lage – das Wissen über das antike System der Schuldenberechnung vor der Einführung der schriftlichen Rechnungslegung – opak wird. Wie oben bereits bemerkt, liefert die Textüberlieferung keine Indizien für die Beantwortung dieser Frage. Die Wendung findet sich in keiner einzigen parömiologischen Sammlung bzw. in keinem Wörterbuch des 15.-18. Jahrhunderts.79 Die Sammlungen des 19. Jahrhunderts (Körte 1837/1974; Eiselein 1838) führen die lexikalischen Varianten (44d) an, die sich aber sowohl von den Belegen bei Murner als auch vom heutigen Idiom in ihrer lexikalischen Besetzung und inneren Struktur unterscheiden und für deren Existenz die Primärtexte ihrerseits keine Nachweise bieten: (44d) aufs Kerbholz losleben, aufs Kerbholz lossündigen, auf dem Kerbholz stehen, aufs Kerbholz borgen, aufs Kerbholz nehmen einem etwas auffs Kerbholz schneiden80 einem etwas auffs Kerbholz schreiben
Ein kleiner Hinweis in Bezug auf den Zeitpunkt der Veränderung der bildlichen Grundlage und der Bedeutung lässt sich mit gebotener Vorsicht der visuellen Überlieferung des Idioms entnehmen.Viele Drucke ‚Der Schelmenzunfft‘ sind mit Holzschnitten versehen. Ich führe hier zur besseren Veranschaulichung eine kleine Auswahl der Holzschnitte aus dem 16. Jahrhundert an, vgl. die Abbildungen 16–18. Während eine gewisse ikonographische Konstanz bei allen drei Visualisierungen erkennbar ist, ist die bildliche Grundlage in den früheren Drucken C und F präsenter: Der junge Adlige wendet sich in der Tat dem Kerbholz zu, sodass der Eindruck entsteht, dass er im wörtlichen Sinn mit ihm redet. Auch die auf leere Versprechen anspielenden Kerben sind an den beiden Holzstäben prominent dar-gestellt. Hingegen ist die metaphorische Inversion (Bässler 2003, 58) zwischen der bildlichen Grundlage und der aktuellen Bedeutung beim dritten späteren Holzschnitt vom Ende des 16. Jahrhunderts weniger klar und wirft die Frage auf, ob hier überhaupt noch das Idiom an ein Kerbholz reden dargestellt ist. Möglicherweise deutet dieser Holzschnitt darauf hin, dass die bildliche Grundlage bereits am Ende des 16. Jahrhunderts opak geworden ist und somit den Weg für die heutige weite Bedeutung ‚schuldhaft/kriminell (nicht nur im finanziellen Bereich) sein‘ eröffnet hat.
|| 79 Maaler (1535, 242v) enthält z.B. durchaus den Eintrag Kerb oder Kerbholta – Crena, Talea, Te__era; Kerbh=ltale/Beilele Taleola, führt aber an dieser Stelle keine idiomatischen Wendungen an. 80 In dieser Form ist das Idiom bei Campe (1808, 2, 915) belegt.
5.4 Idiomatische formelhafte Wendungen | 305
Abb. 16: Druck E, Straßburg 1516
Abb. 17: Druck F, Straßburg 1540
Abb. 18: Druck I, Frankfurt 1571
Die Beispiele in (45) sind dem gegenwärtigen Usus entnommen und demonstrieren in (45a-c) genau diese Bedeutung und die Festlegung der Form auf das semantisch unspezifische Verb haben. Die Recherchen nur im schriftlichen Textteil des DeReKo liefern 2.160 Treffer und beweisen somit, dass das Idiom trotz der absoluten Opakheit und der gebundenen Komponente Kerbholz81 eine geläufige
|| 81 Stumpf (2015, 516) stellt fest, dass die Konstituente in 95% aller Belege an diese Wendung gebunden vorkommt.
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Wendung im heutigen Deutsch ist. Beispiele wie in (45d-e) kommen nur vereinzelt vor, evozieren noch die ursprüngliche wörtliche Bedeutung, sind aber eher als bewusste Modifikationen und keine usuellen Varianten zu interpretieren. Die Wendung ist insofern lebendig, als sie eine weitere Bedeutungsveränderung erfährt und sogar positiv umgedeutet werden kann, vgl. Beispiel (45f). Dass Richard Gyptner als Vizepräsident des Ostberliner Polizei-Präsidiums und ehemaliger Vorsitzender des Kommunistischen Jugend-Verbandes Deutschlands eine kriminelle Vergangenheit hat, ist eher unwahrscheinlich. Mit 15 Jahren auf dem Kerbholz sind im positiven Sinn die Erfahrung und die erbrachten Leistungen gemeint, die erheblich sein müssen, um den Aufstieg auf der Karriereleiter zu ermöglichen, von dem der Spiegel-Artikel berichtet. Da es die einzige Belegstelle dieser Art ist, ist die Interferenz bzw. die Kontamitaion mit der Wendung etwas auf dem Buckel haben nicht auszuschließen. (45a) Wie seine Vorgänger trat auch Xi Jinping sein Amt mit einer Antikorruptions-kampagne an. Doch was über Monate aussah wie der übliche Kehraus beim Antritt einer neuen Führungsgeneration, hat sich inzwischen als die größte Säuberung der Partei seit der Kulturrevolution erwiesen: Mehr als 200 000 Kader auf allen Ebenen sind ihr bislang zum Opfer gefallen. „Wer in der Partei ist und etwas auf dem Kerbholz hat, schläft heute nicht mehr gut“, so der Publizist Li Datong. „Er weiß, dass er jeden Moment abgeholt werden kann.“ (Spiegel online 10.11.2014) (45b) In der anarchischen Kult-Zeichentrickserie „South Park“ endet die Suche nach dem Schuldigen für all die Katastrophen, die die missratenen „Helden“ der Reihe auf dem Kerbholz haben, nördlich der USA: „Blame Canada!“– die Kanadier sind schuld. (Spiegel online 03.09.2013) (45c) In den Nachbarländern bediente sich auch der professionelle Lieferant Heinz, 41, der 10 Wohnungseinbrüche und 20 Raubüberfälle auf dem Kerbholz hat und jetzt Münchens Unterwelt mit scharfen Schußwaffen versorgt. Er verkauft Pistolen ab 800 und Gewehre ab 1000 Mark. (Spiegel online 07.09.1992) (45d) Die FDP macht sich bereit, eine Rolle wieder zu übernehmen, der sie nach dem Wechsel in Bonn gerade entkommen war: die der verhaßten Partei. Was hat sie sich während der letzten Monate ins Kerbholz eingeschnitzt? (Spiegel online 30.05.1988) (45e) Urdeutschlands Schwertheld Siegfried nahm einst sein Bad in Drachenblut und ward fortan unverwundbar. Worin Alexander Schalck-Golodkowski badete, ist unbekannt. Der Effekt scheint bei ihm jedoch derselbe. Wie viele neue Schnitte sein Kerbholz auch bekommt, niemand kann (oder will?) dem Mann etwas anhaben.
5.4 Idiomatische formelhafte Wendungen | 307
Vom Sessel seiner idyllischen Tegernseer Villa aus darf Schalck den hilflosen Verrenkungen des Rechtsstaates zuschauen. (Spiegel online 13.05.1991) (45f) Als Richard Gyptner den Berliner SED-Glaspalast in der Lothringer Straße verlassen hatte, um auftragsgemäß im Ostberliner Polizei-Präsidium in der Dircksenstraße den Stuhl des Vizepräsidenten einzunehmen, ließ er sich die Polizei-Akte über sich selbst kommen. Das ist eine füllige Akte, die seine Vorgänger Dr. Friedensburg und Dr. Weiß schon in der Weimarer Republik über den ehemaligen Vorsitzenden des Kommunistischen Jugend-Verbandes Deutschlands, Richard Gyptner, haben zusammenschreiben lassen.Die Akte überreichte ihm sein Jugendgenosse Richard Großkopf, heute Direktor der Kriminal-Abteilung im Berliner Ost-P.P. Weil der zu Eberts Zeiten schon gut und gerne seine 15 Jahre auf dem Kerbholz hatte, nannte ihn nicht einmal seine Frau Richard, sondern „Ernst“. Das war sein illegaler Name. (Spiegel online 09.04.1949)
5.4.5 Zwischenfazit: Verfestigungsprozesse bei Idiomen Die Analyse der Verfestigungswege bei Idiomen hat gezeigt, dass in diesem Bereich weniger von Regularitäten/Regelmäßigkeiten gesprochen werden kann. Die Rolle der historischen Einzelpersönlichkeiten, die Verwendung der Idiome in bestimmten (z.B. biblischen) Überlieferungskontexten bzw. ihre Eingebundenheit in diverse Formulierungstraditionen müssen berücksichtigt werden. Wenn Dobrovol’skij (2013, 452) von den „Launen des Usus“ bei Verfestigungsprozessen spricht, dann sind sie vor allem im Bereich der Idiome deutlich zu spüren. Im Unterschied zur Morphologie, Phonologie und/oder Rechtschreibung kann selbst die Kodifizierung „die Launen des Usus“ bei Verfestigungsprozessender Idiome nicht beeinflussen. Die Entstehung idiomatischer Wendungen verläuft aber insofern regulär, als hier Sprachwandelprozesse beobachtet werden können, die für das Sprachsystem im Allgemeinen auch gelten. Im Bereich des Formelhaften entfalten sie „im Verbund“ und oft gleichzeitig auf mehreren Ebenen ihre Wirkung: in der innerund außergrammatischen Struktur der Wendungen, der lexikalischen Besetzung, der typologischen Zuordnung, der Semantik, der pragmatischen Funktion, der stilistischen Färbung, der bildlichen Grundlage und der Textsortendistribution. Die Variation ist auch im Bereich der Idiome, die lange Zeit als hochgradig feste formelhafte Wendungen galten, die „treibende Kraft“ der Verfestigung. Allerdings scheinen mir Thesen wie etwa die von Komenda-Earle (2015, 294, 296, 299 und 375) geäußerte, bei verbalen Konstituenten herrsche bis ins 19. Jahrhundert hinein eine größere lexikalische Varianz als bei substantivischen, eine Pauschalisierung zu sein, die zwar für die von ihr untersuchten Beispiele gelten mag,
308 | 5 Wege der Entstehung mikrostruktureller Formelhaftigkeit
aber auf keinen Fall als eine musterhafte Regel der Verfestigungsprozesse auf alle Idiome übertragen werden kann. Die formale Verfestigung verläuft nicht teleologisch in Richtung Festigkeit, sondern vielmehr zyklisch: Die Reduktion der Varianten kann ihre Steigerung nach sich ziehen und gerade als Beweis für die vollzogene Verfestigung dienen, denn unkonventionelle Varianten bzw. Modifikationen können nur verstanden werden, wenn die Form, von der sie abweichen, in einer Sprachgemeinschaft konventionalisiert und somit fest ist. Die semantische Verfestigung ist insofern als regulär zu betrachten, als sie sich meistens von einer relativ konkreten Bedeutung zu Bedeutungen mit einem höheren Grad an Abstraktion vollzieht. Dabei wird der Abstraktionsprozess eher durch eine Erweiterung und seltener durch eine Verengung der idiomatischen Bedeutung begleitet. Grundlegende Mechanismen der Idiombildung sind metaphorische und metonymische Übertragungen, aber das sind nicht die einzigen Mechanismen; sie führen nicht immer teleologisch vom Konkreten zum Abstrakten. Formelhafte Wendungen sind auch in den ältesten Texten bereits als Idiome greifbar. Nach der vollzogenen Abstrahierung sind die Remotivierung und die Rückkehr zur ursprünglichen bzw. zu einer anderen (wörtlichen) Bedeutung möglich. Der semantische Wandel ist somit nicht unbedingt unidirektional, öfter in Form von kleinschrittigen Bedeutungsveränderungen und seltener als lineare Entwicklungen von konkret zu abstrakt belegt.
Fazit Die im vorliegenden Kapitel durchgeführte Analyse von drei verschiedenen Typen der formelhaften Wendungen – Routineformeln, Kollokationen (Funktionsverbgefüge) und Idiome – ergibt für die übergeordnete Frage nach Verfestigungsprozessen das folgende Bild: Zur Analyse wurden unterschiedliche Typen der formelhaften Wendungen herangezogen, weil die Fokussierung der Forschung auf Idiome und Sprichwörter den Blick auf die tatsächliche Komplexität formelhafter Entwicklungsverläufe verstellt hat. Von der Regularität der Verfestigungsprozesse kann eher im Bereich der Routineformeln und Kollokationen gesprochen werden, obwohl sich als regulär nur einzelne Tendenzen der Entwicklungen gestalten. Je tiefer die Details der Verfestigung erfasst werden, desto idiosynkratischer werden die Verläufe. Dies betrifft insbesondere die Entstehungswege der Idiome, für die sogar der individuelle Gebrauch durch einzelne historische Persönlichkeiten ausschlaggebend sein kann. Insofern kann keine der verwendeten Theorien – Konstruktionsgrammatik, Grammatikalisierung und Lexikalisierung – alleine die Entstehungswege
Fazit | 309
der formelhaften Wendungen adäquat beschreiben. Plädiert wird deshalb für einen integrativen Ansatz abhängig vom Typ der Wendung. Von Verfestigungsprozessen sind in der Regel mehrere Ebenen der Wendungen entweder simultan oder sukzessive betroffen, wobei die Veränderung auf einer Ebene (z.B. in der Semantik) nicht unbedingt sofort im konsekutiven Sinn eine Veränderung auf der anderen Ebene (z.B. in der Form) nach sich zieht. Zeitversetzte Zusammenhänge sind eher der Fall. Dementsprechend ist es meistens nicht eine bestimmte Ursache, die die Verfestigung hervorruft bzw. begünstigt, sondern ein Bündel von verschiedenen Ursachen, die ihre Wirkung auch gleichzeitig entfalten können. Unabhängig vom Typ zeigen die Beispielanalysen, dass die Verfestigungsprozesse im Bereich der formelhaften Wendungen kaum linear verlaufen. Zirkulare Re-Motivierungen von Opakgewordenem sind genauso möglich wie die Steigerung der Variantenzahl nach ihrer Reduktion. Zunahme von Varianten bei einigen Kollokationen und manchen Idiomen kann gar als Indiz für ihre Verfestigung gelten. Bei anderen Kollokationen besteht die Verfestigung in der Tat in der Reduktion der Variations- bzw. Modifikationsmöglichkeiten, die aber nicht in Richtung Vereinfachung geht, sondern in Richtung Verkomplizierung (z.B. die Fixierung eines spezifischen Verbs bei Kollokationen statt eines Pass-par-toutVerbs). Die Möglichkeitder Variation sowohl vor als auch nach der vollzogenen Verfestigung bei einigen Wendungen, ihr Ausbleiben bei anderen und die jeweils unterschiedliche Länge ihrer Dauer stellen die Existenz der beiden von der klassischen Phraseologieforschung vorgeschlagenen Phasen der Phraseologisierung mit dem entscheidenden Schnitt im 18. Jahrhundert (vgl. Kap. 5.1.1) in Frage.
6 Historische formelhafte Sprache textuell und textübergreifend […] wenn ich meinen Nachbarn grüße, kann man schwerlich sagen, dass meine Hand die Hand meines Nachbarn begrüßt, auch wenn Hände ein Teil von mir und auch von meinem Nachbarn sind. Manche Beziehungen beziehen sich daher auf ‚Ganzheiten‘ und nicht auf die Elemente solcher Ganzheiten untereinander. (van Dijk 1980 a, 44) Sprachgeschichte, die bisher wesentlich Geschichte einzelner grammatischer Phänomene – partiell in Verbindung gesetzt mit der Geschichte außersprachlicher (politischer, sozialer, kultureller usw.) Kontexte – war, muß die Geschichte dieser grammatischen Phänomene in eine Textsortengeschichte einbringen, da die Form und Selektion einzelner sprachlicher Mittel in Texten nicht aus sich selbst, erst aus den kommunikativen, d.h. pragmatischen Bedingungen der Produktion und Rezeption der Texte erklärt werden kann. (Cherubim 1980, 16)
Formelhaftigkeit ist nicht nur ein Merkmal des konkreten sprachlichen Ausdrucks; sie lässt sich auch auf der Ebene der Textorganisation und der dem Text zugrunde liegenden Wissensstrukturen beobachten. Nachdem in Kap. 5 die erstere im Mittelpunkt stand, widmet sich das vorliegende Kap. 6 der letzteren und knüpft an die seitens der Formulierungstheorie (Kap. 1.3) sowie der Text- und Diskurslinguistik (Kap. 1.4) für die Gegenwart postulierten Erkenntnisse über die zentrale Rolle der Formelhaftigkeit in diversen Kommunikationsprozessen sowie bei der Textproduktion an. Unter dem Einfluss der kognitionspsychologischen Erkenntnisse über die Rolle der Schemata, Rahmen bzw. Skripte bei der Wissensaneignung, -organisation, -speicherung, -produktion und -verwendung haben sich die Kontextualisierungstheorie (Fillmore 1976; Gumperz 1982), die Formulierungs- und Textproduktionsforschung (Antos 1982; 1989) und anschließend auch die Text- und Diskurslinguistik das Verständnis von Textkonstitution als kognitiven Vorgang und von Texten als Ergebnisse mentaler Vorgänge zu eigen gemacht. Seit längerer Zeit gehört dort das Wissen über so genannte globale Textstrukturen (van Dijk 1980a, 41), globale Muster, komplexe Muster oder Textmuster (Heinemann/Heinemann 2002, 129–165) zu den festen Größen im Forschungsprogramm. Bereits van Dijk (1980a,b) sprach von konventionalisierten Darstellungsstrukturen, die per Konvention eingehalten werden. Sie sind für ihn vor allem auf der Ebene der Makrostruktur und der Superstruktur des Textes erkennbar. Beide Strukturen werden eben nicht linear in Bezug auf aufeinanderfolgende Sätze definiert, sondern für den Text als ganzen oder einzelne größere Teile dieses Textes. Sie besitzen einen kognitiven und konventionellen Charakter und sind nicht nur Eigenschaften der
DOI 10.1515/9783110494884-007
6 Historische formelhafte Sprache textuell und textübergreifend | 311
Texte in einer Sprache, sondern Bestände des metasprachlichen Wissens der Träger und Trägerinnen dieser Sprache. Die Makrostruktur fasst van Dijk (1980a, 42) vor allem semantisch als eine abstrakte Kategorie, die eine Vorstellung des globalen Zusammenhangs und der Textbedeutung liefert und auf einer höheren Ebene als der der einzelnen Propositionen anzusiedeln ist. Mithilfe der Makrostruktur seien die Textproduzenten und Textrezipienten imstande, das Thema eines Textes/eines Gesprächs sowie seine wesentlichen inhaltlichen Elemente zu erkennen und diese gegebenenfalls zusammenzufassen, ohne den Text vollständig reproduzieren zu müssen. Hingegen bezieht sich van Dijks Begriff Superstruktur auf die Textformen, die „den Typ eines Textes kennzeichnen“ (van Dijk 1980a, 128).1 Als eine Art abstraktes Schema legt die Superstruktur die Organisation des Textes fest und besteht im Gegensatz zur Makrostruktur nicht aus einer (semantischen) Kategorie, sondern aus einer ganzen Reihe unterschiedlicher Kategorien. Diese können phonologischer (z.B. bei gereimten Texten), morphologischer, lexikalischer und syntaktischer Art sein.2 Das Ziel des vorliegenden Kapitels besteht darin, den Begriff der Superstruktur mit dem Verständnis der Formelhaftigkeit auf der Ebene eines ganzen Textes und textübergreifend in Verbindung zu bringen, die Existenz dieses Typs der Formelhaftigkeit in historischen Texten nachzuweisen und elementare Formen des Textaufbaus aufzuspüren, die die textuelle Formelhaftigkeit konstituieren. Einleitend wurde bereits bemerkt, dass solche Muster konventionelle und kognitive Größen sind, die als Eigenschaften der Texte auftreten, aber eben auch als Teile des Wissens der Sprecherinnen und Sprecher über diese Texte. Diesen Gedanken führt in Anlehnung an soziologische Diskussionen (stellvertretend Luckmann 1986; Berger/Luckmann 1966/2010) vor allem Feilke aus, wenn er behauptet, dass jedes kommunikative Handeln, also auch das Sprechen, durch eine Typik des Verhaltens erkennbar ist. Sprachhandeln muss u.a. als Prozess einer Institutionalisierung von kulturellen und sprachlichen Schemata über die Schritte der Typisierung, Schematisierung und Habitualisierung, als „Überführung kontingenten Ausdrucksverhaltens in einen sozial strukturierten semiotischen Habitus“ (Feilke 1994, 209–210; ähnlich auch Feilke 2012, 3) verstanden werden. Das habitualisierte Weltwissen bezieht sich nicht nur auf die linguistische Seite, sondern auf das gemeinsam erzeugte Wissen über bestimmte Handlungsabläufe (z.B. Szenarien und Abläufe eines Festakts). Warnke (1999, 219) beobachtet in
|| 1 Vgl. anders Adamzik (32010, 273–274): Ihr Begriff der Makrostruktur ist mit dem Begriff Superstruktur bei van Dijk identisch. 2 Dazu ausführlich van Dijk (1980b).
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verschiedenen Texten und Diskursen „standardisierte Formen ver-balen Handelns“, die „der formalen und inhaltlichen Organisation von sprachlichen Handlungen im Hinblick auf jeweilige Funktionen“ dienen. Die Muster oder Rahmen werden textintern, d.h. auf der Mikroebene der sprachlichen Formulierungen, durch partiell vorgefertigte Äußerungsstrukturen nach dem Prinzip der Formulierungsadäquatheit ‚aufgefüllt‘. Viele davon sind konventionell geprägte polylexikalische Einheiten (Heinemann/Heinemann 2002, 130–131). Adamzik (1995, 28) spricht in diesem Zusammenhang von kommunikativen Routinen auf Textebene; Heinemann (2000a, 516) von Stilmustern oder Text-Teilmustern; Heinemann (2000b, 356–369) und Gülich/Hausendorf (2000, 369–385) von Vertextungsmustern, Dausendschön-Gay/Gülich/Kraft (2007) und Stein (2001) von formelhaften Texten, um nur einige wenige Begriffe zu erwähnen. Der Gedanke findet sich unter dem Stichwort Regelmäßigkeiten im Sprachgebrauch (Busse 2005, 35) in der modernen Diskurslinguistik wieder und wird dort durch den sozialen kooperativen Charakter des sprachlichen Handels begründet. Dabei können bestimmte mikrostrukturelle Ausdrucksmittel der sprachlichen Oberfläche an makro- bzw. superstrukturelle Organisationsmuster der Textebene gekoppelt sein. Die enge Verzahnung der mirko- und makrostrukturellen Formelhaftigkeit tritt z.B. im Feilke’schen Begriff der Textroutinen deutlich in den Mittelpunkt: Textroutinen3 sind textkonstituierende sprachlich konfundierte literale Prozeduren, die jeweils ein textliches Handlungsschema (Gebrauchsschema) und eine saliente Ausdrucksform (Routineausdruck) semiotisch koppeln. Sie können soziale Typen von Sprachhandlungsmotiven indizieren, haben ein genrekonstitutives Potenzial und sind ausdrucksseitig durch rekurrent kookkurrente Ausdruckskomponenten ausgezeichnet. Sie können lexikalisch als Kollokationen, syntaktisch als grammatische Konstruktionen und textlich als Makroroutinen auftreten und in vielfacher Weise ineinander eingebettet sein. Pragmatisch funktionieren sie als Kontextualisierungshinweise, die auf der Grundlage einer pars-prototo-Semantik ein reiches Kontextwissen für die Textrezeption und Textproduktion indizieren können. (Feilke 2012, 11–12)
An historischen Beispielen wird im Folgenden gezeigt, dass textuelle Formelhaftigkeit nicht nur durch das typisierte mikro- und makrostrukturelle Aufbaumuster und das Wissen der Sprecherinnen und Sprecher über diese Muster zum Ausdruck kommt, sondern durch das wiederholte Verwenden typisierter außersprachlicher Wissensbestände, Topoi, Motive, die die Zugehörigkeit des Textes zu einem bestimmten Typ und – breiter – zum Teil des kulturellen Gedächtnisses
|| 3 Alle Hervorhebungen im Zitat finden sich in dieser Form im Original.
6 Historische formelhafte Sprache textuell und textübergreifend | 313
ebenfalls bestimmen können. Diese typisierten Wissensbestände, Topoi und Motive sind Bestandteile der Texte, wenn Texte nicht rein linguistisch als Manifestationen einer (verbalen!) Sprache, sondern kultursemiotisch als mehrfach auf unterschiedlichen Ebenen (verbal und nonverbal) kodierte Systeme, als Einheiten des kollektiven kulturellen Gedächtnisses und eines kulturellen Kontextes (Lotman 1981/2002, 160–161) verstanden werden, die nicht nur kommunikative Funktionen der Vermittlung eines vorgefertigten Inhalts vom Produzenten zum Rezipienten erfüllen (Texte wären in diesem Fall passive Träger des Sinns), sondern auch aktiv und eigenständig an der Sinngenerierung beteiligt sind (Lotman 1969/2002, 189). Lotman (ebd., 190) beschreibt diese Funktion als eine schöpferische (творческая) und historische Texte als Symbole der Kultur, „gefaltete mnemonische Programme“ (свернутые мнемонические программы), die in der Lage sind, ganze kulturelle Schichten zu rekonstruieren. Texte avancieren zu Praktiken und Medien des kulturellen Gedächtnisses, auf die das letztere existenziell angewiesen ist (Lotman/Uspenskij 1984, 3). Im Anschluss an Lotman betont insbesondere Assmann (72013, 56), dass das kulturelle Gedächtnis4 über feste, hochgradig geformte Objektivationen, traditionelle symbolische Kodierungen in Wort, Bild, Tanz usw. realisiert wird. Historische Texte,5 um die es im Folgenden geht, stellen solche Kodierungen primär, aber nicht ausschließlich in Worten dar. Dabei beziehe ich mit Assmann (72013, 97) die Bezeichnung Text „nicht auf den Text, sondern auf das, was er zur Sprache bringt, d.h. nicht auf die Mitteilung, sondern auf die Information“, oder eben wie oben erwähnt auf die einem Text zugrunde liegenden Wissensstrukturen, Motive und Topoi. Sie organisieren das Gedächtnis einer Schriftkultur als Umgang mit Texten im definierten Sinn durch zwei scheinbar widersprüchliche, für Assmann aber funktionell äquivalente und kohärente Verfahrenspaare – Repetition und Interpretation sowie Wiederholen und Vergegenwärtigen. Wissensbestände, Topoi und Motive werden zu Gegenständen des kulturellen Gedächtnisses, indem sie textuell verarbeitet und durch Generationen repetitiv (in einer Schriftkultur auch schriftlich) im Rahmen eines Text(typs) und/oder text(typ)übergreifend transportiert werden. Von einer Gemeinschaft wiedererkannt und vergegenwärtigt werden die Wissensstrukturen nur dann, wenn sie sich in einer mehr oder weniger festen Form wiederholen, was sich auch in der Ähnlichkeit auf der Ebene des sprachlichen Ausdrucks spiegeln kann. Das kulturelle Gedächtnis einer Gemeinschaft kann somit auf der Grundlage einer entsprechenden
|| 4 Im Unterschied zum kommunikativen Gedächtnis. Dazu ausführlich Assmann (72013, 20–21). 5 Konkret nennt Assmann (72013, 89) Mythen, Lieder, Sprichwörter, Gesetze und heilige, kanonisierte Texte.
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Kommunikationserfahrung über sprachliche Routinen verlässlich angesprochen werden. Die Trennung der linguistischen und nicht linguistischen Aspekte der Formelhaftigkeit erweist sich deshalb als schwierig. Die Festigkeit der Wissensstrukturen schließt aber den auslegenden, kommentierenden, nachahmenden bzw. kritisierenden Umgang mit diesen nicht aus. Der interpretative Umgang erzeugt Variation, die auch die Ebene des sprachlichen Ausdrucks tangieren kann. Bereits Lotman und Assmann haben darauf hingewiesen, dass die textuelle Kohärenz als Mittel der Organisation des kulturellen Gedächtnisses die Variation nicht nur zulässt, sondern sogar ermutigt (Assmann 7 2013, 97). Neben der Annahme der Existenz der eher formal geprägten Formelhaftigkeit im Textaufbau und der nicht linguistischen Motive und Topoi als allgemeine Wissensbestände ist für die weiteren Ausführungen deshalb ein dritter Ausgangspunkt von Bedeutung: Formelhaftigkeit auf der Ebene der Textorganisation (textuell und textübergreifend) ist nicht statisch, sondern unterliegt wie die mikrostrukturelle Formelhaftigkeit dem ständigen Wandel. Van Dijk bemerkte, dass Superstrukturen zwar fest sein müssen, weil sie die Zuordnung eines Textes zu einem bestimmten Typ (z.B. Erzählung, Ansage, Vortrag) und die Erkennung dieser Zuordnung erst ermöglichen. Sie lassen aber auch bewusste Modifikationen bzw. unbewusste Variation zu. Textmuster können, wenn überhaupt, nur in ihrem Grundgerüst statisch sein, denn in realen Kommunikationssituationen werden Texte nicht (nur) nach Konventionen und Mustern systematisch abgearbeitet, sondern individuell nach Umfang und Qualität ausgestaltet (Antos 1982). Das ‚Auffüllen‘ der globalen Textmuster auf der Mikroebene der oberflächlichen Teilmuster, d.h. der konkreten sprachlichen Äußerungen, lässt Freiraum für Modifikation, Variation und (sprach)historische Wandelprozesse. Variation auf der Ebene der sprachlichen Mittel ist somit natürlich und ausgeprägt. Meier (2004) und Ziegler (2003) untersuchen dies für das frühneuzeitliche Schrifttum der städtischen Verwaltungen/Kanzleien in Ungarn und der Ostslowakei und führen die Textmuster der Makroebene der Textorganisation trotz unterschiedlicher sprachlicher Realisierungen doch auf eine geringe Zahl spezifischer Grundelemente obligatorischen Charakters zurück, die durch fakultative Elemente (zusätzliche Appositionen, erklärende Nominalgruppen usw.) variiert werden kann, es aber nicht muss (Ziegler 2003, 247). Dabei können unterschiedliche Teile einer Textsorte (etwa einleitende oder abschließende) über einen unterschiedlichen Grad an Variation verfügen. Für Briefe bestätigt Ziegler (2003, 217–218) das Festhalten an einem bestimmten Kanzleiusus über einen längeren Zeitraum hinweg, weist allerdings darauf hin, dass die Verbreitung der Briefsteller und Formularbücher nicht der alleinige Grund für die große Ähnlichkeit in
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den Textmustern und Formulierungen ist. Vielmehr plädiert er für die Berücksichtigung solcher Kriterien wie die Größe des Geltungsareals (quantitativ die wieteste Verbreitung), der Geltungsgrad (die geringste Konkurrenz durch andere Varianten) und der Prestigewert. Ein anderes Beispiel sind die Luxemburger Rechnungsbücher aus dem 13.17. Jahrhundert, die in der gesamten Überlieferung keine kontinuierliche lineare oder fortschreitende Entwicklung zu einem endgültigen festen Formelinventar zeigen, sondern ein dauerhaftes Nebeneinander einer festen Grundstruktur und wechselnden Erscheinungen auf der Ebene der konkreten Formulierungen (Filatkina 2011, 93). Ähnliches gilt selbst für die Anfänge der schriftlichen Überlieferung in deutscher Sprache. Den frühsten ahd. und as. Beichten aus dem 9.-11. Jahrhundert hat bereits die ältere Forschung ein hohes Maß an Formelhaftigkeit sowohl im Textaufbau als auch auf der Ebene des konkreten Ausdrucks attestiert (Baeseke 1925, 279; Eggers 1955, 103). Oft wurde auf Ähnlichkeiten zwischen den zwölf überlieferten Beichten hingewiesen, die zur Annahme eines Verwandtschaftsverhältnisses geführt haben. Dadurch wurde auch das Vorhandensein ähnlicher fester Formulierungen erklärt und das Ziel aufgestellt, diesen den deutschsprachigen Beichttexten zugrunde liegenden Archetyp stemmatologisch zu rekonstruieren. Was dabei übersehen wurde, ist die gleichzeitige erhebliche Variation auf beiden Ebenen, die mit verfestigten Mustern koexistiert und sich nicht als Abweichung vom Archetyp abtun lässt. Deshalb geht die neuere Forschung (Bulitta 2006, 50; Hellgardt 2013a, 38–39; Gottwald/Hanauska 2013a) vielmehr davon aus, dass die Texte unabhängig voneinander entstanden sind, ihre Verfasser/Schreiber aber auf ein zur damaligen Zeit existierendes Metawissen über die Textsorte Beichte, auf eine möglicherweise vom Lateinischen beeinflusste Formulierungstradition zurückgreifen. Dies erklärt das Vorhandensein eines viergliedrigen Aufbauschemas mit der einleitenden Bekenntnisformel, der Aufzählung der Sünden, dem Versprechen der Besserung und der Bitte um die Sündenvergebung, das nicht in allen Texten prototypisch umgesetzt, aber meist erkennbar ist und das insbesondere auf der Ebene des konkreten sprachlichen Ausdrucks unterschiedlich ausfallen kann. Gottwald/Hanauska (2013a, 456–472) analysieren dieses Oszillieren zwischen Festigkeit und Variation anhand des Beichten-Teilkorpus der HiFoSGruppe und weisen es für die einleitende Adressierungsformel (1), die Pflichtformel (2) und die Universalformeln (3) nach: (1) Truhtin dir uuirdu ich pigih|tik allero minero suntiono enti missetatio alles des ich | io missasprah […] (Altbairische Beichte, 328, 1; ID 4750)
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(2) (…) gihorsam ni uuas so ih solta (Mainzer Beichte, 33v, 10; ID 32274) (3) Ih gihu unrehtero gisihto . unrehtera gihorida | unrehtero gidanco . unrehdero uuordo . unrehdero uuerco (…) (Lorscher Beichte 3r, 21; ID 13124)
Sie kommen zum folgenden Schluss: Hierbei mag mit Sicherheit die ältere Tradition der lateinischsprachigen Beichtliteratur und die überregionale Verbreitung lateinischer Beichtformulare einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Ausbildung der deutschsprachigen Beichttexte gehabt haben. Andererseits deuten sich für bestimmte Einzelphänomene doch immer wieder eigene Formulierungstraditionen an, die zwar durchaus auf einer inhaltlichen Ebene gemeinsame Wurzeln haben, aber doch in struktureller, syntaktischer, lexikalischer und/oder morphosyntaktischer Hinsicht eine gewisse Eigenständigkeit beweisen. (Gottwald/Hanauska 2013a, 473)
Im Folgenden entwickle ich diese Gedanken weiter, indem ich sie auf das Zusammenspiel der mikro-, makro- und superstrukturellen Vorgeprägtheit mit Formelhaftigkeit der außersprachlichen Wissensbestände ausweite und sie nicht nur anhand der Textsorten prüfe, bei denen der formelhafte Charakter offensichtlich ist, sondern auch anhand solcher, bei denen er auf den ersten Blick überrascht. Die Beispiele entnehme ich drei verschiedenen Bereichen der mittelalterlichen (altdeutschen) Literatur. Tabelle 13 gewährt einen Überblick über die ausgewählten Textsorten und die Gliederung des vorliegenden Kapitels: Tab. 13: Ausgewählte Textsorten und die Struktur des Kap. 6 Kap.
Textsorte
am Beispiel von
6.1
Gebrauchsliteratur (pastoral)
Taufgelöbnisse und Gebete
6.2
Gebrauchsliteratur (weltlich)
Eide und Rechtstexte
6.3
Gebrauchsliteratur (weltlich)
Segenssprüche/Beschwörungen
6.4
Dichtung (weltlich und religiös)
Loblieder
6.1 Pastorale Gebrauchsliteratur | 317
6.1 Pastorale Gebrauchsliteratur 6.1.1 Taufgelöbnisse Alle vier aus dem frühen Mittelalter bekannten Taufgelöbnisse stellen jene Beispiele der volkssprachigen pastoralen Gebrauchsliteratur dar, die Gott zum Adressaten haben, dem Bekenntnis des christlichen Glaubens und der Abschwörung vom Teufel bzw. von den bis dahin verehrten Götzen dienen. Das Bekenntnis und die Absage sind seit der frühchristlichen Mission die Voraussetzung für die Spendung des Taufsakraments durch den dazu berufenen Diener der Kirche. Die altdeutschen Taufgelöbnisse sind im 8.-9. Jahrhundert6 als Übersetzungen der an den verschiedenen Orten im Umlauf befindlichen lat. Vorlageformulare entstanden; die Notwendigkeit der Übertragung der letzteren in die Volkssprachen ergab sich aus dem Postulat der Verständlichkeit des Textes für den Taufwilligen. Die Umgebung, in der die Taufgelöbnisse überliefert sind, bezeugt, dass sie zu liturgischer Verwendung bestimmt waren. Entgegen der älteren Forschung, die wie etwa Baesecke (1944, 63–85) die überlieferten altdeutschen Taufgelöbnisse auf eine einzige und einheitliche vor 776 entstandene Mainzer Urübersetzung zurückzuführen versuchte, nimmt die neuere Forschung (Beck 2005; Masser 2013a) an, dass sie „die […] fehlende Einheitlichkeit der an den verschiedenen Orten befindlichen lat[einischen] Formulare“ (Masser 2013a, 87) offenbaren und ihre Vielfalt spiegeln. Selbst zwischen dem ‚Altsächsischen‘ und dem ‚Kölner Taufgelöbnis‘ bestehe keine Beziehung. Daraus erklären sich die variablen Formulierungen. Die Beispiele in (4) führen allerdings auch die Stabilität des zugrunde liegenden Musters vor Augen: (4a) Forſahhiſtu unholdun · Ih furſahhu · | Forſahhiſtu unholdun uuerc | Indi uuillon · Ih furſahhu · | Forſahhistu allem them bluoſtru[m] | Indi den gelton · Indi den gotum · thie | im heidene man zi geldom · Enti zigo|tum habent; ih fursahhu · | Gilaubi_tu in got fater almahtigan Ih | gilaubu| Gilaubi_tu In chriſt : | goteſ ſun nerienton : Ih gilaubu. | Gilaubi_tu In heilagan geiſt. Ih gilaubu.| Gilaubi_tu einan got · almahtigan · | In thriniſſe · Inti In einiſſe. Ih gilaub[u]. | Gilaubi_tu heilaga goteſ chirichun. Ih gil[aubu]. | Gilaubi_tu thuruh taufunga | ſunteono forlazneſſi. Ih gilaub[u]. | Gilaubistu lib after tode. Ih gilaub[u]. (Fränkisches Taufgelöbnis, 16r; ID 13240)
|| 6 Eine Ausnahme sind die beiden Kölner Taufgelöbnisse, deren Texte zwar Mitte des 9. Jahrhunderts entstanden sein mögen, die uns aber heute nur in einer Abschrift aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts zugänglich sind (Masser 2013a, 87).
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(4b) Forsachistu diobolae. et resp. (?) ec forsacho diabolae end allum diobol|geldȩ respon. (?) end ec forsacho allum diobolgeldae. end allu[m] dioboles uuercum | resp. (?) end ec forsacho allum dioboles uuercum and uuordum thunaer | en de uuoden ende saxnote ende all[u]m them unholdum the hira genotas | sint | gelobistu in got alamehtigan fadaer ec gelobo in got alamehtigan fa|daer gelobistu in crist godes suno ec gelobo in crist gotes suno. gelobis|tu in halogan gast ec gelobo iN halogan gast. (Altsächsisches Taufgelöbnis, 6v–7r; ID 14127) (4c) Farsakis thu u[n]holdon ? | Farsaku. | Farsakis thu u[n]holdon uuerkon endi uuillion ? | Farsaku. | Farsakis thu allon hethinussion ? | Farsaku. | Farsakis thu allon hethinon geldon endi gelpon, that hethina man te geldon ende te offara haddon? | Farsaku. | Gilouis thu an god fader alomahtigan? | Gilouiu. | Gilouis thu an thena helagon godas sunu, that he geboren endi gemartyrod uuari? | Gilouiu. | Gilouis thu an thena helagon gest endi an thia hilagon samunga endi helagaro gimenitha, fleskas arstandanussi, that thu an themo fleska, the thu nu an bist te duomesdaga gistandan scalt endi gilouis thu livas ahtar do[th]a? | Gilouiu. […] (Kölner Taufgelöbnis, ed. Braune, Leseb., Nr. XVI, 2,I; ID 33411)
Die Stabilität besteht vor allem im interrogativ-dialogischen Aufbau des Abschwörungsteils und des Taufcredos, wobei die Taufgelöbnisse stets mit dem ersteren beginnen. Konstant sind auch die Formulierungen Schwörst Du ab […]? – Ich schwöre ab, Glaubst Du (an) […] – Ich glaube.7 Lediglich im ‚Altsächsischen Taufgelöbnis‘ kommt die Frage Schwörst Du ab nur einmal vor. Die konkrete Ausführung dieses Musters ist variabel, obwohl auch hier naturgemäß eine große inhaltliche Ähnlichkeit besteht. Das ‚Fränkische Taufgelöbnis‘ bleibt in seiner Formulierung allgemeiner als z.B. das ‚Altsächsische‘; der Katalog der Glaubensfragen ist ausführlicher. Unmissverständlich für den Täufling präzisiert hingegen das ‚Altsächsische Taufgelöbnis‘ durch die namentliche Aufzählung der heidnischen Gottheiten Donar‚ Wodan und Saxnot sowie die Praktiken heidnischen Kultes, wer unter dem Teufel und was unter teuflischen Taten konkret zu verstehen sei.
|| 7 Die formelhafte Wendung Ich glaube begegnet auch in anderen nicht im Zusammenhang mit der Taufe stehenden Glaubensbekenntnissen, so 18 Mal im ‚Niederdeutschen Glauben‘, 13 Mal im ‚St. Galler Glauben und Beichte II‘ usw.
6.1 Pastorale Gebrauchsliteratur | 319
6.1.2 Gebete Ähnliches Zusammenspiel der makrostrukturellen Formelhaftigkeit und Variation kann in ahd. Gebeten beobachtet werden. Ich lasse das so genannte ‚Gebetbruchstück‘ unberücksichtigt und konzentriere mich auf die folgenden sieben Texte: die so genannten ‚Sigiharts Gebete‘, das ‚Fränkische Gebet‘, das ‚Altbairische Gebet‘, das ‚Wessobrunner Gebet‘, das ‚Augsburger (Rheinfränkische) Gebet‘, das ‚Klosterneuburger Gebet‘ und schließlich ‚Otlohs Gebet‘. Allen sieben Texten liegt das folgende Aufbaumuster zugrunde: GEBETSBITTEN ANRUFUNG + GOTTES
+ (LOBPREISUNG GOTTES)
+ (ABSCHLUSSFORMEL)
(BEKENNTNIS DER SÜNDEN) Auch wenn die Gebete in der Regel Beispiele der ahd. Übersetzungsliteratur aus dem Lateinischen sind und u.a. auch den makrostrukturellen Aufbau der lat. Gebetsformulare aufgreifen, gehen sie damit frei um und kombinieren die einzelnen Teile variabel. Im angeführten Muster sind die variablen Teile eingeklammert. So findet sich die lat. Abschlussformel In manuſ tuaſ domine comendo ſpiritum et corpusmeum eigentlich nur in einem der Textbeispiele – im ‚Otlohs Gebet‘. Die litaneihaften, die Allmacht Gottes und seine Heiligen lobpreisenden Wendungen können einen prominent hervorgehobenen separaten Teil bilden (vgl. ‚Otlohs Gebet‘), sind aber auch oft in den zweiten Teil – Gebetsbitten bzw. Sündenbekenntnis – integriert, so z.B. im ‚Altbairischen‘, ‚Augsburger‘, ‚Klosterneuburger‘ und auch schon im sonst sehr archaischen ‚Wessobrunner Gebet‘. Aufgrund des narrativen Charakters der Lobpreisung des ‚Wessobrunner Gebets‘ interpretiert sie Haubrichs (1995, 243) als eine feierliche Apposition, die heilige Geschichte der Weltschöpfung durch Gott zumindest in ihren Anfängen und mit Demut darlegt. Schwab (1988/1989, 354) und Hellgardt (2013b, 511–512) betrachten dieses einmalige Vorkommen der recht ausfühlichen, obwohl lückenhaft überlieferten Lobpreisung in Kombination mit dem Gebet in der Handschrift unmittelbar vorausgehenden ‚Wessobrunner Schöpfungshymnus‘: Der in den Versen erzählte Akt der einmaligen Weltschöpfung als Gabe für die Menschen wäre dann zu verstehen als die Vorbildhandlung, durch welche die göttliche Macht zu geben erwiesen ist, und um dessen Erneuerung die Prosa nunmehr (imperativisch) betet. (Hellgardt 2013b, 511–512)
320 | 6 Historische formelhafte Sprache textuell und textübergreifend
Die in (5a) angeführte Lobpreisung des ‚Wessobrunner Gebets‘ erinnert auch an die narrativen Historiolae der ahd. Segenssprüche und Beschwörungen (vgl. Kap. 6.3). In dieser Ausführlichkeit ist die Lobpreisung wie gesagt nur einmal belegt. Wie die Beispiele (5a-f) aber veranschaulichen, ist sie auch anderen ahd. Gebeten nicht fremd. Rekurriert wird dabei zum Teil auf ähnliche Motive, so z.B. die Weltschöpfung und Erschaffung des Menschen nach Gottes Vorbild (5b), Gottes Allwissen über menschliche Bedürfnisse (5c) und seine Allmacht (5d) sowie seine allgegenwärtige Gnade (5e) und die von ihm ausgehenden Trost und Heil (5f). Im ‚Klosterneuburger Gebet‘ (5b) ist die Lobpreisung wie im ‚Wessobrunner Gebet‘ (5a), ‚Augsburger Gebet‘ (5e) und ‚Otlohs Gebet‘ (5f) dem eigentlichen Bittteil vorangestellt. (5a) Dat [ga]fregin ih mit firahim | firi uuizzo mei_ta. Dat ero (?) ni | uuaſ. noh ufhimil. noh paum | noh pereg niuua_. ni nohheinig | noh sunna ni_cein . noh mano | niliuhta. noh der mareo seo | Do dar niuuiht ni uuaſ enteo | ni uuenteo. [enti] do uuaſ der eino | almahtico cot. manno milti_to. | [enti] dar uuarun auh manake mit | inan . cootlihho geiſta. [enti] cot | heilac . Cot almahtico du | himil [enti] erda [ga]uuorahtoſ. (Wessobrunner Gebet, 65v, 2–14; ID 2684) (5b) Trohtin, tu mich arman giscufe ze demo dinan bilidie unta irlostast | mit temo dinem heiligemo bluodie[…] (Klosterneuburger Gebet, 181, XXIV, 1; ID 30424) (5c) du eino uue_t. trohtin uuemo durfti _int (Altbairisches Gebet, Hs. B, 117r, 16; ID 2757) (5d) Dara nah bito ih | umba allaZ daZ ungrihti . iouh umba allen den un|frido iouh umbaZ daZ ungiwitiri . daZ tir ioner | _i daZ tu tuder elliu dinc maht . nah dinen gna|dun bidencheſt allaZ (Otlohs Gebet, 163r, 15–19; ID 14158) (5e) Got · thir eigenhaf iſt · thaz io genathih biſt · Intfaa gebet unſar (Augsburger Gebet, 1r, 4; ID 2766; ID 13204) (5f) Trohtin almahtiger tu der piſt einiger troſt unta euui|giu heila aller dero di in dih gloubant iouh in dih | gidingant (Otlohs Gebet, 161v, 11–13; ID 14129)
Auch der zweite Teil – das Sündenbekenntnis – fällt in Gebeten eher kurz aus und kann komplett fehlen. Eine einzige Ausnahme liegt hier mit dem ‚Altbairischen Gebet‘ vor, in dem der direkten Anrufung Gottes ein recht ausführlicher Teil mit Sündenbekenntnissen folgt und der gewissermaßen die Gebetsbitten begründet. Beispiel (6) veranschaulicht den entsprechenden Ausschnitt:
6.1 Pastorale Gebrauchsliteratur | 321
(6) Trohtin dir uuirdu ih pigihtig allero minero _untono enti minero mi__atateo | alleſ deſ ih eo miſſaſprahhi oda miſſatati . oda miſſadahti . uuorto | enti uuercho . enti gadancho . deſ ih kihugku . oda nigihugku . deſ ih | uuizzanto geteta. oda unuuizzanto . notag . oda unnotag . ſlaffanto | oda uuahhento . mein_uerto . enti lugino . kiridono endi unrehtero | uizu_heito . hurono . _o uue _o ih sio giteta . enti unrehtero firinlu_to | in mu_a enti in trancha . enti in unrehtemo slaffa . daz du mir trohtin | keni_ . enti ginada . […] (Altbairisches Gebet, Hs. B, 117r, 1–8; ID 2746)
Unverkennbar ist die makro- und mikrostrukturelle Ähnlichkeit mit den ahd. Beichten, wie sie Gottwald/Hanauska (2013a) beschrieben haben. Die Einleitungsformel zu Beginn der Beichte‚ mit der die Absicht angekündigt wird‚ die eigenen Sünden zu beichten, wird von der Aufzählung der Modi begleitet, in denen die Sünden begangen wurden: wissend oder unwissend‚ bewusst oder unbewusst, im schlafenden oder wachenden Zustand usw. Die parataktische Aneinanderreihung nach dem Muster ATTR. + ODER/UND + ATTR. drückt dabei aus, dass das Bekenntnis der Sünden ohne Rücksicht auf Voraussetzungen bzw. Umstände erfolgt. In einer ähnlichen Form finden sich die parallelisierenden und repetitiven Modellbildungen in der Rhetorik der lat. Orationen. Somit erweisen sich lediglich die Anrufung Gottes und die Gebetsbitten als einzig feste Teile der Gebete. Sie bestimmen das eigentliche Ziel dieser Texte (Hinwendung zu Gott, um die meistens individuell gefassten persönlichen Bitten an ihn auszusprechen), variieren aber auf der Ebene der konkreten sprachlichen Formulierungen erheblich, sodass der folgenden Feststellung Massers zuzustimmen ist: Die Vorstellung, diese ahd. Fassungen müssten sich alle auf einen gemeinsamen Ausgangspunkt, d.h. auf ein und dieselbe einmalige Übersetzung zurückführen lassen (G. Baesecke), ist nicht gerechtfertigt und verkennt die lebendige Vielfalt gerade im Bereich des Gebetslebens. (Masser 2013b, 85–86)
Mit Ausnahme des ‚Wessobrunner Gebets‘ fangen alle Gebete mit der direkten Anrufung Gottes an, die folgendermaßen realisiert werden kann: (7a) Du himili_co trohtin (Sigiharts Gebete, 125r, 20; ID 2764) (7b) Trohtin christ in himile (Sigiharts Gebete, 125r, 21; ID 2765) (7c) Truhting?d (Fränkisches Gebet, 110r, 5; ID 2716)
322 | 6 Historische formelhafte Sprache textuell und textübergreifend
(7d) Trohtin (Altbairisches Gebet, Hs. B, 117r, 1; ID 2746;Klosterneuburger Gebet,181, XXIV, 1; ID 30425) (7e) Trohtin almahtiger (Otlohs Gebet, 161v, 11; ID 3856)
Die formelhafte Wendung ist auch in Predigten und Beichten belegt und begegnet in Gebeten am häufigsten in der Form (7d). In dieser Form taucht sie auch nicht einleitend auf und ist Bestandteil der formelhaften Wendungen, die Gebetsbitten zum Ausdruck bringen.8 Nicht einleitend sind außerdem folgende Varianten überliefert: (7f) alle_ uualtanto trohtin . got almahtigo (Altbairisches Gebet, Hs. B, 117r, 10; ID 2754) (7g) christ cotas sun trohtin (Altbairisches Gebet, Hs. B, 117r, 14; ID 13233) (7h) trohtin ganadigo kot (Altbairisches Gebet, Hs. B, 117r, 15; ID 2757) (7i) Cot almahtico (Wessobrunner Gebet, 65v, 13; ID 2686) (7j) Got (Augsburger Gebet, 1r, 4; ID 2766)
Die Gebete akzentuieren die Bitten um Gnade und Erbarmen, Hilfe, Vergeben von Schulden, um rechten Glauben und rechten Willen, moralische Stärke und Gottes Huld, Heil und Wohlergehen, um Schutz vor Übel, Weisheit und Kraft. Sie sind zumeist persönlicher Art, gehen von einem betenden Individuum aus und sind auf das Wohlergehen dieses Individuums gerichtet. Nur im ‚Otlohs Gebet‘ begegnen die Bitten um Hilfe für das Kloster, für die Verbrüderten des Konvents, für andere geistliche Gemeinschaften, für die laikale Obrigkeit, für alle Kleriker und Laien, für die eigenen Sippengenossen sowie die toten Brüder und Verbrüderten des Klosters. Die Ähnlichkeit ist vor allem auf der abstrakten Ebene des zugrunde liegenden formelhaften Musters zu beobachten, dessen Herkunft aus direkten
|| 8 Vgl. etwa das ‚Altbairische Gebet‘, Hs. B, 117r, 8; 117r, 12; 117r, 16; 117r, 18; 117r, 19; das ‚Klosterneuburger Gebet‘, 181, XXIV, 4 und mehrere Stellen im ‚Otlohs Gebet‘.
6.1 Pastorale Gebrauchsliteratur | 323
bzw. nicht direkten lat. Gebetsfassungen von der literaturhistorischen Forschung bereits früh hervorgehoben wurde. Das Muster lässt sich wie folgt formulieren: VERB(Imper)+ VP(Verb, AkkO)+ INTI + VP + INTI + VP + […n]
Die konkrete Umsetzung dieses Musters variiert auf der Ebene der Besetzung der lexikalischen Konstituenten auch in den Gebeten, für die eine engere Verwandtschaft postuliert wurde, vgl. die Beispiele in (8): (8a) Truhting?d thu mir hilp · indi forgip mir gauuitʒi · | indi g?dan galaupun · dina minna indi rehtan | uuilleon · heili indi ga_unti · indi thina guodun huldi […] (Fränkisches Gebet, 110r, 5–7; ID 13231) (8b) […] daz du mir trohtin | keni_ enti ginada . far kip . dazih . fora dinen ougun . un_camanti mozzi uueſan | enti dazih in desaro uueralti minero mi__etato riuun . enti harm_cara hapan | mozzi. _oliho _o dino miltada _in. alle_ uualtanto trohtin . got almahtigo | kauuerdo mir helfan . enti gauuerdo mir fargeban . keuuizzida . enti | furiſtentida . cutan uuillun . mit rehtan galoupan . za dinemo deonſta . trohtin | du in de_a uuerolt quami . _untiga za generinna . kauuerdo mih gahaltan | enti ganerien. chri_t cota__un trohtin _o_o du uuele_ enti _o_o dir gezeh _i | tua pi mih _calh dinan . trohtin ganadigo kot . keuuerdo mir helfan dinemo | _calhe du eino uue_t trohtin uuemo durfti sint. in dino genada trohtin | pifilhu . min herza . mina gadancha. minan uuillun. minan mot . minan | lip. miniu uuort . miniu uuerh. leiſti trohtin dino ganada. uper mih ſuntigan | dinan ſcalh. kaneri mih trohtin fonna allemo upila. (Altbairisches Gebet, Hs. B, 117r, 7–19; ID 2753) (8c) Forgip mir in dino | ganada rehta galaupa . | [enti] cotan uuilleon . uui_tom . | enti_pahida [enti] craft . tiuflun | za uuidar _tantanne [enti] arc | za pi uui_anne [enti] dinan uuil|leon za [ga]uurchanne (Wessobrunner Gebet, 66r, 2–8; ID 13276)
Etwas anders ist der Bittteil im ‚Otlohs Gebet‘ aufgebaut. Das oben angeführte Muster mit imperativischen Verbalphrasen ist nur marginal vertreten; im Zentrum steht das mehrfache Wiederholen der die Bitten einleitenden Wendungen nach folgenden zwei Mustern: DARA NAH + VERB IMPER.(gib, hilf, macha) + PERSPRON(mir) + AKKO + (DAZ)
(8d) Dara nah macha mih also fron unta | kreftigin in alle dinemo diono_ti . daZ ih alla die | arbeita megi lidan die ih in deſer werolti ſculi li|dan durh dina era unta durh dinan namon . iouh | durh mina durfti . odo durh îomanneſ durfti. (Otlohs Gebet, 161v, 21–25; ID 14133) DARA NAH + VERB 1.P.SG.PRÄS.(bito, rNfi, piuiliho)+ PERSPRON(ih)+ (UMBE) + DAZ + […]
324 | 6 Historische formelhafte Sprache textuell und textübergreifend
(8e) Dara nah bito ich daZ| du mir gebeſt ſoliha ſubricheit minan gidanchan iouh | minemo lihnamon ſlaffentemeo odo wachentemo . | daZ ih wirdiglihen unta amphanglihen Zi dinemo | altari . unta Zi allen dinemo dionoſti megi gen. (Otlohs Gebet, 162r, 6–10; ID 14137)
Vollmann (22010, 11, 1145) und Müller (2013, 346) bemerken zurecht, dass bei den Gebetsbitten in diesem Text fast alle Teile der lat. Fassungen9 mit aufgenommen sind, jedoch so modifiziert, dass die spezifischen Mönchsbitten weggelassen oder für Laien umformuliert und zusammengefasst sind. Die sich insgesamt 18 Mal wiederholende Wendung interpretieren sie als eine Erweiterung des lat. Formulars, die ihren Ursprung in der volkssprachigen Gebetspraxis haben könnte. Wie die Beispiele (8d) und (8e) veranschaulichen, sind auch diese formelhaften Muster der Superstruktur mikrostrukturell zusätzlich durch die sich wiederholenden, parataktisch aneinandergereihten Modellbildungen realisiert. Dies verstärkt in erheblichem Maße die gesamte formelhafte Geprägtheit des Gebetstextes.
6.2 (Weltliche) Gebrauchsliteratur: Eide und Rechtstexte Aus dem Bereich der weltlichen Gebrauchsliteratur greife ich exemplarisch die ahd. Eide und Rechtstexte heraus. Der Eid als eine mündlich gegebene Versicherung im Laufe einer verbalen und nonverbalen Schwurzeremonie ist per se rituell an das Rechtsleben gebunden und erhält hier einen feierlichen Charakter. Sowohl Eide als auch Rechtstexte greifen zu ähnlichen formelhaften Wendungen, und genau diese Gemeinsamkeiten erlauben mir, die Texte im Folgenden vergleichend zu behandeln. Dieses Kapitel handelt grundsätzlich von der weltlichen Gebrauchsliteratur, allerdings mache ich bei einem Beispiel – dem ‚Klerikereid/ Priestereid‘ – eine Ausnahme. Dieser Text steht eindeutig im nicht weltlichen, religiösen Gebrauchskontext, dient mir aber als Vergleichsbasis bei der Untersuchung des formelhaften Inventars der ‚Straßburger Eide‘, einem weltlichen Eidestext. Auch bei diesen Beispielen lassen sich Parallelen in der formelhaften Gestaltung nachweisen, die zugleich die Schwierigkeit der Trennung der weltlichen und religiösen Eigenschaften als eines der wichtigsten Charakteristika der mittelalterlichen Literatur vor Augen führen.
|| 9 Gemeint ist vor allem der lat. Text ‚Oratio cuiusdam peccatoris‘ (Vollmann 22010, 11, 1145), von dem eine Version dem volkssprachigen Gebet unmittelbar vorausgeht (Rez. A: clm 14490‚ 158r– 161v) und eine weitere sich in derselben Handschrift befindet (Rez. C: clm 14490‚ 51r–54r). Zwei weitere Fassungen sind in zwei anderen Münchner Hss. (Rez. D: clm 14756‚ 101v–106r und Rez. E: clm 18937‚ 256v–259v) tradiert.
6.2 (Weltliche) Gebrauchsliteratur: Eide und Rechtstexte | 325
6.2.1 ‚Straßburger Eide‘ Die aus zwei Gelöbnissen der Heere und zwei eigentlichen Eidesteilen der Herrscher in zwei Sprachen – romanisch und germanisch – gehaltenen ‚Straßburger Eide‘10 sind in einen narrativen Text des Historiographen Nithard eingebettet und überliefern eine politische und somit weltliche Bündnisbekräftigung zwischen Ludwig dem Deutschen und Karl dem Kahlen gegen ihren Bruder Lothar I. und den Neffen Pippin II von Aquitanien (Bergmann 2013, 439–441). Die Zugehörigkeit des Textdenkmals zu Rechtsquellen wurde bereits in der älteren Forschung in erster Linie durch das Vorhandensein zahlreicher formelhafter Wendungen begründet, die für die Makrostruktur des Textes für konstitutiv gehalten worden sind und Parallelen zur lat. Kanzlei- und Urkundensprache aufweisen. Ewald (1964, 53–54) hat für den altfranzösischen Teil nachgewiesen, dass der Schreiber bzw. der Verfassermit der Kanzleisprache so vertraut gewesen war, dass er deren wesentliche Elemente, darunter auch formelhafte Wendungen, in der Volkssprache bewahrt. Schmidt-Wiegand (1977, 65) nimmt es auch für den ahd. Teil an, obwohl sie auch den Einfluss der mündlich geprägten altdeutschen Rechtssprache betont (ebd., 71) und Parallelen zu den formelhaften Wendungen in Beichttexten herausarbeitet (ebd., 69). Das Letztere gilt insbesondere für den Gelöbnisteil der ‚Straßburger Eide‘. Auch wenn sich die genaue Herkunft der Wendungen nicht rekonstruieren lässt, tangiert dies in keiner Weise die zentrale Aussage des vorliegenden Kapitels darüber, dass der Aufbau des Textes nach makro- und mikrostrukturellen Mustern erfolgt. Das Vorkommen der Wendungen in anderen Text(sorten) kann sogar als ein zusätzlicher Beweis für ihre Formelhaftigkeit gedeutet werden. Der ahd. Teil des Eides beginnt mit der formelhaften Wendung (9): (9) In godeſ minna ind in theſ chr[ist]aneſ folcheſ | ind unſer bedhero gealniſſi . fon theſe|mo dage frammordeſ ſo fram ſo mir got | geuuizci indi madh furgibit ſo haldih teſ|an minan bruodher ſoſo man mit rehtu | ſinan bruoher ſcal in thiu thaz er mig ſo ſo|ma duo · indi mit luheren in no[h]einiu t|hing ne gegango · zhe minan uuilon imo | ce ſcadhen uuerhen (Straßburger Eide, 13r, 16–20; ID 3708; ID 3709; ID 13265)
Ewald (1964, 36–40) führt zahlreiche Belege aus den lat. Kapitularien an, mit denen auf den ersten Blick alle drei in (9) kursiv hervorgehobenen Wendungen Wort für Wort übereinstimmen. Da die ‚Straßburger Eide‘ kein Übersetzungstext
|| 10 Die folgenden Belege sind nach dem einzigen Textzeugen Paris BNF lat. 9768, f. 13rb–13va zitiert.
326 | 6 Historische formelhafte Sprache textuell und textübergreifend
sind, ist diese Übereinstimmung aber nur inhaltlicher, nicht formaler Art und zeugt bei allen Parallelen auch vom freien Umgang mit dem Inventar an formelhaften Wendungen. Die Wendungen geuuizci indi madh und ſoſo man […] ſcal sind auch im ‚Klerikereid‘ belegt (vgl. unten Kap. 6.2.2) und erinnern ferner auch an Beichten (Gottwald/Hanauska 2013a). In Bezug auf die Gelöbnisteile der Heere geht die literaturhistorische Forschung von einer weniger ausgeprägten Bindung an den kanzleisprachlichen Stil aus. Die für die Eidesleistung typischen formelhaften Wendungen finden sich hier aber trotzdem, vgl. etwa die Kollokationen den eid swerian, den eid leisten oder den eid forbrehhan in Beispiel (10): (10) Oba karlthen eid . then er ſinemo bruodher | hludhuuuige geſuorgeleiſtit . indi lud|huuuig min herro then er imo geſuorforbrih|chit . ob ih inan eſ iruuenden ne mag noh | ih noh thero nohhein the ih neſ iruuenden mag | iuudhar karle imo ce folluſti ne uuirdhit. (Straßburger Eide, 13v, 1–6; ID 13266; ID 13277; ID 13278)
6.2.2 ‚Klerikereid‘/‚Priestereid‘ Der ‚Klerikereid‘11 steht im Vergleich zu ‚Straßburger Eiden‘ in einem ganz anderen, nicht weltlichen, sondern kirchlichen Gebrauchskontext, weist aber im makrostrukturellen Aufbau Parallelen mit weltlichen Eiden auf. Die Formelhaftigkeitsforschung stellt dieser Text insofern vor Probleme, als es schwierig ist, hier einzelne formelhafte Wendungen voneinander eindeutig abzugrenzen. In Beispiel (11) ist der Text des Eides vollständig angeführt: (11) DE SACRAMENTOS EPISCOPIS QUI ORDIN[ANDI SUNT AB EIS] (?) | Daz ih dir hold pin. N. demo piſcophe . ſo mi|no chrephti . enti mino chunſti ſint. ſi mi|nan vuillun . fruma fru[m]menti enti ſcadun | vuententi. kahorich . enti kahengig. enti | ſtatig. in ſinemo piſcophtuome . ſo ih mit | rehto aphter canone ſcal. (Klerikereid, Hs. A Clm. 6241, 100v, 1–6; ID 2760–2762; ID 13688–13692)
Entgegen der älteren Forschung, die bereits früh die Verwendung einzelner formelhafter Wendungen im Eid hervorgehoben hat (Schmidt-Wiegand 1977, 72–77;
|| 11 Ich ziehe im Folgenden die neuere Bezeichnung ‚Klerikereid‘ in Anlehnung an die Neubewertung des Textes in Esders/Mierau (2000) der älteren ‚Priestereid‘ vor und zitiere nach Hs. A BSB München, Clm. 6241, Bl. 100v.
6.2 (Weltliche) Gebrauchsliteratur: Eide und Rechtstexte | 327
2010, 827–828), ist in der HiFoS-Datenbank zunächst der gesamte Eid als ein formelhafter Mikrotext dokumentiert. Die Zuordnung erfolgt aufgrund der pragmatischen Funktion des Textes: Es handelt sich dabei um eine hochritualisierte Eidleistung der Priester und Kleriker, bei der die Eidleistenden eine Treue- und Gehorsamsverpflichtung gegenüber dem Freisinger Bischof eingehen, zu dem sie in einer lehnsrechtlichen Beziehung stehen. Der Eid wird mit der formelhaften Wendung daz ih dir hold pin eröffnet, die zwar in römischen Sakramenten und Ordines ohne Parallelen steht, sich aber in den in Latein aufgezeichneten Treueeiden der karolingischen Zeit wiederfindet (Schmidt-Wiegand 22010, 827). Da nicht davon auszugehen ist, dass der ‚Klerikereid‘ unmittelbar auf lat. Vorlagen zurückgeht, illustriert er eher die Verwendung des Formelinventars, das für Eide und Treuegelöbnisse existiert haben und mit dem der Verfasser vertraut gewesen sein musste. In diese Richtung deuten auch die abschließenden Formeln so ih scal und mit rehto; sie sind auch in den ‚Straßburger Eiden‘ belegt, vgl. Beleg (9). Die Funktionen der beiden Wendungen gehen aber weit über rein formale Funktionen der Strukturierung des Textes auf der Makroebene hinaus, betreffen den Inhalt des Schwures und fungieren als Beteuerungen im rechtlichen Kontext. Der benifizialkirchliche Treueeid greift auf die Rechtspraxis der weltlichen Belehnung zurück, was sich u.a. im Gebrauch einzelner mikrostruktureller formelhafter Wendungen in der inneren Struktur des Eides bemerkbar macht. Erfolgt in den ‚Straßburger Eiden‘ die Beteuerung der Treue mithilfe der Wendung ſo fram ſo mir got geuuizci indi madh furgibit unter Rekurs auf Gott, kommt sie im ‚Klerikereid‘ ebenfalls zu Beginn des Textes in der Wendung ſo mino chrephti enti mino chunſti ſint durch Verweis auf eigene Kräfte zum Ausdruck. Die Ähnlichkeit des zugrunde liegenden syntaktisch-semantischen Musters ist aber unverkennbar und findet ihre Erklärung in den Aufzeichnungen karolingischer Treueeide in lateinischer Sprache. Sie überliefern die Belege quantum mihi Deus intellectum dederit und quantum ego scrio intellego (Schmidt-Wiegand 22010, 828), die inhaltlich mit den formelhaften Wendungen in den ahd. Eiden übereinstimmen, auf der Ebene der Form aber mit dem Inventar der Wendungen frei umgehen. Die ahd. Überlieferung zeigt, dass bei der Wendung chrephti enti chun_ti auch eine Paarformel angenommen werden kann, die u.a. im ‚Heliand‘ (11a) und ‚Otlohs Gebet‘ (11b) belegt ist. Die ‚Fuldaer Beichte‘ enthält zweimal die Variante mahti inti giuuizzi (11c,d), die sich bei der Besetzung der lexikalischen Slots von den Belegen (11), (11a) und (11b) unterscheidet, thematisch und kontextuell (Anrufung einer Gottheit) allerdings mit diesen übereinstimmt.
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328 | 6 Historische formelhafte Sprache textuell und textübergreifend
(11a) Thuo theſ ſo manag hethin man | uueroſ uundrodun quathun that im | uualdand ſelf God alo mahtig for | geƀan habdi merun mahti than elcor | enigon manneſ ſunie Craft endi cun_ti (Heliand, 65v, 11; ID 6115) (11b) Trohtin du gib mir craft iouh du chunst dara Zuo. (Otlohs Gebet, 162r, oberer Rand; ID 33412) (11c) So bin ih eſ gote almah|tigen bigihtig . Inti allen | goteſ heilagon . Inti thir go|teſmanne . Inti gerno buoz | ziu framort . So fram ſo | mir got almahtigomahti | Inti giuuizziforgibig. (Fuldaer Beichte, 187va, 26; ID 13207) (11d) Almahtig truhtin‚ forgib uns | mahti inti giuuizzithinan | uuillon zigiuuircanne Inti | zigifremenne . So iz thin | uuillo ſi . AMEN (Fuldaer Beichte, 187va, 29; ID 2745)
Mit der ein kognates Objekt enthaltenen Kollokation fruma frum(m)enti ‚Nutzen vollbringen‘ greift der ‚Klerikereid‘ wohl ebenfalls die mündliche Tradition der Treueeide der Karolingerzeit auf. Als figura etymologica dient der Beleg der Bekräftigung der Aussage, die durch die endreimende Kombination mit der Kollokation ſcadun vuententi ‚Schaden abwenden‘ nochmals intensiviert wird. Die intensivierende Funktion lässt sich ebenfalls bei der stabreimenden Paarformel kahorich enti kahengig ‚gehörig und ergeben‘ feststellen, die im Text des Eides wieder durch das endreimende enti ſtatig ‚und beständig‘ erweitert ist und dadurch dem gesamten Ausdruck eine weitere Steigerung verleiht. Zur Entstehung der Formelhaftigkeit tragen hier somit nicht nur die Musterhaftigkeit des sprachlichen Ausdrucks, sondern auch rhetorische und klangliche Mittel bei. Mit Schmidt-Wiegand (1977, 75) ist ferner die Begleitung der sprachlichen Handlung durch die ritualisierte Gebärde „der Handreichung wie bei der Kommendation oder einer Handerhebung wie beim Schwur“ anzunehmen, die möglicherweise auch das Fehlen des einleitenden Hauptsatzes des Typs Ich schwöre oder Ich gelobe erklären kann.12
|| 12 Syntaktisch gesehen ist der ‚Klerikereid‘ ein Nebensatz, der abrupt beginnt und keinem Hauptsatz untergeordnet ist.
6.2 (Weltliche) Gebrauchsliteratur: Eide und Rechtstexte | 329
6.2.3 Bruchstück einer ahd. Übersetzung der ‚Lex Salica‘ Den Eiden folgen als weitere Beispiele aus dem rechtlichen Bereich nun die Rechtstexte. Die Übersetzungstechnik des Bruchstücks einer ahd. Übersetzung der karolingischen, 802/803 entstandenen Fassung der lat. ‚Lex Salica‘13 macht den Text für sprachhistorische Untersuchungen vor allem angesichts der „flüssigen Selbständigkeit“ (Schmidt-Wiegand 1996, 11) gegenüber der lat. Vorlage und der Verbindung des schriftsprachlichen Stils mit den Elementen der älteren mündlichen Rechtssprache wertvoll. Zu den letzteren werden z.B. die im Text vorkommenden Stabreime, „rhythmische Gliederung und rhetorische Interpunktion“ (Haubrichs 1995, 155) gezählt, die möglicherweise auf die Konzipierung der volkssprachigen Übertragung für den mündlichen Vortrag hindeuten. Obwohl dieser Text seit Langem als ältestes und bedeutendstes „Meisterstück ahd. Fachsprache und Übersetzungskunst“ (Sonderegger 32003, 132; Sonderegger 22010, 305; Sonderegger/Klaes 2013, 236–237) hervorgehoben wurde, erfolgte seine Erforschung kaum aus der Perspektive der Formelhaftigkeit. Für den Aufbau des Textes sind folgende formelhafte Wendungen konstitutiv: (12) [_]oher_o ſui biſtoozzit In điu|biu gelte _olvii foruzan | haubitgelt Inti virh[riun] (Lex Salica, 4, 7; ID 3341)
Beleg (12) steht prototypisch für eine Gruppe von formelhaften Wendungen, die in beiden Kapiteln der ahd. Übertragung des Rechtstextes 12 Mal vorkommen. Alle Belege dieser Gruppe teilen das zugrunde liegende syntaktische Muster, das einerseits in seiner Grundstruktur in hohem Maße fest ist und dessen lexikalische Slots andererseits frei austauschbar sind. Das zugrunde liegende Muster kann wie folgt abgebildet werden: SOHWERSO/hER + SUBJ.(Subst., Pron.)+ PRÄD.(Verb)+ GELTE(SOL)+ (FORUZAN HAUBITGELT INTI VIRhRIUN)
Das einleitende Pronomen sohwerso ‚jeder, der‘ fehlt von 12 Belegen der Gruppe nur zweimal und variiert mit dem Pronomen her ‚wer‘. Ebenfalls zweimal fehlt das Modalverb soll, und dreimal kommt der Beleg ohne den eingeklammerten Zusatz foruzan haubitgelt inti virhriun‚außer dem Wertersatz und dem Weigerungsgeld‘ aus. Sonst sind diese Elemente stabil und bilden das Gerüst der Grundstruktur in der angegebenen Form. Frei besetzt sein können hingegen die Subjekt- und Prädikatslots; die Struktur erlaubt ferner die Ergänzung durch andere Elemente
|| 13 Alle Belege werden nach der Hs. Trier Stadtbibliothek, Mappe X Nr. 1 (Entstehungsort: Mainz, Entstehungszeit: Anfang 9. Jahrhundert) zitiert.
330 | 6 Historische formelhafte Sprache textuell und textübergreifend
(Attribute, Relativsätze). Dieses syntaktische Muster entspricht im Ganzen auch der in der lat. Vorlage verwendeten Wendung si quis […] qui […] excepto capitale et dilatura.14 Im Althochdeutschen hat die Wendung einen terminologischen Charakter, weil sie einen rechtlichen Gegenstand beschreibt. Sie erfüllt gleichzeitig textstrukturierende Funktionen, indem sie auf die gleiche Art und Weise verschiedene rechtliche Sachverhalte einleitet und voneinander abgrenzt. Aufgrund der teils festen teils variablen Struktur ist sie ferner als eine Modellbildung im phraseologischen Sinn zu betrachten. Insofern wäre sie auch im konstruktionsgrammatischen Paradigma zu diskutieren, wenn man zumindest in Bezug auf das schriftlich überlieferte Althochdeutsche die singuläre Gebundenheit der Wendung und ihrer Varianten an dieses eine Fragment der ‚Lex Salica‘-Übersetzung in Kauf nimmt. Das in Bezug auf die Form und Funktionen des Beispiels (12) Gesagte gilt im gleichen Maße auch für die Wendung in (13a): (13a) ibu er Innan đeſ | geveſ in ſinemo arunte | iſt · đanne mager Ini | menen ſoſo iz heer obana | giſcriban iſt (Lex Salica, 2, 15; ID 3335)
Sie ist in der ahd. ‚Lex Salica‘ dreimal belegt und basiert auf dem zugrunde liegenden Muster IBU + SUBJ. + PRÄD. + ĐANNE + PRÄD. + SUBJ. +(FORUZAN HAUBITGELT INTI VIRhRIUN),
das sich um die Konjunktion ibu – danne ‚wenn – dann‘ bildet. Bei (13b) handelt es sich um die gleiche Stelle, die aber eine weitere formelhafte Wendung – die Routineformel ſoſo iz heer obana giſcriban iſt‚ wie es hier oben geschrieben ist‘ – tradiert: (13b) ibu er Innan đeſ | geveſ in ſinemo arunte | iſt · đanne mager Ini | menen ſoſo iz heer obana | giſcriban iſt (Lex Salica, 2, 18; ID 3333)
Obwohl der literatur- und rechtshistorischen Forschung bezüglich der Mündlichkeit in der ‚Lex Salica‘ grundsätzlich zuzustimmen ist, deutet Beleg (13b) in eine andere Richtung. Die zurückverweisende Routineformel stellt Verbindungen
|| 14 Der Text der lat. Vorlage nach Braune/Ebbinghaus (1994, 44–45).
6.2 (Weltliche) Gebrauchsliteratur: Eide und Rechtstexte | 331
zwischen den Teilen des Textes her und spricht für seine schriftsprachliche Ausrichtung. Interessanterweise steht die ahd. Wendung mit dem Verb scr0ban ‚schreiben‘ für sicut superius dictum est ‚wie oben gesagt ist‘ der lat. Vorlage.
6.2.4 ‚Trierer Capitulare‘ Das für das ‚Lex Salica‘-Fragment typische formelhafte Muster (12) findet sich im nächsten Beispiel aus dem Bereich der ahd. Sprache, dem ‚Trierer Capitulare‘15, nur einmal, vgl. Beleg (14): (14) Soúersesachún sinú thúrúhe salilichedi selú sinerú athe ce anderrn | eraftlicherú stat athe gelegenemo sinemo athe seúúemo andremo | versellan vúilit‚ inde cethemo cide inneneúúendiún therú selúerú grasceffi | vúisit‚ in therú sachún thia gesat sint vuut vuizzetathia sala | cegedúne geúlize. (Trierer Capitulare, 33v, 7; ID 13892)
Die Modellbildung begegnet in einer im Vergleich zur ‚Lex Salica‘ reduzierten Form souerse [...] geulize ‚wer immer […], bemühe sich‘, erlaubt allerdings viel umfangreichere Erweiterungen durch Attribute und Aufzählungen. Sie folgt enger der lat. Vorlage16 und erfüllt ähnliche Funktionen der kausalen Beschreibung bestimmter Bedingungen, unter denen die zu erbringenden Handlungen als rechtmäßig gelten und somit einen korrekten juristischen Sachverhalt ausmachen. Konstitutiver für den formelhaften Aufbau der Makrostruktur im ‚Trierer Capitulare‘ ist aber das Muster, das in (15) exemplarisch veranschaulicht ist: (15) That aúothemo seluemo cide that er thúi sellan | úúlilit úzze neúúendiún thern therú grasceffi vúisit that ist athe in here | athe inpalice athe in anderú sumeúúelicherú stedi‚ samant neme| himo athe vanesinengelandún athe vane andern thie therú selúeru vuizzidi leúe[n] | therú er selúo leúit urcundun rehtliche […] (Trierer Capitulare, 33v, 15; ID 13893)
Die zugrunde liegende Struktur THAT AUO + SUBJ. + PRÄD., KONJ. + PRÄD.(Verb imper.) findet sich im Text an fünf weiteren Stellen wieder, allerdings sind hier nicht nur freie Slots variabler besetzbar; auch die angegebenen festen Bestandteile weisen
|| 15 Alle Belege werden nach der Hs. Trier Stadtbibliothek, Hs. 1362a/110a 4 fol. 33v–34r (Entstehungszeit Text: Ende 10.-Anfang 11. Jahrhunderts, Entstehungszeit Hs.: um 1600; Entstehungsort: Trier?) zitiert. 16 Gemeint ist hier c. 6 eines Kapitulars Ludwigs des Frommen aus der Zeit 818/819, das zur Gruppe der Capitula legibus addenda gehört.
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lexikalische Variation auf; sie können auch ganz fehlen. Die Varianten sind in (15a-d) aufgelistet: (15a) INDE AUO + SUBJ. + PRÄD., PRÄD. Inde aúo sumeúúelicherú samonúngún thia sellan batganerúo siner then | vuizzut bit therú kirichún vona themo uoragesphrochenemo erúehaúe that | bit andremo geanerúen sinemo haúan solda. (Trierer Capitulare, 34r, 25; ID 13903) (15b) INDE AHTER THIÚ + SUBJ. PRÄD., SUBJ. PRÄD. Inde ahter thiú thiú sala so getan vúirthit‚ ge?anerúún| sin selúes neieina vonathen vora geqúetanen sachún múgi geduan irúangida. (Trierer Capitulare, 34r, 7; ID 13895) (15c) AUUR AUOR + SUBJ. + PRÄD.‚ THANNE + PRÄD. Aúúe auorvur thie haúan ?in | mo mach‚ thanne vane andern soúúeliche thar bezzera uúúndan mugen vúertha[n] (Trierer Capitulare, 33v, 23; ID 13900) (15d) INDE AUO + PRÄD., PRÄD. Inde aúo noh | thanne sachun sinú bit geanerúún sinen gesunduruth ne hauoda nesi himo that | ceúngeuuor samithú‚ sunder geanerúo siner aúo er gerno neúúilit‚ athe thuruch | then graúún athe thurúch bodún sinin bethungen vuerthe‚ that thia sundrúnga bit | themo dúe ce themo ther geendido erúetha sina uol vuolda vollocoman. (Trierer Capitulare, 34r, 15; ID 13901)
Wie die Belege (15) und (15d) zeigen, können ferner andere Wendungen in die Struktur des beschriebenen formelhaften Musters eingehen, vgl. z.B. die Modellbildung athe […] athe […](athe […]) ‚entweder – oder‘, mit deren Hilfe der juristische Vorgang dargelegt und Alternativen aufgezählt werden, oder die Routineformel that ist ‚das heißt‘, die in (15) dem Zweck der Erklärung dient. Nicht zuletzt sind es auch Kollokationen, die an den rechtsprachlichen Kontext gebunden sind, im Althochdeutschen laut den Angaben der HiFoS-Datenbank nicht anders belegt sind und durch diese Gebundenheit zur textsortenspezifischen Formelhaftigkeit in der Makrostruktur beitragen. Schmidt-Wiegand/Klaes (2013, 469) bemerken, dass sich im Text des ‚Trierer Capitulare‘ eine Reihe von Wörtern finden, „die in der Folgezeit zu zentralen Begriffen der Rechtssprache werden sollten, wie gewalt ‚Verfügungsgewalt‘, firsellen ‚übereignen‘, sala ‚Übereignung‘, salunga ‚Übereignung, Übertragung‘, wizzôd ‚(Stammes-)Recht‘, urkundeo ‚Zeuge‘, burgio ‚Bürge‘, geanerbo ‚heres proximus, heres, (Mit-)Erbe“. Diese Behauptung muss sich allerdings nicht auf die Einzellexeme beschränken und gilt für die in (16a-d) aufgelisteten Kollokationen genauso:
6.3 Weltliche Gebrauchsliteratur: Segensprüche/Beschwörungen | 333
(16a) iruangida geduan ‚eine Rückforderung geltend machen‚ Recht auf eine Rückerstattung haben‘ (Trierer Capitulare, 34r, 9; ID 13186) lat. repetitionem facere (16b) salunga/sala geduen ‚eine rechtsgültige Übereignung vollziehen (im Rahmen einer Vererbung‚ evtl. auch Schenkung)‘ (Trierer Capitulare, 33v, 10; 34r, 3; 34r, 8; ID 13187) lat. traditionem facere (16c) sala intfahan ‚eine rechtsgültige Übereignung empfangen (im Rahmen einer Vererbung‚ evtl. auch Schenkung)‘ (Trierer Capitulare, 34r, 4; ID 33413) lat. traditionem accipere (16d) geuueri geduen/geven‚eine rechtsgültige Einsetzung eines anderen in einen rechtlichen Status vollziehen‘ (Trierer Capitulare, 34r, 4–5; ID 13188) lat. vestituram facere
6.3 Weltliche Gebrauchsliteratur: Segensprüche/Beschwörungen Das dritte Beispiel aus dem Bereich der weltlichen Gebrauchsliteratur sind die altdeutschen Segenssprüche. Ich beschränke mich auch in diesem Unterkapitel auf die Texte aus der ahd. Zeit und nur auf die in der Volkssprache; jüngere Textzeugnisse bzw. lat. Texte aus dieser Zeit werden nach Bedarf zum Vergleich herangezogen. Innerhalb der neueren Forschung zeigen Holzmann (2001) und Schulz (2003) das Fortleben der hier besprochenen Muster sowie ihre Anfänge bzw. Parallelen in anderen Kulturen und Sprachen;17 Embach (2007) erläutert detailliert die Besonderheiten der Trierer Überlieferung sowohl in der Volkssprache als auch in Latein; Riecke (2004) beleuchtet die frühmittelalterlichen Segenssprüche aus fachsprachlicher Perspektive.
|| 17 Vgl. auch bereits Kuhn (1864).
334 | 6 Historische formelhafte Sprache textuell und textübergreifend
An sich ist die Textsorte gut untersucht.18 Bereits die ältere Forschung ist davon ausgegangen, dass die Texte trotz aller Schwierigkeiten ihrer Dekodierung keine sinnleeren Zeichengebilde sind, sondern „formeln im auszerkirchlichen gebrauch, christlicher und nicht christlicher art, denen eine übernatürliche wirkung und zwar meist schützender, heilsamer art zugeschrieben wird […]“ (DWB 10, 104). Außer Frage steht die lange mündliche Tradition der Segenssprüche, die ihrer Verschriftung vorangeht. Das Oszillieren zwischen dem Christentum und dem Heidentum, auf das bereits die Brüder Grimm in der oben angeführten Definition hinweisen, findet auch in der Überlieferungsgeschichte der Texte ihren Ausdruck; die Überlieferungsgeschichte gibt gleichzeitig Auskunft über die Verwendungszusammenhänge: Die Segenssprüche begegnen entweder im Kontext von Predigten, Gebeten und liturgischen Werken oder sind Bestandteile von heilkundlichen Handschriften. Auch diese Textsorte demonstriert somit das bei Eiden angesprochene Problem der eindeutigen Trennung der weltlichen und religiösen Literatur im Mittelalter. Ihre Verschriftlichung erfolgte ungeachtet des christlichen oder nicht christlichen Inhalts im monastischen bzw. klerikalen Milieu. Die mündliche und schriftliche Verwendung basiert auf der für die historische Zeit üblichen Vorstellung von der Identität von res und signum (Foucault 1995, 67), von der Kongruenz zwischen Wort und Sache, die zu der Überzeugung führen, „dass das magische Wort bewirkt, was es sagt“ (Embach 2007, 69).19 Die materialhaft gedachte Kraft von Wort bzw. Schrift hilft, Krankheitsdämonen zu vertreiben, Besessene und Ohnmächtige wiederzubeleben, Wunden zu heilen, Bedrohungen abzuwenden und vor der Einwirkung böser Geister zu schützen. Die Überlieferungszusammenhänge zeigen, dass diese Art der Medizin im Mittelalter in deutlichem Unterschied zu heutigen Vorstellungen ein wesentlicher Teil des zeittypischen Weltverständnisses war (vgl. auch Riecke 2004, 105). Im Folgenden wird nachgewiesen, dass dieses Weltverständnis formelhaft geprägt ist. Im Mittelpunkt der Forschung standen bis jetzt eher die Überlieferungsgeschichte, die Motivik, die nicht selten auf die Klärung der in Segenssprüchen vorkommenden Krankheitsbezeichnungen bezogen war, sowie die textgenealogischen Abhängigkeiten im Sinne stemmatologischer Versuche. Mehrmals wurde hervorgehoben, dass die Wirkung der magischen Worte durch verschiedene Merkmale der Texte erzielt wird, insbesondere durch Metrik und ihre poetische
|| 18 Die vier genannten rezenten monographischen Untersuchungen geben einen erschöpfenden Überblick über die ältere und neuere Forschungsliteratur zu dieser Textsorte. Vgl. ferner einen Überblick in Schmid (2015). 19 Vgl. zu ‚Zaubersprüchen‘ als performativen Texten Haeseli (2011, 16–19).
6.3 Weltliche Gebrauchsliteratur: Segensprüche/Beschwörungen | 335
Gestalt (Grimm 1835/1981, 1023; Embach 2007, 63). Schulz (2003, 28) weist auch auf besondere Modi der Rezitation (Flüstern, Raunen, Singsang) hin, wobei einer spezifischen Intonation seit den frühen Anfängen eine tragende Rolle zugeschrieben wurde. Insbesondere bei der Untersuchung der Motivik hat die Forschung mehrmals hervorgehoben, dass die in den Historiolae tradierten narrativen Teile sich in unterschiedlichen Segenssprüchen in gleicher oder variabler Form, an gleichen oder unterschiedlichen Stellen wiederholen und eine Einteilung der Textsorte in zwei Typen ermöglichen: einen stärker narrativ-legendenhaften Typ mit Rahmenhandlung, der auf der Analogiewirkung von Rahmen- und Heilhandlung beruht, und einen imperativen handlungsanweisenden Typ, der auf den epischen Rahmen eher verzichtet (vgl. stellvertretend Holzmann 2001). Malinowski (1986, 172) beobachtet in der Magie eine „Reihe sprachlicher Gewohnheiten – Metapher, Opposition, Wiederholung, negativer Vergleich, Imperativ, Frage und Antwort,“ betrachtet allerdings all diese Merkmale nicht in ihrer konstitutiven textorganisatorischen Funktion, sondern als stilistische Spezifika, die die Sprache der Magie zu etwas Sonderbarem machen. Bei der Dekodierung der altdeutschen Segenssprüche berufe ich mich im Folgenden auf die vorhandene Forschungsliteratur, betrachte allerdings die Texte aus der Perspektive ihrer inneren Struktur. Dabei wird sich zeigen, dass die Organisation der Texte auf mehreren Ebenen formelhaft geprägt ist, damit die Kraft der Beschwörungsworte gebündelt und zielgerichtet weitergeleitet wird, und dass die Formelhaftigkeit auf all diesen Ebenen eine unterschiedliche Gestalt annimmt. Der vorhandenen Forschung ist insofern zuzustimmen, als die beiden erarbeiteten Typen der Segenssprüche – ein narrativer und ein stärker auf Handlungsanweisungen ausgerichteter Typ – auch für die altdeutschen Texte gelten. Der erste Typus (vertreten etwa durch den ‚Bamberger Blutsegen‘, den Spruch ‚Gegen Fallsucht/Contra caducum morbum‘, den ‚Trierer Blutsegen‘/,Ad catarrum dic‘, den ‚Trierer Pferdesegen‘, den ‚Pariser Blutsegen‘, den ‚2. Merseburger Spruch‘, ‚Ad equum erręhet‘ usw.) beginnt mit einer Historiola, auf die eine imperativische Beschwörungsformel folgt; die Sprüche enden mit Gebetsaufforderungen auf Latein. Beim zweiten Typus (so z.B. in ‚Pro Nessia‘, ‚Contra malum malannum‘, ‚Contra uberbein‘, ‚Contra vermem edentem‘ usw.) fehlt die Historiola bzw. sie ist den imperativischen Handlungsanweisungen oder der eigentlichen Beschwörungsformel nachgestellt, fällt kürzer und weniger narrativ aus. Die abschließenden Gebetsaufforderungen sind auch hier vorhanden. Die These, die im Folgenden vertreten wird, besteht darin, dass nicht nur diese Formelhaftigkeit im Aufbau die Textsorte Segensspruch prägt, sondern auch die hinter den
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benannten Organisationsteilen (Historiolae, Beschwörungsformeln, imperativische Handlungsanweisungen) stehenden außersprachlichen Wissensstrukturen. Das ist ein Aspekt, der in der bisherigen Forschung zwar angeklungen ist (Holzmann 2001; Schulz 2003), aber wenig systematische Aufmerksamkeit gefunden hat. Diese zugrunde liegenden Wissensstrukturen beschreibe ich mithilfe der Begriffe formelhafte Motive bzw. Topoi; sie können einem Textmuster auf der Ebene der superstrukturellen Textorganisation zugeordnet werden. Auf der Ebene der konkreten sprachlichen Oberfläche, d.h. auf der Ebene der Mikrostruktur, können außersprachliche Motive und textorganisierende Muster mithilfe unterschiedlicher formelhafter Wendungen zum Ausdruck gebracht werden. Oben wurde bereits erwähnt, dass ich mich angesichts der Ziele der vorliegenden Untersuchung auf die altdeutschen Segenssprüche beschränke. Daraus greife ich auch nur die Beschwörungen gegen Krankheiten als die umfangreichste Gruppe der Sprüche heraus, fasse darunter aber entgegen der traditionellen Einteilung nach Motiven Wundbeschwörungen, Blutbeschwörungen, Augensegen, Beschwörungen gegen Verrenkung und Lahmheit sowie Wurmsegen zusammen. Meine Ausführungen verdeutliche ich zunächst anhand des ‚Bamberger Blutsegens‘, weil er nahezu alle formelhaften Textmuster aufweist. Andere Segenssprüche werden stets zum Vergleich herangezogen. Obwohl der Segen mehrfach editiert ist, führe ich ihn unter (17) nochmal an und zitiere in der Tradition der HiFoS-Nachwuchsforschergruppe nach der Handschrift StB Bamberg Msc. Med. 6 (olim Cod. L III 9), Bl. 139rb: (17) Criſt unte | iudas ſpíliten mit ſpîeza . do wart der heili|go xriſt wnd in ſine. ſîton . do nâmer den dv|men . unte uor dûhta ſe uorna . So uer ſtant | du bluod . ſó ſe iordaniſ áha uerſtunt. doder | heiligo ioh[ann]es den heilanden criſt iníro tovfta. | daz dir zobvza. Criſt wart hi erden | wnt . daz wart da ze himele chunt . izne | bl>tete. noch ne _var. noch nechein eiter | ne bar . taz was ein file g>te ſtunte. | heil ſis tG wnte. In nomine ich[es]u [christ]i. daz | dir zebvze. Pa[te]r n[oste]r. ter. Et addens h[oc] ite[m] ter. Ich be _uere dich bi den heiligen fûf | wnten. | heil ſis tu wnde. et [per] patre[m]. [et] filiu[m]. [et] spi[ritum] s[an]c[tu]m. fiat. fiat. Am[en]. (Bamberger Blutsegen; ID 2791)
6.3.1 Textmuster 1: Narrativ-legitimierende Historiolae Das erste Textmuster besteht in der am Anfang der Segenssprüche typischerweise stehenden Historiola (Zeilen 1–2 im ‚Bamberger Blutsegen‘), d.h. einer heiligen Geschichte, die von den Taten der Götter bzw. des Gottes (vorzugsweise und auch in diesem Fall Jesus Christus) als medicus coelestis berichtet und auf das aktuelle Anliegen (die Heilung einer Wunde, Stilllegung des Blutes) projiziert.
6.3 Weltliche Gebrauchsliteratur: Segensprüche/Beschwörungen | 337
Motiv der Verwundung/Erkrankung Konventionell und deshalb formelhaft ist für mehrere Segenssprüche das Motiv der Verwundung Jesu. Im ‚Bamberger Blutsegen‘ (17) nimmt es einerseits Bezug auf den biblischen Bericht über die Wunden Jesu, andererseits verträgt sich die Darstellung im Spruch nicht mit den biblischen Szenen. So hat insbesondere von Steinmeyer (1916/1971, 377–378) in diesem Segen das Aufgreifen des LonginusMotivs20 gesehen und den Spruch deshalb der Gruppe der Longinus-Segen zugeordnet: Dieser Typus beruft sich auf die Person des Longinus, jenes im Evangelium nicht mit Namen genannten Soldaten, der durch seinen Lanzenstich die Seitenwunde Christi hervorrief (Joh 19,34). Die neuere Forschung (Holzmann 2001, 89; Embach 2007, 69; Riecke 2004, 102; Schulz 2003, 66 und 74) widerspricht dem, da der Name im Segen explizit nicht vorkommt und die Wunde Christi entgegen der Tradition der Longinus-Segen und im Einklang mit dem biblischen Bericht blutet. Die Historiola von der Verwundung Christi wird in den Zeilen 3–4 erneut aufgegriffen, obwohl nicht eindeutig entschieden werden kann, ob es sich um den zweiten gereimten Teil des gleichen Segensspruchs (Riecke 2004, 102; Embach 2007, 69) oder einen anderen Spruch handelt (Schulz 2003, 96). In der Handschrift folgen die Abschnitte unmittelbar aufeinander, sind von der gleichen Hand und lediglich durch das farbig hervorgehobene initiale „C“ in Criſt wart hi erden (Zeile 3) abgetrennt. Die Historiola in den Zeilen 3–4 ist allerdings abstrakter in dem Sinn, dass sie nicht über ein konkretes Ereignis aus dem Leben Jesu berichtet, sondern viel mehr ein Wunder darstellt. Das Wunder besteht darin, dass Jesus verwundet wird, ihm aber diese Verwundung nichts anhaben kann; er wird wieder gesund. Dabei fällt bei der Historiola in diesen Zeilen nicht nur der Reim auf; syntaktisch weist sie weniger Attribute und Nominalgruppen, weniger narrative Ausführlichkeit (vgl. auch Riecke 2004, 109) und folglich weniger Variation und ein Mehr an mikrostruktureller Festigkeit auf. Der Versteil des Segens berichtet über das Nicht-Bluten der Wunde und widerspricht somit der Darstellung am Anfang. Es wird behauptet, dass die Wunden Jesu weder schwärten noch sich Eiter sammelte, was auch für die aktuelle Wunde gewünscht wird. Der gereimte Ausdruck ne bl>tete noch ne _varnoch nechein eiter ne bar bildet die in der Forschung bereits früh diskutierte formelhafte Wendung vom Nichtschwären und Nichteitern bzw. vom Nichtschwellen und Nichtschwären (Ebermann 1903,
|| 20 Schulz (2003, 72–73) und Ebermann (1903, 42–52) unterstreichen die Verbreitung dieses Motivs in mittelalterlichen Wundbeschwörungen. Insofern wäre es auch als ein formelhafter Wissensbestand zu betrachten. Da es aber in den im Folgenden analysierten Beispielen nicht explizit vorkommt, verzichte ich auf seine ausführliche Beschreibung.
338 | 6 Historische formelhafte Sprache textuell und textübergreifend
52–64), die auch in lat., altenglischen, altnordischen usw. Segenssprüchen belegt ist und bis in das 20. Jahrhundert hinein erhalten bleibt. Die in den Historiolae tradierten Vorstellungen/Wissensbestände sind nicht auf den ‚Bamberger Blutsegen‘ beschränkt. Sie wiederholen sich in der gleichen bzw. ähnlichen Form in anderen Texten dieser Gattung, ohne dass zwischen den Texten eine stemmatologische Ähnlichkeit angenommen werden kann, so z.B. im ‚(Ersten) Trierer Blutsegen‘/,Ad catarrum dic‘ oder im ‚Ad restringendum sanguinem‘ (Schulz 2003, 83). Sie bilden eine konventionalisierte Formulierungstradition, die in meinen Augen auch formelhaft ist. Der Begriff formelhaft bezieht sich hier nicht in erster Linie auf die textliche Oberfläche und eine konkrete Formulierung, sondern auf einen Ausschnitt des historischen Wissens, der in einer Zeit, in der sich magische und medizinische Praktiken als prinzipiell gleichwertig erweisen, profane und sakrale Bereiche zusammenführt, nicht an einen Text gebunden ist, sich durch die Grenzen verschiedener zeitlicher Epochen durchsetzt und eine ausgeprägte pragmatische Funktion hat: Der Historiola-Teil „bereitet“ die eigentliche Beschwörung „vor“ und legitimiert diese. Analog zur Wundergenesung Christi soll nun auch der Betroffene gesund werden. Das Motiv der Verwundung kann sich nicht ausschließlich auf Christus als Selbstheiler, sondern auf Wundertaten Jesu rekurrieren, die sich auf Verwundung anderer beziehen. Prominente Beispiele dieser Gruppe sind der ‚Trierer Pferdesegen‘, der auch als spurihalz-Spruch bekannt ist (18), und der ‚Wieneraltsächsische Segen‘, der über die Erkrankung eines Fisches und seine Heilung durch Christus berichtet (19). Schulz (2003, 149–156) gibt einen Überblick über die Überlieferung dieses Motivs bis ins 16.-17. Jahrhundert hinein, bemerkt aber, dass die Frage nach der Beeinflussung der späteren Texte durch die genannten früheren offen bleiben muss. (18) INCANTACIO CONTRA EQUORU[M] EGRETUDINE[M] QUA[M] NOS DICIM[US] SPVRI[H]ALZ. | Quam Kriſt endi ſ[an]c[t]e Stpehan (?) zi ther burg Zi ſaloniu[n]. thar uuarth | ſ[an]c[t]e Stephanes [h]roſ ent phangan. So So Kriſt gibuoZta themo ſ[an]c[t]e Stephan[es]| hroſſe thaZ ent phangana. ſo gibuoZi ihc it mid Kriſteſ fulleſti theſſemo hro[sse]. | Patern[oste]r.Uuala Kri_t thu geuuertho gibuoZian thuruch thina | gn[a]tha | theſemo hroſſe thaZ antphangana. atha thaZ spurialZa . ſoſe thu themo | ſ[an]c[t]e St[e]phaneſ [h]roſſe gibuoZtoſ Zi thero burg Saloniun. Am[en]. (Trierer Pferdesegen; ID 3499) (19) De hoc qvod spvrihalz dicvnt. Primum Pater noster Visc flot aftar themo uuatare, uerbrustun sina uertherun. tho gihelida ina use druhtin. the seluo druhtin,
6.3 Weltliche Gebrauchsliteratur: Segensprüche/Beschwörungen | 339
thie thena uisc gihelda, thie gihele that hers theru spurihelti. AMEN21 (Wiener altsächsischer Segen; ID 33414)
Beide Segenssprüche spielen nicht auf eine bestimmte biblisch belegte Erkrankungssituation an,22 sondern installieren Jesus Christus als Protagonisten einer beispielhaften Urheilung, die sich analog23 auf die aktuelle Erkrankung eines Pferdes übertragen soll, in (19) sogar von einem Fisch auf ein Pferd. Heilen will dabei im Fall des ‚Trierer Pferdesegens‘ (18) der Beschwörer, der Christus dafür um seine Hilfe bittet (Zeilen 4–5), im ‚Wiener Segen‘ (19) „tritt ein vermittelndes Medium, das die Potenz des göttlichen Heilwunders auf sich bzw. auf das zu heilende Objekt übertrüge, erst gar nicht in Erscheinung“ (Schulz 2003, 155). Interessant ist, dass die Historiola über die Erkrankung des Pferdes und seine Heilung durch Christus im ‚Trierer Pferdesegen‘ zweimal wiederholt wird. Durch ihre Erwähnung am Anfang und am Ende des Spruchs entsteht ein narrativer Rahmen, der als ein mögliches Verstärkungsmittel der heilenden Wirkung der Worte verstanden werden kann.24 Unverkennbar ist die Ähnlichkeit des Motivs der Erkrankungmit seiner Darstellung in dem zeitgleich entstandenen ‚2. Merseburger Spruch‘ (20) (vgl. auch Embach 2007, 72–73). (20) P[h]ol ende uuodan uuorun ziholza du uuart | demo baldereſ uolon ſinuuoz birenkic[h]t | thu biguolen ſinhtgunt . ſunna era ſuiſter | thu biguolen friia uolla era ſuiſter thu | biguolen uuodan ſo he uuola conda | ſo ſe benrenki ſoſe bluotrenki ſoſe lidi|renki ben zi bena bluot [zi] bluoda | lid zi geliden ſoſe gelimida ſin . (2. Merseburger Spruch; ID 3497)
Beide Texte besitzen einen ähnlichen zweigliedrigen Aufbau mit der einleitenden Historiola und der eigentlichen Beschwörungsformel. Ein Unterschied ist jedoch im motivischen Analogievorgang erheblich: Der Merseburger Spruch ist noch vollkommen heidnisch geprägt. Während im Trierer Spruch Christus und der Pferdeheilige Stephanus die Protagonisten der Wunderheilung sind, treten im Merseburger Spruch die germanischen Götter Wotan und Phol (Baldur? Vol als Gott der Fülle?) sowie die germanischen Göttinnen Sinthgunt, die Schwester der Sonne, und Frija, die Schwester der Volla, auf. Die Heilung wird von Wotan
|| 21 Entgegen der sonstigen Praxis im HiFoS-Projekt wurde dieser Beleg nicht nach der Handschrift, sondern nach der Edition von Steinmeyer (1916/1971, 372) erfasst. 22 Zur Funktion der Beschreibung bzw. Benennung der Krankheit vgl. Kap. 6.3.2. 23 Haeseli (2011, 106–112) spricht von Analogie als performative Strategie. 24 Vgl. die ähnliche Wiederholung auch im ‚Bamberger Blutsegen‘ (17).
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durchgeführt; nur ihm gelingt sie, nachdem die beiden Göttinnen gescheitert waren. Das Motiv der Verwundung/Erkrankung (und Heilung) bleibt somit in seinem Grundgerüst einerseits konstant, andererseits unterliegt es bestimmten Variationen und schöpft sowohl aus christlichen als auch aus heidnischen Quellen. Motiv der wundervollen Heilung (durch Berührung, Begegnung, Ausstoßen) Die Darstellungen über die Verwundung bzw. Erkrankung sind in den Historiolae der Segenssprüche von den Beschreibungen der wundervollen Heilung nicht zu trennen. Dazu werden auch unterschiedliche Motive genutzt, die in der eigentlichen Beschwörungsformel kulminieren. Diese folgt auf die Historiola bzw. leitet die Segenssprüche ein. Auf die Beschwörungsformel wird in Kap. 6.3.2 gesondert eingegangen; im vorliegenden Teil konzentriere ich mich auf die Analyse der Motive der Wunderheilung in den Historiolae. Im ‚Trierer Pferdesegen‘ (18) wird die Heilung ganz allgemein als Befreiung von einer Krankheit stilisiert: So So Kriſt gibuoZta themo ſancte Stephanes hroſſe (Zeile 3); ebenso im ‚Wiener Segen‘ (19, Zeile 3): tho gihelida ina use druhtin. Allerdings können die Motive auch konkretisiert werden. So berichtet die Geschichte des ‚Bamberger Blutsegens‘ (17) darüber, dass Christus als Heiler, genauer Selbstheiler, auftritt, indem er durch das Auflegen seines Daumens auf die Wunde den Blutfluss stoppt. Der Daumen Jesu wird zum Heilfinger, die Geste impliziert ein quasi medizinisches Zudrücken der Wunde und ein Zurückdrängen des Blutes. Die Darstellung ist im Kontext eines weiteren formelhaften Motivs der Segenssprüche zu betrachten, das auf die Heilung durch Berührung rekurriert. In dieser Symbolik ist der Daumen auch in rituellen Heilgebärden bekannt, als dem stärksten Finger der Hand wurden ihm übernatürliche Kräfte zugeschrieben. In den Evangelien erscheint das Auflegen oder Drücken mit einem Finger nicht. Die Ausgangssituation rekurriert – so die Forschung – auf eine apokryphe Kindheitserzählung Jesu, das in zwei arabischen Handschriften und drei Zeugen einer syrischen Redaktion vorliegende, aus dem 6. Jahrhundert stammende „Evangelium infantiae arabicum“ (Eis 1964, 48; Embach 2007, 69; Riecke 2004, 102; Schulz 2007, 96). In Kapitel 35 erscheint dort eine Episode, in der sich der vom Teufel besessene Judas unter die mit Jesus spielenden Kinder mischt, ihn mit einem Spieß in die Seite stößt und verletzt. Jesus heilt seine Wunde selbst, indem er seinen Daumen hineinlegt. Das Motiv der Heilung durch Berührung, das im ‚Bamberger Blutsegen‘ als Auflegen des Daumens manifest wird, beschränkt sich nicht auf die profane Heilkunst; ihn kennt auch heute noch die römische Liturgie. Schulz (2003, 97–98) zusammenfassend dazu:
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Die Historiola der Heilung durch Berührung erfährt ihre christliche Legitimation durch die in Mk 7,33-35; 8, 23-25; Joh 9,6 berichteten Heilungsformen. […] Explizit von der Handauflegung berichten Mk 7,32; Lk 4,40; 13,13, wobei auffällt, dass nicht nur der Hand an sich, sondern auch den einzelnen Fingern (vgl. Mk 7,33) göttliche Heilkraft entströmt; solches suggeriert eine Art Kraftübertragung.
Ebenso konkret, aber anders als im ‚Bamberger Blutsegen‘ fällt das Motiv der Heilung in den Sprüchen ‚Ad equum erręhet‘ (21) und ‚Gegen Fallsucht/Contra caducum morbum‘ (22) aus: (21) Man gieng after wege. zoh sin ros in handon. Ad equu[m] erręhet.| do begangenda imo min trohtin mit sinero arngrihte. wesman | gestu. zuneridestu. waz mag ih riten. minros ist erręhet.nu| ziuhez da bifiere · tu rune imo in daz ora · drit ez an den ceſevven | fuoz · ſo wirt imo des erræheten bGz Pat[er] n[oste]r. [et] terge crura ei[us][et] pedeſ · | dicenſ · alſo ſciero werde diſemo * cui[us]cu[m]q[ue] coloriſ ſit · rot · ſuarz · blanc · | ualo · griſel · feh* roſſe deſ erræheten bGz · ſamo demo got daſelbo | bGzta. (Ad equum erręhet; ID 4719) (22) Donerdutigo | dietewigo . do qua[m] des tiufeles sun . uf adames bruggon . unde | sciteta einen stein ce vvite . do qua[m] der adames sun . unde sluog | des tiufeles sun zuo zeinero studon . petrus gesanta paulu[m] sinen | bruoder . daz er aderuna . aderon ferbande pontu[m] patu[m] ferstiez | er den satanan . also tuon ih dih unreiner athmo . fon disemo | [christ]enen lichamen . also sciero vverde buoz . disemo [christ]enen | lichamen . so sciero so ih mit den handon die erdon beruere . [et] | tange t[er]ra[m] ut[ra]q[ue] manu . [et] dic pat[er] n[os]t[er] (Gegen Fallsucht/Contra caducum morbum; ID 3036)
Entscheidend für die Heilung ist in den beiden Sprüchen zunächst das Moment der Begegnung mit der heilenden Kraft. In (21) berichtet der Erzähler über die Begegnung Gottes mit dem Protagonisten des Geschehens, einem Mann (vgl. Zeile 1 do begangenda imo min trohtin), der nicht auf seinem Ross reiten kann. Zwischen den beiden entsteht ein Gespräch, während dessen sich Gott nach den Gründen des Nicht-Reitens erkundigt und der Mann die Erkrankung seines Pferdes gesteht (Zeile 2: min ros ist erręhet). Gott selbst ist die heilende Kraft, die dem Mann eine Abfolge von magischen Handlungen (das Ziehen an der Seite, das heimliche Flüstern ins Ohr und schließlich den Tritt mit dem linken Fuss) empfiehlt. Das Austreiben des Schädigers erfolgt im Rahmen der Begegnung nicht durch Berührung, sondern durch Aus- bzw. Verstoßen der Krankheit mithilfe der
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Einwirkung von außen (Fußtritt) in Kombination mit anderen magischen Handlungen.25 Die Motive der Begegnung und des Ausstoßens beobachtet Schulz (2003, 53– 56) auch in Zahnbeschwörungen; dort bleiben sie weit über die Grenzen des Mittelalters erhalten. In (22) handelt es sich z.B. auch nicht mehr um einen Pferdesegen wie in (21), sondern um die Beschwörung gegen die Epilepsie, die sich auf den Menschen richtet. Das Motiv der Begegnung ist hier sogar doppelt vorhanden: Zum einen trifft der Sohn des Adamauf einer Brücke (Pontum Patum?) auf den Sohn des Teufels und schlägt ihn mit einer Staude. Zum anderen entsendet der heilige Petrus seinen Bruder Paulus, der den Teufel verstößt. Auch wenn der Spruch in vielen Aspekten stark erklärungsbedürftig bleibt,26 ist das Motiv der Begegnung mit der heilenden Kraft offenkundig. Dass der zu bannende dämonische Gegner als Teufel bzw. Satan vorgestellt wird, passt gut zum Typ der Sprüche gegen Epilepsie. Sie wurde lange Zeit als eine heilige Krankheit, eine direkte Strafe der Götter gedacht, die durch außerordentlich mächtige Schädiger, z.B. den Teufel, ausgelöst wird. Führt man sich bildliche Darstellung zur Epilepsie vor Augen, so wird es deutlich, dass die Exorzisierung zumeist als Ausfallen des Teufels oder eines drachenähnlichen Wesens aus dem Mund des Erkrankten visualisiert wird (Brandt 1986). Der eigentliche Akt der Heilung besteht in der Beschwörung der Wunde/der Krankheit und kulminiert in der Verwendung der konventionalisierten Beschwörungsformeln, die nicht mehr Teil der Historiolae sind (vgl. Kap. 6.3.2). Motiv der Neutralisierung der zeitlichen und räumlichen Alterität Die Motive der Verwundung und Heilung leiten im ‚Bamberger Blutsegen‘ (17) wie auch in anderen Segenssprüchen zum Topos der Neutralisierung der zeitlichen und räumlichen Alterität. Das glücksvolle und wunderbare Ereignis in der Vergangenheit wird mithilfe der formelhaften Wendung in der Historiola für die aktuelle Gegenwart und die erhoffte Zukunft herbeibeschwört; zwei zeitliche Perspektiven fusionieren. Durch den Aufruf taz was ein file g>te ſtunte (Zeile 5 in Beispiel (17)) wird im ‚Bamberger Blutsegen‘ das Transportieren des vergangenen Heilsgeschehen in das Jetzt nochmals bekräftigt. Im Aufruf manifestiert sich die mythopöische Auffassung der Zeit, die laut Schulz (2003, 29–32) auch in anderen Segenssprüchen (z.B. in Wurmsegen) belegt ist, andere Formen aufweist (z.B. Als || 25 Dazu ausführlicher in Kap. 6.3.2. 26 So sind z.B. die Bedeutungen von donerdiutigo‚ dietewigo‚ aderuna und pontum patum unklar, vgl. zur Forschungsdiskussion AWB, 1‚ 31; EWAhd (2, 902–903); Haeseli (2011, 169–170); Müller (2007, 399–400); Schmid (2015, 202); Steinhoff (22010, 2, 9).
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selich sy mir hude der dach als der dach vaz do got dy helle czu brach, Gesegnet sei die stund vnd die zeit vnd der dage) und sich auch auf die schlichte Benennung der heiligen Tage (z.B. Ostern, Christi Himmelfahrt, Pfingsten) beschränken kann.27 Aufgrund der Konventionalisierung des zugrunde liegenden Wissens und der sprachlichen Oberfläche handelt es sich hier deshalb m.E. ebenfalls um eine formelhafte Wissensstruktur, einen formelhaften Topos, der aber auch Freiraum für Variation lässt. Im Spruch ‚Gegen Fallsucht/Contra caducum morbum‘erfolgt die Neutralisierung der zeitlichen Perspektiven nicht nur durch die Projektion des vergangenes Wunderereignisses in die Gegenwart, sondern durch den explizit ausgesprochenen Wunsch, dass es möglichst schnell geschehen möge, so schnell, wie der Protagonist die Erde berührt: (23) […] also sciero vverde buoz . disemo [christ]enen | lichamen . so sciero so ih mit den handon die erdon beruere […] (Gegen Fallsucht/Contra caducum morbum; ID 30361)
Ein ähnlicher Wunsch kommt auch im ‚Straßburger Blutsegen‘ in der Beschwörungsformel uerstande tiz plŏt. stant plŏt stant plŏt fasto zum Ausdruck, auf die unten noch näher eingegangen wird (Kap. 6.3.2). Neben der zeitlichen wird auch die räumliche Alterität neutralisiert. So verstärken die Erwähnung des stillstehenden Jordan und die Schilderung der Taufe Jesu durch Johannes die Wirkungskraft der Beschwörungsformel im ersten Teil des ‚Bamberger Blutsegens‘ (17). Entscheidend für die Zusammenführung des neutestamentlichen Bildes, der alttestamentarischen Überlieferung und der apokryphen Tradition über den Stillstand des Jordans bei der Taufe Christi durch Johannes (Ex 14,15-23; Jos 3,14-17, Mt 3,13-17) ist das Element des Wunders, von dem man sich im Segensspruch eine heilende Wirkung verspricht. Im Sinne eines analogischen Vergleichs mit einer biblischen Vorbildhandlung soll dieser Teil der Historiola die Wirkung der Beschwörungsformel legimitieren und bekräftigen. Der Vergleich basiert ähnlich wie die mythopöische Auffassung der Zeit in der formelhaften Wendung taz was ein file g>te ſtunte auf der Vorstellung, dass auch die Erwähnung eines heiligen Ortes bzw. eines heiligen Ereignisses der Sprache des Segensspruchs die magische Kraft verleiht. Insbesondere der Jordan-Motivik attestiert Schulz (2003, 88–89) einen universalen Charakter: Sie ist nicht nur für weitere Blutsegen von zentraler Bedeutung (vgl. etwa den ‚Pariser Blutsegen‘/,Ad fluxum narium‘ oder den ‚Straßburger Blutsegen‘), als verbreitetes Analogon ist || 27 Ebermann (1903, 71–75) weist darauf hin, dass die formelhafte Wendung in den älteren Texten selten belegt ist, ab dem 16. Jahrhundert ist sie ein verbreiteter Teil der Wundsegen.
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sie bis ins 16. Jahrhundert hinein in anderen Segenssprüchen anzutreffen, vgl. den ‚Pro Nessia‘-Spruch (also einen Wurmsegen), die Morgensegen sowiedie Beschwörungen gegen Feinde und wilde Tiere.28 Die Verbreitung der Motivik durch die Zeit und unterschiedliche Typen der Segenssprüche beweist ihren konventionellen Charakter, der wie auch schon die Berichte über die Wunden Christi und ihre getreue bzw. apokryphe Umdeutung in den Segenssprüchen als Teile des formelhaften Wissens interpretiert werden können. Der konventionelle Charakter tangiert auch in diesem Fall nicht das Variationspotential. Im ‚Straßburger Blutsegen‘ wird der Jordan personifiziertin dem Sinn, dass der Name der Flusses zu einem Personennamen „mutiert“ (to uersoz Gerzan Iordane te situn); in anderen Sprüchen wird er durch die Benennung anderer Orte ersetzt. Von Belang sind neben dem Jordan auch Jerusalem (vgl. etwa die Anspielung darauf im ‚Trierer Pferdesegen‘ (18)) oderder Ölberg (Schulz 2003, 32–33); es kann schließlich auch ein imaginärer Ort sein, wie z.B. im dritten Teil des ‚Straßburger Blutsegens‘, im sogenannten Tumbo-Spruch:29 (24) Tumbo saz in berke mit tumbemo kinde enarme. | tumb hiez ter berch tumb hiez daz kint: | ter heilego Tumbo uersegene tivsa uunda | Ad stringendum sanguinem (Straßburger Blutsegen, Tumbo-Spruch; ID 29894)
Von verschiedenen Deutungen des Spruchs schließe ich mich der Interpretation in Schulz (2003, 86–87) an, die das im Spruch fünfmal wiederholte, sich sowohl auf den Namen des Protagonisten, als auch des Kindes, das der Protagonist auf dem Arm hält, und des Berges, auf dem es sitzt, ahd. Wort tumb nicht als ‚dumm‘, sondern als ‚stumm‘ liest und den Text somit in die Nähe der Jordan-Sprüche stellt. Das dadurch signalisierte Schweigen evoziert das Motiv des Stillstehens des Jordan, die Symbolik des ebenfalls stillstehenden und stummen Bergs Tumbo verstärkt die Projektion.
|| 28 Vgl. auch Ebermann (1903, 24–35). 29 In der Forschung ist es nicht hinreichend geklärt, ob es sich beim ‚Straßburger Segen‘ um drei unterschiedliche Segen handelt (dies wird z.B. in MSD (21873, 53) suggeriert) oder um drei Teile eines Spruchs, z.B. MSD (1864) und Schulz (2003, 85–86).
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6.3.2 Textmuster 2: Beschwörungsformel und Exorzierung Mikrostrukturelle Typen der Beschwörungsformeln Die Beschwörungsformel ist der nächste konventionalisierte Teil der Segenssprüche. In einigen Texten, so auch im ersten Teil des ‚Bamberger Blutsegens‘ (17, Zeile 2), folgt die Beschwörung auf die Historiola und kommt in Form von So uer ſtant du bluod zum Ausdruck. Ähnlich heißt es auch im ‚Straßburger Blutsegen‘ stant plŏt stant plŏt fasto, in dem der Wunsch ausgedrückt wird, dass die Heilung möglichst schnell geschehen soll. In (22) wurde die Beschwörungsformel des Spruchs ‚Gegen Fallsucht/Contra caducum morbum‘ angeführt, in der durch die Wiederholung des Adverbs sciero und den Vergleich so schnell, wie ich die Erde berühre der eben genannte Wunsch intensiviert wird. Typischerweise wird nicht der Appellant, sondern die Wunde direkt angeredet, wodurch sich die Handlung unmittelbar auf die Heilung richten soll. Die formelhafte Wendung fixiert das Moment der unmittelbaren magischen Wirkung, hier der Blutstillung, durch Sprache. Für die makrostrukturelle Textorganisation ist das Vorhandensein der Beschwörungsformel ein unabdingbarer Teil der Segenssprüche als Textsorte, sie ist ihr pragmatischer Kern und das eigentliche Heilmittel. Mikrostrukturell kann die Wendung variieren. Wie auch schon der ‚Bamberger Blutsegen‘ (17) zeigt, sind die Wendungen daz dir zobvza (Zeilen 3 und 6), heil ſis tG wnte (Zeilen 5 und 7) und Ich be _uere dich bi den heiligen fûf wnten (Zeilen 6 und 7) verbreitet. Beschwören ist in den altdeutschen Segenssprüchen das frequenteste Verb, vgl. auch die Beispiele (25a,b). Beispiel (25b) stellt nur insofern eine Ausnahme dar, als hier nicht die Wunde, sondern die Sonne angeredet wird, die nicht scheinen soll, ehe der Schädiger verstoßen ist. Außer bisueren kann die Beschwörungshandlung durch andere performative Verben explizit gemacht werden. Die Beispiele (25c,d) geben einen Überblick: (25a) Ih besueren dich uberbein bi demo holze da der al|mahtigo got an ersterben wolda durich meneschon | sunda . daz du […] (Contra uberbein) (25b) Ih besuere dih sunno . bi sancto | Germano daz tu […] (Contra vermes pecus edentem) (25c) Ih bimunium dih suaz bi gode iouh | pi xriste […] daz tu[…] (Contra malum malannum) (25d) Ih gebiude dir vvurm […] daz du […] (Contra vermem edentem)
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Die Beschwörungsformeln sind unterschiedlichen Typen der Segenssprüche entnommen. Gemeinsam ist ihnen das feste zugrunde liegende syntaktische Muster IH(Subjekt, Pron., 1. P. Sg.Nom.)+ VERB(perform.) + DIH/DIR(Objekt; PersPron)+ ANREDE + [PP] + DAZ DU. Das Personalpronomen als Subjekt, das Objektpronomen, die den Nebensatz einleitende Konjunktion dass und das Subjekt des Nebensatzes sind in der Konstruktion absolut fest. Die verbale Konstituente als Prädikat und die Anrede der Wunde bzw. der Erkrankung30 stellen, wie die Beispiele in (25) zeigen, lexikalische Slots dar, die variabel sind. Der einzige Teil der Konstruktion, der unterschiedlich ausführlich ist, vgl. (25a) vs. (25b), bzw. ganz fehlen kann, vgl. (25d), ist die Präpositionalphrase. Sie enthält eine Art Gebrauchsanweisung für den Beschwörer bzw. den Protagonisten, indem sie die den verbalen Akt begleitenden Handlungen aufzählt. In (25a) ähnelt sie in ihrer Ausführlichkeit und Rekurrenz auf ein konkretes biblisches Ereignis einer nachgestellten Historiola und beruft sich auf das Holz des Kreuzes: „Man soll Holz auf das Überbein legen‚ das Kreuz darüber schlagen und dreimal das Vaterunser beten“(Holzmann 2001, 70–71). Somit gilt die in Kap. 6.3.1 für die Historiolae postulierte legitimierende Funktion auch für diesen Teil der Beschwörungsformeln. Die Präpositionalphrase in (25c) steht ebenfalls im christlichen Kontext, ist allerdings abstrakter und nimmt mithilfe der Zwillingsformel allgemein auf Gott Vater und Sohn Bezug. Dem Text (25b) liegt nach Holzmann (2001, 75) ein Zug aus der Legende über den heiligen Germanus zugrunde‚ der nie vor Sonnenuntergang gegessen haben soll und als Patron gegen Diarrhöe‚ Leibschmerzen, Tollwut‚ Irrsinn und Meineid fungierte (ähnlich auch Wimmer ²1959, 227–228). In den Segenssprüchen sind aber auch die nach einem anderen Muster aufgebauten Beschwörungsformeln belegt. Angeredet wird in dieser Gruppe nicht die Wunde bzw. die Krankheit, sondern Gott. An ihn wendet sich der Protagonist, indem er seine aktuelle vollziehende Heilung mit einer Wunderhandlung Christi in der Vergangenheit vergleicht und das Geschehene in das Jetzt projiziert. Wie die Historiolae (vgl. 6.3.1) tragen somit auch die Beschwörungsformeln zur Fusionierung der Zeitperspektiven bei. Ein Beispiel dieser Art liegt mit dem‚Trierer Pferdesegen‘ (18, Zeilen 3–5) vor. Der Segensspruch fällt durch mehrmaliges Wiederholen des Heilungsgeschehens auf. So folgt der Historiola der in (26a) notierte Teil der Beschwörungsformel, der auf dem vergleichenden Muster so wie [Christus damals heilte], so heile ich [jetzt] aufbaut. Im zweiten Teil (26b) wendet sich der Protagonist direkt an Christus, bittet nun ihn das Pferd zu heilen und nimmt || 30 Dazu ausführlicher unten im vorliegenden Kapitel.
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wiederholend nochmals Bezug auf das Geschehene: Lass genesen/befreie, so wie du geheilt hast. (26a) So So Kriſt gibuoZta […]ſo gibuoZi ihc it mid Kriſteſ fulleſti (Trierer Pferdesegen) (26b) thu geuuertho gibuoZian […] ſoſe thu […] gibuoZtoſ (Trierer Pferdesegen) (26c) The seluo druhtin thie […] gihelda, thie gihele […] (Wiener as. Segen) (26d) […] ter heilego Tumbo uersegene tivsa uunda (Straßburger Blutsegen)
Ein vergleichbares Muster weist auch der ‚Wiener Pferdesegen‘ über die Heilung eines Fisches auf (26c). Mikrostrukturell kommt es nicht durch die komparative formelhafte Struktur so wie damals, so auch jetzt zum Ausdruck, das vergleichende zugrunde liegende Muster ist aber unverkennbar. Die einleitende Historiola berichtet über die Wunderheilung. Die Beschwörungsformel (26c) greift dies anaphorisch mit derselbe Gott, der […] geheilt hat auf und versetzt die Handlung mithilfe desSatzesder heile auch in die Gegenwart. In diesem Zusammenhang sei auch die Beschwörungsformel des ‚Straßburger Blutsegens‘ betrachtet (26d). Mit den Beispielen (26a) bis (26c) teilt sie die Tatsache, dass damit nicht die Wunde selbst angeredet wird, sondern die Hinwendung zu einem „heiligen Stummen“ erfolgt; er wird gebeten, eine Blutwunde zu segnen und dadurch den Blutfluss zu stillen. Wie bei der Interpretation des Beispiels (24) bereits erwähnt, kommt tumbo in der Bedeutung ‚stumm‘ davor viermal in der Historiola vor, und zwar als Name des heilenden Protagonisten, des Kindes, das der Protagonist im Arm hält, und des Berges, auf/in dem der Protagonist sitzt. Der heilige Stumme der Beschwörungsformel ist wahrscheinlich nicht als eine heilige Person zu interpretieren, sondern als die personifizierte Stummheit, deren Haupteigenschaft sich auf die Wunde übertragen soll: das Blut soll so stumm sein, d.h. es soll nicht mehr fließen, wie der ‚Tumbo‘, das Kind in seinem Arm oder der Berg. Der‚Münchner Augensegen‘ (27a) und der‚Bamberger Blutsegen‘ (17, Zeile 5 und 27b)demonstrieren ein weiteres Muster der Beschwörung: (27a) […] da mite si dir din ouga gesegenet […] (Münchner Augensegen) (27b) […] heil ſis tG wnte […] (Bamberger Blutsegen)
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Die Wendung in (27a) richtet sich an den Appellanten, die in (27b) spricht die Wunde an. Gemeinsam ist den beiden Belegen allerdings, dass sie die Erkrankung (welcher Art auch immer) nicht nur beschwören, sondern sie als geheilt proklamieren. Die Ausdrücke bringen somit nicht nur die zeitlichen Perspektiven näher, sondern erklären das Ziel der Heilung als erreicht und intensivieren die Beschwörung. Einzigartig sind mit Blick auf die Beschwörungsformel der Spruch ‚Gegen Fallsucht/Contra caducum morbum‘ (22) und der ‚2. Merseburger Zauberspruch‘ (20). Im ‚Gegen Fallsucht‘ (22, Zeile 4) steht die formelhafte Wendung […] also tuon ih dih unreiner athmo . fon disemo christenen lichamen. Mit den in (25) angeführten Beispielen teilt sie die direkte Anrede des Krankheitserregers und die Performativität des Verbs. Sie folgt allerdings nicht dem den übrigen Beispielen zugrunde liegenden Muster. Im ‚2. Merseburger Spruch‘ (20, Zeile 2) wird wie in (25) ebenfalls ein performatives Verb des Sagens – biguolen – verwendet, allerdings nicht als Bestandteil der Beschwörungsformel (sie ist in diesem Text ganz besonders gestaltet, vgl. unten „Motive der Exorzierung“), sondern als Teil der Historiola. Das Verb wird dort dreimal wiederholt. Imperativische Handlungsanweisungen als mikro- und makrostrukturell formelhafte Motive Insbesondere die in (25) aufgelisteten Beschwörungsformeln leiten oft die Segenssprüche ein und ersetzen die Historiolae. Das sind genau die Texte, die die bisherige Forschung dem zweiten weniger narrativen Typ der Segenssprüche zugerechnet hat. Während die Historiolae fehlen kann, sind die Beschwörungsformeln immer vorhanden. Ihnen werden in einigen Fällen anstelle der Historiolaeimperativische Handlungsanweisungen vorangestellt, die den verbalen Akt der Beschwörung begleiten sollen. Imperativische Handlungsanweisungen können somit ebenfalls als formelhafte Sequenzen auf der Ebene der Super- und Makrostruktur der Segenssprüche betrachtet werden. Die Vorstellungen darüber, auf welche Art ritualisierte Handlungen vollzogen werden sollen, stellen formelhafte Wissensstrukturen dar, weil sie sich als konventionalisierte Teile innerhalb der Segenssprüche eines Typs (etwa Wurmsegen), aber auch über die Grenzen eines Typs hinaus wiederholen. In Bezug auf‚Ad equum erręhet‘ (21) bemerktSchulz (2003, 149): „Eingebettet in die Begegnung vom göttlichen Heiler und präsentischem Fall, sind als Remedur für die Rehe […] die magische Praxis des In-das-Ohr-Raunens und der Fußtritt ausgewiesen.“ Sie bemerkt zurecht, dass der von Jesus selbst als Rezept vermittelte Fußtritt an sich bivalent ist, weil er einerseits heilend wirken soll und damit
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Parallelen mit Motiven der Heilung durch Berührung aufweist,31 andererseits aber auch auf das typische Motiv der Exorzierung durch Austreibung von Schadensmächten anspielt.32 Die Praxis des In-das-Ohr-Raunens ist weit über die Grenzen der Pferdesegen hinaus belegt. Mit imperativen Handlungsanweisungen beginnt auch der ‚Münchner Augensegen‘ (28), der durch den Bezug auf die biblisch belegten Ereignisse und das Motiv der Berührung gewisse Parallelen mit dem Spruch ‚Ad equum erręhet‘ (21) aufweist, sich aber auch signifikant von diesem unterscheidet: (28) Ganc ze demo fliezzentemo vvazzera ǔnta neze imo sine oug[en]| unta quit mít demo ſelben ſegena ſo der alemæhtige got demo re[gen]| plinten ſegenita ſiniu ougun · der der daz Tageſ lieht nie nege[sah] | inti imo ſin geſunte mite gap . da mite _i dir din ouga ge_egenet | daz dir ze bGzza · am[en] (Münchner Augensegen; ID 13213)
Die in der Bibel berichtete Wunderheilung des Blindgeborenen durch Jesus schließt das Fertigen eines Teiges aus dem sputum Jesu, das Bestreichen der Augen damit und das Waschen im Teich (Joh 9,6-9,7) ein. Der Rekurs auf diesen Bericht ist im ‚Münchner Augensegen‘ lediglich auf die Anweisung für den Beschwörer beschränkt, sich zu einem Fluss zu begeben und die Augen des Kranken abzuwaschen. Dabei soll ebenderselbe Spruch verwendet werden. Auf die imperativischen Handlungsanweisungen folgt die Historiola, die das biblische Geschehen ausführt und auf den aktuellen Prozess der Heilung projiziert.33 Dass dieser Rekurs als konventionalisierter, formelhafter Wissensbestand sich in mehreren Augensegen wiederholt, zeigt Schulz (2003, 146–147). Motiv der Beschreibung/des Definierens der Wunde bzw. des Schädigers: Namen-, Farben- und Zahlensymbolik Durch die Beschwörungsformeln in unterschiedlichen Typen der Segenssprüche zieht sich wie ein roter Faden ein weiteres formelhaftes Motiv. Oben wurde bereits bemerkt, dass die Beschwörungsformeln in ihrer Mehrheit direkt an den Krankheitserreger bzw. an die Erkrankung adressiert sind. Oft werden sie nicht
|| 31 Vgl. oben im vorliegenden Kapitel „Motiv der wundervollen Heilung (durch Berührung, Begegnung, Ausstoßen usw.).“ 32 Vgl. unten im vorliegenden Kapitel „Motive der Exorzierung“. 33 Auch dieser Segen kann deshalb als Beweis für die Fusionierung der vergangenen und aktuellen Zeitperspektiven sowie die Nivellierung der räumlichen Alterität dienen, die als formelhaftes Textmuster die Textsorte Segensspruch allgemein auszeichnet (vgl. Kap. 6.3.1).
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einfach benannt,34 sondern durch die Beschreibung ihrer Merkmale definiert. Angeknüpft wird dabei wohl an das in der Magie geltende Gesetz, dass derjenige, der den Namen des Schädigers kennt, diesen in seiner Gewalt hat und deshalb auch imstande ist, ihn aus dem Körper des erkrankten Tieres bzw. der erkrankten Person zu verstoßen. Diesem Ziel dienen die mehr oder weniger detaillierten Beschreibungen des Schadens in den Historiolae aller Segenssprüche (das Pferd verrenkt seinen Fuß, wird gelähmt, von einer Krankheit befallen, die Wunde blutet); in den Beschwörungsformeln erscheint oft einfach nur der Name in der Anrede, vgl. z.B. exemplarisch unreiner athmo in ‚Gegen Fallsucht‘/,Contra caducum morbum‘, suaz in ‚Contra malum malannum‘, uberbein35 in ‚Contra uberbein‘, hro__e thaZ antphangana atha thaZ spurialza im ‚Trierer Pferdesegen‘, spurihelti im ‚Wiener Segen‘, vvurm in ‚Contra vermem edentem‘, bloud in den meisten Blutbeschwörungen, z.B. im ‚Pariser‘, ‚Straßburger‘ oder ‚Trierer Blutsegen‘/ ,Ad catarrum dic‘.36 Welche Erkrankungen sich hinter den einzelnen Namen verbergen, wurde in der Forschung aus verschiedenen Perspektiven diskutiert. Auch wenn dies für unterschiedliche Segenssprüche unterschiedlich eindeutig geklärt ist, kann der Vorschlag Przybilskis (2004, 12; 2010, 189–190), sich nicht an der Nomenklatur der modernen Medizin zu orientieren, den er in Bezug auf suaz und malum malannum im Spruch ‚Contra malum malannum‘37 äußert, auch auf andere Texte ausgeweitet werden. Für die Ziele der vorliegenden Untersuchung steht die Formelhaftigkeit des Motivs im Vordergrund. Allen Krankheitsbezeichnungen ist gemeinsam, dass sie zwar in Anlehnung an den erwähnten magischen Aberglauben entweder in den Historiolae oder in den Beschwörungsformeln vorkommen, in ihrer Ausrichtung jedoch sehr unspezifisch bleiben und vermutlich deshalb der älteren und neueren sprachhistorischen Forschung so viel Interpretationsstoff
|| 34 Vgl. ähnlich auch in den Historiolae (Kap. 6.3.1). 35 Riecke (2004, 112) vermutet hier nicht eine Krankheitsbezeichnung, sondern den Namen eines Körperteils. 36 Das Motiv der Definition über die Angabe des Namens begegnet ferner in der Zürcher Hausbesegnung ‚Ad signandum domum‘ (ID 2726). Dort heißt es: Uuola uuiht taz tu uueiſt . taz tu uuiht heiziſt . | Taz tune uueiſt noch ne chanſt cheden chnospinci. Der Namenzauber zu Beginn des Spruchs antizipiert, dass der böse Geist durch die direkte Anrede uuiht entmachtet werden soll. Dadurch soll er auch selbst den eigenen Namen vergessen. Ob das Lexem chnospinci am Ende der Beschwörung ebenfalls als ein Name zu deuten ist, bleibt unklar. Nievergelt (2013, 534–541) setzt sich ausführlich mit der dazu vorhanden Literatur auseinander und plädiert für eben diese Meinung. 37 Vgl. den aktuellen Überblick zur Forschungsdiskussion über die Krankheitsbezeichnungen malannus und suaz in Haeseli (2011, 128–130).
6.3 Weltliche Gebrauchsliteratur: Segensprüche/Beschwörungen | 351
geliefert haben. Die Segenssprüche richten sich vor allem gegen Lähmungsrehenbei Pferden (thaz antphangana, spurihalza, birenkit, benrenki, lidirenki, erręhet), Geschwülste (uberbein), Blutwunden und Fallsucht (‚Contra caducum morbum‘), wobei im letzten Fall nicht der Name der Krankheit, sondern der des Erregers – unreiner athmo – erwähnt wird. Insbesondere bei Wurmsegen bleibt aus heutiger Perspektive oft unklar, welche Krankheit eigentlich gemeint ist, weil die Texte lediglich den vvurmals Ursache der Erkrankung, nicht die Erkrankung selbst anreden, vgl. ,Contra vermem edentem‘, ‚Contra vermes pecus edentem‘ und ‚Pro Nessia‘.38 Unabhängig davon, ob bei den Erklärungsversuchen des Namens des Wurms nesso/nessinchilinon die Herleitung aus dem germanischen *hnesso/*hnisso ‚Stecher/Töter‘ (Kögel 1894, 261) oder aus dem lat. nescius ‚unbekannt‘ (Georges 1918/1998, 2, 1148–1149; Eis 1964, 28) favorisiert wird, bleibt doch die Vagheit der Benennung erhalten. Der Schädiger bzw. die Erkrankung werden als von außen kommend konzipiert, nicht als etwas, was sich im Körper selbst entwickelt, vgl. z.B. ahd. entphāhan ‚verfangen, an der Rehe, einer rheumatischen Entzündung der Hüftlederhaut mit Gliedersteifheit leiden‘ (Riecke 2004, 111) von ahd. fāhan ‚fangen‘. Der Schadengeist in Form der Würmer nagt von innen her an der Lebenssubstanz und höhlt den Leib aus. Formelhaft wird darüber berichtet, dass die Dämonen das Opfer fressen, sein Blut trinken, Sehnen und Knochen abnagen. Diese Vorstellungen sind nicht an die altdeutschen Sprüche gebunden, sondern gehen in ihren historischen Wurzeln u.a. in den vorderasiatischen Raum des 1. Jahrtausends zurück und sind bis in das 20. Jahrhundert hinein überliefert (Schulz 2003, 40). Allerdings sind auch andere Motive des Definierens gebräuchlich. Im Rahmen einer dämonistischen Ätiologie werden spezifische Farbsignale von Krankheit zum Kennzeichen bestimmter Dämonen (insbesondere Würmer), und bereits in altorientalistischen Beschwörungen ist der Zustand einer krankmachenden Behexung an die Nennung von Farben geknüpft. Wenn in Beschwörungen auf die Farbe des Wurmdämons abgestellt wird, so werden typischerweise die Farben Schwarz, Weiß und Rot genannt. Das Ziel ist dabei, die Arten des Gewürms zu thematisieren, um es durch dieses Wissen bekämpfen zu können. Die altdeutschen Segenssprüche nehmen auf diese konventionalisierten Vorstellungen Bezug, deuten sie aber um. Im Wurmsegen ‚Contra vermes pecus edentem‘ (29a) und im Spruch ‚Ad equum erręhet‘ (21, Zeile 5 und 29b) fordern die Beschwörungsformelnmit lat. dic colorem bzw. cuiuscumque coloriſ ſit zur Benennung der
|| 38 Bei ‚Pro Nessia‘ wird ein engerer Bezug zu Erkrankungen bei Pferden vermutet, der auf der wahrscheinlichen, aber nicht völlig gesicherten Deutung von ahd. tulli als Teil des Pferdehufs basiert (Eis 1964, 13–16; Stricker 2013, 374).
352 | 6 Historische formelhafte Sprache textuell und textübergreifend
Farbe auf. Gemeint ist aber nicht die Farbe des Schädigers, sondern die Farbe des erkrankten Tieres, in der sich allerdings, wie Beispiel (29b) zeigt, die auch sonst übliche Triade Schwarz, Weiß und Rot wiederfindet. Der lat. Ausdruck unterstreicht auch auf der Mikroebene den formelhaften Charakter der Sprüche: Er bildet einen ‚Formulierungsslot‘, der wie in einem Formular je nach Kontext durch Farbbezeichnungen gefüllt werden kann und in allen Erkrankungsfällen dieser Art helfen soll. (29a) Cont[ra] uermes pec[us] edentes Ih besuere dih sunno . bi s[an]c[t]o | Germano daz tu hiuto ne scin . er demo . + dic colore[m] + fiehe die vvurme | uzsin (Contra vermes pecus edentem; ID 30360) (29b) diſemo * cui[us]cu[m]q[ue] coloriſ ſit · rot · ſuarz · blanc · | ualo · griſel · feh * roſſe (Ad equum erręhet; ID 4719)
Neben der Beschreibung der Farbe kann auch die Angabe der Zahl der Schädiger gedachterweise ihrer genauen Definition und somit dem Gewinn der Macht über diese dienen. Prominente Beispiele dieser Gruppe sind die Wurmsegen ‚Pro Nessia‘ und ‚Contra vermem edentem‘. Da sie uns im Folgenden auch im Zusammenhang mit den Motiven der Exorzierung beschäftigen werden, seien sie in (30) und (31) vollständig angeführt. (30) P[ro] nessia: Gang uz Nezzo· mit niun nessinchilinon | uz fonna marge · In deo adra [vonna] den adrun | In daz fleisk · fonna demu fleiske [in] daz fel. | fonna demo velle In diz tulli · Ter P[at]er n[ost]er x (Pro Nessia; ID 29895) (31) Contra uermem edentem. | Ih gebiude dir vvurm du in deme fleiske ligest si dir einer sin dir | zuene . sint filo din si in no[m]i[n]e patris [et] filii . [et] sp[iritu]s s[an]c[t]i . bi ich[es]u | nazareno . der ze bethlee[m] geboren wart . in flumine iorda|nis getoufet wart . ze ich[e]r[usa]l[e]m gemarteret vvart . ze monte | oliueti ze himele fuor . daz du des fleiskes niewet mer | ezzest . unde des bluotes niewet mer trinkest des man|nes + des vvibes . in gotes namen amen + . Q[u]icu[m]q[ue]· homini | hac medicina verme[m] em[en]dare velit · caueat ne alicui ium[en]to | p[er] ea[m]em[en]det q[ui]a p[ost]ea ho[min]i n[on] p[ro]derit . (Contra vermem edentem; ID 30355)
Der Krankheitsdämon in Wurmgestalt Nesso (30) wird nicht alleine, sondern mit seinen neun jungen Würmern (nessinchilinon) angeredet. Der mit ‚Pro Nessia‘ eng verwandte bzw. den zweiten Überlieferungsstrang des gleichen Segens repräsentierende Spruch ‚Contra vermes‘ greift zum ähnlichen Zahlenmotiv. Die Wahl der Zahl Neun lässt sich in ihrer Symbolik biblisch, liturgisch oder christlich-litera-
6.3 Weltliche Gebrauchsliteratur: Segensprüche/Beschwörungen | 353
risch kaum erklären, denn sie ist in diesen Quellen nicht ad malam partem festgelegt (Meyer/Suntrup 1987, 581–590). Als gesteigerte Gestalt der heiligen Dreizahl der Trinität findet sich die Zahl auchin der germanischen Mythologie und Magie. In dieser Funktion liefert sie keine Grundlage für ihre Übertragung auf krankheitserregende Würmer. Weinhold (1897, 5–6) weist allerdings auf ihre nicht weniger häufige Verbreitung in diesen Quellen im Zusammenhang mit niedrigen göttlichen Wesen (Meerjungfrauen und Zwerge treten in Neunergruppen auf; Beowulf erlegt neun Seeungeheuer) und vor allem im Kontext der Kulthandlungen und Krankheiten.39 Die Wirkung des Spruchs (31) und sein gedachter allgemein gültiger Charakter werden ebenfalls durch die Angabe der Zahl der Würmer erreicht: Der Protagonist beschwört sie unabhängig von ihrer Zahl (ob einer, zwei oder drei) und macht damit gleichzeitig auch seine ‚Informiertheit‘ über den Schädiger bekannt. Er weiß, wo er sich befindet (im Fleisch) und dass er sich nicht alleine im Körper des Betroffenen verbergen kann. Motive der Exorzierung mikro- und makrostrukturell Die legitimierenden Historiolae, die eigentlichen Beschwörungsformeln, ob von imperativischen Handlungsanweisungen begleitet oder nicht, sollen mithilfe der magischen Kraft der Worte zum eigentlichen Ziel der Beschwörungen führen – der Exorzierung des bösen Geistes und der Heilung des Erkrankten. Die Exorzierung ist deshalb der letzte Teil der Segenssprüche und ist sowohl mikrostrukturell als auch makrostrukturell als formelhaft zu betrachten. Mikrostrukturelle Formelhaftigkeit ist der Exorzierung insofern zuzusprechen, als sich für ihre Versprachlichung bestimmte formelhafte Wendungen etabliert haben, auf die unten näher eingegangen wird. Makrostrukturell bildet die Exorzierung einen formelhaften Wissensbestand, weil sie ein unverzichtbarer Teil der Segenssprüche ist und immer an ihrem Ende erscheint. Außerdem ist das Wissen darüber, welcher Schaden nicht mehr angerichtet werden darf, stereotyp. Wie oben bereits bemerkt, werden die Schädiger typischerweise als Dämonen vorgestellt, die von außen in das Körperinnere gelangen. Dementsprechend besteht die Exorzierung darin, dass diese Dämonen den Körper des Tieres bzw. des Menschen von innen nach außen verlassen. Auch dieses Prinzip ist nicht erst || 39 Dieses nicht nur in der (alt)germanischen Magie und Mythologie, sondern auch im Volksglauben und Brauchtum des mittel- und nordeuropäischen Raumes manifeste Erbe (HwA 6, 1057–1066 zu Neunerlei Holz, Körnern und Kräutern) hinterlässt laut Dobrovol’skij/Piirainen (1997, 369–376) keine Spuren in der Phraseologie der modernen Sprachen, in der es von der in der christlich-biblischen Zahlensymbolik dominanten Zahl Sieben verdrängt wird.
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durch die altdeutschen Segenssprüche erdacht worden. Das Motiv erscheint in altindischen und babylonischen Texten, daneben bei Marcellus in ‚De Medicamentis Liber‘ und in mittelalterlichen Rezeptarien. In den Segenssprüchen fordert der Protagonist die Dämonen meistens mithilfe der Beschwörungsformeln abstrakt zum Verschwinden auf, ohne dass dieser Prozess genauer beschrieben wird, so z.B. in den Sprüchen ‚Contra uberbein‘ (32a) und ‚Contra vermes pecus edentem‘ (32b): (32a) Ih besueren dich […] daz du suinest . unde in al suacchost (Contra uberbein) (32b) Ih besuere dih […] er demo […] fiehe die vvurme uzsin (Contra vermes pecus edentem)
Vergleichbar abstrakt sind die Exorzierungsteile, die mithilfe der formelhaften Wendung so wirt buoz/daz dir buozwerde/daz dir ze buoze die Befreiung von dem Krankheitserreger bzw. eine Besserung herbeischwören. Andere Segenssprüche enthalten hingegen detaillierte Beschreibungen darüber, wie der Schädiger – stets nach dem Prinzip von innen nach außen – den Körper zu verlassen hat und/ oder welcher Schaden nicht mehr angerichtet werden darf. Das erste Beispiel dieser Art ist der in (30) angeführte prominente Wurmspruch ‚Pro Nessia‘, der genau die Stationen der Austreibung beschreibt: Der Wurm soll herausgehen aus dem Mark in die Adern, von den Adern in das Fleisch, von dem Fleisch in die Haut, von der Haut in die Sohle. Identisch ist der Spruch ‚Contra vermes‘ aufgebaut, in dem der einleitende Befehl gang ût durch die dreimalige Wiederholung der Partikel ut vor der modellbildenden Struktur/formelhaften Wendung von […] aus den Krankheitsdämon mit seinen neun jungen Würmern schrittweise vorwärts zwingt. Der Text ‚Contra vermem edentem‘ (31) enthält ebenfalls genaue Anweisungen, dass der Wurm weder das Fleisch des Mannes/der Frau fressen noch sein/ihr Blut trinken darf. Diese Aufzählung fällt formularartig aus, wodurch wohl die Allgemeingültigkeit des Segensspruchs zum Ausdruck kommen soll. Eine ähnliche formelhafte Formulierung veranschaulicht der ‚2. Merseburger Zauberspruch‘. Der vollständige Text findet sich in (20), in den Zeilen 3–4 begegnet die in der Forschung bereits viel beachtete formelhafte Wendung ſo ſe benrenki ſoſe bluotrenki ſoſe lidirenki ben zi bena bluot zi bluoda lid zi geliden. In dem an den Anfang gestellten Muster wie die […] so diesind die Namen der dreifachen Erkrankung(Beck 2013, 259) aufgezählt, gegen die der Spruch helfen soll: Wie die Verrenkung des Knochens, so die des Blutes, so die des Gliedes. Hier wird zu dem oben bereits beschriebenen Motiv der Definition durch die Angabe des Namens gegriffen. Die formelhafte modellbildende Wendung Bein zu Bein, Blut zu Blut,
6.4 Weltliche und religiöse Dichtung: Loblieder | 355
Glied zu Glied am Ende des Spruchs schildert den Endpunkt der Exorzierung oder, mit Ebermann (1903, 1–24) formuliert, die wiederherzustellende Ordnung. Die universell zu inserierende Formel findet sich auch in Beschwörungen gegen Beinbruch, Verrenkung oder zur Blutgerinnung, erfährt dort eine christliche Umdeutung und ist bis in die Moderne verbreitet (Ebermann 1903, 1–24; Schulz 2003, 101 und 156–157; Beck 2013, 259).
6.3.3 Textmuster 3: Gebetsaufforderungen Die Segenssprüche enden zumeist mit lat., in einigen Fällen volkssprachlichen Gebetsaufforderungen über drei „Vaterunser“ und „Amen“ sowie mit dem Aufruf des Namens Gottes und der heiligen Trinität. An dieser Stelle seien die Gebetsaufforderungen der Vollständigkeit halber erwähnt; da sie öfter nicht in der Volkssprache formuliert sind, wirdim Folgenden nicht näher darauf eingegangen. Wichtig sind sie allerdings in funktionaler Hinsicht: Auch wenn die Segensprüche heidnisch geprägt sein können, enthalten sie christliche Abschlussformeln liturgischer Art und demonstrieren somit die prinzipielle funktionale Ähnlichkeit zwischen den beiden Textsorten.
6.4 Weltliche und religiöse Dichtung: Loblieder Abschließend soll die Formelhaftigkeit der weltlichen und religiösen Dichtung am Beispiel der ahd. Lob- bzw. Preislieder untersucht werden. Aus der ahd. Zeit liegen für diese Textsorte fünf Beispiele vor: das ‚Georgslied‘, ‚De Heinrico‘, das ‚Hildebrandslied‘, das ‚Ludwigslied‘ und das ‚Petruslied‘. Ihre Zuordnung zu einer Textsorte soll und darf nicht über die Unterschiede hinwegtäuschen, auf die die Literaturgeschichte mehrfach und zu Recht hingewiesen hat. Mit Blick auf diese Unterschiede werden die Texte im vorliegenden Kapitel nicht nach den zugrunde liegenden Motiven (vgl. hingegen Kap. 6.3) behandelt, sondern einzeln. Das verbindende Element ist die Tatsache, dass alle Loblieder auf formelhafte ideengeschichtliche Motive zurückgreifen, und makrostrukturell nach formelhaften Mustern aufgebaut sind, die sich teilweise nur schwer von den dazugehörigen mikrostrukturellen Wendungen trennen lassen.
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6.4.1 ‚Georgslied‘ Bei der fragmentarischen Abschrift des anonymen ‚Georgsliedes‘40 handelt es sich um ein zur paraliturgischen Feier bestimmtes Lied, das sich als die frühste volkssprachige (ahd.) Fassung der Legende über das Martyrium und die Wundertaten des heiligen Georg neben dem ‚Petruslied‘ (vgl. 6.4.2) als das einzige erhaltene Heiligenlied in ahd. Sprache darstellt.41 Trotz dieser singulären Stellung im Althochdeutschen lässt sich das Lied ideengeschichtlich und mit Blick auf die zugrunde liegenden Motive gut in der weitreichenden Tradition der erzählenden volkssprachigen Lieder im europäischen Kontext verorten: Die Legende gehört laut Haubrichs (2013, 133–134) zu einem Typus spätantiker Märtyrerromane, deren Helden und Heldinnen […] man wegen der darin hyperbolisch gefeierten und in Handlung (Auferstehungen) umgesetzten christlichen Unsterblichkeitshoffnung als „Märtyrer von unzerstörbaren Leben“ (F. Zarncke) bezeichnet hat.
Das Lied auf Georg speist sich aus der lat. Überlieferung der Legende des heiligen Georg42 und greift auf die Doppelmotivik der Hoffnung auf Auferstehung des heiligen „Großmärtyrers“ einerseits und des alle heidnischen Feinde zerstörenden, unbesiegbaren adligen Grafen Georg (Gorio) andererseits zurück. Der Kult der Auferstehungsheiligen ist seinerseits nicht auf Europa beschränkt und geht seiner schriftlichen volkssprachigen Überlieferung in der Erzählliteratur stark voraus. Zahlreiche Wiederholungen einzelner Passagen und der einfache, parataktische Stil der Darlegung deuten ebenfalls darauf hin, dass der Text auf einer mündlichen Vorlage beruht, wie man sie in den Prozessionsliedern findet (Embach 2007, 307). Die literarischen Variationen und Abänderungen des Heiligen-
|| 40 Die Belege wurden in der HiFoS-Datenbank nach der Hs. Heidelberg UB, Cod. Pal. Lat. 52 fol. 200v–201v und aufgrund des schlechten Zustandes des originalen Textzeugen nach der Edition Schlosser (22004, 128–130) zitiert. Beim Zitieren der Belege im vorliegenden Kapitel verzichte ich deshalb auf die Angabe der Belegstelle und führe lediglich die ID-Nummer in der HiFoS-Datenbank an. Die Meinungen über die dialektale Zuordnung des Textes sind geteilt: frk. (mit Entstehungsort in Prüm, so Haubrichs 1979) oder alem. (mit Entstehungsort auf der Reichenau, so etwa Schützeichel 1982); über die zeitliche Datierung ins späte 9. bzw. frühe 10. Jahrhundert besteht weitgehend Einigkeit. 41 Ausführlich zum Inhalt vgl. Embach (2007, 306–307). 42 Dazu ausführlich Haubrichs (2000).
6.4 Weltliche und religiöse Dichtung: Loblieder | 357
bildes liegen durch das gesamte Mittelalter zerstreut und nicht nur im deutschsprachigen Raum vor.43 Insofern ist auf die dem Lied zugrunde liegenden Motive der Begriff formelhaft anzuwenden. Im ahd. Text werden die Ereignisse allerdings nicht in ihrer Vollständigkeit (vgl. insbesondere die partielle Selektion der Wundertaten, hier drei ander Zahl) und nicht in „getreuer“ Abfolge (vgl. die Umorganisation der Todes- bzw. Martyriumsarten) nacherzählt, sondern abbrevierend in einer Auswahl ausgeführt, was die literaturgeschichtliche Forschung bereits mehrmals dazu veranlasst hat, die memorative Funktion des Textes anzunehmen. Für sein Verständnis muss das Vorhandensein der breiten Kenntnisse der Legende beim Publikum erforderlich gewesen sein, die die Literaturgeschichte auch voraussetzt (vgl. Haubrichs 1995, 340; Haubrichs 2013, 135; Embach 2007, 306–307). Auch in diesem Text geht somit die Formelhaftigkeit der grundlegenden Wissensbestände mit ihrer Variation einher. Die heroisch akzentuierte Stilisierung Georgs als tapferen Kämpfer gleich in der Eingangsszene mit dem Zug auf den Thingplatz sprengt den engen Gattungsrahmen einer Heiligenlegende auch in einer weiteren Hinsicht. In der Stilisierung sieht Embach (2007, 307) „eine bewusste Nachahmung der heroisch akzentuierten germanischen Heldendichtung“: Georg ist ein Held, der mit einem großen Heer zum Gerichtstag erscheint, das irdische Reich verlässt, das Himmelreich erringt, durch zahlreiche feindlich gesinnte Könige verführt und wegen seines Widersetzens gemartert wird. Seine Gesinnung bleibt fest, er bleibt trotz aller Widerstände seinem Glauben an Gott treu, vollbringt durch Gottes Auserwähltsein mehrere Wunder und ersteht trotz mehrfacher Grausamkeiten dreimal vom Tode auf. Die Wendung (33) bringt diesen formelhaften Topos zum Ausdruck und ist mit Haubrichs (1995, 339) auf lat. constantia mentis zurückzuführen: (33) [h]erte uuas d[a]z | georigen muot „standhaft war Georgs Gemüt“ ‚Standhaftigkeit des Geistes als Topos des heroischen Ideals‘ (ID 33416)
Die heroische toposhafte Stilisierung Georgs als tapferer Krieger bildet den ersten Teil der makrostrukturellen Gliederung des Liedes. Er endet mit der formelhaften Wendung (34a):
|| 43 Dazu u.a. Haubrichs (2001).
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(34a) daz keteta selbo der mare crabo. georio „das tat wahrhaftig der herrliche Graf Georg“ ‚eine Beteuerungsformel zur Verstärkung des wahren Charakters des vorher Gesagten‘ (ID 33415)
Die formelhafte Wendung (34a) ist in der Terminologie der klassischen Phraseologieforschung eine Routineformel und ein konstitutives Element des ‚Georgsliedes‘. Wie ausgeführt, stellt das Lied ein Lob auf den heiligen Georg dar, das vor allem durch die Beschreibung der von ihm vollbrachten Wundertaten, Auferstehungen und der erlittenen Marter erfolgt. Der Wirklichkeitsbezug und Wahrheitsanspruch des Geschehenen soll außer Zweifel stehen und entsprechend gerühmt werden. Dies scheint dem Verfasser insbesondere mit Blick auf die kaum vorstellbare Grausamkeit der Marter und des unglaublichen Charakters der Wundertaten, die vom erfahrungsbasierten Wirklichkeitsverständnis der Rezipienten abweichen, besonders wichtig zu sein. Das Ziel ist dabei nachzuweisen, dass sich die Ereignisse, von denen berichtet wird, in der Wirklichkeit zugetragen haben, auch wenn sie legendenhaft erscheinen mögen, abgeändert und nicht vollständig dargelegt sind. Die Wendung (34a) dient der Bestätigung des Wirklichkeitsbezugs und der Wahrhaftigkeit Georgs Taten. Wahrheitsbeteuerung bzw. -bestätigung stellt ideengeschichtlich an und für sich genommen einen der wichtigsten Topoi der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Literatur dar, der mikrostrukturell durch eine ganze Palette formelhafter Wendungen zum Ausdruck gebracht wird (vgl. Kap. 5.2.3). Die Wahrheitsbeteuerung zieht sich wie ein roter Faden durch ganz unterschiedliche literarische Gattungen und die Werke verschiedener Autoren. Sie findet sich z.B. bei Otfrid von Weißenburg (Büge 1908), in der Historiographie (Pörksen 1971; Hagenlocher 1979; Hanauska 2014), in epischen Romanen (Eikelmann 1999; Friedrich 2006) sowie in der Heldendichtung und Legendarik (Embach 2007, 307). Die Legitimierung kann durch den Verweis auf die Autorität des Verfassers/Autors, die Autorität einer anderen auctoritas-Person, durch Gott, durch den Bezug auf eine andere mündliche bzw. schriftliche Quelle usw. erfolgen. Die Besonderheit der Wendung (34a) besteht darin, dass die Legitimation durch die Tat des Grafen, sozusagen aus sich heraus und nicht durch Verweise versucht wird. Der Wendung geht die Beschreibung der Wundertat voraus; sie fasst diese bekräftigend zusammen und wird durch die explizite Verwendung des Adverbs selbo ‚wahrhaftig‘ und des Adjektivs mare ‚herrlich‘ als eine der Charakterisierungen Georgs noch verstärkt. Damit übt der Verfasser auch einen direkten Einfluss auf das Publikum aus. Ein weiteres Verstärkungsmittel ist die mehrfache Wiederholung der formelhaften Wendung im Text des Liedes, vgl. die Beispiele (34b) bis (34d), die alle ebenfalls der Beschreibung einer Wundertat nachgestellt sind.
6.4 Weltliche und religiöse Dichtung: Loblieder | 359
(34b) daz ketœta selbo sċe gåro „das tat wahrhaftig der heilige Georg“ (ID 33417) (34c) daz . ceiken . uuorta dh […] io ceuuare/daz zehiken . uuorheta . da[h]re . gorio ce uuare „dieses Zeichen vollbrachte dort tatsächlich Georg“ (ID 13976; ID 13977) (34d) dazerdiGita selbo | ehro . SċeGorio „das erreichte durch Bitten der ehrwürdige heilige Georg wahrhaftig“ (ID 33418)
Der Verfasser des ahd. ‚Georgsliedes‘ macht allerdings auch von anderen Möglichkeiten der Wahrheitsbeteuerung Gebrauch. Mit der Wendung (34e) wird das legendhafte Geschehen durch die Behauptung des Verfassers, der heilige Georg habe es selbst bekannt gegeben, in die Realität projiziert. (34e) daz cu[nt] uns selbo sċe gorio „das kündete uns der heilige Georg selber“ (ID 3272)
Charakteristisch ist die Verwendung des Personalpronomens der 1.P.Pl. uns (und nicht etwa mir), die die Rezipienten automatisch in die Rolle der vertrauten und den gleichen Wissensbestand teilenden Teilnehmer versetzt. In (34f) und (34g) schreibt der Verfasser sich selbst die Rolle einer auctoritas-Person zu, indem er beteuert, dass er die geschehenen Ereignisse wahrhaftig schildert und dass er darüber genau Bescheid weiß. Die Wendung (34g) kombiniert die Bestätigung durch den Verfasser mit der Behauptung, dass die wundervollen Taten Georgs nicht nur der Geschichte angehören, sondern immer noch andauern. Der Topos der Wahrheitsbe-teuerung „das weiß ich, das ist völlig wahr“ kulminiert im Jubelrefrain des Liedes. In der in (34h) angeführten Form kommt er im Lied dreimal vor und ist nach einem festen Schema gegliedert. Er dient wie auch andere beteuernde Wendungen der Affirmation, der Vertiefung und Vergegenwärtigung des Handlungssinns und findet sich in liturgischen und paraliturgischen Texten katechetischen Charakters wieder (Haubrichs 1995, 341; Embach 2007, 307). (34f) ce uuare . shagehn ihk zes ihuu „ich sage es Euch wahrhaftig“ (ID 3268) (34g) mihkil t(ta G[orio dar .] so her io tuoht . uuar daz uuez . ihk . „Großes tat da Georg, wie er es wahrlich immer noch tut. Das weiß ich“ (ID 3269)
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(34h) dhaz uueiz . ihk . dhaz ist aleuuar . uhf fher stuont | sihk goriio dhar uuola.pre diio her dhar . dhie ehnidenenman . | keshante gorio . dhartefrham (ID 3270) „das weiß ich, das ist völlig wahr: Georg auferstand danach wieder und predigte dann gut. Die heidnischen Männer brachte Georg gar sehr in Schande“
Somit liefert das ‚Georgslied‘ einen weiteren Beweis dafür, dass beteuernde Routineformeln keineswegs reine Flickwörter sind, mit denen weniger formgewandte Autoren der gereimten Texte Reimnot und mangelndes literarisches Talent zu überbrücken versuchen (vgl. Dornfeld 1912 und Kap. 5.2.3). Im Vergleich zur historiographischen Literatur, die im Mittelalter durchaus auch legendares Handeln der Heiligen und weltlichen Helden verarbeitet, tut sich im ‚Georgslied‘ ein Unterschied auf: Für die Legitimierung des im ‚Georgslied‘ Berichteten reichen dem Verfasser bloße Wahrheitsbestätigungen dhaz uueiz . ihk . dhaz ist aleuuar, die in historiographischen, insbesondere vergangenheits- und universalhistorisch orientierten Texten zwar auch belegt sind, dort aber sehr zurückhaltend verwendet werden: Die bloße Form der Wahrheitsbestätigung scheint nicht ausreichend zu sein. Das Wort des Verfassers hat zwar durchaus Gewicht, aber die Tatsache, dass er selbst die Wahrheit seines Berichts nicht aus eigener Erfahrung bestätigen kann, macht es notwendig, andere Strategien der Legitimierung zu wählen. (Hanauska 2014, 432)
Diese bestehen vor allem in der Berufung auf anerkannte Autoritäten und wichtige schriftlich verfasste Quellen. Auf die Tatsache, dass die Wahrheitsbeteuerung in den ahd. Liedern anders funktioniert, komme ich in den Kap.6.4.3 und 6.4.4 zurück.
6.4.2 ‚Petruslied‘ Genauso wie ‚Georgslied‘ ist mein nächstes Beispiel – das ‚Petruslied‘44 – ein Vertreter der ahd. Heiligenpoesie, weil es sich der unter Karolingern auflebenden Petrusverehrung widmet. Im Unterschied zum ‚Georgslied‘ ist es allerdings weniger narrativ und affirmativ; im Fokus steht die an den heiligen Petrus gerichtete Bitte, jeden Menschen zu retten, der seine Hoffnung auf ihn als Heilsvermittler
|| 44 Alle Belege werden nach der Hs. München BSB, Clm 6260, fol. 158v (Entstehungsort: Freising, Entstehungszeit: um 900-frühes 10. Jahrhundert) zitiert.
6.4 Weltliche und religiöse Dichtung: Loblieder | 361
richtet. Durch die Verwendung der Personalpronomina der 1.P.Pl. wird das Publikum auch in diesem Lied ins Handlungsgeschehen mit einbezogen; das Lied entfaltet sich als ein kollektives Gebet. Die Heilskraft wurde auf Petrus genauso wie auf den heiligen Georg (Kap. 6.4.1) durch Gott übertragen. Die literaturhistorische Forschung hat bei diesem Text einen paraliturgischen Gebrauch, wahrscheinlich als Prozessions- oder Wallfahrtslied, bereits festgestellt (Lomnitzer/ Hartmann 2013, 363).45 Am deutlichsten zeugt davon der sich dreimal wiederholende Kyrie-Ruf in (35), eine liturgische Doppelformel, die in einer festen Struktur am Ende jedes Verses vorkommt und die narrative Schilderung der Wundertaten Petri abschließt: (35) Pitte meſ den goteſ trut alla [ſ]amant upar lut · dazer unſ [fir]tanen [giuuer]|do gina den Kirie eley_on christe eley_on (Petruslied, 158v, 6; ID 3280)
Vermutlich hat ein Vorsänger den Text des ahd. Liedes vorgetragen, worauf ihm das Volk „in Nachahmung responsorischer liturgischer Gesänge“ (Haubrichs 1995, 330) mit dem in (35) verzeichneten Ruf antwortete. Die formelhafte Wendung richtet sich supplizierendan Gott und seinen Mittler, gotes drut, den „Vertrauten“ oder „Freund Gottes“, den heiligen Petrus, und drückt eine Bitte um gnädiges Erbarmen und Rettung aus. Haubrichs (1995, 329–330) stellt sie in die Tradition der lat. laudes („Lobgesänge“) und volkssprachigen preces („Bittlieder“), die sich durch ihren performativen Charakter auszeichnen: Die formelhaften Wendungen dieser Art beschreiben eine Handlung und sind zugleich ihr Vollzug, „sie fordern zum Lobgesang und zum Gebet ausdrücklich auf […] und sind zugleich Lob und Bitte“ (Haubrichs 1995, 329).
6.4.3 ‚De Heinrico‘ Das dritte Beispiel aus der Reihe der Loblieder ist ‚De Heinrico‘46 – ein Preislied in der lat.-ahd. Mischsprache, das als Helden einen Vertreter der geistig-politischen Kräfte der frühmittelalterlichen Reichs- und Sozialordnung profiliert, die zeittypischen Konflikte und Konfliktbewältigungsstrategien verhandelt und das
|| 45 Das in Kap. 6.4.4 zu behandelnde ‚Ludwigslied‘ enthält z.B. einen expliziten Hinweis auf das Vorsingen der Kyrie-Rufe während der Prozessionen, die für das ‚Petruslied‘ von zentraler Bedeutung sind. 46 Alle Belege werden nach der Hs. Cambridge University Library, Gg. 5 35, fol. 437r–437v (Entstehungsort Text: vermutlich rheinischer Raum, Entstehungszeit: um 968-1039) zitiert.
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sowohl den Protagonisten als auch die historischen Ereignisse kraft ihrer Stilisierung als „Modelle zeitloser Gültigkeit“ (Herweg 2013a, 152) darstellt. Sie sollen sich somit zu zeitenthobenen Medien der Belehrung und des Gedenkens entwickeln. Die historischen Figuren und die zugrunde liegenden konkreten Ereignisse lassen sich kaum identifizieren, trotz der Tatsache, dass sich die Forschung mit dieser Aufgabe lange auseinandergesetzt hat. Die neueren Untersuchungen (Fried 1998; Herweg 2002; 2013a, 151) gehen davon aus, dass sich der Dichter wohl bewusst nicht auf ein Einzelereignis bezog, „sondern […] ‚synkretistisch‘, raum- und zeitübergreifend erinnernd Geschehens- und Ritualabläufe zu einem zeitlosen Ideal des Miteinanders von Reichs- und Regionalherrschaft“ zusammenfasste.47 Die Unschärfe aller Angaben im Text setzt wie etwa auch beim ‚Georgslied‘ das beim Publikum vorhandene Wissen voraus und spricht dafür, dass das Lied nur im Kreis der vertrauten, sich auskennenden Hörer eine Wirkung entfalten konnte. In dieser Hinsicht lebt das Lied vom Aufgreifen der formelhaften Motive auf ideengeschichtlicher Ebene. Auch makrostrukturell weist es einige formelhafte Elemente auf. Das Lied beginnt mit einem Anruf Christi, beim Verfassen des Textes behilflich zu sein, und mit der Angabe des Themas: Das Lied handelt von einem Herzog Heinrich.48 Insbesondere beim Anruf liegt eine Christianisierung der seit der antiken Literatur üblichen Musenanrufung vor, vgl. Beispiel (36): (36) [N]unc almu_thero euuigero | a__i_ theirnun filiu_benignu_ fau|tor mihi thaz ig iz co_an muozi | de quoda[m] duce themo heron | heinrichequi cum dignitate | thero beiaro riche beuuarod[e]. (De Heinrico, 437r, 3; ID 13975)
Die Kernstrophen schildern einen hochritualisierten ehrenvollen Empfang des Herzogs Heinrich durch den Kaiser Otto, der in derVereinigung der Hände zum Zeichen der Eintracht (die coniunctio manuum) kulminiert. Es folgt ein gemeinsamer Kirchengang mit dem Gebet um Gottes Segen für die kommende Handlung. Das Lied endet mit einer formelhaften Wahrheitsbeteuerung in der letzten Strophe, vgl. Beispiel (37):
|| 47 Anders Haubrichs (1995, 149): „Die Forschung hat lange in der Identifizierung geschwankt – doch ist heute kaum ein anderer Bezug als der auf Herzog Heinrich II., „den Zänker“ und Otto III. […] möglich.“ 48 Zur Identifikationsproblematik vgl. oben und die Anmerkung 47.
6.4 Weltliche und religiöse Dichtung: Loblieder | 363
(37) Hic non fuit ullusthe_ hafon ig | gouda fullei_tnobili[bu]_ ac lib[er]i_ . thaz | tid allaz uuar i_. cui n[on]feci__et | heinrichallero rehto gilich. (De Heinrico, 437v, 34; ID 3308)
Haubrichs (1995, 151) bemerkt zurecht, dass sich in der Wahrheitsbeteuerung (37) der lat. und ahd. Text jeweils getrennt voneinander vertikal lesen – was […] beim einfachen Vortrag kaum tolerabel sein konnte und eher für Gesang durch zwei alternierende Chöre spricht, die sich antworten, variieren und vollenden, aber auch genügend Eigengewicht besitzen, daß der Hörer ihre vom Partner unterbrochene Stimme ergänzend wiederaufnehmen kann.
Wie im ‚Georgslied‘ genügt für die Herstellung des Bezugs zur Realität der Verweis auf die Autorität des Verfassers: Er kann selbst bezeugen, dass das Dargestellte in der Tat so geschehen ist. Durch das Attribut guot wird die Qualität des Zeugnisses gesteigert.
6.4.4 ‚Ludwigslied‘ Funktionale Verbindungslinien zu ‚De Heinrico‘ weist auch das vierte Beispiel auf – der Preisgesang ‚Ludwigslied‘.49 Wie die Genrebezeichnung besagt, ist es ebenfalls ein Loblied, dass allerdings als eine vermutlich außerhalb des deutschsprachigen Raums entstandene und von einem westfränkischen Autor verfasste Widmung an den westfränkischen König Ludwig III. in der frühmittelalterlichen deutschen Literatur eine singuläre Stellung einnimmt. Trotz dieser Singularität lassen sich auch hier makro- und mikrostrukturell die für Loblieder wichtigen Gemeinsamkeiten auf der Ebene der Formelhaftigkeit ausmachen. Das Lied ist stärker narrativ geprägt als z.B. das ‚Georgslied‘ oder ‚De Heinrico‘ und wurde seitens der Literaturgeschichte bereits früh in ihrem Wert als signifikante historische Quelle hervorgehoben. Allerdings setzt auch dieses Lied die Bekanntheit der historischen Ereignisse (der Sieg des westfränkischen Königs über die Normannen im Jahr 881 bei Saucourt) beim Publikum voraus, weil es weniger das Ziel hat, diese faktisch wiederherzustellen, als eher lobend und legitimierend in Erinnerung zu rufen. Das Historisch-Faktische, in das das Publikum
|| 49 Alle Belege werden nach der Hs. Bibliothèque Municipale Valenciennes, Ms. 150 fol. 141v– 143r (Entstehungsort Text: wohl im westfränkischen Reich, Entstehungszeit Text: zwischen 01.– 03.08.881 und 05.08.882 (in der mündlichen Tradition), aufgezeichnet nach 882) zitiert.
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auch unmittelbar involviert sein konnte,50 tritt eher hinter die formelhaften/typischen Züge der Darstellung des Geschehenen zurück. Zur Herstellung des Realitätsbezugs verwendet der Verfasser den Topos der Wahrheitsbeteuerung in der Form, wie er auch in anderen behandelten Lobliedern (ob auf Heilige oder weltliche Helden) mehrfach zum Ausdruck kommt, nämlich die Beteuerung durch Verweis auf die eigene Autorität und die Vertrautheit mit den dargestellten Ereignissen. Das ‚Ludwigslied‘ wird mit diesem Topos eröffnet, die formelhafte Wendung ih uueiz kommt gleich zweimal vor, vgl. die Belegstelle (38): (38) Einan kuning uueiz ih · Heizſit her hluduig · | Ther gerno gode thionot · ih uueiz her imoſ lonot (Ludwigslied, 141v, 1–2; ID 3281; ID 13978)
Mit diesem Ziel vor Augen greift das Lied wie etwa die frühmittelalterliche Geschichtsschreibung insgesamt ideengeschichtlich auf die Motivik des Alten Testaments zurück. Zu Beginn des Liedes präsentiert sich Ludwig als durch Gott erwählter, geprüfter und ausgezeichneter Mittler zwischen Gott und Menschheit. Vaterlos geworden, wird er zum göttlichen Sohn auserwählt und zur Errettung des Volkes entsandt. Der Parallelisierung mit Jesus Christus dienen ferner die Motive der Versuchung und der Bewährung durch Gehorsam und treuen Gottesdienst. Als Motive des Alten Testaments schlagen sie Brücken nicht nur zur frühmittelalterlichen Geschichtsschreibung, sondern auch zu zeitgenössischen Fürstenspiegeln und Sittenlehren (vgl. ausführlich Herweg 2013b, 245–246; Haubrichs 1995, 139–142). An mehreren Stellen im Text wird Ludwig als gottgerechter und treuer Diener stilisiert, der Gode lob sageta und all seine Handlungen in Gottes Namen vollbringt. Sprachlich erfolgt die Stilisierung unter Einsatz der formelhaften Wendungen, wie es die Beispiele (39) bis (42) belegen: (39) Thanne ſprah hluduig . Herro _o duon ich.| Dot ni rette mir iz . Al thaz . thu gibiudist. (Ludwigslied, 142r,18; ID 27452) (40) Nu uuillih thaz mir uolgon · Alle godeſ holdon · | Gi ſkerit iſt thiu hier uuiſt · So lango ſo uuili kriſt | Uuil her unſa hina uarth · Therohabet her giuualt· | So uuer ſo hier In ellian Gi duot godeſ uuillion | Quimit her gi ſund uz · Ih gilonon Imoz · | Bilibit her thar In ne · Sinemo kunnie · (Ludwigslied, 142v, 36–41; ID 3288; ID 3289; ID 3290)
|| 50 Mattheier (1984) nimmt das Publikum in den Kreisen der persönlichen Gefolgschaft Ludwigs an.
6.4 Weltliche und religiöse Dichtung: Loblieder | 365
(41) Ther kuning reit kuono · Sang lioth frono | Ioh [alle] ſaman ſangun ·kyrrie lei_on (Ludwigslied, 142v, 47; ID 3292) (42) Gilobot ſi thiu godeſ kraft · Hluduig uuarth ſigihaft · |[Ioh] allen heiligon thanc Sin uuarth ther ſigi kamf | [U]uolar abur hluduig . Kuning u[n]s[er] fralig . | [So] garo ſo ſer hio uuaſ · So uuar ſoſeſ thurft uuaſ · | [gi]halde inan truhtin Bi _inan ergrehtin (Ludwigslied, 142v, 55–143r, 59; ID 3296; ID 3297; ID 3299)
In (39) schwört Ludwig selbst, dass er im Namen Gottes handeln wird. An der Stelle (40) wendet er sich an sein Heer und ruft es dazu auf, Gottes Willen zu vollbringen, betont dabei auch die Allmächtigkeit des Herrn und seine Macht, den Ausgang des Kampfes zu bestimmen. Somit finden sich in der Rede die für die Zeit typischen Motive des Zuspruchs vor der Schlacht. Litaneiartige Dankpreisungen Gottes und der Heiligen in (41) und (42) veranschaulichen exemplarisch, dass auch das Kriegsgeschehen im Lied im Dienste Gottes steht. Der auch aus dem ‚Petruslied‘ (vgl. Kap. 6.4.2) bekannte liturgische Kyriegesang (41) erklingt im ‚Ludwigslied‘ als Schlachtgesang. Mit formelhaften Wendungen in (42) wird einerseits akklamierend ein Dank und Lob an Gott und seine Heiligen für den erfolgten Sieg Ludwigs ausgesprochen, andererseits die Hoffnung ausgedrückt, dass Gottes Gnade Ludwig auch weiterhin begleiten wird. Solche segnenden formelhaften Wendungen sind für das ‚Ludwigslied‘ ein konstitutives Element, dem neben der primären Funktion der Beglückwünschung makrostrukturell auch die textstrukturierende Funktion zukommt. Beleg (43) findet sich z.B. in der Mitte der ersten inhaltlichen Episode des Liedes, in der die Kindheit und das Auserwähltsein Ludwigs dargestellt werden: (43) Gab her imo dugudi · froniſc githigini · | Stuol her In urankon ·So bruche her e_ lango (Ludwigslied, 141v, 6; ID 3282)
Der Beleg schließt den Teil bis zur Thronbesteigung ab und leitet zu der Aussage über, dass Ludwig den Thron mit seinem Bruder Karl teilte. Mit dieser Wendung kommt die eigentliche Funktion des Liedes – die Lobpreisung Ludwigs und die Legitimierung seiner königlichen Macht – erstmals in aller Deutlichkeit zum Ausdruck; sie kulminiert im akklamierenden Heilswunsch (42) am Ende des Liedes. Ähnlich tritt auch Beleg (44) in der zweifachen Funktion auf, wobei damit statt Beglückwünschung eine Verfluchung ausgedrückt wird, deren Adressat auch nicht Ludwig, sondern die von ihm besiegten Feinde sind. Der appellierende, beschwörende Charakter des Belegs ist aber unverkennbar, genauso wie seine Positio-nierung am Ende der das Kriegsgeschehen und die Heldentaten Ludwigs beschreibenden Sequenz.
366 | 6 Historische formelhafte Sprache textuell und textübergreifend
(44) Her ſkancta cehanton · Sinan fian[ton] | Bitter[eſ] lideſ ·So uue hin hio the_ libe_ (Ludwigslied, 142v, 54; ID 3295)
Das geschichtstheologische Konzept des Liedes manifestiert sich somit sowohl im beschriebenen Geschehen als auch in der Figur des Königs Ludwig. Insgesamt gilt, dass jeder durch Buße und Reue sich zu einem guten Menschen verändern kann, vgl. Beleg (45): (45) Ther ther thanne thiob uuas . Inder thanana ginaſ |Nam _ina ua_ton. Sidh uuarth her guot man. (Ludwigslied, 142r, 8; ID 29667)
Die tiefe Verankerung des Gottes- und Weltbildes und somit auch die theozentrische Geschichtsauffassung sind im ‚Ludwigslied‘ mit einem anderen Motiv verbunden. In den liturgischen Laudes regiae („Lobpreisungen des Königs“, Haubrichs 1995, 142) werden bei der Charakterisierung des Königs auch heldenliedgemäße Formeln verwendet, die beschreiben, dass Ludwig nicht nur die geistliche, sondern auch die weltliche Prüfung besteht und als weltlicher Held fungiert. Ähnliche formelhafte Wendungen finden sich bei der Charakterisierung der adligen heldenhaften Protagonisten in der mhd. Literatur, vgl. die Belege (46) bis (49) aus dem ‚Ludwigslied‘: (46) Thar uaht thegeno gelih · Nichein ſoſo hluduig · |Snel Indi kuoni Thaz uuaſ Imo gekunni (Ludwigslied, 142v, 51; ID 3293) (47) Thoh er barmedeſ got · Uuuiſſer allu thiu not · | Hiez her hluduigan · Tharot ſar ritan · | Hluduig kuning min · Hilph minan liutin · (Ludwigslied, 142r, 23; ID 3283) (48) Tho nam her _kild Indi _per · Ellianlicho reit her · | Uuolder uuar er rahcho n · Sina uuidar ſahchon · (Ludwigslied, 142v, 42; ID 3291) (49) Thanne sprach luto . hluduig ther guoto . | Tostet hiu gi selleon . mine not stallon (Ludwigslied, 142r, 24; ID 3286)
Die Figur Ludwigs wird mit den typischen Attributen eines weltlichen Helden versehen, die sich ideengeschichtlich auch später in in der mhd. Literatur etablierten Idealen der adligen Helden wiederfindet: Ludwig ist tapfer und schnell (46), tugendhaft und gutwillig (49); er wird auch von Gott standesgemäß und respektvoll mit Mein König! angeredet (47) und verfügt über die typische Ausrüstung eines tapferen Helden (48).
6.4 Weltliche und religiöse Dichtung: Loblieder | 367
Die formelhafte Wendung (49) veranschaulicht ferner eine andere Gruppe von Routineformeln. Der Beleg fängt mit Thanne sprach luto . hluduig ther guoto an und führt die Figurenrede, in diesem Fall die bereits erwähnte Rede Ludwigs an sein Heer, ein. Zwei weitere Stellen sind in (50) und (51) dokumentiert: (50) Thanne ſprah hluduig . Herro _o duon ih (Ludwigslied, 142r,18; ID 27452) (51) Gode thancodun The ſin beidodun · | Quadhun al fro min So lango beidon uuir thin (Ludwigslied, 142r, 30; ID 3285)
Auch wenn solche Routineformeln im ‚Ludwigslied‘ insgesamt nur dreimal vorkommen, wird ihre textstrukturierende Funktion durch den Vergleich mit dem letzten Beispiel aus der Gruppe der Loblieder – dem ‚Hildebrandslied‘– ersichtlich.
6.4.5 ‚Hildebrandslied‘ Mit dem ‚Hildebrandslied‘51 – dem letzten Beispiel aus der Reihe der Loblieder – liegt uns ein germanisches Heldenlied vor, das im Kontext der Dietrichsage steht, deren historische Basis Ereignisse der ostgotisch-oströmischen Geschichte der Völkerwanderungszeit bilden. Die Motive sind in einer langen mündlichen Überlieferungstradition verankert, durch zahlreiche Umformungen auch noch in der späten Dietrichepik des Hohen Mittelalters gekennzeichnet und machen die genaue historische und zeitliche Verortung der Ereignisse (insbesondere bei den zentralen Figuren Hildebrand und Hadubrand) unmöglich. Der aus Quellen des frühen Mittelalters nur in seinem Grundgerüst rekonstruierbare Stoff der Dietrichsage leitet sich ursprünglich von der historischen Person des großen Ostgotenkönigs Theoderich ab, der 493 Italien eroberte, unangefochten über das Land bis zu seinem Tod im Jahr 526 herrschte und als Repräsentant germanischer Herrschaft über Italien traditionsbildend wirkte (Haubrichs 1995, 89–91). Ohne dass es sich stringent beweisen ließe, präsentiert sich Hildebrand wohl als Gefolgsmann Theoderichs; die Figur deutet auf eine der in der späten Dietrichsage berichteten Schlachten Theoderichs mit hunnischer Hilfe hin. Allerdings geht es dem anonymen Verfasser des ‚Hildebrandsliedes‘ typischerweise nicht um die
|| 51 Alle Belege werden nach den Hs. Kassel, Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel und LB, Perg. Hs. 2° Ms. theol. 54, fol. 1r und 76v (Entstehungsort Text: unsicher, Langobardenreich oder Fulda, Entstehungszeit Text: unsicher, um 800 bzw. 3.-4. Jahrzehnt des 9. Jahrhunderts) zitiert.
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getreue Rekonstruktion der historischen Ereignisse; der Leser erfährt auch nichts über die Vorgeschichte und den Anlass der Herausforderung und des bevorstehenden Zweikampfs. Wie in den oben dargestellten Preis- und Lobliedern muss auch hier ein breites eingeweihtes Publikum vorausgesetzt werden. Durch die Figur Hadubrands ist das allgemeine Wissen um die formelhaften Motive der germanischen Dietrichsage eng mit dem zweiten zentralen Motiv verzahnt. Im ideengeschichtlichen Sinn formelhaft ist das Motiv des ausweglos tragischen Vater-Sohn-Konflikts, das im ‚Hildebrandslied‘ in den Stoff der DietrichSage eingebettet ist, aber auch weit über das ‚Hildebrandslied‘ hinaus bezeugt ist, in die Literatur des 12.–16. Jahrhunderts Eingang findet und auch die Grenzen des deutschsprachigen Raums verlässt (Düwel/Ruge 2013, 179–180). Die Protagonisten Hildebrand und Hadubrand begegnen sich als kriegerische Vorkämpfer zweier Heere, die aber als Vater und Sohn in einem Verwandtschaftsverhältnis zueinander stehen.52 Damit treffen die persönlichen Sippenbindungen der Helden und ihre öffentlich geprägte kriegerische Ehre und Gefolgschaftsethik aufeinander. In dieser Verlagerung des Geschehens auf die nahest denkbare menschliche Beziehung, in der Privatisierung des Konflikts erkennt Haubrichs (1995, 106) ein typisches Merkmal des makrostrukturellen Sagenschemas – „die Faszination des Außerordentlichen, des Exorbitanten“. Die Privatisierung bzw. Personalisierung beschränkt sich aber nicht nur auf den Vater-Sohn-Konflikt, sie strahlt vielmehr auf die gesamte Geschichtsdarstellung im ‚Hildebrandslied‘ aus und ist gleichzeitig das Signum der frühmittelalterlichen Geschichtsauffassung: Wohl und Weh von Stämmen und Reichen gründeten sich auf das Schicksal und Handeln der Könige, der Großen und ihrer Geschlechter. […] Es ist selbstverständlich in den Augen der Zeit, daß Geschichte sich im Handeln der Großen herstellt, und so konnte die Sage, die poetisch gesteigerte, kunstvoll variierte Anschauung der Geschichte wurde, selbst wieder als positives oder negatives Exemplum geschichtsmäßig werden. (Haubrichs 1995, 107)
Das ‚Hildebrandslied‘ ist aber nicht ausschließlich im Kontext des germanischen Heldensagenguts zu verorten. Zuletzt haben Düwel/Ruge (2013, 176) das literarische Denkmal einen „Text zwischen zwei Gedächtniskulturen“ genannt. Gemeint ist damit zum einen das Oszillieren des Liedes zwischen dem christlichen und heidnischen Gedankengut, das sich auf der sprachlichen Oberfläche u.a. auch im Einsatz der formelhaften Wendungen bemerkbar macht. Dies illustriert z.B. die Routineformel (52):
|| 52 Ehrismann (1907, 275–277) weist auf die traditionelle Verankerung der Namensfrage und somit auf ihre Formelhaftigkeit hin.
6.4 Weltliche und religiöse Dichtung: Loblieder | 369
(52) ṕela|ganu ṕaltant gotquad hiltibrant ṕeṕurt ſkihit | ih ṕallota ſumaro enti ṕintro ſehſtic urlante. dar | man mih eo ſcerita In folc ſceotantero ſoman mir at | burc ęnigeru. banun nigifaſta. Nu scal mih ſuaſat | chind ſuertu hauṕan breton mit ſinu billiu eddo | ih imo tibanin ṕerdan. (Hildebrandslied, 76v, 13–14; ID 3172; ID 3173)
Die Wendung Wohlan nun, waltender Gott […] das schmerzliche Schicksal möge geschehen!53 ruft der alte Hildebrand Gott zum Zeugen an und beschwört ihn kurz vor dem Zweikampf mit seinem Sohn Hadubrand. Die Wendung eröffnet die Klagerede Hildebrands, nachdem er versteht, dass der ihm gegenüberstehende Kämpfer sein Sohn ist. Gleichzeitig bekundet Hildebrand sein Gefühl des Ausgeliefert-seins gegenüber dem tragischen Schicksal. Die literaturhistorische Forschung hat bereits mehrmals versucht festzustellen, welcher Gott hier gemeint ist – der christliche, der über das Schicksal walten kann und über diesem steht (Braune 1896, 3–5; Ehrismann 1907, 124; Haubrichs 1995, 106), oder der germanische Urwesengott, dem das Schicksal nicht untergeordnet ist (Schneider 1987, 668). Schlüssige Nachweise für das eine oder das andere Argument stehen allerdings aus. Unabhängig von der Entscheidung bei dieser Frage lässt sich aus dem Text des Liedes ableiten, dass Hildebrand die Möglichkeit, das Schicksal zu beeinflussen, von sich abwendet. Somit wendet er auch die Schuld für das ungewisse, aber auf jeden Fall tragische Ergehen des Kampfes – die mögliche Tötung eines nahen Verwandten – von sich ab. In der Klagerede verwandelt sich Hildebrand aus dem Vater in den Krieger, der dreißig Jahre lang (ſumaro enti ṕintro ſehſtic) keine Niederlage kannte. Das Unheil soll sich nun vollziehen. Auch an einer weiteren Stelle ruft Hildebrand Gott – den heidnischen (Ehrismann 1907, 280–281) oder christlichen (Lühr 1982, II, 551) – zum Zeugen auf und bittet ihn, diesen Schicksalsschlag nie wieder über ihn ergehen zu lassen, vgl. die Routineformel in (53): (53) ṕettu ir min got quad | hiltibrahtobana abheuane dat du neo danahalt mit ſuſ | ſippan man dinc nigileitoſ. (Hildebrandslied, 1r, 24; ID 3164)54
Das Oszillieren des ‚Hildebrandsliedes‘ „zwischen zwei Gedächtniskulturen“ manifestiert sich zum anderen auch in den Übergängen zwischen den Spuren der
|| 53 Eine Übersicht über die existierenden und teilweise divergierenden Übersetzungs- und Deutungsversuche dieser Stelle finden sich in Schneider (1987, 662–663). 54 Für den formelhaften Charakter der Wendung äußert sich angesichts weiterer Entsprechungen in germanischen Texten z.B. auch Henning (1921).
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mündlichen Kultur und der Geschichtsübermittlung der Schriftkultur. Sprachlich knüpft bereits die Exordialtopik mit der Wendung Das hörte ich berichten an mündliche Überlieferungstraditionen der Heldensagen an, vgl. Beleg (54): (54) Ik gihorta hat seggen, | đat sih urhettun ænon muo|tin hiltibraht enti hađubrant. untar heriun tuem. (Hildebrandslied, 1r, 1; ID 3146)
Die Wendung eröffnet das Lied und weist auf die Geschichtlichkeit der dem Lied zugrunde liegenden historischen Ereignisse zurück, die zur kollektiven Memoria, zum kommunikativen Gedächtnis gehören und durch die lange mündliche Überlieferungstradition gesichert sind. Haubrichs (1995, 118) weist auf die Verbreitung genau dieser formelhaften Wendung auch in anderen Heldenliedern hin, so z.B. im altnordischen ‚Hamdirlied‘ oder im ‚Wessobrunner Schöpfungshymnus‘. Neben der textstrukturierenden Funktion der Einleitung kommt dem Beleg auch die Funktion der Wahrheitsbeteuerung zu. Wie auch in den oben dargestellten Lobliedern reicht auch in diesem Text der Verweis des Verfassers darauf, dass ihm das Geschehene zugetragen wurde, für die Herstellung des Realitätsbezugs völlig aus. Die Quelle ist dabei wohl die mündlich tradierte Sage; ihre Langlebigkeit in der mündlichen Erzählkultur und Bekanntheit beim Publikum liefern die Nachweise für die Wahrhaftigkeit des Dargestellten. Im ‚Hildebrandslied‘ ist das nicht der einzige Beleg dieser Art. Die formelhaften Wendungen (55) und (56) finden sich zwar nicht in der Erzähler-, sondern in der Figurenrede (beide Aussagen werden Hadubrand in den Mund gelegt), sind aber nach dem gleichen Muster aufgebaut. In (55) beruft sich Hadubrand auf die Aussage seiner Leute, also seiner Sippenverwandtschaft, dass sein Vater Hildebrand hieß. Der wahrhafte Charakter wird durch die Paarformel alte anti frote ‚alt und erfahren‘ verstärkt. In (56) beteuert er, dass er von Seeleuten längst über den Tod seines Vaters informiert ist. Die formelhafte Wendung findet sich im ‚Beowulf‘ wörtlich wieder (Haubrichs 1995, 115; Heusler 1902, 195). (55) hadubraht gimahalta hilti|branteſ ſunu dat _agetun mi un_ere liuti alte anti | frote dea érhina ṕarun. dat hiltibrant hætti | min fater. ih heittu hadubrant. (Hildebrandslied, 1r, 12; ID 3157) (56) dat _agetun mi _ęolidante ṕe_tar ubar ṕentil _ęo dat | man ṕic furnam. tot iſt hiltibrant heribranteſ ſuno. (Hildebrandslied, 76v, 9; ID 3171)
Insgesamt sind für die Inszenierung der Figurenrede formelhafte Redeeinführungen typisch. Einige davon kommen auch in den zitierten Belegen vor, vgl. quad
6.4 Weltliche und religiöse Dichtung: Loblieder | 371
hiltibrant in (52) und (53) oder hadubraht gimahalta hilti|branteſ ſunu in (55).55 Eine weitere Stelle ist in (57) dokumentiert. Die ältere literaturgeschichtliche Forschung attestiert dem ‚Hildebrandslied‘ u.a. aufgrund solcher Belege den altgermanischen Charakter. Allerdings tritt der Erzähler auch schon in den antiken Rhetorikwerken und der historiographischen Literatur in einer Art Regiefunktion auf, indem er Routineformeln verwendet, die im Grenzbereich zwischen Textstrukturierung und Inhaltsvermittlung anzusiedeln sind. In Beleg (57) kommt diese Funktion m.E. deutlich zum Ausdruck und ist u.a. auch als ein Element des narrativen Duktus einer Schriftkultur zu interpretieren. (57) hiltibrant | gimahalta heribrante__unu her uua_ heroro | man ferahe_ frotoro . her fragen gi_tuont fohem | uuortum . ṕer _in fater ṕari fireo In folche eddo | ṕelihhe_cnuole_ du _i_ . (Hildebrandslied, 1r, 5; ID 33420)56
Viel Beachtung hat in der Forschung die formelhafte Wendung (58) gefunden: (58) ṕant her do ararme ṕuntane | bouga cheiſuringu gitan. ſoimo ſeder chuning gap | huneo truhtin. dat ih dirit nubi huldi gibu. hadubraht | gimalta hiltibranteſ sunu.mit geru scalman geba Infa|han ort ṕidar orte. dubiſt dir alter hun ummet ſpaher | ſpeniſ mih mit dinem ṕuortun ṕilimih dinu ſperu ṕer|pan. (Hildebrandslied, 76v, 5–6; ID 3168; ID 3169)
Die Wendung kommt in einem Gespräch zwischen Hildebrand und Hadubrand vor: Nachdem Hildebrand sich die Geschichte Hadubrands über dessen Vater angehört hat‚ versucht er, ihm Ringe zu schenken; Hadubrant lehnt das Geschenk ab und kommentiert mit dem Sprichwort die übliche Geschenkübergabe, weil er dahinter eine Arglist Hildebrands vermutet und in diesem Kontext den alten Brauch des Schenkens im Feld abwertet. Die Wendung transportiert somit die Aussage „Geschenke‚ die nicht ehrlich und herzlich gemeint sind‚ soll man mit Vorsicht bzw. mit gleicher Hinterlist empfangen“. Laut Schneider (1987‚ 657) liegt der Ursprungsbereich des Sprichworts in der Gefolgschaftssphäre. Hier erfolgt nicht nur der Gabenempfang auf der Speerspitze‚ auch die Gabenüberreichung geschah auf der Speerspitze. Bei diesem zeremoniellen Akt der Übergabe war Speerspitze gegen Speerspitze gerichtet‚ also ort widar orte.
Schneider (1987‚ 660) führt in Anlehnung an Singer (1944, 4) für diesen Brauch weitere, auch nicht sprachliche Beweise an: || 55 Vgl. die gleiche formelhafte Wendung im ‚Hildebrandslied‘, 76v, 4. 56 Vgl. die gleiche formelhafte Wendung im ‚Hildebrandslied‘, 76v, 11.
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Ein Zeugnis dafür‚ dass Gaben nicht nur mit dem Speer überreicht‚ sondern auch angenommen wurden‚ liefert der Bildteppich von Bayeux. Die Inschrift über dem betreffenden Bild lautet HIC MILITES WILHELMI DVCIS PVGNANT CONTRA DINANTES ET CVNAN CLAVES PORREXIT. Bild und Wortaussage beziehen sich auf die Übergabe der Stadt Dinant an den Eroberer Herzog Wilhelm. Diese geschieht hier zwar nicht durch die Überreichung von Ringen wie innerhalb der Gefolgschaft‚ sondern durch Überreichung der Stadttorschlüssel mit der Speerspitze‚ ort widar orte‚ durch eine siegende Gefolgschaft.
Mit der Wendung kommt somit ideengeschichtlich das formelhafte zeitgenössische Wissen über den Brauch der Geschenkeübergabe am Feld zum Ausdruck. Aufgrund der Singularität des Belegs in der altdeutschen Überlieferung müssen gesicherte Aussagen über den mikrostrukturellen Festigkeitsgrad der Wendung allerdings ausbleiben. Ehrismann (1907, 262) plädiert bereits früh dafür und spricht der Wendung aufgrund ihrer Verortung im rechtlich-zeremoniell streng reglementierten Akt der Geschenkeübergabe gar den Charakter eines Rechtssprichworts zu.57 Kuhn (1975, 24) stützt sich bei der ähnlichen Zuordnung vor allem auf das für Sprichwörter typische Element mal sol in der Struktur der Wendung, bei dem er Parallelen etwa zu Durham-Sprüchen sieht.58 Dem schließt sich auch Lühr (1982, II, 591) an. Im TPMA fehlt der entsprechende Eintrag. Auch wenn sich die Formelhaftigkeit auf der Ebene des sprachlichen Ausdrucks nicht näher bestimmen lässt, steht die Tradierung der gemeinschaftlichen Wissensbestände außer Frage. Die Wendung übernimmt auch makrostrukturell eine zentrale Funktion im Text des Lieds: Der ironisch-verächtliche Kommentar Hadubrands versprachlicht die eigentliche Ursache des Zweikampfs mit Hildebrand und leitet die dritte entscheidende Rede des letzteren ein.
Fazit Im Sinne des ersten einleitenden Zitats von van Dijk (1980a, 44) zeigen die Analysen im vorliegenden Kapitel, dass man in der Tat bei einer Begrüßung schwer sagen kann, dass eine Hand die andere begrüßt. Die Geste bezieht sich auf die gesamte Begrüßungssituation und die handelnden Personen, ist aufgrund ihres konventionalisierten Charakters verständlich und wäre als isoliertes Element außerhalb des Begrüßungskontextes erklärungsbedürftig. Übertragen auf die Fra-
|| 57 Vgl. ähnlich Ehrismann (1918, 376). 58 Vgl. zu Parallelen in der altenglischen und altnordischen Überlieferung Taylor (1962, 150– 151).
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gestellung des vorliegenden Kapitels bleibt festzuhalten, dass auch die Formelhaftigkeit in Texten zwar aus einzelnen Elementen zustande kommt, in ihrer Ganzheit aber eher als das Zusammenspiel dieser Elemente zu begreifen ist. Die Elemente der textuellen Formelhaftigkeit sind auf ganz verschiedenen Ebenen anzusiedeln. Sie betreffen die Mikrostruktur (d.h. die sprachliche Oberfläche, den konkreten sprachlichen Ausdruck) genauso wie die Makro- bzw. Superstruktur eines Textes (d.h. seinen Aufbau, die innere Organisation), wobei sie sowohl die Eigenschaften der Texte als auch Elemente des metasprachlichen Wissens der Sprecherinnen und Sprecher über diese Texte sind. In den betrachteten Beispielen aus drei Bereichen der mittelalterlichen (altdeutschen) Literatur kommt eine dritte Ebene dazu: Die mikro- und makro- bzw. superstrukturelle Formelhaftigkeit ist zumeist die sprachliche Spiegelung der im ideengeschichtlichen Sinn formelhaften außersprachlichen Wissensbestände, Motive und Topoi. Mit konkreten formelhaften Wendungen und abstrakten makrostrukturellen Mustern stehen den Sprecherinnen und Sprechern (in unserem Fall den Schreibern) vielfältige Mittel der sprachlichen Kodierung des kulturellen Gedächtnisses zur Verfügung. Fasst man den Textbegriff nicht nur linguistisch, sondern auch kultursemiotisch, ist die Berücksichtigung der Formelhaftigkeit der außersprachlichen Wissensbestände unerlässlich. Dass die Verschriftung die tradiertenWissenbestände einerseits in relativ feste sprachliche Formen bannt, steht andererseits in keinem Widerspruch zu ihrer Variation. Die Motive und Topoi sind innerhalb einer Textsorte zugleich konstant und veränderbar; das sind sie auch, wenn sie in andere Textsorten übergehen. In verschiedenen Textsorten können unterschiedliche Wissensbestände unterschiedlich prominent auftreten; sie können sich auf eine Textsorte beschränken oder ihre Grenzen überschreiten. Ähnliches gilt auch für sprachliche Formen auf der Ebene der Mikro- und Makrostruktur. Im zweiten Eingangszitat weist Cherubim (1980, 16) auf dominierende Prioritäten der sprachhistorischen Forschung und das Fehlen integrativer Herangehensweisen hin. Trotz aller Forschritte und Errungenschaften dieser ältesten sprachwissenschaftlichen Disziplin hat die von Cherubim für die 70er Jahre programmatisch gezogene Bilanz auch für den heutigen Stand der Forschung ihre Aktualität nicht verloren. Die Öffnung der unterschiedlichen historisch orientierten Fächer der Formelhaftigkeit gegenüber wurde in Kap. 2 diskutiert; an Studien, die sich der Erforschung der textuellen Formelhaftigkeit als Ganzheit und Zusammenspiel verschiedener (verbaler und nonverbaler) Ebenen widmen würden, fehlt es m.W. nach wie vor. Die exemplarischen Analysen im vorliegenden Kapitel sind ein erster Schritt in diese Richtung.
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Die Sprachsoziologie, die Kontextualisierungstheorie, die Formulierungsund Textproduktionsforschung sowie die Text- und Diskurslinguistik zeigen für die Gegenwart, dass sowohl die innere Textstruktur als auch die sprachliche Oberfläche eines Textes an konventionalisierte Wissensstrukturen über diese Texte bzw. Textsorten gekoppelt sind. M.E. muss diese These für die Diachronie, für die Epochen der frühen, erst im Entstehen begriffenen Schriftlichkeit genauso wie für die Synchronie gelten. Für die in ihrem Wesen integrativ angelegten Konstruktionsgrammatiken, die den allgemeinen Anspruch erheben, das Funktionieren von Sprachen als Ganzheiten erklären zu können, stellt sich die Frage, ob diese Rückkopplung abstrakt gedacht mit der konventionalisierten Form-Bedeutungspaarung vergleichbar und auf welcher Ebene des Konstruktikons sie anzusiedeln wäre. Die bereits klassisch gewordene These Goldbergs (2003, 223) It’s constructions all the way down! wäre im Falle der positiven Antwort nach oben um die größere Dimension des semiotisch verstandenen Textes zu erweitern, in der das Metawissen über eine bestimmte Formulierungstradition – und nicht einfach der Kontext – sowie das kommunikative und kulturelle Gedächtnis gleichzeitig für die formelhafte Geprägtheit (im sprachlichen wie ideengeschichtlichen Sinn) und Variation sorgen würden.
7 Zusammenfassung Die vorliegende Untersuchung hat sich mit sprachlichen Einheiten beschäftigt, die sich bis jetzt entweder einer genauen Verortung im Sprachsystem komplett entzogen haben oder dort als Randphänomene verortet und deshalb ungenügend beschrieben wurden. Der Begriff formelhafte Wendung bezog sich auf mehr oder weniger feste Wortverbindungen sowie Einzellexeme, Sätze und ganze Texte, die sich nicht einer Ebene im Sprachsystem zuordnen lassen, sondern sich zwischen Lexik, Pragmatik, Morphosyntax, Text und Diskurs bewegen. Sie sind in ihrer Entstehung oft außersprachlich motiviert und bilden Bestandteile des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses. Kaum berücksichtigt sind solche Einheiten in den klassischen paradigmatisch und auf die Abgrenzung der Grammatik von anderen sprachlichen Ebenen orientierten Grammatik- bzw. Sprachtheorien (vgl. etwa die strukturalistische oder Generative Grammatik). Am ausführlichsten wurden solche Einheiten bis jetzt seitens der Phraseologieforschung behandelt, die unter Phraseologismen zu Recht zwar sehr heterogene Phänomene versteht, sich aber doch meistens auf Einheiten beschränkt, die länger als ein Wort und kürzer als ein Satz (oder satzwertig) sind und ein hohes Maß an morphosyntaktischer Festigkeit aufweisen. Der Begriff formelhafte Wendung unterscheidet sich vom Begriff Phraseologismus vor allem durch seinen breiten Skopus: Er schließt sowohl Einwort-Ausdrücke als auch Textstrukturen und die in Texten tradierten konventionalisierten Wissensbestände ein. Für die Untersuchung der historischen Dimension der Verfestigungsprozesse hat sich dieses weite Verständnis als das einzig mögliche erwiesen (Kap. 5 und 6).Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu anderen ähnlichen Begriffen (Konstruktion, Gebrauchsmuster, usuelle Wortverbindung) wurden ebenfalls ausgearbeitet. Wie in Kap. 1 für gegenwartsbezogene und in Kap.2 für historisch orientierte Fächer und Forschungsrichtungen gezeigt, wurde die konstitutive Rolle der Formelhaftigkeit bereits aus verschiedenen Perspektiven hervorgehoben, aber kaum systematisch untersucht. Noch seltener wurde versucht, ihre historischen Dynamiken zu begreifen. Auch wenn das konkrete Ausmaß an Formelhaftem noch für keine einzige Sprache in Zahlen gefasst werden kann, wäre es falsch zu denken, dass sich die Kommunikationssoziologie, die Phraseologieforschung, die Interaktionale Linguistik, die Text- und Diskurslinguistik, die Computer- und Korpuslinguistik, die Spracherwerbsforschung, die Konstruktionsgrammatiken, die Theorie der Grammatikalisierung und Lexikalisierung, die Sprachgebrauchs-, Literatur- und Kunstgeschichte fast gleichzeitig, über längere Zeiträume hinweg
DOI 10.1515/9783110494884-008
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und teilweise unabhängig voneinander in ihren Auffassungen über die konstitutive Rolle der formelhaften Geprägtheit in der menschlichen Kommunikation irren. Dass diese konstitutive Rolle des Formelhaften – in Kap. 1 mit Wrays Metapher über den Elefanten im Raum beschrieben – keine Übertreibung ist, ergibt sich aus kognitiven Besonderheiten des menschlichen Denkens, gesellschaftlichen Funktionen der Sprache, ihrer Historizität und Kulturalität sowie aus den kommunikativen Bedürfnissen der Sprecherinnen und Sprecher. Umso erstaunlicher ist es, dass formelhafte Strukturen über Jahrhunderte als Störfaktoren der linguistischen Systemordnung aufgefasst worden sind. Je mehr gebrauchsbasiert und empirisch die Linguistik wird, desto mehr Platz wird den formelhaften Strukturen eingeräumt und desto natürlicher lassen sie sich in der Sprache verorten, nur eben nicht isolierend im strukturalistischen Sinn, sondern integrativ und ebenenübergreifend. Die Verwendung des Begriffs formelhafte Sprache im Singular darf nicht über die typologische Vielfalt dieses Phänomens hinwegtäuschen. Die in den Kap. 1 und 2 dargestellten Konzepte basieren auf sehr unterschiedlichen theoretischen Annahmen und leisten Unterschiedliches. Wie unterschiedliche Typen der Formelhaftigkeit (kognitive, konzeptuelle, sprachliche) miteinander interagieren und wie diese Interaktion konkret aussieht, muss weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben. In Kap. 3 habe ich versucht, das gerade in typologischen, aber auch in funktionalen und anwendungstechnischen Aspekten anders gelagerte Verständnis der sprachlichen Formelhaftigkeit historisch anhand der Quellen aus den verschiedenen Epochen der deutschen Sprachgeschichte aufzubereiten. Dabei hat sich herausgestellt, dass einzelne Aspekte der Formelhaftigkeit lange vor der Entstehung der Sprachwissenschaft einen wichtigen Gegenstand der metasprachlichen Reflexion über Sprache, ein Objekt und Mittel der Sprachvermittlung sowie eines der zentralen Argumente der Sprachtheorie und Sprachlegitimation darstellten. Anschließend wurden in Kap. 5 die Verfestigungsprozesse einzelner Wendungen auf der Ebene der sprachlichen Mikrostruktur und in Kap.6 der formelhafte Aufbau ganzer Texte und Textsorten, also ihre Makrostruktur, untersucht, deren Musterhaftigkeit einerseits durch die Verwendung einzelner mikrostruktureller Wendungen und andererseits durch die Rekurrenz auf konventionalisierte Wissensbestände zustande kommt. Einige im linguistischen Sinn auf der Mikroebene formelhafte Wendungen sind im modernen Sprachgebrauch unauffällig, weil sie nach gängigen semantischen, grammatischen und syntaktischen Konventionen einer Sprache aufge-
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baut sind. Ihre Besonderheit besteht aber darin, dass sie nur in einer (bestimmten) mehr oder weniger festen Kombination von einzelnen Konstituenten zu einer formelhaften Wendung werden. Zerstört man die konventionalisierte Struktur, verliert die Wendung ihren formelhaften Charakter. So ist im modernen Deutsch Konvention, sich die Zähne putzen und nicht *waschen oder *bürsten zu sagen (vgl. frz. se laver les dents); ebenso usuell sind einen Vortrag halten (und nicht *eine Konferenz geben, vgl. frz. donner une conférence), den Tisch decken (und nicht *etwas auf den Tisch aufdecken, vgl. russ. nakryvatʼ na stol). Dass solche unauffälligen Konventionen durch einen langwierigen, nicht immer linear verlaufenden und für die Sprachgeschichte greifbaren Prozess der Variation entstehen, wurde am Beispiel der ahd. Funktionsverbgefüge (Kap. 5.3) gezeigt. Andere formelhafte Wendungen folgen weniger den grammatischen und semantischen Regeln und werden durch die Konservierung bestimmter morphosyntaktischer, lexikalischer oder semantischer Irregularitäten formelhaft. Im Beispiel an jemandem einen Narren gefressen haben weist das Verb fressen zum einen eine sonst untypische Valenz an + Dat. auf, wodurch eine morphosyntaktische Irregularität entsteht; zum anderen ist es lexikalisch in der freien Verwendung kaum möglich, das Verb fressen mit dem Substantiv Narr zu kombinieren, es sei denn man verwendet diese Kombination nicht im wörtlichen, sondern im übertragenen (idiomatischen, d.h. semantisch irregulären) Sinn. Auch solche „Irregularitäten“ sind nur Endprodukte der historischen Verfestigungsprozesse, die ihren Ursprung im völlig regulären Gebrauch haben (vgl. Perlen vor die Säue werfen, Kap. 5.4.2, oder etwas auf dem Kerbholz haben, Kap. 5.4.4). Zusätzlich zu den genannten strukturellen und semantischen Merkmalen können sich formelhafte Wendungen durch ihre stark ausgeprägte pragmatische Funktion auszeichnen. Für einige Kommunikationssituationen ist der Gebrauch typisierter, „vorgeprägter“ Wendungen gerade konstitutiv. In der Gegenwart wurde das mehrfach für Begrüßungs- und Abschiedssituationen oder Beglückwünschungen zu verschiedenen Anlässen hervorgehoben. Einige Textsorten sind in ihrem Aufbau insgesamt nicht ganz frei, sondern „vorgefertigt“ und werden durch die obligatorische Verwendung der Wortverbindungen gestaltet. Die Beispiele aus der Gegenwart sind Geschäftsbriefe in der Wirtschaft und Verwaltung, Danksagungen, Todesanzeigen, Verträge und Anträge unterschiedlicher Art. Selbstverständlich gilt dies für historische Texte und Textsorten im gleichen Maße wie für die Moderne (vgl. Kap. 6). Eine besondere pragmatische Funktionalität wurde in Kap. 5.2.3 am Beispiel der Wahrheitsbeteuerungen in diversen historischen Texten demonstriert. Unter anderem diese Vielfalt der sprachlichen formelhaften Phänomene stellt ihre Erforschung vor methodische Schwierigkeiten (Kap. 4). Während for-
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melhafte Wendungen in der gegenwartsbezogenen Korpuslinguistik seit langem ein fester Untersuchungsgegenstand sind (auch wenn das Augenmerk nicht auf allen Typen liegt), sind sie für die historische Korpuslinguistik ein absolutes Neuland. Zu den sich in der historischen Korpuslinguistik anders als in der gegenwartsbezogenen Schwesterdisziplin manifestierenden Problemen der Korpuserstellung und -annotation kommt das geringfügig vorhandene sprachhistorische Wissen über die diachronen Dynamiken der formelhaften Sprache hinzu, das auch durch das Konsultieren der historischen Nachschlagewerke (Lexika und Wörterbücher) nicht kompensiert werden kann. Bedingt durch anders zu definierende Entstehungsziele (insbesondere bei mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Quellen) bzw. durch die Entstehung in Forschungsparadigmen mit anderen Zielsetzungen verzeichnen solche Nachschlagewerke zwar vielfältiges Material, das aber oft schwer zugänglich ist und/oder keine Rückschlüsse auf den tatsächlichen Gebrauch der Wendungen erlaubt (Kap. 3 und 4).Durch die Besonderheiten der Entstehung der Nachschlagewerke und durch die dort transportierten Einstellungen zur Formelhaftigkeit in historischen Zeiten erklärt sich die Tatsache, dass diese Quellen einerseits und die historische Textüberlieferung andererseits unterschiedliche Bilder von Formelhaftigkeit tradieren. Ausgehend von dem aktuellen Stand der Entwicklung der historischen Korpora des Deutschen und der Korpuslinguistik insgesamt sowie anknüpfend an die Arbeiten der HiFoS-Forschergruppe wurde in Kap. 4 ein Vorschlag zur Erstellung eines umfassenden Belegkorpus geäußert, das auf detaillierter Textarbeit, manueller (oder genauer intellektueller) Exzerption von Belegen, ihrer genauen Dokumentation und möglichst textnaher Annotation in einer webbasierten relationalen Datenbank beruht. Solch eine Datenbank fungiert mit Blick auf die ungenügende Erfassung der formelhaften Wendungen in lexikographischen Nachschlagewerken gleichzeitig auch als ein flexibles analytisches Recherchetool, das einzelne Funde zu dynamischen Formulierungstraditionen im Wandel zusammenfügt und ausführliche Informationen über ihre Verwendung in Texten liefert. Dass das Leben einer Sprache sich nicht durch Zuwachs oder Verfall isolierter Lexeme und Regeln, sondern durch Aufkommen und Außergebrauchgeraten von Traditionen des Formulierens vollzieht, wurde bereits im 19. Jahrhundert hervorgehoben (Kap. 1 und 2). Eine grundlegende Untersuchung der historischen Prozesse der Entstehung und Entwicklung von formelhaften Wendungen als Teil der Formulierungstraditionen und somit auch als Teil der epoch vocabularies steht im Deutschen (wie auch in allen anderen Sprachen) noch aus. Somit fehlt es an Grundlagenuntersuchungen, wie sie für das phonetisch-phonologische, morphologische, lexikalische oder teilweise syntaktische System selbstverständlich und längst vorhanden sind. Die Nachzeichnung solcher Entwicklungswege
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für nur drei Typen der formelhaften Wendungen – Routineformeln, Kollokationen und Idiome (Kap. 5) – hat ein grundsätzliches Nebeneinander der formelhaften Geprägtheit und der Variation gezeigt. Dabei kann der Abbau der Variation zur Formelhaftigkeit führen; ihr Ausbau kann aber auch ein Indikator für Formelhaftigkeit sein. Dieses Nebeneinander relativiert das Definitionspotenzial der Merkmale Polylexikalität und Festigkeit, die in der Phraseologieforschung für zentrale Eigenschaften der Wendungen gehalten werden. Es relativiert aber auch das konstruktionsgrammatische Verständnis von Konstruktionen als Form-Bedeutungspaare, weil die Veränderung auf einer Ebene (z.B. der Semantik) nicht unbedingt sofort im konsekutiven Sinn eine Veränderung auf der anderen Ebene (z.B. in der Form) nach sich zieht. Zeitversetzte Zusammenhänge sind eher der Fall. Variation ist wie auch auf anderen sprachlichen Ebenen eine der treibenden Kräfte des Sprachwandels im Bereich der Formelhaftigkeit. Die Mechanismen ihrer Reduktion entfalten sich bei manchen Verfestigungsprozessen auf eine besondere Art und Weise. Sie sind z.B. nicht von der Kodifikation (Perlen vor die Säue werfen) oder der Gebrauchsfrequenz (etwas auf dem Kerbholz haben) abhängig. Bei anderen Belegen geht die Verfestigung im Gegensatz zur Phonetik, Morphologie und Syntax gar nicht mit der Reduktion der Varianten einher, sondern korreliert paradoxerweise (z.B. bei Kollokationen) mit ihrer quantitativen und qualitativen (etwa die Substitution der semantisch entleerten Verben durch Verben mit spezifischer Semantik) Zunahme. Die Verfestigungsprozesse bei Routineformeln und Kollokationen zeigen im zwischensprachlichen Vergleich (in Kap. 5 Altdeutsch und Altenglisch) insbesondere auf der abstrakten Ebene der Analyse reguläre Abläufe; markante, monokausal nicht erklärbare Idiosynkrasien sind aber auch hier ständige Begleiter der Verfestigung (vgl. dt. zwar). Bei Idiomen können sie sogar eher beobachtet werden. Die Erklärung der Entstehung der formelhaften Wendungen im Rahmen einer Sprachwandeltheorie erweist sich deshalb als schwierig. Will man Sprache generell als ein komplexes adaptives, durch die Interaktion der Kognition, Kultur und des Gebrauchs entstehendes System (Bybee 2010, 194–221) verstehen, so sind formelhafte Wendungen und ihre historischen Dynamiken das beste Beispiel dafür: Sand dunes have apparent regularities of shape and structure, yet they also exhibit considerable variation among individual instances, as well as gradience and change over time. If we want to gain understanding of phenomena that are both structured and variable, it is necessary to look beyond the mutable surface forms to the forces that produce the patterns observed. (Bybee 2010, 1)
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Die mehr oder weniger komplette Erschließung dieser Kräfte im Bereich der historischen formelhaften Sprache stellt sich mir als ein langer Weg vor, der Erfolg haben kann, wenn Formelhaftigkeit weder als „die gestörte Ordnung“ noch als ein festes Randphänomen verstanden wird, sondern als ein komplexes, sowohl strukturiertes als auch dynamisches, historisch gewachsenes, auf kulturelle Gegebenheiten reagierendes, zentrales Mittel der menschlichen Kommunikation.
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