Historia literaria: Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert 9783050086132, 9783050042848

Unter dem Titel Historia literaria wurde im 17. und 18. Jahrhundert Gelehrsamkeitsgeschichte betrieben. Erklärtes Ziel w

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German Pages 289 [292] Year 2007

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Historia literaria: Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert
 9783050086132, 9783050042848

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Historia literaria

Historia literaria Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert Herausgegeben von Frank Grunert und Friedrich Vollhardt

Akademie Verlag

Einbandgestaltung unter Verwendung der Titelvignette aus Johann Peter von Ludewigs Reliquiae Manuscriptorum omnis aevi. Τ. IV, Frankfurt und Leipzig 1722

Frontispiz aus Jacob Friedrich Reimmanns Versuch einer Einleitung In die Historiam Uterariam sowohl Insgemein als auch in die Historiam Uterariam derer Teutschen insonderheit. Und %var Des dritten und letzen Theils Drittes Hauptstück, Halle 1710

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-05-004284-8

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2007 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übertragung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil des Buches darf ohne Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einband: Grube Design Karla Henning Druck: MB Medienhaus Berlin Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer« GmbH, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

Inhaltsverzeichnis FRIEDRICH VOLLHARDT UND FRANK GRUNERT

Einleitung

VII

I. KONZEPTE UND PROGRAMME ANETTE SYNDIKUS

Die Anfänge der Historia literaria im 17. Jahrhundert. Programmatik und gelehrte Praxis

3

MERIO SCATTOLA

>Historia literaria< als >historia pragmaticaguten< Büchern. Zum moralischen Anspruch der Historia literaria

65

HELMUT ZEDELMAIER

Zwischen Fortschrittsgeschichte und Erfindungskunst. Gottfried Wilhelm Leibniz und Christian Wolff über Historia literaria

89

I I . PRAKTIKEN UND AUSFÜHRUNGEN HERBERT J AUMANN

Historia literaria und Formen gelehrter Sammlungen, diesseits und jenseits von Periodizität. Eine Reihe von Überlegungen

103

MARTIN GIERL

Historia literaria. Wissenschaft, Wissensordnung und Polemik im 18. Jahrhundert

Sicco

113

LEHMANN-BRAUNS

Neukonturierung und methodologische Reflexion der Wissenschaftsgeschichte. Heumanns Conspectus reipublicae literariae als Lehrbuch der aufgeklärten Historia literaria

129

HANSPETER MARTI

Interkonfessioneller Wissenstransfer in der Zeit der Spätaufklärung. Zur Aufnahme der Historia literaria in deutschsprachigen katholischen Ländern

161

Inhaltsverzeichnis

VI

I I I . ALTERNATIVEN UND SACHLICHE NACHBARSCHAFTEN DIRKWERLE

Eine überflüssige Bibliothek? Das Buch und die Bücher in Johann Valentin Andreaes Christianopolis

193

RALPH HÄFNER

Literarische Zimelien. Aspekte der Literaturkritik in Johann Albert Fabricius' Edition der Werke des französischen Protestanten Paul Colomies

213

GUIDO NASCHERT

Wissensordnungen und ihre Narrativierung in Jean Jacques Barthelemys Voyage dujeune Anarcharsis en Grece

231

I V . EPILOG ULRICH JOHANNES SCHNEIDER

Anmerkungen zur Geschichte der Gelehrsamkeit

265

ANHANG

Namenverzeichnis

273

Einleitung So unbekannt und unterschätzt die Historia literaria gegenwärtig (noch) ist, so einflußreich und attraktiv war sie im ausgehenden 17. und 18. Jahrhundert. Davon zeugen nicht nur die zahlreich erschienenen Kompendien zur Historia literaria und ihre Etablierung als akademisches Lehrfach, sondern auch die verbreitete Warnung vor einer »Moden-Wissenschafft«, welche die Aufmerksamkeit des (angehenden) Gelehrten von den Inhalten seines Faches abziehe und sich von einem bloßen »Nebenwerck« zu einem »Hauptwerck« entwickle. Tatsächlich sollte die Historia literaria zunächst nur als »Hülffs-Mittel« zur Erlangung von Gelehrsamkeit dienen, das heißt nicht selbst die Gelehrsamkeit und schon gar nicht deren Zentrum sein. Aufgabe der Historia literaria war - und darüber bestand in der gelehrten Welt ungewohnte Einigkeit - die umfassende Verzeichnung des von Menschen erworbenen gelehrten Wissens, und zwar von Anbeginn bis in die jeweilige Gegenwart. Das ursprüngliche Programm einer solchen Geschichte der Gelehrsamkeit geht auf Francis Bacon zurück. Er hatte bereits 1605 in der Schrift Of the profiäetice and advancement of learning eine umfassende, auf die Repräsentation des gesamten gelehrten Wissens abzielende Geschichte der Gelehrsamkeit verlangt, die als eine erst noch zu etablierende Disziplin die bestehende zivile und kirchliche Geschichtsschreibung ergänzen sollte. Inhalt dieser Gelehrsamkeitsgeschichte sollte die möglichst wertfreie Darstellung gelehrter Errungenschaften zu allen Zeiten und in allen geographischen Räumen sein. Um dieses hochgesteckte Ziel zu erreichen, galt es, die Geschicke der >artes et doctrinae< in historischer Perspektive von ihrer Entstehung und Verbreitung über Krisen und Niedergänge bis zu ihrer schließlichen Wiederherstellung nachzuvoüziehen. Berücksichtigt werden sollte alles, was die Wissenschaften sowohl inhaltlich als auch institutionell betraf, so daß abgesehen von theoretischen Entwicklungen in den Disziplinen auch einzelne Gelehrte, ihre Schriften, Schulen und Kontroversen, Akademien und Gesellschaften zu den Gegenständen der Darstellung zählten. Doch war es nach Bacons Auffassung nicht allein mit dem Referat von Fakten getan, vielmehr war ihm die Rückbindung der gelehrten Fakten an ihre kausalen oder andere Voraussetzungen wichtig. Es ging um die Beantwortung der Frage, welche politischen, juristischen, mentalen, klimatischen oder auch kontingenten Gegebenheiten den Fortschritt der Wissenschaften begünstigten oder behinderten. Denn das Ziel einer Geschichte der Gelehrsamkeit war weder der Genuß des wissenschaftlichen Ruhms noch die Befriedigung bloßer Neugier, sondern ganz ausdrücklich die Initiierung weiteren wissenschaftlichen und - darauf kam es Bacon insbesondere an — gesellschaftlichen bzw. politischen Fortschritts, und zwar vor dem Hintergrund genauer historischer Kenntnisse über die Genese, Art und Ursachen früherer wissenschaftlicher Errungenschaften. Dabei sollte nicht nur das Entdeckte und Bekannte< retrospektiv verzeichnet werden, sondern auch das >Über-

VIII

Friedrich Vollhardt und Frank Grunert

gangene< und - in gewisser Weise prospektiv - auch das >noch Notwendige< Berücksichtigung finden. Die Anregung wurde wenig später mit Enthusiasmus aufgegriffen. Bacons Verdienste um die Historia literaria wurden allenthalben gepriesen - »dieses Mannes Gedächtniß«, so Gundling überschwenglich, »solte man, mit goldenen Lettern schreiben«; gleichwohl war die Umsetzung eines solch anspruchsvollen Unternehmens vorderhand wenig wahrscheinlich. Die Hoffnung, eine Geschichte der Gelehrsamkeit werde dereinst durch die kollektiven Bemühungen von vielen Gelehrten vervollkommnet werden, wurde zwar nicht aufgegeben, doch Bacons Konzept mußte angesichts begrenzter Kapazitäten mit Blick auf den Anspruch der Historia literaria und ihrer sachlichen Durchführung modifiziert werden. Hinzu kamen neue Zwecksetzungen, die sich bereits vor der Mitte des 17. Jahrhunderts aus dem akademischen Lehrbetrieb und den Orientierungsbedürfnissen der akademischen Jugend ergaben. So entstanden im Laufe der Zeit Handbücher zur Gelehrsamkeitsgeschichte, die das Informationsbedürfnis des Gelehrten bedienten sowie propädeutische Kompendien, deren Aufgabe es war, den Anfangern mit einer »allgemeinsten Charte vom Reiche der Gelehrsamkeit« behilflich zu sein. Diese unterschiedlichen Funktionen sind allerdings nicht immer hinreichend deutlich voneinander unterschieden, sondern gehen angesichts der Menge des präsentierten Materials nicht selten ineinander über. Im ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert überwiegt zunächst die propädeutische Funktion. Jakob Friedrich Reimmann schreibt seinen Versuch einer Einleitung in die Historiam Uterariam so wohl insgemein als auch die Historiam Uterariam derer Teutschen insonderheit (Halle 1708) ausdrücklich für Anfänger, für »initiandos und incipienten«, was dann sowohl inhaltliche als auch formale Konsequenzen hat, denn »denen Kindern gehöret Milch und keine harte Speise«. So verzichtet er darauf, »ein Hauffen judicia von Büchern und Autoribus derer Bücher« einzumengen, schreibt auf »Teutsch« und bemüht sich um eine als »sokratisch« apostrophierte Methode, welche die Unterweisung in einem Wechselspiel von Frage und Antwort vornimmt. Während auch Gottlieb Stolle in seiner Anleitung %ur Historie der Gelahrheit (Jena 1718) bündig bemerkt, daß »gegenwärtiges Buch [...] nicht vor Lehrer, sondern vor Lernende« sei, kann man sich bei Nicolaus Hieronymus Gundling der rein propädeutischen Funktion seiner postum erschienenen Vollständigen Historie der Gelahrheit (Frankfurt und Leipzig 1734ff.) nicht mehr ganz so sicher sein. Wenn er betont, man müsse »nur eine Ideam, hujus Historiae geben, damit diejenigen, so, von Wissenschafften, wollen Profession machen, hernach, proprio Marte, weiter avanciren können«, dann hört sich dies zunächst noch recht propädeutisch an. Doch Gundling bezieht sich auf die Tatsache, daß angesichts der »viel Tausend und Millionen Bücher« niemandes Leben zu einer eigenen erschöpfenden Lektüre hinreicht und daher jeder auf Hilfsmittel angewiesen ist, die ihm zumindest einen Extrakt der notwendigsten Bücher verschaffen. Daß dies für den um Orientierung ringenden Anfänger genauso gilt wie für den versierten Gelehrten, steht außer Frage. Auch dürfte vor allem

Einleitung

IX

der Anfanger daran interessiert sein, mit Hilfe der Gelehrsamkeitsgeschichte »Schnitzer«, also grobe und daher lächerliche Fehler zu vermeiden. Die von Gundling angeführten Beispiele gehen jedoch gerade nicht auf das Konto von Uneingeweihten (von denen in der Regel nichts bekannt ist), sondern von gestandenen Gelehrten. Einen weiteren von Gundling hervorgehobenen Nutzen kann wohl in der Tat nur der aktive Gelehrte und weniger der Anfanger für sich in Anspruch nehmen, denn die Notwendigkeit, anhand der Historia literaria zu überprüfen, ob der eigene, für neu gehaltene Gedanke tatsächlich nicht bereits von anderen formuliert worden ist, wird sicher nur der produktive Wissenschaftler erkennen; und nur er wird Gundlings Empfehlung aufnehmen, sich der Gelehrtengeschichte als ein Mittel zu bedienen, sich im »Bücher-Schreiben« zu profilieren und so auf leichte Weise seinen Ruhm zu mehren. Die siebzig Jahre danach entstandene >pragmatische< Utterärgeschichte von Johann Gottfried Eichhorn schließlich (Göttingen 1805) spricht ausdrücklich alle an, nämlich die Anfanger so gut wie die Fachleute der Gelehrsamkeit, und nicht zuletzt das allgemein interessierte, fachlich nicht gebundene Publikum. Eichhorn will ein Werk vorlegen, das »man ein ganzes Leben zu seinem litterarischen Gefährten machen kann«, wobei er sich und seinem Publikum verspricht, daß seine Litterärgeschichte nicht nur »Talente wecken [...] und pflegen, stärken und beleben wird«, sondern auch die Leser »unter allen Beschwerden des gelehrten Berufs immer getrost, munter und kraftvoll erhalten« wird. Welche Adressaten die Gelehrsamkeitsgeschichte im einzelnen auch immer vor Augen hatte, die Erwartungen an ihre spezifischen Leistungen waren stets sehr hoch. Während Nicolaus Hieronymus Gundling die Historia literaria schlicht als die Grundlage einer jeden Wissenschaft auffaßt und Johann Andreas Fabricius einigermaßen sachlich konstatiert, daß man mit ihrer Hilfe »gelehrt und klug« werde, feiert Christoph August Heumann in seinem ebenso auflagenstarken wie wirkungsmächtigen Conspectus Reipublicae Uterariae die Gelehrsamkeitsgeschichte als »lux veritatis und mater libertatis ingeniorum«. Am eindruckvollsten aber wird die Historia literaria von Jacob Friedrich Reimmann auf einem Titelkupfer gepriesen, das er 1710 dem dritten Hauptstück des letzten Theils seines Versuchs einer Einleitung in die Historiam literariam voranstellen ließ — wegen seiner ungewöhnlichen Prägnanz wurde der Stich auch für den vorliegenden Band als Frontispiz gewählt. Die Historia literaria wird hier als Fackel imaginiert, welche die gesamte Gelehrsamkeit zu den Sternen fuhrt; die Sapientia leitet die als Rösser dargestellte Philologie und Philosophie in die von der Gelehrsamkeitsgeschichte vorgegebene Richtung, und die drei oberen Fakultäten - Theologie, Jurisprudenz und Medizin - sind, in einer Kutsche sitzend, den Vorgängen tatenlos ausgeliefert. Die Alternative zu dem von der Historia literaria gewiesenen Weg der Weisheit liefert die allegorische Szene dabei gleich mit - denn rechts im Bild treibt die Stultitia eine als Esel dargestellte Philosophia scholastica und die Critica literalis an und bemüht sich ihrerseits, den Wagen der drei Fakultäten voranzubringen. Einen Fortschritt gibt es hier jedoch nicht, da »der Thorheit

χ

Friedrich Vollhardt und Frank Grunert

Steg« nur »ad rastra« führt, in die Wüstenei einer karstigen Landschaft, deren schemenhaft ausgestellte Requisiten auf ein mittelalterliches Inventar hindeuten. So wird deutlich, daß es ohne die segensreiche Orientierung der Historia literaria zurück in die Finsternis des Mittelalters ginge, mit ihr aber geht es voran in eine kultivierte und - die stattlichen Gebäude zeigen es an — mit Reichtümern gesegnete Zukunft. In den zweihundert Jahren zwischen 1600 und 1800 entstand eine Vielzahl von Gelehrsamkeitsgeschichten, die sich als Nachschlagewerk für Gelehrte, als Propädeutikum für die studierende Jugend oder aber als Mittel zur Erbauung für ein allgemein interessiertes Publikum verstanden. Denn jenseits unmittelbar fachgelehrter Interessen spielte diese erbauliche Funktion der Historia literaria im Kontext einer auf allgemeine Erudition abzielenden Gelehrsamkeit keine nebensächliche Rolle. Das hatte auch formale Konsequenzen, denn der Leser könne — so der umtriebige Vorredenschreiber Johann Erhard Kapp — nur durch »an einander hangende Abhandlungen« zu »guten und erbaulichen Betrachtungen« geführt werden. Um den genannten Zweck zu erreichen, sollte der Autor einer Gelehrsamkeitsgeschichte im Stande sein, »die gelehrte Geschichte wohl zu erzählen, und geschickt zu verbinden«. Als ein weiterer Bestandteil litterärgeschichtlicher Produktion für ein breiteres Publikum kam das periodisch erscheinende Schrifttum hinzu, das sich nicht selten bereits im Titel als Beitrag zur Gelehrsamkeitsgeschichte zu erkennen gab, so daß schließlich unter dem Label >Historia literaria< unterschiedliche Formen von Wissensspeichern zusammengefaßt werden konnten, deren Gemeinsamkeit in der historischen Verzeichnung von gelehrtem Wissen bestand. Die signifikante Variationsvielfalt der Historia literaria verdankte sich einer auf Dauer gestellten Selbstreflexion, die ihre Impulse aus den methodischen und programmatischen Innovationen und Intentionen der jeweiligen Zeit bezog, diese umsetzte und weiterentwickelte - Stichworte hierfür sind etwa der neue, sich aus der akademischen Beschränkung befreiende Begriff der Gelehrsamkeit, das eklektische Methodenideal und das gewandelte Verständnis von Geschichte. Daß die Historia literaria bei alledem ein ausgezeichnetes Instrument zur Etablierung und Stabilisierung sowohl der Gelehrtenkultur als auch ihrer Wissensordnung(en) darstellte, steht angesichts ihrer unterschiedlichen Erscheinungsformen und wegen ihrer außerordentlichen Verbreitung außer Frage. Trotz der eminenten Bedeutung, die der Historia literaria als Medium der Gelehrtenkultur und als Instrument einer Neuordnung des Wissens in der zweiten Hälfte des 17. und während des gesamten 18. Jahrhunderts ohne Zweifel zukam, ist die Gelehrsamkeitsgeschichte bisher nur vereinzelt Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses gewesen, erst neuerdings wurden Überlegungen zu einer breitergefaßten Wahrnehmung und Würdigung ihres ideengeschichtlichen Eigenwerts publiziert; der vorliegende Band bildet die erste Monographie zum Thema. Er soll Auskunft geben über Konzepte und Programme der Historia literaria,

Einleitung

XI

einzelne Praktiken und Publikationsformen vorstellen, Nachbargattungen und Alternativen erörtern. Dabei werden im ersten Teil zunächst die noch weithin unerforschten Anfänge der Historia literaria vorgestellt (A. Syndikus); der historiographische Ansatz (M. Scattola) und der moralische Anspruch (F. Grunert) der Gelehrsamkeitsgeschichte sind ebenso Gegenstand der Untersuchung wie ihre Funktion im Kontext von Fortschrittsgeschichte und ars inveniendi (H. Zedelmaier). Formale Fragen der Materialgenerierung und der sachlichen Anordnung (H. Jaumann und M. Gierl) werden in einem zweiten Teil thematisiert. Hinzu kommen eine Analyse des ausgesprochen einflußreichen Werkes von Christoph August Heumann (S. Lehmann-Brauns) und eine Erörterung von Besonderheiten der >katholischen< Historia literaria (H. Marti) - ein Novum in der Forschungsgeschichte, in der die Gelehrsamkeitsgeschichte bislang nur als ein protestantisches Phänomen wahrgenommen wurde. Der dritte Teil des Bandes ist den sachlichen Nachbarschaften gewidmet. Hier kommen sowohl alternative Formen literarischer Wissenserschließung (R. Häfner und G. Naschert) zur Sprache, als auch das gelehrsamkeitskritische Konzept von Johann Valentin Andreae (D. Werle). Beschlossen wird die Monographie durch eine Wortmeldung, in der U.J. Schneider die Historia literaria einerseits, ihre historiographische Erforschung andererseits in einen Zusammenhang bringt und einer wissenschaftsgeschichtlichen und forschungsstrategischen Reflexion unterwirft. Der vorliegende Band eröffnet eine Reihe von vier thematisch aufeinander bezogenen Monographien, die bereits fur den Druck vorbereitet sind oder sich in einem fortgeschrittenen Stadium der Planung befinden. Die Untersuchungen werden aus unterschiedlichen sachlichen Perspektiven das Phänomen >Historia literaria< beschreiben und damit zugleich die Ergebnisse eines der Gelehrsamkeitsgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts gewidmeten Forschungsprojekts dokumentieren. Das Vorhaben war zunächst Teil des Gießener Sonderforschungsbereichs 434 >ErinnerungskulturenPluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit< fortgeführt. Der DFG und den beiden Forschungseinrichtungen sei an dieser Stelle für die Förderung und das zwischen den Disziplinen geführte, stets anregende Gespräch gedankt. Ein besonderer Dank gebührt Anette Syndikus, die einen großen Teil der redaktionellen Lasten getragen und sich der formalen Gestaltung des Bandes angenommen hat. Dem Akademie Verlag und seinem Lektor Peter Heyl danken wir für die freundliche und ausgesprochen kooperative verlegerische Betreuung unserer Forschungsergebnisse.

München, im Herbst 2006

Friedrich Vollhardt und Frank Grunert

I. KONZEPTE UND PROGRAMME

ANETTE SYNDIKUS

Die Anfänge der Historia literaria im 17. Jahrhundert Programmatik und gelehrte Praxis

Nach einer Vorgeschichte der Historia literaria zu fragen, scheint bei der Durchsicht einiger neuerer Aufsätze zur Thematik eher müßig: Es entsteht der Eindruck, als sei >Historia literaria< vor allem ein Phänomen des 18. Jahrhunderts, als sei mit Daniel Georg Morhofs P o l y h i s t o r , der erstmals 1688 erschienen war, ein Ausgangspunkt für spätere Autoren gesetzt,1 mit dem aber auch das Erbe des >Polyhistorismus< kodifiziert und weitergegeben wurde. 2 Zwar erwähnt man immer wieder Francis Bacons Forderungen für eine künftig auszuarbeitende Gelehrsamkeitsgeschichte — sie stammen vom Anfang des 17. Jahrhunderts —, doch in ihren unmittelbaren und längerfristigen Auswirkungen wurden sie bisher kaum beachtet.3 Sie sind aus heutiger Perspektive ein erratischer Block geblieben. 1

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Vgl. etwa Martin Gierl: Bestandsaufnahme im gelehrten Bereich. Zur Entwicklung der >Historia literaria< im 18. Jahrhundert. In: Denkhorizonte und Handlungsspielräume. Festschrift für Rudolf Vierhaus zum 70. Geburtstag. Göttingen 1992, S. 53-80, bes. S. 58f.; sowie Helmut Zedelmaier: >Historia literariaHistoria litteraria< at Helmstedt. Books, professors and students in the early Enlightenment university. In: Helmut Zedelmaier, Martin Mulsow (Hgg.), Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 64), S. 147-175, hier S. 148: »It was, in short, a superbly Renaissance discipline undertaken with a wondrious baroque ardor«. Verbindungen zur frühen Aufklärung sieht Nelles vor allem in der Betonung einer >politior doctrina< (S. 166), systematische Fragestellungen des frühen 18. Jahrhunderts stellt er am Beispiel eines Helmstedter Professors vor (S. 170f., 173f., s. im folgenden Anm. 18 und 122), doch insgesamt konzentriert er sich auf die propädeutischen Funktionen der Historia literaria und Techniken der Vermittlung. Zur Rolle Morhofs vgl. ders.: Historia Litteraria and Morhof. Private Teaching and Professorial Libraries at the University of Kiel. In: Fra^oise Waquet (Hg.), Mapping the World of Learning. The Polyhistor of Daniel Georg Morhof. Wiesbaden 2000, S. 31-65. Vgl. etwa Gierl, Bestandsaufnahme im gelehrten Bereich (wie Anm. 1), S. 57; Zedelmaier, >Historia literaria< (wie Anm. 1), S. 13. Auf dieses Desiderat hat Herbert Jau-

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Anette Syndikus

Die Konzentration auf das Zeitalter der Aufklärung, auf die Hauptphase der Historia literaria war zunächst naheliegend, da die vermeintlich trockene Materie lange Zeit allenfalls als Voraussetzung der späteren Literatur- und Kulturgeschichtsschreibung wahrgenommen worden war: Es galt, die eigenständigen Leistungen des gelehrten Unternehmens als solche herauszustellen. Angesichts der Vielfalt der Formen und Funktionen — neben Kompendien stehen Periodica, alphabetische Lexika oder Regionalgeschichten, Bücherkunde neben biographischen und geschichtlichen Abrissen - gerät freilich die Frage nach den zugrundeliegenden Begründungen und Zielsetzungen leicht aus dem Blick. Gerade dafür aber bietet das 17. Jahrhundet zahlreiche Zeugnisse. Auf die Fülle möglicher Quellen wurde in älteren Forschungsbeiträgen bereits hingewiesen, allerdings ohne dabei nach den Anfangen der Historia literaria im 17. Jahrhundert zu suchen. Zygmund von Lempicki4 etwa stellt in seiner Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft von 1920 eine Reihe von Texten in ausführlichen (und bewertenden) Referaten vor, die auch im folgenden behandelt werden.5 Er sieht jedoch einen Bruch zwischen den »polyhistorischen Bestrebungen [...] seit der Mitte des 16.Jahrhunderts« (S. 98) einerseits und den Entwicldungslinien, die zur >organischen< Geschichts- und Kunstauffassung eines Johann Gottfried Herder führen, auf der anderen Seite. Da dem früheren 18. Jahrhundert nur eine Scharnierfunktion zukommt, bleibt die Historia literaria selbst ein Übergangsphänomen. Auch bei dem Philosophiehistoriker Lucien Braun stehen die thematischen und konzeptuellen Verbindungen, die von der Historia literaria des Barockzeitalters in das der Aufklärung führen, nicht im Mittel-

mann wiederholt hingewiesen; vgl. ders.: Jakob Friedrich Reimmanns Bayle-Kritik und das Konzept der Historia literaria. Mit einem Anhang über Reimmanns Periodisierung der deutschen Literaturgeschichte. In: Martin Mulsow, Helmut Zedelmaier (Hgg.), Skepsis, Providenz, Polyhistorie. Jakob Friedrich Reimmann (1668-1743). Tübingen 1998 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 7), S. 200-213, hier S. 207f. - Einen Ausschnitt aus der Rezeptionsgeschichte im Paris der 1620er Jahre hat wiederum Paul Nelles erschlossen - freilich ohne Beziehungen zur späteren Historia literaria herzustellen: The Library as an Instrument of Discovery. Gabriel Naude and the Uses of History. In: Donald R. Kelley (Hg.), History and the Disciplines. The Reclassification of Knowledge in Early Modern Europe. Rochester 1997, S. 41-57. Herbert Jaumann würdigt gerade die »Materialerschließung [...], um deretwillen wir seine Arbeit heute noch schätzen« (Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius. Leiden, New York, Köln 1995 [Brill's studies in intellectual history 62], S. 10). Zygmunt von Lempicki: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1920. 2. durchgesehene, um ein Sach- und Personenregister [...] vermehrte Aufl. Göttingen 1968, S. 98-125; im einzelnen: Mylaeus S. 99-106, Bacon S. 106-111, Vossius S. 111-115, Lambeck S. 115-117, Morhof S. 1 1 7 121, Coming S. 121, Polycarp Leyser S. 122f. Kompendienverfasser des 18. Jahrhunderts werden - unvollständig — lediglich erwähnt (S. 120-122).

Die Anfänge der Historia literaria im 17. Jahrhundert

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punkt.6 Zu unterschiedlich erscheinen in diesem Zusammenhang die Interessen der >polyhistorischen< Philologen und die der Philosophiehistoriker im engeren Sinn. Anders Rudolf Blums materialreiche Studie zur >BibliographieLiteraturführerPolyhistoren< und >Aufklärern< hat man zu selten thematisiert, und mit Bezug auf die Historia literaria wurde sie durch die Einschätzung Wilhelm Schmidt-Biggemanns noch schärfer gezogen: In seiner Topica universalis nannte er 1983 die späteren Gelehrsamkeitsgeschichten kriterienlose »Schwundstufen der Universaltopik«; zugleich lieferte er damit eine These zur Entstehung dieser Disziplin.9 Klaus Weimar stimmte ihm in seiner Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft 1989 zu - allein mit der Einschränkung, die Historia literaria sei angesichts heutiger Spezialisierungen »eine kühne Kombination hochfliegender, heterogener Ambitionen [...] mit dem Anspruch, als Überblick über alle Wissenschaften zugleich Einleitung in das Studium einer jeden zu sein.«10 Wer sich die großen Enzyklopädien eines Aisted, Comenius oder Lullus ins Gedächtnis ruft, dem wird diese Einschätzung sofort einleuchten: hier eine systematische Welterfassung mit eschatologischer Fundierung, dort der schulmeisterliche Versuch, das schier unüberschaubare Wissen, das Gelehrte mittlerweile angehäuft hatten, für Studenten mundgerecht aufzubereiten. - Sicher ist der Vergleich überspitzt formuliert; zu prüfen ist, ob er in 6

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Besonders deutlich wird das im Kapitel »Les pratiques (II). L'histoire erudite«, in Luden Braun: Histoire de l'histoire de la philosophie. Paris 1973 (Association des publications pres les universites de Strasbourg 150), S. 49-88. (Dt. Übers.: Geschichte der Philosophiegeschichte. Darmstadt 1990.) Rudolf Blum: Bibliographia. Eine wort- und begriffsgeschichtliche Untersuchung. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 10 (1970), Sp. 1009-1246. Die Historia literaria des 17. wird ausfuhrlicher als die des 18. Jahrhunderts vorgestellt (Sp. 1054—1079 bzw. 1079-1088); Blums Ergebnisse reichen weit über die einer Wort- und Begriffsgeschichte hinaus. Siehe jedoch das Zitat aus Blum unten in Anm. 35. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg 1983 (Paradeigmata 1), S. 289; vgl. S. 288-292. Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München 1989, S. 107; vgl. S. 107-147.

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Anette Syndikus

historischer Perspektive zutrifft. Ist es richtig, die Historia literaria des 18. Jahrhunderts von den Universalwissenschaften des 16. und 17. Jahrhunderts abzuleiten? Es gilt, die Frage noch einmal zu stellen: Wovon gingen diejenigen Gelehrten aus, die sich im 17. Jahrhundert mit der Geschichte aller an ihren Universitäten gelehrten Fächer beschäftigten? Welche Absichten und Ziele verfolgten sie dabei? An einigen Beispielen aus dem Vorfeld der Historia literaria - darunter der als ihr Namengeber im 18. Jahrhundert bekannte Peter Lambeck — ist im folgenden die Ausgangssituation zu erläutern, in der man den Versuch unternahm, gelehrte Traditionen nach neuen Ordnungskategorien zu erschließen. Kennzeichnend dafür ist zunächst weniger eine Klage über die ins unübersehbare angewachsene Fülle der Bücher; von den Verfassern wahrgenommen werden vor allem die handgreiflichen praktischen Probleme, die sich bei der Aufbereitung von Wissen für Unterrichtszwecke ergaben, denn sie lehren an höheren und hohen Schulen oder sie verwalten und ordnen die dazugehörenden Bibliotheken. Daneben steht Francis Bacons Entwurf einer Gesamtkonzeption der Historia literaria, dessen Autorität selbst im 18. Jahrhundert nicht in Zweifel gezogen wird. Das mag erstaunen, ist aber vielleicht erklärbar durch den Abstand zwischen einem weit ausgreifenden Projekt und den tatsächlichen Möglichkeiten der Umsetzung, die vor allem im 17. Jahrhundert erst nach und nach erarbeitet wurden. Inwiefern sich bei dieser Umsetzung Fragen nach der inneren Begründung der Gelehrsamkeitsgeschichte stellten — was zu deren Erfolg im 18. Jahrhundert maßgeblich beitragen sollte - , das ist abschließend an weiteren Fallbeispielen aus dem Umkreis der Helmstedter Universität zu erläutern.

I. Anders als bei den meisten Wissensspeichern der Frühen Neuzeit gibt es im Fall der Historia literaria einen programmatischen Text, der - im Rückblick gesehen - fast wie eine Initialzündung gewirkt hat. Er stammt von Francis Bacon (15611626), dem englischen Lordkanzler, Naturforscher und Philosophen; der die »Historia Literarum« betreffende Abschnitt steht im zweiten Buch der Abhandlung De dignitate et augmentis saentiarum von 1623.11 Das Kapitel ist klar gegliedert in vier Abschnitte: Auf die Einordnung (als eine der drei Unterabteilungen der Historia Civilis) und die Fragestellung (S. 198f.) folgen der Gegenstandsbereich (»Argumentum«, S. 199f.), die Vorgehensweise (»De modo«, S. 200), schließlich Nut-

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Francis Bacon: De dignitate et augmentis scientiarum. In: The Works of Francis Bacon. Hg. von J. Spedding, R.L. Ellis, D.D. Heath. New York, Boston 1864. ND Stuttgart-Bad Cannstatt 1963. Bd. 2, S. 198-201 (Lib. II, Cap. 4). Mit der Bezeichnung >Historia Literarum et Artium< wird im Text in einem präzisen Sinn Bezug genommen auf >die Geschichte der Wissenschaften^ die Überschrift nennt den Gegenstand - in Analogie zur >Historia Ecclesiastica< — >Historia Literariatrockene Berichte über Richtungen, Schulen, Bücher, Autoren< sowie über Erfinder von Gegenständen und im Handwerk< (1623, S. 199), d.h. sogar die >artes mechanicae< im Bereich des angewandten Wissens sollen einbezogen werden. Dahinter stehen wichtige Teilgebiete der frühneuzeitlichen Wissensaufbereitung, auf die sich auch die späteren Bearbeiter der Gelehrsamkeitsgeschichte stützen: Abrisse über die unterschiedlichen Richtungen der antiken Philosophie wie der lange Zeit als exemplarisch betrachtete Diogenes Laertios,13 Bücherkataloge, d. h. die damals so genannten >BibliothecaeBibliothecae< am Beispiel von Johann Jacob Fries und Paul Bolduan, der 2007 in dem von Frank Grunert und Anette Syndikus herausgegebenen Band zum Erschließen und Speichern von Wissen in der Frühen Neuzeit erscheinen wird. Zu Photios (9. Jh. n. Chr.) im Kontext der Frühen Neuzeit s. Zedelmaier, Bibliotheca (wie Anm. 1), S. 149-152. Vgl. dazu im genannten Sammelband (Anm. 14) den Beitrag von Arndt Brendecke. Braun, Histoire de l'histoire de la philosophie (wie Anm. 6) erläutert die allmähliche Herausbildung der Philosophiegeschichtsschreibung aus traditionellen Gattungen wie Biographie und Kompilation (bes. S. 53, 55). - Zu den >Erfindern< vgl. Helmut Zedelmaier: Karriere eines Buches. Polydorus Vergilius' De inventoribus rerum. In: Frank Büttner, Markus Friedrich, Helmut Zedelmaier (Hgg.), Sammeln, Ordnen, Veranschaulichen. Zur Wissenskompilatorik in der Frühen Neuzeit. Münster 2003 (Ρ & A 2), S. 175-203.

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Anette Syndikus

einschlägigen Definitionen 1 7 fehlen, finden sich in Bacons Historia literariaKapitel im zweiten Abschnitt unter »Argumentum«: >Gegenstand< der Historia Literarum sind »doctrinae et artes«, >wissenschaftliche Lehrfächer und Kunstfertigkeiten in historischer Perspektive, d. h. im einzelnen: »Earum antiquitates, progressus, etiam peragrationes per diversas orbis partes [...], rursus declinationes, obliviones, instaurationes« (ebd.), also: >deren Anfänge in alter Zeit, ihre Fortschritte und Wanderungen durch verschiedene Teile der Weltihre Niedergänge, Versinken in der Vergessenheit, ihre Wiederaufnahmen^ Dieser eher wellenförmige Verlauf erscheint bereits im 17. Jahrhundert oftmals zusammengefaßt mit Schlüsselworten wie >de ortu et progressuorigo< und >incrementa< ist die Rede, im deutschen schließlich v o m >Ursprung und Fortgange 18 Eine Veränderung hin zu einer geradlinig aufsteigenden Bewegung läßt

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Beispiele dazu bietet der Beitrag von Merio Scattola im hier vorliegenden Band, dort Anm. lf., Anm. 74. Bis über das 18. Jahrhundert hinaus maßgeblich geblieben ist Christoph August Heumanns Definition (zur Fortsetzung s. Anm. 18): »Historia literaria est Historia literarum et literatorum, sive [...]« (Conspectus reipublicae literariae [...]. [Zuerst 1714.] 7. Aufl. Hannover 1763, S. 1; auch im Netz einzusehen unter: http: //www-gdz.sub.uni-goettingen.de/cgi-bin/digbib.cgi?PPN338028455). Zu Beispielen für eine entsprechende Titelgebung s. im folgenden. Heumann kann hier exemplarisch die Bacon-Rezeption in der Historia literaria des 18. Jahrhunderts verdeutlichen; deren umfassende Aufarbeitung - ein Desideratum - ist nicht Gegenstand dieses Aufsatzes. Das 5. Kapitel seines Conspectus (wie Anm. 17) überschreibt er »De fatis diseiplinarum sive de earum origine et incrementis« (S. 241312), und auch fiir seine Definition ist der Engländer Stichwortgeber: »Narratio de ortu et progressu Studiorum literariorum ad nostram usque aetatem« (S. 1; vgl. im »Index Capitum« die gleichlautende Überschrift des 4. Kapitels, »De ortu et progressu [...]«, S. 66-240). - Bacon selbst wird explizit als Anreger von Reimmanns »Historia literaria Germanorum« gewürdigt: »Ex eo tempore Verulamianam historiae literariae delineationem secutus [...]« (S. 22); vgl. die zugehörige Anmerkung (n), mit Verweis auf Bacons einschlägiges Kapitel. Zu weiteren Beispielen vgl. unten Anm. 22, 28 und 129f. Die Herkunft der Verfasser in der folgenden Zusammenstellung zeigt, daß es sich um ein gesamteuropäisches Phänomen handeln muß, das als solches freilich noch der Erforschung harrt; Hinweise finden sich bei Blum (wie Anm. 7). Vgl. etwa (ohne für jeden Titel eine unmittelbare Abhängigkeit von Bacon suggerieren zu wollen) Daniel Heinsius: Dissertatio de verae criticae apud veteres ortu progressu, usuque, cum in caeteris diseiplinis, tum in sacris. In: Heynsii Crepundia siliana. Cantabrigiae 1646; Georg Horn: Historia philosophica libri septem, quibus de origine, successione, sectis & vita philosophorum ab orbe condito ad nostram aetatem agitur. Lugduni Batavorum 1655; Guilielmus Burtonus: Graecae linguae historia: sive oratio de ejusdem linguae origine, progressu atque ad ipsam akmen incremento·. de latissimo denique ipsius, omnibusprope seculis, per universum terrarum orbem, usu [...]. London 1657; Olaus Borrichius: [...] De Ortu, et Progressu Chemiae Dissertatio. Hafniae 1668; Theophilus Gale: Philosophia generalis in duas partes disterminata. Una de ortu et progressu philosophiae [...]. London 1676; Lionardo di Capoa: Parere [...] ne' quali partitamente narrandosi l'origine e l'prognsso della medicina, chiaramente l'incertezza della medesima si fa manifesto [1681], 3. Aufl. Napoli 1695. Ultima edizione Cologna 1714; Salomon Cellarius: [...] Origines et antiquitates medicae [...] editae a Christophoro Cellario. Ienae 1701; Godfr. Andr. Zahn: Dissertatio de origine,progressu [et] digmtate medicinae [...]. Vesaliae [Wesel] 1708; Christoph August Heumann: Von dem Ursprung und Wachstum der Philosophie. In:

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sich daraus allerdings nicht notwendigerweise ableiten, 19 dagegen spräche allein schon die verbreitete Auffassung des Mittelalters als einer >dunklen< Zeit. Bezeichnend für den Zugriff auf >Geschichte< (und maßgeblich für die spätere Historia literaria) ist in diesem Zusammenhang, 20 daß die Vergangenheit in einem präzisen Sinn als zeitlicher Ablauf verstanden wird, der von einem bestimmten Punkt seinen Ausgang nimmt. Dazu heißt es bei Bacon unter >Vorgehen< (»de modo«): Die >zu erstellende Geschichte< solle »per singulas annorum centurias [...] seriatim«, >der Reihe nach durch die einzelnen Jahrhunderte oder auch durch kleinere Zeitabschnitte voranschreiten und dabei >von der ältesten Vor-

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Acta Philosophorum, 2. Stück. Halle 1715, S. 246-314; Godefridus Hechtius: Germania sacra et literata, sive de origine ac progressu rei sacrae atque politioris in Germania doctrinae ex aevo medio commentarii. Vitembergae 1717; Johann Conrad Barchusen: De medicinae origine etprogressu dissertationes, in quibus medicorum sectae [...] usque ad nostra tempora traduntur. Trajecti Ad Rhenvm 1723; Johann Franz Budde [Verf. ermittelt]: Magni theologi Salani historia critica theologiae dogmaticae et moralis, de origine et progressu, fatis, usu et abusu utriusque theologiae dogmaticae et moralis systematice tractatae; [...]. Francofurti Ad Moenum 1724; [Les] Benedictins de la Congregation de S. Maur : Histoire Literaire de la France, ou l'on traite de l'Origine et du Progres, de la Decadence et du retablissement des Sciences parmi les Gaulois et parmi les Francais, du Gout et du Genie des uns et des autres pour les lettres en chaque siecle, [...]. Paris 1733-1763 [fortgesetzt 1865ff., 1965ff.]; Franz Xaver Mannhardt S.J.: Dissertationes theologicae de indole, ortu ac progressu et fontibus sacrae doctrinae propositae [...]. Augustae Vind[elicorum] u.a. 1749; Anton Yves Goguet: Untersuchungen Von dem Ursprung der Gesezze, Künste und Wissenschaften Wie auch ihrem Wachsthum bei den alten Völkern. Aus dem Französischen übersezzet Von Georg Christoph Hamberger. 3 Bde. Lemgo 1760-1762; Jean LeRond d'Alembert: Abhandlung von dem Ursprung, Fortgang und Verbindung der Künste und Wissenschaften. Zürich 1761; Christoph Meiners: Geschichte des Ursprungs, Fortgangs und Verfalls der Wissenschaften in Griechenland und Rom. Lemgo 1781. (Hervorhebungen A.S.) Ein weiteres einschlägiges Zeugnis hat Paul Nelles in den Meditationes de genuina historia litteraria von Polycarp Leyser ausfindig gemacht (Wittenberg [1715]), eines Helmstedter Philosophie- und Geschichtsprofessors: »Nonetheless, a guide to >vera historia litteraria< was truly wanting. [...] true >historia litteraria< was concerned with the origin, progress, and even the decline of the sciences. In this, Leyser sought to return Astoria litteraria< to its original Baconian program« (Nelles, >Historia litteraria< at Helmstedt, wie Anm. 2, S. 170, vgl. S. 168-174). Hermann Pfingsten, der Bacons Schrift 1783 erstmals ins Deutsche übertrug, läßt in einer Anmerkung zur Stelle den >Fortschritt< bezeichnenderweise weg; Bacons Forderung faßt er wie folgt zusammen: »aber es fehlt noch an einer pragmatischen Gelehrten Geschichte, die das ganze Reich der Wißenschaften nach ihrem Ursprung, Flor und Fall in allen Theilen der Welt« behandelte (Lord Franz Bacon: Über die Würde und den Fortgang der Wissenschaften. Verdeutschet und [...] hg. von Johann Hermann Pfingsten. Pest 1783. ND Darmstadt 1966, S. 191, Anm. *). Bacons Zugang zur Geschichte im allgemeinen wäre vor allem mit der Kategorie der >experientia< zu charakterisieren, und von deren Vorrangstellung ist auch seine Auffassung der Historia naturalis (Naturkunde) entscheidend geprägt. Vgl. unten Anm. 34 sowie Paul Münch (Hg.): >Erfahrung< als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte. München 2001 (Historische Zeitschrift, Beihefte N.F. 31).

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zeit ihren Anfang nehmenab ipsis primordiisab initio mundi< oder »vom Anfang der Welte 22 Auch in synchroner Perspektive ist Bacons Programm nicht weniger umfassend: Eine Historia literarum soll alles einbeziehen, was den jeweiligen Stand des Wissens und der Wissenschaften betrifft, »omnia quae ad statum literarum spectant« - so wird der Gegenstandsbereich zusammengefaßt (ebd.), oder, wie oben aus dem englischen Text zitiert wurde, eine Historia literarum beschreibt »the generali state of learning«. Dazu gehören die Auseinandersetzungen der Gelehrten (ein gewichtiges Thema fur die späteren Litterärhistoriker), ihre Anfeindungen und Ehrungen, aber auch ihre Organisationsformen, d. h. Unterrichtsanstalten,

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Die Betonung eines Anfangspunktes erscheint um so auffalliger, als in der englischen Ausgabe vor allem der chronologisch fortschreitende Ablauf betont wird und die >Ursprünge< eher beiläufig erwähnt sind: »the generali state of learning to bee described [.. ,]from age to age« bzw. »a iust story of learning, containing the Antiquities & Originalk of Knowledges [...] and all other euents concerning learning, throughout the ages of the world«. (1605, f, 7V, Hervorhebungen A.S.). Vgl. etwa Johann Andreas Quenstedt: Dialogus de patriis illustrium doctrina et scriptis virorum, omnium ordinum ac facultatum Qui ab initio Mundi per universum terrarum orbem usque ad annum reparatae Gratiae M.DC. claruerunt; exhibens simul plerorumque doctorum encomia, praeeipua scripta & aetatem [...]. Wittebergae 1654, 2. Aufl. 1691; Daniel LeClerc: Histoire de la medecine: ou l'on void l'origine [et] le progres de cet Art, de Siecle en Siech depuis k commencement du Monde. Geneve 1696; Jacob Friedrich Reimmann: Critisirender Geschichts-Calender Von der Logica, Darin das Steigen und Fallen Dieser hoch-vortrefflichen Disciplin von Anfang der Welt biß auf das Jahr nach Christi Geburt 1600 entworffen, Die Erfindung so wohl als die Erhaltung derselben bemercket, Die Wandel-Fata erwogen, Die Scriptores nach merken beurtheilet, [...]. Franckfurt am Mayn 1699; Johann Conrad Barchusen: Historia Medicinae, in qua si non omnia, pleraque saltern, medicorum ratiocinia dogmata, hypotheses, sectae &c. quae ab exordio Medidnae usque ad nostra tempora inclaruerunt, pertractantur. Amstelaedami 1710; Christian Gottlieb Joecher (Hg.): Compendioeses GelehrtenLexikon: Darinnen Die Gelehrten [...], welche vom Anfang der Welt groesten theils in gantz Europa biß auf jetzige Zeit gelebet, und sich durch Schrifften oder sonst der gelehrten Welt bekannt gemacht, [...] nach Alphabetischer Ordnung beschrieben werden. Leipzig 1715, weitere Auflagen 1726; 1733, 1750-1751, ND 1960-1961; Johann Georg Jacob Albertinus: Kurzer Begriff einer Historie der Gelahrheit von Anfang der Welt bis auf jetzige Zeiten nach chronologischer Ordnung abgefaßt. Bremen 1745; [anon.:] KernHistorie aller freien Künste und Wissenschaften, von Anfang der Welt, bis auf unsere Zeiten. Leipzig 1748; Georg Christoph Hamberger: Zuverlässige Nachrichten von den vornehmsten Schriftstellern vom Anfange der Welt bis 1500. 4 Bde. Lemgo 1756-1764; Johann Gottfried Eichhorn: Geschichte der Litteratur von ihrem Anfang bis auf die neuesten Zeiten. 10 Bde. Goettingen 1805-1812. (Hervorhebungen A.S.)

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gelehrte Vereinigungen, Akademien23 - kurz, wie es 1605 auf den Punkt gebracht wird, »their diverse Administrations, and Managings« (f. 7V). Gemeint sind damit nicht die Gelehrten selbst, sondern die verschiedenen Wissensbereiche (»Knowledges«), und in diesem Punkt zeigt sich eine leichte Akzentverschiebung bei den späteren >Praktikern< der Historia literaria: Für sie schließt Gelehrsamkeitsgeschichte immer auch deren Vertreter, die Gelehrten ein, deren Lebensumständen sie bisweilen mit beachtlicher (und kritisierter) Detailversessenheit auf der Spur sind. Für den >Gründungsvater< der Historia literaria hingegen kommt es in erster Linie auf die Breite der verschiedenartigen Wissenszweige und Institutionen an; ihre Vertreter werden vor allem mit Blick auf ihre Hervorbringungen genannt als »authores«. Keinesfalls erhebt Bacon mit seinem umfassenden Programm einen enzyklopädistischen Anspruch auf Vollständigkeit, im Gegenteil: An mehreren Stellen macht er deutlich, daß es ihm um kritische Auswahl geht (ζ. B. »Notentur authores praecipui, libri praestantiores«),24 um ein >Hineinschmecken< (degustatio) in den jeweiligen Gegenstand, die Darstellung und das Vorgehen; so solle der >Genius Literarius< eines Zeitabschnitts wieder ins Leben zurückgerufen werden.25 Damit verbunden ist die Ablehnung ausfuhrlicher Beurteilungen nach Vorzügen und Mängeln — eine pragmatische Herangehensweise, die von einem Sinn für das Machbare zeugt 26 Besonders prononciert - um nicht zu sagen provokant - erscheint diese Haltung am Ende des Kapitels, wo der Nutzen der Historia Literarum für Gelehrte mit dem der Kirchengeschichte für Bischöfe und Theologen verglichen wird: Kleriker würden aus dem Studium der »Ecclesiastica Historia« weitaus größeren Gewinn ziehen - »ad prudentiam [...] tantum facere posse putamus« - als durch die Lektüre der Kirchenväter Augustinus und Ambrosius (1623, S. 201). Auf die grundsätzliche Problematik, die mit der Forderung nach einer kritischen Vorauswahl einhergeht, wird abschließend noch einmal zurückzukommen sein.

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Bacon, De augmentis scientiarum (wie Anm. 11), S. 199f., unter »Argumentum«. Die gelehrten Vereinigungen und Gesellschaften (»academiae, societates, collegia, ordines«) werden im deutschsprachigen Raum schon früh Thema von Gelehrsamkeitsgeschichten; s.u. Anm. 74 (Vockerodt) und Anm. 112 (Conring). In England wurde Wissenschaft vor allem in solchen (eher naturwissenschaftlich-praktisch ausgerichteten) >Forschungsverbünden< betrieben; dies mag ein Grund dafür sein, daß eine umfassende litterärhistorische Kodifikation aus universitärer Perspektive dort anscheinend unterblieben ist. Ebd., S. 199; auch S. 200, unter »De modo«: »libri praecipui qui per ea spatia temporis conscripti sunt in consilium adhibeantur« (Hervorhebung A.S.). Ebd., S. 200, unter »De modo«. Vgl. ebd.: »ex eorum [sc. librorum praecipuorum] non perlectione (id enim infinitum quiddam esset) sed degustatione [...]«; ähnlich am Ende des vorangegehenden Abschnitts zum »Argumentum« (S. 200): »At haec omnia ita tractari praecipimus, ut non criticorum more in laude et censura tempus teratur; sed plane historice res ipsae narrentur, judicium parcius interponatur.«

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Selbst wenn manche trockene Aufzählung der deutschen Historia literaria jedweden Lebensgeist, jeden >GeniusVor allem anderem, »ante omnia«, sollen Ursachen der geschichtlichen Ereignisse und der tatsächliche Verlauf miteinander verknüpft werden.28 Damit ist nicht gemeint, daß eine äußere Ereignisgeschichte einfach wiederholt werden sollte;29 vielmehr hebt Bacon nur diejenigen Zeitumstände hervor, die Auswirkungen auf die Geschichte der Wissenschaften haben: Neben den unterschiedlichen Begabungen der Völker, die im Sinne der Klimatheorie je nach Weltgegend differieren, sind dies Religionsstreitigkeiten, eine günstige oder ungünstige Gesetzgebung, der persönliche Einsatz von Förderern der Wissenschaften etc. - Das allgemeine Ziel des Unternehmens schließlich (usus) ist im Englischen besonders knapp auf den Punkt gebracht: »that it will make learned man wise, in the use and administration of learning«.30 Und im Lateinischen wird ergänzt, durch Kenntnis der Veränderun27

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Zur Problematik des Analyseansatzes von Schmidt-Biggemann und Weimar vgl. oben bei Anm. 9f. Bacon, ebd., S. 200, unter »Argumentum«. - Heumanns Einleitung etwa zu seinem 5. Kapitel (über die einzelnen Disziplinen, hier §§ I-V) spiegelt Bacons Konzeption wieder, bleibt aber auf skizzenhafte Andeutungen beschränkt: »De causis, cur vel ferveant vel frigeant studia literaria« (Conspectus, wie Anm. 17, S. 241-245, hier die Überschrift, S. 241). Zu Conring in diesem Zusammenhang s. u. vor Anm. 114. Das ist die Ansicht Weimars (Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, wie Anm. 10), S. 109, der seine Beobachtungen zu Mylaeus (s. Anm. 32) verallgemeinert und als ein Grundproblem der Historia literaria bezeichnet. Bacon, Of the proficience and advancement of learning (wie Anm. 12), f. 7 v f. Das lateinische Äquivalent ist umständlicher: »quoniam [...] ad virorum doctorum in doctrinae usu et administratione prudenriam et solertiam maximam accessionem fieri posse existimamus« (De augmentis scientiarum, wie Anm. 11, S. 200f., unter »Quod ad usum attinet«).

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gen und Umwälzungen im intellektuellen Bereich könne eine bestmögliche Verwaltung und Leitung (»regimen«) eingerichtet werden. Es geht also auch um ein Engagement im öffentlichen Leben als mögliche Folge der Beschäftigung mit Geschichte — ein Aspekt, der den deutschen Gelehrten zumindest in der frühen Phase der Historia literaria fern lag.31 So umfassend und anspruchsvoll Bacons Pläne für eine zu erstellende Historia literaria klingen - ganz alleine war er damit nicht. Über fünfzig Jahre vor ihm hatte der Schweizer Christophe Milieu (Christopherus Mylaeus) in seiner disziplinenbezogenen Abhandlung De scribenda universitatis verum historia einen ähnlich lautenden Vorschlag formuliert (erschienen 1551). Das gesamte fünfte Buch ist der >Historia literaturae< gewidmet; eine erste Orientierung über Mylaeus' Absichten bietet die vorangestellte »Excursio«.32 Mit Bacon vergleichbar ist die Suche nach den >Ursprüngen< und Fortschreibungen, die bereits im Untertitel in aller Deutlichkeit formuliert ist,33 vergleichbar ist aber auch die Einbindung dieser >Ursprungssuche< in ein umfassendes, (neu-)platonisch inspiriertes Gesamtkonzept, das Wilhelm Schmidt-Biggemann bei Mylaeus klar herausgearbeitet hat.34 Beiden >Vordenkern< gemeinsam ist schließlich auch die selektive Wahrnehmung 31

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Zu diesem Unterschied und vor allem zur Verankerung von Bacons Historia literariaProgramm in seinen Wissenschaft?- und gesellschaftspolitischen Entwürfen vgl. Frank Grunert, Anette Syndikus, Friedrich Vollhardt: Ein Leitfaden durch das Labyrinth. Zur Funkdon der Gelehrsamkeitsgeschichte in der Frühen Neuzeit. In: Mitteilungen/LMU, SFB 573 Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit 2 (2006), S. 35—42, hier: S. 36; s. auch unter: http://www.sfb-frueheneuzeit.uni-muenchen.de/ mitteilungen/M2-2006/inhalt.html. Christophorus Mylaeus: De scribenda universitatis rerum historia libri quinque. Basileae 1551 (weitere Auflagen: Basel 1579, [Hermes Academicus ...] Jena 1624), Lib. V: S. 244305; hier: S. 239-243: »Excursio ac transitus ex historiae sapientiae [d. h. Lib. IV], in earn quae [...] de literatura inscribitur«. Zu diesem Werk insgesamt vgl. Donald R. Kelley: Writing Cultural History in Early Modern Europe. Christophe Milieu and his Project. In: Renaissance Quarterly 52 (1999), S. 342-365. Ebd., Titelblatt: »Lectori s.[salutat] Quae sit huius [...] ordinis sententia, Naturae, Artium, Reipub. Principatuum, Doctrinarum atque Uteratorum hominum ab ipsisprimordjis ad nostra usque tempora perbrevem enumerationem comprehendens, ex Epistola, Prooemio [S. 1-12], & Partitionibus [S. 13-22] protinus intelliges.« Vgl. auch im Exkurs, S. 240: »multum ad literas felicius tractandas referre videbatur, cognitum habere, & perspectum, a quibus per tarn multas aetates studia doctrinarum omnium excitatae sunt, & per quos ad ham nostram usque memoriam pngressa. [...]« (Hervorhebungen A.S.). Auch die Beibehaltung der zeitlichen Abfolge entspricht Bacons Konzeption: »Sed ex his aestimari satis non potest judicium illud seculorum omnium, nisi eadem [...] servato rerum atque temporum ordine, ita colligentur« (ebd.). Genauer als bei Bacon sind die Einzeldisziplinen bestimmt: »enumerationem [...] eorum qui ex Grammaticis, Historicis, Poetis, Oratoribus, & Philosophie, Medicis etiam, atque Jurisconsultis, atque Theologis excelluerint« (ebd.). Schmidt-Biggemann, Topica universalis (wie Anm. 9), S. 23-29. Zu Bacon in diesem Zusammenhang vgl. meine noch unveröffentlichte Dissertation: Christliche Naturdeutungen und neuplatonisch-hermetische Traditionen. Stationen einer Vorgeschichte des literarischen >Symbols< in der Frühen Neuzeit. Gießen 2005, Kap. 3.1.1 »Neuplatonische Philosopheme in Francis Bacons Naturphilosophie«.

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durch die litterärgeschichtlich interessierte Nachwelt: Sie rezipiert nicht das Gesamtkonzept, sondern allein die der Historia literaria geltenden Abschnitte. Allerdings wird Mylaeus - anders als Bacon - erst im 18. Jahrhundert als >Gründungsvater< der Historia literaria genannt; eine mit Bacon vergleichbare Wirkungsgeschichte im 17. Jahrhundert hat sein Konzept anscheinend nicht gehabt.35 Doch auch dieser Teilbereich der entstehenden Historia literaria ist bisher nicht einmal annäherungsweise erforscht.

II. Die später die Disziplin kennzeichnenden Stichworte erscheinen bereits vor Bacon in Werktiteln, die sich der zusammenfassenden Darstellung eines Wissensfundus aus der Vergangenheit widmen. 36 Dies läßt darauf schließen, daß die Ordnungskategorien der Historia literaria, wie sie hier anhand von Bacons Programm vorgestellt wurden - also vor allem die chronologische Abfolge und die Anordnung nach Disziplinen - einem Bestreben entsprechen, das sich aus dem zu ordnenden Material selbst ergibt. Auf welche Weise sich solche Systematisierungsversuche in der praktischen Umsetzung konkretisieren, ist im folgenden an zwei Beispielen aus der Formationsphase der Historia literaria im deutschsprachigen Raum zu erläutern. Der Zürcher Johann Jakob Fries (Frisius, 1 5 4 7 - 1 6 1 1 ) , Bibliothekar und Lehrer am Kolleg des dortigen Großmünsters, steht vor der Aufgabe, die Bibliothek des Kollegs neu zu ordnen. 37 Innerhalb der einzelnen Wissensgebiete will er

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Vgl. Blum, Bibliographia (wie Anm. 7), Sp. 1054: »Die wenigen Autoren, die vor Bacon eine Geschichte der Wissenschaften und Künste als selbständige Disziplin gefordert hatten, waren nicht gehört worden. Bacons Programm aber fand großen Anklang. In fast allen zivilisierten Ländern machten sich jetzt Gelehrte daran, [...] Bausteine zur >Historia litteraria< zusammenzutragen. Man hatte das, ohne es zu wissen, auch schon vorher getan, aber die Arbeit anders aufgefaßt; nun erhielt sie einen neuen Sinn. Die literärgeschichtlche Orientierung wurde dadurch geradezu ein Charakteristikum der Gelehrsamkeit des Barocks. Leider muß ich mir versagen, dieses Phänomen hier näher zu erörtern.« Vgl. etwa Guillaume Morel: Tabula compendiosa de origine, successione, aetate et doctrina veterum philosophorum ex Plutarcho, Laertio, Cicerone et aliis ejus generis scriptoribus a G. Morellio Tiliano collecta. Cum Hier[onymi] Wolfii annotationibus. Basileae 1580; Johannes Grunius: Philosophiae origo, progressus, definitio, divisio, dignitas, utilitates, quas vitae humanae et ecclesiae confert, [...]. Wittenberg 1587; Israel Spach: Nomenciator scriptorum philosophicorum atque philologicorum, hoc est succincta recensio eorum, qui philosophiam omnesque eius partes quovis tempore idiomateve usque ad annum 1597 descripserunt, illustrarunt, & exornarunt, methodo artificiosa secundum locos communes ipsius philosophiae; cum duplici indice, rerum uno, autorum altero, collecta et digesta ab Israele Spachio. Argentina 1598 [Hervorhebungen A.S.]. Seine durchaus einflußreichen Vorschläge sind gedruckt bei Johann Heinrich Hottinger (Bibliothecarius quadripartitus. Tiguri 1664); vgl. dazu Blum, Bibliographia (wie

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chronologisch vorgehen, doch gerade für die Lebensdaten oder die Zeit des Wirkens der Verfasser fehlen genauere oder widerspruchsfreie Angaben. So muß er selbst in Katalogen und Chronologien Nachforschungen anstellen, und daraus entsteht 1592 seine Bibliotheca pbilosophorum classicorum authorum chronologica. Zwar ist sie auf konkrete Ziele hin angelegt, doch der Rahmen ist nicht weniger umfassend als bei Bacon. Der umfangreiche Untertitel gibt hierüber genaue Auskunft. 38 >Vom Anfang der Welt bis in unsere Zeit< soll der Abriß über die >alten Philosophen< reichen, wobei nach dem damaligen Wortverständnis mit den >philosophi< auch Vertreter anderer Wissenszweige gemeint sind.39 Der Wortgebrauch hat - wie bei Frisius ersichtlich - Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Philosophiegeschichtsschreibung und der Vorgeschichte der Historia literaria: Nicht jedes der Werke aus dem 16. und 17. Jahrhundert, das die b e schichte der Philosophen< im Titel führt, ist eine Philosophiegeschichte im heutigen Sinn.40 Vielmehr kann sich dahinter auch ein Überblick über Vertreter (fast) aller Wissensgebiete verbergen. Dementsprechend weitgefaßt ist Frisius' Titelblatt zufolge die Adressatengruppe: Neben den berufsmäßig mit Wissenschaften befaßten >philosophiFlorilegien< von Gilbert Heß, der in dem in Anm. 14 genannten Band erscheinen wird, sowie Helmut Zedelmaier: Lesetechniken. Die Praktiken der Lektüre in der Neuzeit. In: Zedelmaier, Mulsow (Hgg.), Die Praktiken der Gelehrsamkeit (wie Anm. 2), S. 11-30. Ebd., f. [a4v] (d.i. die Fortsetzung des Zitats in der vorangehenden Anm. 44). Ursprünglich sollten die Bücher »& quique vetustiores, in suo tarnen genere, arte, aut scientia« jeweils wie Soldaten in einer Schlachtordnung aufgestellt werden, die »abgedientem (veterani milites) in der ersten Schlachtreihe, d. h. die ältesten Bücher am Anfang eines Fachgebiets (ebd., f. oben< etc. unterteilt. Ebd., Prolegomena, f. ***2V oben (bei der Suche nach einem geeigneten >Textbuchres sacrasres profanas< und eine >successio scriptorum illustriumHistoria literaria< (wie Anm. 1), S. 16. Zum Beispiel Joachim Johann Mader: De bibliothecis atque archivis virorum clarissimorum, quos aversa monstrat pagina, libelli et commentationes. Cum praefatione de scriptis et bibliothecis antediluvianis. Helmstadii 1666. 2. Auflage hg. von I.A.S.D. [Johann Andreas Schmidt] 1702; Gothofredus Vockerode Exercitationes Academicae sive Commentatio de Eruditorum Societatibus, Et Varia Re Litteraria; nec non Philologemata Sacra [!], auetius & emendatius edita. Gothae 1704. Weiteres bei Braun, Histoire de l'histoire de la philosophie (wie Anm. 6), S. 66f., 71—77, 80f., sowie im Bei-

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eher von seiner Vorliebe >gerade für die ältesten Autoren< leiten.75 Sie zeigt sich in umfangreichen Textauszügen aus zeitgenössischen Sammlungen ebenso wie bei seinem Engagement in philologischen Detailfragen; begründet ist sie vor allem in einem antiquarischen Interesse, wie später seine unermüdliche Suche nach seltenen Büchern und Handschriften für die Wiener Hofbibliothek bestätigt.76 Dieser Teil des Prodromus, der mit einer Systematik der Historia literaria wenig zu tun hat, ist - auch in Bezug auf die gelehrte Praxis - von geringerem Interesse als die autobiographisch gefärbte Vorrede. Aus dem ausführlichen Bericht zur Entstehung des Prodromus läßt sich ablesen, in welcher Weise ein litterärhistorischer Zugang im zeitgenössischen Unterricht zum Tragen kam. 1651 war Lambecius mit 24 Jahren in Hamburg Gymnasialprofessor für Geschichte geworden. Die eigene Erfahrung, >wieviel die Kenntnis der besten Autoren dazu beiträgt, eine gründliche Ausbildung (eruditio) zu erlangenirgendeine allgemeine Vorstellung vom Zusammenhang aller Jahrhunderte erhaltenabsteigend< bis zur eigenen Gegenwart.78 Offensichtlich aus pädago-

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trag von Sicco Lehmann-Brauns im vorliegenden Band, bes. Abschnitt IV, »Neukonturierung der Anfänge der Historia literaria - die Erfindung der Schrift«. Lambecius, Prodromus (wie Anm. 56), Prolegomena, f. ***2r oben: »Cum enim inde ab ineunte aetate [...] antiquitatem summo amore & reverentia semper fuerim prosecutus, ideoque vetustissimos quosque Autores, veluti scatungines ac fontes, recentioribus Scriptoribus, tanquam aliunde derivatis rivulis, longe praeferendos esse crediderim, contigit, ut [...]« (es folgt das Zitat in Anm. 72; Hervorhebungen A.S.). - Die Metapher der >QuellenErfindung< noch in der ursprünglichen Form erkennbar ist, findet sich häufig; Lambecius konnte sie etwa bei Frisius lesen (Bibliotheca philosophorum, wie Anm. 38, Vorrede, f. ßr): »Quis vero sitiens, non mailt ex ipsis fontibus bibere, ad sedandum sitim, [...] quam ex rivulis quantumvis limpidis & puris?« Dennoch ist Frisius' Urteil über den Wert alter bzw. neuerer Autoren ausgewogener: »Ita existimamus nos [...] omnia probanda esse, & quod bonum fuerit, sive in veteribus, sive in recentioribus authoribus tenendum, & et enotandum.« Vgl. Georg Paschs Abhandlung Scbediasma de curiosis huius seculi inventis, die im Untertitel (quorum accuratiori cultui facem praetulit antiquitas) einen Ausgleich zwischen Altem und Neuem signalisiert (Kiloni 1695, 2. Aufl. 1700); zur Quellenmetapher bei Pasch siehe den Beleg im Beitrag von Merio Scattola im vorliegenden Band, dort Anm. 65; allgemeiner mit Bezug auf die Polyhistorie: Braun, Histoire de l'histoire de la philosophie (wie Anm. 7), S. 72. Lambecius erwarb u. a. die - durch das Ambraser Heldenbuch bekannte - Sammlung aus Schloß Ambras bei Innsbruck. Vgl. König, Peter Lambeck (wie Anm. 55), S. 142-158. Lambecius, Prodromus (wie Anm. 56), Prolegomena, f. ***2r, unten: »Experiendo itaque edocto, quantum cognitio optimorum autorum ad solidam erudionem acquirendam conferret, nihil mihi antiquius fuit, [...] quam ut auditoribus meis in [...] praelectionibus commonstratione istius viae, qua ipse profecissem, prodesse anniterer«. Ebd., f. ***3V oben: »Orsus sum ä succincta enarratione duarum Tabularum Chronograpbiae universalis, quas in Calce primi hujus Tomi [...] invenies; cumque ex iis generalem aliquam ideam percepissent connexionis omnium Seculorum, quatenus respectu vulgaris iErae Christianae, vel ascendendo versus creationem Mundi, vel descendendo

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gischen Gründen geht er dabei vom Bekannten aus, von dem Wendepunkt der Geschichte,79 und konnte so u.a. Fragen der Synchronisierung zwischen >anno Mundi< und >anno ante JEtam Christianam vulgarer» (/E.C.V.) klären.80 Wie schon bei Frisius zeigt sich auch hier, wie sehr die Anbindung an einen zeitlichen Ablauf den Zugang zur Gelehrsamkeitsgeschichte geprägt hat. Um das Grundgerüst mit einem Überblick über die Historia literaria im Sinne Bacons auffüllen zu können, benötigt Lambecius ein >Textbuchzu erklären oder >zu erzählenPhilologiePhilologieHistoria Literaria sive Scholastica< auf eine bündige Formel gebracht hat: »est de viris doctis, eorum scriptis, & scientiarum incrementis. Item de artium inventoribus, earumque progressu.« 92 Diese - verkürzende - Formel geht ihrerseits auf Bacon zurück.93 Auf diese Weise hat Lambecius eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Forderungen Bacons vermieden. Um so deutlicher ist, welch große Autorität Bacon bzw. seinem Gründungsdokument hier zugeschrieben wird. Indem Lambecius sich dessen Forderungen zu eigen macht (»ingens me invaderet cupido noscendi«),94 stellt er den eingeschlagenen Weg beim Unterrichten ebenso wie bei der Abfassung des Prodromus als den einzig gangbaren dar. Eine konkurrierende Autoritär ist nicht auszumachen, die beiden anderen, inhaltlich nicht grundsätzlich differenten Bezugstexte von Mylaeus und Vossius haben vielmehr unterstützende Funktion. Zusammen unterstreichen die drei Paratexte die Gewichtigkeit des Vorhabens. Umgekehrt fällt durch die Nennung bekannter Namen zusätzlicher Glanz auf das eigene Vorhaben, denn innerhalb der europäischen Gelehrtenrepublik war Bacon natürlich längst kein Unbekannter mehr. Wie und vor allem warum dessen Plan für eine künftige Historia literaria dort Anklang gefunden hat, soll im folgenden Abschnitt skizziert werden.

Unter anderem laut Moller, Cimbria literata (wie Anm. 55), S. 391, hatte Lambecius zu Beginn seiner großen Studienreise (1745-1751) in Amsterdam auch Vossius getroffen. 92 In der Fortsetzung des Zitats (§§ 8-10) bei Lambecius werden wichtige Vertreter der >Historia Literaria sive Scholastica< genannt. Daß Vossius neben Schriften zur Biographie von Philosophen (vitae philosophorum) auch solche zu Vertretern der Grammatik, Redekunst und Rhetorik sowie zu Dichtem und Geschichtsschreibern aufführt, ist zurückzufuhren auf sein Verständnis der der Philologie zugeordneten Disziplinen, wie sie in De Vhilologia nacheinander abhandelt werden (vgl. die Ubersicht bei Deitz, Gerardus Joannes Vossius, wie Anm. 90, S. 30-32; im einzelnen: S. 7-12, 12-15, 15f., 16—22). — Für Lambecius sind — anders als für Vossius — nicht die Einteilungsmöglichkeiten der Historia wichtig, sondern die inhaltlichen Bestimmungen und die jeweiligen >autoresnur obenhin< und zudem ausschnitthaft angelegt, doch insgesamt weiß er Conring als frühen Vertreter der Gelehrsamkeitsgeschichte durchaus zu würdigen. Conring habe sich im Vorwort seiner »Academiarum anüquitatum descriptio [...]« als [Historiae literariae] »a teneris fuisse deditissimum« bezeichnet; das Werk selbst behandle - »more suo, hoc est, perdocte« - ein Teilgebiet der Historia literaria (Conspectus II.8, S. 17). Der Untertitel der 2. Auflage (1674) von Conrings De antiquiatibus academias dissertationes (Helmstedt 1651) verweist ausdrücklich auf eine Gelehrsamkeitsgeschichte, die alle Zeitalter umfaßt: »Plurimis locis secunda hac editione emendatae, aeeeßit Supplementorum eiusdem argumenta über unus quibus reipublicae literariae omnis aevi status illustratur« (Hervorhebung A.S.). Eine erneute Auflage (»[...] dissertationes Septem, una c u m eius supplementis«) hat Heumann selbst besorgt (Göt-

tingen 1739) - ein weiteres Zeichen seiner Wertschätzung.

Die Anfange der Historia literaria im 17. Jahrhundert

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ein eigenes Kapitel (V.) neben den philosophischen Autoren* (II.) zugewiesen bekommen, dürfte mit den Besonderheiten des antiken Schrifttums zusammenhängen, das eine derartige Einteilung nahelegt.113 Wichtig für die Vorgeschichte der Historia literaria ist neben der chronologischen und disziplinären Anordnung vor allem die Art der Darbietung. Conring beschränkt sich keineswegs auf eine Aufzählung von Namen und Ausgaben, sondern er versteht es, an entscheidenden Punkten auf die Ursachen von Veränderungen aufmerksam zu machen: etwa auf die im zweiten nachchristlichen Jahrhundert zunehmende Mystik und Wundergläubigkeit, die zu einer >neuen Art des Philosophierens< bei den Piatonikern geführt hatte (S. 61f.) - eine im 17. Jahrhundert keineswegs naheliegende Einschätzung - , oder auf die philologische Beschäftigung mit den heiligen Sprachen und den Bräuchen der Urkirche als eine der Ursachen der Kirchenspaltung (S. 111). Zugute kam Conring dabei seinerseits die philologische Schulung, die ihn immer wieder nach dem Wert und der Glaubwürdigkeit von Quellentexten fragen läßt.114 Mit den Verbindungen zwischen Bacon, Naude und den ersten Protagonisten der Historia literaria in Deutschland stellt sich noch einmal die Frage nach der inhaltlichen Begründung des Unternehmens. Sicherlich hatte es eines ersten Anstoßes bedurft, und der war mit Bacons präzisen, zugleich sehr weit ausgreifenden Forderungen zweifellos gegeben. Damit ist freilich noch nicht erklärt, auf welche Weise man diese Forderungen in die Praxis umzusetzen hoffte: Wie gelangte man von der >Kenntnis der Autoren und der Büchernotitia librorum< zu seinem Spezialgebiet und veröffentlichte 1670 eine Bibliographie zweiten Grades, die den Studenten einen Weg zu Katalogen, Schriften- und Schriftstellerverzeichnissen weisen will — und damit zur >Kenntnis guter Autoren jeder ArtZuwächsen und Abnahmen< fallen. Eben diese Schlüsselworte stehen auch zu Beginn des Werks: Eadem plane ratio est praeclararum cujuscunque generis artium atque scientiarum. Omnium quippe singularumque primordia, progressus, incrementa, decrementa adeoque mutationes atque universa fortuna, itidem tantum non unice ex litterarum monumentis certo addiscuntur.118

All diese historischen Veränderungen kann man für jede einzelne Disziplin dann näher bestimmen, wenn die verschiedenen Lehrmeinungen in einem genauen Zeitraster verortet sind, »quod si vero quis exaetam temporum habuerit rationem«, wie es im zitierten Schlußabschnitt heißt. Zugleich gilt es, die wissenschaftlichen Hervorbringungen als solche, aber auch ihre Schwerpunkte, ihre 116 Vogler, Introductio universalis in notitiam cuiuscunque generis bonorum scriptorum (wie Anm. 60). Blum, Bibliographia (wie Anm. 7), erörtert den Inhalt der Schrift mit Bezug auf frühere Bibüotheks- und Buchhandelskataloge (Sp. 1036f., 1068-1070) und würdigt Vorrede und Schlußkapitel als Beitrag zur Historia literaria (Sp. 1071 f.), allerdings ohne Beziehungen zu Bacon und Naude herzustellen. - Neben diversen medizinischen Schriften hat Vogler weitere studienbezogene Überlegungen veröffentlicht: De naturali in bonarum doctrinarum studia propensione, delectu ingeniorum, studiorum hodiernis corruptelis earumque causis, Dissertationes quinque. Helmestadii 1672. 117

Vogler, Introductio universalis (wie Anm. 60), f. ):( 3rf. bzw. (im folgenden zitiert) S. 119. Ebd., f.):( 3rf.

Die Anfänge der Historia literaria im 17. Jahrhundert

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Positionen und die Gegenpositionen zu bestimmen: »quid [sit] impugnatum, quid assertum«. Damit wird die Fähigkeit zu unterscheiden befördert, vor allem aber die Urteilskraft, die dann ihrerseits die Auswahl des Richtigen ermöglicht. Vogler hebt dieses Ziel hier nicht eigens hervor, aber bei der Besprechung von Bücherkatalogen, die mit der Auflistung auch »iudicium & censuram« verbinden, formuliert er in aller wünschenswerten Klarheit:119 Sed nec cujusvis est solidum iudicium instituere. [...] Plurimum tarnen interest ad ipsammet veritatem percipiendam, quid boni ab aüquo scriptore expectandum sit, quidve in illo desideretur, quidque praesüterit, vel minus probe habere cognitum.

Im Sinne einer ausgewogenen Urteilsbildung hatte auch Naude die Schwierigkeiten betont, die es bereite, >sich eine auch nur oberflächliche Kenntnis aller Künste und Wissenschaften zu erwerben und sich freizumachen von der Knechtschaft und Sklaverei bestimmter Meinungen, [...] und am rechten Ort und ohne Leidenschaft über Verdienst und Qualität der Autoren zu urteilen [.. .].Historia litteraria< at Helmstedt (wie Anm. 2), S. 174, bezieht sich auf Polycarp Leyser, einen späteren Zeugen (s. Anm. 18): »In articulating such a strict alliance between >historia litteraria< and the library Leyser appropriated, not for the first time, the views of the Parisian >erudit< of the previous century, Gabriel Naude.« Programmatische Gesichtspunkte berücksichtigt Nelles erst in diesem Zusammenhang, nicht aber in der Vorstellung von Voglers Introductio als >textbook< im akademischen Unterricht (ebd., S. 152).

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geblich sein. Darauf weist zwar bereits Bacon hin, Naude aber hat dies im Advis angemahnt und in seiner Bibliotheca Politica für einen Teilbereich in die Tat umgesetzt. Wichtig für die weitere Ausformung der Historia literaria in Deutschland ist, daß für Naude die Urteilsbildung nur im historischen Zugriff möglich scheint. Nur wenn man auch die vielleicht vergessenen oder unterdrückten Gegenpositionen kennt, lassen sich Urteile unabhängig von vermeintlichen oder tatsächlichen Autoritäten fällen, und nur so sind Fortschritte in den Wissenschaften möglich. »History had thus an intrinsic investigative role«, faßt Paul Nelles zusammen, der diesen Aspekt des Advis herausgearbeitet hat.123 Dementsprechend setzt die Darstellung der Ethik in Naudes Bibliotheca Politica bei Sokrates ein (»qui se primus felicissimo conatu ex naturae obscuritate ad morum contemplationem transtulit«), und zu Beginn der allgemeinen politischen Schriften steht neben Plato und Aristoteles Moses als der erste Gesetzgeber (»cum nullos habeamus vetustiores excepto Legislatore Sanctissimo Mose«).124 Naude weiß sich den Baconschen Forderungen verpflichtet, von den ersten Anfängen auszugehen, »ab ultima antiquitate facto principio«.125 So nimmt es nicht wunder, daß im 18. Jahrhundert auch Naude als Initiator genannt wird, als derjenige, »qui Germanos rem litterariam docuerit« - ein Nachruhm, den Burkhard Gotthelf Struve 1704 als allgemein bekannt voraussetzt.126 Tatsächlich behält Naude über die Mitte des 18. Jahrhunderts hinaus seinen Ruf als einer der besten >scriptores iudiciorumGeschichte< und >Kritikhistoria mundiMarkenzeichen< gelten konnte.130 Mit größerem Nachdruck konnte man den Anspruch des Unternehmens sicher nicht unterstreichen. Wie es allerdings dazu kam, daß die Historia literaria im 18. Jahr128

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Eigenständige produktive Fortentwicklungen dieses Gedankens finden sich beispielsweise bei Polycarp Leyser aus Helmstedt (siehe Anm. 18) und bei Coelestinus Conradus Neufeldt: Iudicia de historia litteraria. Regiomonti 1724. Zu letzterem, dem ersten und einzigen Professor für Historia literaria an der Universität Königsberg, vgl. Anette Syndikus: Historia literaria als Propädeutikum an der Königsberger Universität des 18. Jahrhunderts. In: Hanspeter Marti, Manfred Komorowski (Hgg.), Die Universität Königsberg in der Frühen Neuzeit. [In Vorbereitung). Conring, De scriptoribus (wie Anm. 111), Rückseite des Titelblatts. Gemeint ist Buch 2, Kapitel 4, in: Bacon, De augmentis scientiarum (wie Anm. 11), S. 199: »Atque certe historia mundi, si hac parte fuerit destituta, non absimilis censeri possit statuae Polyphemi, eruto oculo; cum ea pars imaginis desit, quae ingenium et indolem personae maxime referat.« Sogar in Zedlers Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste wurde der PolyphemVergleich aufgenommen; vgl. [Art.] Gelehrten-Historie. In: ebd., Bd. 10. Halle, Leipzig 1735, Sp. 725-730, hier: Sp. 729; siehe auch unter http://www.zedler-lexikon.de. Auch als Metapher finden sich die >beiden Augenvollständigen< Menschen erst ausmachen, im 18. Jahrhundert häufiger; vgl. im vorliegenden Band die Belege in den Beiträgen von Frank Grunert (dort Anm. 55, Gundling) und von Merio Scattola (dort Anm. 11 und 12, Thomasius und Kemmerich).

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hundert - laut Auskunft des Joecherschen Gelehrtenlexikons von 1715 - zu einer »Mode-Wissenschaft« aufgestiegen ist,131 das bleibt Gegenstand weiterer Untersuchungen.

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Johann Burckhard Mencke: Vorrede zur 1. Auflage des Compendioesen Gelehrten-ljexikons, hg. von Christian Gottlieb Joecher (wie Anm. 22), f. )0( 31; hier zitiert nach Weimar (Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, wie Anm. 10), S. 116 mit Anm. 45.

MERIO SCATTOLA

>Historia literaria< als >historia pragmatica< Die pragmatische Bedeutung der Geschichtsschreibung im intellektuellen Unternehmen der Gelehrtengeschichte

Die folgenden Erwägungen zur Funktion und Struktur der Gelehrtengeschichte gehen von einer einfachen Hypothese aus. Wenn wir nach dem Begriff der A s t o ria literaria< fragen, können wir nämlich mit der Feststellung anfangen, daß die Historia literaria eine Art in der allgemeineren Gattung der >Historia< ist und daß sie also zur >Geschichte< im weiteren Sinne gehört Die Gelehrsamkeits- und Gelehrten>Geschichte< muß dementsprechend alle allgemeinen Voraussetzungen der >Geschichte< erfüllen. Die Kapitel der litterärgeschichtlichen Kompendien, in denen von der Historia überhaupt die Rede ist, werden daher auch fur die Historia literaria aufschlußreich sein. Neben Vorreden, Einleitungen, beigefügten Reden und Briefen enthalten sie gleichsam das Selbstverständnis dieses gelehrten Unternehmens. Betrachtet man aber die Darstellungen der >Geschichte< in den einschlägigen Schriften, so stellt sich heraus, daß die Geschichte zumeist in pragmatischer Hinsicht, als >Historia pragmaticaprudentielle Geschichte< bezeichnen kann. Eine Hauptvoraussetzung dieser >prudentiellen GeschichteHistoria pragmatica< identisch ist und aus der sich die Historia literaria entwickelte, ist die Vorstellung, daß das menschliche Wissen >topologisch< nach der Ordnung der loci communes gegliedert, aufbewahrt und übertragen werden soll. Ergo: Auch die Historia literaria ist eine Variante jenes frühneuzeitlichen topologischen Verständnisses, eine Variante nämlich, in der die neue Dimension der Zeit als unterscheidendes Moment eingeführt wird.

I. Die praktische Aufgabe der Historia literaria Was ist Historia literaria? Wozu dient sie? Warum schreibt man Gelehrtengeschichten? Was für eine Handlung ist das Abfassen einer Historia literaria? Einstimmig wird die Historia literaria als Geschichte der Gelehrsamkeit, der freien Künste und der Gelehrten bezeichnet Ihre Gattung wird als >Erzählung< oder >narratio< bestimmt1 1

Gotthelf Burkhardt Struve, Johann Friedrich Jugler: Bibliotheca historiae litterariae selecta olim titulo introductionis in notitiam rei litterariae et usum bibliothecarum in-

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Merio Scattola Damit man sich einen rechten Concept, von der Historia Literaria, machen könne, so fragt es sich, was dieselbe sey? Rsp. Sie ist eine Erzehlung des Zustandes derer Gelehrten, des Originis, Progressus et Incrementorum Artium Liberalium atque omnis Eruditionis.2

Einstimmigkeit herrscht auch hinsichtlich ihres Zweckes, der nach der Tradition zur Wesensbestimmung einer jeden praktischen Disziplin gehört.3 Jakob Friedrich Reimmann zum Beispiel unterscheidet zwei Hauptabsichten: Die Historia literaria soll nützlich und >vergnüglich< sein. Ihr Nutzen besteht darin, daß sie die Vorurteile bekämpft und unseren Verstand verbessert.4 signita [...]. [1. Aufl. 1704.] Ienae 1754, S. 2: »Historia litteraria vera est perspicua eorum narratio, quae litterarum studiosis de fatis eruditionis atque eruditorum cognitu et necessaria sunt et utilia«; Jakob Friedrich Reimmann: Versuch einer Einleitung in die Historiam Literariam Insgemein und derer Teutschen insonderheit [...]. Halle im Magdeburgischen 1713, Theil 1, S. 3: »Die Historia Literaria ist eine Historie, darinnen dasjenige in gebührender Klarheit und Wahrheit vorgetragen wird/ was denen curieusen Gemüthern von dem Schicksal der Gelehrsamkeit und derer Gelehrten insonderheit zu wissen nöthig/ nützlich und vergnüglich ist«; Christoph August Heumann: Conspectus reipublicae literariae sive via ad historiam literariam iuventuti studiosae aperta. [1. Aufl. 1718.] 4. Aufl. Hanoverae 1735, S. 1: »Historia literaria est Historia literarum et literatorum, sive Narratio de ortu et progressu studiorum literariorum ad nostram usque aetatem«; Gottlieb Stolle: Anleitung Zur Historie der Gelartheit [...]. [1. Aufl. 1718.] 4. Aufl. Jena 1736, Theil 1: Von der Historie der Gelahrheit überhaupt, S. 3: »Die Historie der Gelahrheit berichtet uns, was die Gelehrten in Ansehen der Gelahrheit überhaupt, und der dazu gehörigen Künste und Wissenschafften insonderheit merckwürdiges gethan haben.« Vgl. auch die frühe Definition von Gerardus Johannes Vossius: De philologia über. Amstelodami 1650, S. 71: »Historia literaria, sive scholastica, et de viris doctis, eorum scriptis, et scientiarum incrementis. Item de artium inventoribus, earumque progressu.« Zur Definition der Geschichte im allgemeinen als >notitia< vgl. unten im Text bei Anm. 69. 2

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Nikolaus Hieronymus Gundling: Vollständige Historie der Gelahrheit [...]. Theil 1-5. Frankfurt, Leipzig 1734-1736, Theil I, S. 17. Die Vorstellung, daß eine praktische Disziplin wie die Politik oder die Ethik durch die Bestimmung ihres Zweckes erfaßt und ausschließlich durch die Auflösung dieser Definition (>methodus resolutiva< oder >analyticaHistoria literaria< als >historia pragmatica
Historie< ist in der Tat das wahre Auge der Weisheit, 11 und ohne ihre Hilfe ist ein Mensch blind und verwirrt. Wir können nämlich von den Vorurteilen und Irrtümern erst dann befreit werden, wenn wir ihren wahren Ursprung erkennen. Und diese Erkenntnis kann nur anhand der >HistoriePraktisch< ist daher die Gelehrtengeschichte, weil sie immer auf die Läuterung des menschlichen Verstandes abzielt. Derselbe praktische Bezug wird auch in einer anderen Hinsicht bestätigt, wenn Kemmerich erklärt, daß die Weisheit, die eine solche Befreiung von den Vorurteilen bewirkt, auf keinen Fall ein bloß intellektueller Vorgang ist, sondern notwendigerweise auch den Willen betrifft. Hier sei nämlich der Unterschied zwischen der wahren Weisheit und der bloßen Gelehrsamkeit zu sehen. So bedeute Gelehrsamkeit die Beherrschung vieler Sprachen, Künste und Wissenschaften; Weisheit umfasse dagegen nicht nur das Wissen des Verstandes, sondern auch die Klugheit, jene Kenntnisse richtig und nützlich anzuwenden. Die Gelehrsamkeit besteht also in der Erkenntnis des

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Dieselbe Metapher wird auch von Christian Thomasius verwendet; vgl.: Cautelae circa praecognita iurisprudentiae in usum auditorii Thomasiani. Halae Magdeburgicae 1710, S. 57: »Historia et philosophia sunt duo oculi sapientiae, quorum uno, qui caret, monoculus est ob summam utriusque connexionem.« Vgl. Gierl, Pietismus und Aufklärung (wie Anm. 7), S. 470-486; Sicco Lehmann-Brauns: Weisheit in der Weltgeschichte. Philosophiegeschichte zwischen Barock und Aufklärung, Tübingen 2004, S. 338-343. Kemmerich, Neu-eröffnete Academie (wie Anm. 9), S. 340f.: »Worinn bestehet die nothwendigkeit der historie? Diese fliesset aus dem jetztgedachten nutzen. Denn weil sie das auge der weißheit ist, so ist ohn derselben der menschliche verstand blind, und die gedancken sind ohn selbe so confus, als eines menschen, der nicht siehet noch höret. Der mensch kan von den vorurtheilen und irrthümern nicht befreyet werden, weil er nicht den ursprung der allgemeinen vorurtheile und irrthümer aus der historie erkennet. Einpoliticus ist nicht tüchtig ohn die politische historie das interesse seines staats rechtschaffen zu beobachten. Und ein jurist kann ohn der römischen und teutschen historie die gesetze eben so wenig als ein theologus ohn kirchen=historie die religions= Streitigkeiten gründlich verstehen und beurtheilen.« Vgl. Martin Gierl: Bestandsaufnahme im gelehrten Bereich. Zur Entwicklung der Historia literaria im 18. Jahrhundert. In: Denkhorizonte und Handlungsspielräume. Historische Studien für Rudolf Vierhaus zum 70. Geburtstag. Göttingen 1992, S. 53-80, hier S. 64-67.

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Wahren und des Falschen; die Weisheit fugt dazu auch die Erwägung des Guten und Bösen. »Die Gelehrsamkeit hat mehr zu thun mit der theorie; die Weißheit mehr mit der praxi« (S. 10). Beide sind Handlungen des Verstandes, aber die Gelehrsamkeit begnügt sich mit der reinen Erkenntnis, während die Weisheit immer von einer guten Neigung des Willens begleitet wird.13 Die >Historie< im allgemeinen soll das >iudicium< oder das Urteilsvermögen des einzelnen Menschen anhand der Erzählung von Begebenheiten der Vergangenheit ausbilden und verbessern (S. 41f.). Die Historia literaria verfolgt denselben Zweck mit dem Unterschied, daß die Erfahrung, die sie behandelt, durch Bücher vermittelt ist. Ihre Aufgabe besteht dementsprechend darin, daß sie das >iudicium< durch diese besondere Art von vermittelter Erfahrung ausbildet. Sie wird also Regeln liefern, mit denen man die guten Bücher von den unnützen oder schlimmen unterscheiden kann.14 Ihr Hauptziel ist aber, daß der Leser die eigene Fähigkeit des (gesunden) Urteils entwickelt.15 Daher ist auch die Historia literaria eine praktische Handlung (des Schriftstellers), die eine entsprechende Handlung oder Fähigkeit (des Lesers) erwecken soll.

II. Der Begriff der >Historia pragmatica< in der Historia literaria Die besondere Funktion der Historia literaria für die Ausbildung des Urteilsvermögens ist keine Besonderheit dieser literarischen Gattung. Sie ist vielmehr die Folge eines allgemeinen Verständnisses der Geschichte: Nicht nur die Geschichte der Gelehrsamkeit und der Gelehrten, sondern jede Art von Geschichte wird in den Darstellungen der Historia literaria als ein Mittel zur Erlangung von praktischen oder sittlichen Fähigkeiten betrachtet. Im intellektuellen Unternehmen der Historia literaria werden die Geschichtsschreibung und ihre intellektuellen Produkte als Teil eines moral- und politisch-philosophischen Komplexes verstanden, in dem >Geschichte< mit >Erfahrung< und >Klugheit< verbunden wird. Fragt man: »Wozu dient Geschichte (und Gelehrtengeschichte)?«, ist die Antwort meist eindeutig: »Man muß Geschichte schreiben bzw. lesen, um Erfahrung zu sammeln und dadurch klüger, das heißt sittlich besser, zu werden.«

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Kemmerich, Neu-eröffnete Academie (wie Anm. 9), S. 9f. Vgl. auch Gundling, Vollständige Historie der Gelahrheit (wie Anm. 2), S. 2 a -13 a , besonders S. 5 b (Prolegomena 1, Anm. b). Kemmerich, Neu-eröffnete Academie (wie Anm. 9), S. 82-89 (I Cap. 8: Von lesung der bücher); Stolle, Anleitung Zur Historie der Gelartheit (wie Anm. 1), S. 6f. Kemmerich, Neu-eröffnete Academie (wie Anm. 9), S. 86f.; Gundling, Vollständige Historie der Gelahrheit (wie Anm. 2), S. 2 b -3 a , 5a (Prolegomena 1, Anm. b); Johann Erhard Kapp: Vorrede. Wie man die Historie auf Schulen und Universitäten recht und pragmatisch zu treiben anfangen soll. In: Gundling (ebd., wie Anm. 2), S. 1—44, hier S. 23, 39f.

>Historia literaria< als >historia pragmatica
Historia pragmatica< in den litterärgeschichtlichen Kompendien geltend gemacht 17 und als eine Art Kampfwort benutzt, das durch diesen neuen prägnanten Ausdruck ein durchaus traditionelles Gemeingut wiederbelebte und mit einer allgemein philosophisch eklektischen Einstellung verband. 18 In seinen

Prolegomena historica,

die zuerst 1723 als Dissertation verteidigt und

1730 in seiner periodischen Schrift

Poeäle

veröffentlicht wurden, liefert Christoph

August Heumann eine umfassende Beschreibung dieser >Historia pragmaticakritische Geschichtsschreibung< dagegen unterzieht die überlieferten Erzählungen einem strengen Urteil, sucht nach den verborgenen Ursachen oder geheimen Gründen des menschlichen Handelns und vervollständigt tradierte Schilderungen, indem sie mit philologischer Akribie wichtige und sogar entscheidende Umstände rekonstruiert, welche der Historiker vernachlässigt hat. Diese Art der Geschichtsschreibung verfolgt keinen weiteren Zweck als das reine Wissen und sammelt historische Kenntnis bloß um der Kenntnis willen. Wenn überhaupt eine >historische Wissenschaft gegründet werden sollte, dann könnte dies nur auf der Basis dieser xHistoria critica< geschehen. D i e >Historia pragmatica< - argumentiert Heumann weiter — wurde und wird unterschiedlich verstanden; 20 sie ist aber im allgemeinen dadurch gekennzeichnet, daß sie anders als die anderen Arten der Geschichtsschreibung über die Erzählung hinausgeht und nach einem moralischen Sinn und Nutzen sucht. Wie auch ihre Etymologie zeigt, sei diese Geschichtsschreibung >pragmatischpragmarischer< Geschichtsschreibung und eklektischer Philosophie. Vgl. ebd., S. 7f. Dazu auch Fritz Wagner: Die Anfange der modernen Geschichtswissenschaft im 17. Jahrhundert. München 1979 (Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte Nr. 2), S. 5-13. Heumann, Prolegomena historica (wie Anm. 19), S. 435f., listet zwei konkurrierende Bedeutungen der >historia pragmatica< auf: 1. >omnis historia distincta a genealogia, geographia et chronographiahistoria diffusius exposita et ex optimis monumentis comparataHistoria literaria< als >historia pragmatica
conversatio< bezeichnet wurde. Oder man liest Geschichten, die die größte und nützlichste Sammlung menschlicher Erfahrungen sind. Die Geschichte ist daher ein unentbehrliches Mittel, um die notwendigsten und prinzipiellen Fähigkeiten des praktischen Handelns zu erlangen. Ohne Geschichte kann keine politische Entscheidung oder ethische Wahl getroffen und daher keine Politik oder Ethik ausgeübt werden. Diese Einsicht, die in allen Einfuhrungen zur politischen Lehre dargestellt und durch das ganze 17. Jahrhundert in zahlreichen Schriften variiert wurde,36 ist eng mit einer >prudentiellen< Auffassung von Ethik und Politik verbunden, die wissenschaftliche Kenntnisse von der menschlichen Welt beiseite läßt und die Ausübung der Tugend von dem Wirken der Klugheit abhängig macht.37 Solche Vorstellungen wurden allerdings ab der Mitte des 17. Jahrhunderts in der politischen Lehre immer häufiger bestritten. Durch die neue Disziplin des Naturrechts konnten nämlich mehrere Bereiche der praktischen Philosophie auf eine vernunftmäßige Begründung, also auf rationale Regelmäßigkeit zurückgeführt werden, und auch die Politik konnte bei Hermann Conring, den Schriftstellern der >poli-

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Vgl. zum Beispiel Georg Lauterbeck: Eine Erinnerung/ aus was Ursachen die Leute/ und sonderlich die Regenten/ Fürsten und Herrn/ die Historien mit fleis lesen sollen. In: ders., Regentenbuch [...]. [1. Aufl. Leipzig 1556J [Leipzig] 1572, f. 325"-331\ hier f. 326 v ; Jean Bodin: Methodus ad facilem historiarum cognitionem [...]. Parisiis 1566; jetzt in: (Euvres philosophiques de Jean Bodin. Hg. von Pierre Mesnard. Paris 1951, S. 105-269, hier S. 115 b ; Jakob Bornitz: Discursus politicus de prudentia politica comparanda editus a Ioanne Bornitio. Erphordiae 1602, f. B21—2V; Georg Schönborner: Politicorum libri VII. [...]. [1. Aufl. Liegnitz 1609.] 3. Aufl. Lipsiae 1619, S. 4; Naude, Bibliographia militaris (wie Anm. 23), S. 22: »Res enim gerere, provincias et regna administrare nemo sine prudentia potest; prudentia vero ex usus, usus autem ab exemplis, et oritur et confirmatur. Quamobrem Dux noster historicorum praesertim lectioni incumbet«; Johann Andreas Bose: De comparanda prudentia civili deque libris et scriptoribus ad eam rem maxime aptis dissertatio isagogica. In: ders., De prudentia et eloquentia civili comparanda (wie Anm. 18), S. 1: »Prudentia civilis, sive peritia tractandi rempublicam eiusque negotia dextre administrandi, tribus modis adquiritur, doctrina, conversatione, et usu«; Johann Balthasar Wernher: De summo politici bono, resp. Johannes Petrus Göselius. Lipsiae 1697, f. B2 v -3 r . Vgl. zum Beispiel Johannes Caselius: Προπολιτικός [1600]. In: Opera politica [...]. Hg. von Konrad Hornejus. Francofurti 1631, S. 2-140, hier S. 106; Bornitz, Discursus politicus de prudentia politica comparanda (wie Anm. 36), f. A9 r -9 V .

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tica architectonica< und den Vertretern des >ius publicum universale< erfolgreich den Status einer Wissenschaft beanspruchen. 38 Damit verschwanden die Rahmenbedingungen für die ältere >prudentielle< Auffassung der Geschichte. Trotzdem wurde diese nicht sofort von anderen konkurrierenden Auffassungen verdrängt, sondern sowohl in der politischen Lehre als auch in der Historia literaria weiterhin vertreten. Johann Nikolaus Hertius teilte zum Beispiel mit anderen Zeitgenossen die Überzeugung, daß man aus dem Naturrecht eine allgemeine Staatslehre, das >ius publicum universale< gewinnen kann, das die rationalen Prinzipien für jede mögliche Staatsgesellschaft festlegt.39 Hertius vertrat darüber hinaus eine >politica architectonicaprudentiellen< Geschichte Sowohl die >Historia pragmatica< des frühen 18. Jahrhunderts als auch die ältere Geschichtsschreibung gehen davon aus, daß die Geschichte keine Wissenschaft sein kann, weil sie der Bereich der menschlichen Freiheit, das heißt der Willkür und Zufälligkeit ist.43 Jean Bodin konnte daher 1566 folgendes Bild entwerfen.

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Vgl. Hermann Coming: De civili prudentia liber unus [...]. Helmestadii 1662, S. 216; ders.: Propolitica [...]. Helmestadii 1663, S. 64f., 100. Johann Nikolaus Hertius: Paedia iuris publici universalis, resp. Iohannes Gothofridus Geilfusius. [1. Aufl. Giessae 1694.] In: ders., Commentationum atque opusculorum de selectis et rarioribus ex iurisprudentia universali, publica, feudali et Romana nec non historia Germanica argumentis tomi tres. Francofürti ad Moenum 1700, S. 58-78. Johann Nikolaus Hertius: Elementa prudentiae civilis, ad fundamenta solidioris doctrinae iacienda, magna cum accuratione adornata. Et nunc editione tertia innumeris locis aucta. [1. Aufl. Giessae 1689.] Francofurti ad Moenum 1712, S. 28. Ebd., S. 25—32: »Ex dictis sequitur [...] scientiam hanc non mere έμπειρικήν, sensualem seu experimentalem esse et absque mentis opera vestiganda, quia experientia, ut ex eius definitione liquet, est rerum singularium et non nisi sensu compertis constat [...]. Iam vero in civilibus notitia utique reperitur et quidem maxime praeclara, quae in universalibus occupatur demonstrationesque admittit: dein experientia est lubrica, tarda, difficilis, ad quam non cuilibet est aditus [...]. Ut adeo, si destitutus sis prudentia aliqua universali, multa cogaris facere, antequam nosse« (S. 30). Ebd., S. 8-11, 33f., 38-42. Heumann, Prolegomena historica (wie Anm. 19), S. 425: »Est igitur historia nunc nobis non quaelibet descriptio, sed narratio rerum a substantiis libere agentibus gestarum, qua, quae iamdudum acciderunt, tanquam in speculo nobis repraesentantur.«

>Historia literaria< als >historia pragmatica
unregelmäßige Regelmäßigkeit anbieten. Der eindeutigste und dreisteste Versuch in dieser Richtung wurde von Jean Bodin gemacht, der ein >topologisches< Verfahren, eine >methodus< entwarf, um den größten Nutzen aus der Geschichte zu gewinnen: Die Geschichte wird in ihre Hauptgattungen (>humananaturalis< und >divinagut/böse< und >nützlich/schädlich< bewertet.45 Andere Schriftsteller äußern sich eher skeptisch über die Möglichkeit, ein System der historischen Gemeinplätze entwerfen zu können. Sie bringen zwei Einwände vor. Einerseits befaßt sich die Geschichte vor allem mit Einzelfällen und Umständen, ist >singularis< und >circumstantialis< und muß eher die Besonderheiten als die Gemeinsamkeiten einer Begebenheit hervorheben.46 Andererseits sammelt die Geschichte hauptsächlich Beispiele, die eine bestimmte Regel bestätigen, erklären oder ihr widersprechen. Diese Regeln sind aber selbst nicht Teil der Geschichte, sondern gehören zu den Disziplinen der praktischen Philosophie, denen die Geschichte dient: Ethik, Politik und Ökonomik. Die Beispiele 44 45 46

Bodin, Methodus ad facilem historiarum cognitionem (wie Anm. 36), S. 115». Ebd., Cap. 3: De locis historiarum recte instituendis, S. 119»—124a. Bose, Ratio legendi tractandique historicos (wie Anm. 18), S. 95f.: »Tota enim civilis prudentia circumstantialis, ut sie loquar, ad tempus, locum, conditionem negotiorum accomodate est: neque tam sub locos communes, quam sub observationes singulares et subtiles cadit, quas meliores historici summa solertia suggerunt.« Noch deutlicher fallt Bartholomaeus Keckermanns Urteil über die Historia aus: »Unde sequitur primo historiam non esse diseiplinam [...], quia omnis diseiplina est rerum seu praeeeptorum catholicorum et universalium [...]. Historia autem non est rerum seu praeeeptorum universalium, sive non est notitia universalis, sed singularis, restricta et determinata ad individua et ad circumstantias temporum, locorum et personarum. Principium et fundamentum dextri iudicii de historia pendet ab hoc aphorismo.« De natura et proprietatibus historiae commentarius, privatim in Gymnasio Dantiscano propositus [1610]. In: ders., Systema systematum clarissimi viri domini Bartholomaei Keckermanni, omnia huius autoris scripta philosophica uno volumine comprehensa lectori exhibens [...]. Hg. von Johann Heinrich Aisted. Hanoviae 1613, S. 1818 b (II Cap. 1: De natura historiae, sive quid sit historia).

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der G e s c h i c h t e k ö n n e n daher kein eigenes System der loci c o m m u n e s bilden, s o n d e r n w e r d e n in die topischen Systeme anderer Disziplinen a u f g e n o m m e n : Sie liefern den Stoff f ü r die Gemeinplätze der praktischen Philosophie. I n diesem Sinn äußert sich z u m Beispiel Bartholomaeus K e c k e r m a n n . Unde et alter error facile agnoscitur eorum, nempe qui peculiares quosdam locos historicos, distinctos a locis aliarum disciplinis sibi fingunt, cum interim loci communes nil aliud sint quam capita methodi. Cum ergo historia non sit disciplina atque adeo non habeat capita methodi, id est locos communes peculiares ac distinctos, sed quod h i s t o r i c a d e b e a n t r e d u c i ad l o c o s d i s c i p l i n a r u m p r o p r i e d i c t a r u m , cum nihil aliud contineant historiae quam exempla praeceptorum, praecepta ergo habent suam methodum, exempla vero non habent methodum nisi earn quae est in et a praeceptis.47 Aus den v o n Bose u n d K e c k e r m a n n vorgebrachten Bedenken sollte aber nicht geschlossen w e r d e n , d a ß eine historische T o p i k völlig u n m ö g l i c h ist, vielmehr m u ß ihre F u n k t i o n genauer b e s t i m m t w e r d e n , weil die G e s c h i c h t e die eigenen A r g u m e n t e n u r nach den loci c o m m u n e s anderer Disziplinen a n o r d n e n kann. T r o t z dieser Beschränkung stimmen alle A u t o r e n des 16. u n d 17. J a h r h u n d e r t s darin überein, daß auch in der Geschichte eine >topik-ähnliche< Regelmäßigkeit herrscht, d e n n die einzelnen Vorfälle sind nicht absolut singulär, s o n d e r n beinhalten i m m e r bestimmte Ähnlichkeiten, die den Vergleich ermöglichen. Nichts ist gleich in der Geschichte, jedoch ist vieles ähnlich. D a h e r kann m a n Regelmäßigkeiten feststellen, die die B e o b a c h t u n g bestätigen, daß in der Welt o f t dasselbe Schauspiel mit neuen Darstellern gespielt wird. 4 8 Diese Regelmäßigkeiten

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Keckermann, De natura et proprietatibus historiae commentarius (wie Anm. 46), S. 1818b. Sperrung hinzugefügt. Vgl. dazu Wilhelm Voßkamp: Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein. Bonn 1967 (Literatur und Wirklichkeit 1), S. 29-34. Baudoin, De institutione historiae universae (wie Anm. 18), S. 20f.: »Saltem audio tres olim fuisse Fabios, scriptores historicos, qui Pictores appellabantur. Optarem quidem etiam, ut historiae non modo recitatio, sed et actio, qualis in scena esse posset, esset. Nam et talis actio, qualis in theatro spectaretur, viva esset loquaxque pictura, et nos magis afficeret, quam ullius Apellis tabula [...]. Sic et historia rerum in ea superficie gestarum expressam quandam imaginem nobis offert, eamque comitatur quaedam sive ύποτύπωσις, sive πρωσοποποιία, quae animos tarn valde nostros afficiat, ut nobis etiam persuadeamus, quod fingere solemus, ubi in scena agi aliquam fabulam videmus, hoc est, ut fingamus iis etiam nos et temporibus esse, et locis versari, de quibus aliquid narratur: et rebus ipsis interesse, easque videre praesentes, quas recitari audimus. Nam et hoc animo legendae atque audiendae historiae sunt, quae nos attollere, circumagere, afficere ita debent et possunt, ut modo hac, modo illa aetate vivere nos, et modo hic, illic modo agere nobis plane videamur: neque modo res spectare tanquam praesentes, sed et in iis partes veluti nostras agere«. - Bornitz, Discursus politicus de prudentia politica comparanda (wie Anm. 36), f. C9V: »Quid enim historia, nisi magistra vitae publicae et privatae est? [...] Cum enim natura hominum eadem, et nihil novi sub sole sit, atque eadem ut commune diverbium innuit, fabula saltem personis mutatis, quae novae singulis aetatibus succedent, agatur, quid ni olim quod factum est, idem in praesens aut futurum fieri possit? Ex quarum rerum cognitione et comparatione vera prudentia civilis proficiscitur, quae ex antecedentibus praesentia moderator, futurorum coniectu-

>Historia literaria< als >historia pragmatica
epistemologischen< Auseinandersetzungen des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts dokumentiert ist. Die Polemik über die Methode, die die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts mit Auswirkungen in allen Disziplinen - Dialektik, Logik, Politik, Medizin, Jurisprudenz und Theologie - beherrschte,49 war hauptsächlich eine Diskussion über Ordnung und Aufteilung der menschlichen Kenntnisse. In demselben Sinn war auch die paduanische Auseinandersetzung zwischen dem Aristoteliker Jacopo Zabarella und dem platonisierenden Francesco Piccolomini zum großen Teil ein Streit um die Ordnung der Wissenschaften. In seinen De metbodis libri quattuor (1578), die die Streitfragen auf unübertrefflich klare Weise vorstellen, zeigt Zabarella, daß >methodus< ein allgemeiner Begriff ist, der sowohl die Anordnung schon bekannten Wissens, den >ordoordo< zeigt, wie die Lehren und die Argumente einer Disziplin verteilt werden müssen, was am Anfang und was am Ende eingeführt werden soll, und ist also mit der >dispositio< bekannter Erkenntnisse innerhalb einer Kunst vergleichbar. Die >methodus< dagegen ist der Weg, den man durchläuft, wenn man von etwas Bekanntem zu etwas Unbekanntem kommen will. Sie gehört daher zur >inventioMethode< als auch die >Ordnung< zweierlei sein müssen, und daß letztere nicht vom Gegen-

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ram facit, et rerum eventa colligit: quae sane absque historia omnino nulla esset«; vgl. Schönborner, Politicorum libri VII. (wie Anm. 36), S. 4f. Vgl. Cesare Vasoli: La dialettica e la retorica dell'Umanesimo. >Invenzione< e >metodo< nella cultura del 15 e 16 secolo. Milano 1968; Aldo Mazzacane: Methode und System in der deutschen Jurisprudenz des 16. Jahrhunderts, sowie Gerhard Otte: Theologische und juristische Topik im 16. Jahrhundert. Beide in: Jan Schröder (Hg.), Entwicklung der Methodenlehre in Rechtswissenschaft und Philosophie vom 16. bis 18. Jahrhundert. Stuttgart 1998 (Contubernium 46), S. 127-136 bzw. S. 17-26; Peter Schulteß: Die philosophische Reflexion auf die Methode. In: Jean-Pierre Schobinger (Hg.), Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 1: Allgemeine Themen, Iberische Halbinsel, Italien. Basel 1998 (Grundriss der Geschichte der Philosophie, begründet von Friedrich Ueberweg, völlig neubearb. Ausg. hg. von Helmut Holzhey), S. 63-120. Jacopo Zabarella: De methodis libri quatuor. In: ders., Opera logica [...]. Venetiis 1578, S. 93. Vgl. auch Girolamo Capivaccio: De differentiis doctrinarum sive de methodis liber [1562], In: ders., Opera omnia [...]. Hg. von Iohannes-Hartmannus Beyerus. Francofurti 1603, S. 1023 B.

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stand, das heißt von der Natur selbst, abhängt, sondern sich immer dem von uns verfolgten Zweck anpaßt.51 Die Klarheit des Jacopo Zabarella bildet eher eine Ausnahme in den Auseinandersetzungen über die Methode. Sowohl in Italien als auch in Deutschland wurden Ordnung und Methode vor und nach Zabarella ständig verwechselt und vermengt,52 und die Folge davon war, daß die Debatte über die Methode eigentlich eine Diskussion über die richtige Anordnung schon erworbener Kenntnisse war. Diese Entwicklung war aber nicht zufällig, sondern war durch das Verständnis bzw. die Grundstruktur der Dialektik bedingt, die als Leitwissenschaft des menschlichen Wissens und besonders der praktischen Disziplinen (praktische Philosophie, Jurisprudenz, Medizin, auch Theologie) galt. Bedeutung und Funktion der Dialektik, die in den Werken von Rudolf Agricola und Philipp Melanchthon kanonisch festgelegt wurden, 53 blieben bis ins 17 Jahrhundert hinein unangetastet. Sie wurden von den späteren Logikern weiter systematisiert, indem die Voraussetzungen und Implikationen der älteren Lehre klarer und eindeutiger gezeigt wurden. Auch für Bartholomaeus Keckermann, einen Autor des frühen 17. Jahrhunderts, muß die Dialektik Wissen sammeln und verteilen,54 wozu sie sich hauptsächlich der loci communes bedient. Interdum vero methodus sumitur non pro notificatione et explicatione unius instrument! logici, sed pro integro aliquo systemate disciplinae per varia instrumenta logica concinnato [...]. Hic logicae studiosus [...] notabit methodum, quatenus ad discursum ordinativum pertinet, neutiquam in priore, sed tantum in posteriori significatione sumi, pro dispositione videlicet integrae alicuius doctrinae ex multis instrumentis logicis constructae.

Sie ist daher eine materielle Logik, welche uns ermöglicht, die Dinge und Erscheinungen der Welt zu beschreiben und über sie zu urteilen. Sie gestaltet das gesamte Wissen; sie baut und stellt uns das Netz der Gemeinplätze zur Verfü-

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Zabarella, De methodis libri quatuor (wie Anm. 50), S. 112, 122, sowie ders.: De doctrinae ordine apologia [... 1584], In: ders., Opera quae in hunc diem edidit, in quinque tomos divisa [...]. Bd. 1. Lugduni 1587, S. 22. Philipp Melanchthon: Erotematum dialectices liber primus [5 Bde. 1547], In: Karl Gotdob Bretschneider, Heinrich Ernst Bindseil (Hg.), Opera quae supersunt omnia. Volumen XIII. scripta Philippi Melanthonis ad historiam profanam et philosophiam spectantia. Halis Saxonum 1846 (Corpus Reformatorum 13), Sp. 573f. Rudolf Agricola: De inventione dialectica libri tres. Drei Bücher über die Inventio dialectica. Auf der Grundlage der Edition von Alardus von Amsterdam (1539) kritisch hg., übersetzt und kommentiert von Lothar Mündt. Tübingen 1992, S. 8-36. Bartholomaeus Keckermann: Systematis logici über [ . . . 3 Bde.; zuerst 1600], In: ders., Systema systematum (wie Anm. 47), S. 308 a -315 b (I 3, Cap. 1: De methodo), besonders S. 309a. Vgl. auch S. 308b: »Aliud est probare vel refutare conclusionem, quod fit discursu syllogistico, aliud definitiones, divisiones et alias doctrinae partes apte inter se connectere, ut alia praecedant, alia subsequantur. Methodus est partium doctrinae constitutio a principio certo ad certum finem.«

>Historia literaria< als >historia pragmatica
ί. (I, Cap. 27: Progymnasmata usus logici in tractando et resolvendo themate simplici et coniuncto), und im allgemeinen den gesamten Teil »De tractatione thematis (simplicis et compositi)«, S. 963 b -968 b . Bartholomaeus Keckermann: Apparatus practicus, sive idea methodica et plena totius philosophiae practicae, nempe ethicae, oeconomicae et politicae. In qua ostenditur ratio studii practici dextre conformandi et locos communes colligendi atque adeo tum polidcos tum historicos cum certo fructu legendi [1609]. In: ders., Systema systematum (wie Anm. 47), S. 1700-1704 a (II: Manuducrio ad Studium philosophiae practicae atque adeo inprimis ad Studium politicum et historicum, Cap. 2: De locis communibus regulae quaedam tarn generales quam speciales, pertinentes ad Volumina locorum communium practicorum), wo eine allgemeine Lehre der Gemeinplätze entwickelt wird. Vgl. auch Keckermann, Apparatus practicus (wie Anm. 56), f. N * l r - P 2 v (Consilium logicum de adornandis et colligendis locis communibus rerum et verborum), wo Keckermann lehrt, wie man Gemeinplätze nach Büchern und Kapiteln sammeln soll. Keckermann, Systema logicae minus (wie Anm. 55), S. 866 b -875 b (III, Cap. 8: De locis inventionis syllogisticae in genere, und die darauffolgenden Kapitel 9-23, S. 875 b 944b); ders.: Systematis logici plenioris pars altera, quae est specialis, continens usum et exercitationes artis logicae, antehac Gymnasium logicum appellata [... 1609], In: Keckermann, Systema systematum (wie Anm. 47), S. 315—424. Keckermann, Systema logicae minus (wie Anm. 55), S. 969"—975b (III: Progymnasma, Pars 2: De resolutione thematis); ders., Systematis logici plenioris pars altera (wie Anm. 57), S. 424—766, über >resolutio et tractatio thematisewiges Gesetz< (Thomas von Aquin), >Gesetz Gottes< (Philipp Melanchthon) oder >göttliches Gesetz< (Alberto Bolognetti, Balthasar Meisner) bezeichnet wird. Daher muß auch die dialektische Ordnung der loci communes göttlich sein.61 Der gesamte Ideenkomplex — daß die Dialektik die Leitdisziplin des menschlichen Wissens ist, daß sie das System der Gemeinplätze herstellt, daß letztere in jeder Disziplin und besonders in den praktischen Disziplinen wirken, daß jede Disziplin anhand der loci communes alle zu ihr gehörenden Kenntnisse ordnungsgemäß einteilen kann, daß die Gesamtzahl der menschlichen Kenntnisse und Ordnungskategorien begrenzt ist, daß schließlich die Ordnung der Gemeinplätze die Ordnung der Dinge widerspiegelt und letztlich mit der göttlichen Ordnung identisch ist - all das gehört zur Grundstruktur des frühneuzeitlichen Wissens, wird in den methodologischen Auseinandersetzungen thematisiert, wird in besonderen epistemologischen und isagogischen Abhandlungen erörtert und wird in Anspruch genommen, wenn Ordnung in der Welt der menschlichen Erkenntnissen und Erfahrungen gestiftet werden soll.62

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Ebd., S. 1700a: »Quicquid omnino est in toto mundo, quicquid etiam fit in mundo aut unquam factum est, id omnino ad aliquam discipünam referri potest, et si de eo dextre iudicare velis, referri etiam debet. [...] Cum omne id, quod ad aliquam disciplinam pertinet et referri potest, duo ista requisita habeat, nempe: 1. ut sit methodicum; 2. ut sit plenum, ideo locos communes rerum et verborum istis duobus requisitis etiam praeditos esse oportebit [...].« Vgl. Keckermann, Systema logicae minus (wie Anm. 55), S. 962b (III, Cap. 27: De methodo), der den Gedanken von Gott als dem >Gott der Ordnung< mit einem Lob auf Melanchthon und dessen bahnbrechende Dialektik (s. Anm. 52) verbindet: »Et est alioquin doctrina de methodo apud utrumque [sc. Melanchthonem et Victorinum Interpretern eius] ita tradita, ut gratiae summae Deo, qui est Deus ordinis, agendae sint, qui ex eo tempore, quo Philippus Melanchthon [...] de omnibus disciplinis meritus, inter gravissimas occupationes Dialecticen suam scripsit, maius omnino lumen [...].« Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg 1983 (Paradeigmata 1), S. 59-66; Peter von Moos: Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im Policraticus Johanns von Salisbury. Hildesheim 1988 (Ordo 2), S. IX-XLVII, 503-555; Helmut Zedelmaier: Bibliotheca universalis und Bibliotheca selecta. Das Problem der Ordnung des gelehrten Wissens in der Frühen Neuzeit. Köln 1992 (Archiv für Kulturgeschichte, Beihefte 33), S. 64-99.

>Historia literaria< als >historia pragmatica
dispositio< der loci communes ablöst, umfaßt allerdings — zumindest von ihrem Anspruch her - sämtliche Epochen. Da wir oben [S. 17] gesaget haben, die Historia Literaria wäre eine Recensio veritatum, opinionum, errorum et c. so siehet man daher, quod Veritas non uno habitu petficiatur. Man hatt sie gesucht, vom Anfange, man hatt sie zu suchen continuiret, man suchet sie auch noch. Veritas latet in puteo. Die Wahrheit ist schon da; Sie ist aber verwickelt. Man hat dieselbe nicht auf einmal gefunden; Sondern, hier ist ein Stück, da ist ein Stück. Man darf nur den Grotium und den Pufendorff ansehen; Die haben bald ein Stück vom Aristotele, bald vom Piatone, bald von Diesem, bald von Jenem. Da hatt Dieser einen Schnüzer, hierinnen, gemacht; In einem andern Stück, wieder ein Anderer, Leibni^ hatt mir Wohlgefallen, wenn Er, in seiner Theodicee, saget: »So lange die Welt stünde, würden immer neue Veritates und neue lnventaproducket werden.« Wenn wir, nach 1000 Jahren, wieder, in diese Welt, kommen sollten, so würden wir vielleicht observiren können, wie die Lufft-Schiffe im Schwange wären. Man wird noch Inventiones machen, daß die Leute können lauffen, wie die Hirsche. Alle neue Inventiones aber kommen, entweder, ex positione novorum Prinripiorum, oder, ex detectione novarum Concluüonum.68 Das Wirken der zeitlichen Dimension in der Historia literaria löst die Vorstellung, daß das menschliche Wissen letztlich abgeschlossen ist, nicht ab. Die Menschheit bleibt - trotz der von Gundling genannten >inventiones< - in der Gesamtheit ihrer Geschichte die topologische Tafel, auf der die Fragmente des Fortschritts topologisch angeordnet werden können. Diese Fortschrittsidee ist nicht im historistischen Sinn zu verstehen, weil die verschiedenen Epochen der Menschheit als unterschiedliche und partielle Verwirklichungen desselben einheitlichen Plans verstanden werden. Daher können sie, abgesehen von ihrer Unvollkommenheit, ständig miteinander kommunizieren. Mit anderen Worten, die Menschen ändern ihre Natur im Laufe der Geschichte nicht. Sie entwickeln sich nicht zu grundsätzlich unterschiedlichen Wesen, die einander nicht verstehen können, weil sie in verschiedenen (Lebens)welten leben — dies wäre die Idee des Historismus. Die Menschen der >historia pragmatica< hingegen bewohnen in allen Epochen ihrer Geschichte immer dieselbe unvollkommene, aber verbesserbare

Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994 (Quaestiones 5), S. 398-426. 67 Gundling, Vollständige Historie der Gelahrheit (wie Anm. 2), S. 17: »Wenn man sie [sc. die Historia Uterariä\ dahero, in ihrer Perfection, ansiehet, so gehet sie durch alle Secuta. Man nennet aber hier perfectionem, nur so weit man avanciret ist. Also wird das Wort Perfectio hier nicht Philosophice genommen; Ita nempe, ut nihil possit addi. Wir bilden uns offt ein, als wären wir ad perfectionem gekommen, und sind doch noch weit davon entfernet. Jtzo sind wir freylich weiter avanriret, als unsere Vorfahren [...]; Aber darum noch nicht zu einer philosophischen Vollkommenheit gelanget. Indem wir nun, allhier, wollen Initium et Progressum, usque adpraesentem statum zeigen, so darff man nicht bloß bey Nominalibus stehen bleiben; Sondern wir müssen auch originem veritatum et opinionum zeigen. Dieses ist die anima Historiae Literariae. Man untersuchet nemüch, wer die Opinion habe, wer, und wie er, derselben contradiäre, u. s. f.« «8 Ebd., S. 26.

>Historia literaria< als >historia pragmatica
Erfindungsgeschichte< von Georg Pasch. In seiner Schilderung der menschlichen Fortschritte geht Pasch davon aus, daß jede Erfindung etwas >Alt-Neues< ist, das zum Teil schon bekannt war und von den Modernen ausgebessert und vervollständigt wurde, so daß die Schätze der Antike auf keinen Fall zu verwerfen sind, sondern mit Verstand oder mit eklektischem Spürsinn ausgewertet werden müssen. Der Prozeß der Erfindung erscheint daher als ein Dialog zwischen Antike und Moderne über die Zeiten hinweg.69 Abgesehen von der geschichtlichen Dimension stimmt die Wissensauffassung der Historia literaria mit dem älteren Schema in wesentlichen Zügen überein. Die entscheidende Eigenschaft in dieser Hinsicht ist das Fehlen eines >wissenschaftlichen< Habitus. Ähnlich wie die ältere Dialektik bezweckt die Historia literaria keine reine >contemplatiohabitus theoreticus< und der Wissenschaft im engeren Sinn zugeschrieben wird. Die Geschichtsschreibung, sei sie Historia literaria, sei sie xHistoria pragmaticaerklären< oder zu >verstehenaufgeklärten< Griechen des klassischen Jahrhunderts veranschaulicht - die Distanz gegenüber theologisch-superstitiös infizierten Wissensformen konstitutiv für Heumanns Verständnis von Wissenschaft. Entsprechend fallen auch die Werturteile über den Zustand der Wissenschaften in den verschiedenen Epochen der Historia literaria je nach ihrer Unabhängigkeit

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Heumann, Von dem Ursprung und Wachsthum der Philosophie (wie Anm. 88), S. 290. Heumann, Conspectus 1718 (wie Anm. 6), IV, § 5, S. 27f.: »Hinc tantus ibi proventus fuit philosophorum, oratorum, poetarum, historicorum, geometrarum, astronomorum, medicorum, musicorum [...].« Es folgt eine längere Namenaufzählung.

Neukonturierung und Reflexion der Wissenschaftsgeschichte

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von theologischen Institutionen einer konfessionell festgelegten, dogmatisch gebundenen Theologie aus. Der weitere Verlauf der Historia literaria stellt sich für Heumann als Diffusion der von den Griechen entwickelten Wissenschaften dar, die sich durch die Alexanderfeldzüge im mediterranen antiken Kulturraum ausbreiteten und dann von den Römern übernommen wurden. 102 Gegenüber dem Aufblühen der Wissenschaften in der paganen Antike skizziert Heumann ein düsteres Bild vom Zustand der Wissenschaften im christlichen Mittelalter: Aufgrund der Vermengung mit religiösem Aberglauben habe ein nachhaltiger Verfall der Wissenschaften und Ausbildungsstätten eingesetzt, der im scholastischen Wissenschaftsbetrieb des Spätmittelalters und dem Streit der zahlreichen Schulen einen Tiefpunkt erreichte.103 Erst mit dem Aufkommen des Humanismus, der Opposition gegen die Scholastik und der Neubegründung der studia humanitatis, dem Entstehen des Buchdrucks und der Wiederbelebung der Realwissenschaften (Medizin, Jurisprudenz) hätten die Wissenschaften wieder eine philologisch fundierte Erneuerung erfahren. 104 Den Aufschwung der litterae veranschaulicht Heumann durch eine sich über drei Seiten erstreckende Auflistung von Namen gelehrter Männer des 16. Jahrhunderts, von denen aufgrund der großen Anzahl — wie er betont - kaum die wichtigsten genannt werden könnten. Angeführt wird diese Liste von den Reformatoren — allen voran Martin Luther, Melanchthon und Zwingli.105 Der Verlauf der nachreformatorischen Wissenschaftsgeschichte war - so die Darstellung Heumanns - geprägt durch die Schaffung eines neuen institutionellen Rahmens, durch zahlreiche Universitätsgründungen sowie durch das Entstehen der Akademien in Frankreich, England und schließlich auch in Deutschland. Mit der Abkehr vom Joch des scholastischen Aristotelismus erneuerte sich auch die Philosophie, die der Vernunft und der Erfahrung zu folgen begann und die in Descartes und Bacon ihre modernen Gründungsväter besitzt.106 Auch Polyhistorie und Philologie breiteten sich aus, und selbst die Theologie erfuhr einen neuen

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Ebd., IV, § 14, S. 33: »De barbarie per orbem Christianum medio aevo regnanti, eiusque causis.« 103 Ebd., IV, § 14, S. 34: »Ex hoc tempore deferbuerunt literarum studia non tarn ob incursiones barbararum gentium, quam ob crescentem ingeniorum pestem, superstitionem.« Ebd., IV, § 37, S. 38: »In philosophia enim coeci erant sectatores Aristotelis: in astrologia ita superstitiosi, ut nihil supra.« 104 Ebd., IV, § 23, S. 46: »Doctissimi hi viri humaniora, quae vocant, studia impensissime coluerunt, hoc est, studia linguarum, historiarum, antiquitatum, artem criticam, & quicquid philologiae nomine continetur.« Ebd., IV, § 25, S. 47: »Restituta sie eloquentia, in Italia maxime, saeculo sequenti deeimo sexto etiam sapientia redire in orbem coepit, ac diseiplinis realibus, pessime adhuc habiris, sua reddi sanitas.« 10 5 Ebd., IV, § 29, S. 49-52. 106 Ebd., IV, § 31, S. 56: »Sumente hinc incrementa studio physico, cultoribus eius solam rationem & experientiam sequentibus ducem, etiam in caeteris diseiplinis iugum Aristotelis excuti, & vera philosophandi ratio usurpari coepit, philosophis debitam sibi libertatem vindicantibus, & inveteratam barbariem strenue impugnantibus.«

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Sicco Lehmann-Brauns

Aufschwung, so daß Heumann nochmals eine mehrere Seiten umfassende Liste gelehrter Wissenschaftler des 17. Jahrhunderts präsentieren kann.107 Das Kapitel schließt mit Hinweisen auf den Ausbau der Bibliotheken und auf monastische Leistungen im Bereich der Ars oratoria und der Poesie. In diesem Kapitel gibt Heumann einen chronologisch geordneten, komprimierten Überblick über die Entwicklung der Wissenschaften von ihren Frühformen über ihre erste Blüte in der griechischen Antike bis in seine eigene Gegenwart. Dieser Überblick orientiert sich weniger an den Gehalten der Wissenschaften als vielmehr an ihrem personalen und institutionellen Bestand sowie an ihrer disziplinaren Eigenständigkeit. Die unverhohlen pejorative Sicht der mittelalterlichen Wissenschaft hat für Heumann ihren Grund in der Dominanz einer als superstitiös denunzierten Theologie, deren sektiererischer Aristotelismus eine an Erfahrung und Vernunft orientierte Wissenschaftlichkeit blockierte — eine Auffassung, die ebenfalls in die Wissenschaftshistoriographie der Aufklärung hinein fortwirken sollte.108 Mit Heumanns Skizze des Verlaufs der allgemeinen Litterärgeschichte wurde deren Umriß durch Ausschluß der vormosaischen Schriftlichkeit resp. der vorgriechischen Wissenschaften neu festgelegt und ein frühaufklärerischer antispekulativer Begriff von Wissenschaft — autonome Prinzipienreflexion mit praktischem Impetus - zum Maßstab der Wissenschaftsgeschichte erhoben. Auf diese Weise bietet Heumanns Überblicksdarstellung eine systematisch und chronologisch klar definierte Kontur der Wissenschaftsgeschichte, die sowohl der philologischen Kritik als auch dem an Erfahrung und autonomer Vernunft orientierten Wissenschaftsbegriff der Aufklärung gerecht wurde. Die im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts schnell wachsenden Forschungsergebnisse der (speziellen) Litterärgeschichten konnten in dem von Heumann gespannten Rahmen der Historia literaria universalis zunächst verankert werden. Bald schon setzte jedoch der Prozeß zunehmender Differenzierung und Emanzipation der verschiedenen Arbeitsfelder der Historia literaria ein und mit diesem die Aufgliederung in Bibliographie, Buchkunde und Biographie einerseits, in Wissenschafts-, Kultur- und Literaturgeschichte anderereits.109 Dabei waren es vor allem die Litterärgeschichten einzelner Disziplinen wie der Philosophie,110 der Medizin111 oder der Jurisprudenz,112 die den Fortschritt im Bereich Ebd., IV, § 32, S. 57-61. los Vgl. etwa Kurt Flasch: Brucker und das Mittelalter. In: Schmidt-Biggemann, Stammen (Hgg.), Johann Jacob Brucker (wie Anm. 38), S. 187-197. 109 Vgl. Gierl, Bestandsaufnahme im gelehrten Bereich (wie Anm. 2), S. 79. no Vgl Heumann, Acta Philosophorum (wie Anm. 77); Jacob Brucker: Historia critica philosophiae. Leipzig 1742-1767, ND Hildesheim 1975. 1 , 1 Vgl. Albrecht von Haller: Bibliotheca anatomica. 2 Bde. Zürich 1774-1777; ders.: Bibliotheca chirurgica. 2 Bde. Bern 1774f.; ders.: Bibliotheca medicinae practicae. 4 Bde. Bern 1776-1779. 112 Vgl. Johann Stephan Pütter: Litteratur des deutschen Staatsrechts. Göttingen 1776. 107

Neukonturierung und Reflexion der Wissenschaftsgeschichte

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der Historia literaria dokumentierten, alsbald jedoch unter dem Titel der (Fach-) Enzyklopädien firmierten.113 Die allgemeine Litterärgeschichte hingegen verlor in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nach und nach ihren Anspruch, innovatives Forschungsprogramm zu sein. In der akademischen Praxis wurde sie freilich weiterhin untenicht, wenn auch zunehmend von jungen Extraordinarii.114 Die Geschichtsphilosophie behandelte jetzt die transhistorischen, den Bereich schriftlicher Quellen übersteigenden Anfangsszenarien und Verlaufsformen der Universalgeschichte, die während der Phase der historisch-kritischen Destruktion der traditionellen Geschichtskonzeptionen innerhalb der Historia literaria universalis richtungsweisend neu bewertet worden waren. Dem litterärgeschichtlichen Lehrbuch blieb vornehmlich die Verzeichnung der immer umfangreicher werdenden Literatur überlassen und drohte so seine für Anfänger orientierende Funktion einzubüßen. Aufgrund der wachsenden Materialmassen zerfiel schließlich in den letzten Ausgaben 1791 und 1797 der ursprünglich als übersichtliches Lehrbuch konzipierte Conspectus in zwei jeweils beinahe 500 Seiten starke Teile, die getrennt veröffentlicht werden mußten.115 Im ersten Teil wird der apparatus instrumental vorgestellt und in vier Kapiteln »De scriptoribus historiae literariae uniuersalis«, »De notitia auctorum«, »De Notitia librorum« sowie »De Notitia Institutorum literariorum« gehandelt. Diese Kapitel zum instrumenteilen Apparat der Historia literaria entsprechen noch der ursprünglichen Gliederung des Conspectus. Anders hingegen der zweite Teil, den der Heumann-Herausgeber Jeremias Nikolaus Eyring erst sechs Jahre später publizieren konnte. Hier tritt das sich bereits in der Erstauflage des Conspectus andeutende historisch-temporale Verständnis des litterärgeschichtlichen Stoffes klar hervor: Das entscheidende Ordnungskriterium, das die Litterärgeschichte einigermaßen überschaubar machen sollte, ist nun die chronologische Abfolge. In der Ausgabe von 1718 hatte die Darstellung der Entstehung und des Fortgangs der Wissenschaften nur einen kleinen, wenn auch zentralen Teil des litterärgeschichtlichen Lehrbuchs ausgemacht. 1797 hingegen ist der komplette zweite Teil der historischen Abfolge der Wissenschaften gewidmet. Dabei teilt Eyring die Litterärgeschichte in insgesamt vier Perioden ein, die dem bis heute geläufigen, von Christoph Cellarius vorgestellten Epochenschema Antike - Mittelalter - Neuzeit entspricht:116 Die erste Periode umfaßt die Zeit vor der Entwicklung der Schrift und wird entsprechend knapp behandelt. In der zweiten Periode wird die gesamte nachmosaische antike 1,3

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Vgl. Ulrich Dierse: Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begriffs. Bonn 1977 (Archiv für Begriffsgeschichte, Supplement 2), S. 74ff. Vgl. Gierl, Bestandsaufnahme im gelehrten Bereich (wie Anm. 2), S. 79. Christoph August Heumann: Conspectus reipublicae literariae [...]. Editio octava, quae ipsa est novae recognitionis prima procurata a Jeremia Nicoiao Eyring. 2 Teile. Hannover 1791,1797. Christoph Cellarius: Historia universalis, in antiquam et medii aevi ac novam divisa. Jena 1696.

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Sicco Lehmann-Brauns

Wissenschaft bis in die Spätantike verfolgt. Die dritte Periode schließt das Mittelalter zu einer wissenschaftsgeschichtlichen Einheit zusammen, und die vierte •widmet sich schließlich der neuzeitlichen >Instauraöo literarum< und reicht bis in die Gegenwart des Herausgebers.117 Der Schwerpunkt der historischen Darstellung liegt wie schon in der Erstauflage auf der neueren Wissenschaftsgeschichte seit der Renaissance. Innerhalb der einzelnen Epochen wird jetzt nach ethnogeographischen Einteilungskriterien und nach Jahrhunderten unterteilt. Heumanns Aussagen zu den zentralen Themenbereichen Ursprung der Schrift und Anfang und Verlauf der Litterärgeschichte wurden im ersten Teil des Lehrbuchs (1791) nahezu wortwörtlich aus der Erstausgabe übernommen, allerdings mit mehr Literaturhinweisen unterfuttert.118 Die Behandlung des Themas bleibt innerhalb des apparatus instrumentalis< in dem von Heumann 1718 vorgegebenen Rahmen. Innerhalb der historischen Darstellung des zweiten Teils hingegen verläßt Eyring die Heumannsche Lehrbuchvorlage und behandelt die Frage nach dem Ursprung der Schrift im Kontext der Kulturentstehungstheorien der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.119 Dieser zweite, chronologisch angelegte Teil des Lehrbuchs ist das Produkt der von Heumann angestoßenen temporalen Konzeption der Litterärgeschichte, die nun vollends die Gliederung des ursprünglichen Lehrbuchs gesprengt hatte: Im Hervortreten der >chronologica description die ehemals nur ein Kapitel ausgemacht hatte und die jetzt alle anderen Kapitel überlagerte, dokumentiert sich der nunmehr erzielte Vorrang eines zeitlichen Verständnisses der Historia literaria.

Conspectus, hg. v o n Eyring (wie A n m . 1 1 5 ) , Teil 2, P r o o e m i u m § 3, S. 10: »Iam itaque ingens ingrediendum iter, quo propositum est, artium & disciplinarum historiam a prima origine per tot saecula & inter tot gentes, Uteris cultas, persequi. Tarn longa rerum temporumque series, ne ipsa continuatione animum fatiget obtundatque vel confundat, in certa spatia est dividenda & per partes explicanda.« "8 Ebd., Teil 1, Cap. 3, § 86, S. 2 5 9 f f . i " Ebd., Teil 2, Cap. 1, §§ 4-6, S. 1 4 - 2 2 . 117

HANSPETER M A R T I

Interkonfes sioneller Wis senstransfer in der Zeit der Spätaufklärung Zur Aufnahme der Historia literaria in deutschsprachigen katholischen Ländern

Noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts herrschte im Alten Reich das Nebeneinander von drei christlichen Bekenntnisrichtungen (Katholiken, Lutheranern, Reformierten) vor, die eifrig und ängstlich bemüht waren, ihre eigene Glaubenstradition rein zu halten, sie vor fremden Einflüssen zu schützen und sich von den anderen christlichen Kirchen und deren Anhängern abzugrenzen. Andererseits bildeten sich seit der Reformation, vor allem in gemischtkonfessionellen Regionen und in konfessionellen Randgebieten, oft nolens volens, Formen des interkonfessionellen Umgangs und Zusammenlebens heraus. Hier und dort kam es - hauptsächlich in den Kreisen der gelehrten und höfischen Eliten - auch über größere räumliche Distanzen zu persönlichen Kontakten über die konfessionellen Grenzen hinweg, und es gab unterschiedliche Bestrebungen, die Barrieren des Konfessionalismus zu überwinden. So arbeiteten zeitweise simultan, aber von diametral verschiedenen Positionen her der mystische Spiritualismus, der die natürliche Vernunft völlig entmachten, und der aufklärerische Rationalismus, der sie in ihre vollen Rechte einsetzen wollte, auf dasselbe Ziel hin - die Aufhebung konfessionalistischer Denkmuster. Anders als im radikalen Flügel der Aufklärung in Frankreich sprachen sich die deutschen Aufklärer nicht grundsätzlich gegen Religion, Theologie und Klerus aus. Unter ihrem Einfluß und in der Auseinandersetzung mit dem gemeinsamen Gegner, den radikal religionskritischen Aufklärern, gewann der interkonfessionelle Austausch von Wissen und Erfahrungen für die verschiedenen konfessionellen Lebenswelten grundlegende Bedeutung. Allerdings hatten die gemäßigten Aufklärer nicht nur gegen den bedrohlichen Atheismus der so genannten starken Geister, sondern auch gegen die Abschottungstendenzen des Konfessionalismus zu kämpfen, der sich nach wie vor gut zu behaupten wußte. Noch im Bericht über die Reise, die Friedrich Nicolai 1781 nach Süddeutschland führte, wird die Erfahrung konfessioneller Divergenz anläßlich der Schilderung seines Augsburger Aufenthalts anschaulich beschrieben: Wenn ein Protestant, der sich einbildet, es sey viel Aufklärung in die Welt gekommen, Verlags=Verzeichnisse dieser augsburgischen katholischen Buchhändler zu Gesichte bekommt; findet er Namen, die er sonst nimmermehr gehört hat: P. Houdry, P. Schmier, P. Fett, P. Schmalzgrueber, P. Katzenberger, P. Babenstuber,

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Hanspeter Marti P. Cabalzar, P. Berghauer, P. Fidatus de Cassia, P. Banholzer, P. Panger, P. Kobold, P. Knellinger, P. Pisreiter, P. Ulenburg, P. Maschat, P. Bayrhamer, P. Prambhofer, P. Habisreutinger, P. Bulffer, P. Pfalzer, P. Pettschacher u.s.w. Er wird gar nicht glauben, wenn er diese nomina inaudita höret, daß diese Leute Schriftsteller gewesen seyn könnten, und doch findet er hier, daß sie dicke Bände in Fol. und 4. geschrieben haben. Wenn er dieß lieset, muß er glauben, er sey in einer ganz andern Welt.1

Ähnlich wie Nicolai über den schleppenden Gang der Aufklärung in den deutschen katholischen Ländern klagte, beschrieben nicht nur protestantische Zeitgenossen das Fortschrittsgefalle zwischen den beiden Konfessionen und die Rückständigkeit der katholischen Territorien in der staatlichen Organisation, in den Bereichen von Wirtschaft, Schule, medizinischer Versorgung, von Wissenschaft und Kultur schlechthin.2 Ausgehend von der Prämisse des Rückstands in allen Lebensbereichen, der damals von den katholischen Ländern aufzuholen war, handelt die gegenwärtige kulturhistorische Forschung das Problem der konfessionellen Beziehungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter dem Etikett >kulturelle Ausgleichsprozesse< ab.3 Nicht selten wird der herkömmliche Fortschrittstopos konfessionell vorbelasteten Ideologien entlehnt, die sich über die Zeit der Aufklärung hinaus bis in unsere Tage zäh am Leben erhalten, ohne daß man sich über ihre konfessionalistische Herkunft Rechenschaft gibt. Im deutschen Sprachbereich kann man von einer bis fast zur Gegenwart reichenden Protestantismuslastigkeit verschiedener Forschungszweige der historischen Wissenschaften ausgehen, die sich sogar, wie zum Beispiel in der Germanistik, in der Zusammensetzung des Textkanons äußert.4 Die Geschichte der Litterärhistorie, die sich gegenwärtig in einem Aufschwung befindet, ist ein passendes Exempel für die bisher einseitig konfessionelle Ausrichtung geisteswissenschaftlicher Forschung in einer Zeit säkularer Wissenschafts-Geschichtsschreibung.

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Friedrich Nicolai: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahre 1781. Bd. 8. Berlin 1787 (Faksimile-Druck Hüdesheim 1994), S. 50f. Dazu Harm Klueting: »Der Genius der Zeit hat sie unbrauchbar gemacht«. Zum Thema Katholische Aufklärung - Oder: Aufklärung und Katholizismus im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Eine Einleitung. In: Harm Klueting, in Zusammenarbeit mit Norbert Hinske und Karl Hengst (Hgg.), Katholische Aufklärung - Aufklärung im katholischen Deutschland. Hamburg 1993 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 15), S. 1-35. Vgl. Hanspeter Marti: Kulturelle Ausgleichsprozesse in der Schweiz 1750-1840. Das Beispiel der Kapuzinerbibliothek Luzern. In: Dieter Breuer (Hg.), Die Aufklärung in den deutschsprachigen katholischen Ländern 1750-1800. Kulturelle Ausgleichsprozesse im Spiegel von Bibliotheken in Luzern, Eichstätt und Klosterneuburg. Paderborn 2001, S. 49-195, wo dieser Themenkomplex, wie auch in der Einleitung des Herausgebers (S. 7—48), an verschiedenen Stellen aufgegriffen wird. Trotz einiger zwischenzeitlicher Veränderungen immer noch zutreffend für die Situation in der heutigen Germanistik ist Dieter Breuer: Deutsche Nationalliteratur und katholischer Kulturkreis. In: Klaus Garber (Hg.), Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Akten des 1. Internationalen Osnabrücker Kongresses zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit. Tübingen 1989 (Frühe Neuzeit 1), S. 701—715.

Interkonfessioneller Wissenstransfer

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Mit dem vorliegenden Beitrag soll nicht der Kulturkampf zwischen den Konfessionen erneuert und fortgesetzt, sondern nur auf einen vernachlässigten Forschungsgegenstand hingewiesen werden. Es geht um die interkonfessionelle Wirkung der protestantischen Litterärhistorie und um die Begründung einer eigenen litterärgeschichtlichen Tradition in den katholischen deutschen Ländern, die in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts fallt.5

I. Unsere Tour d'horizon über heute vergessene katholische Litterärhistoriker eröffnet im deutschen Sprachbereich der Jesuit Franz Xaver Mannhart, dessen Vita die typischen Merkmale von Lebensläufen von Angehörigen der Societas Jesu, insbesondere den häufigen Wechsel der Wirkungsstätten, aufweist.6 Am 26. Oktober 1696 in Innsbruck geboren, trat er 1712 in den Jesuitenorden ein. Nach dem dreijährigen Philosophiestudium in Ingolstadt (1715-1718), Magisterialjahren u.a. in Freiburg i.Br. folgte von 1722 bis 1726, ebenfalls in Ingolstadt, das Studium der Theologie. Nach einigen Jahren Unterrichtstätigkeit an verschiedenen Jesuitenkollegien war er Philosophieprofessor in Innsbruck (1731-1734), Professor der Mathematik und der Ethik in Dillingen (1734—1735), nach der Promotion in Theologie von 1737 bis 1741 an verschiedenen Orten Professor der Kasuistik. Dann lehrte er zehn Jahre lang in Innsbruck verschiedene theologische Fächer. Von 1752 bis 1756 war er Rektor des Jesuitenkollegs in Konstanz, von 1756 bis 1759 wirkte er bei der römischen Ordenskurie als Bücherzensor für die Deutsche Assistenz. 1759-1761 und 1762-1772 hatte er das Amt des Kirchenpräfekten in Innsbruck inne. Am 5. Dezember 1773 starb er in Hall in Tirol. Ungefähr zehn Jahre vor der Aufhebung des Jesuitenordens erschien von Mannhart eine >Hausbibliothek< für Gelehrte in zwölf handlichen Oktavbändchen mit insgesamt rund 5000 Seiten Text in lateinischer Sprache.7 Dieses Werk sollte, trotz des dargebotenen umfangreichen Stoffs, nicht zu voluminös und für weniger Begüterte leicht erschwinglich sein.8 Auch mit der Aufteilung des ver5

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Martin Gierl: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts fur Geschichte 129), der eine frühere Phase der Historia literaria behandelt, stellt fest, daß die Katholiken die Protestanten um die Leistungen in dieser Disziplin beneidet hätten (S. 542). Vollständigste Biographie bei Ferdinand Strobel SJ: Der Regularklerus. Die Gesellschaft Jesu in der Schweiz. Bern 1976 (Helvetia sacra; Abteilung VII), S. 276f. Franz Xaver Mannhart SJ: Bibliotheca domesüca bonarum artium ac eruditionis studiosorum usui instructa et aperta. Opus seculi nostri studiis ac moribus accommodatum. 12 Bde. Augsburg 1762. Im folgenden wird nur aus Band I (Liber I: De artibus et scientiis universe; Liber II: De grammatica seu lingua latina) und Band IV (Liber VII: De re diplomatica; Liber VIII: De philosophia) zitiert, und zwar mit Band-, Buch- und Seitenzahl. Mannhart I (wie Anm. 7), Liber I, Prooemium, S. 2.

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mittelten Wissens in kleine Portionen sowie mit den aus kur2en Sätzen bestehenden Registern entsprach der Verfasser verschiedenen Leseweisen und Informationsbedürfnissen. Seine Bibliotheca domestica erfüllte für das anvisierte lateinkundige gelehrte Publikum sowohl die Funktion eines zusammenhängender Lektüre zugänglichen Sachbuchs als auch die eines punktuell konsultierbaren Nachschlagewerks. Ohne daß genaue Auflagenzahlen bekannt sind, muß die Bibliotheca namentlich in den deutschsprachigen katholischen Ländern ein Verkaufserfolg gewesen sein, was die heute noch in den historischen Beständen einschlägiger geistlicher Bibliotheken vorhandenen zahlreichen Exemplare beweisen. Der günstige Preis und das Kleinformat haben den Absatz des Standardwerkes auch bei den das Armutsideal befolgenden und keine stabilitas loci kennenden Bettelorden, den Kapuzinern und Franziskanern, gefördert. 9 Die weite Verbreitung läßt auf den großen Einfluß schließen, der von Mannharts Bibliotheca auf das Zielpublikum ausging. In der Anordnung des Stoffs zeigt sie keine streng systematische Gliederung der Sachgebiete. Die Aufreihung beginnt mit einem allgemeinen Grundriß der Geschichte der Wissenschaften und Künste, setzt dann einen ersten Schwerpunkt bei Grammatik, Poetik und Rhetorik, um mit den Geschichtsdisziplinen, der Münzkunde sowie der auffallend ausführlich behandelten Diplomatik fortzufahren und, im Anschluß daran, die Natur- und Moralphilosophie sowie die Mathematik und Astronomie zu behandeln. Dann erst kommen die höheren Fakultätswissenschaften Medizin, Jurisprudenz und Theologie an die Reihe, die schließlich von der in epischer Breite vorgestellten Philologie abgelöst werden, welche die eigentliche >Critica< sowie die so genannten Antiquitäten einschließt, Einzelkenntnisse über alle Bereiche der hebräischen, griechischen, römischen und germanischen Antike. 10 Die im Verbund mit der Philologie präsentierten >res antiquariae< unterstreichen die ohnehin feststellbare Dominanz der Geschichte, deren Bedeutung auch durch die historischen Abschnitte zu den übrigen Sachgebieten zur Geltung gebracht wird. So drängt die Historisierung aller Gegenstandsbereiche den Systemcharakter der Wissensordnung in den Hintergrund. Mannharts Bibliotheca kann daher im emphatischen Sinn als eine lÄtttiäxgeschicbte, nämlich als eine Summe von Geschichten wissenschaftlicher Einzeldisziplinen

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Für diesen Aufsatz wurde das Exemplar der Kapuzinerbibliothek Solothurn verwendet, das den Stempel von P. Andreas Disteli (1775-1828) trägt, einem Oltener Kapuziner, der 1816-1819 sowie 1822-1825 Guardian des Klosters Solothurn war. Außer den in den Bänden (tomuli) I und IV behandelten Disziplinen (siehe Anm. 7) verteilt sich der Inhalt der restlichen Sachgebiete wie folgt: Tom. II: Liber III: De poetica; Liber IV: De rhetorica seu eloquentia sacra et profana. - Tom. III: Liber V: De historice; Liber VI: De re numaria. - Tom. V: Liber IX: De mathematicis disciplinis. - Tom. VI: Liber X: De medicina. - Tom. VII: Liber XI: De jurisprudent sacra et profana. - Tom. VIII: Liber XII: De theologia. - Tom. IX: Liber XII: De theologia. - Tom. X: Liber XIII: De arte critica. - Tom. XI: Liber XIV: De antiquitatibus Hebraeorum, Graecorum, Romanorum et Germanorum. - Tom. XII: Index generalis, peculiaris, et singularis totius operis.

Interkonfessioneller Wissenstransfer

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mit einer allgemeinen Gelehrtengeschichte als vorweggenommener Übersicht betrachtet werden, ohne daß der Terminus Historia literaria explizit vorkommt. Er wurde wegen seiner protestantischen Herkunft wohl bewußt vermieden. Die Geschichte der Wissenschaften wird im allgemeinen Einleitungsteil auf der Grundlage des biblischen Schöpfungsberichts und weiterer mosaischer Zeugnisse als Wanderbewegung beschrieben. Aus den Hochkulturen des Vorderen Orients wurde das Wissen über Griechenland und Rom in den Mittelmeerraum und von Italien nach Zentraleuropa gebracht. Hier fand es mit der Blüte der studia humanitatis an den Universitäten, vor allem aber an den vom Jesuitenorden gegründeten Hohen Schulen eine Heimstätte.11 Wie die auf Aristoteles rekurrierende mittelalterliche Scholastik nahm - bezeichnend für die Sicht Mannharts - auch der christliche Humanismus, durch die Päpste gefördert, in Rom seinen Ausgang.12 In Symbiose mit der aristotelischen Schulphilosophie konnte er sich in der Folgezeit gegen die als >neoterici< und >novatores< angeprangerten Reformatoren wie auch, später, gegen die ebenso verfemten Entdecker neuer philosophischer Systeme, unter ihnen Gassendi, Descartes, Leibniz und Christian Wolff, behaupten.13 Die Geschichte der Wissenschaften und Künste übernimmt für Mannhart denn auch die Aufgabe, das Wahre, Bewährte, von der offiziellen kirchlichen Lehrmeinung Gedeckte und daher Bleibende, vom Falschen und deshalb Ephemeren klar zu unterscheiden und den permanenten Sieg der Wahrheit über das Scheinwissen in der entsprechenden Ereignisfolge nachzuerzählen.14 Diese Geschichtsschreibung verfolgt, auch wo sie profanes Wissen tradiert, letztlich einen religiösen Zweck.15 Sie nimmt die christlich-humanistische Maxi-

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Mannhart 1 (wie Anm. 7), Liber I, S. 33-35. Ebd., S. 97, 188f.: peregrinatio scientiarum; Unterscheidung von zehn Epochen vom Anfang der Welt bis zum 18. Jahrhundert; Jesuitenschulen; ebd., S. 106-113: Liste der Universitäten mit den Gründungsdaten. Vgl. ebd., S. 44, zur biblizistischen Ausrichtung und zu Moses, auch Mannhart IV, Uber VIII, S. 24. Ebd. I, Liber I, S. 91-96. Ebd. IV, Liber VIII, S. 257 (Gassendi, Descartes, Wolff als neoterici), S. 274-279 (philosophia neoterica; nova philosophiae systemata). Bezeichnend ist die analoge Bewertung von Reformatoren und frühneuzeitlichen philosophischen novatores: »[...] ulümis temporibus in earn insurrexere Lutherus, Calvinus, Zwinglius &c. e quorum nido tot aliae prodierunt sectae, doctrina quidem dispares, sed odio in Catholicam fidem pares. Hi omnes novam sibi Ecclesiam fabricare, nova dogmata spargere coeperunt. Ita etiam Philosophiam Aristotelicam vix non omni seculo quidam Novatores acriter aggressi sunt, aliamque ab ea condere adlaborarunt: postremis praesertim seculis, ut uberius dictum est, Cartesius, Gassendus, Atomistae, Wolfius &c.« (ebd., S. 286). Zur Ablehnung der Leibnizschen harmonia praestabilita ebd., S. 168. Vgl. ebd. IV, Liber VIII, S. 221 f.: Altbewährtes gründliches Wissen gegen zeitgenössisches oberflächliches Scheinwissen; ebd., S. 287f., zur Durchsetzungskraft des Wahren. Vgl. ebd. I, Liber I, S. 181, wo von der Profanierung des Wissens die Rede ist: »Quippe animus a studiis profanis lassus torporem, & ut ita dicam, frigus periculosum contrahit, quo divinarum rerum sensus paulatim exünguitur [...]«. Für die Entsakralisie-

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me der pia eruditio auf, stellt diese aber in den Dienst einseitiger konfessioneller Propaganda. So erhält bezeichnenderweise das humanistische Bienengleichnis, dem auch das Titelkupfer des ersten Bandes der Bibliotheca mit einem passenden Motto seine Referenz erweist,16 an prominenter Stelle, nämlich im allgemeinen Einleitungsteil, eine konfessionalistische Note: Die Bienen sammeln nicht nur Honig, sie setzen zu ihrer Verteidigung auch ihren Stachel ein.17 Dieser versinnbildlicht für Mannhart ein wirksames Instrument im konfessionellen Kampf um das Wahre, aber auch die kompromißlose Bereitschaft, sich der Wahrheit zu opfern. Die Ausbildung des hierfür unentbehrlichen Unterscheidungsvermögens, einer intellektuellen Kompetenz, die Mannhart >gustuspraeiudicata opinioKampfidee< ist in Norbert Hinskes Typologie »Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung« geprägt worden. In: Die Philosophie der deutschen Aufklärung. Texte und Darstellung von Raffaele Ciafardone. Deutsche Bearbeitung von Norbert Hinske und Rainer Specht. Stuttgart 1990, S. 407-458, hier S. 426-434: »Die vermutlich wichtigste Kampfidee der deutschen Aufklärung aber ist die des Vorurteils. Aufklärung ist Kampf gegen Vorurteile [...]« (ebd., S. 427). Mannhart I (wie Anm. 7), Liber I, S. 250. Ebd. IV, Liber VIII, S. 276: »Vix ipsa natura melius se potuisset nobis explicate, quam summi hi Viri doctissimis lucubraüonibus, & solertissimis experimentis eam ante oculos posuerunt.« - Vgl. ebd., S. 44f. (Erfolge der Experimentalphysik). Ebd., S. 275f., wo zahlreiche nichtkatholische Naturwissenschafder und Erfinder technischer Instrumente aufgezählt werden, als Pioniere (neben Galileo Galilei) Francis Bacon und Robert Boyle. Ebd. I, Liber I, S. 169 (nobile institutum). Vgl. ebd., S. 170: »[...] nihil ad disciplinas magis magisque perficiendas, earumque arcana detegenda utilius, quum nonnisi homines de literatura bene meriti in illis [sc. academiis] consocientur, doctas lucubrationes suas inter se communicent, selectissimas de variis scientiis quaestiones magno studio & accuratione pertractent, easque postmodum sub Ephemeridum, vel Actorum, vel alio sub titulo orbi literato communes faciant.«

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empirischen Naturwissenschaften ansiedelt, scheint die Voraussetzung für eine Aufweichung der von ihm errichteten konfessionellen Abwehrfront geschaffen zu sein. Sein Begriff des Neuen umfaßt nämlich neben dem angeblichen Scheinwissen, das die alte Wahrheit gefährde, auch die Erfindungen und den Fortschritt der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, die allgemeinen Nutzen stiften.29 Aus konfessionell-katholischer Warte hinterläßt die Erfindung des Buchdrucks freilich einen zwiespältigen Eindruck, da sie auch unnützes, moralisch anrüchiges und häretisches Schrifttum verbreiten helfe.30 >Gemeiner Nutzen< bedeutet hier, noch einmal, allem voran Nutzen im Hinblick auf die Selbstbehauptung der eigenen Konfession. Wenn es auch müßig erscheinen mag, alle Disziplinen in der Bibliotheca der Reihe nach auf den Gegensatz von gutem und schlechtem Neuen sowie auf das Bild der interkonfessionellen Beziehungen hin zu befragen, so ist doch zu bedauern, daß in diesem Rahmen die aufwendige Probe auf alle artes und scientiae unterbleiben muß. Der Grundtenor der Argumentation bleibt tatsächlich, wie leicht nachweisbar, derselbe, ihre Perspektive ist aber von Fall zu Fall eine andere, was zu Differenzierungen zwingt. Diese sollen am Beispiel der Grammatik, einer Kerndisziplin der studia humanitatis, und der Philosophie vorgenommen werden, zu der Mannhart die Logik, die Metaphysik, die Physik und die Moralphilosophie zählt.31 Während der Unterricht in der Muttersprache und den modernen Fremdsprachen nur ganz beiläufig erwähnt und keines pädagogischen Interesses gewürdigt wird,32 nehmen das Erlernen des Lateins und die Ausbildung eines guten Stils im getreuen Anschluß an die humanistische Trias von lectio, imitatio und exercitatio fast das ganze Grammatikkapitel ein.33 Der Kanon der antiken Musterautoren wird nicht nach dem starren Einteilungsschema der Metallskala,34 sondern nach der auf die Epochen der römischen Literatur übertragenen Abfolge der menschlichen Lebensalter aufgebaut,35 dem Ciceronianismus eine Absage erteilt,36 statt dessen die von Literaturgattung und Gegenstand abhängige Wahl des antiken Vorbilds, die eklektische imitatio, empfohlen.37 Damit das Latein 29

μ 32

33 3recentiores< genannt, als Vorläufer der frühneuzeitlichen philosophischen Eklektik gelten.51 Auch Mannharts Liste der eigentlichen Eklektiker ist aus katholisch-konfessioneller Sicht unverdächtig, wenngleich sie, wie schon angedeutet, auch einige Protestanten aufnahm. Sie umfaßt die folgenden, zum Teil heute kaum mehr geläufigen Namen und wird, was nicht erstaunt, von Gelehrten beherrscht, die auch oder hauptsächlich naturwissenschaftlich tätig waren: Francis Bacon, Robert Boyle, Johann Christoph Sturm, Edme Pourchot, Willem Jacob s'Gravesande, Leibniz, Pieter van Musschenbroek, Jean-Baptiste du Hamel, Jean48

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Mannhart IV (wie Anm. 7), Liber VIII, S. 288f.: »Ipse Aristoteles, si viveret, multa emendaret in libris suis physicis, si quae seculo suo ignota, nostro nunc satis perspecta sunt, intueretur.« Mit dieser Aussage wird der zeitunabhängig vorbildliche Charakter des Griechen, dessen intellektuelle und ethische Kompetenz, auch dort unterstrichen, wo seine Erkenntnisse überholt sind. Ebd., S. 288. Auch Michael Albrecht: Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie· und Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994 (Quaesöones 5), erwähnt in dem Abschnitt »Elf katholische Eklektiker (1749-1778)« (S. 582-590) Mannhart nicht. Mit Recht weist der Verfasser aber auf die (übrigens heute noch immer nicht geschlossene) Forschungslücke hin und betont (ebd., S. 585), daß die »[...] zögernde Öffnung für die moderne Wissenschaft [...] vielleicht der entschiedenen Berufung auf das alte und zugleich moderne Schlagwort Eklektik (bedurfte).« Mannhart IV (wie Anm. 7), Liber VIII, S. 271; auf die mittelalterliche Philosophie, die sich in drei Sekten aufgespaltet hatte (Thomisten, Scotisten, Ockhamisten), folgten in nachreformatorischer Zeit die recentiores, die zwar, wie die späteren Eklektiker, auf keines Lehrers Worte schworen, aber den Lehren des Aristoteles und Thomas von Aquins folgten: »Hoc nomine designarunt praecipue Societatis Jesu homines, qui in varias & clarissimas Europae Academias, earumque cathedras recepti saniora Aristotelis placita, & Doctoris Angelici dogmata ut plurimum secuti sunt cum magno Peripati splendore ac incremento.«

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Antoine Nollet, weitere nicht namentlich erwähnte katholische Ordensleute, dann Marin Mersenne, Emanuel Maignan, Edoardo Corsini, der Franziskaner Fortunatas von Brescia, unter anderen die Jesuiten Honore Fabri, Athanasius Kircher, Kaspar Schott, Francesco Lana, Giovanni Battista Tolomei, Noel Regnault, Joseph Falck, Joseph Mangold, Berthold Hauser, Joseph Kell, Joseph Zanchi und Karl Scherffer.52 Die Entscheidung, wer zu den Eklektikern zählt und was das Gute ist, das diese behalten sollen, überläßt die Eklektik der Willkür ihrer Anhänger. Die Bezeichnung >philosophia eclectica< steht bei Mannhart für die Integration der empirisch vorgehenden Naturwissenschafder in die Gemeinschaft der Gelehrten, die im Hinblick auf die eigene Konfession von vornherein anerkannt sind. Sie erlaubt aber auch, das von den empirischen Naturwissenschaften fortlaufend entdeckte, als nützlich betrachtete Neue in den alten Rahmen der aristotelisch-thomistischen Scholastik einzupassen und damit soweit wie nur möglich Fortschritt mit Stillstand zu verbinden, das traditionelle Fundament des Wissenschaftsgebäudes möglichst unverändert zu erhalten.53 Die Aufnahme in die Galerie der Eklektiker braucht, wie das Beispiel von Leibniz beweist, keineswegs allgemeine, sondern nur naturwissenschaftlich-fachspezifische Anerkennung zu bedeuten.54 Von der Freiheit der Auswahl philosophischer Autoritäten macht die Bib/iotheca ausgiebig Gebrauch, indem sie Christian Wolff nicht zu den Eklektikern und daher auch nicht zu den Ihren rechnet.55 Der Wolffianismus untergrabe mit der durchgängig geforderten Mathematisierung der Wissenschaften die Prämissen der scholastischen Methode, die auf die Wahrscheinlichkeitserkenntnis angelegt sei und auf die Disputation als geeignetes Mittel, diese zu erlangen, setze.56 52

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Ebd., S. 280. Auch die gelehrten Gesellschaften (ebd.) vertreten für Mannhaft die eklektische Denkrichtung. Ebd., S. 46: »Quare sanior Philosophorum pars Eclecticam hodie Philosophiam profitetur, meliora ubique dogmata seligentem, & unique suum tum experimentis tum rationi tribuentem, servata methodo Aristotelica, qua ad veritatem indagandam stabiliendamque sane melior hucusque inventa non est.« Die Eklektik übernimmt im Verständnis Mannharts angesichts des Innovationsdrucks, der vom zeitgemäßen Boom der Neuerungen ausgeht, ausdrücklich die Aufgabe der traditionskonformen Auswahl: »Tot enim nova systemata, novae opiniones, novae methodi hisce temporibus in conspectum prodeunt, & aures circumsonant, ut sapienti plane consilio opus sit, eligere ex his ea, quae optima, & verosimillima sunt.« (ebd., S. 282). Vgl. Anm. 13 (Kritik an der haimonia praestabilita). Sein Ruf als strenger systematischer Denker hinderte andere Autoren nicht daran, ihn zu den Eklektikern zu zählen (siehe dazu Albrecht, Eklektik, wie Anm. 50, Personenregister S. 763, insbesondere S. 501, 506, 508). Noch heute ist umstritten, ob Wolff ein Eklektiker war. So lehnt Albrecht dies ab (§ 43, S. 526-538, »Wolff hat Eklektik nicht nötig«, insbesondere S. 526), während es Bruno Bianco: Wolffianismus und katholische Aufklärung. Storchenaus Lehre vom Menschen. In: Katholische Aufklärung (wie Anm. 2), S. 67-103, hier S. 102, befürwortet. Mannhart IV (wie Anm. 7), Liber VIII, S. 230, 233 (Hochschätzung der Disputation); S. 248-250 (Gegenüberstellung von scholastischer und mathematischer Methode, Qualität der Wahrscheinlichkeitserkenntnis); S. 259 (Überlegenheit der scholastischen

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Außerdem verliere man sich bei der Lektüre des Wölfischen Werks in einem Verweissystem, das jede Orientierung im Gewirr der über viele Bände verteilten begrifflichen Bestimmungen unmöglich mache.57 Es geht Mannhart aber nicht nur um die Kritik an den Inhalten der Wölfischen Philosophie und an der seiner Ansicht nach Verwirrung stiftenden Form, in der sie präsentiert werden. Mit seinen Attacken will er Wolff als Protestanten treffen. Die jesuitische Eigentradition soll vor der Infiltration durch eine Autorität geschützt werden, als welche der protestantische Aufklärer damals unter Katholiken in weiten Kreisen, auch unter Jesuiten, galt.58 Die Ausgrenzung Wolffs aus dem Kanon der katholischen Schulautoren erfolgte unter anderem im Rückgriff auf die Wolffkritik des Reformierten Jean-Pierre de Crousaz,59 was noch einmal die allgemeine Tendenz der Bibliotheca unterstreicht, Empfehlungen von Werken konfessioneller Gegner auf das Minimum zu beschränken und sie - mit Ausnahme der Naturwissenschaften — nur zuzulassen, wenn sie den eigenen konfessionellen Interessen entgegenkamen. Daher erstaunt es nicht, daß die Bibliotheca die protestantischen Litterärhistoriker fast ganz überging. Mannhart schuf eine genuin katholische Historia literaria und versuchte so eine konfessionelle Gegenposition zur protestantischen Gelehrsamkeitsgeschichte aufzubauen.

II. Diesem auf Abkapselung bedachten Typus katholischer Litterärgeschichte, dem weitere kirchlich-apologetische Publikationen Mannharts entsprechen,60 stehen die Werke des Wiener Jesuiten Michael Denis diametral entgegen, in denen er mit Nachdruck für eine interkonfessionelle Horizonterweiterung eintrat. Denis wurde am 27. September 1729 im heute oberösterreichischen Schärding geboren und wuchs in Schloß Haidenburg bei Vilshofen in Niederbayern auf, wo sein Vater das Amt des Prokurators versah.61 Noch während des Besuchs

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Methode). Auch unter den Protestanten gab es Autoren, welche die mathematischen Logiker nicht in den philosophischen Kanon aufnahmen (siehe Albrecht, Eklektik, wie Anm. 50, S. 499). Mannhart IV (wie Anm. 7), Uber VIII, S. 252f. Zur Wolffrezeption in katholischen Ländern exemplarisch Bianco, Wolffianismus und katholische Aufklärung (wie Anm. 55). Mannhart IV (wie Anm. 7), Uber VIII, S. 253.

Unter anderem zählen dazu: Dissertationes theologicae de indole, ortu ac progressu et fontibus sacrae doctrinae (Augsburg 1749); Idea magni Dei adversus atheismum hujus aevi (Augsburg 1765); Uber singularis de antiquitatibus christianorum (Augsburg 1767), Übersetzung ins

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Deutsche (Augsburg 1779). Die biographischen Angaben, die im einzelnen nicht nachgewiesen werden, stammen aus den Denis-Artikeln von Michael Kohlhäufl, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. XVI. Herzberg 1999, Sp. 371-376, sowie Wynfrid Kriegleder, in: Uteraturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hg. von Walther Killy. Bd. 3.

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des Jesuitengymnasiums in Passau (1739-1747) lernte er außerhalb der Schule durch Regensburger Buchhändler deutschsprachige Werke von protestantischen Barockautoren und Frühaufklärern kennen, unter anderem von Hofmannswaldau, Barthold Heinrich Brockes und Daniel Wilhelm Triller.62 1747 trat er in Wien in den Jesuitenorden ein. In den folgenden Jahren, in denen er an verschiedenen österreichischen Ordenskollegien unterrichtete, verfaßte er lateinische Schuldramen, sah sich aber auch jenseits der konfessionellen Grenzen nach deutschsprachiger (protestantischer) Literatur um und hielt am Einsatz für die dringend notwendige Förderung muttersprachlicher Kenntnis und Kompetenz fest. 63 1759 wurde der zwei Jahre vorher zum Priester geweihte Denis als Lehrer der schönen Wissenschaften an das Wiener Theresianum, eine Eliteschule für die Ausbildung des Adels, berufen, an der er bis zu ihrer Aufhebung durch Kaiser Joseph II. im Jahre 1784 tätig war. 1766, vielleicht schon vier Jahre früher, veröffentlichte er die erste Anthologie deutscher Dichtung für den Schulunterricht, 64 später eigene patriotische Lyrik, auch unter dem Anagramm >Sined< und dem Zusatz >der BardeLiterargeschichtGeschichte der LitterärgeschichteLiterargeschicht< versteht Denis auf der untersten logischen Ebene, den Wissenschafts-Spezies, die Geschichte des litterärhistorischen Fachs, die Historia historiae literariae. Da diese die Geschichten sämtlicher Spezies-Disziplinen sowie aller übergeordneten Fachklassen in sich vereinigt, wie dies die Verwendung des Begriffs im Titel der Einleitung nahe legt, repräsentiert sie zugleich die universale Wissenschaftsgeschichte, den gesamten Kosmos gelehrter Bildung und Kenntnisse. In dieser Version stellt der Terminus eine bloße Chiffre für ein historisch kaum rekonstruierbares Ganzes dar. Die Behandlung der »[...] Geschieht des Ganges, den der menschliche Geist von seiner ersten Rohheit an, bis auf unsere Tage durch Nothdurft und Bequemlichkeit gemacht hat«, ist für ihn mit »fürchterlichen Forderungen« verbunden,99 so daß der Versuch einer geschichtsphilosophische Spekulationen einschließenden Beantwortung der Frage nach den Ursprüngen und der Entwicklung des Menschengeschlechts unterbleibt. Gegenstand der von Denis wörtlich genommenen Literargeschicht bleibt die durch schriftliche Überlieferung tradierte und gesi-

Vgl. Denis, Merkwürdigkeiten (wie Anm. 70), wo der Nutzen der Beschreibung der Garellischen Bibliothek hervorgehoben wird: »Jch wünsche, daß mein Beyspiel viele meiner einheimischen Herren Collegen wecke, uns mit den Seltenheiten, die in ihrer Verwahrung sind, bekannt zu machen. Die Büchergeschicht würde sich dadurch der Vollständigkeit nähern, so wie es die Naturgeschicht durch genaue Diagnosen der Arten thut« [S. )(3V]. Der Freimaurer und josephinische Reformer Ignaz von Born (1742-1791), dem Denis im Vorbericht der Merkwürdigkeiten dankt [S. )(3*], verwendet in seiner Schmähschrift Specimen monachologiae (Augsburg 1783) das Linnesche System für die Unterscheidung der verschiedenen Mönchsorden. 97 Denis, Einleitung Th. 2 (wie Anm. 69), S. 321 f. 98 Ebd., S. 322. 99 Ebd., S. 321. 96

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cherte Erkenntnis, insbesondere die Geschichte der Buchproduktion seit der Erfindung des Drucks. Unter den Fächern, die er der Reihe nach abhandelt, verdienen die der Philologie zugeordneten Disziplinen Rhetorik, Linguistik, Kritik und Poetik besondere Beachtung. Die dort chronologisch und nach Ländern gegliederte Aufzählung von Autoren und Titeln spiegelt nämlich den literarischen Kanon europäischer Nationalliteraturen wider. Wie bei allen übrigen Disziplinen behandelt Denis auch die Geschichte von Ästhetik und Poetik — letztere faßt begrifflich sowohl die Dichtung als auch die Lehre von der Dichtkunst - als ein selbständiges Teilgebiet, doch innerhalb der allgemeinen Litterärgeschichte. Damit lieferte er zugleich Bausteine für nationale Geschichten der schönen Literatur.100 Auch von dieser Vorleistung des Wiener Jesuiten hat die deutsche Literaturgeschichtsschreibung bis jetzt kaum Notiz genommen, obwohl Denis' Verdienste um die muttersprachliche Literatur in Unterricht und dichterischer Praxis im jesuitischen Ordensschrifttum und in personspezifischen Sekundärwerken gewürdigt werden.101 Im Poetikkapitel mustert Denis die Leistungen der Deutschen in den einzelnen literarischen Gattungen und lokalisiert die Blüte der Nationalliteratur in den Regierungszeiten der aufgeklärt-absolutistischen Herrscher, Friedrichs des Großen von Preußen und der österreichischen Kaiserin Maria Theresia.102 Die heute noch von der literaturgeschichtlichen Forschung kanonisierten deutschen Dichter der Aufklärung wie Lessing, Wieland, Klopstock, Haller, Gessner, Geliert, Gleim, Uz, Hagedorn, Gerstenberg, Ramler, Weiße, Bodmer kommen in Denis Literargeschicht auffallig zahlreich vor, ihre Werke freilich in selektiver Auswahl. Unter den epochenspezifischen Literaturgattungen fehlen nicht einmal die moralischen Wochenschriften.103 Daneben werden auch heute vergessene Autoren wie Johann Jakob Dusch, Christian Heinrich Schmid, außerdem der von Denis verehrte Ossian erwähnt.104 Ebenfalls als eigenständige Disziplinen erkennt De-

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Daß die Litterärgeschichte mit der Literaturgeschichte im Sinn des 19. und 20. Jahrhunderts absolut nichts zu tun habe, wie Herbert Jaumann: Jakob Friedrich Reimmanns Bayle-Kritik und das Konzept der >Historia literariaPolymathieBiographie< vor, wo er die fiktiven Lebensbeschreibungen, die Romane, als Gattung in den litterärgeschichtlichen Kanon bezeichnenderweise unter die Hauptfachgruppe >Geschicht< aufnahm,107 nicht also, wie die anderen Gattungen der schönen Literatur, unter die >Philologie< respektive die >PoetikKritikLiterargeschichte< dessen wichtigstes Instrument erblickte, hätte, obwohl nicht so eindrücklich -wie an der schönen Literatur, auch am Beispiel anderer Fächer, vor allem der mathematischen Disziplinen, der Naturwissenschaften und des Rechts110 gezeigt werden können. Allein, hier kam es darauf an zu zeigen, daß und wie bei Denis die Literaturgeschichtsschreibung in deutschen katholischen Ländern von der (fast ganz) entkonfessionalisierten Litterärgeschichte ihren Anfang nahm. Denis' Einleitungen in die Bücherkunde bildeten die Grundlage für die Aufteilung der Fächer, den Aufbau des systematischen Katalogs und die Aufstellung der Bücher in der Bibliothek des Theresianums. Sie gehörten aber auch zu den Pflichtanschaffungen zahlreicher Klosterbibliotheken und trugen wesentlich zur interkonfessionellen Öffnung der bibliothekarischen Erwerbspolitik in den katholischen Gebieten bei, insbesondere zur Verwendung protestantischer Litterärgeschichten für bibliothekarische und wissenschaftliche Informationszwecke. Nach eigenen Aussagen ließ sich Johann Nepomuk Hauntinger (1756-1823), Stiftsbibliothekar in St. Gallen, bei der Auswahl der Anschaffungen für die schon seit 1758 im Barocksaal untergebrachte Hauptbibliothek der Fürstabtei von Denis' konkreten Empfehlungen in den Einleitungen und den Merkwürdigkeiten leiten. Zwischen 1780 und 1792 erwarb er neben den meisten wichtigen Litterärgeschichten eine Vielzahl anderer gelehrter Standardwerke aus der Feder von Protestanten, insbesondere Akademieschriften, Publikationen zur Druckgeschichte sowie Periodika.111 Dem Vorwurf, daß die Historia literaria »[...] in den klöstern u.[nd] ihren bibliotheken meist öde liege [...]«, 112 wollte er sich nicht mehr länger aussetzen. Und stolz fügte er in seinem Rechenschaftsbericht bei: »Gnaden haben mich in den Stand gesetzet, dieß Fach so zu sagen aus dem nichtsbedeutenden Zustande, worinne es so wie in andren Klosterbibliotheken, stack, in eine wirklich respektable läge zu bringen.«113 Seiner interkonfessionellen Aufgeschlossenheit hatte Denis die günstige Aufnahme seiner Bücherkunde in protestantischen Regionen zu verdanken, wo sie in Bibliotheken Eingang fand und in literarisch interessierten bürgerlich-städtischen Kreisen gerne konsultiert wurde.114 Friedrich Nicolai, der mit Denis jahrelang im no Vgl aber die Abwehr des frühaufklärerischen protestantischen Naturrechts aus konfessionellen Gründen (ebd., S. 62). 111 Dazu Hanspeter Marti: Klosterkultur und Aufklärung in der Fürstabtei St. Gallen. St. Gallen 2003 (Monasterium Sancti Galli 2), S. 90-99. 112 Verzeichniß der Handschriften, Bücher, Kunst, und Naturprodukte, Welche seit dem 23. Oktober 1780 bis Ende Mayes 1792. der Stift St. Gallischen Bibliotheke sind einverleibet worden (Stiftsbibliothek St. Gallen, Codex 1285), S. 116. »3 Ebd., S. 117. 114 Brief des Zürcher Rats und Zunftmeisters Hans Conrad Heidegger an Denis vom 20. Dezember 1783, in dem der Verfasser die Einleitung und die Merkwürdigkeiten lobt (Denis, Nachlaß, Zweyte Abtheilung, wie Anm. 72, S. 192): Beide Werke »[...] ver-

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Briefverkehr stand und 1770 in seiner Allgemeinen deutschen Bibliothek sogar das Porträt des Jesuiten veröffentlichte,115 lernte diesen 1780 während seiner Wienreise persönlich kennen. Die generellen Vorbehalte gegenüber dem Jesuitenorden taten der Verehrung keinen Abbruch, die er fur den von ihm als Aufklärer, Förderer der Muttersprache und Nationaldichter verehrten Österreicher hegte. Nicolai hoffte, Denis' »[...] Freundschaft dadurch nicht verwirkt zu haben, daß er und ich, in verschiedenen Sachen, die uns beiden gleich wichtig sind, schon unserm Stande und Lage in der Welt nach, wesentlich verschieden denken müssen«.116 Nicolai, Repräsentant bürgerlich-protestantischer Aufklärungskultur, kam zu einem vernichtenden Urteil über die Wirkungsstätte seines österreichischen Freundes, das Theresianum. Als von Geistlichen, dazu noch von Jesuiten geführte Standesschule war ihm die Adelsakademie verhaßt.117 Trotz der scharfen Kritik an der klerikalen Hierarchie, welche den Repräsentanten des aufgeklärten Berlin Distanz nehmen ließ gegenüber Wien als einem Zentrum der katholischen Aufklärung, dokumentiert auch die Freundschaft zu Denis, wie differenziert das Verhältnis des deutschen Aufklärers zum Katholizismus und zu den Katholiken zu beurteilen ist.118 Umgekehrt gilt für die Beziehung der Jesuiten resp. der Exjesuiten zur Aufklärung dasselbe.119 Der interkonfessionelle Wissenstransfer, in dem neben der Litterärgeschichte die Zeitschriften und das Rezensionswesen die Hauptrolle spielten, ging vor dem Ende des Alten Reichs, wie der Gedankenaustausch zwischen Denis und Nicolai veranschaulicht, maßgeblich von Berlin und Wien, den beiden Metropolen des aufgeklärten Staatsabsolutismus, aus. »Wenn mehr verständige Leute aus Berlin nach Wien und aus Wien nach Berlin reiseten, so würden eingewurzelte Vorurtheile endlich ausgerottet werden«, stellte der deutsche Aufklärer in einem

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mehrten meine Neigung zu diesem Studium, und gaben mir oft Licht, wo ich bey andern Literatoren nichts, oder wenig auffinden konnte.« - Der lutherische Superintendent Johann Georg Schelhorn in Memmingen empfiehlt in seiner Anleitung fiir Bibliothekare und Archivare (Ulm 1788, S. 315) Denis' bücherkundliche Werke als die besten Handbücher ihres Fachs. - Auch Samuel Gottlieb Wald, der ab 1787 an der Königsberger Universität u. a. Historia literaria unterrichtete, würdigt Denis' Einleitung in seinem Versuch einer Einleitung in die Geschichte der Kenntnisse, Wissenschaften und schönen Künste, Akademischen Vorlesungen (Halle 1784): »alles mit Nachweisung der besten Bücher«, besonders der in der »garellischen Bibliothek« (S. 383; vgl. ebd., S. 10). Für den Hinweis danke ich Anette Syndikus, München. Porträtnachweise bei von Wurzbach, Biographisches Lexikon (wie Anm. 61), S. 244. Nicolai, Beschreibung (wie Anm. 1), 4. Bd., S. 785f. Ebd., S. 770, S. 776. Dazu auch Wolfgang Martens: Zum Bild Österreichs in Friedrich Nicolais »Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781«. In: Anzeiger der österreichischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse 116 (1979), S. 45-67, wo Nicolais grundsätzlicher Antikatholizismus stark hervorgehoben wird. Vgl. den Begriff >Jesuitenaufklärungstarken Geisten. Als kirchlicher Reformer setzte er religiösen Fortschritt mit Aufklärung gleich, und er wandte sich, um die Zustände in Schule und Kirche zu verbessern, an die Weltgeistlichen, aber auch - über diese Geistlichen und unmittelbar — an ein breites Laienpublikum, zu dem selbst Frauen und der ungebildete, sogenannte gemeine Mann zählten.123 Da Erdt die Vergrößerung des Wissensangebotes, die Zahl der Informationen mit der qualitativen Verbesserung des Wissensstandes gleichsetzte, förderte er mit seinen Anfangsgründen %ur allgemeinen gelehrten Geschichte tatkräftig d e n inter-

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4. November 1784 (Denis, Nachlaß, Zweyte Abtheilung, wie Anm. 72, S. 167). Zu Nicolais Reise siehe Wolfgang Martens: Ein Bürger auf Reisen. In: Bernhard Fabian (Hg.), Friedrich Nicolai 1733-1811. Essays zum 250. Geburtstag. Berlin 1983, S. 99-123; Horst Möller: Landeskunde und Zeitkritik im 18. Jahrhundert. Die Bedeutung der Reisebeschreibung Friedrich Nicolais als regional- und sozialgeschichtliche Quelle. In: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 27 (1977), S. 107-134; HansWolf Jäger: Der reisende Enzyklopäd und seine Kritiker. Friedrich Nicolais »Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781«. In: Jahrbuch der deutschen Schülergesellschaft 26 (1982), S. 104-124. 122 Biographische Notiz in Wilhelm Kosch: Deutsches Literatur-Lexikon. Bd. 4. Bern 1972, Sp. 406f., hier auch die Aufzählung der Hauptwerke, auf die sich die Kurzcharakteristik des CEuvres von Erdt stützt. 123 Vgl p a u l i n Erdt: Philotheens Frauenzimmer-Academie für Liebhaberinnen der Gelehrsamkeit. Augsburg 1783, und ders.: Handbuch der Religion und Moral in lehrreichen Lesungen für alle Stände und auf alle Tage des Kirchenjahrs. 2 Bde. Augsburg 1790. 121

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konfessionellen Informationsaustausch. Wie bereits der ausführliche Titel dieses Werks anzeigt, ordnete der Verfasser die Historia literaria ausdrücklich der Theologie unter,124 indem er die Litterärgeschichte in die traditionelle Dienerrolle zurückversetzte und so eine Akzentverlagerung von der durch Denis stärker herausgehobenen Nation auf das Paradigma >Nation und Religion< vornahm. Die religiöse wird noch durch eine konfessionelle und josephinismuskritische Komponente verstärkt, da Erdt als Ordensmann den Klöstern die bildungspolitisch zentrale Funktion von Wissenschaftszentren übertrug.125 Die Urteile der Kritiker des Mönchswesens überantwortete er gegenaufklärerischer Vorurteilskritik,126 indem er, in die Defensive gedrängt, antdkatholische Äußerungen von Protestanten, unter anderem in Nicolais Reisebeschreibungen und der Allgemeinen deutseben Bibliothek, mit einem knappen Kommentar und zum Teil langen Originalzitaten, die für sich sprechen sollten, zurückwies.127 Wie diese Beispiele verdeutlichen, hat die Litterärgeschichte in den Anfangsgründen %ur allgemeinen gelehrten Geschichte auch die Aufgabe eines Forums für Literaturkritik, die sie in der Buchform, die für die Kanonisation von Urteilen geeigneter schien, für Erdt offenbar nachdrücklicher wahrnehmen konnte als in den kurzlebigeren Journalen, freilich ebenfalls mit der Gefahr, rasch zu veralten. Trotz der verglichen mit Denis ausgeprägteren Tendenz zu konfessionsgebundener Argumentation kam auch bei Erdt das Zweckbündnis mit Protestanten wie beispielsweise mit Johann Kaspar Lavater gegen die von Voltaire auf die Spitze getriebene aufklärerische Religionskritik zustande.128 In der Förderung einer deutschen Nationalkultur, die für ihn in der Verbesserung der muttersprachlichen Kompetenz und der Leistungen der Deutschen in der schönen Literatur bestand, unterscheidet sich Erdt nicht von Denis.129 Das gilt auch für die Anerkennung der den Kanon bildenden - protestantischen - deutschen Schriftsteller. Die Bildung der deutschen Sprache bahnte den gangbarsten Weg unter uns zu schönen Künsten, und Wissenschaften. Wir müssen es nicht nur den heutigen Gelehrten; sondern auch den minder Gelehrten, und selbst dem Frauenzimmer zur Ehre nachsagen, daß ihre privat Bücherschranken auch mit den meisten schönen Schriften unsrer beßten deutschen Schriftsteller ausgezieret sind.130

Paulin Erdt: Anfangsgründe zur allgemeinen gelehrten Geschichte als eine Einleitung zur sämmtlichen gelehrten Geschichte der Theologie mit Anmerkungen. Augsburg 1786. 125 Ebd., S. 21 Of. 12« Ebd., S. 333f. 127 Ebd. zur Allgemeinen deutseben Bibliothek S. 282, zur >Reisebeschreibung< S. 404, 496, 408. 128 Ebd., S. 472 (über Lavater): »Wie sehnlich wünschten wir, daß dieser eifrige Mann mit einem rechten gelehrten Katholiken über seine Denkungsart in Schriftwechsel gerieth!« - Zur Voltairekritik siehe S. 450. 129 Ebd., S. 342-348. 130 Ebd., S. 347f. Zum Kanon vgl.: »Wie bekannt sind heute die schönen Schriften Rabners, Hagedorns, Zacharia, Kleistens, Gleims, Uzens, Weisens, Gellerts, Klopfstocks [sie!], Bodmers, Breitingers, Hallers, Wielands, Lichtwers, Ramlers, Kramers, Engels, 124

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In einem Punkt geht Erdt noch über Denis hinaus: Er rekurriert in seinen Stellungnahmen wiederholt auf die programmatischen Äußerungen des Preußenkönigs Friedrichs des Großen, dessen De la litterature allemande; des defauts qu'onpeut lui reprocher; quelles en sont les causes; et par quels moyens on peut /es coniger kurz zuvor 1780 in Berlin erschienen war.131 Obwohl sich Erdt, im Gegensatz zu Friedrich, nicht an der Norm der französischen Klassik ausrichtete, kommt in seinem Rückgriff auf das friderizianische Kulturmanifest einmal mehr zum Ausdruck, wie abhängig ein katholischer Aufklärer von dem vom politischen Absolutismus geprägten aufklärerischen Diktum sein konnte. Wohl nicht zufällig ist für den Franziskaner der Preußenkönig die entscheidende kulturpolitische Autorität, nicht Kaiser Joseph II., dessen antimonastische Reformmaßnahmen die Bettelorden am härtesten trafen. Auch Johann Karl Wezeis Ueber Sprache, Wissenschaften und Geschmack der Teutschen (Leipzig 1781) zog Erdt zustimmend heran.132 Romanlektüre war bei ihm, im Unterschied zu Denis, aus moralischen Gründen verpönt.133 Wie Denis bediente auch Erdt die Bibliothekare mit Ratschlägen, die er aber anonym erscheinen ließ.134 Auch er unterstreicht, wie der Wiener Jesuit, die enge Verbindung von bibliothekarischer Praxis und litterärgeschichtücher Kenntnis und preist den Fortschritt der Historia literaria als Verdienst der Gelehrten seiner Zeit: Am meisten werden dem Bibliothekare die heutigen gelehrten Geschichten, ein Kenntniß von Büchern zu erlangen, dienen. Mit welcher Aemsigkeit bemühen sich die Gelehrten unserer Tage durch allerley Vorarbeiten das Studium der Litteratur, und der gelehrten Geschichte, das zuvor zum großen Nachtheile der Gelehrsamkeit gesunken war, empor zu bringen! Man verfaßte in vorigen Zeiten nach dem Geschmacke derselben nur magre Bücherkatalogen; man jagte nur litterarischen Seltenheiten nach, die meistens für die Litteratur selbst von wenig Erheblichkeit waren.135

Für das Fernhalten verbotener Bücher von der Bibliothek, auf das Erdt, anders als Denis, ausdrücklich großen Wert legt, ist der Bibliothekar verantwortlich.136 Einmal mehr werden auch hier ästhetische und kunsttheoretische Werke, die >Aufklärung in den schönen Wissenschaften, gut aufgenommen. Auf der Liste Garven, Abbts, Köstners, Jakobi, Duschens, Riedels, Herders, Zimmermanns, Thumeis, Sulzers, Clodius, Winkelmanns, Cronecks, Leßings, Geßners, Mosers, Mendelsohns, Lavaters [...]«. Bezeichnenderweise fehlen Goethe und Schiller; viel Lob erntet Gottsched für seine Verdienste um die deutsche Sprache (ebd., S. 346f.). 131 Ebd., S. 61; S. 83-85; S. 352; S. 354f. Erdt stützt sich auf die 1781 in Zürich von Leonhard Meister angefertigte Übersetzung der Schrift des Preußenkönigs Ueber die teutsche Literatur, ihre Gebrechen und die Ursachen derselben. »2 Erdt, Anfangsgründe, S. 355, 378. 133 Ebd., S. 395. 134 [Paulin Erdt:] Anleitung für angehende Bibliothekare und Liebhaber von Büchern. Augsburg 1786. »5 Ebd., S. 46. 136 Ebd., S. 80-89 (Liste verbotener Autoren; ausführliche Berichterstattung über gefährliche Werke des Neologen Johann Salomon Semler).

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empfehlenswerter Abhandlungen figuriert sogar die Rigaer Ausgabe von Kants Beobachtungen über das Gefähl des Schönen und Erhabenen aus dem Jahr 1771.137 Ohne die Bedeutung der memoria bei der Aneignung und Bewahrung des Wissens zu schmälern, tritt Erdt für die Rechte des iudicium ein, nicht zuletzt, indem er der Ästhetik als urttüsbildender Disziplin in der wissenschaftlichen Fächerordnung einen Ehrenplatz zuwies. Das Beispiel Erdts zeigt, wie die dem interkonfessionellen Wissenstransfer förderlichen Bestrebungen katholischer Ordensgeistlicher in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch Angehörige dezidiert aufklärungsfeindlicher und dem Konfessionalismus besonders zugeneigter katholischer Orden erfaßten. Schon früher hatten sich Benediktiner wie Oliver Legipont (1698-1758) in seinen Abhandlungen über die Bibliotheken gegenüber der protestantischen Litterärhistorie aufgeschlossen gezeigt.138 Auch das Beispiel des Kaisheimer Zisterziensers und späteren Weltgeistlichen Ulrich Mayr (1741-1811) verdient Erwähnung, der sich in einer Dissertation mit der Verbindung von Litterärhistorie und Theologie befaßt e 139 Wegen einer anderen Arbeit, die sich mit dem Verhältnis von Statistik und Jurisprudenz beschäftigte, kam es zu einem Konflikt mit Rom, später zu Spannungen mit dem Kaishaimer Abt Cölestin II., seinem Vorgesetzten, der Mayr lange unterstützt hatte, und schließlich zum Ordensaustritt mit dem Statuswechsel zum Weltgeistlichen.140 Bei Mayr traf die Sympathie zum Josephinismus mit Romfeindschaft, der Ablehnung der römischen Suprematie, zusammen. Eine umfassende Studie wäre nicht nur auf weitere Regionen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz sowie auf andere Orden, Benediktiner, Augustinerchorherren, Prämonstratenser und Kapuziner, auf weitere (Ex-)Jesuiten (Johann Michael Sailer!) sowie auf Weltgeistliche auszudehnen. Die deutsch-nationale Perspektive, die hier wegen der muttersprachlichen Initiativen von Denis und Erdt im Vordergrund stand, müßte durch eine gesamteuropäische, die in den Litterärgeschichten beider ebenfalls angelegt ist, erweitert werden. Verdienstvoll wäre im Zusammenhang mit Erdts Anfangsgründen etwa der Einbezug Italiens und des Jesuiten Franz Anton Zaccaria (1714—1795), dessen litterärhistorische Pionierarbeiten der Freiburger Franziskaner immer wieder in Erinnerung rief.141

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Ebd., S. 154f. Oliver Legipont: Dissertationes philologico-bibliogtaphicae. Nürnberg 1747, z.B. S. 77 (Morhof, Struve, Stolle, Heumann), S. 87 (Reimmann). Ulrich Mayr: Dissertatio historico-politica inauguralis de nexu historiae litterariae cum studio theologico. Ingolstadt 1772. Zu Mayr immer noch maßgebend die Studie von Luitpold Reindl: Ulrich Mayr aus Kaisheim. Ein Beitrag zur kirchlichen Aufklärung in Bayern. In: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige 36 (1915), S. 1 Π Ι 34, 259-271. Erdt, Anfangsgründe (wie Anm. 124), z.B. S. 44f.; Franz Anton Zaccaria: Biblioteca anüca e moderna di storia letteraria. Pesaro 1766.

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Da die Geschichte der katholischen Historia literaria noch in den Anfängen steht, mag hier die pragmatische Beschränkung auf die behandelten drei Exempel sowie auf die Frage des interkonfessionellen Austausches verzeihlich sein. Die vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufgebrochene Spannung zwischen eng konfessionellem Denken auf der einen und dem überkonfessionellen Zweckbündnis gegen den religionskritischen Flügel der Aufklärung auf der anderen Seite ging an der Litterärhistorie ebensowenig spurlos vorbei wie der konfessionelle Geltungsanspruch und Selbstbehauptungswille, dem die Historia literaria, zumindest im katholischen Lager, entsprang. Im 18. Jahrhundert erhielt sie allmählich die Weihe einer Vermitdungsinstanz von konfessionsunabhängigem Wissen für Repräsentanten aller Konfessionen, ohne daß sie ihre Bindung an die Inhalte der christlichen Religion oder auch nur die Präferenz der eigenen Glaubensrichtung hätte aufkündigen wollen. An die Stelle konfessioneller Polemik trat aber hier und dort die von den Gelehrten geforderte und zumeist respektierte größere Toleranz gegenüber Andersdenkenden und -gläubigen. Die große Zahl und Intensität interkonfessioneller Beziehungen, welche die heutige Geschichtsschreibung zur Historia literaria in den Litterärgeschichten in harter, größtenteils noch zu leistender Quellenarbeit nachweist, ist ein wichtiger Indikator für eine Geschichte gelebter Toleranz, geistiger Annäherungen sowie überkonfessioneller Unionsbestrebungen von der Zeit der Frühaufklärung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Ob der Begriff des Kulturausgleichs den historischen Vorgang zutreffend kennzeichnet, wäre im Anschluß an eine Studie zu fragen, die sich nur mit dem Austauschprozeß in eine Richtung, dem Wissenstransfer von protestantischen Autoren zu Katholiken, nicht aber mit dem Einfluß katholischer Gelehrter auf Protestanten beschäftigte. Die Kulturaustausch-Forschung hat bis heute kaum historische Untersuchungen vorzuweisen, die den umgekehrten (weit selteneren?) Vorgang zu ihrem Gegenstand machen. Vielleicht ist Paulin Erdts Behauptung nahe am Kern eines allgemeineren Problems: »Will man sich verwundern, daß so viele Buchhändler in protestantischen Ländern sich so sehr bereichert haben; so darf man nur denken, daß die Katholiken ihnen meistens dazu geholfen haben; da indessen die Werke der unsrigen den Protestanten so unbekannt sind.«142 Diese Frage, die weit mehr Austauschaspekte als den Buchhandel und dessen kommerzielle Dimension umfaßt, zielt auf eingleisige und auf wechselseitige Prozesse des interkonfessionellen Kulturausgleichs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ihre Beantwortung könnte für die interdisziplinäre kulturwissenschaftliche Forschung zu ungewohnten Erkenntnissen fuhren. Mit der endgültigen Entkonfessionalisierung der Erforschung der Geschichte der Historia literaria, das heißt mit ihrer Ausweitung auf die Geschichte der katholischen Litterärgeschichtsschreibung und auf die interkonfessionelle Kommunikation im 18. Jahrhundert, wäre ein erster, nicht unwesentlicher Schritt in die durch den

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Erdt, Anfangsgründe (wie Anm. 124), S. 415.

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vorliegenden Beitrag anvisierte Richtung getan: Künftig sollten die drei konfessionellen Kulturwelten in der letzten Phase der Frühen Neuzeit unter dem bisweilen heute noch unkonventionellen Blickwinkel des Erfahrungs- und Wissensaustauschs in all seinen Erscheinungsformen genauer untersucht werden. Von den Erkenntnissen dieser Forschungsperspektive könnte die Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts als eine solche der Aufklärung und ihrer Gegenströmungen nur profitieren.

I I I . ALTERNATIVEN UND SACHLICHE NACHBARSCHAFTEN

DIRK WERLE

Eine überflüssige Bibliothek? Das Buch und die Bücher in Johann Valentin Andreaes

Christianopolis*

Bibliotheken faszinieren. Die Menge der Bücher, die kein Mensch in einem Leben durchzulesen vermag, die Vorstellung der umfassenden Wissensbestände, die in einem Raum versammelt sind, der je nachdem enzyklopädische oder labyrinthische Charakter der Büchersammlung, all dies beflügelt die Phantasie. So entstehen imaginierte Bibliotheken. Prägnant beschreibt diesen Prozeß Luciano Canfora in seinem Buch Die verschwundene Bibliothek: »Die Bibliotheken enthalten unerschöpfliche Nahrung für die Einbildungskraft und werden deshalb auch selbst oft zu Phantasiegebilden.«1 Eine imaginierte Bibliothek ist eine gedankliche Konzeption, die der textuellen Realisation einer Bibliothek zugrunde liegt. Imaginierte Bibliotheken sind eine Art Gedankenexperiment, eine Form der literarischen Reflexion auf theoretisch-philosophische Probleme, vorzugsweise auf die Fragen nach dem Verhältnis von Wissensordnung und Erkenntnisfortschritt sowie dem damit verbundenen Gewinn und Verlust. Diese Fragen erlangen im Laufe der Frühen Neuzeit eine besondere Dringlichkeit, weil durch die seit Erfindung des Buchdrucks rasant beschleunigte Textproduktion einerseits ständig unüberschaubare Mengen neuer Wissensbestände produziert werden, andererseits bestehende Wissensbestände in Gefahr geraten, unkontrolliert dem Vergessen anheimzufallen.2

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Dieser Beitrag basiert auf einem am 15. Mai 2002 in der AG >Wissensordnungen< des Gießener SFB >Erinnerungskulturen< gehaltenen Vortrag. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern an der Diskussion danke ich für Kritik und Hinweise, die zum Teil in die Überarbeitung des Texts eingeflossen sind. Weitere Beobachtungen, die auch für die hier analysierten Zusammenhänge relevant sind, habe ich in einem anderen Aufsatz dargelegt: Ordnungsmodell, Naturerforschung und Religionsvorstellung in Johann Valentin Andreaes Christianopolis. In: Scientia Poerica 7 (2003), S. 31-48. Luciano Canfora: Die verschwundene Bibliothek. Das Wissen der Welt und der Brand von Alexandria. Aus dem Italienischen von Andreas und Hugo Beyer. Berlin 1998 [Orig. La biblioteca scomparsa. Palermo 1986], S. 182. Das Thema >Bibliotheken in der Literatur< ist trotz der Ubiquität des Bibliotheks sujets in der Geschichte der europäischen Literatur von der Antike bis in die Gegenwart erst seit kurzer Zeit in den wissenschaftlichen Fokus gerückt. In den letzten Jahren sind dazu mehrere Monographien erschienen; vgl. Günther Stocker: Schrift, Wissen und Gedächtnis. Das Motiv der Bibliothek als Spiegel des Medienwandels im 20. Jahrhundert. Würzburg 1997; Renato Nisticö: La biblioteca. Rom, Bari 1999; Nikolaus Wegmann: Bücherlabyrinthe. Suchen und Finden im alexandrinischen Zeitalter. Köln u. a.

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Dirk Werle

Die folgende Fallstudie untersucht exemplarisch, auf welche spezifische Weise anhand einer bestimmten imaginierten Bibliothek, der Bibliothek im 39. Kapitel von Johann Valentin Andreaes Christianopolis, die Fragen der Wissensordnung und des Erkenntnisfortschritts thematisiert und problematisiert werden. 3 Sie analysiert den problematischen Status, den die Bibliothek und die Bücher innerhalb der in diesem Text beschriebenen Gesellschaft besitzen (I.), zieht aus den formulierten Beobachtungen und Analyseschritten einige Schlüsse (II.) und wirft zur spezifischen Konturierung der Ergebnisse schließlich noch einen kurzen Blick auf strukturelle Ähnlichkeiten und Unterschiede im Vergleich mit William Shakespeares The Tempest (III.).

I. Im architektonischen wie symbolischen Zentrum von Christianopolis, dem streng symmetrisch angelegten Ort der Handlung von Johann Valentin Andreaes gleichnamiger Utopie,4 befindet sich eine Zitadelle. Sie enthält zwölf Räume, die der Pflege der öffentlichen Angelegenheiten, der Forschung und der Lehre zugewiesen sind. Diese sind im Zeichen der allegorischen Darstellungsstruktur des Texts als zentrale Bestandteile der idealen Gesellschaft gekennzeichnet.5 Im ersten der zwölf Räume der Zitadelle befindet sich eine Bibliothek ungeheuren Umfangs, »infinitorum ingeniorum faetura«, die nach Abteilungen (classes) und Themen (materias) unterteilt ist.6 Fast alle Bücher, die man in der >realen< Welt verloren

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2000; Dietmar Rieger: Imaginäre Bibliotheken. Bücherwelten in der Literatur. München 2002. Rieger kommt in seinem Kapitel über »Die utopische Bibliothek und die Bibliothek in der Utopie« anhand anderer Texte zu teilweise ähnlichen Ergebnissen wie dieser Beitrag. Vgl. außerdem Kirsten Dickhaut: Verkehrte Bücherwelten. Eine kulturgeschichtliche Studie über deformierte Bibliotheken in der französischen Literatur. München 2004. Die Fallstudie ist mithin erstens Bestandteil einer auf literaturwissenschaftlichen Textinterpretationen basierenden Geschichte imaginierter Bibliotheken in der Frühen Neuzeit und zweitens eine Vorstudie für die Rekonstruktion des konzeptuellen Raumes, innerhalb dessen die Imagination der Bibliothek als Instrument des Fortschritts sowie als Ort der Bewahrung, der Ordnung und des Verlustes von Wissen funktioniert. Vgl. im größeren Zusammenhang Dirk Werle: Copia libromm. Problemgeschichte imaginierter Bibliotheken 1580-1630. Erscheint Tübingen 2006. Der Titel lautet nach der Originalausgabe Reipublicae Christianopotitanae Descripiio [...] (Straßburg 1619). Textstellen zitiere ich nach der Ausgabe von Richard van Dülmen (Originaltext und Übertragung nach D.S. Georgi 1741. Stuttgart 1982). Eine zuverlässige Neuübersetzung ins Deutsche, aber ohne den lateinischen Text, bietet die kommentierte Ausgabe von Wolfgang Biesterfeld (Stuttgart 1975). Vgl. Walter Kluge: Die Stadt in der Utopie. Architektur als Modell der Gesellschaft. In: Andreas Mahler (Hg.), Stadt-Bilder. Allegorie Mimesis Imagination. Heidelberg 1999 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 3,170), S. 67-85, hier S. 75. Die Bibliothek wird in Christianopolis als Raum und als öffentliche Bibliothek aus der Perspektive eines besichtigenden Gastes beschrieben. Andere Darstellungsweisen sind

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geglaubt hat, sind in der utopischen Bibliothek von Christianopolis zu finden. Bücher in allen Sprachen der Welt sind vorhanden, und jedes ingenium hat hier seinen Beitrag geleistet (Kap. 39, S. 104). Der Erzähler befindet sich in der tendenziell alle Bücher und damit alles Wissen der Welt enthaltenden Universalbibliothek, die sich in diesem utopischen Ambiente an dem ihr angemessenen Ort zu befinden scheint, denn sie zeichnet sich durch Eigenschaften aus, die realiter nicht herstellbar sind: weitgehende Vollständigkeit - bemerkenswerterweise besitzt Andreae nicht die Unverfrorenheit, >omne< ohne das relativierende >propemodum< zu behaupten - bei einer Ordnung, die kein Problem für die Orientierung darstellt, und die Vereinigung aller Sprachen, die die Katastrophe der babylonischen Sprachverwirrung symbolisch wieder rückgängig macht.7 Eine solche Universalbibliothek ist selbst utopisch durch ihre Vollständigkeit, die umfassende Sammlung allen Wissens, die in der Realität nicht erreicht werden kann.8

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denk- und auch belegbar. So findet sich in dieser Zeit etwa die Darstellung in Form eines Katalogs, der eine bestimmte Lektüreweise erfordert und so gewisse Strukturen einer Bibliothek simuliert (Johann Fischart: Catalogus Catalogorum perpetuo durabilis. [Zuerst 1590.] Mit Einleitung und Erläuterungen hg. von Michael Schilling. Tübingen 1993), als Privatbibliothek in Montaignes Essais II, 17 (De ίαpraesumption·) und III, 3 (De trots commercesj, aus der Perspektive des Besitzers (Fischart und Montaigne) oder des Benutzers (Gabriel Naude: Advis pour dresser une bibliotheque. [Zuerst 1627.] Leipzig 1963). Einflußbeziehungen allgemeiner Art zwischen Fischart und Andreae sieht Roland Edighoffer: Johann Valentin Andreae. Vom Rosenkreuz zur Pantopie. In: Daphnis 10 (1981), S. 211-239, hier S. 219. Gerade die Darstellung als öffentliche Bibliothek ist bemerkenswert, da es um das Jahr 1619 in Europa nur wenige mehr oder weniger öffentlich zugängliche Bibliotheken gab: Die bekanntesten sind die Bodleiana in Oxford (eröffnet 1612), die Ambrosiana in Mailand (1608) und die Angelica in Rom (1620). Die Geschichte vom Turmbau zu Babel findet sich Gen 11,1-9. Da die hier angestellten Überlegungen keinen Beitrag zur Utopieforschung im engeren Sinne darstellen, erlaube ich mir einen vergleichsweise undifferenzierten Gebrauch der Begriffe >Utopie< und >utopischprincipaux Autheurs< aller Fachgebiete, die sich jedoch durch optimale Ordnung auszeichnet, so daß der Benutzer immer auch das Buch findet, das er sucht (Naude, Advis, wie Anm. 6, Kap. III, S. 31), und Leibniz imaginiert in dem 1715 entstandenen Fragment Apokatastasis panton eine Bibliothek, die - bei festgelegtem Höchstumfang der Bücher - alle möglichen Buchstabenkombinationen enthält (Gottfried Wilhelm Leibniz: De l'horizon de la doctrine humaine. [Zuerst 1693.] Apokatastasis pänton (La Restitution Universelle). [Zuerst 1715.] Textes inedits, traduits et annotes par Michel Fichant. Paris 1991). Zur literarischen Thematisierung der Bibliothek von Alexandria in der Antike vgl. Canfora, Die verschwundene Bibliothek (wie Anm. 1). Zur Adaptation des Motivs in Texten der Frühen Neuzeit vgl. Jon Thiem: The Great Library of Alexandria Burnt. Towards the History of a Symbol. In: Journal of the History of Ideas 40 (1979), S. 507526; sowie ders.: Humanism and Bibliomania: Transfigurations of King Ptolemy and his Library in Renaissance Literature. In: Res publica litterarum 5 (1982), S. 227-246. Vgl. auch Dietmar Rieger: Wer war der Täter? Zur Konkurrenz der >Geschichten< über die Zerstörung der Bibliothek von Alexandria. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 27 (2003), S. 371-398.

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Das läßt sich veranschaulichen am Beispiel von Andreaes eigener Bibliothek: Diese wird bereits 1618 während eines Stadtbrandes in Vaihingen teilweise geplündert, und 1634 verliert Andreae dann, als Calw von kaiserlichen Truppen in Brand gesetzt wird, den größten Teil seiner Bibliothek, die aus etwa 3000 Bänden besteht, darunter die eigenen Manuskripte.11 Die Bürger von Christianopolis halten jedoch offenbar nicht viel von der Benutzung ihrer Universalbibliothek. Nach der Darstellung des Erzählers tragen sie die vielen Bücher nur zusammen, um das menschliche Gehirn zu verspotten und ihre Angehörigen von der Nutzlosigkeit solcher Bücher zu überzeugen (Kap. 39, S. 106). Die Bibliothek von Christianopolis stellt mithin ein ausgelagertes Gedächtnis dar, das aber nicht aktiviert wird und damit die unnützen Wissensbestände lediglich konserviert.12 Die Christianopolitaner sind mit wenigen, dafür aber kraft- und gehaltvollen Büchern zufrieden. Höchstes Ansehen genießt, wie zu erwarten, die Bibel, die als »interpres omnis sapientiae et bonitatis« gleichzeitig voller unergründlicher Geheimnisse steckt. Fast alle anderen Bücher halten die Christianopolitaner für »nugamenta« (Kap. 39, S. 104). An die Stelle der Vorstellung einer Versammlung alles schriftlich fixierten Wissens tritt also das Ideal des einen Buches, das allein die Wahrheit enthält und das durch seine religiöse Autorität gegenüber allen anderen Büchern ausgezeichnet ist. Im 17. Jahrhundert bildet den Inhalt einer Bibliothek die in Texten medialisierte historia, der umfassende Bereich der Empirie, des präszientifischen Wissens, das im Rahmen polyhistorischer Wissenschaft durch umfassende lectio angeeignet wird und dessen korrespondierendes geistiges Vermögen die memoria ist. Für die polyhistorische res publica litteraria besitzt die Bibliothek somit eine zentrale epistemische Position als konstituierende Institution, unmittelbare Erfahrungsgrundlage sowie exemplum der Summe schriftlicher Überlieferung, die

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Vgl. Gilly, Cimelia Rhodostaurotica (wie Anm. 8), S. 59f., sowie Wolf-Dieter Otte: Der Nachlaß Johann Valentin Andreaes in der Herzog August Bibliothek. In: Bibliotheca Philosophica Hermetica (Hg.), Rosenkreuz als europäisches Phänomen im 17. Jahrhundert. Amsterdam 2002, S. 85-100, besonders S. 87f., Anm. 9. In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, daß der Erzähler mehrfach explizit betont, wie gut Christianopolis vor Feuerschäden abgesichert ist (Kap. 7, S. 46; Kap. 23, S. 74). Zur Bibliothek als prominenter Gedächtnismetapher vgl. Aleida Assmann: Zur Metaphorik der Erinnerung. In: dies., Dietrich Harth (Hg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt am Main 1991, S. 13-35, besonders S. 14ff.; Peter Strohschneider: Über das Gedächtnis der Bibliothek. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 44 (1997), S. 346-357. Assmann führt in ihrem Aufsatz eine typologische Unterscheidung von Harald Weinrich weiter: Dieser unterscheidet für die memoria Wachstafelmetaphern und Magazinmetaphern. Zu letzteren gehört die Bibliothek. Weinrich vermutet, die von ihm beobachteten beiden Gruppen von memoria-Bildfeldern hätten den Charakter von Denkmodellen für das Phänomen der memoria, und die Zweiheit habe in diesem Sinne etwas mit der Doppelbedeutung von memoria als Gedächtnis und Erinnerung zu tun (vgl. Harald Weinrich: Typen der Gedächtnismetaphorik. In: Archiv für Begriffsgeschichte 9 [1964], S. 23-26).

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als topisch strukturiertes Wissen auch räumlich erfahrbar ist.13 Die Christdanopolitaner dagegen haben sich von der so charakterisierten polyhistorischen Buchgelehrsamkeit und von der sie repräsentierenden Bibliothek, die statt einer Wahrheit viele Meinungen enthält, abgewandt.14 Aus ihrer Perspektive ist die Heilige Schrift allen anderen Büchern derart überlegen, daß sie diese tendenziell überflüssig macht, und das nicht nur in inhaltlicher Hinsicht. Gott wird nämlich an anderer Stelle als der vollkommenste Meister der Beredsamkeit bezeichnet, weil er die Sprache erschaffen hat, und die Heilige Schrift ist deren »admirabile exemplar« (Kap. 56, S. 134). Auch aus stilistisch-rhetorischen Gründen gibt es also keine Veranlassung, von der Bibellektüre zugunsten anderer Texte abzulassen. Trotzdem lesen die Christianopolitaner auch viele dieser anderen Texte, aber nur, um sich durch das Lernen am Beispiel und durch >Abhärtung< dagegen zu feien, Erzeugnisse menschlicher Geschwätzigkeit zu bewundern. Auch schreiben sie selbst Bücher, um die christliche Sache zu befördern, die Welt zu verspotten und den Satan anzuprangern (Kap. 39, S. 106). Die Produktion und Rezeption von Texten über die Heilige Schrift hinaus gilt also nicht per se als nichtig, aber sie muß immer auf die christliche Lebenspraxis bezogen sein. Ausgangs- und Zielpunkt wahrer Wissenschaft ist, wie der Erzähler schon ganz am Anfang seines Aufenthaltes in Christianopolis gelernt hat, »scire, quantum nesciamus« (Kap. 39, S. 106). Die Wissenschaft steht also nicht primär im Zeichen ständigen Fortschritts, sondern unter der Prämisse christlicher Demutsprinzipien. Folglich gibt es vieles, was zu wissen gar nicht zuträglich ist. Im Kapitel »De theosophia« heißt es, am besten solle der Mensch demütig und gehorsam seinen Verstand den Worten Gottes unterordnen und angesichts seiner Geheimnisse lieber andächtiges Schweigen als Neugier walten lassen (Kap. 60, S. 142). Und dementsprechend gleichgültig verhalten sich viele Christianopolitaner gegenüber der Bibliothek, wo die curiositas auf vielfaltige Weise angeregt zu werden droht: »multis sancta simplicitas pro bibliotheca est« (Kap. 39, S. 106). In Analogie zu den am Gesellschaftsmodell von Christianopolis ablesbaren monastischen Strukturen könnte man auch sagen: Die Christianopolitaner üben hin13

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Differenziert, aber bisweilen mit stark teleologischen Zügen untersucht Arno Seifert die Geschichte des historia-Begriffs in der Frühen Neuzeit (Arno Seifert: Cognitio historica. Die Geschichte als Namengeberin der frühneuzeitlichen Empirie. Berlin 1976 [Historische Forschungen 11], besonders S. 9-62). Vgl. zu den beschriebenen Zusammenhängen des weiteren Helmut Zedelmaier: Bibliotheca universalis und Bibliotheca selecta. Das Problem der Ordnung des gelehrten Wissens in der frühen Neuzeit. Köln u. a. 1992 (Archiv für Kulturgeschichte, Beihefte 33). Im gleichen Sinne setzt Andreae in dem allegorischen Epyllion Die Christenburg die babylonische Sprachverwirrung mit einer Verwirrung gleich, bei der die eine Wahrheit in viele Meinungen zerfallen ist: »Wa sich ein weisser Salomon, / Eins Tempels wollte vnderston / Von lautter schönen Gottes gaben: / Der Bau an Himmel würd erhoben, / Vnd nit, wie Babel thurn, geschendt, / Da Gott die Zungen hatt getrent, / Darumb auch noch die Kind der wellt / In so vill Meinung sein zerfellt« (Die Christenburg. Allegorisch-epische Dichtung von Johann Valentin Andreä. Nach einer gleichzeitigen Handschrift hg. von Carl Grüneisen. Leipzig 1836).

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sichtlich ihrer Bibliothek Askese. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang auch, daß dem Erzähler bei der Initiation in das wissenschaftliche Ethos von Christianopolis attestiert wird, er trage eine »candidissimam tabulam« herbei, die vom Meer reingewaschen worden sei - er ist nach einem Schiffbruch am Strand der Insel Capharsalama, auf der Christianopolis liegt, gestrandet - ; nun könne sie mit dem Griffel Gottes neu beschrieben werden (Kap. 6, S. 44). Die Seele wird hier mit der Metapher der >tabula rasa< beschrieben, und damit ist - gegen die Speichermetaphorik des Gedächtnisses, die die Vorstellung der Universalbibliothek impliziert — eine Wachstafelmetaphorik aufgeboten. Diese wiederum verweist auf eine dynamischere und subjektivere Konzeption der memoria, die eine einheitliche, auf Offenbarung beruhende Wahrheitsvorstellung begünstigt.15 Andere Christianopolitaner ziehen der Bibliothek die Lektüre im Buch des Universums vor, wieder andere lesen in sich selbst mehr als aus ganzen Bücherhaufen. 16 Welterfahrung und Selbsterkenntnis treten also an die Stelle der Buchgelehrsamkeit. In jedem Fall sind jedoch aus der Sicht der Christianopolitaner und des Erzählers Bücher, denen nicht der Glanz göttlicher Offenbarung anhaftet, nutzlos. Das Kapitel über die Bibliothek endet daher mit dem leidenschaftlichen Ausruf: »Valeant ergo libri, si illos sequimur, vivat über vitae Christus ex quo facilius, certius et tutius omnia hauriemus« (Kap. 39, S. 106).

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Vgl. Weinrich, Typen der Gedächtnismetaphorik (wie Anm. 12), sowie zur Wachstafelmetaphorik als Figur, die >Seeleneinschreibeverfahren< als quasi natürliche Vorgänge auffaßt, Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999, S. 323-391. Einige Jahre später macht Descartes aus diesen verschiedenen metaphorischen Lektüren eine autobiographische, vom schlechten zum besseren fortschreitende Abfolge: Als junger Mensch liest er alle Bücher, die ihm in die Hände fallen und stellt fest, daß sie keine klare und gesicherte Erkenntnis vermitteln. Daraufhin sucht er nach Wissen im >grand livre du monde< und reist in der Welt umher. Nachdem er so einige Jahre Erfahrungen gesammelt und unterschiedliche Sichtweisen kennen gelernt hat, entschließt er sich, in sich selbst zu studieren, »ä choisir les chemins que je devais suivre« (Rene Descartes: Discours de la methode pour bien conduire sa raison, et chercher la verite dans les sciences. [Zuerst 1637.] In: Philosophische Schriften in einem Band. Hamburg 1996, S. 6-18 [Teil I, Abschnitt 6-15]). Eine Staffelung dieser Bücher hinsichtlich ihrer Wichtigkeit findet sich in Christianopolis im Kapitel über die Bibliothek nicht explizit. Hans Blumenberg weist darauf hin, daß Descartes, wenn er vom >grand livre du monde< spricht, nicht nur die Natur, sondern auch die menschliche Kultur meint: Es gehe nicht um Naturwissenschaft, sondern ganz allgemein um Welterfahrung (Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt am Main 1981. H996, S. 1). Dieser Befund dürfte auch auf die entsprechende Stelle bei Andreae zutreffen. - Die Rede vom Buch der Natur ist bekanntlich eine seit dem Mittelalter virulente Metapher. Außer bei Andreae und Descartes findet sie sich in der behandelten Periode beispielsweise auch bei Francis Bacon, wenn dieser in der Widmungsvorrede zur Instauratio Magna schreibt, sein Werk sei zwar neu, aber »descripta ex veteri admodum exemplari, mundo scilicet ipso, et natura rerum et mentis« (Francis Bacon: Novum Organum. Neues Organon. [Zuerst 1620.] Hg. und mit einer Einleitung versehen von Wolfgang Krohn, übers, von Rudolf Hoffmann. Hamburg 1990 [Philosophische Bibliothek 400a], S. 8).

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Die vielen Bücher, die in Christianopolis in der utopischen Gestalt der Universalbibliothek vorhanden sind, werden durch eine ganze Reihe von Konzepten überboten: durch die Bibel, die das wahre, durch göttliche Autorität verbürgte Wissen enthält, durch die Lektüre im metaphorischen Buch des Universums, und schließlich durch das Lesen im eigenen Ich, also den Weg der Selbsterkenntnis zur Vervollkommnung als Christ. Unter all diesen Lektüren ist aber die Bibel insofern privilegiert, als sie die einzige gültige Offenbarung Gottes darstellt. Dem Buch der Natur, in der Tradition christlichen Denkens gemeinhin als zweite Offenbarung anerkannt, 17 kommt in Christianopolis mindere Dignität zu: Ihm kann man nicht fraglos vertrauen, zuvor muß man im Laboratorium kritische Untersuchungen anstellen. Die göttliche Wahrheit ist in der Natur nur in Form von >divina mysteria< niedergelegt, die erst wiederentdeckt werden müssen (Kap. 44, S. 112). 1 8 Das Lesen im eigenen Selbst dient der Vervollkommnung des Subjekts im Sinne der von Andreae propagierten reformprotestantischen Weltanschauung. All den Lektüreobjekten der Christianopolitaner ist jedoch gemeinsam, daß sie auf die Einheit der Wahrheit in Christus ausgerichtet sind, der deshalb am Ende des Kapitels metaphorisch als >Buch des Lebens< angerufen wird. 19 Diese Einheit steht in Opposition zu der in den vielen Büchern der Bibliothek artikulierten, oft widersprüchlichen Pluralität verschiedener Perspektiven und Anschauungsweisen.20

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In diesem Sinne besitzt der liber naturae oder liber mundi auch in der Fama jratemitatis eine besondere Wichtigkeit (vgl. Johann Valentin Andreae: Fama fraternitatis. Confessio fraternitatis. Chymische Hochzeit. Eingeleitet und hg. von Richard van Dülmen. Stuttgart 1973, S. 15-30, hier S. 17 und passim). In der Andreae als Autor zugeschriebenen Confessio fraternitatis wird dann jedoch die Offenbarungsleistung dahingehend modifiziert, »daß obwol das grosse Buch der Natur allen Menschen / offen stehet, dennoch sehr wenige vorhanden, die dasselbe lesen und verstehen können«. Damit sind die Rosenkreuzer gemeint, die ausgehend vom Verständnis des Buchs der Natur eine Sprache erfunden haben, die als einzige in der Lage ist, die wahre Natur der Dinge auszudrücken (ebd., S. 31-42, hier S. 39). Vgl. dagegen van Dülmens Behauptung, die Heilige Schrift und das Buch der Natur seien in Christianopolis als Grundlagen der Erkenntnis gleichberechtigt (van Dülmen, Die Utopie einer christlichen Gesellschaft, wie Anm. 8, S. 168). Vgl. auch Kap. 77, S. 174ff.: »ita nova regenerario in nobis aliam pueritiam, aliam iuvenilem etiam et virilem aetatem inchoat, ac urget, quae non Adamo, sed Christo, vitae nostro libro conformis sit.« Den Gedanken der mehrfachen Offenbarung Gottes in einer Reihe von Büchern kann Andreae von Johann Arndt haben, in dessen Schrift Vom wahren Christentum die einzelnen Bücher als Uber Scripturae, Uber Vitae Christus, Uber Consdentiae und Uber Naturae betitelt sind. Diese Titel sind zugleich buchstäblich und symbolisch zu verstehen: Die vier Bücher des Werks handeln von den vier Büchern der Offenbarung (vgl. Johann Arndt: Saemtliche Buecher Vom Wahren Christenthum [...]. Samt dem Paradies-Gaertlein. [Zuerst 1605.] Leipzig 1743). Auch in Johann Arnos Comenius' Uibyrinth der Welt gibt es eine - allegorisch als Apotheke imaginierte — Bibliothek, die aus ähnlichen Gründen wie in Christianopolis negativ bewertet wird: In der Bibliothek bzw. Apotheke von Comenius' Welt-Stadt lesen die Besucher viele Bücher, ohne aber deren Inhalt zu verstehen, oder sie lesen die Bücher nicht, sondern verzieren sie und stellen sie bei sich zu Hause auf, weil allein der

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In Christianopolis ist mit der Vorstellung der Lektüre im eigenen Ich - verbunden mit den beiden anderen Lektüren - eine Konzeption der inneren Bildung des Individuums formuliert. Die Bildung des individuellen Charakters soll durch Wissenserwerb, besonders auf dem Gebiet der Erfahrungswissenschaften, und vor allem durch die Reformation des Glaubens verwirklicht werden. A n vielen Stellen im Text findet sich die programmatische Auffassung, man solle das Christentum im eigenen Innern suchen.21 Die Utopie ist nicht primär auf gesellschaftliche Veränderung angelegt, sondern auf eine innere Wiedergeburt des einzelnen, wofür der zu Beginn der Erzählung beschriebene Schiffbruch eine Verbildlichung darstellt, die nicht zufällig Konnotationen zum Sakrament der Taufe

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Besitz einer Bibliothek einen zu den Gelehrten zählen läßt. Die Zahl der Bücher ist in raschem Wachstum begriffen, aber viele Schriftsteller füllen nur den Inhalt eines Buches in ein anderes. So kommt es zu Plagiaten, Epigonentum und Hochstapelei. Die Bibliothek ist weiter nicht viel mehr als der Ort der Zänkerei und Verwirrung unter den Gelehrten (Johann Amos Comenius: Labyrint sveta a räj srdce. [Zuerst 1623.] In: Opera omnia. Hg. von Milan Kopecky u. a. Band 3. Prag 1978, S. 265^12, hier S. 300ff. Deutsche Ausgabe: Das Labyrinth der Welt [...] und Das Paradies des Herzens [...]. Mit einem Vorwort von Pavel Kohout. Luzern, Frankfurt am Main 1970, hier S. 82ff.). In Tommaso Campanellas Civitas solis dagegen gibt es konsequenterweise keine Bibliothek, denn auch hier gilt das Ideal des einen Buches. Es ist allerdings nicht so konsequent verwirklicht wie in Christianopolis. Zwar berichtet der Erzähler: »[·..] unumque modo volumen habent, quod vocant Sapientiam, in quo omnes sunt scientiae compendio ac facilitate mira conscriptae« (Tommaso Campanella: La cittä del sole. Testo italiano e testo latino. A cura di Norberto Bobbio. Turin 1941, S. 120. Deutsche Ausgabe: Sonnenstaat. In: Klaus J. Heinisch (Hg.), Der utopische Staat. Reinbek 1960 Philosophie des Humanismus und der Renaissance 3], S. 111-169). Aber außer diesem enzyklopädischen Kompendium des Wissens tauchen noch weitere Bücher in der Sonnenstadt auf: ein »codex [...] Uteris inscriptus aureis« (ebd.), ein »liber heroum«, also eine Art ewige Bestenliste des Gemeinwesens (S. 153), und ein Lehrbuch über die Landwirtschaft, »quem vocant Georgicav. (S. 144). Außerdem gibt es mindestens je einen Dichter und einen Geschichtsschreiber (S. 141). Statt einer Bibliothek haben die Solaner einen Orbis pictus an die Mauern ihrer Stadt gemalt, so daß die Ordnung des Wissens die Ordnung ihres Gemeinwesens widerspiegelt und gleichzeitig zu didaktischen Zwecken genutzt werden kann (vgl. S. 120-122). Einen solchen Orbis pictus gibt es jedoch auch in Christianopolis (Kap. 47, S. 118), so daß die Bibliothek von Christianopolis nicht als das Gegenstück zum Orbis pictus der Sonnenstadt gesehen werden kann. Ebenfalls bei Campanella findet sich die Abwertung der an der memoria orientierten Buchgelehrsamkeit: »[...] cuiusmodi ad sapientiam vestram requiritur tantum servilis memoria et labor, unde efficitur homo iners, quoniam non contemplatur res sed verba librorum, et in mortuis signis rerum animam vilem reddit [...]« (La cittä del sole, S. 127). Diese Auffassung ist nach Edighoffer ein Zeichen dafür, daß es sich bei Christianopolis nicht um eine Utopie, sondern um eine >Pantopie< handle. Die Verinnerlichung habe zur Folge, »daß die Christianopolis sich überall befindet, wo echte Christen sind [...]« (Edighoffer, Johann Valentin Andreae, wie Anm. 6, S. 233). In ähnlichem Sinne bezeichnet Peter Kuon Andreaes Utopie als »Modell einer Lebensführung« (Peter Kuon: Utopischer Entwurf und fiktionale Vermittlung. Studien zum Gattungswandel der literarischen Utopie zwischen Humanismus und Frühaufklärung. Heidelberg 1986 [Studia romanica 66], S. 236).

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hervorruft.22 In diesem Zusammenhang deutet eine einschlägige Stelle aus der Vorrede darauf hin, daß Christianopolis auch als Allegorie dieser individuellen inneren Wiedergeburt zu verstehen ist: »urbem mihi ipse construxi, ubi dictaturam exerceam, quam si corpusculum meum dicas, non abs re divinaveris« (Vorrede, S. 32). Ein weiteres Indiz dafür, daß es sich bei der Reise nach Christianopolis lediglich um eine imaginierte Reise ins eigene Ich handeln könnte, ist der Umstand, daß die Rückreise des Erzählers nicht geschildert wird. Das Konzept der Bildung als individueller Totalität und seine Imagination im Modus der Utopie ist vermutlich Andreaes Reaktion auf die Erfahrung der Nichtintegrierbarkeit seiner spezifischen reformatorischen Vorstellungen in der realen, ihn umgebenden Gesellschaft.23 Die Beschreibung der Bibliothek von Christianopolis veranschaulicht das Dilemma der inneren Bildung: Nimmt man sie ernst, muß man die Bücher als Träger des Weltwissens als störende Ablenkung empfinden. Dasselbe gilt grundsätzlich für die mathematisch fundierte Naturerforschung, die aber mit der inneren religiösen Bildung und der christlichen Praxis verknüpft werden kann - durch die pädagogisch motivierte Idee der Perfektion des Subjekts durch Welterfahrung. Fortschritt ist dementsprechend ganz nach protestantischer Prägung als individueller Fortschritt durch die Gnade Gottes gedacht. Die in Christianopolis propagierte Art des Fortschritts ist im Rahmen der Bibliothek nicht vorstellbar und braucht diese auch nicht mehr. Der Text entwirft ein enzyklopädisches Bildungsideal in Verbindung mit dem Ideal der Überschaubarkeit und der spezifischen Reduktion des Wissens auf das Zuträgliche, weshalb in diesem Text das eine Buch und nicht die Bibliothek wesentlicher Bestandteil der Utopie ist 2 4 Der utopische Programmentwurf stellt eine Form der

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Vgl. Kuon, Utopischer Entwurf und fiktionale Vermittlung (wie Anm. 21), S. 465, Anm. 88. Kuon interpretiert das Schiffbruchsmotiv als Verbildlichung »des Punktes, wo aus persönlichem Scheitern die geistige Wiedergeburt durch Gottes Gnade erwächst« (S. 235). Vgl. Wilhelm Voßkamp: Utopian Thinking and the Concept of Bildung. In: Klaus L. Berghahn, Reinhold Grimm (Hgg.), Utopian Vision. Technological Innovation and Poetic Imagination. Heidelberg 1990 (Reihe Siegen 91), S. 63-74, hier S. 67ff. Voßkamp tritt mit der These an, dem gerade im deutschen Raum einflußreichen Begriff der Bildung lägen Traditionen utopischen Denkens zugrunde. Christianopolis stelle ein konstitutives vorbereitendes Paradigma für die ambitionierten Bildungskonzepte am Ende des 18. Jahrhunderts dar (S. 64f.). Dies kann wohl zumindest nicht in Form starker Einflußbeziehungen angenommen werden. Auch existiert die Vorstellung einer an individuellen Fortschritt geknüpften Bildung (als Geschichte vom Menschen als Mängelwesen) bereits bei Piaton {Protagoras 320c-323a) und, an diesen anknüpfend, bei Giovanni Pico della Mirandola (De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen. [Zuerst I486.] Obersetzt von Norbert Baumgarten. Hg. und eingeleitet von August Buck. Lateinisch - deutsch. Hamburg 1990, S. 3-12). Voßkamps Argumentation zielt offenbar auf die Bereitstellung von Gründen für die Übertragung des Utopiebegriffs von der literarischen Gattung auf andere Phänomene (vgl. Stockinger, Aspekte und Probleme der neueren Utopiediskussion, wie Anm. 8, S. 121). Dieselbe Beobachtung macht Zedelmaier an Campanellas Civitas solis (Zedelmaier, Bibliotheca universalis, wie Anm. 13, S. 200, Anm. 587). Wilhelm Schmidt-Biggemann

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Kontrolle der ausufernden, unüberschaubaren historia durch religiöse Überbietung dar. Die Konzentration auf die Selbsterkenntnis und Selbstbildung des Menschen ist ein Lösungsvorschlag angesichts der überreichen Bestände der Bibliotheken und des enorm beschleunigten Wissenswachstums. Bildung ist hier nicht als Aneignung eines Tableaus gelehrter Wissensbestände, sondern als Vervollkommnung des Verhältnisses eines Individuums zur Welt und zu Gott bestimmt.25 Darüber hinaus wird versucht, mit der christlichen Weltsicht, die eine ursprüngliche, in einem Buch niedergelegte Wahrheit zugrundelegt, die zukunftsgerichtete Sichtweise der Naturforschung zu verbinden, die in Christianopolis nicht mehr der gelehrten Polyhistorie untergeordnet ist, sondern als neues Leitmodell etabliert wird. Nicht in der Bibliothek befinden sich Jahrbücher, Gesetze und Urkunden der Stadt. Diese werden in einem an die Bibliothek angrenzenden, aber von dieser abgekoppelten Archiv aufbewahrt, in dem die Christianopolitaner die Möglichkeit haben, die Geschichte zu studieren (Kap. 41, S. 108) - eine Funktion, die von anderen Schriftstellern auch, von Andreae aber bezeichnenderweise nicht der Bibliothek zugeschrieben wird. In dem der Beschreibung des Archivs gewidmeten Kapitel schildert der Erzähler, wie er lernt, daß in Christianopolis die Kenntnis der Geschichte außerordentlich hochgeschätzt wird: »ea omnem aetatem circumsonat, ut quovis tempore se vixisse arbitrentur«. Die Christianopolitaner erweisen sich somit tendenziell als historische Relativisten, was bei ihrem ansonsten christlich-teleologischen Weltbild merkwürdig anmutet. In ihrer Weltsicht findet sich weder, wie man annehmen könnte, ein Primat des Neuen über das Alte, noch ein ausgesprochener Primat des Alten über das Neue, den etwa die im Kapitel über das Auditorium der Theologie entfaltete Quellenmetaphorik der

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vermutet, daß Enzyklopädieprogramme und gesamtwissenschaftliche Entwürfe allgemein dazu neigen, in Utopien überzugehen (Wilhelm Schmidt-Biggemann: Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg 1983 [Paradeigmata 1], S. 238) - wahrscheinlich, weil sie kaum zu verwirklichen sind. Die Vorstellung des einen Buches als enzyklopädisches Ideal (in Abgrenzung zu den vielen Büchern) findet sich bereits in der Confessio fratemitatis: »Wehre es nicht ein köstlich Ding, daß du also lesen kündtest in einem Buch, daß du zugleich alles, was in allen Büchern/, die jemals gewesen, noch seyn oder kommen und außgehen werden, zu finden gewesen, noch gefunden wird und jemals mag gefunden werden, lesen, verstehen und behalten möchtest?« (Andreae, Fama, wie Anm. 17, S. 3 1 - 4 2 , hier S. 35). Das Prinzip der Bildung durch Selbsterkenntnis findet sich bereits bei Montaigne, ist aber bei diesem aus der antiken Tradition stoischer und skeptischer Selbstgenügsamkeit und nicht aus dem Kontext des protestantischen Verhältnisses von Mensch und Gott heraus zu verstehen. Es handelt sich also um eine >säkularisierte< Form der Selbsterkenntnis. In der Civitas solis wird das beunruhigende Ausufern des Wissens als astrologisch vorhersehbar dargestellt - eine weitere Möglichkeit der Distanzierung des andrängenden Problems: »O si scires, quid per astrologiam dicunt ex nostris quoque prophetis de saeculo venturo, et quod saeculum nostrum plus historiae habet in annis centum quam mundus totus in quatuor milibus, pluresque libri editi sunt in hoc centenario quam in quinque milibus [...]« (Campanella, La cittä del sole, wie Anm. 20, S. 59).

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Wahrheit wenigstens andeutet (Kap. 76, S. 172ff.). Man darf jedoch nicht vergessen, daß die Heilsgeschichte bei den Bewohnern von Christianopolis ohnehin differenzierter modelliert ist als in anderen christlichen Weltentwürfen: Immerhin errichten sie das Reich Gottes quasi schon auf Erden. In der Utopie, die genau zwischen Gegenwart und letzter Zukunft, also der Rückkehr zu Gott, angesiedelt ist, findet sich ein Grenzideal beschrieben, das knapp an der Schwelle des Diesseits zum Jenseits situiert ist und somit der chiliastischen Vorstellung des goldenen Zeitalters ähnelt. Dieses Grenzideal beschreibt der Kanzler von Christianopolis beim Abschied vom Erzähler am Ende des Textes folgendermaßen: »Nemo aeque benevolus erit, quam qui coelorum regno propius aptarit, qui a terra removerit longius: unde dudum nobis exoptavimus sedem, ut infra coelum sic supra mundi huius cogniti colluviem« (Kap. 100, S. 226).26 Wie die Christdanopolitaner schätzt auch der Erzähler die Geschichtswissenschaft als höchst wichtig ein, insbesondere jedoch hinsichtlich ihres pädagogischen Wertes. Er behauptet, Menschen, die die Vergangenheit nicht kennten, seien unfähig zur Gegenwart und untauglich zur Zukunft (Kap. 71, S. 162). So wird auch die Geschichte für das umfassende Programm der Selbstbildung in Dienst genommen. Entsprechend der Abwertung der vielen in der Bibliothek versammelten Bücher werden auch in der Druckerei von Christianopolis außer Bibeln, Schul- und Devotionsbüchern kaum Texte gedruckt (Kap. 42, S. 110). Nichts wird vervielfältigt, was nach Ansicht der Bewohner an Gott zweifeln läßt, die Sitten verdirbt oder den Verstand täuscht. Anläßlich der Schilderung dieser Haltung sieht sich der Erzähler veranlaßt, das Druckereiwesen als sündig zu geißeln: »ut curiositati alienae, ambitioni propriae et operariorum lucro satisfiat, nulla de Deo, de offensione proximi solicitudo est.« Die Buchdruckerei wird als »saeculi nostri commodo pariter et incommodo adinventa« charakterisiert. Nutzen und Nachteil sieht der Erzähler darin, daß durch die Möglichkeit massenhafter Produktion die

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Vgl. dazu die Ausführungen von Bernd Steinbrink: Die Hochzeit von Himmel und Erde. Die Rosenkreuzer-Schriften und die Sozialutopie Johann Valentin Andreaes. In: Gert Ueding (Hg.), Literatur ist Utopie. Frankfurt am Main 1978, S. 1 3 1 - 1 5 8 , besonders S. 133ff. sowie S. 147: »Es ist nicht Andreaes Sache, auf ein himmlisches Leben zu verweisen, es kommt ihm darauf an, schon auf der Erde ein solches dem himmlischen Idealzustand ähnliches Leben zu verwirklichen, den Himmel mit der Erde zu vermählen.« Man kann vermuten, daß die Christianopolitaner diese Vermählung anstreben, um sich gut protestantisch bereits im Diesseits der jenseitigen Gnade Gottes würdig zu erweisen. Vgl. zu dieser Haltung die Einstellung des Richters von Christianopolis: »Quae homini cicurando, et Adamo perdomando conveniunt, artem suam credit, et ad vitae aeternae aemulum praeludium omnia refert. Sic enim sentit optimam reipublicae faciem esse, quae coelo quam proxime conveniat [...]« (Kap. 33, S. 94). Wichtig in diesem Zusammenhang ist jedoch auch die Tatsache, daß die Darstellung von Christianopolis mit Tod und Begräbnis endet, daß also die Schwelle zum Jenseits besonders hervorgehoben wird (Kap. 99, S. 220ff.). Vgl. auch Kap. 100, S. 222: »Haec [sc. sepultura] apud eos negligentius fieri, mirum non sit, dum minimi vitam hanc aestiment, et ad illam aspirent.«

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Verbreitung guter wie schlechter Bücher vorangetrieben wird. In Christianopolis wird die Bedrohung, die von den kommunikativen Möglichkeiten des Buchdrucks ausgeht, also offenbar nicht vor allem als technisch-sachliches Problem, sondern als ideologische Gefahr gesehen. 27 Die Neugier, die durch die vielen Bücher befriedigt zu werden verspricht, ist mithin hier wie schon in der Rahmenerzählung, wo sie als Gefahr für die »navis phantasiae« beschrieben wird (Kap. 1, S. 36), deutlich negativ konnotiert: Die Suche nach der Wahrheit ist für den Erzähler zwar erstrebenswert, aber auf dem Weg zur Wahrheit gibt es viele Abwege, und diese werden ganz in augustinischer Tradition oft abwertend mit dem Begriff der >curiositas< bezeichnet. 28 Wissen wird in der Perspektive von Christianopolis also nicht als Resultat purer Befriedigung der curiositas, sondern im Hinblick auf den christlichen Endzweck des Menschen verstanden. Der Weg zur Vollkommenheit führt nicht über die Wißbegierde, sondern wird durch die Formung des Lebens gemäß dem göttlichen Gesetz beschritten. Daher ist eine entsprechende Selektion des Wissens notwendig: Es gibt, wie gesagt, auch vieles, was man nicht wissen sollte.29 Die als schädlich und bedrohlich empfundene ständig wachsende Bücherproduktion treibt den Erzähler zu dem alliterierenden Ausruf »Quam vasta vanitatis Volumina, quae mendaciorum et sophismatum moles binis anni exonerationibus accumulantur«, und er wundert sich, daß es noch Menschen gibt, die sich wenigstens durch die Titel der Werke hindurchlesen können (Kap. 42, S. 110). 30

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Vgl. dazu auch Zedelmaier, Bibliotheca universalis (wie Anm. 13), S. 171 ff. Die Skepsis gegenüber den vielen Büchern wird prägnant in einer Sentenz in der Christenburg zum Ausdruck gebracht: »Wer Gott förcht, hat auf bücher acht, / Das nit da gifft wird beygebracht« [...] (Andreae, Die Christenburg, wie Anm. 14, S. 60). Vgl. Hugh Powell: Johann Valentin Andreae. A Practising Idealist of the Seventeenth Century. In: German l i f e and Letters 41 (1988), S. 363-370, hier S. 365. Aus dem Jahr 1620, also kurz nach der Publikation von Christianopolis, datiert eine in Stuttgart verlegte Schrift Andreaes mit dem Titel De curiositatis pemiäe Syntagma. Zur Begriffsgeschichte der curiositas vgl. die mitderweile klassische Darstellung von Hans Blumenberg: Der Prozeß der theoretischen Neugierde. In: ders., Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe. Frankfurt am Main 1988, S. 261-528, sowie jetzt Barbara Vinken: [Art.] Curiositas / Neugierde. In: Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs, Friedrich Wolfzettel (Hgg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Band 1. Stuttgart, Weimar 2000, S. 794-813. Vgl. dazu auch Harald Scholtz: Evangelischer Utopismus bei Johann Valentin Andreae. Ein geistiges Vorspiel zum Pietismus. Stuttgart 1957 (Darstellungen aus der württembergischen Geschichte 42), hier S. 86. Dieser Topos geht mindestens bis auf Senecas Schrift De tranquillitate animi zurück: »Quo innumerabiles libros et bibliothecas, quarum dominus vix tota vita sua indices perlegit?« (Sen. tranq. IX, 4). Die Stelle ist auch im hier behandelten Zeitraum einschlägig. So spricht beispielsweise Doni von »tanti libracci, che a leggere i titoli soli non abbiamo tempo che ci basti« (Doni, La libraria, wie Anm. 9, II, S. 246). Und Naude zitiert die Seneca-Stelle in seinem Advis pour dresser une bibliotheque (Naude, Advis, wie Anm. 6, Kap. III, S. 30). Zwischen Andreae und Naude existiert eine indirekte Verbindung über Campanella: Naude ist mit Campanella befreundet und gibt mehrere von dessen Schriften heraus (vgl. Paul Oskar Kristeller: Between the Italian Renaissance

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Die tiefe Skepsis gegenüber dem Verfassen und Verbreiten von Büchern übernimmt Andreae von den Reformatoren, bei denen sie um so bemerkenswerter ist, als die erfolgreiche Durchsetzung der Reformation wesentlich der kommunikativen Leistung schriftlich verfaßter Artefakte zu verdanken ist. Diese Skepsis hat jedoch damit zu tun, daß das lebendige Wort Gottes in leblose Schrift umgesetzt werden muß: Die Vorstellung von der Kraft des Wortes, das in der Heiligen Schrift erscheint, ist immer wieder nach dem gesprochenen Wort modelliert worden. Schuld an der Flut von Neuerscheinungen, die es nach Ansicht des Erzählers meist nicht wert sind, veröffentlicht zu werden (so daß er auch abschätzig von »tanta multiplicitas chartarum« spricht), ist aber nicht nur die technische Möglichkeit des Buchdrucks, sondern auch das vergangene, ironisch bezeichnete »eruditum seculum« (Kap. 42, S. 110). Wenn der Erzähler zum Abschluß des Kapitels über die Druckerei das Fazit zieht: »Nihil tarn impudenter collectum [...] quod non bibüopola occupet«, dann ist mit dem >impudenter colligere< die im Rahmen humanistischer Wissenschaft übliche gelehrte Verzettelungs- und Kompilationspraxis bezeichnet, und von dieser Praxis grenzt er sich ab.31 Daß Wissenschaft ohne Bücher möglich sei, behauptet der Erzähler allerdings nicht ohne Einschränkungen. Als er das >theatrum mathematicum< besichtigt, zeigt er sich höchst angetan von der Fülle der Hilfsmittel, die den Gelehrten in Christianopoüs zur Verfügung stehen, und er kritisiert den entsprechenden Mangel in der >wirklichen< Welt. In diesem Zusammenhang betont er unter anderem auch, daß »literae sine libris« nicht denkbar seien (Kap. 50, S. 124) — ein kleiner Hinweis darauf, warum die Christianopolitaner ihre Bibliothek trotz allem in der Zitadelle behalten.

II. Im gesamten Text von Christianopolis findet sich die Spannung zwischen der wissenschaftlichen Neugier auf die >Lektüre< des Buchs der Natur und der Abwehr dieser Neugier mit dem Hinweis auf die göttliche Offenbarung in der Heiligen Schrift. Die Bibliothek wiederum erscheint als Alternativkonzept, dem die beiden >Bücher< als Einheitskonzepte im Namen des Glaubens entgegengesetzt sind, denn in ihnen offenbart sich Christus. In Christianopolis wird mithin, besonders am Beispiel der Bibliothek, der Konflikt zwischen Glauben und Wissen, und

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and the French Enlightenment: Gabriel Naude as an Editor. In: Renaissance Quarterly 32 (1979), S. 41-72, besonders S. 45-58). Weitere Hinweise zu intellektuellen Beziehungen zwischen Andreae, Naude und Campanella gibt Carlos Gilly: Campanella and the Rosicrucians. In: Bibliotheca Philosophica Hermetica (Hg.), Rosenkreuz als europäisches Phänomen im 17. Jahrhundert. Amsterdam 2002, S. 190-210. Zur Praxis der Wissensverzettelung vgl. die Fallstudie von Christoph Meinel: Enzyklopädie der Welt und Verzettelung des Wissens: Aporien der Empirie bei Joachim Jungius. In: Franz M. Eybl, Wolfgang Harms, Hans-Henrik Krummacher (Hgg.), Enzyklopädien der Frühen Neuzeit. Beiträge zu ihrer Erforschung. Tübingen 1995, S. 62-187.

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innerhalb des Bereiches des Wissens wiederum der Konflikt zwischen polyhistorischer Buchgelehrsamkeit und Naturerforschung durch Erfahrung manifest. Die Bibliothek als Repräsentationsinstanz der gelehrten Polyhistorie hat in beiden Konflikten keinen besonders starken Stand. Die im Rahmen der Utopie vorgestellte Ordnung als Leitmodell der Gesellschaft im allgemeinen und der Wissenschaft im besonderen realisiert sich nicht in der Kontrolle der Bibliotheca universalis, sondern in der Abkehr von ihr. Die Ordnung des Wissens, die in Christianopolis durch die enzyklopädische Darstellung der Lebensbereiche, wissenschaftlichen Institutionen und Disziplinen exemplifiziert wird und der die symmetrische Ordnung der Stadtarchitektur entspricht, entspringt weder dem Wunsch nach übersichtlicher Darstellung zur Verfiigbarmachung des vorhandenen Wissens noch dem erkenntnispragmatischen Bestreben, mit Hilfe bereits bekannten Wissens neues aufzufinden, sondern der pädagogischen Absicht methodischer Wissensvermitdung im Dienste religiöser Zwecksetzung. Bemerkenswert an der imaginierten Bibliothek von Christianopolis ist jedoch die gleichwohl fortbestehende Spannung zwischen der Abkehr von der Bibliothek und der Hinwendung zu Einheitskonzepten im Namen des Glaubens an Christus auf der einen Seite sowie der Faszination auf der anderen Seite, welche von einer Universalbibliothek ausgeht, die fast alle, auch die verloren geglaubten Texte enthält. Der Umstand, daß die Bewohner von Christianopolis eine beinahe universale Bibliothek besitzen und auch aufbewahren, 32 aber letztlich nur ein 32

Es wäre ja auch eine Radikalkanonisierung in Form einer Verbrennung der überflüssigen Bücher denkbar. Die Bücherverbrennung, die Vernichtung allen Wissens, ist bereits in der Legende der Bibliothek von Alexandria der Gegenpol zur Vorstellung der Universalbibliothek, der Versammlung allen Wissens. Bemerkenswerterweise werden auch dort die vielen Bücher im Namen des einen Buches vernichtet: Entweder widersprechen sie dem Koran, dann sind sie gefahrlich, oder sie stimmen mit ihm überein, dann sind sie überflüssig. In beiden Fällen müssen sie verbrannt werden (vgl. Canfora, Die verschwundene Bibliothek, wie Anm. 1, S. 103). Eine Sammlung von Geschichten, in denen bei Bücherbränden auf wundersame Weise die Heilige Schrift erhalten bleibt, veröffentlicht Anfang des 18. Jahrhunderts M. Gottfried Tentzel: Hiera Grämmatä akausa. Verzeichnis einiger im Feuer unverletzt erhaltenen Schrifften und Bilder / gesammlet von M. Gottfried Tentzeln / Predigern in Arnstadt. Andere Auflage, vermehret und verbessert. Arnstadt 1723. Sowohl Andreae als auch Tentzel beziehen sich affirmativ auf Johann Arndt, und die Kanonisierung der Heiligen Schrift gegen die Universalbibliothek in Christianopolis ähnelt vermutlich nicht nur zufällig strukturell den von Tentzel erzählten Begebenheiten. Bereits in Arndts Schriften ist, wie in Christianopolis, die Kritik an der Bildung aus Büchern verbunden mit Metaphern des Meeres und des Labyrinths, mit der Vorstellung von Bücherhaufen, der Quellen- bzw. Brunnenmetaphorik, dem Ideal des einen Buches, der Aufwertung der Praxis gegen die Theorie sowie der Hochschätzung der Erfahrung. Das verbindet Arndt aber expliziter als Andreae mit hermetisch-kabbalistischem Gedankengut: Der Heilige Geist ist bei Arndt das wichtigste Buch, aber die kabbalistische Magie stellt das nichtpropositionale Wissen bereit, um die in diesem Buch gebotenen propositionalen Wissensbestände zu erlernen (vgl. Gilly, Cimeüa Rhodostaurotica, wie Anm. 8, S. 15f.). - Die Vorstellung brennender Bibliotheken kann auch die Befreiung von einer historischen Last bedeuten, die kulturelle Kreativität unmöglich scheinen ließ (vgl. Steve Fuller,

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einziges Buch als autoritativ anerkennen, indiziert eine kognitive Dissonanz. Diese Dissonanz verweist im Rahmen der utopischen Konstruktion zum einen auf den Umstand, daß Harmonie und Normenkonsens nur um einen nicht unerheblichen Preis zu haben sind: Die Kommunikation wird durch radikale Kanonisierung vereinfacht. 33 Zum anderen verdeutlicht die Dissonanz, daß das theologisch - an der Heiligen Schrift - und wissenschaftlich - am Buch der Natur - ausgerichtete Weltbild von Christianopolis nicht so radikal von der Buchgelehrsamkeit und ihren utopischen Grenzidealen abgelöst ist, wie es auf den ersten Blick scheint.34 Andreae bewegt sich immer noch auf dem Boden polyhistorischer Wissenschaft, auch wenn er sich im Namen einer reformierten Glaubenspraxis

David Gorman: Burning Libraries. Cultural Creation and the Problem of Historical Consciousness. In: Annals of Scholarship 4 (1986/87), S. 105-119). Wie der Brand der Bibliothek von Alexandria in der frühen Neuzeit als Gleichnis für die Befreiung von unkontrollierbar gewordenen Wissensbeständen instrumentalisiert wird, zeigt Thiem, The Great Library of Alexandria Burnt (wie Anm. 10), S. 514ff. Auch in der Confessio jratemitatis findet sich die Vorstellung vom Untergang aller Bücher, bezeichnenderweise in Kombination mit der später auch von Descartes verwandten Metaphorik des geregelten Neuaufbaus einer Stadt, der der Verstandeserkenntnis im Gegensatz zur Buchgelehrsamkeit entspricht; letztere wird dabei mit eher zufällig gewachsenen, von mehreren Meistern erbauten, immer wieder umgebauten und schließlich ganz unproportionierten Städten analog gesetzt. In der Confessio fraternitatis soll »das alte so unförmliche Gebäw« der Buchgelehrsamkeit abgerissen und »ein newes Fundament für ein newes Schloß oder Feste der Wahrheit« errichtet werden (vgl. Andreae, Fama, wie Anm. 17, S. 31-42, hier S. 34f.). Descartes' Gleichnis findet sich im Discours de la methods (wie Anm. 16), S. 18-24 (Teil II, Abschnitt Iff.). 33

Vgl. dazu den Hinweis in Ludwig Stockinger: Überlegungen zur Funktion der utopischen Erzählung in der frühen Neuzeit. In: Wilhelm Voßkamp (Hg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Band 2. Stuttgart 1982, S. 229-248, hier S. 235. Die beschriebene Dissonanz läßt sich noch deutlicher konturieren durch die Beobachtung, daß Andreae, der die herausgehobene Position der Heiligen Schrift nicht nur in Christianopolis propagiert, in seiner Selbstbiographie von ausgedehnter Lektüre unterschiedlichster Autoren in seiner Jugend und der eifrigen Benutzung von Bibliotheken berichtet (Johann Valentin Andreae: Vita, ab ipso conscripta. Hg. von Friedrich Heinrich Rheinwald. Berlin 1849, passim. Deutsche Ausgabe: Selbstbiographie Joh. Valentin Andreä's. Aus dem Manuscripte übersetzt und mit Anmerkungen und Beilagen begleitet von Prof. Seybold. Winterthur 1799.) Nach seinen eigenen Angaben kaufte Andreae zwecks Vergrößerung seiner Bibliothek sogar verschiedene andere auf (S. 88). Die Bibliothek seines Lehrers Christoph Besold, die er während seiner Studienzeit benutzte (vgl. S. 20), umfaßte die für die Zeit imposante Anzahl von 3870 Drucken und Manuskripten (vgl. Dickson, Johann Valentin Andreae's Utopian Brotherhoods, wie Anm. 8, S. 771).

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Mit dieser Interpretation der Bibliothek bei Andreae ist Wolfgang Braungarts Deutung kompatibel: Nach dessen Darstellung entwirft Andreae mit der >arx< von Christianopolis eine ungeheure Kunstkammer, »die alle Bereiche menschlichen Wissens und Forschens umfaßt. [...] Diese Kunstkammer bildet das eigentliche Kernstück seiner utopischen Stadt. [...] Die Bibliothek, die das humanistische Wissen repräsentiert, ist ebenso wie das der Naturforschung dienende Laboratorium integraler Bestandteil der Anlage« (Wolfgang Braungart: Die Kunst der Utopie. Vom Späthumanismus zur frühen Aufklärung. Stuttgart 1989, hier S. 75).

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und einer Wissenschaft der Natur, die im Dienste dieser Glaubenspraxis steht, um Abgrenzungen bemüht. Die Bibliothek ist in Christianopolis kein rein negatives Gegenbild, gegen das Heilige Schrift und Buch der Natur als maßgebliche Bücher profiliert werden. Eher kann man von einer Staffelung sprechen: Die Bibliothek veranschaulicht die erste Stufe auf dem Weg zur Wahrheit, das Buch der Natur die zweite und die Heilige Schrift die dritte und letzte. Gleichwohl handelt es sich bei Andreaes Vorschlag, wie mit den vielen Büchern in der Bibliothek umzugehen sei, um eine spezifisch protestantische Lösung des Mengenproblems im Sinne des >sola scripturaguter< Bücher entgegengesetzt.35 Possevino reduziert die Erkenntnismöglichkeit nicht auf die göttliche Offenbarung bei grundsätzlichem Verzicht beispielsweise auf heidnischantikes Wissen. Stattdessen manifestiert sich in der Bibliotheca selecta die offensive Auseinandersetzung mit antik-profanem Wissen durch Selektion und Auswahl.36 Andreae dagegen zieht sich mit seiner Darstellung in Christianopolis in der Tat gegenüber dem disparaten Bücherwissen tendenziell auf den Glauben an die Offenbarung der Heiligen Schrift zurück. Vor dem Hintergrund dieses Rückzugs stellt die Bibliothek jedoch einen Stachel im Fleisch der christianopolitanischen Gesellschaftskonzeption dar, da sie der curiositas anderes Wissen und alternative Möglichkeiten bereitstellt. Immerhin besteht die Möglichkeit, daß sich einzelne Christianopolitaner von der Lokkung der Bücher verführen lassen. Daß es in Christianopolis, anders als in anderen utopischen Städten, die unreduzierte Universalbibliothek überhaupt gibt, indiziert eine implizite Offenheit der reformprotestantischen Gesellschaftsordnung gegenüber alternativen Konzeptionen.

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Antonio Possevino: Bibliotheca selecta. Rom 1593. Vgl. dazu Zedelmaier, Bibliotheca universalis (wie Anm. 13), hier besonders S. 132f.; Jan-Dirk Müller: Universalbibliothek und Gedächtnis. Aporien frühneuzeitlicher Wissenskodifikation bei Conrad Gesner. (Mit einem Ausblick auf Antonio Possevino, Theodor Zwinger und Johann Fischart). In: Dietmar Peil, Wolfgang Frühwald, Michael Schilling (Hgg.), Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur. Tübingen 1998, S. 285-309. Vgl. Zedelmaier, Bibliotheca universalis (wie Anm. 13), S. 188ff. Das soll allerdings nicht heißen, daß die Lösung des Mengenproblems durch Kanonisierung (also die dezisive Lösung des Wertungsproblems) allein von Katholiken in Betracht gezogen werden konnte. Die gesamte christliche Kultur hat immense Probleme mit der Menge der Bücher, aber das protestantische Christentum tendiert eher als das katholische dazu, diese Menge auf ein einziges Buch zu reduzieren.

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III. Auf einer anderen utopischen Insel spielen die Bücher eine deutlich positivere Rolle als auf Capharsalama, nämlich auf der Insel, die den Schauplatz von William Shakespeares hintergründiger Zauberkomödie The Tempest bildet. Wie bei Andreae steht bei Shakespeare ein Schiffbruch am Anfang, der ein Scheitern veranschaulicht, das durch die dann folgende Utopie aufgefangen wird. Die Insel, auf welcher der Dichter Prospero alles nach seiner Vorstellung arrangiert, fungiert hier als Utopie der Literatur. Prospero stellt eine besondere Form des poeta doctus dar, einen Gelehrten, der als Herzog von Mailand die Staatsgeschäfte lieber seinem Bruder überlassen hat, denn »Me (poore man) my Librarie / Was Dukedom large enough«.37 Als Prospero durch die Ränke seines Bruders und des Königs von Neapel ab- und auf einer einsamen Insel ausgesetzt wird, sorgt Gonzalo, »A noble Neopolitan«, dafür, daß Prospero wenigstens einen Teil seiner Bücher mitnehmen kann: »Knowing I lov'd my bookes, he furnished me / From mine owne library, with volumes, that / I prize above my Dukedome«.38 Mit Hilfe seiner Bücher wird Prospero zu einem mächtigen Zauberer, der die Insel als >Welt im Kleinen< und alles, was auf ihr geschieht, kontrolliert. Erst durch Prospero kann die Insel zum Schauplatz wundersamer Begebenheiten und merkwürdiger Verstrickungen werden. Ohne seine Bücher ist er jedoch machtlos. Die Bücher bilden den Rahmen, Hintergrund, Bestandteil und Ursprung des Geschehens. Prosperos Zauberkunst fungiert als Bild für die Macht der Dichtung und der Imagination. Der Dichter erschafft die Insel als Utopie der Literatur. Möglicherweise sind die handelnden Personen und Prosperos Umwelt nur Produkte seiner Phantasie. Auf seinen eigenen Charakter als literarische Figur, der wiederum auf den realen Autor Shakespeare verweist, macht Prospero selbst aufmerksam, wenn er sagt: »we are such stuffe / As dreames are made on; and our litde life / Is rounded with a sleepe.«39 Am Ende des Stücks ertränkt Prospero sein Zauberbuch, verzichtet mithin auf seine poetische Macht und ruft stattdessen die Macht der Phantasie des Zuschauers auf, die ihn und sein Gefolge nach Hause bringen soll.40

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William Shakespeare: The Tempest. [Zuerst 1623.] Hg. von Neil Freeman. New York 1998, S. 8 (Akt I, Szene 2, Vers 132f.). Ebd., S. 10 (Akt I, Szene 2, Vers 200ff.). Ebd., S. 64 (Akt IV, Szene 1, Vers 171 ff.). Mit seinem Film Prospero's books liefert der Regisseur Peter Greenaway eine Interpretation von The Tempest, die die Rolle der Bücher im beschriebenen Sinne besonders hervorhebt (England, Niederlande, Frankreich 1991). Allerdings ist in Shakespeares Text das Verhältnis zwischen den vielen Büchern von Prosperos Bibliothek und dem einen Zauberbuch nicht eindeutig bestimmt. - Eine weitere, besonders intrikate Version des Zusammenhangs von Buch und Büchern, Utopie und Labyrinth findet sich in der Continuatio von Grimmelshausens Simplidssimus Teutsch (vgl. Waltraud Wiethölter: »Baltanderst Lehr und Kunst«. Zur Allegorie des Allegorischen in Grimmelshausens Simplidssimus Teutsch. In: Deutsche Vierteljahrsschrift fur Literaturwissenschaft und Geistes-

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Auch der Erzähler von Cbristiancpolis kehrt am Ende auf nicht weiter beschriebene Weise nach Hause, in die >reale< Welt zurück, nimmt aber aus der Christenstadt deren Ideale mit, verbunden mit dem Ziel, sie daheim weiterzuverbreiten. Die wichtigsten Ideale sind die konsequente Ausrichtung des individuellen Lebens an der Heiligen Schrift sowie die Bildung des Individuums und die Ausrichtung der Wissenschaft an Welterfahrung und Experiment - und nicht mehr an der Buchgelehrsamkeit. Vor diesen Ideen verblaßt der Eindruck, den die utopische Universalbibliothek auf den Erzähler gemacht hat. Vorherrschend ist die Erfahrung der Bibliothek als Instanz, die den Reformidealen von Christianopolis nicht entspricht.41

geschichte 68 [1994], S. 45-65, hier S. 46): Weil Simplicius auf seiner einsamen Insel, auf die er nach der Reise durch den >Irrgarten der weltlichen Eitelkeiten gelangt ist, die geliebten Bücher fehlen, beschließt er, seine Insel als die ganze Welt und diese Welt als Buch aufzufassen (Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Simplicissimus Teutsch. [Zuerst 1669.] In: Werke I 1. Hg. von Dieter Breuer. Frankfurt am Main 1989 [Bibliothek der frühen Neuzeit. Zweite Abteilung. Band 4, 1], S. 674-683 [Kapitel 23 und 24]). Simplicius formuliert hier mithin das auch bei Andreae und Shakespeare erkennbare Strukturprinzip, daß die utopische Insel eine >Welt im Kleinem darstellt, und verbindet es spielerisch mit der Vorstellung vom >Buch der Weltelastisch< wie möglich zu erhalten. Eine Literaturwissenschaft, die sich ihrer Verantwortung um die Rekonstruktion historisch vermittelter Sachverhalte bewußt ist, wäre dann nicht die geschäftsmäßige Verwaltung kanonisierter Fächer, sie wäre vielmehr die am überlieferten Material stets neu zu definierende Form historischer Reflexion. Das Werk von Johann Albert Fabricius (1668-1736) wurde von der neueren Literaturwissenschaft im allgemeinen selektiv wahrgenommen: (1) im Blick auf seinen Beitrag zur Patriotischen Gesellschaft in Hamburg sowie (2) in Beziehung auf die physikotheologische Grundlegung von Barthold Heinrich Brockes' Gedichten. Es konnte nicht ausbleiben, daß ein derart beschränktes Vorgehen zu eklatanten Verzeichnungen und Irrtümern führen mußte. Erst die monumentale Abhandlung des dänischen Forschers Erik Petersen9 stellte Fabricius' Leben und Werk in eine von der Sache her begründete Perspektive, in der auch sein Anteil an der Patriotischen Gesellschaft und der Beitrag zur Physikotheologie angemessen gewürdigt ist. Da das Buch in dänischer Sprache verfaßt ist, sind wir gewiß, daß es innerhalb der germanistischen Literaturwissenschaft keine hörbare Resonanz finden wird. Nimmt man indes nicht den autoritativ verfestigten Kanon eines >FachesArchivum Romanicum< I 28). Vgl. Rene Marache: La critique litteraire de langue latine et le developpement du goüt archai'ssant au IIe siecle de notre ere. Rennes 1952, S. 181-310; Ralph Häfner: >Paideia< und >HumanitasUn< dans l'histoire de la philosophic. Etudes en hommage au professeur Werner Beierwaltes. Montreal, Paris 2003, S. 3 0 2 338. - Vgl. Marie-Luise Lakmann: Der Platoniker Tauros in der Darstellung des Aulus Gellius. Leiden 1994; dies.: Favorinus von Arelate. Aulus Gellius über seinen Lehrer. In: Beate Czapla, Tomas Lehmann, Susanne Liell (Hgg.), Vir bonus dicendi peritus. Festschrift für Alfons Weische zum 65. Geburtstag. Wiesbaden 1997, S. 233-243. Vgl. Jean Dagen: L'histoire de l'esprit humain dans la pensee fran^aise de Fontenelle ä Condorcet. Paris 1977; Ralph Häfner: Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre. Studien zu den Quellen und zur Methode seines Geschichtsdenkens. Hamburg 1995 (Studien zum 18. Jahrhundert 19), Zweiter und Dritter Teil.

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Schriften des französischen Protestanten hauptsächlich verfolgte, unmittelbar evident. Wie nicht wenige Kritiker seiner Zeit besaß Fabricius eine ausgesprochene Vorliebe für seltene, merkwürdige und in ihrem Wahrheitsgehalt zweifelhafte Schriften. Was uns heute als Skurrilität erscheinen könnte, bildete in der Tat einen wesentlichen Aspekt dieser geselligen Geschmackskultur. Werke wie Jacques Gaffarels Curiosite^ inoujes (1629), Edmund Dickinsons Delphi phoenid^antes (1655) oder Jacob Tollius' Fortuita (1687)15 stellten die Urteilskraft des Lesers beständig auf die Probe, und es ist dieses Vermögen der Urteilskraft (iudicium) oder Kritik,16 deren Ausübung sinnvolle soziale Interaktion allererst ermöglicht. Die Historia literaria stellte demnach den — in welchem Sinne auch immer — kritisch aufbereiteten Stoff zur Verfügung, der die Grundlage für eine menschenwürdige, das heißt: für eine die individuelle Geisteskultur zum Ausdruck bringende und sie respektierende Kommunikation schuf. Die Ordnungssysteme der Historia literaria sind mannigfaltig.17 Sie reichen von alphabetischen oder chronologischen Gliederungen über komplexe topische Schematismen unterschiedlichster Provenienz und Leistungskraft bis hin zu bunten Sammlungen verstreuter Beobachtungen, die einem gleichsam aleatorischen Gliederungsprinzip unendlicher variatio unterworfen sein können. Von all dem findet sich auch etwas in Colomies' Schriften. Der Band der Fabricius'schen Edition ist 900 Quartseiten stark. Die mit gut 270 Seiten umfangreichste Einzelschrift ist Colomies' Gallia orientalist Ihrem Titel gemäß enthält die Abhandlung Nachrichten über das Leben und Wirken solcher französischen Gelehrten, die sich mit dem Hebräischen oder anderen orientalischen Sprachen beschäftigt haben. Das Werk ist während Colomies' Aufenthalt in Den Haag im Hause von Isaac Vossius 1665 vollendet worden; der Autor hat es dem Nestor der orientalischen Sprachen, Samuel Bochart (1599-1667), gewidmet. Colomies hatte die Absicht, vergleichbare Überblicke über die orientalischen Studien in den Vereinigten Niederlanden, in Italien, Deutschland und England, zusammenzustellen. Dazu ist es jedoch nie gekommen. Die Gallia orientalis verfügt über einen Index der Namen, der dem eigentlichen Beginn der Sammlung vorangestellt ist. Er ist der Schlüssel zu einem

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Zu Fabricius' Beschäftigung mit diesen Werken vgl. Häfner, Götter im Exil (wie Anm. 11), S. 429ff., 353ff., 392ff. (vgl. auch die Registerangaben). Vgl. Herbert Jaumann: Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius. Leiden, New York, Köln 1995 (Brill's Studies in Intellectual History 62). Vgl. Helmut Zedelmaier: Bibliotheca universalis und bibliotheca selecta. Das Problem der Ordnung des gelehrten Wissens in der frühen Neuzeit. Köln, Weimar, Wien 1992; Wilhelm Schmidt-Biggemann: Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg 1983 (Paradeigmata 1). Paul Colomies: Gallia orientalis, sive gallorum qui linguam hebraeam vel alias orientales excoluerunt vitae. In: ders., Opera, theologici, critici & historici argumenti [...]. Hg. von Johann Albert Fabricius. Hamburg 1709, f. [ ) ( l ] r bis S. 272.

Literarische Zimelien

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Überblick, der weitgehend chronologisch aufgebaut ist. Der erste genannte Autor ist Ermengaud Blaise (Armegandus Blasii, fl. 1314) aus Montpellier, der zur Zeit Philipps des Schönen lebte und Avicenna und Averroes aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzt hat. Im Druck erschienen diese Übertragungen zuerst in der von Andrea Alpago herausgegebenen Ausgabe der Werke Avicennas. Der letzte genannte Autor (vor der »Appendix«) ist Jacques Cappel (d.J.) aus Saumur, der Sohn des Hebraisten Louis Cappel, bei dem Colomies selbst - wie bemerkt studiert hatte. Louis Cappel war 1658, über achtzigjährig, verstorben (»ad meliores sedes migravit amantissimus Praeceptor«).19 Mit Jacques Cappel reicht die Übersicht demnach bis in Colomies' eigene Gegenwart. Umfangreichere Einträge finden sich unter anderen zu Robert Estienne, Guillaume Postel, Jean Bodin, Gilbert Genebrard, Franciscus Iunius, Pontus de Thyard, Jean Bourdelot, Samuel Petit, Claude Fabri de Peiresc, Claude de Saumaise, Denis Petau, Gilbert Gaulmin und Samuel Bochart. Der mit Abstand ausführlichste Beitrag ist Joseph Justus Scaliger gewidmet. An ihm können wir exemplarisch die Binnenstruktur der Sammlung studieren. Colomies beginnt regelmäßig mit einem Überblick über die Lebensgeschichte des betreffenden Gelehrten; darauf folgt ein Verzeichnis der Schriften, das auch endegen publizierte Abhandlungen sowie Beiträge zu Werken anderer Autoren berücksichtigt. Im Falle Scaligers fügte Colomies ein Verzeichnis nicht gedruckter Schriften aus dem Nachlaß (»Scripta ä Scaligero promissa, quorum Fragmenta asservantur in Bibliotheca Leydensi & alibi«) sowie eine Übersicht über die Scaliger gewidmeten Werke fremder Autoren an. Die Bibliographie wird abgerundet durch eine Abteilung »Scripta contra Scaligerum«. Den größten Teil des Eintrags nimmt indes der abschließende Abschnitt ein, der verschiedenste Beobachtungen von Zeitzeugen zu Person und Werk Scaligers enthält (»Qui Scaligerum laudarunt«; »Qui Scaligerum reprehenderunt«). Wir können daran vor allem zwei Beobachtungen machen: (1) Colomies beschränkt sich keineswegs exklusiv auf Arbeiten zur orientalischen Sprach- und Literaturwissenschaft, er berücksichtigt vielmehr das gesamte CEuvre der aufgeführten Personen. Der Leser ist damit in den Stand gesetzt zu beurteilen, welches Gewicht den orientalischen Studien im Werk der berücksichtigten Autoren jeweils zukommt. (2) Die ausführliche Präsentation der Zeugnisse von Zeitgenossen (auch hier bezieht sich der geringste Teil auf orientalische Sprachen) gibt dem Leser die Möglichkeit, Argumente und Gegenargumente kritisch zu überprüfen. Greifen wir ein mehr oder weniger zufälliges Beispiel heraus. Aus dem Socrate (1652) des Jean-Louis Guez de Balzac, einem von Colomies gerne zitierten Autor, führt er unter anderem einen Disput zwischen Scaliger und Justus Lipsius an: Scaliger habe gesagt, »que la Thebaide de Seneque est un mauvais Poeme & l'essay d'un apprenti; Lipse dit au contraire que c'est une piece divine & le chef d'ceuvre d'un maistre. A qui df]eux croirons nous? Ni ä Tun ni ä l'au-

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Colomies, Gallia orientalis (wie Anm. 18), s.v. Ludovicus Capellus (S. 223).

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tre, mon Reverend Pere, Tun en dit trop, & l'autre trop peu.« 20 All dies hat nichts mit orientalischen Studien in Frankreich zu tun, wie der Titel Gallia orientalis hätte erwarten lassen. D a s Kompositionsprinzip der Sammlung indes folgt offensichtlich der Maxime >variatio delectatBibliotheken< (Bibliotheque choisie, Bibliotheque universelle) handelt es sich auch hier um eine kritische Bücherumschau, um eine Reihe von Rezensionen oder Buchempfehlungen, wobei der überwiegende Teil der berücksichtigten Bücher in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts publiziert worden war. Leitendes Prinzip dieser Sammlung war also nicht >Aktualität< im Sinne einer Präsentation von Neuerscheinungen, sondern vielmehr Interessantheit der präsentierten >SachenGeschichtchen< des Recueil ist es abermals das Ziel des Autors, die soziale Kommunikation der >Savants< durch kritische Beobachtungen anzuregen, ohne Verdruß oder Bitterkeit (aigreur) hervorzurufen. 29 Höchstes Gebot dieser Geschmackskultur ist gesellschaftliche Schicklichkeit (honnetete), die Pikanterie und Scharfsinn ja nicht ausschließt. Einziges Kriterium der Auswahl ist die solcherart akzentuierte Qualität der vorgestellten Bücher. Konfessionelle Richtungskämpfe spielen in der Gelehrtenrepublik eine komplexe Rolle. In der Sammlung des Protestanten Colomies hat daher ein Werk wie der Uber de ludicra dictione (Paris: Sebastien Cramoisy, 1658) des Jesuiten Frar^ois Vavasseur ebenso seinen Ort wie Jean Dailies Tratte de l'emploj des saints Peres in der lateinischen Ubersetzung von 1655. Eine kritische Edition wie die FlorusAusgabe des schon mehrfach genannten Claude de Saumaise (1655) findet Colomies' Interesse, aber auch die zwischen den Konfessionen umstrittene Abhandlung über die frühchristliche lateinische Messe (1557) von Matthias Flacius Illyricus. Selbstverständlich gibt es einen Hinweis auf Jacques Auguste de Thous Historia sui temporis in der Erstedition von 1604, die Colomies selbst für die biographischen Angaben der Persönlichkeiten in seiner Gallia orientalis ausgiebig benutzt hatte. Neben der Empfehlung des Jagdbuchs La chasse royale (gedruckt in Paris 1625) aus der Feder Karls IX. findet sich eine Besprechung von Johann

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2?

Paul Colomies: Bibliotheque choisie. In: ders., Opera (wie Anm. 18), S. 385—499. Ebd., »Avertissement«, S. 387: »[...] Mon dessein n'est pas d'y parier de toute sorte de Livres; mais seulement de quelques uns de ceux qui regardent les belles Lettres, ou qui ont fait & qui font encore aujourd'hui les delices de nos Savans.« Ebd., S. 388.

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Friedrich Gronovius' Edition des Titus Livius,30 diesmal mit weiteren Details über die zu Ballschlägern verarbeiteten Pergamente der Handschrift des Klosters von Fontevrault. Verhältnismäßig ausführlich (d. h. über knapp zwei Seiten) stellt der Autor Jacques Amyots berühmte französische Plutarch-Übersetzung (1604— 1610) sowie die Geographie des Stephanos aus Byzantion (De urbibus in der durch Tommaso de Pinedo kommentierten Ausgabe von 1678) vor.31 Mit der Präsentation von Werken zur Münzkunde (Ezechiel Spanheim, Dissertationes de praestantia belles lettres< so weit wie möglich aus. Sehr berühmte Schriften wie Isaac Casaubons Exercitationes contra Baronium (1614) setzen dieser Sammlung gewissermaßen die Glanzlichter auf. Wohl am stärksten vertreten ist Hugo Grotius;32 mit mehreren Werken ist auch Gerhard Johann Vossius präsent. 33 Bezeichnend für die kognitive Struktur der frühneuzeitlichen Historia literaria ist die Darstellung, die Colomies der Edition der Metamorphosen des Apuleius durch Johannes Pricaeus widmet.34 Der Hinweis auf die Konversion des englischen Gelehrten zum Katholizismus gerät Colomies zum Anlaß, eine ganze Reihe berühmter Konvertiten durchzugehen: darunter die Brüder Pierre und Franςοίβ Pithou, Nicolas Vignier, dessen Enkel Jerome Vignier, Jean Morin, Lucas Holstenius und dessen Neffe Peter Lambeck. Begründet ist ein derartiges Vorgehen nur durch die kognititive Struktur der loci communes selbst (hier unter dem Topos >KonversionSchriften in -anaad fontesBelles Lettres< geeignet, ein bis heute vor allem außerhalb der Frühneuzeitforschung hartnäckig fortbestehendes Vorurteil zu beseitigen: Seiden hatte weder Gedichte noch Tragödien oder Romane geschrieben; der Gebrauch des Wortes >Belles Lettres< umfaßt vielmehr den gesamten Bereich der artes liberales, im Falle Seidens insbesondere Archäologie sowie vergleichende Religions- und Rechtsgeschichte. Fabricius beschloß den Band mit dem Verzeichnis der umfangreichen Handschriftensammlung, die sich im Besitz von Isaac Vossius befunden hat. Es handelte sich hierbei um eine Arbeit, die Colomies im Auftrag seines Dienstherrn, des Erzbischofs von Canterbury William Sancroft, angefertigt hatte.47 Die Motive, die Fabricius zur Edition eines Buches wie der gesammelten Werke von Paul Colomies angeregt haben, sind einleuchtend. Naturgemäß richtete sich eine Ausgabe dieser Art an ein gesamteuropäisches Publikum, dem damit eine große Menge seltener Details aus der Geschichte des Denkens wieder zugänglich gemacht worden ist. Auch auf Colomies selbst trifft zu, wenn er vor allem zwei Qualitäten an dem englischen Gelehrten Johannes Pricaeus auszeichnend hervorhob: er sei »d'une li[t]terature vaste, & d'un grand jugement«.48 Es sind dieselben Merkmale, mit denen das Projekt der Historia literaria um 1700 umschrieben 45

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48

Vgl. hierzu: Rene Pintard: Le libertinage erudit dans la premiere moitie du XVII e siecle. Paris 1943. ND Genf, Paris 1983, S. 92-98; Harcourt Brown: Scientific Organisations in Seventeenth Century France (1620-1680). [Zuerst 1934.] New York 1967, S. 1-16; Klaus Garber: A propos de la politisation de l'humanisme tardif europeen. Jacques Auguste de Thou et le >Cabinet Dupuy< ä Paris. In: Christiane LauvergnatGagniere, Bernard Yon (Hgg.), Le juste et l'injuste ä la Renaissance et a l'äge classique. Actes du colloque international tenu ä Saint-Etienne du 21 au 23 avril 1983. SaintEtienne 1986, S. 157-177; ders.: Paris, die Hauptstadt des europäischen Späthumanismus. Jacques Auguste de Thou und das Cabinet Dupuy. In: Sebastian Neumeister, Conrad Wiedemann (Hgg.), Res Publica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit. 2 Bde. Wiesbaden 1987 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 14), S. 71-92. Colomesiana (wie Anm. 40), S. 814. Die Skizze eines derartigen Verzeichnisses enthielt bereits der Kecueil de parüculante£ (wie Anm. 23), S. 330-332. Paul Colomies: Bibliotheque choisie. In: ders., Opera (wie Anm. 18), S. 463.

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Ralph Häfner

werden kann: Polymathie ist ein umfassendes Wissen, das die Bildung einer freien Persönlichkeit reflektiert; sie ist dann schönster Ausdruck menschlicher Möglichkeiten (im Sinne von Aulus Gellius' Verständnis von humanitas in Noctes Atticae XIII, 16), wenn sie von einem gesunden Urteil begleitet und durchdrungen wird. Darin ist die Historia literaria noch immer mit der Polymathie des 15. und 16. Jahrhunderts verbunden, wenngleich sich die Bestimmung dessen, was jeweils ein >gesundes Urteil· ausmacht, gehörig gewandelt hatte. Das Projekt der Historia literaria indes ist in hohem Maße selbst-reflexiv, denn es gibt sich beständig über diesen Wandel Rechenschaft. Das Verhältnis beider Merkmale zueinander, umfassende Bildung und gesundes Urteilsvermögen, konnte dabei sehr unterschiedlich bestimmt sein. Christian Thomasius etwa verstand die Polymathie als weitgehend hinderlichen Ballast, der seinem Verständnis von einem vernünftigen, auf gesellschaftliche Nützlichkeit bedachten Urteil nur im Wege stand.49 >Kritik< war ihm gewissermaßen ein Vomitiv gegen übermäßige Gelehrsamkeit. Johann Albert Fabricius, auf der anderen Seite, war überzeugt, daß das für den Menschen gültige Projekt einer Befreiung des Verstandes50 aus der Knechtschaft der Unwissenheit und Dummheit nur im Durchgang durch eine umfassende Bildung erreicht werden könne; deren Inhalte durften eben nicht an dem stets flüchtigen und wandelbaren Maßstab gesellschaftlicher Nützlichkeit ausgerichtet werden - ein Maßstab, der geeignet war, ganze Epochen ins Unrecht zu setzen. Fabricius glaubte fest, daß der unfreie, weil an gesellschaftliche Konventionen gebundene Geist nicht mehr weit von jenem Ungeist entfernt sei, der alles ausscheidet, was seinem >barbarischen Knechtssinn< an scheinbar Überflüssigem entgegentritt. Von dieser Warte aus könnte man im Falle von Thomasius von einer gewissen Tragik sprechen, denn die berechtigte Autoritätskritik stand hier in der Gefahr, in kritischer Ignoranz zu enden, die alle Freiheit und Schönheit der Bildung durch das Verdikt der Nützlichkeit zunichte machte. Genau darin gründeten die Einwände, die der junge Fabricius 1688 gegen den Autor der Hof-Philosophie erhoben hatte.51 Colomies führt in seiner Gallia orientalis eine Bemerkung aus Antoine Du Verdiers Bibliotheque (1585) an, in der dieser über seine Begegnung mit Guillaume Postel berichtet, der sich in den letzten achtzehn Jahren seines Lebens ins Kloster von Saint Martin des Champs in Paris zurückgezogen hatte. Du Verdier führt über Postel aus:

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Vgl. Jaumann, Critica (wie Anm. 16), S. 278-281. Vgl. hierzu die überzeugenden Darlegungen von Erik Petersen, Johann Albert Fabricius (wie Anm. 9), S. 836-843; vgl. S. 463-472 (vgl. auch meine Rezension [wie Anm. 9], S. 264). Vgl. Ralph Häfner Philologische Festkultur in Hamburg im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts. Fabricius, Brockes, Telemann. In: ders. (Hg.), Philologie und Erkenntnis. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 61), S. 349-380, hier S. 350-352.

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Nachdem ich mit ihm einige philosophische und theologische Fragen besprochen hatte, erkannte ich durch seine Äußerungen, daß sein Hirn entweder nicht richtig tickte oder daß er böswillig und schlecht war. Außerdem erkannte ich, daß er von einer extremen Ehrsucht und Arroganz besessen war; denn, nach mehreren seiner verstiegenen Reden, von denen ich nichts begriff und die er selbst, glaube ich, nicht verstand (unter anderem versicherte er frech, daß jeder, der seine Kenntnis und sein Wissen besäße, niemals sterben würde), sprach er dann tausend Verleumdungen gegen den Kardinal Karl von Lothringen aus, und über unendliche Ausschweifungen hinweg wollte er sich gewissermaßen Prophet nennen.52

Gewiß, man konnte derlei Anmerkungen als unnützen Gelehrtentratsch abtun, bei dem man sich nicht länger aufzuhalten brauchte. Im Blick auf die Sozialisation des freien Geistes, der das Projekt der Historia literaria gewidmet war, bot Du Verdiers Bericht jedoch die Möglichkeit, sich mit unterschiedlichsten Facetten von Lebens- und Denkhaltungen vertraut zu machen; sie setzten den Leser in den Stand und leiteten ihn dazu an, die Geschmackskultur der eigenen Lebenszeit maßvoll zu modulieren. Diesem Projekt eignete eine Intention, die Aulus Gellius bei der Niederschrift der Attischen Nächte einst geleitet hatte. Anekdotisches Wissen wie die >literarischen Kostbarkeiten^ die Colomies vor dem neugierigen Auge des Lesers ausbreitete, bot nicht nur reichlich Stoff zu lustvoller Konversation; es schulte zugleich spielerisch die Urteilskraft zusammen mit einem beinahe unendlichen Bildungswissen im Sinne der >Belles Lettres< im Rahmen der artes liberales. Ausschlaggebend für die Ordnung des Wissens war weniger ein genau definiertes Reglement, auch wenn Gliederungen nach topischen Gesichtspunkten überwiegen; entscheidend ist vielmehr das Streben nach größtmöglicher Variation und Abwechslung innerhalb dieser Zimeliensammlung. Daß Fabricius die Schriften des Gelehrten aus La Rochelle 1709 wieder auflegte, zeigt nicht nur ein Interesse an vergangenen Ereignissen, insofern sie vergangen sind; man erkennt vielmehr ein Verständnis von literarischer Bildung, welches er selbst für die Konversationskultur Hamburgs im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts geformt und gefördert hatte. Von dieser Überzeugung, daß Wissen eine kultivierte Lebenspraxis allererst ermöglicht (wiewohl nicht garantiert), gibt seine

52

Antoine Du Verdier: La Biblioteque [...] contenant le catalogue de tous ceux qui ont escrit ou traduict en fran^ois et autres dialectes de ce royaume. Lyon 1585, zitiert nach Paul Colomies, Gallia orientalis (wie Anm. 18), S. 62: »[...] Et ayant discouru avec luy sur la Philosophie, & sur quelques poincts de Theologie, je cogneus par ses propos, ou qu'il n'avoit pas le cerveau bien compose, ou qu'il estoit meschant & malin. Outre ce je le cogneus possede d'une extreme ambition & arrogance; car luy apres plusieurs siens discours chimeriques oü je n'entendois rien, & luy mesme je croy ne les entendoit pas, (entre lesquels cet impudent asseura que tout homme qui auroit la cognoissance & science qu'il avoit, ne mourroit jamais) il se mit par apres ä dire mille maux du feu Reverendissime Charles Card. De Lorraine, & par infinite d'ambages se vouloit dire aucunement Prophete.«

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Tätigkeit am Akademischen Gymnasium ebenso Zeugnis wie seine in den wechselnden gelehrten Freundschaftszirkeln entfaltete Wirksamkeit. 53

53

Vgl. Christian Petersen: Die Teutsch-übende Gesellschaft in Hamburg. In: Zeitschrift des Vereins fur Hamburgische Geschichte 2 (1847), S. 533-564; Wolfgang Philipp: Das Werden der Aufklärung in theologiegeschichtlicher Sicht. Göttingen 1957, S. 34—47; Franklin Kopitzsch: Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg und Altona. 2., ergänzte Auflage. Hamburg 1990, S. 262-280; ders.: Sozietäten und Literatur in der Hamburger Aufklärung. In: Inge Stephan, Hans-Gerd Winter (Hgg.), Hamburg im Zeitalter der Aufklärung. Hamburg 1989 (Hamburger Beiträge zur Öffentlichen Wissenschaft 6), S. 124—136; Jürgen Rathje: Gelehrtenschulen, Gelehrte, Gelehrtenzirkel und Hamburgs geistiges Leben im frühen 18. Jahrhundert. Ebd., S. 93-123.

GUIDO NASCHERT

Wissensordnungen und ihre Narrativierung in Jean Jacques Barthelemys Voyage du jeune Anacharsis en Grece Mit seiner 1788 erschienenen Voyage du jeune Anacharsis en Grece gelang dem Pariser Numismatiker und Antiquar Jean Jacques Barthelemy einer der größten Bucherfolge des gelehrten Europa im Ausgang der Frühen Neuzeit. Es ist nicht nur die Veröffentlichung am Vorabend der Französischen Revolution, die den Schwellencharakter dieses Werkes indiziert, auch wissenschaftsgeschichtlich kommt es am Ende des 18. Jahrhunderts mit dem gräkophilen Neuhumanismus und Neoklassizismus zu einem strukturellen Wandel gelehrten Wissens, an dem Barthelemys Werk selbst einen nicht geringen Anteil hatte. So groß jedoch die internationale Euphorie bis weit in das 19. Jahrhundert hinein war, die das Werk bei seinen Lesern entfachte, so selten sind die Auseinandersetzungen, die ihm gegenwärtig noch gewidmet werden. Selbst in neueren Literaturgeschichten sucht man den Namen Barthelemy mitunter vergeblich.1 Grund hierfür dürfte nicht zuletzt die unbefriedigende gattungsgeschichtliche Einordnung des Textes sein. Offenkundig steht er in der Tradition des französischen Reise- und Bildungsromans.2 Die ältere Romanistik hat ihn zudem als »den ersten leidlich gelungenen Versuch des kulturgeschichtlichen Romans« charakterisiert und betont zu Recht die Nähe zur Geschichtsschreibung.3 So zutreffend diese Wertungen in ihren Teilaspekten sind, so ist ihnen doch die pejorative Einschätzung des Romancharakters als Resultat eines verengten Gattungsblicks gemeinsam. Wer Barthelemys Werk von der Romangattung aus angeht, dem wird die pädagogische Funktion des Textes leicht als ästhetisch abträglich erscheinen.

1

Vgl. etwa Dietmar Rieger: Die Literatur des 18. Jahrhunderts. In: Jürgen Grimm (Hg.), Französische Literaturgeschichte. 4., überarbeitete und aktualisierte Aufl. Stuttgart 1999, S. 183—232. Rieger hat sich an anderer Stelle ausführlich mit Barthelemy auseinandergesetzt, vgl. ders.: Imaginäre Bibliotheken. Bücherwelten in der Literatur. München 2002. Dazu unten in Kap. III.

2

Siehe Karl Wildstake: Wielands Agathon und der französische Reise- und Bildungsroman von Fenelons Telemach bis Barthelemys Anacharsis. Diss. München 1933, S. 2 5 - 3 6 , sowie Claudia Ungefehr-Kortus: Anacharsis, der Typus des edlen, weisen Barbaren. Frankfurt am Main u. a. 1996, S. 247.

3

Eduard Engel: Geschichte der französischen Litteratur von ihren Anfängen bis auf die neueste Zeit. Leipzig 1897, S. 302.

Guido Naschert

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Eine andere Lektüreweise wurde von Victor Klemperer nahegelegt. Er wür-

digt im zweiten Band seiner Geschichte der französischen

Literatur im 18. Jahrhundert

Barthelemy als mächtigsten Gehilfen Jean Jacques Rousseaus4 und versteht den Anacharsis von daher als »die Enzyklopädie des neuen Antikenkults«.5 Barthelemy hatte »keineswegs die Absicht, einen Roman zu schreiben,«6 bemerkt Klemperer ausdrücklich, vielmehr sei der Erfolg des Textes darauf zurückzuführen, daß es sich hier um »das flüssigste und kompetenteste Lehrbuch einer besonders erwünschten Wissenschaft« 7 handelt. Dies aber bedeutet, daß der Anacharsis in erster Linie als Kompendium der antiken Geschichte zu lesen und in seiner Analyse den funktionalen Vorgaben und Problemstellungen einer pragmatischen Textgattung zuzuordnen ist. Die »Nähe zur Sachprosa«8 ist für den Roman des 18. Jahrhunderts aus verschiedenen Perspektiven hervorgehoben worden und nichts Außergewöhnliches. Nimmt man sie ernst, verändern sich jedoch ebenso die Kontexte wie die Maßstäbe, die angelegt werden müssen. Altertumswissenschaft, Geschichtsschreibung, Enzyklopädismus und auch die Historia literaria9 erscheinen so als vorrangige Kontexte, die die Frage nach der Bildungsfunktion

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5 « 7 8

9

Vgl. Victor Klemperer: Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert. Bd. 2: Das Jahrhundert Rousseaus. Halle (Saale) 1966, S. 404. Klemperer folgt hier der Biographie von Maurice Badolle: L'abbe Jean-Jacques Barthelemy (1716-1795) et l'Hellenisme en France dans la seconde moitie du XVIIIe siede. Paris 1926, S. 287. Ebd., S. 397. Ebd., S. 400. Ebd., S. 404. Horst Thome: Wielands Romane als Spiegel und Kritik der Aufklärung. In: SvenAage Jorgensen, Herbert Jaumann, John McCarthy, Horst Thome, Wieland. Epoche Werk - Wirkung. München 1994, S. 120-158, hier S. 122. Vgl. zur >Öffnung des Romans zur Geschichte< in der französischen Literatur seit Mitte des 17. Jahrhunderts Jürgen Grimm: Das >klassische< Jahrhundert. In: ders. (Hg.), Französische Literaturgeschichte (wie Anm. 1), S. 171-173. Die ältere Forschung behandelte die >Litterärgeschichte< vor allem als Vorgeschichte zur neueren Literaturgeschichtsschreibung. Siehe dazu Sigmund von Lempicki: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1920, 2. Aufl. 1968, sowie Klaus Weimar: Litterärhistorie und Literaturgeschichte. In: ders., Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München 1989, S. 107-147. Eine erste Neubewertung der Historia literaria gelang vor allem durch die Arbeiten von Martin Gierl: Bestandsaufnahme im gelehrten Bereich. Zur Entwicklung der >Historia literaria< im 18. Jahrhundert. In: Denkhorizonte und Handlungsspielräume. Festschrift fur Rudolf Vierhaus zum 70. Geburtstag. Göttingen 1992, S. 53-80; ders.: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts fur Geschichte 129), bes. S. 514-542, und Helmut Zedelmaier: >Historia literariaNutzen< für den Leser von der inhaltlichen Darstellung auf die pragmatische Ebene des Textes verschieben. Barthelemys >Roman< gehört zwar nicht unmittelbar dem Kontext der deutschen Historia literaria an, die Problemstellungen seiner Anlage und Durchführung liegen jedoch auf derselben Ebene eines Strukturwandels gelehrten Wissens. Ihn in Kenntnis der neueren Historia literaria-Forschungen zu lesen, vermag daher nicht nur die Übergänge und Verwandtschaften zwischen frühneuzeitlichem Roman und den pragmatischen Textgattungen zu verdeutlichen, der veränderte Blickwinkel erlaubt es überdies, die an späteren Romanvorstellungen orientierten Wertungen zu historisieren. So kann gerade die von den Zeitgenossen betonte ästhetische Innovation des Werkes verständlich werden. Zu den Eigenarten des enzyklopädisch angelegten Romans gehört es, daß er keine kontinuierliche, von Anfang bis Ende fortschreitende Lektüre erfordert und auch von den zeitgenössischen Lesern nicht ausschließlich in dieser Art und Weise genutzt worden ist. Vielmehr ist der Grad an Texterschließung durch Lemmatisierung und Verschlagwortung, Tafeln, Register und Karten so dominant, daß durch seine lexikographische Anlage eine selektive und gezielte, auf Autoren und Werke, Themen und kulturgeschichtliche Realien gerichtete Lektüre ermöglicht wird. Zudem soll die überwiegend faktuale, auf Wissensvermittlung ausgerichtete Schreibart des Textes seinen fiktionalen Charakter in den Hintergrund drängen, damit beim Lesen das Präsenserlebnis des historischen Zusammenhangs im Vordergrund bleibt und die Fiktion eines reisend die Bildung seiner Zeit aufnehmenden Skythen als propädeutisches Mittel durchschaubar bleibt. Die erzählte Welt des Anacharsis ist daher in weiten Teilen eine zitierte und paraphrasierte Welt, die das Wissen der Antike in eine neue Ordnung bringt und ihre Ereignisse durch Literaturangaben an die einzelnen Autoritäten bindet. Dies dient nicht allein der Beglaubigung, sondern zugleich der propädeutischen, auf das eigentliche Quellenstudium ausgerichteten Funktion. Der Leser des Anacharsis soll sich zunächst in den Gesamtzusammenhang der griechischen Antike einleben, sich ebenso faszinieren lassen von der Imagination der Landschaften und Städte, der Fremdheit ihrer Sitten und Gebräuche sowie der Vorbildlichkeit ihrer großen Gelehrten und Künsder, ehe er zur Lektüre der antiken Schriften selbst fortschreitet. Dadurch ist eine Textwelt entstanden, die über weite Strekken durch eine intertextuelle Doppelstimme gekennzeichnet ist, bei der neben dem Erzähler immer noch die jeweiligen Vorlagen hinzugedacht werden können. Statt den Anacharsis also als einen eher dürftigen Roman mit ausufernder Tendenz zur Didaxe einzuschätzen, sollte man ihn — in Weiterführung der Uberlegungen Klemperers - entschiedener als bisher als den seltenen Versuch eines narrativen Kompendiums betrachten, dessen funktionale Vorgaben aus den Problemstellungen der pragmatischen Gattungen erwachsen, mit denen es in Konkurrenz bleibt. Dies gewinnt dadurch an Brisanz, daß das Wissen des Anacharsis nicht einfach ein altertumskundliches ist, sondern sich zugleich der antiken Seite der >Querelle< verpflichtet weiß, ohne den aufklärerischen Antiquarianismus wirk-

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Guido Naschert

lieh abzulegen.10 Eben dies ermöglichte im deutschsprachigen Raum — und darauf bleibt diese aus germanistischer Sicht verfaßte Fallstudie beschränkt - unterschiedliche Rezeptionstypen: Neben dem pädagogischen Abrege und der pastdehehaften Fortschreibung sind hier vor allem die Wissensaneignungen und fiktionalen Umgestaltungen einzelner Autoren in den Blick zu nehmen, die von Barthelemys Gesamtschau ausgehend in den >Geist der Antike< eindringen wollten. Nach einer kurzen Einführung in das Leben Jean Jacques Barthelemys und den Entstehungskontext des Anacharsis (I) wird zunächst der narrative Grundriß des Werkes (II) vorgestellt. Im Mittelpunkt des Textes steht die selbstreferentielle Darstellung der Bibliothek des Atheners Euklid, die wesentlich einer litterärhistorischen Funktion dient. Diese >imaginäre Bibliothek^1 und ihre Gelehrtenkultur verdienen eine eigene Erörterung (III). Darauf folgt eine Analyse des RomanKompendiums in seiner Funktion als Informationsspeicher (IV). Abschließend ist auf die Nutzung des Textes einzugehen (V), die an Beispielen der deutschen Wirkungsgeschichte zwischen Klassizismus und Frühromantik (Heyne, Meiners, Wieland, Schiller, Schlegel, Hölderlin) typologisch verdeutlicht werden kann. Ausgehend von der Nutzbarkeit des Textes lassen sich in Barthelemys RomanKompendium geradezu Wunschvorstellungen des Antiquarianismus und der Historia literaria wiedererkennen, was das durchweg positive deutsche Echo auf den Text zumindest teilweise erklärt.12

I. Jean Jacques Barthelemy und die Entstehung des Anacharsis »Gelehrtentum ist der Grundzug seines gesamten Lebens,«13 schreibt Victor Klemperer und gibt damit einen Leitfaden an die Hand, nach welchem sich Barthelemys intellektuelle Biographie erzählen ließe.14 In jungem Alter trat der 10

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Siehe Wolfgang Weber: Zur Bedeutung des Antiquarianismus für die Entwicklung der modernen Geschichtswissenschaft. In: Geschichtsdiskurs Bd. 2: Anfänge modernen historischen Denkens. Frankfurt am Main 1994, S. 120-135. Vgl. Rieger, Imaginäre Bibliotheken (wie Anm. 1), S. 120-122, sowie den Beitrag von Dirk Werle im vorliegenden Band. Zitatangaben aus dem Anacharsis beziehen sich im folgenden auf die beiden siebenbändigen Ausgaben Reise des jungen Anacharsis durch Griechenland vierhundert Jahr vor der gewöhnlichen Zeitrechnung in der Übersetzung von Johann Erich Biester. Die Bände 1, 2, 4, 6, 7 folgen der Haas'schen Ausgabe, Wien, Prag 1802, die Bände 3 und 5 der Lagardschen Ausgabe, Berlin 1793 (= Reise). Die französischen Zitate entstammen der Didot-Ausgabe Voyage dujeune Anacharsis en Grece, vers le milieu du quatrieme siede avant L'ere vulgaire. Quatrieme Edition. Paris, L'an septieme [1799] (= Voyage). Klemperer, Geschichte (wie Anm. 4), S. 399. An dieser Stelle können nur einige wesentliche Angaben zusammengefaßt werden, sie stützen sich vor allem auf die Biographie von Badolle, L'abbe Jean-Jacques Barthelemy (wie Anm. 4), sowie Jean Jacques Barthelemy: Memoires sur la vie et sur quelquesuns des ouvrages de Jean-Jacq. Barthelemy, ecrits par lui-meme en 1792 et 1793. Paris

Wissensordnungen und ihre Narrativierung in Barthelemys Anacharsis

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am 20. Januar 1716 in Cassis (Provence) geborene Barthelemy in das College de l'Oratoire in Marseille ein, wo er eine umfassende rhetorische Schulung erhielt. Mit siebzehn Jahren setzte er seine theologisch-philosophische Ausbildung bei den Jesuiten und später den Lazaristen fort.15 Hier erlernte er neben den heiligen Sprachen schon früh das Arabische, worin er bald zu predigen und zu disputieren vermochte.16 Eine theologische Laufbahn schlug er aus und kehrte mit einundzwanzig Jahren für kurze Zeit in seine Heimatstadt Aubagne zurück. In dieser Phase - er widmete sich besonders der Altertumswissenschaft, der Mathematik und Astronomie — ließ er sich vom Antiquar de Cary in Marseille in die Numismatik einführen. Sie bildete seitdem einen Schwerpunkt seiner antiquarischen Arbeiten. Aufgrund seiner Studien in Marseille und Aix, wo er sich in der Bibliothek des Präsidenten von Mazangues mit den Manuskripten des Gelehrten NicolasClaude Fabri de Peiresc (1580-1637) vertraut gemacht hatte, kam er im Juni 1744 mit Empfehlungsschreiben nach Paris, die ihn in den Kreis des Vorstehers der königlichen Münzsammlung, Claude Gros de Boze (1680-1753), einführten. Hier assistierte er de Boze, pflegte Austausch mit dem Comte de Caylus (1692-1765) und wurde zunächst Mitarbeiter des Münzkabinetts und später, nach dem Tod von de Boze, dessen Leiter. Bereits 1747 wird er Mitglied der Academie des Inscriptions. Sa vie fut active et laborieuse. On sait peu dans le monde combien le desir de s'instruire coüte de veilles, et combien d'heures il fait derober aux plaisirs et meme au repos. Chaque jour Barthelemy se levait ä cinq heures et traivaillait jusqu'ä neuf, heure ä laquelle il se rendait chez M. de Boze. II y restait jusqu'ä deux, et, apres diner, reprenait son travail jusqu'ä sept ou huit heures.17

Aus numismatischem Interesse kommt es in den Jahren 1755—1757 zu einer Italienreise, die der Erweiterung der Pariser Sammlung dient.18 Sie stellt einen

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[1798]; Louis-Jules-Barbon Mancini-Nivernois: Essai sur la vie de J.J. Barthelemy. Paris, L'An III [1795], wiederabgedruckt in: J.J. Barthelemy: CEuvres diverses. Paris 1828, Tome I, S. XI-XLVIII. Eine deutsche Übersetzung des Essai sur la vie de J.J. Barthelemy lieferte Albrecht Christoph Kayser: J.J. Barthelemy. Skizze nach dem Französischen des Nivernois. Hof 1796. Vgl. auch den Barthelemy-Artikel in: Nouvelle Biographie universelle. Paris 1853, Bd. IV, S. 622-624, sowie Matthieu Guillaume Therese Villenave: Notice sur les ouvrages de J.J. Barthelemy de l'Academie frangaise. Paris 1821. Vgl. Badolle, L'abbe Jean-Jacques Barthelemy (wie Anm. 4), S. 7-9. Vgl. ebd., S. 9, sowie Mancini-Nivernois in Barthelemy, CEuvres diverses (wie Anm. 14), S. XV. Nouvelle Biographie universelle (wie Anm. 14), S. 623. Vgl. Badolle, L'abbe Jean-Jacques Barthelemy (wie Anm. 4), S. 37-63. Die Italienreise Barthelemys ist in ihren Einzelheiten gut dokumentiert, siehe Antoine Serieys (Hg.): Des Abbe J.J. Barthelemy Reise durch Italien. Nach den Originalbriefen des Grafen von Caylus abgedruckt. Nebst einem Anhang von noch ungedruckten Schriften. Paris, Mainz 1802.

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Wendepunkt in Barthelemys Biographie dar, insofern sie den großangelegten Plan des Anacharsis initiiert, der ihn über dreißig Jahre beschäftigen sollte. Mit dessen Erscheinen 1788 stand er auf dem Zenith seines gelehrten Schaffens. Frühere Romane, wie etwa Les amours de Caiyte et de Polydore (1760), verblaßten im Schatten der neuen Enzyklopädie der griechischen Antike, die in großer Geschwindigkeit ins Deutsche (1789, 1792/93), Englische (1791) und Italienische (1791) übersetzt wurde. 19 Im Revolutions jähr 1789 folgte Barthelemy dem verstorbenen Sprachforscher und Enzyklopädisten Nicholas Beauzee (1717— 1789) in der Academie fran^aise nach und geriet unmittelbar in die politischen Wirren. Der Numismatiker hatte in diesen Monaten auf die »Liebe zu den Wissenschaften« und den konservativen »Geist der Wohltätigkeit« vertraut,20 wurde jedoch auf der Höhe seines europäischen Ruhms Opfer des gesellschaftlichen Umsturzes. Ein deutscher Beobachter verfolgt dieses prominente Schicksal der französischen Gelehrtengeschichte mit großer Anteilnahme: Endlich trat die stürmische Periode der französischen Revolution ein. Barthelemy erlebte den Verdruß, daß die Akademie der Inschriften, die Wiege seines literarischen Daseyns und Geschmacks, durch eine Verordnung des Nationalkonvents vom 8ten August 1793 unterdrückt wurde. [...] Die französische Staatsveränderung hatte ihm 25000 Livres Einnahme geraubt, ihn auf die engsten Bedürfnisse eingeschränkt, und nun noch in Gefahr gesetzt, auf einem Blutgerüst zu sterben. Auf Angeben eines elenden und feigen Verläumders, wurde er nebst mehrern Mitgliedern der Akademie am 2ten September zu den Matelonetten abgeführt. Die hier befindlichen Gefangenen kamen bey der Nachricht von seiner Ankunft alle die Treppe herunter, und empfingen ihn hier mit Rührung und Achtung. Sein gelehrter Ruhm rettet ihn. Zwey Abgeordnete, Danton und Courtois, bewirken den Wiederruf des Befehls, welchen man von dem allgemeinen Sicherheitsausschuß erschlichen hatte, und sogleich erhält Barthelemy seine Freyheit wieder. Man wollte die dem unsterblichen Verf. des Anacharsis angethane Beschimpfung wieder gut machen. Der Minister Pare bot ihm die Stelle eines Aufsehers über den Nationalbücherschatz an. Allein er übernahm sie nicht.21

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Es folgten Übersetzungen ins Dänische (1797), Holländische (1802), Spanische (1811), Griechische (1819) und Armenische (1847). Badolle verzeichnet darüber hinaus zwischen 1788 bis 1893 42 französische (Neu-)Editionen sowie 13 gekürzte Ausgaben, vgl. Badolle, L'abbe Jean-Jacques Barthelemy (wie Anm. 4), S. 397f. Rede des Herrn Abbe Barthelemy bey seiner Aufnahme in die französische Akademie, den 25. August 1788 [sie]. In: Berlinisches Journal für Aufklärung 5. Bd. (1789), S. 228-245, hier S. 243. Die Jahreszahl wurde von den Herausgebern in einer späteren Ausgabe korrigiert. Die im folgenden zitierten Artikel aus dem Berlinischen Journal für Aufklärung, der ADB und NADB sind auch im Netz einzusehen unter: http:// www.ub.uni-bielefeld.de/diglib/aufklaerung/index.htm. [Anonym:] [Rez.] J.J. Barthelemy, Vermischte Schriften. Lehrreich und unterhaltend. Eine freye deutsche Auswahl. 2 Bde. In: Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek 55. Bd., 2. St. (1800), S. 377-386, hier S. 382f. Vgl. zu dieser Episode Badolle, L'abbe Jean-Jacques Barthelemy (wie Anm. 4), S. 135ff.

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Mittellos und mißmutig soll er schließlich am 30. April 1795 bei der Lektüre verstorben sein: »A une heure, Barthelemy lisait paisiblement Horace; mais ses mains deja froides ne pouvaient plus tenir le livre, et il le laissa tomber.«22 Den Anstoß zur Voyage dujeune Anacharsis en Grece lieferte also eine Forschungsreise zu den Altertümern der griechischen Antike in Italien. Bemerkenswert daran ist, daß die erste Idee des Reiseromans noch keineswegs dem klassischen Griechenland galt, sondern zunächst der italienischen Renaissance. In seinem dritten Memoire schildert Barthelemy die Entstehungsgeschichte: Le hasard m'inspira l'idee du Voyage d'Anacharsis. J'etais en Italie en 1755: moins attentif ä l'etat actuel des villes que je parcourais qu'ä leur ancienne splendeur, je remontais naturellement au siecle oü elles se disputaient la gloire de fixer dans leur sein les sciences et les arts et je pensais que la relation d'un voyage entrepris dans ce pays vers le temps de Leon X, et prolonge pendant un certain nombre d'annees presenterait un de plus interessante et des plus utiles spectacles pour l'histoire de l'esprit humain.23

Im ersten Entwurf ist es ein Franzose, der nach Italien reist und dort die Blüte der Wissenschaften und Künste erlebt, die wichtigsten Gelehrten, Künsder und Seefahrer besucht und die politischen Ereignisse unter Papst Leo X. (1513-1521) in unmittelbaren Augenschein nimmt. In Pavia sollte er Girolamo Cardano begegnen, in Mantua Baidassare Castiglione, in Verona Girolamo Fracastoro, in Venedig Daniele Barbaro, in Ferrara Ludovico Ariost, in Florenz Niccolö Machiavelli, in Neapel Bernardino Telesio. Barthelemy, der das Sur Anacharsis überschriebene Kapitel seiner Memoires fast zur Hälfte diesem unausgeführten Entwurf widmet, welcher ihn offenbar noch im Alter zu fesseln vermochte, endet die Darstellung schließlich in einem Freudenausruf: »quelle source de reflexions sur l'origine des lumieres qui ont eclaire l'Europe!«24 Der Plan wurde jedoch verworfen; er hätte den Verfasser für längere Zeit in eine Epoche geführt, die nicht seinem eigenen Interessensgebiet entsprach. Und so reifte im weiteren Verlauf des Italien-Aufenthalts ein zweiter Plan, aus dem Franzosen wurde ein junger Skythe. Beiden Plänen ist dreierlei gemeinsam: Erstens das Interesse an den Höhepunkten der historischen Entwicklung, an denen sich die Fortschritte der Wissenschaftsgeschichte, ihr Aufstieg und Niedergang ermessen lassen. Auf dieses Geschichtsmodell ist an späterer Stelle zurückzukommen.25 Zweitens die enzyklopädische, in die Gesamtheit der jeweiligen Kulturgeschichte ausgreifende

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Vgl. Mancini-Nivernois, Essai sur la vie. In: Barthelemy, (Euvres diverses (wie Anm. 14), S. XLVII. Barthelemy, Memoires (wie Anm. 14), S. lxxxii. Ebd., S. lxxxvi. Vgl. zu diesem Geschichtsverständnis, das zumindest in seinen wesentlichen Grundbegriffen dem der Historia literaria seit Bacon und Naude entspricht, den Beitrag von Anette Syndikus in diesem Band.

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Anlage, die Mitte der 1750er Jahre kurz nach Erscheinen der ersten Bände der Engclopedie d'Alemberts und Diderots entworfen wird, aber eine unterschiedliche Zielsetzung verfolgt. Und zum dritten das Reiseschema, das sich an romanhaften Vorläufern wie Fra^ois Fenelons Telemaque, Andrew Michael Ramsays Voyage de Cyrus oder Jean Terrassons Sethos orientiert26 und welches Geschichte zugleich als kulturelle Topographie und Raumerfahrung einzelner Perioden der >Aufklärung< erzählbar macht.

II. Der narrative Grundriß des Anacharsis Die Wahl des Reiseschemas erläutert Barthelemy in der Vorrede seines RomanKompendiums und grenzt sie gegenüber der >Histoire< ab: Ich wählte zur Darstellungsart lieber eine Reise als eine Geschichte, weil bey der ersten Alles Handlung wird, und die Einmischung gewisser kleiner Züge Statt findet, welche dem Geschichtsschreiber nicht erlaubt werden. Diese Züge sind, insofern sie Gewohnheiten betreffen, oft bey den altern Schriftstellern nur ganz kurz angezeigt; oft bey den neuern Kritikern streitig. Ich habe sie sämmtlich ehe ich Gebrauch machte, selbst untersucht. Eine große Anzahl derselben habe ich, sogar, bey einer abermahligen Durchsicht, unterdrückt; und vielleicht war ich bey dieser Aufopferung noch nicht strenge genug.27

In der Tat gehört Barthelemy zu den äußerst gewissenhaften Gelehrten, die ihre Schriften nicht leichtfertig an die Öffentlichkeit bringen. »Kaum war der erste Band gedruckt: so wollte er ihn unterdrücken. Man mußte ihm die andern gewissermassen aus den Händen reissen; bisweilen schlief er ausser Hause, und versteckte sich, um nur den Arbeitern keine Abschrift liefern zu dürfen.«28 Die Wahrheitsverpflichtung im Detail und die strenge Selbstkritik wird durch die Lizenzen des Reiseschemas eben nicht aufgehoben, dient dieses doch in erster Linie der Absicht, das >tote< Buchwissen in seinen ursprünglichen Lebenszusammenhang zurückzuführen. Das jeweilige Wissen — sei es nun der Ackerbau auf dem Land oder das philosophische Gespräch auf dem Marktplatz oder in der Bibliothek - soll an dem ihm eigenen Handlungsort vermittelt werden. Dadurch strebt die narrative Wissensordnung eine idealisierte Synthese von Theorie und Praxis an, dient aber weiterhin der >Histoireaufgeklärten< Gelehrten. Dieser stellt sich zu Beginn seiner Erzählung als Nachfahre des älteren Anacharsis vor, welcher besonders von Herodot, Plutarch und Lukian als Typus des edlen Wilden und als Idealgestalt des einfachen Lebens überliefert wird. 33

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Voltaire: [Art.] Geschichte. In: Jean Le Rond d'Alembert, Denis Diderot u. a.: Enzyklopädie. Eine Auswahl. Hg. u. eingeleitet von Günter Berger. Frankfurt am Main 1989, S. 160-163, hierS. 160. Siehe zur Selbstverpflichtung des Autors auf Tatsachenwahrheit und Exaktheit der Darstellung auch Barthelemy, Memoires (wie Anm. 14), S. xcvi-ciii. Voltaire, [Art.] Geschichte (wie Anm. 29), S. 162. Siehe zur Gesamtanlage dieser Reise die Synopse zum Anacharsis im Anhang dieses Beitrags. Zur Bedeutung der Geographie in der historiographischen Diskussion des 18. Jahrhunderts vgl. etwa Ulrich Johannes Schneider: Die Vergangenheit des Geistes. Eine Archäologie der Philosophiegeschichte. Frankfurt am Main 1990, S. 192ff. Vgl. zum historischen Anacharsis die Quellensammlung von Jan Fredrik Kindstrand: Anacharsis. The Legend and the Apophthegmata. Stockholm 1981 (Acta Universitatis Upsaliensis: Studia Graeca Upsaliensia 16) sowie die Studie von Ungefehr-Kortus, Anacharsis (wie Anm. 2). Letztere weist vor allem auf die Bedeutung Lukians fur Barthelemys Anacharsis-Figur hin.

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Guido Naschert Ihr wisset, daß ich von dem weisen Anacharsis abstamme, der unter den Griechen so berühmt ist, und von den Scythen so unwürdig behandelt war. Die Geschichte seines Lebens und seines Todes flößte mir, von meiner frühsten Kindheit an, für die Nazion, welche seine Tugenden geehrt hatte, Achtung ein, und Abneigung gegen die, welche sie verkannt hatte.34

Ein entlaufener Sklave aus Theben, der den von Xenophon geschilderten Feldzug des Kyros miterlebt hatte, macht ihm seine eigene Unwissenheit bewußt und treibt ihn so im Jahr 363 v. Chr. zur Abreise aus seiner Heimat: Je mehr ich ihn kennen lernte, desto inniger fühlte ich die Vorzüge eines aufgeklärten Volks über andere Völker. Timagenes, denn so hieß der Thebaner, entzückte und demüthigte mich zu gleicher Zeit, durch den Reiz seines Umgangs und durch die Uiberlegenheit [!] seiner Einsichten. Die Geschichte der Griechen, ihre Sitten, ihre Staatseinrichtungen, ihre Wissenschaften, ihre Künste, ihre Feste, ihre Schauspiele, waren der unerschöpfliche Gegenstand unserer Gespräche. [...] Ich hatte bis dahin nur Zelte, Heerden, und Steppen gesehen. Aber nun war es mir nicht mehr möglich, bey dem Nomandenleben, welches ich bisher gefuhrt hatte, und bey der tiefen Unwissenheit, zu welcher ich verdammt war, auszudauren: ich faßte den Entschluß zur Verlassung eines Himmelsstrichs, wo die Natur den Menschen kaum die nothwendigsten Bedürfnisse gönnt, und einer Nazion, die mir keine andere Tugenden zu haben schien, als, daß sie nicht alle Laster kannte.35 Seine Reise setzt er bis ins Jahr 337 v. Chr. fort, in welchem er auf dem Schlachtfeld von Chaironea die Freiheit Griechenlands dahinsterben sieht. Erwartet der Leser von diesem >Bildungsroman< allerdings eine Entwicklungsgeschichte, die den Helden durch Fehlversuche, Irrtümer und Krisen zur Identitätsfindung und sozialen Integration führt, so wird er zwangsläufig enttäuscht.36 Die Voyage du jeune Anacharsis ist eher als >Wissensroman< denn als Entwicklungsroman zu bezeichnen. Die Figur des Skythen ist daher nicht Teil einer psychologisch zu interpretierenden Selbstfindungsgeschichte, sondern sie dient zur empfindsamen Identifikation seitens des Lesers.37 Sie ist Instrument eines an der

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Barthelemy, Reise (wie Anm. 12), Bd. 2, S. 1. Ebd., S. 2. Vgl. die Gattungsexplikation durch Jürgen Jacobs: [Art.] Bildungsroman. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft Bd. 1. Hg. von Klaus Weimar gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller. Berlin, New York 1997, S. 230. Auf die Bedeutung der >sensibilite< im Anacharsis haben schon Badolle und Klemperer hingewiesen. Vgl. dazu im allgemeinen die Studie von Frank Baasner: Der Begriff der >sensibilite< im 18. Jahrhundert. Aufstieg und Niedergang eines Ideals. Heidelberg 1988. Resultat ist eine beschönigende Sicht der Antike, die ihre erotische und grausame Seite marginalisiert. Barthelemys Klassizismus und sein aufklärerisches Griechenlandbild sind nicht Gegenstand dieser Untersuchung, siehe dazu neben Kindstrand, Anacharsis (wie Anm. 33), S. 85-93, und Ungefehr-Kortus, Anacharsis (wie Anm. 2), auch Marie-France Silver: La Grece dans le roman fran^ais de L'epoque revolutionnaire: Le voyage dujeune Anacharsis en Grece au IVe siecle avant L'ere vulgaire. In: Hans Gün-

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aufklärerischen Wissensvermittlung und Vorurteilskritik orientierten Zwecks, was nicht ausschließt, daß auch der Wissenserwerb selbst einer internen Kritik unterzogen wird. In dem Moment, in welchem die Blüte der Kultur überschritten zu sein scheint, wendet sich der Skythe von ihr ab. Das Ende des Werkes ist hier besonders interpretationswürdig. Klemperer deutet es als einen Wandel vom Optimismus zur Skepsis des späten Barthelemy: »Unmöglich, die Entwicklung vom fortschrittsfrohen Voltairianer zum kulturmüden Rousseauisten38 eindeutiger zu betonen.«39 Da starb die Griechische Freyheit. Dieses an großen Männern so fruchtbare Land wird lange unter dem Joche der Macedonischen Fürsten bleiben. Da riß ich mich auch von Athen los, so sehr man sich auch aufs neue bemühete, mich daselbst festzuhalten. Ich kehrte nach Scythien zurück, von den Vorurtheilen geheilet, welche mir den Aufenthalt daselbst zuwidergemacht hatten. Ausgenommen von einer am Borysthenes wohnenden Völkerschaft, baue ich ein Gütchen, welches dem weisen Anacharsis, einem meiner Ahnherrn, gehörte. Hier schmecke in [!] den Frieden der Einsamkeit; ich würde hinzusetzen, und die Süßigkeit der Freundschaft, wenn sich für das Herz ein Verlust ersetzen ließe. In meiner Jugend, suchte ich das Glück bey aufgeklärten Nazionen; in reiferem Alter, fand ich es bey einem Volke, welches nur die Güter der Natur kennt.40 Wir werden später noch sehen, daß diese Anspielung auf die >Rückkehr zur Natu« eher topisch zu deuten ist als im Sinne einer generellen aufklärungsskeptischen Haltung des späten Barthelemy. Läßt er doch an den kulturellen Leistungen der eigenen Zeit in seiner Akademie-Rede von 1789 keinen Zweifel. Vielmehr ist es die Zugehörigkeit des Wissens zu einer normativ ausgezeichneten Phase der Wissenschafts- und Kulturgeschichte, welche die Rückkehr aus Athen erzwingt. Zur Zeit der italienischen Renaissance hätte sich der Skythe wieder von seinem Landgut aufgemacht, weil das Wissen dieser Zeit einen weiteren Fortschritt von >FreiheitAufklärung< bedeutete.

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ther Schwarz, David McNeil, Roland Bonnel (Hgg.), Man and Nature. Proceedings of the Canadian Society for Eighteenth-Century-Studies. Edmonton 1990, S. 145-155. Auf welche Weise Barthelemy selbst Rousseau vermittelt hat, ist bislang noch keiner eingehenderen Untersuchung unterzogen worden. Siehe zum Kontext Herbert Jaumann (Hg.): Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption. Berlin 1995. Klemperer, Geschichte (wie Anm. 4), S. 397. Barthelemy, Reise (wie Anm. 12), Bd. 7, S. 90. Barthelemys Verständnis von >Liberte< scheint Montesquieu nahezustehen. Siehe zur politischen Einordnungen Badolle, L'abbe Jean-Jacques Barthelemy (wie Anm. 4), S. 296-306, vor allem S. 297: »Le gouvernement ideal lui parait etre celui ou un roi administre l'etat avec sagesse et moderation.« Zur historischen Semantik siehe die differenzierte Analyse von Gerd van den Heuvel: Der Freiheitsbegriff der Französischen Revolution. Studien zur Revolutionsideologie. Göttingen 1988.

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Angesichts der ausladenden Informationsmasse des Anacharsis wäre es darüber hinaus überzogen, dem Ende des Werkes eine Synthesisfunktion zuzumuten, die eine geglückte Vermitdung von Kultur und Natur gewährleistet. Diese war bereits während der »schönsten Jahre« 42 in Anacharsis Leben in den verschiedenen Gesellschaften Griechenlands erreicht und ging nur durch äußere politische Faktoren zugrunde. Die aus Reise- und Tagebuchaufzeichnungen erzählende Instanz nimmt sich vielmehr gegenüber ihren idealisierten Gegenständen weitgehend zurück und richtet sich an ungenannte »Freunde« 43 , denen sie erinnernd ihre antiquarischen Kenntnisse darlegt. Besonders deutlich wird dies an den Brüchen zwischen Fiktionalisierung und rein faktualem Erzählen, die sehr häufig anzutreffen sind. Auf einen empfindsamem Erlebnisbericht kann unmittelbar ein eingeschobenes Quellenexzerpt, eine Anekdote oder lexikalische Sachgeschichte folgen. Dies sollte aber nur dann als ästhetisches Defizit ausgelegt werden, wenn ausgemacht ist, daß es die Intention des Werkes war, derartige Fehler zu vermeiden. Klemperer weist zu Recht daraufhin, daß Barthelemy mit dem Anacharsis keineswegs seine frühere Romanschriftstellerei fortsetzen wollte. Die kompilatorische Narration zeigt sich vielmehr abhängig von einem anders gelagerten Lektüreappell. Mit einem rein enzyklopädisch beziehungsweise lexikographisch interessierten Leser wird ausdrücklich gerechnet. »Ich habe geglaubt«, schreibt Barthelemy in der Einleitung zu den Registern verschmitzt, »daß diese Tafeln denjenigen nützlich seyn könnten, welche die Reise des jungen Anacharsis lesen, und auch denen, welche sie nicht lesen werden.« 44 Tafeln, Register und Karten sollen nicht die Schwächen der Erzählung überdecken, vielmehr sind die narrativen Brüche umgekehrt eine Folge der lehrbuchhaften Anlage des Werkes und seiner Nutzbarkeit selbst.45

III. Die >Bibliothek eines Atheners< als Litterärgeschichte Ein wesentliches Strukturelement dieser Einführung in die griechischen Altertümer ist die litterärhistorische Funktion zahlreicher Kapitel im Sinne der >notitia auctorum et librorumLitterärgeschichte< wird der Anacharsis in der ersten umfassenden deutschen Rezension von Christian Gotdob Heyne referiert. In: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 70. Stück (1789), S. 697-710; auch im Netz einzusehen unter http://dz-srvl.sub.uni-goettingen.de/cache/toc/D67377.html. Vgl. unten in Abschnitt V.

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Athenaios' Gekbrtengastmahl (Deipnosophistarum übriXV, ed. Isaac Casaubon, 1612), wonach die Sammlung des Euklid die größte in Athen sei.47 Bevor Anacharsis diese Bibliothek allerdings betritt, hatte er einem philosophischen Gespräch in Jupiters Halle beigewohnt. Dort stritten die Anhänger des Heraklit, Demokrit und anderer Schulen über Fragen der Kosmologie und Anthropologie. Durch eine reiche Zitatenmontage aus Piaton und Aristoteles sowie griechischen Tragikern und Dichtem stürzt Barthelemy seinen Helden in eine skeptische Verzweiflung. Anacharsis verläßt die Halle und flieht an die Ufer des Ilissus, als gerade der allgemeine Wert der Aufklärung verhandelt wird. »Die traurigsten Gedanken, die schmerzhaftesten Empfindungen erschütterten mächtig meine Seele,« schreibt er,48 kommt aber wenig später wieder zur Besinnung: »Ich war noch zu neu, zu ungeübt bei den Zweifeln, welche das Wissen verursacht.«49 Zur Überwindung des Skeptizismus begibt er sich nun in die Bibliothek des Euklid: Wie ich hineintrat, erbebte ich vor Erstaunen und Vergnügen. Ich stand hier mitten unter den schönsten Geistern Griechenlands. Sie lebten, sie athmeten in ihren Werken, die ich um mich her aufgestellt sah. Selbst ihr Schweigen vermehrte meine Ehrfurcht. Eine Versammlung aller Fürsten der Erde wäre mir weniger majestätisch vorgekommen. Einige Augenblicke nachher rief ich aus: »Ach! wie viel Kenntnisse, welche den Scythen versagt sind!« In der Folge habe ich mehr als Einmal gesagt: »Wie viel Kenntnisse, welche dem Menschen unnütz sind!«50

Das Vertrauen in das >hohe GeistergesprächNachrichten< erstrecken sich über mehrere Bände und sind nach Disziplinen geordnet. In Band 3 werden zu Beginn die Philosophie und Astronomie behandelt, in Band 4 folgen Logik und Rhetorik, in Band 5 Naturlehre, Naturgeschichte, Geister,55 Geschichte und in Band 7 Dichtkunst (Poetik) und Sittenlehre. Die griechische Philosophie als »erstaunenswürdige Revoluzion in der Bildung des Geistes«56 macht den Anfang. Man darf hier jedoch keine vollständige Philosophiehistorie erwarten, nicht einmal ein Extrakt derselben. Da sich im ganzen Werk litterärhistorische Auszüge aus den antiken Schriftstellern verstreut finden und einzelne Autoren und Themen in eigenen Kapitel behandelt werden, müssen nicht alle im Rahmen dieser Bibliothecasl zur Sprache kommen. Für Piatons Dialoge etwa, deren Sätze immer wieder zitiert und referiert werden, reicht eine knappe Benennung.58 Um Barthelemys Einschätzung der Buchkultur beurteilen zu können, lohnt ein vergleichender Blick in seine Akademie-Rede. Sie wurde am 25. August 1789 — am Tage vor der Erklärung der Menschenrechte - zum Andenken an den verstorbenen Sprachforscher Beauzee gehalten. Hier preist Barthelemy die Überlegenheit des modernen Zeitalters gegenüber den vorangegangenen Jahrhunderten und markiert die Zäsur mit der Erfindung des Buchdrucks: 54 55

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Rieger, Imaginäre Bibliotheken (wie Anm. 1), S. 122. Die >Geister< (Genies) werden hier in vier Klassen geteilt: Götter, Genien, Helden oder Heroen und die Seelen nach dem Tod. Barthelemy, Reise (wie Anm. 12), Bd. 3, S. 115f. Der gelehrte Leser des späten achtzehnten Jahrhunderts wird in der Anlage einer der Litterärgeschichte gewidmeten fiktionalen Bibliothek auch den Titel >Bibliotheca< im Sinne eines gelehrten Literaturverzeichnisses in der Nachfolge Konrad Gesners mitgedacht haben; im zeitgenössischen Kontext ist hier etwa an Jakob Friedrich Reim-

manns Bibliotheca Historiae Literariae Crilica (Hildesheim 1739) zu denken. »Btbliothecae und andere Universalentwürfe gelehrten Wissens wollen den Leser orientieren, der vor der Fülle überlieferten Wissens, gleichsam vor dem Eingang der Bibliothek steht und einen Leitfaden fur dieses Labyrinth benötigt«, schreibt Helmut Zedelmaier mit

Blick auf den Titelkupfer des Reimmannschen Versuch einer Einleitung in die Historiam

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Literariam (Bibliotheca universalis und Bibliotheca selecta. Das Problem der Ordnung gelehrten Wissens in der frühen Neuzeit. Köln, Weimar, Wien 1992, S. 297). Reimmanns Schriften waren Barthelemy vertraut, bei ihm dient der Eintritt in die Bibliothek nicht nur der Orientierung, sondern zugleich der Überwindung einer Erkenntnisskepsis, die aus der Orientierungslosigkeit folgt. Siehe außerdem zur Vorgeschichte wie zum Weiterwirken des Titels im deutschen Sprachraum Rainer A. Bast: Der Titel Philosophische BibliothekQuerellemodernen< Gelehrtenkultur. 62 Der

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Rede des Herrn Abbe Barthelemy (wie Anm. 20), S. 238f. Ebd., S. 239f. Siehe zur >Querelle< in Frankreich Badolle, L'abbe Jean-Jacques Barthelemy (wie Anm. 4), und Louis Bertrand: La fin du classicisme et le retour a l'antique dans la seconde moitie de XVIIIe siecle et les premieres annees du XIXe, en France. Paris 1896. ND Geneve 1968; für Deutschland Peter K. Kapitza: Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt. Zur Geschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland. München 1981. Auf die Dilemmata von litterärhistorischer Selektion bei gleichzeitiger Popularisierung des Wissens sei hier nicht weiter eingegangen, ebensowenig auf einzelne Anachronismen, in denen die Strukturen und Bedingungen der >modernen< Gelehrtenkultur in die Antike zurückprojiziert werden. Siehe hierzu die Hinweise bei Badolle, L'abbe Jean-

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Höhepunkt der antiken Kultur stellt insofern keine unüberwindbare Norm da, sondern bleibt in die Universalgeschichte der Menschheit und ihrer Aufklärung eingebunden. Eine Ausarbeitung dieses Zusammenhangs findet sich beim Numismatiker Barthelemy jedoch nicht.

IV. Der Anacharsis als Kompendium Zum Lehrbuch-Charakter des Anacharsis gehört der durchgängige Anspruch des Textes auf Wahrheit, der von den zeitgenössischen Lesern bereits von der Wahrheitsverpflichtung des aufklärerischen Romans abgegrenzt werden konnte.63 Bei Nivernois heißt es beispielsweise: Man weiss bey diesem Werke, dem kein anderes in seiner Zusammensetzung gleicht, schlechterdings nicht, was man mehr bewundern soll, den ungeheuern Umfang von Kenntnissen, die es erforderte und enthält, oder die seltne Kunst des Zusammenhangs und der Ubergänge, wodurch die heterogensten Dinge unmerklich miteinander verbunden sind, oder die ununterbrochene Eleganz und die unendliche Anmuth in allen Erzählungen und in allen Erörterungen, so, daß man auf den ersten Blick in Versuchung geräth, alles fur Spiele einer schönen Einbildungskraft zu halten. In der That nahmen einige Personen dies Werk, in welchem alles Wahrheit ist und worinnen man nichts als Wahrheiten findet, für einen Roman.64 Nach Klemperer handelt es sich um »ein Mosaik, in dem die Echtheit auch des kleinsten Steinchens bescheinigt« wird. 65 Löste man die Frage nach Faktualitätsanspruch und narrativer Fiktionalisierung 66 von der Rezeptionsgeschichte des Textes ab und beschränkte sich auf dessen Strukturen, müßte man sehr differenziert vorgehen. Schließlich gründet die historische Tatsachenbeglaubigung wesentlich auf den intertextuellen Verfahren der Zitation (ca. 20.000 Belegstellen),67 des Quellenreferats und der Paraphrase. Sind diese Verfahren in sich schon unterschiedlich einzuschätzen, so wird man auch um eine detaillierte Diskussion

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Jacques Barthelemy (wie Anm. 4), Kap. 4 >Les idees modernes dans VAnacharsis. Barthelemy juge des anciensMischungstheorie< betrachten. Vgl. Wildstake, Wielands Agathon und der französische Reise- und Bildungsroman (wie Anm. 2), S. 32.

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der von Barthelemy genutzten Quellen nicht herumkommen, die für den Gelehrten des Fachs »nichts weniger als fremd sind«, wie der Göttinger Altphilologe Heyne in seiner Besprechung schreibt.68 Darüber hinaus ist der Zitationsbeleg im Text selbst von sehr unterschiedlicher Relevanz und kann neben der buchstabengetreuen Wiedergabe auch lediglich eine sinngemäße Referenz markieren. Die Spannbreite der Beglaubigungsfunktion ist daher im einzelnen sehr groß. Zudem finden sich natürlich längere rein literarische Partien wie etwa zu Beginn des 76. Kapitels über Anacharsis' Reise auf die Kykladischen Inseln, deren Landschaftseindruck der Erzähler in empfindsamer Prosa beschreibt. Sie entbehren jeder Beglaubigung außerhalb des illusionistischen Erzählens. Ihr Wahrheitsgehalt wird vielmehr dem Einverständnis des Lesers durch >sensibilite< versichert. Gerade diese Partien aber konnten einem gelehrten Leser wie dem besagten Antiquar Heyne, der ansonsten über den historischen Wahrheitsgehalt der Zitatbelege kritisch zu urteilen vermochte, ausdrücklich als »Meisterstück« gelten.69 Über den Fiktionalitätsgehalt lassen sich also nur schwer allgemeine Aussagen treffen. Das Kompendium folgt im Haupttext einer topographischen Wissensordnung. Statt ein >System der Wissenschaften zu entwerfen, in welchem die Geographie nur eine Teildisziplin ist wie in der Encyclopedie von Diderot und d'Alembert, 70 verzichtet Barthelemy auf einen >Stammbaum des Wissens< und gewährleistet stattdessen den Anspruch auf Vollständigkeit räumlich.71 Auch naheliegende Ubernahmen antiker Wissensordnungen in die Gesamtstruktur des Textes — wie etwa die Aristotelische - unterbleiben. Der unmittelbare Bezugspunkt ist daher weniger in der Abgrenzung zu den alphabetischen Enzyklopädien zu suchen als vielmehr in der Konkurrenz zu den älteren, aber noch gebräuchlichen Darbie68

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Göttingische Anzeigen (wie Anm. 46), S. 701. Ebd., S. 707. Johannes Dörflinger: Die Geographie in der Ertgclopedie. Eine wissenschaftsgeschichtliche Studie. Wien 1976 (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophischhistorische Klasse, Sitzungsberichte, 304. Bd., 1. Abhandlung). Siehe aus der inzwischen reichhaltigen Forschungsliteratur zur Enzyklopädistik der Frühen Neuzeit den immer noch brauchbaren Überblick von Bernhard Wendt: Idee und Entwicklungsgeschichte der enzyklopädischen Literatur. Eine literarisch-bibliographische Studie. Würzburg-Aumühle 1941; Ulrich Dierse: Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begriffs. Bonn 1977; Franz M. EybL, Wolfgang Harms, Hans-Henrik Krummacher, Werner Welzig (Hgg.): Enzyklopädien der frühen Neuzeit. Beiträge zu ihrer Erforschung. Tübingen 1995. Dazu die Besprechung von Wilhelm Kühlmann: [Rez.] Enzyklopädien der Frühen Neuzeit. In: Scientia Poetica 3 (1999), S. 210-216; Christel Meier (Hg.): Die Enzyklopädie im Wandel vom Hochmittelalter bis zur Frühen Neuzeit München 2002; Ulrich Johannes Schneider, Helmut Zedelmaier: Wissensapparate. Die Enzyklopädistik der Frühen Neuzeit. In: Richard van Dülmen, Sina Rauschenbach (Hgg.), Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Köln 2004, S. 349-363, sowie jüngst den reich illustrierten Band von Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Seine Welt wissen. Enzyklopädien der Frühen Neuzeit. Darmstadt 2006.

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tungsweisen der altertumswissenschaftlichen Archäologie.72 Ein Standardwerk der Zeit ist hier etwa die Archaeologia Graeca, or the Antiquities of Greece (Oxford 1699) des Erzbischofs von Canterbury John Potter (1674-1747).73 Potters Werk gliedert sich in vier Bücher, welche die politische Verfassung (1. Buch), die Religion (2. Buch), das Kriegswesen (3. Buch) und Gebräuche der Griechen (4. Buch) behandeln. In diesen Aufbau werden die Erörterungen einzelner griechischer Stadtstaaten eingegliedert, so daß aus der Natur der Sache auch der älteren Archäologie eine topographische Struktur inhärent ist. Barthelemy kehrt demgegenüber die Hierarchie um, der kulturelle Raum wird den einzelnen Kulturfeldern übergeordnet und das Wissen auf diese Weise neu >verortetGeschichte des Griechischen Theaters< läßt in der deutschen Ausgabe folgende dispositio erkennen: 1. Ursprung und Fortgang des Trauerspiels, 2. Aischylos' Leben, 3. Sophokles' Leben, 4. Euripides' Leben, 5. Geschichte des Lustspiels, 6. Das satyrische Schauspiel. Kapitel 70 nennt zur >Aufführung der Stücke< folgende >StichworteArtikel< wird eine dem Potter analoge antiquarische Lektüre ermöglicht, die nur an den Dichterviten oder Realien und ihren Quellen interessiert ist und den narrativen Gesamtzusammenhang ausblendet. In den Kapitelstrukturen treten zudem die >Praktiken der Gelehrsamkeit^4 (wie etwa das Exzerpt oder die Kompilation) besonders deutlich zutage. Hier sieht man den Pariser Antiquar förmlich noch bei der Arbeit, der zunächst von der Geographie ausgehend seine topischen Gesichtspunkte (loci communes) entworfen hatte, ehe er die Quellen nach relevanten Informationen durchsuchte. Dem Verdikt der >PedanterieEmplotment< zu entgehen. Neben den Registern wird Barthelemys Kompendium durch ein Literaturverzeichnis erschlossen. Es weist nicht nur die zitierten Ausgaben nach, sondern empfiehlt auch dem jungen Nutzer die maßgebliche Literatur. Während die französische Ausgabe die Bibliographie im siebten Band anhängt, exponiert sie Biester bezeichnenderweise im ersten, »damit man es gleich zum Nachschlagen gebrauchen könne«.75 Abgesehen davon, daß es bis heute nutzbar ist, wenn man sich in die antiquarische Philologie des 18. Jahrhunderts und ihre Standardwerke einarbeiten will, nennt uns das Verzeichnis auch die wichtigsten Autoritäten des Verfassers. Im allgemeinen vertraute er auf Pierre Bayles Dictionnaire historique (4 Bde., 1724) oder Charles Batteux' Histoire des causes premieres (1769). In theologischen Fragen konsultierte er Ralph Cudworth' Systema intellectuale (1678), Johann Lorenz von Mosheims Kommentar zu seiner lateinischen Übersetzung von Cudworth (1773), Johann Jakob Bruckers Historia criticaphilosophiae (1742-1744) oder Jakob Friedrich Reimmanns Geschichte des Atheismus (1725).76 In Fragen der griechischen Kunstgeschichte erweist sich der Caylus-Schüler als Leser von Jo74

75 76

Siehe Helmut Zedelmaier, Martin Mulsow (Hgg.): Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 64). Zur Praxis des Exzerpts siehe des weiteren Zedelmaier: De ratione excerpendt. Daniel Georg Morhof und das Exzerpieren. In: Franfoise Waquet (Hg.), Mapping the World of Learning. The Polyhistor of Daniel Georg Morhof. Wiesbaden 2000, S. 75-92, sowie Elisabeth Decultot (Hg.): Lire, copier, ecrire. Les bibliotheques manuscrites et leurs usages au XVIIIe siecle. Paris 2003. Zur Kompilation vgl. Martin Gierl: Compilation and the Production of Knowledge in the Early German Enlightenment. In: Hans Erich Bödeker, Peter H. Reill, Jürgen Schlumbohm (Hgg.), Wissenschaft als kulturelle Praxis, 1750-1900. Göttingen 1999, S. 69-103. Barthelemy, Reise (wie Anm. 12), Bd. 1, S. VI, Anm. Zu Reimmann, der eine Brücke zwischen Barthelemy und der deutschen Historia literaria bildet, siehe Martin Mulsow, Helmut Zedelmaier (Hgg.): Skepsis, Providenz, Polyhistorie. Jakob Friedrich Reimmann (1668-1743). Tübingen 1998 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 7).

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hann Joachim Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums (1764)77, in politischen Fragen sind es die Werke Montesquieus oder David Humes Discourspolitiques (1754), die dem Leser tradiert werden. Die Instrumente, mit deren Hilfe Barthelemy sich das Wissen der Antike erschlossen hatte, werden nun ihrerseits für die Drucklegung des Textes verfeinert. Zu den wichtigsten gehören die Tafeln. Sie dienen verschiedenen Funktionen. Die erste Tafel stellt eine nach Olympiaden gegliederte Zeittafel der Epochen der griechischen Geschichte dar. Die zweite — sie stammt vom Marquis de SainteCroix - ist als Instrument füir die Historia literaria der Alten entworfen worden. Sie bezwecke, d'exposer d'une maniere prompte et sensible les progres successifs des lumieres parmi les Grecs. On y verra que le nombre des gens de lettres et des artistes, tres-borne dans les siecles les plus anciens, augmenta prodigieusement dans le sixieme avant JesusChrist, et alia toujours croissant dans le cinquieme et dans le quatrieme, oü finit le regne d'Alexandre. On en doit inferer que le sixieme siecle, avant Jesus-Christ, fut l'epoque de la premiere, et peut-etre de la plus grande des revolutions qui se soient operees dans les esprits. 78

Der Abriß sei zudem als »introduction ä l'histoire des arts et des sciences des grecs« gedacht,79 indem er die wichtigsten Gelehrten der klassischen Antike in einer dezennienalen Anordnung versammelt. Die Liste beginnt zeitlich mit dem Astronomen, Arzt und Musiker Chiron aus Thessalien (13.-11. Jh. v. Chr.) und endet mit dem Mathematiker Euklid (4. Jh. v. Chr.). Auf die chronologische Anordnung folgt in der dritten Tafel noch eine alphabetische, die den Namenbestand erneut aufschließt, damit sei »der lesenden und schreibenden Klasse manches Nachsuchen« erspart worden.80 Darauf folgen Tafeln der römischen Maß- (Tafel 4) und Längeneinheiten (Fuß in Tafel 5, Schritt in Tafel 6, Meilen in Tafel 7) sowie der griechischen Längeneinheiten (Fuß in Tafel 8, Stadien in Tafel 9 und 10). Die Einheiten werden mit den französischen Äquivalenten verrechnet, wozu die Ubersetzung — auf Anraten Heynes — noch die entsprechenden deutschen Maße hinzufügt. In der elften Tafel würdigt der Numismatiker ausführlich die Athenischen Münzeinheiten, in der zwölften schließlich die griechischen Gewichtseinheiten und rechnet sie in die >modernen< Einheiten um. Spätere Ausgaben des Anacharsis haben den zwölf

77

Vgl. zu Winckelmanns Beziehungen zum französischen Klassizismus - besonders zum Comte de Caylus - neuerdings die Studie von Elisabeth Decultot: Untersuchungen zu Winckelmanns Exzerptheften. Ein Beitrag zur Genealogie der Kunstgeschichte im 18. Jahrhundert. Ruhpolding 2004 (Stendaler Winckelmann-Forschungen 2), bes. S. 139ff.

78

Barthelemy, Voyage (wie Anm 12.), Bd. 7, S. 185.

79

Ebd. Barthelemy, Reise (wie Anm. 12), Bd. 7, S. XXXVII.

so

Wissensordnungen und ihre Narrativierung in Barthelemys

Anachams

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Tafeln drei weitere hinzugefügt — zu den Monatsbezeichnungen, den Magistratsämtern sowie den einzelnen griechischen Kolonien.81 Ebenso maßgeblich für den Erfolg waren die Karten des Barbie du Bocage (1760—1825), eines Freundes Barthelemys. Du Bocage - einer der Gründer der Geographischen Gesellschaft in Paris — gibt in seinen Kritischen Erläuterungen82 detailliert über die Lage einzelner Orte und ihrer Verhältnisse untereinander Rechenschaft, da seine Karten »wesentlich von allen bekannten Karten« abweichten.83 Die Erschließung des Anacharsis war also ein aufwendiges Gemeinschaftswerk, dessen Faszination für den gelehrten wie ungelehrten Adressatenkreis in einer neuartigen >Epiphanie< der griechischen Antike bestand.84 Der Anacharsis reagierte damit auf ein doppeltes Desiderat der altertumswissenschaftlichen Kulturgeschichte, das sich in den Stichworten topographische >Wissensordnung< und ihre >Narrativierung< zusammenfassen läßt.

V. Aspekte der Wirkungsgeschichte In der zeitgenössischen Rezeptionsgeschichte dieses Bucherfolgs lassen sich verschiedene Modi unterscheiden, die durchaus nicht auf den deutschen Sprachraum beschränkt geblieben sind. Dies betrifft (1) die literarische Fortsetzung des Anacharsis, (2) spezielle Topoi in der literaturkritischen Rezeption des Textes sowie (3) verschiedene Nutzungsformen des Roman-Kompendiums seitens einzelner Autoren. (1) Der Anacharsis hat bis ins 20. Jahrhundert Nachahmer gefunden, die noch nicht eigens bibliographisch erschlossen sind. Prinzipiell liegen sie in zwei verschiedenen Typen vor, als Pastiche und als Exzerpt. Ein sehr frühes, an den Publikumserfolg anschließendes Anacharsis-Vv&üdae lieferte im deutschen Sprachraum der lutheranische Generalsuperintendent, Orientalist und Freimaurer Ignatius Aurelius Feßler (1756-1839) 85 mit seinem Alexander der Eroberer (Berlin: 81 82

Vgl. Barthelemy, Voyage (wie Anm. 12), Bd. 7, S. 1 4 5 - 1 8 4 . Dieser Teil des Werks liegt als eigenständige Leistung du Bocages auch in Separatausgaben vor: Jean Denis Barbie du Bocage: Recueil de cartes geographiques, plans, vues et medailles de l'ancienne Grece, relatifs au Voyage du jeune Anacharsis, precede [!] d'une Analyse critique des cartes. Aux Deux-Ponts 1791. Deutsche Übersetzung von Johann Erich Biester: Geographie, Chronologie, Staaten-, Gelehrten- und Künstlergeschichte, Maaß-, Münz- und Gewichtkunde v o n Alt-Griechenland in 31 Kupfertafeln und 12 Tabellen, nebst einer kritischen Abhandlung, aus der Reise des jungen Anacharsis. Berlin 1793.

83

Barthelemy, Reise (wie Anm. 12), Bd. 7, S. LXXXVII.

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Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Prä-

85

Zu Feßler siehe Peter F. Barton: Romantiker, Religionstheoretiker und Romanschrei-

senz. Frankfurt am Main 2004. ber. Ein Beitrag zur Kultur- und Geistesgeschichte Deutschlands, 1 8 0 2 - 1 8 0 9 . Feßler in Brandenburg. Wien 1983, sowie Florian Maurice: Freimaurerei um 1800. Ignaz

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Lagarde 1797). Hier wird die Reise des Anacharsis zeitlich in den Hellenismus fortgesetzt. Dabei bleiben zwar Protagonist, Reiseschema und propädeutische Funktion erhalten, die aufklärerische Grundidee, einen Höhepunkt der griechischen Geschichte abzubilden, wird aber durch die simple chronologische Verlängerung annulliert.86 Einen zweiten Typus bildet das ^«ΛίΆΛ/OT-Exzerpt, etwa als einfache Textauswahl für den Schulgebrauch.87 Daneben kann der Text jedoch auch zu einem in sich neugeordneten Kompendium umstrukturiert werden, welches das Barthelemysche Werk auszugsweise und mit neuer Artikelstruktur paraphrasiert und mit Texten nationaler Autoritäten (ζ. B. Herder, Schiller) attraktiver zu machen versucht. Dies geschieht etwa in der anonymen Schrift Die Hellenen, oder die Mensch-

heit in Griechenland. Nach Jean Jacques Barthelemy. Als Handbuch ψ Vorlesungen auf Schulen und Universitäten und %um Selbstgebrauchför Freunde der Geschichte der Menschheit (Leipzig 1799). 88 Daß solchen Fortsetzungen nicht der Erfolg des Originals beschieden war, dürfte mit den Qualitäten des Barthelemyschen Textes zusammenhängen, die in der ersten Phase der Literaturkritik topisch wiederholt werden. (2) Ein frühes Zeugnis liefert unter den französischen Stimmen 89 die am Tag von Barthelemys Akademie-Einfuhrung gehaltene Rede des Marquis de Bouffier,

die von den Herausgebern des Berlinischen Journal für Aufklärung ausdrücklich

86

87

88

89

Aureüus Feßler und die Reform der Großloge Royal York in Berlin. Tübingen 1997 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 5). Siehe dazu die vernichtende Rezension: [Anon.:] D. Feßler: Fortsetzung der in Anacharsis Reise enthaltenen Geschichte von Altgriechenland. 1. Theil. Alexander der Eroberer. In: Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek 40. Bd., 1. Stück (1798), S. 226237. Jean Jacques Barthelemy: Abrege du Voyage du jeune Anacharsis en Grece, ä l'usage des Ecoles. Nürnberg 1794; Esprit du Voyage du jeune Anacharsis. Ratisbonne 1794; Auszug aus des jungen Anacharsis Reise nach Griechenland in der Mitte des vierten Jahrhunderts vor Christi Geburt. Hg. und übersetzt von Emil Ludwig Philipp Schröder. 3 Bde. Neuwied bey Gehra 1792-1793. Siehe zu diesen Werken die Sammelrezension in: Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek, Anhang 1.-28. Bd., 4. Abt. (1799), S. 516-520. Siehe zu diesem Text die anonyme Rezension in: Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek 49. Bd., 1. Stück (1800), S. 339-342. Siehe zur zeitgenössischen Rezeption die Sammlung von Laurent Pierre Berenger: DAnacharsis ou Lettres d'un Troubadour sur cet ouvrage. Suivies de deux Notices et de l'Epitre de M. de Fontanes ä M. LAbbe Barthelemi. Amsterdam, Paris 1789. Zur weiteren Nachwirkung in der französischen Literatur um 1800 vgl. Badolle, L'abbe Jean-Jacques Barthelemy (wie Anm. 4), S. 230-236; Emile Male: La Vie Courante. Le cent cinquantieme Anniversaire du Jeune Anacharsis. In: La Revue de France 4 (1938), S. 273-281; C. Kramer: Andre Chenier et le Voyage du jeune Anacharsis. In: Neophilologus 31.1 (1947), S. 167-172; Fernand Letessier: Une source de Chateaubriand: Le Voyage du jeune Anacharsis. In: Revue d'Histoire Litteraire de la France 59 (1959), S. 180-203.

Wissensordnungen und ihre Narrativierung in Barthelemys Anacharsis wegen ihrer »herrliche [n] Charakterisierung« des Anacharsis

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ins Deutsche übertra-

gen wurde.« 90 Dort heißt es: Aber welcher zweyter Orpheus, welche melodievolle Stimme hat auf diesen nakten Küsten die majestätischen Bäume, die sie bekränzten, wieder hervorgerufen, und diesen öden Wüsteneyen die Zierde ihrer grünen Haine, ihrer beblümten Wiesen, ihrer wallenden Erndten wiedergegeben? Welche mächtigen Akkorde haben die zerstreut liegenden Steine jener ehemals für die Götter aufgeführten Mauern wieder von neuem zusammengesetzt? Alle Gebäude stehen wieder auf ihren Fundamenten, alle Säulen auf ihren Basen, alle Statuen auf ihren Fußgestellen; ein jedes Ding hat seine vorige Gestalt, sein Ansehen, seine Stelle wieder eingenommen; und bey dieser neuen Schöpfung hat das liebenswürdigste Volk seine Städte, seine Wohnungen, seine Gesetze, seine Gebräuche, seine Interessen, seine Arbeiten, seine Beschäftigungen und seine Feste wiedergefunden. Sie sind es, mein Herr, der alle diese Wunder bewirkt. Sie sprechen, sogleich fliehet die Nacht von zwanzig Jahrhunderten, um einem plötzlichen Lichte Platz zu machen, und zeigt unsern Augen das prächtige Schauspiel von ganz Griechenland auf dem höchsten Gipfel seines ehemaligen Glanzes. Argos, Corinth, Sparta, und tausend andere verschwundenen Städte sind wieder bevölkert. Sie zeigen uns, ja Sie öffnen uns die Tempel, die Theater, die Gymnasien, die Akademien, die öffentlichen Gebäude, die Privathäuser, die innersten Gemächer. Unter Ihrer Führung werden wir zu ihren Versammlungen, in ihre Lager, in ihre Schulen, in ihre Gesellschaften, zu ihren Gastmählern eingelassen; wir befinden uns bey allen ihren Spielen, sind Zeugen aller ihrer Ceremonien, aller ihrer Berathschlagungen, wir nehmen innigen Antheil an ihrem Interesse, sind initürt in allen ihren Geheimnissen, und die Vertrauten aller ihrer Gedanken. Ja, die Griechen selbst haben ihr Vaterland und sich selbst untereinander nie so gut gekannt, als Ihr Anacharsis sie Sie kennen gelehrt hat.91 Bouffier hebt vor allem die Neuordnung des altertumskundlichen Wissens durch das Verfahren der rhetorischen evidentia hervor. Die Informationen scheinen ihm erstmals an ihren ursprünglichen Platz zurückgesetzt worden zu sein, die Zersplitterung der Uberlieferung ist in der Totalität eines durch die Lektüre vermittelten Lebenszusammenhangs rückgängig gemacht worden. Dabei ist sich Bouffier der Grenzen einer medial gesteuerten Präsenserfahrung durchaus bewußt und übersieht die Anachronismen derselben keineswegs, wenn er anmerkt: »Man geräth stets in Versuchung, Ihren Namen an die Stelle der liebenswürdigsten Weisen zu setzen, denen Sie, ohne es selbst zu bemerken, Ihre eignen Züge leihen.« 92 Bouffiers Einschätzung findet im deutschsprachigen Raum mit dem Göttinger Altphilologen und Hofrat Christian Gotdob Heyne eine wirkungsvolle Fortsetzung, der 1789 eine erste tiefergehende Kritik des Werkes verfaßte und zur Übersetzung desselben aufforderte. Auch er sah die Leistungen des Textes darin, daß die bisherigen Kenntnisse des griechischen Altertums »unter einen neuen

90 91

92

Barthelemy, Rede des Herrn Abbe Barthelemy (wie Anm. 20), S. 229, Fn. Antwort des Herrn Chevalier de Bouffiers, Directors der französischen Akademie, auf die Rede des Herrn Abbe Barthelemy. In: Berlinisches Journal für Aufklärung 6. Bd. (1790), S. 65-88, hier S. 80f. Ebd., S. 85.

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Gesichtspunct gebracht, und auf das Angenehmste eingekleidet« worden seien.93 Die evidentia-Erfahrung wird von ihm zudem als Eindringen in den >Geist der Antike< gedeutet: »Ueberall duftet die Blüthe des alten Griechenlands und die Blüthe der griechischen Schriftsteller. Nicht leicht wird also ein anderes neueres Werk den griechischen Geist so hauchen, als das gegenwärtige.«94 Heyne würdigt dabei den Anacharsis als gelehrtes Kompendium, welches das litterärgeschichtliche Wissen zur Antike neu aufbereitet. Nur einen einzigen Fehler müsse man diesem Unterfangen zur Last legen: »der Halbwisser, Kunstschwätzer und Schönheitsempfindler wird ein großer Haufe hervorwimmeln, und über das griechische Alterthum herfallen; je ausgebreiteter diese Gattung der Kenntnisse wird, desto seichter wird sie also auch werden. Indessen das ist Gang menschlicher Aufklärung.«95 Heyne reagiert mit dieser Abwehr auf den Druck, unter den die Klassische Philologie in der zweiten Jahrhunderthälfte von selten der sich etablierenden >Schönen Wissenschaften geraten war und benennt damit zugleich die neue Problemlage, in die das Erscheinen des Anachards fiel. Die außerordentliche Rekonstruktionsleistung ist es auch gewesen, die den Göttinger Kollegen Heynes, den Historiker und Philosophen Christoph Meiners in der Bibliographie seines Grundriß einer Geschichte der Menschheit über den Anacharsis schwärmen läßt: »Eins der herrlichsten Werke, die in unserm Jahrhundert geschrieben worden.«96 Zuvor hatte er dieses Urteil in einer Rezension ausführlicher begründet und den Text in die Universalgeschichte eingereiht. Meiners schreibt: »Kein anderes altes oder neues Volk ist so richtig und vollständig geschildert worden, als der Abbe Barthelemi die Griechen geschildert hat.«97 Barthelemys Verdienste seien in der Anlage und erzählenden Schreibart zu suchen, aber auch in der enormen Popularität, die dazu führte, »daß sein Werk nicht bloß von Gelehrten sondern von Personen von allen Ständen und Geschlechtern gelesen worden ist.«98 Hatte Heyne auf eine gattungspoetische Einordnung des 93

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Göttingische Anzeigen (wie Anm. 46), S. 698. Auf die Rezensionen der ADB und NADB sei hier lediglich verwiesen. Erstere kritisiert vor allem die Übersetzungsfehler des ersten Bandes von 1789, die zu einem Neubeginn des Projekts durch Biester geführt haben. Vgl. [Anon.:] Herrn Abt. Barthelemy, Reise desjungen Anacharsis durch Griechenland, vier hundert Jahre vor der gewöhnlichen Zdtrechnung. Aus dem Franz. l r Theil. In: Allgemeine Deutsche Bibliothek 93. Bd., 1. Stück (1790), S. 223-226; [Anon.:] Herrn Abt. Barthelemy, Reise des jungen Anacharsis durch Griechenland. Aus dem Franz. übers, nach der 2ten Ausgabe vom Biblioth. Biester. 4—7r Theil. In: Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek 4. Bd., 2. St. (1793), S. 345. Zu Biester siehe Alfred Haß: Johann Erich Biester. Sein Leben und sein Wirken. Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärungszeit in Preussen. Diss. Frankfurt am Main 1925. Ebd., S. 699. Ebd., S. 698. Christoph Meiners: Grundriß der Geschichte der Menschheit. Lemgo 1793, S. 316. In: Philosophische Bibliothek. Hg. von J. G. H. Feder und Chr. Meiners. 3. Band. Göttingen 1790, S. 92-102, hier S. 92. Ebd., S. 94.

Wissensordnungen und ihre Narrativierung in Barthelemys Anacharsis

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Anacharsis verzichtet und ihn vor allem in seiner litterärhistorischen Funktion referiert, steht für Meiners die narrative und propädeutische Popularisierung des Wissens im Vordergrund. Er sieht im Anacharsis durchaus einen Roman, weswegen er seine Rezension mit der Bemerkung beendet: »Es ist eine ganz neue Erscheinung, daß der eigentliche Gelehrte so viele wichtige Data und Bemerkungen in einem Werke findet, das doch eigentlich nicht für ihn bestimmt ist.«99 (3) Die deutschen Literaten der 1790er Jahre haben ihren Barthelemy in der Regel gelesen, aber ganz unterschiedlichen Gebrauch von der Lektüre gemacht. Friedrich Hölderlin zum Beispiel, auf dessen Anacharsis-Lektürt Werner Volke 100 und Michael Franz aufmerksam gemacht haben, scheint ein eher topographischer Nutzer gewesen zu sein. Lektürebelege finden sich nicht nur im frühen Tübinger Magisterspecimen,101 sondern auch im Hyperion-Roman. Franz resümiert: Man kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit annehmen, daß Hölderlin die Geographie der Umgebung von Athen genau vertraut war. Den >Anacharsis< [...] hat er schon bei seinem Magisterspecimen über die Geschichte der schönen Künste unter den Griechen mehrfach benutzt, und wenn man auch nicht annehmen muß, daß er das sechsbändige [sie] Werk [...] von vorne bis hinten auswendig konnte, so hat er doch sicher die reichhaltige Schilderung der Akademie sich zu Gemüte geführt und sich den Ort in seiner Gegend angesehen auf der ausgezeichneten Karte der Akademie, die dem Werk beigegeben war.102 Als weiterer Leser Barthelemys wurde Christoph Martin Wieland ins Spiel gebracht. Daß Wieland mit der Historia literaria vertraut war, ist bekannt,103 ein direkter Zusammenhang zwischen dem Anacharsis-Kompendium und dem Agathon wurde jedoch von Wildstake mit guten Gründen abgelehnt.104 Dennoch sind die strukturellen Affinitäten zwischen beiden Projekten so stark, daß sie einer erneuten Diskussion würdig scheinen.105 Von Friedrich Schiller wird berichtet, 99 Ebd., S. 102. 100 Vgl Werner Volke: »O Lacedämons heiliger Schutt!« Hölderlins Griechenland: Imaginierte Realien - Realisierte Imagination. In: Hölderlin-Jahrbuch 24 (1984/85), S. 6386, bes. S. 76f. 101 Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Michael Knaupp. München 1992, Bd. 2, S. 16, 20. 102 Michael Franz: »Piatons frommer Garten«. Hölderlins Platonlektüre von Tübingen bis Jena. In: Hölderlin-Jahrbuch 28 (1992/93), S. 111-127, hier S. 115. 103 Siehe Christoph Martin Wieland: Geschichte der Gelehrtheit seinen Schülern dictiert. Frauenfeld 1891. 104 Vg[ Wildstake: Wielands Agathon und der französische Reise- und Bildungsroman (wie Anm. 2), S. 36. Erst 1794 nimmt Wieland auf Barthelemy Bezug; vgl. Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon. In: Werke in zwölf Bänden. Bd. 3. Hg. von Klaus Manger. Frankfurt am Main 1986, S. 577, 1065. 105 Ihren Ausgangspunkt könnte eine derartige Untersuchung in den Arbeiten Merio Scattolas finden, der Wielands Roman-Projekte als >Einlösung< einer Wunschvorstellung Gottlieb Stolles (1673-1744) herausgearbeitet hat. »Und habe ich einst vorgehabt, die gantze Historiam Philosophicam der Alten in Form eines Romans zu beschreiben«, notiert Stolle in seiner Anleitung Zur Historie der Gelarheit (4. Aufl. Jena 1736,

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daß er Barthelemy sehr bald zur Kenntnis nahm. 106 Hier scheinen es eher die kleineren stofflichen Vorgaben zu sein, die etwa - neben Christian Garve — zum Ring des Polykrates (1797)107 beigetragen haben könnten. Neben der Aneignung gerät der Anacharsis in Deutschland aber auch schon bald in die Kritik. Christian Garve monierte bereits 1796 in einem Brief an Friedrich August Wolf, daß Barthelemy nicht genügend philosophische Kompetenz für seinen Gegenstand mitbringe.108 In die gleiche Richtung zielt die frühromantische Aneignung. Im jungen Friedrich Schlegel, der auf das Werk schon während seiner Göttinger Zeit 1790-1791 aufmerksam geworden sein dürfte, als er im Hause des Antiquars Heyne sein Studium begann, fand der Pariser Numismatiker zunächst einen eifrigen Leser. Für Schlegel bildete der Anacharsis in den Dresdner Jahren (1794—1796) ein litterärhistorisches Referenzwerk, wenn er sich zum Beispiel zu Fragen der antiken Musik informierte. Doch bleibt seine Aneignung bezeichnend ambivalent. 1795 möchte er Nivernois' Barthelemy-Vita übersetzen, worin ihm aber Albrecht Christoph Kayser zuvorkam.109 In einem Brief an den Verleger Georg Joachim Göschen vom September 1795 erwähnt er den Plan, seiner Ubersetzung eine »Abhandlung über die Vorzüge und Mängel des berühmten Werks Anacharsis«110 beizugeben. »Barthelemy's Ehrfurcht vor den Zeugnissen des Alterthums ist ungleich schätzbarer«, notiert er 1797 in seine Hefte Zur Philologie, »als das Verfahren unsrer Garvianer. - Künstliche Plattheit.«111 Im gleichen Heft wird allerdings ein Verdikt gesprochen, das den neuen ästhetisch-philosophischen Anspruch der frühromantischen Poesiegeschichte indiziert. Schlegel hat ihn 1798 in seiner Geschichte der Poesie der Griechen und Römer einzulösen versucht. »Barthelemys Buch ist eine antiquarische Kompilation, ohne historischen] Geist, ohne alle φσ [Philosophie] (ohne Schönheitsgefühl), ohne Styl, und ohne Sinn fürs Klassische. «.112 Die selbstrelativie-

S. 244). Daß sich vor allem auch der Franzose Barthelemy mit seinem AnacharsisKompendium die Narrativierung des litterärhistorischen Wissens zum Ziel setzte, dürfte deutlich geworden sein. Siehe im einzelnen Merio Scattola: Roman und praktische Philosophie in der Tradition der Gelehrtengeschichte. In: Ulrich Johannes Schneider (Hg.), Kultur der Kommunikation. Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter von Leibniz und Lessing. Wiesbaden 2005 (Wolfenbütteler Forschungen 109), S. 293-316, sowie Scattolas Beitrag in diesem Band. 106 Vgl. Peter Andre Alt: Schiller. Leben - Werk - Zeit. München 2000, Bd. 1, S. 473. 107 Vgl. Barthelemy, Reise (wie Anm. 12), Bd. 6, S. 417. 108 Christian Garve an Friedrich August Wolf, Berlin, den 23. April 1796. In: Reinhard Markner, Giuseppe Veltri (Hgg.), Friedrich August Wolf. Studien, Dokumente, Bibliographie. Stuttgart 1999 (Palingenesia LXVII), S. 98. 109 Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe. Hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Paderborn, Darmstadt, Zürich 1958ff., Bd. 23 (1987), S. 263. 110 Ebd., Bd. 23 (1987), S. 250. 111 Ebd., Bd. 16.1 (1981), S. 41, Nr. 74. »2 Ebd., Bd. 16.1 (1981), S. 75, Nr. 163.

Wissensordnungen und ihre Narrativierung in Barthelemys Anacharsis

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rende Randnotiz »nicht ohne alles« ist hier bereits ein Zugeständnis. Doch sollte dieses harte Urteil nicht darüber hinwegtäuschen, daß der an Barthelemy geschulte >EpiphanieGräkophilie< noch auszuwerten. Die litterärhistorische Funktion des Textes konstituiert dabei ebenso sein Erfolgsgeheimnis wie sie inzwischen als überkommenes Relikt erscheint. Jean Jacques Barthelemys Voyage dujeune Anachards en Gnce ist ein Werk mit einem doppelten Gesicht. Hatte man es bisher vor allem aus der literarischen Reihe des pädagogischen und kulturgeschichtlichen Reiseromans heraus gelesen, lassen sich an seinen geschichtsphilosophischen Voraussetzungen ebenso wie an seiner Durchführung unverkennbare Züge der Historia literaria ausmachen, die als ein Zentralprojekt der europäischen Aufklärung seit Francis Bacon programmatisch gefordert wurde. Barthelemy führt in Form eines Roman-Kompendiums die Bücher- und Autorenkunde an ihren historischen und lebenspraktischen Ort zurück und vermittelt so Theorie und Praxis im Modus der Reisebeschreibung. Gleichzeitig ordnet er die Darstellungsform der Archäologie des griechischen Altertums derart neu, daß viele Zeitgenossen den Eindruck äußerten, das Wissen sei dadurch erstmals auf >richtige< Weise dargestellt worden. Dieser Charakter einer frühneuzeitliche Gattungssymbiose ist für das Werk kennzeichnend. Der einseitige Zugang über die Romangattung führt hingegen in eine Sackgasse, indem die grundlegende litterärhistorische Funktion des Textes abgewertet oder gar ausgeblendet wird; so ist der Erfolgsautor im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer Fußnote der französischen Literaturgeschichte geworden. Dies sollte man korrigieren. Der Ansicht, daß hier der Roman in seiner Öffnung zur Geschichte einen >schlechten< Hang zur Didaxe entwickelte, kann man eine komplementäre Betrachtung entgegenstellen: Folge dieser >Öffnung< war auch eine neue rhetorisch-ästhetische Konkurrenz für die Kompendienliteratur und damit die Suche nach neuen Darstellungsformen gelehrten Wissens. Unter dieser Per-

Ebd., Bd. 2 (1967), S. 188, Nr. 147. Siehe zum Kontext dieses Fragments Guido Naschert: »Klassisch leben«. Friedrich Schlegels Geschichte der Poesie der Griechen und Römer (1798) im Kontext von klassischer Altertumswissenschaft und kritischer Philosophiehistorie. In: Thomas Lange, Harald Neumeyer (Hgg.), Kunst und Wissenschaft um 1800. Würzburg 2000, S. 179-198.

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spektive sind zumindest der zeitgenössische Erfolg des Anacharsis und das Nutzungsverhalten seiner Leser leichter zugänglich. Aus dem Geist der Aufklärung schreibend, aber weniger radikal als prominente Zeitgenossen liegt die außerordentliche Wirkung des Werkes bis ins 19. Jahrhundert hinein jenseits der Epoche, der es selbst in seiner Programmatik zugehört. Im Anacharsis werden im 18. Jahrhundert entstandene Desiderate des Antiquarianismus gelöst und durch ihre Lösung neue Problemlagen an die nächste Generation weitergegeben. Das Wissen, welches Barthelemy selbst in den ursprünglichen kulturellen Zusammenhang zurückfuhren wollte, wurde so auf produktive Weise zur weiteren enzyklopädischen Neuordnung freigesetzt.114

114

Ein neuerer Beitrag von Carlo Ginzburg: Anacharsis interroga gü indigeni. Una nuova lettura di un vecchio best-seller. In: ders., II filo e le tracce. Vero falso finto. Milano 2006, S. 1 3 8 - 1 5 2 , konnte leider nicht mehr berücksichtigt werden. Für den Hinweis danke ich Denis Thouard.

Wissensordnungen und ihre Narrativierung in Barthelemys Anacbarsis

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Anhang: Synopse zur Reise desjungen Anacharsis durch Griechenland Nach der siebenbändigen Ausgabe Berlin: Lagarde 1792-1793

Zeit

! Topographie

1. Band

April 363 v. Chr.

Kapitel 1-25

März 362 v. Chr.

Abreise aus Skythien (1), nach Byzanz (2), Lesbos, Mytilene (3), Euböa(4), Theben (5) Attika, Athen (6) Akademie (7) Lyzeum, Gymnasien, Palästren (8)

Pittakus, Alkaios, Sappho (3) Epaminondas, Philipp von Makedonien (5) Sklaven, Fremde, Bürger (6) Piaton (7)

Beerdigungen (8)

April 362 v. Chr.

Korinth (9)

362 v. Chr.

Athen

Athenisches Heer (10) Theater (11) Stadtbeschreibung Athens (12) Schlacht bei Man tinea (13) Staatsverfassung Athens (14) Magistrat (15) Rechtswesen (16-19) Sitten und häusliches Leben (20) Religion (21)

Phokis und Delphi (22)

Die Pythischen Spiele, das Orakel von Delphi (22)

April 361 v. Chr.

Athen

Isokrates (8) Xenophon, Timoleon (9)

Allgemeine Geschichte von 361-357 v. Chr. (23) 357 v. Chr.

Personen

Zustand der Wildheit, Ankunft der Kolonien aus dem Morgenlande, Inachus und Phoroneus / Cekrops, Argonauten, Herkules, Theseus, Erster und Zweiter Thebanischer Krieg, Trojanischer Krieg, Rückkehr der Herakliden, Betrachtungen über das Heldenalter, Niederlassung der Ionier, Homer / Drakon, Epimenides, Solon, Pisitratus / Schlachten bei Marathon, den Thermopylen, Salamis und Platäa, Themistokles und Aristides / Peleponnesischer Krieg, Athenischer Krieg in Sizilien, Eroberung Athens, Betrachtungen über Perikles' Jahrhundert

Die Geschichte Griechenlands von ihren mythischen Anfängen bis in das Jahr 363 v. Chr.

2. Band

Themen

Feste der Athener (24) Wohnungen und Gastmäler (25)

260

Guido Naschert Zeit

3. Band

Topographie

Themen

Athen

Kinderzucht (26) Musik (27) Sitten der Athener (28)

Kapitel 26-38

Personen

Bibliothek eines Atheners: - Philosophie (29-30) - Astronomie (31) Arisripp (32) 357 v. Chr

Piatons Reisen nach Sizilien (33) Böotien (34) Thessalien (35)

Epirus, Akarnien, Aetolien (36)

Hesiod (34) Pindar (34) Amphiktyonen, Zauberinnen, Könige von Pherä, das Tal der Tempe (35) Dodonisches Orakel (36) Sprung vom Leukadischen Felsen (36)

Megara, Korinth, Sicyon, Achaia (37) Juli 356 v. Chr. 4. Band

Elis (38)

Olympische Spiele (38)

Elis (Forts.) (39) Messenien (40) Lakonien (41)

Kapitel 39-58

Einwohner Spartas (42) Lykurgische Gesetzgebung (43) Lykurg (44) Regierungsform (45) Gesetzgebung (46) Erziehung (47) Sitten und Gebräuche (48) Religion und Feste (49) Kriegsdienst (50) Verteidigung der Lykurgischen Gesetze, Ursachen ihres Verfalls (51) Arkadien (52) Argolis (53) Athen

Piatons Republik (54) Athenisches Handelswesen (55) Steuerwesen (56) Bibliothek eines Atheners (Forts.): - Logik (57) - Rhetorik (58)

5. Band

Attika (59)

Kapitel 59-68

Landbau, Bergwerk zu Sunion (59) Piatons Vortrag über die Bildung der Welt (59) Allgemeine Geschichte von 357-354 v. Chr. (60)

354 v. Chr.

Elfjährige Reise nach Ägypten und Persien (61)

[Fortsetzung der allgemeinen Geschichte Griechenlands in Briefen an Anacharsis und Philotas (61)]

343 v. Chr.

Mytilene

Gespräch mit Aristoteles über das Wesen des Staates (62): — 1. Regierungsformen - 2. Die beste Staatsverfassung

Wissensordnungen und ihre Narrativierung in Barthelemys Anacbarsis Zeit

Topographie

Themen

261 Personen Dionysius zu Korinth (63) Timoleon (63)

Athen

Bibliothek eines Atheners (Forts.): - Naturlehre; Naturgeschichte; Geister (64) - Geschichte (65) Griechische Namenkunde (66) Sokrates (67) Mysterien zu Eleusis (68)

6. Band

Geschichte des Griechischen Theaters (69) Auffuhrung der Stücke (70) Gespräch über die Tragödie (71)

Kapitel 69-78 342 v. Chr.

Reise zur asiatischen Küste und einigen Inseln (72) Rhodos, Kreta, Kos (73) Samos (74)

341. v. Chr.

Gespräch über den Phytagoreischen Bund (75) Delos und die Kykladischen Inseln (76-78)

7. Band Kapitel 79-82

337. v. Chr.

Hippokrates (73) Polykrates (74)

Hochzeitsfeier (77) Über die Glückseligkeit (77)

Reise nach Delos (Forts.)

Über Religionsmeinungen (79)

Athen

Bibliothek eines Atheners (Forts.): - Dichtkunst (80) - Sittenlehre (81)

Rückkehr nach Skythien (82)

Schlacht bei Chaironea (82)

TAFELN AI XG EMEINES REGISTER ÜBER SACHEN UND PERSONEN

Alexander der Große (82)

I V . EPILOG

ULRICH J O H A N N E S SCHNEIDER

Anmerkungen zur Geschichte der Gelehrsamkeit Die Geschichte der Gelehrsamkeit, der gelehrten Praktiken und Strategien bewegt sich üblicherweise in einem Vorurteil, das da lautet: Hier werden zu Unrecht vergessene intellektuelle Leistungen thematisiert, hier wird dem Gedächtnis der europäischen Rationalität eine Realitätsebene zurückerstattet, die das Wissen und das Denken in den Formen ihrer Verarbeitung problematisiert und von der man sagen kann, daß sie bis heute Gültigkeit besitzt. Vorsichtiger ausgedrückt: Es gibt eine Erinnerungskultur der Bearbeitung von Erinnerungskultur, eine gerade unter Frühneuzeithistorikern verbreitete leise Begeisterung für die Konstrukteure von Bibliotheken, welche es uns heute ermöglichen, mit Neugier immer wieder anders durch die Regale zu jagen und aus den verstummten Stimmen der Frühzeit gedruckten Wissens unsere eigene intellektuelle Existenz lebendig zu erhalten. Diese Erinnerungskultur schlägt um in Erinnerungskult, wenn das, was über alle Konstruktionsabsicht hinaus sich zum Wissensschatz angehäuft hat, als geplantes Produkt von Strategien, Methoden und Techniken erscheint: Unsere eigene Meisterschaft wird in die Vergangenheit projiziert. Indem wir die Gelehrten des 17. und 18. Jahrhunderts zu unseren Kollegen machen und sie in ehemaliger Lebendigkeit auferstehen lassen, unterlaufen wir das Vergessen, das sie ereilt hat, und erhoffen ein ähnliches Schicksal für uns selbst. Aber ist die Gelehrtengeschichte heute nicht im gleichen Maße Rettung eines Vergessenen wie Nachahmung desselben? Ein im Grunde schönes Projekt: die Geschichte der Gelehrten nicht aus der Perspektive derjenigen Frauen zu schreiben, die sie nicht hatten, oder die ihnen das Spülwasser über den Kopf schütteten — Zeugnis einer unüberbrückbaren Entfernung gelehrter Arbeit zu den Bedürfnissen des täglichen Lebens. Vielmehr die Geschichte jener vertrockneten Pedanten zu schreiben, die im Triumph unter solchen Büchern sterben konnten, die aus den höchsten Regalen auf sie niederstürzten. Denn in diesen Büchern wollten sie aufgehen, dort ihre papierene Existenz realisieren, auch wenn sie den Zeitgenossen oft lächerlich erschien. Endlich die Gelehrtengeschichte nicht aus der Perspektive der Fürsten und Könige zu schreiben, die an allem Wissen nur das Praktische zu schätzen wußten und die Reise in ferne Bibliotheken nur zahlen wollten, wenn auf dem Weg noch eine Windmühle instandgesetzt werden oder eine Lücke in der hauseigenen Genealogie geschlossen werden konnte. Aus dem Sumpf der zeitgenössischen Nützlichkeiten aufzutauchen in den Kopf des >Polyhistorsgroßen Erzählungen< der Philosophiehistoriker als ein Nacheinander neutönender Texte interpretiert wird. Der Gegensatz der Gelehrtengeschichte zur Philosophiegeschichte, als Hauptform der Ideengeschichte, ist scharf: man kann nur zu einer von beiden gehören (den einzigen wirklichen Problemfall Leibniz ausgenommen). 2. Das Innovative, Interessante und auch Provokante der Gelehrtengeschichte liegt nicht zum wenigsten darin, daß sie keinen ordentlichen Begriff des Autors kennt. Die Gelehrten befinden sich per definitionem in ständiger Auseinandersetzung mit tradiertem Wissen; die Tätigkeiten der Ordnung, der Verzeichnung und der Erfassung von überliefertem gelehrten Wissen gelten ihnen selbst nicht als Anstrengung der Produktion, vielmehr der Reproduktion oder der Modifikation. Darum das Gewicht, das hier der Begriff der Praxis gewinnt, denn mit ihm wird vom Tun her das Wesen des Gelehrten erschlossen: jeder Name eine Technik. Es ist diese professionelle Bescheidenheit, welche den Gelehrten nicht selten retrospektives Mitleid beschert. Irgendwie will man nicht wahrhaben, daß ihr Erfolg an ihrem Vergessen gemessen werden kann, daß sie nur methodische Wirklichkeit besitzen, daß ihr Name wenig mehr ist als ein Katalog, ein Kommentar, ein Buch zweiter Ordnung. 3. Die Gelehrtengeschichte ist Vorgeschichte der Geschichtsschreibung. Alle narrativen Modelle, historisches Wissen zu verarbeiten, die wir seit dem späten 18. Jahrhundert und vor allem seit der Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft im großen Stile an den Universitäten und auf den Buchmärkten des 19. Jahrhunderts kennen, haben gelehrte Vorformen bzw. speisen sich aus Zusammenstellungen und Aufbereitungen der beiden vorangegangenen Jahrhunderte. Noch ein so radikal interpretierender und aktualisierender Philosophiehistoriker wie Hegel wäre ohne die komparatistische und kompilatorische Leistung eines Brucker nicht denkbar. Die modernen Geschichtserzählungen haben auf den Gebieten der Literatur, der Philosophie, der Wissenschaften, der Künste und der Religionen nicht nur eine neue Darstellungsform etabliert, sondern das überlieferte Wissen auch in neuer Form hierarchisiert. >Große Männer< waren lange Zeit ein beliebtes Modell der Geschichtserzählung auf allen Gebieten, ihre Werke wurden zum Hauptinhalt der Bibliotheken, alles andere reduzierte sich auf Kontexte. Das Subjekt als heroisches Individuum war die geschichtliche Größe und marginalisierte alles Kollektive. Weil die Gelehrtenkultur in ihren Ordnungsprinzipien das Sachliche betont und das Namentliche dem Systematischen unterordnet, wird das von ihr vorrätig gehaltene Material nicht nur auseinandergerissen, sondern die Gelehrsamkeit selbst verschwindet aus dem Blick des sich über seine Erzählungen versichernden >historischen MenschenEntdeckungen< nachzugehen, sie als neuen Typ der Geschichtsschreibung herauszustellen und sie in Hinblick auf die bekannten Verfahrensweisen der Geistesgeschichte präziser zu kontrastieren. Das wäre mindestens ebenso vielversprechend wie der Versuch, das Zusammenwirken der verschiedenen Wissenschaftsrichtungen in der Gelehrtengeschichte zu thematisieren. Denn es sind hier Literaturhistoriker am Werk, die das, was Literatur heißt, nicht mehr in der seit dem 19. Jahrhundert geläufigen Definition gefangen sein lassen wollen, wo das Schöngeistige willkürlich aus der Masse der Texte herausgehoben wird. Ahnlich geht es Kunsthistorikern, die am Begriff des Künstlers in das 17., 16. und 15. Jahrhundert zurückklettern, um eine späthumanistische Figur zu finden, die das Nützliche und Praktische ebenso wie das Gefällige und Schöne artikulierte. Und es gibt Historiker, die auf dem Wege einer Geschichte der Geschichtsschreibung bei der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur landen, es gibt Philosophiehistoriker, die entweder über die Geschichte der Philosophiegeschichte oder aber über die Abkehr von der kanonischen Fixierung auf >Meisterdenker< eine Kultur der Argumentation und der Diskussion freilegen, die für die Zeitgenossen vor Einsatz des Geniekults im späten 18. Jahrhundert weitaus realer war als man das üblicherweise retrospektiv vermutet. *

Die disziplinenübergreifende - oder auch ent-disziplinierte - Auseinandersetzung mit der Gelehrtenkultur des 17. und 18. Jahrhunderts kann man heute keine >Nische< mehr nennen, denn viele tummeln sich bereits dort, wo es im Schatten der Kenntnisse, mit denen wir im späten 20. Jahrhundert erzogen wurden, eine Fülle von Entdeckungen zu machen gilt. Genau dieser Aspekt der Entdeckung, des Ausschweifens in die Breite und in die Tiefe, macht heute die durchaus prekäre Evidenz der Gelehrtengeschichte aus. Sie gerät zu einer so lustvollen Aufhebung des Vergessenen, daß sie dies, eben das Vergessen, als Ausgangsbedingung ihrer eigenen Arbeit nicht mehr anerkennen kann. Die Ambivalenzen der Gelehrtengeschichte könnte man wie folgt in sechs Punkten ansprechen. A) Die Gelehrtengeschichte ist Rettung, insofern sie vor die Dichotomie des historischen Begreifens und der Vernunfteinsicht, wie sie von Kant am Ende des 18. Jahrhunderts artikuliert wurde, zurückgeht. Wenn Kant sagte, daß man entweder etwas historisch lernen oder philosophisch einsehen könne, hat er ein modernes Modell des Wissens artikuliert, das als Informationstechnik die Schulund Universitätspädagogik bis heute bestimmt. Es kommt post-eruditär darauf an, dem Gewußten gute Gründe zu unterschieben, damit es als Wissen Bestand haben kann. Dagegen haben enzyklopädische Programme, topische Modelle oder die Historia literaria keinen Unterschied gemacht zwischen dem Gewußten und dem Zu-Wissenden. Die Rettung der Gelehrtengeschichte betrifft also

Anmerkungen zur Geschichte der Gelehrsamkeit

269

eine ganze Landschaft des Wissens und des Umgangs damit, ein Stück Wissenschafts- und Philosophiegeschichte, vielleicht auch ein Stück Literatur- und Kulturgeschichte, die heute weitgehend ausgeblendet werden, wenn es um den Unterricht von jungen Menschen geht, bis hin zur Universität. B) Der Rettung geht nicht selten ein kritisches Bewußtsein dessen ab, wovor die Gelehrtenkultur gerettet werden muß. Oft vollzieht sich der Rückgang von heute auf die Frühzeit des Wissensmanagements als bloße Nachahmung. E s wird eine Literatur kommentiert, die weitgehend selbst Kommentar ist, ein Schrifttum topographisch erfaßt, das selber Topographie von Wissen, Büchern und Texten ist, so daß eine formale Reduplikation stattfindet, die unter dem Vorwand, Vergessenes entdeckt zu haben, sich beliebig lange in unbestimmter Entfernung von der Gegenwart aufhalten kann. Ein Positivismus wird freigesetzt, sobald die Archive der Wissensstrukturen in der Epoche vor ihrer Modernisierung geöffnet werden. An der alten Gelehrsamkeit wird die heutige gespiegelt: die Marginalisierung potenziert sich. C) Wenn man die Gelehrtengeschichte nicht kritisch, sondern produktiv ins Verhältnis zu den vorhandenen Modellen der Geschichtsschreibung setzt, dann läuft sie auf Kontextualisierung hinaus. Sie eröffnet einen wissenschaftshistorischen Rundgang um die Gebäude wissenschaftlicher Innovation und Systematik als Beschreibung des Nährbodens moderner empirischer Forschung und konzeptioneller Erfindung. Die Gelehrtengeschichte legt den Boden und die Umgebung frei, innerhalb dessen sich Philosophie, Literatur und Wissenschaft ausbilden konnten; vor allem die Universitäten, jedenfalls im deutschen Sprachraum, erhalten innerhalb der Gelehrtengeschichte eine besondere Aufmerksamkeit, wie der 2001 erschienene Band des »Ueberweg« zur deutschen Philosophie des 17. Jahrhunderts beweist. D) Kontextualisierung als produktive Korrektur des verengten historischen Begreifens der Gegenwart kann allerdings auch als Übertragung funktionieren, als Identifizierung des Horizonts der Frühen Neuzeit mit dem der Gegenwart. E s werden Milieus für Philosophie, Literatur und Wissenschaft rekonstruiert, wie wenn es sich um die der eigenen Zeit handelt, als ob die Aufgabe einer kritischen Evaluation moderner narrativer Geschichtsschreibung nur im Modus der Vergangenheitskonjektur geschehen kann. Das Milieu ist alles: J e komplexer die Rekonstruktion, je umfangreicher die Aufnahme der Gelehrtenkommunikation in der modernen Rekonstruktion, um so wirklichkeitsgetreuer scheint sie zu werden. Die Gefahr einer völligen Historisierung im Sinne einer Entkoppelung der Arbeit an den vergangenen Jahrhunderten von den Interessen der gegenwärtigen Erkenntnis ist offensichtlich. E) Die am leichtesten zu verteidigende Funktion der Gelehrtengeschichte ist die der Weiterung gegenwärtiger Begriffe. Unsere Auffassungen von Texten, von Literatur oder von Philosophie sind deutlich normativ verengt und passen nicht mehr auf die Praktiken, aber auch nicht mehr auf die expliziten Definitionen des 17. und 18. Jahrhunderts. Damals wurden Texte als Verweissysteme aufgefaßt,

270

Ulrich Johannes Schneider

als Formen der Tradition und ihrer Modifizierung, und die Gelehrten bearbeiteten sie mit dem Ziel der Bewahrung durch Veränderung. Das Tradierte selbst bestimmte in höherem Maße als für uns heute den Horizont des Wissens und ließ die Arbeit daran klarer als einen Dienst, nicht als eine Form der Beherrschung, erscheinen. F) Es liegt eine große Schwierigkeit darin, die eigenen Begriffe historisch zu entgrenzen und von einem Wissen zu sprechen, von Texten zu reden, die im ungeläufig gewordenen Sinne breite Horizonte des Denkens konstituieren. Gerade weil die Autorschaft in der Gelehrtenkultur zur Funktion der Textbearbeitung und der Wissensaufbereitung wird, liegt die Gefahr ihrer rückwärtigen Aufladung mit späteren Modellen herrschender Subjektivität und markanter Individualität nahe. Es gibt die Gefahr einer ideengeschichtlichen Veredelung der Gelehrtengeschichte, die aus den Dienern des Wissens Meister der Ordnungen macht, aus den Bibliotheksarbeitern Aspiranten einer Verfügungsgewalt, die eindeutig moderne und nicht mehr frühneuzeitliche Züge trägt. Diese sechs kurzen Argumente lassen sich auf drei Ebenen problematisieren. Man kann sie so gliedern, daß die Gelehrtengeschichte einerseits ihr Innovationspotential in der Auszirkelung des historischen Gegenstands >Gelehrsamkeit< hat, daß sie diesbezüglich ein Beschreibungspotential zum Einsatz bringt, das durch die Ideengeschichte verkrüppelt war (A, C, E). Das Vergessen einer Erinnerungskultur wird thematisiert, ein Kontext der intellektuellen Produktion etabliert, und bei alldem werden die Begriffe der Gegenwart gedehnt, historisch gebeugt, aussagefähig gemacht über die geläufigen Definitionen hinaus. Auf der anderen Seite stellt sich immer wieder ein Schein der Selbstverständlichkeit ein, als ob das Thema gar nicht weitab läge, als ob die Gelehrten des 17. und 18. Jahrhunderts unsere eigenen Vorläufer wären, mehr noch: unsere Kollegen, unsere Freunde (B, D, F). Die Geschichte der Gelehrsamkeit erscheint als Übung der Imitation, als Milieustudie, sie wird Ersatz für die Ideengeschichte auf einem Markt des historischen Wissens, der immer wieder neue Erzählungen vom Rand des Bekannten her fordert. So wird die historisch manifeste Marginalisierung der Gelehrtenkultur unterlaufen, allerdings nicht in kritisch-subversiver Absicht, sondern als Effekt einer retrospektiven Identifizierung, als einfache Anerkennung eines überzeitlichen Milieus der Gelehrsamkeit selbst, letztlich als neuartige Geistesgeschichte, nun nicht mehr der >großenfreischwebend< aufgefaßt wird. Die Gelehrtengeschichte bringt die Geschichte mehrerer Disziplinen zusammen, sie begreift sich als Wissensgeschichte und als Geschichte geistiger Ordnungen quer zu den etablierten Erzählungen, sie verteidigt das Normale und das Praktizierte gegen das Originelle und das Konzipierte. Für die Kammerdiener kann es keine Helden geben, wie Hegel schrieb, und man kann ergänzen: Sie sollten sich selbst nicht dafür halten, auch wenn sie Perücke und Gehrock zu nachtschlafener Zeit gerne einmal an den eigenen Leib halten.

ANHANG

Namenvereeichnis Abbt, Thomas 187 Abraham 149f. Adam 10,21,144,146-148 Aelianus, Claudius 220 Agricola, Rudolf 56 Aischylos 248 Albertinus, Johann Georg Jacob 10,76 d'Alembert, Jean Le Rond 9, 70, 238, 247 Alexander der Große 250 Allacci, Leone, auch: Leo Allatius 21,215, 225 Alpago, Andrea 219 Aisted, Johann Heinrich 5 , 2 1 , 5 3 Ambrosius, Bischof von Mailand 11 Amyot, Jacques 223 Anacharsis aus Skythien (d.Ä.) 239f., 241 Andreae, Johann Valentin XI, 193-200, 202-211 Antonius Musa 17 Apuleius, Lucius 223 Archimedes 17 Aretino, Pietro 107 Ariost, Ludovico 237 Aristoteles 3 4 , 1 2 9 , 1 4 2 , 1 5 7 , 1 6 5 , 1 7 1 , 243, 260 Arnd, Karl 180 Arndt, Johann 200,207 d'Artis, Gabriel 108 Athenaios von Naukratis 243 Augustinus, Aurelius, Bischof von Hippo 11 Augustus, röm. Kaiser 17,178 Averroes 219 Avicenna 219 Baader, Clemens Alois 123 Bacon, Francis Vllf., 3f., 6-16, 22-27, 31-35, 65, 89, 92, 98,103,131f., 141, 157,167,169,171,199,237, 257 Balde, Jakob S J . 169 Balzac, Jean-Louis Guez de 219 Banier, Antoine 248 Barbaro, Daniele 237 Barberini, Francesco, Kardinal 28 Barchusen, Johann Conrad 9f. Barth, Caspar 221 Barthelemy, Jean Jacques 231-258 Bartolus de Saxoferrato 142 Batteux, Charles 249 Baudoin, Fran£ois 43f., 54

Baumgarten, Alexander Gottlieb 182 Baumgarten, Siegmund Jacob 121 Bayle, Pierre 67,103, 116, 120,133, 249 Beauzee, Nicholas 236, 244 Bembus, Petrus, auch: Pietro Bembo 18 Benedictins de la Congr. de S. Maur 9 Berenger, Laurent Pierre 252 Bernhard von Clairvaux 178 Bernhard, Johann Adam 138 Bertram, Johann Friedrich 6 9 , 7 4 , 7 6 , 7 9 , 178f. Bertram, Philipp Ernst 84,180 Besold, Christoph 208 Beyerus, Iohannes-Hartmannus 55 Bierling, Friedrich Wilhelm 43, 93 Biester, Johann Erich 248f. Bignon, Gerome 216 Blaise, Ermengaud 219 Bocage, Jean Denis Barbie du 251 Boccalini, Traiano 108 Bochart, Samuel 216,218f. Bodin, Jean 51-53,219 Bodmer, Johann Jakob 175,181,186 Boeckler, Johann Heinrich 44, 46,180 Böhmer, Justus Christoph 28 Bolduan, Paul 15 Bolognetti, Alberto 58 Born, Ignaz von 180 Bornitz, Jakob 51 Borrichius, Olaus 8 Boscovich, Roger Joseph 179 Bose, Johann Andreas 43, 51, 53 Bouffier, Marquis de 252f. Bougine, Carl Joseph 6 8 , 7 6 , 8 4 , 1 3 0 Bourdelot, Jean 219 Boyle, Robert 167,171 Boze, Claude Gros de 235 Bracciolini, Poggio 221 Breitinger, Johann Jakob 186 Brockes, Barthold Heinrich 174,213,215 Brucker, Johann Jacob 138,158, 249, 267 Bruto, Giovanni Michele 46 Brutus, Marcus Iunius 18 Budaeus, Guilhelmus, auch: Bude 18 Budde, Johann Franz 9, 74, 76,135,148 Burtonus, Guilielmus 8 Caesar, Gaius Julius 18,21,166,170 Calcagnini, Celio 224

274 Calvin, Johannes 165, 224 Campanella, Tommaso 201, 203, 205f. Capivaccio, Girolamo 55 Capoa, Lionardo di 8 Cappel, Jacques (d.J.) 219 Cappel, Louis 216,219 Cardano, Girolamo 237 Casaubon, Isaac 221, 223, 243 Caselius, Johannes 51 Castiglione, Baidassare 237 Cato, Marcus Porcius, gen. Censorius 167 Catullus, Gaius Valerius 18,166 Caussinus, Nikiaus S J . 169 Caylus, Comte de 235, 249f. Cellarius, Christoph 159 Cellarius, Salomon 8 Celsus, Aulus Cornelius 166 Chiron aus Thessalien 250 Cicero, Marcus Tullius 14, 86, 135,166f., 217 Clemens von Alexandria 145 Clodius, Christian August Heinrich 187 Coelius Rhodiginus, Ludovicus 18 Cölestin II. O.Cist., Abt von Kaishaim 188 Colomies, Paul 213,216,218-229 Columella, Lucius Iunius, gen. Moderates 167,170 Comenius, Johann Arnos 5, 200 Condorcet, Marie Jean Antoine Nicolas Caritat de 89 Conring, Hermann 4, l l f . , 19, 28-31, 35, 51 f. Copernicus, Nicolaus 18 Corsini, Edoardo 172, 248 Cramer, Johann Andreas 186 Cramoisy, Sebastien 220 Croneck, Johann Friedrich 187 Crousaz, Jean-Pierre de 173 Cudworth, Ralph 249 Curtius, Quintus Gaius C., gen. Rufus 166 Daille, Jean 222 Darius, pers. König 170 Demokrit von Abdera 226, 243 Denis, Michael S.J. 173-188 Descartes, Rene 157,165,170,179,199, 208 Desing, Anselm O.S.B. 121-123 Dickinson, Edmund 218 Diderot, Denis 70, 238, 247 Diodorus Siculus 147 Diogenes Laertios 7,14, 22, 25 Dioskurides 221

Namenverzeichnis Disteli, Andreas 164 Doni, Anton Francesco 196, 205 Draud, Georg 21 Du Verdier, Antoine 228f. Dupuy, Pierre und Jacques, auch: Petrus et Jacobus Puteani 28 Dürr, Johann Conrad 85 Dusch, Johann Jakob 181,187 Eichhorn, Johann Gottfried IX, 10 Elzevir, Pieter 220 Engel, Johann Jacob 186 Erasmus von Rotterdam 220 Erdt, Paulin O.F.M. 185-190 Erd, Anton Wilhelm 182 Estienne, Henri (d.J.) 221 Esüenne, Robert 219 Euklid aus Athen (d.J.) 234, 242f. Euklid von Alexandria (der Mathematiker) 243,250 Euripides 248 Eyb, Albert von 176 Eyring; Jeremias Nikolaus 159f. Fabri, Honore S.J. 172 Fabricius, Johann Albert 19-21, 213, 215-218, 222-230 Fabricius, Johann Andreas IX, 34, 69, 76-79, 81-84,134,146,150,180 Falck, Joseph S.J. 172 Felginer, Theodor Christoph 216 Fenelon, Fran$ois 238 Feßler, Ignatius Aurelius 251 f. Fichet, Alexander S.J. 19f. Fischart, Johann 195 Flacius Illyricus, Matthias 222 Flavius Josephus, s.Josephus Florus, Lucius Annius 222 Fontenelle, Bernard de Bovier de 110 Fortunatas von Brescia 172 Fracastoro, Girolamo 237 Francisci, Erasmus 107 Frickius, Joannes 20 Friedrich II., preuß. König 181,187 Friese, Johann, d. i. Frisius' Vater 17f. Frisius, Ioannes Iacobus, auch: Johann Jakob Fries, Friese 14-18, 23f., 106, 141 Fronto, Marcus Cornelius 166 Gaffarel, Jacques 218 Gale, Theophilus 8 Galen aus Pergamon 129,170

275

Namenverzeichnis Galilei, Galileo 167 Garelli, Pius Nikolaus 175f., 180,184 Garve, Christian 187,256 Gassendi, Pierre 165 Gaulmin, Gilbert 216,219 Geilfusius, Johannes Gothofridus 52 Geliert, Christian Fürchtegott 174,181f., 186 Gellius, Aulus 167, 217, 221, 228f. Genebrard, Gilbert 219 Geret, Johann George 85 Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von 181 Gesner, Conrad, auch: Conradus Gesnerus, Konrad Gessner 17f., 21, 34, 90,106, 196, 244, 266 Gesner, J ohann Matthias 116 Gessner, Salomon 175,181,187 Gleditsch, Johann Friedrich 125 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 181,186 Goethe, Johann Wolfgang von 116,187 Goguet, Anton Yves 9 Göschen, Georg Joachim 256 Göselius, Johannes Petrus 51 Gottsched, Johann Christoph 187 Graevius, Johann Georg 216,248 s'Gravesande, Willem Jacob 171 Gretser, Jakob S J . 169 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von 210 Gronovius, Jacob 223,248 Gronovius, Johann Friedrich 223 Grosser, Samuel 74 Grotius, Hugo 133f., 223-225 Gundling, Nikolaus Hieronymus Villi., 35, 38f., 42f., 48f., 59f., 66, 69, 76, 78-84,121,130,145,180 Hagedorn, Friedrich von 181,186 Haller, Albrecht von 126,158,181f., 186 Hamberger, Georg Christoph 9f. Hamel, Jean-Baptiste du 171 Harles, Gottlieb Christoph 213 Hauntinger, Johann Nepomuk O.S.B. 183 Hauser, Berthold S.J. 169,172 Hechtius, Godefridus 9 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 267,270 Heidegger, Hans Conrad 183 Heidegger, Johann Heinrich 146-148 Heineccius, Johann Gottlieb 169 Heinrich IV., dt. Kaiser 17 Heinsius, Daniel 8 Hempel, Christian Friedrich 39, 66 Henning, Aegidius 113

Heraküt von Ephesos 243 Herder,Johann Gottfried 4, 182,187, 217, 252 Hermes Trismegistos 155 Hermes, Johann Timotheus 182 Herodot von Halikarnassos 239 Hertius, Johann Nikolaus 52 Hess, Tobias 195 Heumann, Christoph August 8,12,19, 30, 34, 38, 43-47, 52, 66, 69, 84,129f, 134-160,176,179f., 188, 213 Heyne, Christoph Gotdob 126, 234, 247, 250, 253f., 256f. Hieronymus 7 Hippokrates von Chios 98, 170 Hirsching, Friedrich Karl Gottlob 123, 213 Hoffmann, Adolph Friedrich 70f., 74 Hofmannswaldau, Christian Hofmann von 174 Hölderün, Friedrich 234, 255, 257 Holstenius, Lucas 27,215,223 Honorius, weström. Kaiser 178 Horaz, auch: Horace, d. i. Quintus Horatius Flaccus 18, 29,166, 237 Horn, Georg 8 Hornejus, Konrad 51 Hottinger, J ohann Heinrich 14 Huber, Ulrich 71 Hugo, Hermann 145 Humes, David 250 Hutten, Ulrich von 224 Isokrates 220 Iunius, Franciscus 219 Jacobi, Johann Georg 187 Joecher, Christian Gottlieb 10, 36,122f. Johannes Damascenus 16 Jonsius, Johannes 141 Joseph II., dt. Kaiser 174,187 Josephus, Flavius 145,147 Jugler, Johann Friedrich 37 Justinian, röm. Kaiser 17 Juvenalis, Decimus Iunius 166 Juvencius, Joseph S.J. 169 Juvenel de Carlencas, Felix de 76 Kant, Immanuel 86f., 116f., 119f., 126f., 188,268 Kapp, Johann Erhard X, 42f., 47, 59, 76, 84,121 Karl IX., franz. König 222

276 Karl VI., dt. Kaiser 93 Kästner, Abraham Gotthelf 187 Kayser, Albrecht Christoph 256 Keckermann, Bartholomaeus 53f., 56-58, 62 Kell s. Khell Kemmerich, Dietrich Hermann 35, 4 0 43, 48f., 59, 74 Khell von Khellburg, Joseph S.J. 172,176 Kircher, Athanasius S.J. 172 Kirsch, Adam Friedrich 169 Kleist, Ewald von 186 Klopstock, Friedrich Gottlieb 175, 181f., 186 Köstner, d. i. vermutl. Kästner, Abraham Gotthelf 187 Kramer, d.i. vermutl. Cramer, Johann Andreas 187 Kranz, Gottlieb 30 Kyros II., pers. König 240 La Peyrere, Isaac 146 La Roche, Sophie von 182 Lambeck, Peter, auch: Petrus Lambecius 4, 6,19-28, 31, 65f, 141,146,180, 215, 223 Lamprecht, Karl 217 Lana, Francesco S.J. 172 Lange, Johann Christian 92f. Langius, Wilhelm 19 Lauterbeck, Georg 51 Lavater, Johann Kaspar 186f. LeClerc, Daniel 10 LeClerc, Jean 135-137,222 Legipont, Oüver O.S.B. 188 Leibniz, Gottfried Wilhelm 84, 89-95, 97-99,165,171 f., 179,196, 267 Leo X., Papst 237 Leopold I., dt. Kaiser 19-21 Lessing, Gotthold Ephraim 84,181,187 Lessius, Leonhard S.J. 169 Leyser, Polycarp 4, 9, 33, 35 Lichtenberg, Georg Christoph 115f., 119, 126 Lichtwer, Magnus Gottfried 186 Liebezeit, Christian 216 Lipsius, Justus 50, 219, 224 Livius, Titus 166,221,223 Löscher, Valentin Ernst 120 Lukian von Samosata 239 Lukrez, d. i. Titus Lucretius Carus 167 Lullus, Raimundus 5 Luther, Martin 157,165

Namenverzeichnis Machiavelli, Niccolö 237 Mader, Joachim Johann 22,124 Maffei, Giovanni Pietro S.J. 169 Maignan, Emanuel 172 Mancini-Nivernois s. Nivernois Mangold, Joseph S.J. 169,172 Mannhart, Franz Xaver S.J. 9,163-173, 175,177-179,180, 182 Manuzio, Aldo 223 Maria Theresia, dt. Kaiserin 181 Martialis, Marcus Valerius 166 Mayr, Ulrich O.Cist. 188 Mazarin, Jules, Kardinal 27 Meibomius, Henricus 20 Meier, Georg Friedrich 182 Meiners, Christoph 9, 234, 254f., 257 Meisner, Balthasar 58 Meister, Leonhard 187 Melanchthon, Philipp 56,58,157 Mencke, Friedrich Otto 107 Mencke, Johann Burckhard 36,107 Mendelssohn, Moses 187 Mersenne, Marin 27,172 Mertens, Hieronymus Andreas 69, 84 Mesmes, Jean-Jacques de 27 Meusel, Johann Georg 66 Micraelius, Johannes 85 Middendorp, Jacob 25 Milieu s. Mylaeus Mirandola, Giovanni Pico della 202, 224 Molinaeus, Petrus 224 Moller, Johannes 19f. Montaigne, Michel de 195, 203 Montesquieu, Charles de Secondat, Baron de La Brede et de 250 Montfau?on, Bernard de 248 Morel, Guillaume 14,18 Morhof, Daniel Georg 3f., 20, 33, 45f., 59, 85, 93,115, 141,147f., 176,180, 188, 215,266 Morin, Jean 223 Morus, Thomas, auch: Thomas More 18 Moser, Johann Jakob 91, (vermutl.) 187 Moses 10, 21,24, 34,144f., 148-151,154, 165 Mosheim, Johann Lorenz 93,96,249 Müller, August Friedrich 70f., 74 Müller, Gottfried Polycarp 74 Muret, Marc Antoine 224 Musig, Martin 74, 76 Musschenbroek, Pieter van 171 Mylaeus, Christopherus, auch: Christophe Milieu 4,12f., 25f., 31

Namenverzeichnis Naude, Gabriel, auch: Naudaeus 4,21, 27-35, 45, 51,195f., 205f., 211, 237 Nepos, Cornelius 166 Neufeldt, Coelestinus Conradus 35 Newton, Isaac 170,179 Nicolai, Friedrich 161f., 175, 182-186 Nivernois, d. i. Louis-Jules-Barbon ManciniNivernois 235, 237, 246, 256 Nollet, Jean-Antoine 171f. Ordo Sancti Benedicti s. Benedictins Ossian 174, 181 Ovid, d. i. Publius Ovidius Naso 135,166 Palladius, Rutilius Taurus Aemilianus 167 Pallavicinus, Sforza S.J. 169 Paracelsus, auch: Theophrast aus Hohenheim 18 Pasch, Georg 23, 61 Peiresc, Nicolas Claude Fabri de 214, 219, 235 Perrault, Charles 110 Petau, Denis 219 Petit, Samuel 219 Petrarca, Francesco 105 Petrus Martyr 16 Pexenfelder, Michael S.J. 169 Pfingsten, Hermann 9 Phaedrus, Gaius Iulius 166 Philipp der Schöne, d. i. Philipp IV., franz. König 219 Philon von Alexandria; auch: Philo Judaeus 145 Photios von Konstantinopel 7,109 Piccolomini, Francesco 55 Pinedo, Tommaso de 223 Pithou, Francis 223 Pithou, Pierre 223 Placcius, Vincentius 226 Piaton 34, 202, 243f. Plautus, Titus Maccus 166 Plinius (d.Ä.), d.i. Gaius Plinius Secundus 21 f., 67, 86,147f., 166, 226 Plinius (d.J.), d.i. Gaius Plinius Caecilius Secundus 167,216 Plutarch von Chaironeia 14, 44, 223, 239 Pocarus, Zacharias Benjamin 124 Politianus, Angelus, auch: Angelo Poliziano 220 Polybios von Megalopolis 43f. Polydorus Vergilius 7,25 Pomey, Franz S.J. 169 Possevino, Antonio S.J. 169, 308

277 Postel, Guillaume 219,228 Potter, John 248f. Pourchot, Edme 171 Pricaeus, Johannes 223, 227 Pufendorf, Samuel 133f.,214 Pütter, Johann Stephan 158 Pythagoras 178 Quenstedt, Johann Andreas 10 Quintilian, d. i. Marcus Fabius Quintiiianus 86,109,167, 217, 221f. Quistorp, Johannes 224 Rabelais, Francis 196 Rabner, Gottlieb Wilhelm 186 Rambach, Johann Jakob 70, 76f., 81,180, 248 Ramler, Karl Wilhelm 175,181,186 Ramsay, Andrew Michael 238 Regnault, Noel S.J. 172 Reimmann j a k o b Friedrich Vlllf., 8,10, 30, 38, 59, 66f., 84f., 93,103,124,139, 141,146,148,176,180,188, 244, 249, 266 Reinhard, Johann Paul 69, 84 Richelieu, Armand Jean du Plessis de, Kardinal 27,216,224 Riedel, Friedrich Just 182,187 Rist, Johann 107 Rousseau, Jean Jacques 232, 241 Rüdiger, Andreas 71 Sadoleto, Jacopo 224 Sailer, Johann Michael S.J. 88 Sainte-Croix, Marquis de 250 Sallust, d. i. Gaius Sallustius Crispus 166 Sancroft, William 216,227 Sarbievius, Mathias S.J., d.i. Maciej Kazimierz Sarbiewski 169 Saumaise, Claude de 219, 221 f., 226 Scaliger, Joseph Justus 214, 219-221, 226 Scaliger, Julius Caesar 18,220 Scheffer, Johann Gerhard 169,223 Schelhorn, J ohann Georg 184 Scherffer, Karl S.J. 172 Scheurl, Heinrich Julius 29 f. Schiller, Friedrich von 187, 234,252, 255 Schlegel, Friedrich 234,256f. Schmeitzel, Martin 69, 75f., 84 Schmid, Christian Friedrich 47 Schmid, Christian Heinrich 181 Schönborner, Georg 51 Schott, Kaspar S.J. 172

278 Schottus, Andreas 220 Schubart, Georg 43, 45 Seiden, John 223,227 Semler, Johann Salomon 121,187 Seneca, Lucius Annaeus, auch: Seneque 67, 86,166, 205, 219 Shakespeare, William 194, 210f. Simler, Josias 106 Simon, Richard 151,225 Slusius, Renatus Franciscus 98 Sokrates 34 Sophokles 248 Spach, Israel 14f. Spanheim, Ezechiel 223 Spizelius, Theophilus 92 Stephanos von Byzantion 223 Stolle, Gottlieb VIII, 38, 40, 42, 59, 62, 66-68, 81-85,113,130,176,180,188, 255 Storchenau, Sigmund von 172 Strada, Famian S J . 169 Struve, Burkhard Gotthelf 34, 37,141, 176, 180,188 Sturm, Johann Christoph 171 Sueton, d. i. Gaius Suetonius Paulinus 166 Sulzer, Johann Georg 182,187 Tacitus, Publius Cornelius 135,166 Telesio, Bernardino 237 Tentzel, M. Gottfried 207 Terenz, d. i. Publius Terentius Afer 166 Terrasson, Jean 238 Thomas von Aquin 58,142, 171 Thomasius, Christian 35, 40f., 48, 71-76, 78, 81, 86f., 105f., 109,118,131-134, 137, 214f., 228 Thomasius, Gottfried 78 Thomasius, Jacob 67 Thou, Jacques Auguste de 222f. Thümmel, Moritz August von 182, 187 Thyard, Pontus de 219 Tollius, Jacob 218 Tolomei, Giovanni Battista S J . 172 Torsellini, Orazio S J . 169 Tresenreuter, Johannes Ulrich 124 Tribonianus 17 Triller, Daniel Wilhelm 174 Trithemius, Johannes 224 Turgot, Anne Robert Jacques 89 Turnebe, Adrien 221

Namenverzeichnis Urban VIII. Barberini, Papst 225 Ursinus, Heinrich 149 Uz, Johann Peter 181,186 Varro, Marcus Terentius 167,170 Vavasseur, Frangois 222 Vegetius, d.i. Publius Vegetius Renatus 166 Vergil, d. i. Publius Vergilius Maro 166 Verulamius, s. Bacon Vico, Giambattista 152 Victor von Marseille 224 Vignier, Jerome 223 Vignier, Nicolas 223 Vinzenz von Beauvais 224 Vitruv, d.i. Vitruvius Pollio 147,166,170 Vockerodt, Gothofredus 11, 22 Vogler, Valentin Heinrich 20, 28, 30-33, 180 Voltaire, d.i. Fran?ois-Marie Arouet 186, 239 Vossius, Gerardus Joannes 4, 25f., 31, 38, 44,145, 214, 221 Vossius, Isaac 216,218,223,227 Wagner, Franz S.J. 169 Wald, Samuel Gottlieb 184 Weise, d. i. vermutl. Weiße, Christian Felix 175,181,186 Wernher, Johann Balthasar 51 Wezel, Johann Karl 187 Wieland, Christoph Martin 181 f., 186, 234, 255 Winckelmann, Johann Joachim 187, 249f. Wolf, Friedrich August 256 Wolff, Christian 86f., 89, 94-99,165, 172f„ 179 Wolfius, Hieronymus 14 Xenophon aus Athen 240 Xerxes I., pers. König 245 Zabarella, Jacopo 55f. Zaccaria, Franz Anton S.J. 188 Zacharia, Friedrich Wilhelm 186 Zahn, Godfried Andreas 8 Zanchi, Joseph S.J. 172 Zenner, Gottfried 107 Zimmermann, vermutl. Johann Georg 187 Zoroaster 10, 16,149f. Zwingli, Ulrich 157,165