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German Pages 178 [179] Year 1967
PETER HÜBNER
Herrschende Klasse und Elite
Soziologische Abhandlungen Sozialwissenschaftliche Schriftenreihe der Wirtschafts· und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Freien Universität Berlin herausgegeben von
Prof. Dr. L. von Friedeburg und Prof. Dr. 0. Stammer Heft 7
Herrschende Klasse und Elite Eine Strukturanalyse der Gesellschaftstheorien Moscas und Paretoe
Von
Dr. Peter Hühner
DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN
Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1967 bet Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Prtnted ln Germany
® 1967 Duncker
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Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Die Historizität der Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Erkenntnistheorie und Erkenntnisinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Die voluntaristische Gesellschaftstheorie zwischen Liberalismus und Marxismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 II. Die Gesellschaft als Institution der Macht von Minderheiten . . . . . . . .
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1. Die Bedeutung der Macht in der Theorie der Gesellschaft . . . . . . . . .
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2. Die Sozialstruktur, die Genesis der Macht und der soziale und politische Wandel ................................................. 118 Literaturverzeichnis ................................................... 171
Einleitung Die Arbeit als eine Strukturanalyse behandelt zwei Konzepte zum Problem der Macht und des Machtanspruchs von Minderheiten in Gesellschaften. Es sind dies die "Herrschende Klasse" (Gaetano Mosca) und "Elite" (Vilfredo Pareto), die im Zusammenhang mit den Gesellschaftstheorien beider Autoren analysiert werden und deren theoretische Funktion für die Erklärung von Phänomenen des gesellschaftlichen und politischen Wandels beleuchtet wird. Die in der Auseinandersetzung mit dem Liberalismus und dem Marxismus gewonnenen elitären Gesellschaftstheorien, die in der Macht und dem Machtanspruch aktiver organisierter Minderheiten das für die Stabilität und Integriertheit von Gesellschaft in gleicher Weise wie für deren Desintegration und Wandel bedeutsame Grundelement sehen, dienen beiden Autoren nicht nur für die Erklärung des desintegrativen Zustands ihrer eigenen Gesellschaft an der Wende zum 20. Jahrhundert. Vielmehr wird mit beiden Konzepten eine allgemeine Theorie über das Verhältnis von Stabilität und Instabilität gesellschaftlicher Ordnungen überhaupt angestrebt, deren Aussagen Geltung für alle Gesellschaften, unabhängig von deren historisch bestimmten Konkretionen, beanspruchen. Mit dieser Intention auf die Allgemeingültigkeit und Allgemeinheit von Aussagen vollzieht sich in den Gesellschaftstheorien Moscas und Paretos, die sich mit dem Werk Comtes ankündigende und als Emanzipation von der Sozialphilosophie begriffene Begründung der Soziologie als einer Autonomie beanspruchenden Einzelwissenschaft. Mit einer immanent kritischen Analyse sucht die Arbeit die Konsequenzen der intendierten Trennung von Soziologie und Sozialphilosophie in beiden Gesellschaftstheorien aufzuweisen und die Implikationen zu beschreiben, die diese Trennung für die Fruchtbarkeit der Theorie hat. Zunächst wird die Historizität der Problemstellung analysiert, aus der sich die elitären Konzeptionen beider Autoren entfalten. Auf dem Hintergrund der mit der fortschreitenden Industrialisierung sich entwickelnden gesellschaftlichen Konflikte innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft vollzieht sich die Ausbildung der Gesellschaftstheorien, die das Konzept der gesellschaftlichen wie politischen Macht von Minderheiten zu ihrem konstitutiven Element haben. Mit der Einsicht, daß mit der
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Einleitung
bürgerlichen Gesellschaft weder eine machtfreiere noch auch nur eine konfliktlosere Gesellschaft entstanden war, verbinden beide Autoren den Versuch, die Aporien, in die die liberale Sozialphilosophie durch diese gesellschaftliche Entwicklung geraten war, zu überwinden, ohne indes deren Grundlagen zu verlassen. Dabei stehen sie in gleicher Weise in der Abwehr des zur puren Naivität geronnenen liberalen Fortschrittsidealismus wie in der Gegnerschaft zur marxistischen Theorie, die die Idee an die Möglichkeit der Versöhnung von Allgemeinem und Besonderem in ihrer dialektischen Geschichtsphilosophie und Gesellschaftstheorie aufgehoben hatte. Aus dieser geistesgeschichtlichen Zwischenstellung resultiert bei beiden Autoren die Abspaltung der Soziologie von der Philosophie. Mit dieser Abspaltung wird in beiden Theorien der Vernunftbegriff der Aufklärung auf reine Zweckrationalität reduziert. Diese Reduktion führt bei Mosca und Pareto zur Begründung der Soziologie als einer "Naturwissenschaft". Indem beide ein naturwissenschaftliches Wissenschaftsverständnis für die Soziologie konzipieren, übernehmen sie implizit die Erkenntnisabsichten der Naturwissenschaften, die auf die Herrschaft über ihren Gegenstand zielen. Gleichzeitig jedoch müssen Theorie und Praxis auseinanderfallen, weil das an der Zweckrationalität orientierte methodische Prinzip rationale Reflexion auf gesellschaftliche Zwecke aus dem Bereich "reiner Wissenschaft" verbannt. Die Gesellschaftstheorien beider Autoren nehmen einen bloß technologischen Charakter an, durch den sie die Beliebigkeit der inhaltlichen Ausgestaltungen gesellschaftlicher Ordnungen nur noch anerkennen können, solange diese sich unter das zweckrationale Prinzip subsumieren lassen. Die an der Sache konstatierte Beliebigkeit verwandelt sich in Indifferenz gegenüber den Dimensionen gesellschaftlicher Wirklichkeit, die sich diesem technologischen Begriffsapparat nicht mehr fügen. Im Anschluß daran werden die Folgen untersucht, die ein solches Verständnis von Soziologie für die Begriffs- und Theoriebildung nach sich zieht. Ausgehend von einem voluntaristischen, handlungstheoretischen Ansatz, dessen Kategorien diese Arbeit analysiert, kommen Mosca und Pareto zu einem Begriff von Gesellschaft, der im wesentlichen durch die Variablen individuellen Handeins gekennzeichnet ist. Mit diesem Ansatz wird Gesellschaft als ein System begriffen, dessen Stabilität oder Instabilität als eine Funktion der Handlungsfolgen der unter ihm befaßten Individuen bestimmt wird. Diesem Systembegriff ist eine Gleichgewichtsvorstellung inhärent, die aus dem liberalen Marktmodell der klassischen Nationalökonomie in ihrer Ausbildung zur theoretischen Volkswirtschaftslehre entwickelt worden ist. Pareto überträgt das Gleichgewichtsmodell auf die Soziologie, während es bei Mosca nur implizit enthalten ist. Das Konzept der Macht bzw. des Machtanspruchs
Einleitung
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von Minderheiten wird nun für die Gesellschaftstheorien beider Autoren im Hinblick auf den in ihnen enthaltenen Systemgedanken notwendig, weil gleichzeitig die wesentlichen Grundannahmen, ohne die Gesellschaft als machtfreies, sich selbst regulierendes System nicht gedacht werden kann, als den Tatsachen des "gesellschaftlichen Lebens" widersprechend ausgeklammert werden. So lassen Mosca und Pareto das Axiom des durchgängig rationalen Verhaltens der in der Gesellschaft agierenden Einzelnen fallen. Sie geben sowohl die Annahme von der Kompatibilität aller individuellen Mittel und Zwecke auf wie auch die Voraussetzung des gesellschaftlichen Atomismus. Die Möglichkeit von gesellschaftlicher Ordnung als eines zu einem Mindestmaß integrierten Systems kann bei ihnen nun nicht länger durch die Komplementarität der Individuen als einer sich auf dem "Markt" herstellenden Harmonie zwischen Einzelnen erklärt werden. Gesellschaft wird daher - ganz ähnlich wie bereits am Anfang der bürgerlichen Sozialphilosophie bei Hobbes - nur noch durch Zwang herstellbar. In jeder Gesellschaft üben daher aktive organisierte Minderheiten mit Mitteln der Herrschaft integrative und stabilisierende Funktionen aus. Sie tun das aber immer nur im Hinblick auf die Realisierung ihrer eigenen Interessen, die sie als allgemeine Werte der Gesellschaft durch Zwang oktroyieren. Gerade weil die individuellen Zwecke inkompatibel sind, hat das institutionalisierte Wertsystem, das zunächst ja immer nur ein partikulares ist, die Integration je individueller Zwecke und Ziele zu leisten. Die Herrschaft der Minderheiten ist dabei Ergebnis der zweckrationalen Orientiertheit ihres eigenen Handelns, für das Gesellschaft zum Mittel wird. Herrschaft in diesem technologischen Verständnis aber ist nur deshalb möglich, weil zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft wie zwischen ganzen Gruppen ein Rationalitätsgefälle herrscht. Dieses findet in der unterscheidbaren Expliziertheit der Zielorientiertheit und in der verschieden stark vorhandenen Fähigkeit, zweckrational über gesellschaftliche Mittel zur Realisierung eigener Zwecke zu entscheiden und zu verfügen seinen Ausdruck. Da das die Gesellschaft integrierende Wertsystem seinem Ursprung nach immer in partikularen Interessen zu suchen ist, und nur mit Hilfe von Macht durchgesetzt werden kann, muß sein Anspruch, das Allgemeininteresse zum Ausdruck zu bringen, ideologisch sein. Die Spannungen zwischen allgemeinem und besonderem Interesse, die weithin die Sozialphilosophie des 19. Jahrhunderts beherrscht hatten, werden bei Mosca und Pareta dadurch aufgelöst, daß das Allgemeine als bloßer Schein eines immer nur partikularen Interesses entlarvt wird. Das Allgemeininteresse wird so auf die bloß formalen Bedingungen der Stabilität und Funktionsfähigkeit gesellschaftlicher Ordnungen reduziert. Der Minderheit, der es gelingt, diese Bedingungen zu realisieren, fällt legi-
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Einleitung
time Herrschaft zu. Damit wird aber auch zugleich die Legitimitätsproblematik einseitig entschieden. Der Legitimitätsglaube bindet im Grunde nur die Herrschaftsunterworfenen; er wird so zum Mittel von Herrschaft. In einem darauffolgenden Abschnitt wird das Verhältnis von Sozialstruktur und gesamtgesellschaftlicher Herrschaft, wie es sich in beiden Konzeptionen darstellt, untersucht. Der behaupteten Unaufhebbarkeit von Herrschaft entspricht hier die behauptete Unaufhebbarkeit einer in ihren Folgen unegalitären Sozialstruktur. Die ungleiche Verteilung sozialstrukturell relevanter Eigenschaften und Fähigkeiten korrespondiert mit dem Rationalitätsgefälle. Zu theoretischen Schwierigkeiten führt das Konzept dort, wo die positioneHe Dimension des Macht- bzw. des Herrschaftsbegriffes zur genetischen Erklärung faktisch bestehender Herrschaft herangezogen wird, weil diese ja umgekehrt erst durch die Normenentfaltung die Ungleichheit in der Sozialstruktur begründen soll. Hier wird deutlich, daß selbst der voluntaristische Lösungsversuch des utilitaristischen Dilemmas zu unaufhebbaren Schwierigkeiten führen muß. Im Folgenden wird der Teil des Konzepts untersucht, der sich mit den Bedingungsfaktoren der Organisation herrschender Minderheiten sowie mit deren Verhältnis zur beherrschten Mehrheit beschäftigt. Die Gründe des Entstehens aktiver Minderheiten und ihrer Organisation liegen in der einheitlichen Zielorientierung, die Ergebnis einer gleichen Sozialstrukturellen Lage der Mitglieder ist. Dieses Schema der Bildung eines einheitlichen politischen Handeins ist den formalen Dimensionen der Marxschen Vorstellung von der Konstitution sozialer Klassen nachgebildet und erschöpft sich in ihnen. Theoretisch unbeantwortet bleibt dabei jedoch die Frage nach den Vermittlungsprozessen, die das Interesse mit der Sozialstruktur verbinden. Da auch hier wieder die formalen Dimensionen des Entstehens der politischen Organisierung von Minderheiten nicht im Zusammenhang mit den inhaltlichen des Wert- und Normensystems der Gesellschaft gesehen werden, muß die theoretische Erklärung konkreter historischer Bildungen organisierter Minderheiten und ihrer Funktionen unbefriedigend bleiben. Selbst ihr Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Gruppen läßt sich nur äußerlich bestimmen. Am Ende wird der Teil des Konzepts analysiert, der sich mit der Rolle solcher Minderheiten beim Entstehen und Ablauf gesellschaftlichen Wandels beschäftigt. Alle Prozesse gesellschaftlichen Wandels sind Ausdruck von Interessenkonflikten. Werden sich die Beherrschten ihres eigenen Interesses bewußt und sind sie in der Lage, ihre eigenen Zielfunktionen zu explizieren, dann organisieren sie sich, und eine neue Minderheit entsteht, die die bestehende Herrschaft infragestellt, wenn
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unter dieser ihr eigenes Interesse nicht realisierbar erscheint. Außer den rein formalen Bedingungen einer solchen Konfliktsituation, die vor allem durch blockierte Mobilität und institutionalisierte soziale Distanz gekennzeichnet wird, vermag das Konzept jedoch nicht zu klären, wie es innerhalb einer ursprünglich integrierten Gesellschaft zu diesen Interessenkonflikten kommen kann. Es vermag auch nicht das Entstehen solcher sozialstruktureilen Faktoren zu erklären, die den Interessenkonflikt bedingen. Da die inhaltlichen Dimensionen dessen, was Gegenstand des Wert- und Normensystems ist, vernachlässigt werden, zugleich aber auch das Entstehen von divergierenden Interessen aus den Bedingungen des "faktischen Substrats" nicht analysiert wird, muß ihr Vorhandensein letztlich voluntaristisch interpretiert werden. Damit verlieren beide Konzepte die Möglichkeit, das zu erklären, was sie intendieren: Die Aufhellung gesellschaftlichen Wandels. Durch ihren formalen, unhistarischen handlungstheoretischen Ansatz, der das Ergebnis ihres zweckrationalen Methodenverständnisses ist, muß ihre Theorie den Phänomenen gesellschaftlicher Ordnung und ihres Wandels gegenüber äußerlich bleiben. Auch das Konzept der herrschenden bzw. Herrschaft beanspruchenden Minderheit löst dieses Problem nicht. Indem sowohl Mosca als auch Pareta ihre Theorie für das Ganze der Sache nehmen, die sie begreifen wollen, reduzieren sie die Frage der Historizität von Gesellschaft auf den Begriff sozialen Wandels. Sie widerstehen damit zwar einer evolutionistischen Geschichtsphilosophie, die sie als metaphysisch bezeichnen; jedoch nur, um an ihre Stelle eine zyklische zu setzen, die in der gleichen Weise metaphysisch sein muß. Die Geschichtsphilosophie vom ewigen Kreislauf der Gesellschaft zwischen Ordnung und Verfall, in der aktive Minderheiten Träger dieses Zyklus' sind.
I. Die Historizität der Fragestellung 1. Erkenntnistheorie und Erkenntnisinteresse Die Universalität des gesellschaftlichen Phänomens der Herrschaft des Menschen über den Menschen gilt heute den Einzelwissenschaften, die sich mit Gesellschaft als ihrem Gegenstand befassen - der Soziologie und der politischen Wissenschaft vor allem also - weitgehend unbestritten. "Pour la sociologie le concept de pouvoir est un concept indispensable: des ph{momenes de pouvoir accompagnent necessairement tous les processus d'integration qui constituent un des objets sinon l'objet essentiel d'etude de la sociologie; on peut dire a la Iimite qu'il n'y a pas d'integration, pas de societe possible sans pouvoir1." Wenn auch nicht zweifelsfrei bestätigt, erscheint doch die Behauptung der Universalität gerade dieses Phänomens so plausibel, daß eine "allgemeine" soziologische Theorie der Gesellschaft ohne die Begriffe Macht und Herrschaft wohl unvollständig bliebe. Indes läßt sich jedoch die Frage nicht abweisen, in welcher Form die Erkenntnischancen einer solchen "allgemeinen" soziologischen Theorie präjudiziert werden, wenn diese Macht und Herrschaft als die sie konstituierenden Grundbegriffe so in sich aufnimmt, daß der mit ihnen gemeinte Sachverhalt zur Grundvoraussetzung von Gesellschaft schlechthin wird2 • Durchaus problematisch ist, ob mit einer solchen Theorie, deren Geltungsbereich mit der Bildung allgemeiner Grundbegriffe explizit universell definiert ist, die Geschichtlichkeit der mit ihnen bezeichneten Phänomene und damit letztlich die von Gesellschaft begriffen werden kann3 . Denn die Angemessenheit der theoretischen Begrifflichkeit an die Historizität des Gegenstands wird ja nicht schon dadurch gesichert, daß den allgemeinen 1 Michel Crozier, Pouvoir et organisation, in: Europäisches Archiv für Soziologie, Band V, 1964, Nr. 1, S. 52. ! Grundvoraussetzung wird hier verstanden als "prerequisites"; vgl. Talcott Parsons, The Social System, England 1952, S. 26 ff. Dieser hat den Begriff von den "functional prerequisites" übernommen: Aberle, Cohen, Levy u. a., The Functional Prerequisites of Society, in: Ethics, IX, Jan. 1950, S. l00--111. 3 Etwa die Versuche Webers, vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Vierte Auflage, Tübingen 1956, Kapitel I, S. 1-30; oder Parsons, The Social System, a.a.O., und Parsons and Shils, Toward a General Theory of Action, Cambridge, Mass. 1962.
1. Erkenntnistheorie und Erkenntnisinteresse
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Begriffen der Theorie bloß noch variable Begriffe hinzugefügt werden müßten. "Wenn es gelänge, soziale Universalien zu finden, so wären diese gewissermaßen die Pflöcke, an die sich alle historisch variablen Elemente sozialer Strukturen anbinden ließen4 ." Hierin kommt zweifellos die Vorstellung zum Ausdruck, eine soziologische Theorie sei dann den historischen Erscheinungsformen ihres Gegenstandes angemessen, wenn sie (a) aus einem "set" allgemeiner Grundbegriffe bestünde, die Elemente am Gegenstand zu bezeichnen hätten, durch die dieser in allen seinen konkreten historischen Erscheinungsformen mit sich selbst identisch bliebe, und (b) aus einem "set" variabler Begriffe, die Dimensionen zu bezeichnen hätten, welche gleichsam die individuelle Physiognomie einzelner historisch konkreter Gesellschaften bestimmten; wodurch diese sich also voneinander unterschieden. In einem solchen Theorienschema wird jedoch jede konkrete Gesellschaft zum besonderen Fall eines abstrakten Allgemeinen, unter welches sie als Fall eben subsumiert wird. Es ist nun nicht unerheblich, auf der Ebene welcher Allgemeinheit die Begriffe Macht und Herrschaft in die Theorie eingehen müssen, wenn der mit ihnen bezeichnete Sachverhalt als Grundvoraussetzung jeder Gesellschaft soll behauptet werden können. Dieses Angerneinheitsniveau wird jedoch durch den Bezugspunkt bestimmt, an dem die Theorie orientiert ist. Der Bezugspunkt ist selbst ein Moment im Prozeß der Theoriebildung. Sein Verhältnis zum Gegenstand, über den die Theorie Aussagen machen soll, kanh aber von ihr nicht mehr bestimmt werden, weil im Bezugspunkt ein regulatives, die Theorie strukturierendes Prinzip wirksam wird, das den in ihr faßbaren und möglichen Erfahrungsgehalt notwendig transzendiert. Daher ist das Verhältnis von theoretischem Bezugspunkt und Gegenstand immer nur "metatheoretisch" auszumachen5 • Bei der Festlegung des Bezugspunkts der Theorie spielt tatsächlich das Erkenntnisinteresse6 , das sich ja immer auf ein "vortheoretisches" Verständnis vom Gegenstand gründet, eine wesentliche Rolle. Bezugspunkt und Gegenstand einer soziologischen Theorie aber sind über das Erkenntnisinteresse insofern vermittelt, als das Erkenntnisinteresse noch Moment des Gegenstands ist, den es mit 4 Ralf Dahrendorf, Amba und Amerikaner, Bemerkungen zur These der Universalität von Herrschaft, in: Europäisches Archiv für Soziologie, Band V, 1964, Nr. 1, S. 83 f. 1 Vgl. Paul Handy Furfey, Sociological Science and the Problem of Values, in: Symposium on Sociological Theory, ed. by Llewellyn Gross, New York 1919, S. 510 ff. Zum Verhältnis von Objektsprache und Metasprache vgl. im übrigen Rudolf Carnap, Symbolische Logik, Zweite Auflage, Wien 1960. • Vgl. zum Begriff Max Weber, Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnisse, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Zweite Auflage, Tübingen 1951, S. 161 ff.
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I. Die Historizität der Fragestellung
der Theorie zu begreifen trachtet7. Gleich dem Gegenstand, auf den es sich richtet, ist das Erkenntnisinteresse in je konkreten Lebenszusammenhängen, in denen es sich artikuliert, historisch vermittelt. Der Intention auf eine "allgemeine" soziologische Theorie, wie sie bei Mosca und Pareto in der Suche nach solchen Universalien wie Macht und Herrschaft zum Ausdruck kommt, entspricht ein Bezugspunkt der theoretischen Reflexion, in dem die ursprüngliche Fragestellung der Sozialphilosophie des 18. und 19. Jahrhunderts nach den Möglichkeiten und dem Sinn von Gesellschaft in einem anderen Licht erscheint und unter diesem nun auch anders bewältigt wird. Die an den Erfahrungen des prekären Zustands der industriellen kapitalistischen westeuropäischen Gesellschaften, der wenigstens seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts offen zutagetritt, gewonnene Einsicht, daß die bürgerliche Gesellschaft weder eine herrschaftsfreiere noch auch nur konfliktlosere Organisationsform menschlichen Zusammenlebens zu verwirklichen in der Lage sei, läßt Mosca und Pareta zu Antipoden jenes liberalen Selbstverständnisses der bürgerlichen Gesellschaft werden, wie es in der politischen Ökonomie Adam Smith's und David Ricardos, wie es aber auch in der Sozialphilosophie John Stuart Mills und in der sich mit Herbert Spencer und Auguste Comte von der Sozialphilosophie emanzipierenden Soziologie seinen, wenn bei letzteren auch schon vielfach gebrochenen Ausdruck findet. Durch die für Mosca und Pareto unmöglich gewordene Reflexion auf den Sinn von Gesellschaft verändern sich zugleich Struktur und Funktion ihrer Theorien. Nicht nur führt der Verzicht auf Aussagen über Sinn und Wesen der gesellschaftlichen Existenz des Menschen, die als bloßes factum brutum konstatiert wird "l'homme ayant un besoin presque absolue de vivre en sociE~te, ... " 8 , zur Trennung von Theorie und Praxis; die Struktur der Theorie selbst wird von diesem Verzicht betroffen. HeideAutoren betonen ausdrücklich die rein erfahrungswissenschaftliehen Intentionen, die sie mit der Bildung ihrer soziologischen Theorien verfolgen: " ... , sans avor en vue aucune utilite pratique directe, sans se preoccuper en aucune manierede donner des recettes ou des preceptes, sans reellereher meme le bonheur, l'utilite ou le bien-etre de l'humanite ou d'une de ses parties. Le but est dans ce cas exclusivement scientifique; on veut connaitre, savoir, sans plus9 ." Die Konzipierung der Soziologie als einer 7 Vgl. Jürgen Habermas, Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik, in: Zeugnisse, Theodor W. Adorno zum 60. Geburtstag, herausgegeben im Auftrag des Instituts für Sozialforschung von Max Horkheimer, Frankfurt 1963,
s. 475 f.
Pareto, Cours ... , Tome 2, § 670, S. 61. Pareto, Manuel ... , Tome 1, § 1, S. 3. Ähnlich vgl. Cours ... , Tome 1, § 2, S. 2, aber auch Traite, ... , Tome 1, § 65, S. 26. Vgl. auch Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 50. 8 8
1. Erkenntnistheorie und Erkenntnisinteresse
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streng erfahrungswissenschaftliehen Einzelwissenschaft steht im Kontext einer Entwicklung, in deren Verlauf sich auch die Sozialwissenschaften zunehmend von der Philosophie emanzipieren und sich am Modell der Naturwissenschaften orientieren10• Dieser Vorgang führt nun nicht zur Destruktion der Philosophie; die sich als autonome Einzeldisziplin konstituierende Soziologie verliert, wie Horkheimer gezeigt hatll, die Möglichkeit der kritischen Selbstreflektion ihrer erfahrungswissenschaftlich gewonnenen Ergebnisse. Dieser Prozeß der Verselbständigung der Soziologie und mit ihr aller sich aus der Sozialphilosophie entfaltenden Sozialwissenschaften, der mit Machiavellis Studien12 und Bacons Novum organon13 einsetzt, läßt sich durch die Geschichte des bürgerlichen Denkens verfolgen. In ihm setzt sich ein Motiv der Denkhaltung des entstehenden Bürgertums durch, welches mit der erfahrungswissenschaftliehen Ermittlung von Zusammenhängen und Strukturen der Gegenstände der Welt, in der der Mensch lebt, auf die Herrschaft über die Phänomene abzielt. "Aber nicht nur auf der Beherrschung der Natur im engeren Sinne, nicht nur auf der Erfindung neuer Produktionsmethoden, auf dem Bau von Maschinen, auf der Erhaltung eines gewissen Gesundheitsstandes beruht die Gesellschaft, sondern ebenso sehr auf der Herrschaft von Menschen über Menschen. Der Inbegriff der Wege, die dazu führen, und der Maßnahmen, die der Aufrechterhaltung dieser Herrschaft dienen, heißen Politik14." Die Soziologie bis zu Comte konnte jedoch nur praktisch bleiben, weil sie an den geschichtsphilosophischen Implikationen ihrer Denkhaltung, durch die ihr die Problematik des gesamtgesellschaftlichen Zusammenhangs, in dem sie stand, vermittelt blieb, ein kritisches Korrektiv besaß. Aber bereits bei Comte selbst wird das Verhältnis der Soziologie zur gesellschaftlichen Praxis fragwürdig. Zwar sollte sie auch hier noch mit der Bildung eines vollständigen Systems des positiven Wissens die Versöhnung von Ordnung und Fortschritt leisten und damit eine von inneren Konflikten freie gesellschaftliche Ordnung ermöglichen: "Le sentiment fondamental des lois naturelles invariables, fonderneut primitif de toute idee d'ordre, relativerneut ä. des phenomemes quelconques, pourrait-il n 'avoir plus la meme efficacite philosophique, aussitöt que, 10 Vgl. Jürgen Habermas, Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik, in: Zeugnisse, Th. W. Adorno z. 60. Geburtstag, hrsg. i. A. d. Inst. f. Sozialforschung, v. M. Horkheimer, Ffm, 1963, S. 475 f. 11 Vgl. Max Horkheimer, Derneueste Angriff auf die Metaphysik, in: Zeitschrift für Sozialforschung, 6. Jg., 1937, S. 23 ff. 11 Vgl. Niccolo Machiavelli, Discorsi, Politische Betrachtungen über die alte und italienische Geschichte, Berlin 1922, S. 37 und S. 303. 13 Vgl. Francis Bacon, Novum organon, Berlin 1870. 14 Max Horkheimer, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1930, S. 9.
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I. Die Historizität der Fragestellung
completement generalise, il s'appliquera aussi aux phenomemes sociaux, desormais ramenes a de pareilles lois16?" Doch war dieser Zusammenhang zwischen Soziologie und gesellschaftsgestaltender Praxis bei Comte gleichsam durch die Integration der Soziologie in "une science unique, celle de l'Humanite ... " 16, indem sie zu einer der "differents elements essentiels ... " 17 der Comte'schen Morallehre gemacht wurde, gesichert. An diesem Punkt kritisiert Pareto Comte folgerichtig, wenn er sagt: "Les memes causes qui agissaient sur Platon ont agi de nos jours sur Auguste Comte et l'ont conduit aux memes conclusions. Auguste Comte, vivant dans une epoque ou des idees liberales et peu religieuses etaient en vogue, revient, par reaction, a un systeme qui ressemble etonnament au catholicisme (...) et dont il se cree pape, de par sa propre autorite18." Und wenn er hinzufügt: "C'est un reve que de s'imaginer que les theories scientifiques s'imposent d'autorite. Elles sont, au contraire, et demeurent constamment exposees aux attaques de tous: competents et incompetents; et ce n'est que tant qu'elles y resistent victorieusement qu'elles regnent dans la science19 ." Hierbei vergißt er nur, daß die Isolation der Soziologie von gesellschaftlicher Praxis bei ihm ebenso wie bei Comte auf die Zerstörung der traditionellen Denkgehalte der Philosophie zurückzuführen ist. Dem Autoritätsverlust, den er der Soziologie als Wissenschaft in Gesellschaft nachsagt, entspricht möglicherweise nur ihr freiwilliger Rückzug aus jener. Comte konnte Soziologie als Praxis orientierende Methode im Grunde nur gegen sein eigenes Wissensschaftsideal durchsetzen. Pareto kritisiert nun wiederum an Comte als metaphysisch, was sich bei diesem als Relikt der traditionellen Philosophie erweist. Mt der Konzeption der rein erfahrungswissenschaftlichen, an denNaturwissenschaften orientierten soziologischen Theorien bleiben in diesen aber auch bei Mosca und Pareto Elemente des utilitaristischen Denkens der bürgerlichen Sozialphilosophie erhalten. Denn die Nützlichkeit einer solchen Erfahrungswissenschaft bleibt, wenn sie auch nicht mehr unmittelbar auf Praxis bezogen werden kann, als ein nur noch formal zu bestimmender Funktionswert erhalten, dessen inhaltliche Bestimmung allerdings selbst erfahrungswissenschaftlich nicht mehr zu begründen ist. Die Tatsache, daß beide Autoren eine nach dem Modell der Naturwissenschaften konzipierte Soziologie anstreben, zeigt sich schon in dem Ausgangspunkt ihrer methodologischen Überlegungen. Bei Mosca ist es 15 Auguste Comte, Cours de la philosophie positive, Paris 1908 (zuerst 18301842), Band IV, S. 97 f. 11 Auguste Comte, Cours .. . , a.a.O., Band II, S. 241. 17 Ebenda. 18 Pareto, Systemes ... , Tome 1, S. 277 f. u Pareto, ebenda, Tome 1, S. 280.
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Erkenntnistheorie und Erkenntnisinteresse
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die Feststellung, daß die Sozialwissenschaften - mit Ausnahme der Nationalökonomie- sowohl was die Präzision ihrer Methoden als auch was die Gesichertheit ihrer Ergebnisse angeht, im Verhältnis zu den Naturwissenschaften ungleich weniger erfolgreich sind. "Nelle scienze sociali al contrario, tranne l'Economia politica ed in qualehe modo la Statistica, in tutte le altre, le quali si riassumono in quella ehe con vocabolo moderno si dice Sociologia, non si trovano ancora quei principii generali scientificamente provati, la verita dei quali e concordemente ammessa da tutti coloro ehe sono iniziati allo studio di esse; al contrario qualunque principio resta sempere allo stato d'ipotesi discutibile e piu o meno discussa. Inoltre la verita scientifica non e ancora in esse bene sceverata dai canoni dell'esperienza e del guidizio volgare, in modo da essere totalamento da questi; ed infine fra i dillettanti e gli scienziati non si e ancora stabilita quella nette divisione, ehe, in ogni disciplina pervenuta ad un certo grado di maturita, deve infallibilmente esistere20." Die Gründe für dieses Hinterherhinken liegen nun nicht nur darin, daß es die Naturwissenschaften mit einer wesentlich beschränkteren Anzahl von Phänomenen zu tun haben, die zudem weit weniger komplex sind als die, die den Gegenstandsbereich der Sozialwissenschaften bilden: "Die größere Vielfältigkeit psychologischer Gesetze und Tendenzen, die allen menschlichen Gesellschaften gemeinsam sind, macht es schwieriger, ihre Wirkungen zu entdecken, und es ist auch leichter, unsere Umgebung zu beobachten, als unser eigenes Handeln21 ." Ein bedeutsamerer Widerstand jedoch gegen die Entwicklung der Sozialwissenschaften ergibt sich aus den in jeder Gesellschaft vorhandenen Vorurteilen: "Infine se le credenze ei dogmi religiosi fesero un tempo ostacolo al libero sviluppo delle scienze naturali, ... , hanno fatto ai progressi scientifici .... Al contrario le scienze sociali trovano ancora l'intoppo di una quantita di giudizii a priori, non giä basati sopra credenze soprannaturali, ma succhiati quasi col Iatte, recivuti della mente nella prima eta e senza discussione e ehe sono talmente radicati negli vomini, ehe il combatterli non solo ne urta le abitudini intelletuali ma ben'anco i sentimenti22." Wie Mosca, so steht auch Pareta in der Abwehr aller bis dahin vorgetragenen monistischen Gesellschafts- und Geschichtstheorien; vor allem aber in der Gegnerschaft zum Evolutionismus. Alle diese älteren Theorien tragen nichts bei zur wissenschaftlichen Erkenntnis sozialer Phänomene, weil sie nach Pareta darin fehlgehen, konkrete Tatsachen zu beobachten und die Relationen zwischen den Tatsachen zu analysieren. Sie sind so nichts anderes als Apologien bestimmter gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen. Sie haben allein in der Funktion als Recht20
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Mosca, Teorica ... , S. 27 f. Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 45. Mosca, Teorica ... , S. 29.
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I. Die Historizität der Fragestellung
fertigungssysteme den eigentlichen wissenschaftlichen Fortschritt aufgehalten23. Für ihn sind alle diese älteren Theorien bis hin zu Comte deshalb metaphysisch, weil: "Jusqu'ici, la sociologie a ete presque toujours presentee dogmatiquement. Le nom de positive, donne par Comte a sa philosophie, ne doit pas nous induire en erreur: sa sociologie est tout aussi dogmatique que le Discours sur L'histoire universelle de Bossuet. Ce sont des religions differentes, mais enfin des religions; et l'on en trouve du meme genre, dans les oeuvres de Spencer, de De Graef, de Letourneau et d'une infinite d'autres auteurs. De sa nature la loi est exclusive. Celui qui croit posseder la verite absolue ne peut admettre qu'il y ait d'autres verites dans le monde24." Er wirft ihnen vor: 1. Daß sie es verabsäumt haben, ihre Prämissen als solche auch klarzumachen: " ... nous demandons seulement a ces sociologies d'employer des premisses et des raisonnements aussi clair que possible25." 2. Daß sie, indem sie einen ontologischen Wahrheitsbegriff ausgebildet haben, ständig über die Gegenstände ontologische Urteile fällen, die als solche außerhalb der Möglichkeiten der Wissenschaften liegen, selbst also metaphysisch sind: "Nous ignorons ce qu'est L'essence des choses (...), et n'en avons eure, parce qu'une telle etude sort de notre domaine (. . .)28." 3. Schließlich, daß sie ständig die normativen Funktionen ihrer Sätze als bloß cognitive darstellen und so den Aspekt des "Sein-Sollenden" analytisch nicht trennen von dem, "was ist": "Nous, moins eclaires, ne possedons pas de si grandes lumieres a priori car nous ignorons entü~re ment ce qui doit etre et nous cherchons seulement ce qui est27 ." Besteht bei Mosca gleichsam eine nur sehr allgemeine Vorstellung von dem, was eigentlich die naturwissenschaftliche Methode genannt werden kann, rechnete er den Erfolg der Naturwissenschaften nicht so sehr ihrer Methode selbst als vielmehr der größeren Einfachheit ihres Gegenstandsbereichs zu, und behauptete er schließlich doch gewisse Restriktionen ihrer Anwendbarkeit im Raum der Sozialwissenschaften28, Vgl. Pareto, Traite ... , § 112, S. 51. Pareto, Traite ... , § 6, S. 3. 2s Ebenda, § 6, S. 4. 28 Ebenda, § 69, S. 28. 27 Ebenda, § 28, S. 14. 2s Vgl. Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 46: Seiner Auffassung nach liegt die begrenzte übertragbarkeit der naturwissenschaftlichen Methode auf die Sozialwissenschaften unter anderem in dem Umstand begründet, daß sie nicht die experimentellen Methoden verwenden können : "Francis Bacon irrte mit seiner Lehre von der unbegrenzten Anwendbarkeit des Experiments bei der wissenschaftlichen Forschung, und viele Autoren teilen diese Illusion." Vgl. dazu Teorica ... , S. 26 ff. Dies sind allerdings vorwiegend praktisch instrumentelle Einwände, die die prinzipiell gleichartige Struktur sozialwissenschaftlicher naturwissenschaftlicher Theorien überhaupt nicht erwähnt. Seine Ersetzung des Experi23
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1. Erkenntnistheorie und Erkenntnisinteresse
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so macht Pareto, der ja von der Physik her kam29 , und der bereits in der Nationalökonomie die mathematische Methode verwendet, durchaus ernst mit einer an den Naturwissenschaften orientierten sozialwissenschaftliehen Methodologie. Ausgehend von einem sehr viel strengeren Wissenschaftsbegriff, den er in enger Verwandtschaft zu Ernst Mach30 formuliert, spricht er sich für eine Übernahme naturwissenschaftlicher Theorien und Konzepte aus. "La science dont nous entreprenons l'etude est une science naturelle, comme la psychologie, la chimie, etc. Comme teile, eile n'a pas a donner de preceptes; eile etudie d'abord les proprietes naturelles de certaines choses, et ensuite eile resout des problemes qui consistent a se demander: Etant donnees certaines premisses, quelles en seront les consequences31?" Diese soll nun aber nicht substantiell und ihrem Inhalt nach übernommen werden, sondern lediglich ihrer Form und ihrer logischen Struktur nach für die Sozialwissenschaften fruchtbar gemacht werden. Naturwissenschaftliche Theorien sind damit nur Vorwurf für analoge theoretische Bildungen in den Sozialwissenschaften: "En mecanique, il existe un phenomene analoguele lecteur prendra garde que je dis analogue et non identique;- c'est celui de deux forces qui agissent sur un point materiel. Au lieu de parler de choses A, B qui ont le pouvoir d'agir sur le phenomene economique ou social, on peut aussi, pour simplifier, traiter de forces A et B 32 ." Die "logisch-erfahrungswissenschaftliche" Methode33 hat objektiv feststellbare Tatsachen zu ihrem Gegenstand. Sie sucht Relationen zwischen den Tatsachen, die Elemente der durch die Erfahrung zugänglichen Welt darstellen, zu beschreiben und zu erklären34• Die Theorie über den soziologischen Gegenstandsbereich enthält deskriptive Sätze, die nur beschreiben, was ist, und allgemein universelle Aussagen über beobachtbare Gleichförmigkeit35. ments durch die "historische Methode", die als vergleichende Methode doch nur den Sinn hat, ohne die Möglichkeit der Verwendung des Experiments doch zur Feststellung von "Gesetzen" zu kommen, die auf alle Gesellschaften anwendbar sein sollen. Vgl. Die Herrschende Klasse, S. 45. 10 Vgl. bibliographischen Anhang. 30 Vgl. Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, zweite Auflage, 1900, und Erkenntnis und Irrtum von 1905. 81 Pareto, Cours ... , Tome 1, § 2, S. 2: "Le lecteur ne doit donc pas s'attendre a trouver dans ce livre la SOlution d'aucune question pratique; il n'y trouvera que des eU~ments qui, combines avec ceux, que lui fourniront les autres sciences sociales, le mettront sur la voie qui conduit a de telles solutions ( ... )." 31 Pareto, Traite ... , § 121, s. 57. 13 Vgl. "logico-experimentale" in der französischen Ausgabe des Traite ... , § 146, S. 65, mit "logico sperimentale" in der italienischen Ausgabe an gleicher Stelle. " Vgl. Arnold Gehlen, Vilfredo Pareto und seine neue Wissenschaft, in: Blätter für deutsche Philosophie, Band 15, 1941/42, S. 5 ff. • 5 Pareto, Traite ... , § 523, S. 280.
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Logisches Schließen und Urteilen und die kontrollierte Beobachtung von Tatsachen sind damit die beiden in dieser Methode zu verwendenden Verfahren36• Kontrollierte Erfahrung durch Beobachtung stellt nichts anderes dar als die intersubjektive Vollziehbarkeit oder Verifizierbarkeit von empirischen Einzelurteilen im Sinne von Wahrnehmungsurteilen. Sie sind zum Kriterium der Wahrheit wissenschaftlicher Aussagen: "Par consequent, dans la suite, nous entendons prendre pour seuls guides l'experience et l'observation. Par abreviation, nous nommerons l'experience seule, la ou elle ne s'oppose pas a l'observation. Ainsi quand nous dirons qu'une chose nous est rendue manifeste par l'experience, on devra sous-entendre: et par l'observation; ... 37. " Durchaus im Sinne des Konventionalismus wird die "Tatsache" in diesen Wahrnehmungsurteilen überhaupt erst konstituiert, vorausgesetzt ist nur, daß das Urteil sich auf einen außerhalb des Beobachtenden befindlichen Gegenstand oder Sachverhalt bezieht und nicht durch das Beobachtungssubjekt verzerrt wird, indem etwa bestimmte relationale Subjekt-Objekt-Dimensionen in das Urteil als Eigenschaften des Gegenstands oder Sachverhalts eingehen. In dieser Weise erfahrbare Tatsachen müssen nicht identisch sein mit einem konkreten Phänomen. Die empirischen Einzelurteile, die zunächst als Hypothesen im deduktiven Modell einer aus allgemeinen universellen Urteilen, die wiederum nach den Regeln des logischen Schließens in ihr integriert sind, abgeleitet werden, stellen keineswegs in ihrer Formulierung eine vollständige Repräsentation eines in der "Wirklichkeit" vorhandenen Phänomens dar: "On ne peut connaitre un phenomeme concret dans tous ses details; il y a toujours un residu, qui apparait meme parfois materiellement. Nous ne pouvons avoir que des idees approximatives des phenomemes concrets. Une theorie ne peut jamais figurer tous les details des phenomenes; aussi les divergences sont-elles inevitables, et ne reste-t-il qu'a les reduire au minimum38." Die Tatsache, die als eine solche überhaupt erst in einer Theorie und durch sie konstituiert wird, stellt nichts anderes dar als einen Aspekt, eine bestimmte Dimension der konkreten Wirklichkeit, die als problematisch erfahren wird, und im vorwissenschaftliehen Raum Anstoß zur Konstruktion der Theorie gegeben hat. So ist die konkrete Wirklichkeit zugleich immer Gegenstand mehrerer Theorien39 • Alle logisch möglichen Theorien haben sich gegenseitig zu ergänzen und sind nicht durcheinse Vgl. Talcott Parsons, The Structure . .. , a.a.O., S. 181, und J . L. Henderson, Pareto's General Sociology, Cambridge 1935, S. 28. S7 Pareto, Traite ... , § 6, S. 4. 38 Pareto, Traite .. . , § 106, S. 47. ae Ebenda, § 34, S. 16.
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ander ersetzbar. Nur in der Synthese der einzelnen Theorien ist der wissenschaftliche Anspruch, "konkrete Wirklichkeit" in den Griff zu bekommen, zu realisieren: "Übrigens verläßt man nicht das logisch-erfahrungsmäßige Feld, wenn man die soziologischen und ökonomischen Aspekte getrennt betrachtet; man würde es vielmehr verlassen, wenn man nicht danach diese Teile wieder vereinigte, um jenes Ganze zu erhalten, das allein erfahrungsmäßige Realität besitzt und das wir wegen der Bequemlichkeit des Studiums vorher willkürlich in abstrakte Teile auseinandergenommen haben40." Das intendierte Ziel der Wissenschaftslehre Paretos ist die Möglichkeit, über diese im Rahmen der Theorien konstituierten Tatsachen universelle Urteile aufzustellen. Ganz ebenso wenig wie die Theorie das jeweils totale Phänomen zum Gegenstand hat, ganz ebenso wenig können die Gesetze Urteile über diese totalen Phänomene der Wirklichkeit sein. Pareto versteht unter Gesetz eine Aussage über beobachtete Gleichförmigkeiten bestimmter Gegenstände oder Sachverhalte: "Les lois scientifiques ne sont donc pour nous autre chose que des uniformites experimentales[§ 69-4°]. Acepoint de vue, il n'y a pas la moindre difference entre les lois de l'economie politique ou de la sociologie et celles des autres sciences. Les differences qui existent sont d'un tout autre genre. Elles resident surtout dans l'entrelacement plus ou moins grand deseffetsdes düferentes lois41 ." Wenn nun diese Gesetze Aussagen über Gleichförmigkeiten bestimmter Tatsachen sind, dann ist klar, daß zur Erklärung eines bestimmten wirklichen Phänomens nur die "synthetic application of all the theories involved" 42 gehören. Jede Theorie kann also nur die vollständige Erklärung der durch sie selbst konstituierten Tatsachen geben, während die Summe aller Theorien über ein konkretes Phänomen, die vollständige Erklärung dieses Phänomens darstellen soll. Was die universelle Geltung von Gesetzen angeht, die ja definitorisch gefordert ist, so gilt diese nicht absolut. Denn jedes Gesetz kennt Ausnahmen, die durch die Einwirkung anderer Gesetze verursacht sind: "Ni les lois economiques et sociologiques, ni les autres lois scientifiques ne souffrent proprement d'exceptions. Parler d'une uniformite non uniforme n'a aucun sens. Le phenomeme auquel on donne communement le nom d'exception a Une loi est en realite la SUperposition de l'effet d'une autre loi a celui de la premü~re. A ce point de vue, toutes les lois scientifiques, y compris les mathematiques, souffrent des exceptions . .. La " Pareto, Fatti e Teori, Firenze 1920, S. 125; zitiert nach Gottfried Eisermann, Vilfredo Pareto als Nationalökonom und Soziologe, Tübingen 1961, S. 8. 41 Parete, Traite ... , § 99, S. 44. n Talcott Parsons, The Structure ... , a.a.O., S. 184.
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principale difficulte qu'on rencontre dans l'etude d'une tres grand nombre de sciences, consiste precisement a trouver le moyen de devider cet echeveau, forme par l'entrelacement d'uniformites nombreuses et variees43." Auch Mosca hat ein solches axiomatisch-deduktives Theorieschema im Auge, dessen Aussagen durch in irgendeinem Sinne "richtige" Beobachtungen geprüft werden müssen: "Wenn die wissenschaftlichen Verfahren auf Irrtümern (in den Axiomen) beruhen, dann führen sie zu falschen Entdeckungen und können selbst krassem Unsinn den Anschein des Vernünftigen geben44." Seiner Auffassung nach " ... ergibt sich das Axiom aus Beobachtungen, die jedermann machen kann, und auch der Nichtfachmann muß seine Gültigkeit sofort erkennen" 45• Funktion und Bedeutung der die Theorie konstituierenden Axiome, die empirisch verifizierten Charakter besitzen sollen, aber setzen einen naiv-realistischen Begriff von "Tatsache" voraus. Tatsachen sind danach bereits vor der Theorie, der sie eigentlich erst zu ihrer Konstituierung verhelfen. Mit diesem implizit erkenntnistheoretischen Standpunkt bleibt Mosca durchaus in der Tradition des frühen Positivismus. Gegen diesen ist der Einwand geltend zu machen, den Max Weber überzeugend vorgetragen hat: "Nun bietet uns das Leben, sobald wird uns auf die Art, in der es uns unmittelbar entgegentritt, zu besinnen suchen, eine schlechthin unendliche Mannigfaltigkeit von nach- und nebeneinander auftauchenden und vergehenden Vorgängen ,in' und ,außer' uns. Und die absolute Unendlichkeit dieser Mannigfaltigkeit bleibt intensiv durchaus ungemindert auch dann stehen, wenn wir ein einzelnes ,Objekt' - ...-isoliert ins Auge fassen- sobald wir nämlich ernstlich versuchen wollen, dies ,einzelne' erschöpfend in all seinen individuellen Bestandteilen auch nur zu beschreiben, geschweige es denn in seiner kausalen Bedingtheit zu erfassen. Alle denkende Erkenntnis der unendlichen Wirklichkeit durch den endlichen Menschengeist beruht daher auf der stillschweigenden Voraussetzung, daß jeweils nur ein endlicher Teil derselben den Gegenstand wissenschaftlicher Erfahrung bilden, daß nur er ,wesentlich' im Sinne von ,wissenswert' sein solle46." Es ist festzuhalten, das es Tatsachen in dem von Mosca intendierten Sinn überhaupt nicht gibt, daß vielmehr die Konstituierung der Tatn Pareto, Traite ... , § 101, S. 45. Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 16. 45 Ebenda, S. 15. " Max Weber, Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Max Weber, Schriften zur theoretischen Soziologie, zur Soziologie der Politik und Verfassung; eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Max Graf zu Solms, Frankfurt am Main 1947, S. 43. 44
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sache als eines Gegenstands im Begriff zu denken ist. In diesen Begriff geht aber überhaupt nur als Wissen der Teil der "unendlichen Mannigfaltigkeit" ein, dem wir selbst eine Bedeutung zurechnen. Die Kriterien, die darüber entscheiden, was denn als bedeutsam anzusehen sei, aber sind selbst bezogen auf das an den "Wertideen einer Gesellschaft orientierte Interesse des Wissenschaftlers". Diese Wertideen werden wirksam bereits in der Kategorienbildung. Für jede Art wissenschaftliche Erkenntnis wird die Ausformung des Materials in eine endliche Ordnung durch die in der Kategorienbildung wirksamen, noch eigentlich vorwissenschaftlichen normativen Faktoren beeinflußt. Es gibt, und das ist Mosca entgegenzuhalten - " . .. keine schlechthin ,objektive' wissenschaftliche Analyse" 47 der sozialen und politischen Phänomene, die völlig unabhängig wäre von einem je spezifischen Interesse. Tatsächlich sind auch für die Konstitution von "Tatsachen" implizite Voraussetzungen relevant, die für das vorwissenschaftliche Denken selbst unproblematisch sind. Voraussetzungen also, die nichts anderes darstellen als begriffliche Schemata einer weitgehend habitualisierten Erfahrung, die als die Basis jeder wissenschaftlichen Erfahrung zu gelten hat. Diese Basis ist aber durch die Struktur der objektiven gesellschaftlichen Situationen, in der sie selbst als ein das in diesen Situationen stattfindende Handeln leitendes Orientierungssystem fungiert, determiniert. Damit zugleich aber ist sie, wie eben die objektiv gesellschaftliche Struktur selbst, historisch vermittelt. Jede Begriffskonstruktion über einen Gegenstandsbereich enthält mit diesen impliziten Voraussetzungen durchaus konstruktive Momente, indem sie in bezug auf das Erkenntnisziel die "Tatsachen" konstituiert. Diese "Tatsachen" sind aber gerade dadurch nicht, wie Mosca annimmt, letzte Gegebenheiten, die eben durch die Autorität des Faktischen gar nicht mehr befragbar wären. Es zeigt sich, daß das wissenschaftstheoretische Selbstverständnis und das ihm implizite Erkenntnisziel beider Autoren die logische Struktur und damit zugleich auch die Erkenntnischance ihrer Gesellschaftstheorien in einer bestimmten Weise präjudizieren. Indem Mosca von einer naiv-realistischen Erkenntnistheorie her die Konstitution von Tatsachen des sozialen Gegenstandsbereichs für unproblematisch hält, wenn nur der Einfluß diverser Vorurteile auf die Reflektion ausgeschaltet bleibt, verfällt er einem ungeprüften Objektivismus. Dieser aber macht jede an sich mögliche kritische Distanz zu den eigenen Reflektionsverfahren unmöglich. Die Selbstbesinnung auf die eigenen Erkenntnisverfahren, und damit die Problematisierung des Verhältnisses von denkendem Subjekt und gedachtem Objekt, durch die 47
Max Weber, a.a.O., S. 42.
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allein das Problem der impliziten normativen Voraussetzungen, die bereits in der Konstitution von Tatsachen eine gewichtige Rolle spielen, unterbleiben. An ihrer Stelle setzt er eine recht oberflächliche Theorie über den verzerrenden Einfluß von Vorurteilen, die er aber zudem noch nicht einmal gegen sein eigenes Denken wendet, weil sie ihm lediglich dazu dient, den Wahrheitswert anderer Gesellschaftstheorien als bloße Ideologie zu denunzieren. Das Verfahren, mit dem er die impliziten normativen Voraussetzungen der älteren Gesellschaftstheorien - vor allem des Positivismus Comtes und Spencers48 - als Vorurteile "entdeckt", führt bei ihm notwendig zu ihrer vollständigen Verwerfung, weil sie im Grunde ja nichts anderes sind als " ... philosophische, theologische oder rationalistische Rechtfertigung bestimmter Staatsformen, die durch Jahrhunderte eine bedeutsame Rolle gespielt haben und sie z. T. heute noch spielen" 49 • In ihnen drückt sich nichts anderes aus als der Wunsch, " . .. bestehende Regierungsformen mit rationalen oder übernatürlichen Gründen zu rechtfertigen oder zu bekämpfen ..."5o. Mit dieser Theorie der Vorurteile verbleibt er tatsächlich auf der Ebene der Vorurteilslehren der Aufklärung. Von dieser übernimmt er nur das Pathos eines optimistischen Rationalismus, indem er davon ausgeht, daß es über die Wirklichkeit nur eine "Wahrheit" geben könne. Wird diese Wahrheit verfehlt, dann ist das bloß das Ergebnis von Gefühls- und Interessenimpulsen, die diese Wahrheit verzerren. Der Mensch ist ursprünglich durchaus in der Lage, "richtig" zu denken und "sachangemessen" zu erkennen. Pareto dagegen geht von einer nominalistisch-konventionalistischen Erkenntnistheorie aus, in der der Begriff über einen Gegenstand zum bloßen Instrument des "Benennens" von Gegenständen wird, deren eigene Wahrheit sich in der bloßen Übereinstimmung zwischen den Begriffen und Urteilen erschöpft. Die Tatsache wird nicht anders konstituiert als durch eine an den pragmatischen Erfordernissen der Theorie orientierte Eigenschaftszuschreibung, deren einzelne Dimensionen jedoch noch an "konkreten Phänomenen" intersubjektiv beobachtbar sein sollen. In der Paretianischen Unterscheidung zwischen "Tatsache" und "Phänomen" jedoch wird deutlich, daß selbst die nominalistisch-konventionalistische Haltung bloß eine andere Version einer naiv-realistischen Erkenntnistheorie ist, weil sie zum Schluß doch auch gezwungen ist, die Vgl. Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 35 ff. ; 81 ff.; 88 ff. " Ebenda, S. 17. so Ebenda, S. 17. 48
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"Wahrheit" ihrer Aussagen an den Phänomenen zu bewähren, wenn sie die Theorie nicht in der Unverbindlichkeit reiner Gedankenspiele ansiedelte. Auch Pareto muß am Ende auf der Annahme bestehen, daß es letztlich nur "eine Wahrheit" über die "ganze Wirklichkeit" gibt. Seine Vorstellung von einer vollständig integrierten wahren Theorie, in der die Phänomene sich aus den Tatsachen der einzelnen Teiltheorien zusammensetzen lassen sollen, macht das deutlich. Auch er entwickelt eine Vorurteilslehre, mit deren Hilfe er die älteren Gesellschaftstheorien als Ideologien demaskiert. Indem er diese als Rechtfertigungssysteme für die Herrschaft bestimmter Eliten in der Geschichte denunziert, vermag er jedoch nicht anders als bloß durch den Hinweis, seiner eigenen "wertfreien Distanz" von den Ideologienstreitigkeiten seiner eigenen Gesellschaft, die eigene auf der "logischerfahrungswissenschaftlichen" Methode ruhende Gesellschaftstheorie vom Ideologieverdacht freizuhalten. Auch bei ihm fehlt, wie eben auch bei Mosca, die Entwicklung eines Kriteriums, mit dessen Hilfe die Unterscheidung zwischen "wahren" und "ideologischen" Aussagensystemen zu leisten wäre. Der Rekurs auf die Verpflichtung des Wissenschaftlers, "Tatsachen" allein anzuerkennen, erweist sich selbst als ideologisch, wenn dadurch verdeckt wird, daß diese "Tatsachen" in Begriffssystemen konstituiert werden, die selbst normative Voraussetzungen enthalten, die durch die objektiv-gesellschaftliche Situation schon immer vermittelt sind. Der nominalistischen Begriffsbildung, durch die die Begriffe zu bloßen "Zeichen" des Benannten werden, entspricht ein Wahrheitsbegriff, dessen Bestimmung sich in den "adaequatio intellectus adque rei" erschöpft. Da dieses Wissenschaftsverständnis apriorisch die Struktur erfahrungswissenschaftlicher Theorie, wie sie am Modell der Naturwissenschaften abgelesen ist, für die einzig mögliche hält, kann sie auch nur deren erkenntnistheoretische Implikationen übernehmen. Mit diesen aber wird zugleich die Intention auf reale Naturbeherrschung, die die pragmatische Funktion der Naturwissenschaften bildet, stillschweigend auf die Soziologie übertragen. Der Hinweis der bloßen Konventionalität der Theorie- und Begriffsbildung wird hierbei in dem Maße ideologisch, in dem er die Reflektion auf das Verhältnis von Denken und Gedachtem verhindert, in dem Maße also, in dem er die Selbstbesinnung des soziologischen Denkens auf dessen eigenen Sinnzusammenhang mit gesellschaftlicher Wirklichkeit, in der es steht, als metaphysisch abtut. Wenn das Ziel einer solchen soziologischen Theorie vor allem in der Fixierung von Gesetzen, die "allgemeine Tatsachen" (uniformite) aussprechen, bestehen soll, dann müssen die besonderen Tatsachen, um deren Erklärung es letztlich geht, zu deren bloßen Akzidenzien werden.
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"Neues wird filtriert: Es gilt bloß als Material, als Kontingent, als Störenfried gleichsam5 1." Für beide trifft zu, daß der von ihnen ausgesprochene Ideologieverdacht gegenüber allen älteren Gesellschaftstheorien nur der Ausdruck eines Denkens ist, das aus dem Streit der Weltdeutungsschemata, der gerade im Italien des ausgehenden 19. Jahrhunderts das Wert- und Normensystem dieser italienischen Gesellschaft zu sprengen drohte, nur erfährt, daß hinter ihm ein Kampf um die soziale und politische Macht in dieser Gesellschaft sich verbirgt. Ein Kampf, für den die einzelnen Weltdeutungsschemata im Grunde unverbindlich sind, weil aus ihnen für das Handeln von Menschen in konkreten Situationen nichts folgt. Die Abwertung der sprachlich fixierbaren Dimensionen gesellschaftlich vermittelter Wertorientierungssysteme zu bloßen Irrationalismen ist letztlich nur verstehbar auf dem Hintergrund einer im ständigen Wandel sich befindenden Gesellschaft, in der dieser Wandel andauernd die sich institutionalisierenden gesamtgesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen fragwürdig werden läßt. In dieser Abwertung spiegelt sich das Bewußtsein von der Unmöglichkeit, die Utopie einer "angemessenen" Gesellschaft überhaupt zu realisieren. Aus diesem Bewußtsein entspringt dann auch die für die Gesellschaftstheorien Moscas und Paretas so bezeichnende Konsequenz, mit der die Variablen Macht und Herrschaft zu zentralen Kategorien werden, von denen her alle gesellschaftlichen Phänomene eine Erklärung sollen finden können. Weil jedoch gleichzeitig die Variablen des Wert- und Normensystems zu bloßen für das je konkrete Handeln an sich bedeutungslosen Epiphänomenen sozialer Phänomene werden, müssen auch die zentralen Kategorien Macht und Herrschaft von Minoritäten für die Gesellschaftstheorien beider Autoren formal und ihres historischen Inhalts entleert werden. Unterderhand verändert sich damit aber die Bedeutung der Kategorien Herrschaft und Macht selbst. Indem die Geschichte für beide zu einem Arsenal von Analogien wird, wird für den Begriff Herrschaft dessen materialer Inhalt sekundär. Mit der Enthistorisierung der Geltungsgrundlagen der beiden Gesellschaftstheorien als Maxime ihrer Wahrheitskriterien geht eine Enthistorisierung der zentralen Begriffe dieser Gesellschaftstheorien zusammen. Durch diese Enthistorisierung der Gesellschaftstheorien und ihrer Begriffe werden diese zugleich bestimmter theoretischer Dimensionen entkleidet, ohne die sich Gesellschaft und ihr Wandel nicht mehr zureichend beschreiben läßt. Damit wird zugleich die Zweckbestimmung der Gesellschaft als Ganze 51
Theodor W. Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, Stuttgart 1956,
s. 41.
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sowohl wie die einzelner Handlungen und Verhaltensweisen von Individuen in bestimmten gesellschaftlichen Strukturzusammenhängen, die Sinndeutung gesellschaftlicher Ordnung selbst also, die sozialphilosophische Reflektion mit dem Begriff der Vernunft zu leisten beansprucht hatte, unmöglich. Die rationale Bestimmung der Bedingungen einer vernünftigen gesellschaftlichen Ordnung, die Konkretion der Substantialität dieser Ordnung, wird selbst problematisch. Was Rationalität allenfalls leisten kann, besteht in der Analyse und Ermittlung effizienter Mittelallocationen in bezug auf gegebene Zwecke. Zwar ließe sich mit ihr immer noch die logische Konsistenz gesamtgesellschaftlicher oder auch nur individueller Systeme von Zwecken oder Zielen und damit die Verträglichkeit bzw. Unverträglichkeit in gesellschaftlichen Situationen gegebener Zielfunktionen überprüfen. Die Legitimität oder Illegitimität gesetzter Zwecke ist mit ihr aber nicht mehr entscheidbar. Damit unterscheidet sich die bei Pareto in der "logisch-erfahrungswissenschaftliehen" und bei Mosca in der ebenfalls an den Naturwissenschaften orientierten "historischen" 52 Methode zum Ausdruck kommende Auffassung vom Prinzip der Rationalität nur unwesentlich vom Bedeutungsgehalt des Webersehen Begriffs der "Zweckrationalität" 53 • Beide versuchen zwar, der sich daraus ergebenden dezisionistischen Konsequenz Herr zu werden. Sie geben zunächst theoretisch die Zwecke als Funktionen des gesellschaftlichen Systemzusammenhangs an, dessen vollständige Aufklärung mittels der naturwissenschaftlichen Methode am Ende auch sachlich die "wertrationale" Reflektion über die Substantialität der Zwecke auf eine "zweckrationale" über ihre bloße Realisierbarkeit reduziert: "Uns scheint es offenkundig, daß man mit einer genauen Kenntnis der Gesetze des gesellschaftlichen Lebens noch viel besseres erreichen könnte. Eine solche Kenntnis würde zumindest lehren, was möglich und was nie und nimmer möglich ist, und würde die Verschwendung von Begeisterung und gutem Willen an schändliche Bemühungen um eine unerreichbare soziale Vollkommenheit verhindern. Sie würde uns instandsetzen, wie bei der Beherrschung anderer Naturkräfte, d. h. sie durch sorgfältige Beobachtung ihres Mechanismus zu verstehen und ihr Wirken ohne gewaltsame Eingriffe zu lenken5• . " Doch trauen letztlich weder Mosca noch Pareto diesem "positiven" Wissen einen allzu großen Einfluß auf die Gestaltung der Gesellschaft wie auf das Verhalten von Einzelnen zu. "Aber es ist schwer vorauszusagen, wann sich eine solche [Wissenschaft- P. H.] durchsetzen und die Wirkung der anderen, bisher beherrschenden Faktoren beeinflussen Vgl. Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 45 ff. Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., Band I, S. 12 f. Vgl. ausführlich I/2. 54 Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 372-74. •1
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wird (...). Ehe ein Denksystem zu einer politischen Macht werden kann, muß es das Bewußtsein der Mehrheit der herrschenden Klasse ergriffen, muß es die Herrschaft über ihr Denken und Fühlen gewonnen haben. Aber echt wissenschaftliche Ideen eignen sich dazu am wenigsten, weil sie sich am wenigsten je nach Bedarf anpassen lassen. Sie eignen sich darum weniger zum Aufstacheln der Leidenschaften und zur Befriedigung der Interessen des Tagesss." Eine solche negative Einschätzung einer auf die Zweckrationalität reduzierten Vernunft enthält freilich eine Reihe von Mißverständnissen. Mit ihr ist ein Wissenschaftsideal konzipiert, das durch die Formulierung seines Wahrheitsbegriffes auf die Übereinstimmung mit dem, was die "Tatsachen" sind, die Frage nach der Vernunft oder Unvernunft eben dieser Tatsachen aufgegeben und damit den objektiven Sinn, der dem Gegebenen anhaftet, aus seinen Horizont verbannt hat. Die "aristokratische Distanz" zur Gesellschaft, in der beide ja ihr eigenes Reflektieren anzusiedeln trachten, verstehen sie als eine Konsequenz der ihrer Natur nach irrationalen Gesellschaft. Dabei aber erweist sich gerade die Unfähigkeit, die Methoden der Erkenntnis gesellschaftlicher Realität selbst als ein Moment dieser Realität zu begreifen, als die eigentliche Ursache für die Fungibilität dieser Methoden. Durch diese können sie in je konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen zur Realisierung irrational gesetzter Zwecke, über deren Sinn zu entscheiden sie freilich nicht mehr in der Lage sind, weil sie vorab die Möglichkeit rationaler Sinnkritik als metaphysisch denunziert haben, verwendet werden.
2. Die voluntaristische Gesellschaftstheorie zwischen Liberalismus und Marxismus Staatliche Macht hatte im Selbstverständnis des Bürgertums vor allem nur die Funktion, die Gesellschaft nach außen zu sichern und im Innern die bloß formale Rechtsgültigkeit der gesellschaftlichen Verkehrsregelungen zu garantieren. In seiner Wendung gegen den Merkantilismus konzipierte Smith die bürgerliche Gesellschaft, die sich von da an auch explizit als eine Tauschgesellschaft verstand, als einen machtfreien, von Staatsinterventionismus unabhängigen Raum1 • Mit Smith und Ricardo2 wird Gesellschaft als ein System begriffen, in dem der Zusammenhang der es konstituierenden Teile sich durch die ökonomischen Beziehungen Ebenda, S. 373. Vgl. Adam Smith, Eine Untersuchung über Natur und Wesen des Volkswohlstandes, Jena 1908/1923, S. 555 f. 2 Vgl. David Ricardo, On the Principles of Political Economy and Taxation, London 1817. 55 1
2. Die voluntaristische Gesellschaftstheorie
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selbst reguliert. Der Markt, auf dem die arbeitsteilig Ware produzierenden Einzelnen durch den Tausch ihr individuelles Interesse verfolgen und im Tauschakt mit den Interessen anderer Warenbesitzer verbinden, wird dem Begriff nach zur bürgerlichen Gesellschaft selbst. In den Tauschbeziehungen, die die autonomen, warenproduzierenden Einzelnen in der Verfolgung ihres individuellen Interesses eingehen, verwirklicht sich der Gesamtzusammenhang der Gesellschaft. In den Tauschbeziehungen, als die alle sozialen Beziehungen begriffen werden, werden die Individuen sich gegenseitig zum bloßen Mittel der Realisierung ihrer eigenen Interessen3• Diese Tauschbeziehungen, die durch die Mechanik von Angebot und Nachfrage sich automatisch regulieren, sind deshalb herrschaftsfreie Beziehungen, weil unterstellt wird, sie seien freiwillig kontraktuell eingegangene Beziehungen, denen kein anderes Motiv als das der eigenen Bedürfnisbefriedigung zugrundeliege. Die Gesamtgesellschaft bedarf keiner Herrschaft, weil die Individuen durch die unmittelbare Verwirklichung ihrer privaten Interessen mittelbar das Allgemeininteresse der Gesamtgesellschaft bewirken4 • Dieser Glaube an die von "unsichtbarer Hand" gestiftete Harmonie zwischen Einzelinteresse und Allgemeininteresse bildet die Begründung für die Machtfreiheit sozialer Beziehungen ganz ebenso wie für die beanspruchte Autonomie dieser Gesellschaft gegenüber staatlicher Intervention5. Tatsächlich jedoch hängen Machtfreiheit der sozialen Beziehungen wie die Unbeeinflußbarkeit und Unabhängigkeit des gesellschaftlichen Gesamtsystems vom Machtwillen Einzelner von der atomistischen Struktur dieses Systems ab. Es ist nur dann wirklich funktionsfähig, wenn es in ihm nur Individuen gibt, die als solche keine andere Chance haben, als sich anpassend zu verhalten, wenn sie ihre eigene Bedürfnisbefriedigung sichern wollen6 • Die Harmonie zwischen den Einzelinteressen und dem Allgemeininteresse in der atomistisch konzipierten bürgerlichen Tauschgesellschaft, die vorgeblich einer "unsichtbaren Hand" geschuldet sein soll, erweist sich so als Ergebnis des Mechanismus von Angebot und Nachfrage unter den Bedingungen der "natürlichen Freiheit", als die die freie 3 Vgl. Adam Smith, Natur und Ursachen des Volkswohlstandes, Leipzig 1933, S. 15. Es ist interessant, daß diese Vorstellung fast wörtlich der Bienenfabel Bernard de Mandevilles entnommen ist, gegen dessen zynische Bemerkung, daß die privaten Laster öffentliche Tugenden seien, Smith noch in seinen ,.Moral Sentiments" polemisiert hatte. Vgl. Bernard de Mandeville, The Fable of the Bees: Or Private Vices Public Benefits, Erste Ausgabe, London 1714. ' Vgl. Adam Smith, a.a.O., S. 227 f. 5 Vgl. Adam Smith, Eine Untersuchung ... , a.a.O., Band li, S. 521 f. 0 Vgl. Maurice Dobb, Political Economy and Capitalism, London 1937, S. 37.
I. Die Historizität der Fragestellung
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Konkurrenz hier erscheint. Sie ist also durchaus nicht Resultat einer am Allgemeininteresse orientierten, rational planenden Vernünftigkeit der unter die Gesellschaft befaßten Individuen. Vielmehr transzendiert sie gerade deren Möglichkeiten, weil diese sich auf die rationale Verfolgung der Einzelinteressen in der Gesellschaft beschränken, deren "naturwüchsige" Objektivität dem Verhalten des Einzelnen immer schon vorgegeben ist. Die Blindheit der vereinzelten Gesellschaftsmitglieder gegenüber dem Zusammenhang der Gesamtgesellschaft wird so zur Voraussetzung der Funktionsfähigkeit dieser Gesamtgesellschaft. Die in ihren sie konstituierenden sozialen Beziehungen machtfreie und gegenüber der staatlichen Macht autonome bürgerliche Gesellschaft hat in dieser Konstruktion ihren wahren Grund. Daran aber, daß zum Wesen der Gesellschaft, deren Begriff " ... erst im Zuge der Erhebung des neuzeitlichen Bürgertums als der der eigentlichen ,Gesellschaft' gegenüber dem Hof formuliert wurde . . ." 7, die Unstaatlichkeit gehören solle, wurde selbst dann noch festgehalten, als die Insistenz darauf längst ihre kritische Funktion gegenüber dem höfischen Absolutismus und dem politischen Einfluß der Landaristokratie verloren hatte8 • Mit der fortschreitenden Industrialisierung entfalteten sich die in der bürgerlichen Gesellschaft angelegten Widersprüche zu offenen Konflikten, die ihren Bestand grundsätzlich in Frage zu stellen drohten. Mit der Parlamentsreform von 1832 in England, die mit dem Zensuswahlrecht dem Bürgertum gegenüber der Landaristokratie einen größeren politischen Einfluß sicherte, die Arbeiter jedoch in der sozialen und politischen Abhängigkeit dieses Bürgertums beließ9 , entstand gleichzeitig die Chartistenbewegung, von der Engels sagt, es sei die erste Arbeiterpartei der neueren Zeit gewesen10• In Frankreich, wo noch bis zur JuliRevolution von 1830 eine wenn auch begrenzte Interessenidentität zwischen dem Bürgertum und den Arbeitern gegenüber den restaurativen Zuständen zwischen 1815 und 1830 bestand, brach der Konflikt erst offen aus, als wenige Wochen nach dem Sieg der Revolution das Bürgertum im Rückgriff auf die prohibitive Gesetzgebung des Loi de Chapelier von 1791, das ganz von der liberalen Aversion gegen Gilden, Korporationen 7 Gesellschaft, in: Soziologische Exkurse, Frankfurter Beiträge zur Soziologie, hrsg. im Auftrag des Instituts für Sozialforschung von Theodor W. Adorno und Walter Dirks, Band 4, Frankfurt 1965, S. 23. 8 J. C. Bluntschli: "Gesellschaft", in: Deutsches Staatswörterbuch, Stuttgart 1859, Band 4, S. 247 f. • Vgl. dazu Jürgen Kuczynski, Die Geschichte der Lage der Arbeiter in England 1760-1832, Band IV, zweiter Teil, Zweite verbesserte Auflage, Berlin
1954,
s. 105 f.
Vgl. Friedrich Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, Vorwort der englischen Ausgabe. Seit 1824 ist entgegen den liberalen Anschauungen das Streik- und Versammlungsrecht gegeben. 10
2. Die voluntaristische Gesellschaftstheorie
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und anderen restriktiven Körperschaften monopolistischen Charakters erfüllt war11 , dies nun gegen das Entstehen einer organisierten Arbeiterbewegung anwandte12• Mit der Eroberung der politischen Macht durch das Bürgertum änderten sich auch die Funktionen, die der Staat für die Gesellschaft vorher besessen hatte. Staatliche Herrschaft als politische Macht des Bürgertums wandte sich nun auch gegen jene Teile der bürgerlichen Gesellschaft, die zu dieser in Widerspruch gerieten. Dabei blieb die politische Herrschaft ihrem Selbstverständnis nach insofern legitim, als vorausgesetzt wurde, die Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft, wie sie sich im Liberalismus spiegelte, wäre allein die "wahre" und "natürliche". Nur unter dieser Voraussetzung konnte der Staat als die das Allgemeininteresse repräsentierende, legitim Herrschaft ausübende Institution selbst dort noch erscheinen, wo er mit der Unterdrückung der zur bürgerlichen Gesellschaft in Widerspruch stehenden Teile, sich gegen jene als Ganzes richtete. "Ihrer Legitimationsgrundlage nach ist die bürgerliche Geselschaft das herrschaftsfreie Spiel der gleichen Kräfte, kann also im Grunde keinerlei Herrschaft, am allerwenigsten Klassenherrschaft rechtfertigen1'." Auf dem Hintergrund dieses Selbstverständnisses mußten dem Bürgertum die wahren Ursachen des Konflikts zwischen ihm und den von ihm abhängigen Arbeitern, die in der inneren Struktur der bürgerlichen Gesellschaft selbst angelegt waren, verborgen bleiben. Nur deshalb konnte es überall dort, wo es mit Mitteln der Staatgewalt den Konflikt zu unterdrücken trachtete, diese Mittel als legitim interpretieren, die gegen "Privatleute" eingesetzt wurden, deren Handlungen strafbar oder polizeiwidrig waren, weil sie die öffentliche Rechtsordnung verletzten, weil sie also gegen die "natürliche Ordnung" der bürgerlichen Gesellschaft verstießen14• Durch die Tatsache, daß entgegen dem liberalen Selbstverständnis die bürgerliche Gesellschaft sich zu einer Klassengesellschaft in dem Augenblick entfaltete, in dem es dem Bürgertum ge11
Jacques Bruhat, Histoire du mouvement ouvrier fran(;ais, Paris 1952,
S.142 f.
11 So sind für diese Zeit die sich häufenden Streiks sowohl in Paris als auch in Lyon von 1831 bezeichnend für die Lage. Vgl. dazu Jürgen Kuczynski, Die Geschichte der Lage der Arbeiter in Frankreich, Band VI, zweiter Teil, Zweite verbesserte Auflage, Berlin 1955, S. 7 ff. 13 Hermann Heller, Staatslehre, Leiden 1934, S. 116. 14 Es ist bezeichnend, daß Arbeiterpetitionen und ihre Versuche, Gewerkschaften zu gründen, unmittelbar nach der Juli-Revolution als ein "Anschlag auf die für die Entwicklung unserer notwendigen Freiheit" interpretiert wurden. Der Polizeipräfekt von Paris verbot am 25. August 1830 Arbeiterversammlungen mit der Begründung: "Sie beunruhigen friedliche Bürger, verursachen ernsten Verlust von Zeit und Arbeit, und sie entsprechen nicht dem Prinzip der Freiheit und der gewerblichen Tätigkeit." Vgl. Jacques Bruhat, a.a.O., S.145 ff.
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I. Die Historizität der Fragestellung
lang, die politische Vormachtstellung des Landadels auch institutionell zu beseitigen, der Staat sich also zum Medium der Klassenherrschaft des Bürgertums entwickelte, erhielt der fortschrittliche Optimismus einen empfindlichen Rückschlag. Hatte Adam Smith noch angenommen, daß eine Gesellschaft, in der das Selbstinteresse des Individuums Maxime war, in einem höheren Maße auch die wirtschaftliche Gleichheit verwirklichen würde15, so erwies David Ricardo diese Annahme bereits 1817 als falsch18• Indem er sein Hauptaugenmerk auf die Verteilungsproblematik legte, zeigte er, daß eine vollständige Freiheit auf dem Markt zwar eine natürliche Harmonie der Interessen erzeugt, und jedem, soweit es die Umstände erlauben, die Realisierung seines eigenen Vorteils gestatten, daß sich dieses Bild aber vollständig ändert, wenn man die Gesetze der Verteilung betrachtet: nicht nur beziehen sich diese Gesetze von nun an auf ökonomische Klassen, nicht nur wird dadurch das Schicksal des einzelnen Individuums von seiner Zugehörigkeit zu einer der Klassen bestimmt. Vielmehr ergibt sich aus der Form der Einkommensbestimmtheit ein latenter ökonomischer Interessenkonflikt zwischen diesen Klassen17• Was Ricardo am Beispiel des Konflikts zwischen anwachsendem Industriekapital und Landaristokratie, der eigentlich um Getreidezölle entstanden war, exemplifizierte, wiederholte sich nun zwischen Industriekapital und Lohnarbeit. In seiner aus der Arbeitswerttheorie abgeleiteten und mit dem Malthus'schen Bevölkerungsgesetz verbundenen Lohntheorie suchte Ricardo zu begründen, warum der Arbeitslohn über das Niveau, auf dem der Arbeiter in der Lage ist, seine reine Arbeitskraft zu reproduzieren, nicht hinausgehen kann18• Dadurch gerade aber gewannen die zunächst rein ökonomisch durch die Form ihres Einkommens bestimmten Klassen eine politische Dimension, die Ricardo wohl selbst kaum intendiert hatte. Damit verwies die Nationalökonomie auf einen neuralgischen Punkt in der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, der mit der fortschreitenden Industrialisierung immer deutlicher hervortrat. Mit dem Entstehen der Industrie, die historisch auf die Herausbildung von Großbetrieben gerichtet war, profilierten sich die Klassenunterschiede, deren Nivellierung Smith noch hatte behaupten können. 15 Vgl. Adam Smith, Über die Natur ... , a.a.O.; diese war ja Voraussetzung der Funktionsfähigkeit der atomistischen Struktur der Gesellschaft. 16 Vgl. David Ricardo, Grundsätze der Volkswirtschaft und Besteuerung, Jena 1923, Band 5 der Sammlung sozialwissenschaftlicher Meister, herausgegeben von Heinrich Waentig (Original: On the Principles of Political Economy and Taxation, London 1817}. Hier heißt es in der Einleitung: "Die Gesetze aufzufinden, welche diese Verteilung bestimmen, ist das Hauptproblem der Volkswirtschaftslehre." Ebenda, S. 6. 17 Ebenda, S. 6. 1& "Der natürliche Preis der Arbeit ist jener Preis, der erforderlich ist, um die Arbeiter im allgemeinen instand zu setzen, zu leben und sich fortzupflanzen, ohne Zunahme oder Abnahme." David Ricardo, Grundsätze ... , a.a.O., S. 118 f.
2. Die voluntaristische Gesellschaftstheorie
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Die als naturgesetzlich gefaßten Verteilungstheoreme, die die Profliierung der Klassengegensätze als unabweisbar erscheinen lassen mußten, ohne indes ihre volle politische Tragweite auszumessen, führten gleichzeitig zur Veränderung des Frühliberalismus: zum Sozial-Darwinismus. Dieser fand seinen reinen Ausdruck in dem Bevölkerungsgesetz von Malthus19• Die strukturellen Folgen einer unter kapitalistischen Formen fortschreitenden Industrialisierung wurden so als unabänderliche Naturgesetze hingestellt. Die Folge dieses naturgesetzliehen Charakters der kapitalistischen Entwicklung konnte aber zugleich auch in die schuldhafte Kompetenz des an seine Klasse gebundenen Einzelnen verlegt werden, weil die biologistische Uminterpretation des Konkurrenzprinzips, die in der Formel vom "Kampf ums Dasein" sich vollzog, die Ursachen dieser Folgen ins Individuum verlegte und damit ihre gesellschaftliche Vermitteltheit verdeckte. Erst John Stuart Mill begann die politischen Konsequenzen aus dem in der bürgerlichen Gesellschaft immer schärfer sich ausbildenden Klassengegensatz zu ziehen20• In der Auseinandersetzung mit dem Frühsozialismus Fouriers etwa hält Mill jedoch daran fest, daß die "laws and conditions of the production of wealth, partake of character of physical truths. There is nothing optional, or arbitrary in them" 21 • Damit entzog er die Form der bürgerlich-kapitalistischen Produktion jeder möglichen Kritik. Gleichzeitig jedoch gewann er die Auffassung, daß die Verteilung des Reichtums unabhängig von den Weisen seiner Gewinnung, Ergebnis freier politischer Entscheidungen sein kann22 .Während er also die historisch vermittelten Formen kapitalistischer Produktion noch völlig unhistorisch als die "allein natürliche" Form der Produktion in Gesellschaft aufzufassen schien, wobei er das Recht auf Privateigentum wie vor ihm schon Locke23 aus der Arbeit ableitete, sah er sehr wohl, daß die "distribution of wealth, therefore, depends on the laws and customs of society. The rules by which it is determined, are what the opinions and feelings of the ruling portion of the community make them, and are very different in different ages and countries; ... " 24• 19 Vgl. Robert Malthus, Eine Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz, 2 Bände, 2. Auflage, Jena 1924/25; zitiert nach Andreas Paulsen, Allgemeine Volkswirtschaftslehre, Band 1, Berlin 1956, S. 18. 20 Vgl. John Stuart Mill, Principles of Political Economy, London 1876, 4. Ed., Band I, Buch II, Kapitel I, § 3, S. 256 f. 21 J. St. Mill, ebenda, II, Kapitel I, § 1, S. 243. u Ebenda, S. 244. zs Vgl. John Locke, Of Civil Government, London 1690, Book II, sect. 25, passim. bezeichnet Privateigentum als "without any express compact of all commoners". 24 J. St. Mill, Principles ... , a.a.O., S. 244.
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I. Die Historizität der Fragestellung
Die Einsicht in den historischen Charakter bestimmter gesellschaftlicher Organisationsformen, die Erkenntnis also, daß diese als geschichtlich sich wandelnde Institutionen begriffen werden können, bezeichnet für Mill zugleich auch den Ort politischer Praxis in der bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit. Während die Formen kapitalistischer Produktion der politischen Praxis dadurch weiterhin entzogen blieben, daß sie " ... als eingefaßt in von der Geschichte unabhängige Naturgesetze dargestellt werden, bei welcher Gelegenheit dann ganz unter der Hand bürgerliche Verhältnisse als unumstößliche Naturgesetze der Gesellschaft in abstracto dargestellt werden ... " 25 , bildeten die Probleme der Verteilung des Produzierten den einen wichtigen Gegenstand. So blieb die Gesellschaft zwar als Klassengesellschaft im wesentlichen unverändert: "But wherever the extend of the market admits of it, the distinction is now fully established between the class of capitalists, or employers of labour, and the class of labourers; . . .! 1 ." Die Einsicht, daß " . .. the produce of labour should be apportioned . . . in an inverse ratio to the labour - the largest portions of those who have never worked at all, the next largest to those whose work is almost nominal, and so in a descending scale, the remuneration dwingling as the work grows harder and more disagreable, until the most fatiguing and exhausting bodily labour cannot count with certainly on being able to earn even the necessaries of life, . .. " 27 konnte damit nicht zur Problematisierung der strukturellen Ursachen, die in der Institution der kapitalistischen Produktion selbst zu suchen waren28, führen. Vielmehr mußte die dieser Einsicht inhärente Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft den tatsächlich strukturellen Widersprüchen äußerlich bleiben, und konnte eine politische Praxis orientieren, die nur die Umgestaltung der Akzidenzien dieser Widersprüche intendierte. Denn da "society mainly consists of those who live by bodily labour; ... " 29 , schien es nur natürlich, daß jenen auch ein Anteil am Reichtum zukommen sollte, der durch ihre Arbeit entstanden war30• Es war dies aber nicht so sehr ein nur moralisierender Einwand. Mill erkannte vielmehr sehr wohl, daß die gravierenden ökonomischen Unterschiede auf die Ökonomie nicht beschränkt blieben. Er sah, daß diese sich zu Klassenunterschieden verdichten mußten, die den Bestand der Gesellschaft überhaupt infragesteHen konnten3 1 • Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1951, S. 240. n J. St. Mill, Principles ... , a.a.O., S. 290. n Ebenda, S. 253 f. 28 Was Marx aufgedeckt hat. 29 J. St. Mill, Principles ... , a.a.O., S. 433 f. 3o Ein nicht geringer Teil seiner Principles ist dieser Frage gewidmet; vgl. insbesondere Principles ... , a.a.O., Buch II, Kapitel X-XV, S. 396 ff. 31 J . St. Mill, Principles . .. , a.a.O., S. 446. 25
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Der Abbau jener Klassenunterschiede, die die bürgerliche Gesellschaft zu sprengen drohten, eben weil sie dem größten Teil der in dieser Gesellschaft lebenden Menschen ein menschenwürdiges Dasein verweigerten, hatte sich im Medium politischer Praxis zu vollziehen32 • Mit der Zerstörung des Glaubens an eine sich über den Köpfen der Menschen selbst regulativ herstellende gesellschaftliche Harmonie erhielt die Institution staatlicher Macht ihre gesellschaftsregulierenden und integrierenden Funktionen zurück. Das liberale Rechtsstaatsverständnis erfuhr dadurch eine entscheidende Veränderung. Die ursprüngliche Trennung von Staat und Gesellschaft wurde durch Mill allerdings nicht so radikal abgebaut, daß der bürgerlichen Gesellschaft etwa die vollständige Zurücknahme in den Staat gedroht hätte. Doch kündigte sich hier bereits der Wandel des Staats zur Institution kollektiver Daseinsfürsorge an, als die er dann wenigstens seit dem ersten Weltkrieg in fast allen westeuropäischen Ländern erscheint33• Demgegenüber aber sollte auch der Staat eine von der Gesellschaft nicht unbeeinflußbare Existenz haben. Mill dachte Staat und Gesellschaft daher im Medium öffentlicher Meinung vermittelt. Da der Staat " ... consists of acts done by human beings; ... " 34 hing für ihn dessen Funktionsfähigkeit von " ... the virtue and intelligence of the human beings composing the community ..." 35, ab. Öffentliche Meinung, der der Staat in seiner repräsentativ-demokratischen Gestalt als einer gesellschaftlichen Institution verantwortlich sein sollte, hatte die Vernünftigkeit aller Bürger zur Voraussetzung. Diese Vernünftigkeit wurde als die Fähigkeit zur selbstverantwortlichen Gestaltung des eigenen Lebens ebenso wie als Mündigkeit zur verantwortlichen Teilhabe an den Geschicken des Gemeinwesens verstanden. Nicht nur hielt Mill gegenüber jeder autoritären Gesellschafts- und Staatsverfassung daran fest, " . . . that the rights and interests of every or any person are only secure from being disregarded when the person interested is hirnself able, and habitually disposed, to stand up for them" 36• Vielmehr glaubte er, ". .. that the general prosperity attains a greater height, and is more widely diffused, in proportion to the amount and variety of the personal energies enlisted in promoting it" 37 • Hierin kamen nun zweifellos nicht mehr nur noch die utilitaristischen Argumente des älteren Liberalismus zum Ausdruck, dessen Votum für eine repräsentativ-demokratische Staats- und Gesellschaftsverfassung allein Erziehung, Besserung des Lebensstandards etc. Vgl. dazu: Jürgen Habermas, Ludwig v. Friedeburg, Christoph Oehler, Friedrich Weltz, Student und Politik, Neuwied 1961, S. 21 ff. u J . St. Mill, Representative Govemment, ed. by R. B. McCallan, Oxford 1948, s. 126. 35 Ebenda, 8.126/127. as Ebenda, S. 142. 37 Ebenda, S. 142. 32
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von Nützlichkeitsüberlegungen geleitet worden waren38• Bei Bentham und James Mill war die Vernunft noch ausschließlich als Mittel der Realisierung bloß individuellen Interesses verstanden worden. Der Möglichkeit einer atomistisch strukturierten Gesellschaft hatte die stillschweigende Annahme unterlegen, daß, wenn nur alle Menschen rational ihre individuellen Interessen verfolgen, " ... the greatest good of the greatest number ..." 39 das Resultat sein muß. Bei John Stuart Mill aber wird die Vernunft des einzelnen Menschen, die Mill zu dessen Freiheit komplementär dachte, nicht mehr nur als Methode interpretiert. Ihre Ermöglichung wurde bei ihm zum Gegenstand und Sinn von Gesellschaft40 • Für Mill war fraglos, daß die Realisierung der Vernunft in der Gesellschaft wie die der ihr zugehörenden Freiheit Momente sind, die die Kontinuität der Geschichte von Gesellschaft bestimmen: "Poverty, like most social evils, exists because men follow their brute instincts without due consideration. But society is possible, precisely because men is not necessarily a brute. Civilization in everyone of its aspects is a struggle against the animal instincts41 . " In dieser Auffassung, in der Geschichte als fortschreitender Prozeß der Emanzipation des Menschen von der Natur begriffen wurde, verbanden sich bei Mill Anschauungen der französischen Aufklärung42, die über Saint-Simons und Comtes Geschichtsphilosophie vermittelt sind43, mit geschichtsphilosophischen Vorstellungen der deutschen Aufklärung44. Anders als bei Saint-Sirnon jedoch lag bei Mill die Betonung auf 38 Vgl. James Mill, Essay on Government, London 1824; Jeremias Bentham, A Fragment on Government, London 1776, Constitutional Code, London 1830. 89 Jeremias Bentham, Introduction to the Principles of Morals and Legislation, Erste Ausgabe, London 1789, S. 208. ' 0 J. St. Mill, Essay on Liberty, Oxford 1948, S. 55. 41 J. St. Mill, Principles . . . , a.a.O., S. 446/447. " Vgl. A.-R. J. Turgot, Discours sur les progres successifs de l'esprit humain, 1750, und Condorcet, Esquisse d'un tableau historique des progres de l'esprit humain, 1794. 43 Vgl. Mills Abhandlungen über Comte: Auguste Comte et le positivisme, Paris 1893. " Wenn Mill Kants geschichtsphilosophische Abhandlungen nicht gekannt haben mag, so sind Gedankengänge daraus doch sicher über W. v. Humboldts Schrift "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen", (1792) ihm bekannt geworden. Letztere Schrift zitiert er selbst in seinem "Essay on Liberty", vgl. Kap. III, S. 51, der oben angeführten Ausgabe. So ähnlich ist der Kantsche Gedankengang: "Die Vernunft in einem Geschöpf ist ein Vermögen, die Regeln und Absichten des Gebrauchs aller seiner Kräfte weit über den Naturinstinkt zu erweitern, und kennt keine Grenzen ihrer Entwürfe." Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Immanuel Kant, Kleinere Schriften zu Geschichtsphilosophie, Ethik und Politik, hrsg. von K. Vorländer, Solingen 1913, unveränderter Nachdruck Harnburg 1959, s. 7.
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der freien schöpferischen Kraft des Individuums. Sein Fortschrittsgedanke blieb damit der Tradition des englischen Individualismus verpflichtet. An dessen Stelle war bei Saint-Simon45 , der damit der rationalistischen Wendung der französischen Aufklärung folgte, das rationalistische Vernunftprinzip getreten. Folgerichtig trat in diesem an die Stelle des Vertrauens auf die schöpferische Kraft freier gesellschaftlicher Entwicklung, die bei Mill im Wesentlichen von einer "räsonnierenden Öffentlichkeit" 48 getragen werden sollte, das Vertrauen auf die Macht eines von der Vernunft ausgedachten Plans gesellschaftlicher Organisation. An die Stelle der Sorge um die Beschränkung staatlicher Macht, die im englischen Liberalismus nicht erst seit Smith eine bedeutende Rolle gespielt hatte, trat die Sorge, daß sie von der richtigen Instanz ausgeübt werde, wodurch ihre Beschränkung überflüssig erscheinen mußte. Dabei blieb in Wirklichkeit gleichgültig, ob die Quelle der Vernunft, die alle beherrschen sollte, nun in einer intellektuellen scientifischen Elite oder in der unfehlbaren Weisheit der Mehrheit gesucht wurde47 • Dem eher rationalistischen Konzept Saint-Simonstrat Mill mit dem Argument entgegen: "But to suppose that one or a few human beings, however selected, could, by whatever machinery of subordinate agency, be qualified to adapt each person's work to his capacity, and proportion each person's remuneration to his merits - to be, in fact, the dispenser of distributive justice to every member of a community; or that any use which they could make of this power would give general satisfaction, or would be submitted to without the aid of force- is a supposition almost too chimerical to be reasoned against48." Dieser unegalitären und antidemokratischen Gesellschaftsverfassung411 gegenüber blieb Mill skeptisch. Jene bezog ihre Legitimation allein aus der Annahme, eine Versöhnung von Idee und Wirklichkeit sei möglich, eben weil die Gesellschaft in der Klasse, die im gesellschaftlichen Prozeß der Entwicklung am fortgeschrittensten war - und das war in Frankreich wenigstens bis 1830 das französische Bürgertum - eine Instanz besaß, in der die Theorie dieser Versöhnung unmittelbar Praxis werden könnte50• Für Mill wie für Saint-Sirnon war die Realisierung dieser VerÜber Saint-Sirnon vgl. weiter unten. Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Untersuchung zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1962, passim. 47 Bei Rousseau bereits finden sich die beiden Konzeptionen. 48 J. St. Mill, Principles ... , a.a.O., Vol. I, S. 260. 48 Vgl. Samuel Bernstein, Saint-Simon's Philosophy of History in Science and Society, A Century of Marxism, New York 1948, S. 94: "Saint-Simon's philosophy of history, its culmination in socialist society. It was hierarchical, anti-democratic, utopic." Vgl. im übrigen auch J. L. Talmon, Politischer Messianismus, Köln 1963, Band 2, Die romantische Phase, S. 21 ff. so Vgl. Oeuvres de Saint-Sirnon et D'Enfantin, Paris 1868, Vol. II, S. 13 und 138. 45
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söhnung, die für beide zum Inhalt von Geschichte wurde, auf dem Hintergrund des schnell voranschreitenden Industrialisierungsprozesses, in dem sich diese zu vollenden schien, unbestritten. Anders als Saint-Sirnon jedoch erlebte Mill die ersten Stufen der Entfaltung des Konflikts zwischen Bürgertum und Arbeitern. Sein Mißtrauen in die politische Praxis des Bürgertums, der Saint-Sirnon noch die Fähigkeit zur Versöhnung von Idee und Wirklichkeit zutrauen konnte, entsprang den historischen Ereignissen nach 1830 sowohl in England als auch in Frankreich. Wenn Mill die öffentliche Meinung als eine die Gesellschaft integrierende und ihren Fortschritt verwirklichende Instanz ansah, so in der Annahme, alle Gesellschaftsmitglieder könnten Bürger werden. Durch die nun rasch fortschreitende Industrialisierung in West- und Mitteleuropa entstand dem Bürgertum in den organisierten Arbeiterbewegungen eine politische Gegenkraft, die sich durch eine bloß therapeutische Sozialgesetzgebung bald nicht mehr neutralisieren ließ51 • Während in Deutschland 1878 mit dem Sozialistengesetz ein im wesentlichen noch durch den Landadel politisch geführter Staat, in dem das Bürgertum 1848 seine politische Abhängigkeit nicht hatte beseitigen können, der politischen Organisierung der Arbeiter sich zu erwehren suchte52, und in Italien, das erst 1861 seine politische Einheit erlangt hatte, das Bürgertum vor allem des Nordens mit den alten feudalen Kräften einen Kompromiß schloß, und auch hier 1894 die sozialistischen Parteien aufgelöst wurden, nahm die Bedeutung der politischen Kräfte der Arbeiter in Frankreich und England ständig zu. Zwei Wahlrechtsreformen, die von 1867 und 1884, der ständig wachsende Einfluß der Gewerkschaften, die 1824 als Vertretung der Arbeiter zugelassen worden waren, sowie die Gründung der Labour Party 1901 bezeichnen in England die Etappen der politischen Emanzipation der Arbeiter vom Bürgertum. In Frankreich begann nach der Februar-Revolution von 1848, in der die Zweite Republik ausgerufen und mit ihr das allgemeine gleiche Wahlrecht eingeführt wurde, die Konstitution der Arbeiter als einer eigenen politischen Kraft sich auszuwirken. Die Revolution von 1848, in der die Arbeiter zum erstenmal in Frankreich die Initiative allein und zum Teil gegen das Bürgertum ergriffen, wurde allgemein als "soziale Revolution" verstanden53• Mit ihr und durch das Scheitern des Juli-Aufstandes 51 Seit 1832 in England: Zuerst Beschränkung der Arbeitszeit für Kinder und Jugendliche. Seit 1847 Zehnstundentag. Seit 1883 in Preußen Sozialgesetzgebung. 52 Das Sozialistengesetz, das die Sozialdemokratische Partei verbot, war bis 1890 in Kraft. 53 Über die Einschätzung dieser Revolution als proletarische Revolution bei Marx und Engels vgl. Friedrich Engels, Die Klassenkämpfe in Frankreich
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von 1848 wurde zwar nicht die bürgerliche Gesellschaft zerstört, immerhin aber begann nun auch hier der Abbau der totalen politischen Unmündigkeit der Arbeiter. Damit zugleich veränderte sich wiederum die gesellschaftliche Funktion politischer Herrschaft. Wo diese sich- wie vor allem in Englandals repräsentativ-parlamentarisches System konstituierte, wurde aus dem Instrument der Durchsetzung de:; besonderen Interesses des Bürgertums, welches sich mit ihr nur seiner immer bloß ideologischen Allgemeinheit versichern konnte, eine Instanz, die die Entscheidung über und den Ausgleich zwischen den in der Gesellschaft auftretenden partikularen Gruppeninteressen leisten sollte. Politische Herrschaft in der Gestalt des repräsentativ-parlamentarischen Systems konnte ihren Anspruch auf Legitimität nun nicht länger aus einem gleichsam außerhalb der Gesellschaft sich befindenden "natürlichen Allgemeinen" beziehen, dessen Umsetzung in ein gesellschaftlich Allgemeines sie zu leisten gehabt hätte. Vielmehr wurde sie von nun an verstanden als eine Institution, deren gesellschaftliche Funktion in der Integration partikularer, sich zum Teil widersprechender Gruppeninteressen bestand, deren Anspruch auf Umsetzung in politische Praxis nicht schon deshalb desavouiert war, weil sie eben als partikulare Interessen Anspruch auf Durchsetzung erhoben. Mit dieser Konzeption politischer Herrschaft, deren Umsetzung in gesellschaftliche Realität man im Anschluß an Dahrendorf als Institutionalisierung von Interessenkonflikten bezeichnen kann54, wurde der Verflochtenheit der politischen Herrschaft mit den Strukturen gesellschaftlicher Machtverhältnisse Rechnung getragen. Die grundsätzliche Anerkennung der Legitimität organisierter Gruppeninteressen und ihrer wechselseitigen Konkurrenz um den Einfluß auf die Institution politischer Herrschaft und deren Entscheidungen als gesellschaftsgestaltende Praxis aber läßt sich nur als institutioneller Ausdruck der gesellschaftlichen und politischen Verfassung der meisten westeuropäischen Gesellschaften in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts begreifen. Zunächst bloß abstrakt-allgemein an diesem Verhältnis zwischen gesellschaftlichen Machtstrukturen und politischer Herrschaft ist, daß die " ... Gruppenbildungen, welche die Machtverhältnisse in der 1848-1850, Berlin 1949, Einleitung S. 3: "Die Geschichte ... hat unsere damalige Ansicht als eine Illusion enthüllt." "Die Ansicht nämlich: Die Bourgeoisherrschaft wird jetzt überall zusammenkrachen oder zusammengeworfen werden." Friedrich Engels, Revolution in Paris, in: Deutsche Brüsseler Zeitung, Nr. 17, 27. Februar 1848, abgedruckt in Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1959, Band 4, S. 530. 54 Dahrendorf spricht im Anschluß an Theodor Geiger von der "Institutionalisierung des Klassenkonfiikts". Vgl. Ralf Dahrendorf, Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft, Stuttgart 1957, S. 70 f.
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Gesellschaft weitgehend beeinflussen , ... in der Demokratie ein unerläßliches Zwischenglied im Prozeß der jeweils in den demokratischen Repräsentativkörperschaften erneut zu vollziehenden Eruierung des ,allgemeinen Willens' ... " bilden55 • Verständlich aber wird ihre Bedeutung nur in der jeweils konkret-historischen Gestalt: "Die Demokratie als System einer legitimen kontrollierten Herrschaft ist nur in ihrer jeweils historisch-originären politischen Praxis unter den Voraussetzungen einer je eigentümlichen gesellschaftlichen Ordnung verständlich58 ." Gerade weil jedoch die partikularen Gruppeninteressen nicht nur die Machtverhältnisse in der Gesellschaft bestimmen, sondern weil diese selbst primär von den Bedingungen der Sozialstruktur einer je konkreten Gesellschaft abhängen, setzt die Funktionsfähigkeit einer so konzipierten Institution politischer Herrschaft die Realisierung eines konkreten Allgemeinen in der Gesellschaft voraus, das selbst nicht identisch sein kann mit der bloß formalen Struktur des repräsentativ-parlamentarischen Systems. Stammer betont dies, wenn er sagt: "Derartige Versuche [die Demokratie allein als eine formale Methode zu bestimmenP. H.] ... beachten nicht ausreichend, daß Demokratie nicht nur eine politische Form, ein nach bestimmten Spielregeln vor sich gehender Vorgang der politischen Willensbildung oder eine politische Methode ist, sondern auch ein gesellschaftliches Ziel darstellt und aus eben dieser Zielsetzung eine inhaltliche Feststellung erfährt57." Das konkrete Allgemeine, welches das repräsentativ-parlamentarische System zur Voraussetzung seiner Funktionsfähigkeit in der Gesellschaft hat, liegt aber gerade in der Veränderung jener ökonomischen und sozialstrukturellen Faktoren, deren Resultat die klassenbedingte Ungleichheit darstellt. Ihre Beseitigung ist daher nicht Frage einer beliebigen sozial-humanitären Einstellung. Sie ist vielmehr Voraussetzung dafür, daß in der Gesellschaft keine Interessenkonflikte entstehen können, bei denen der in ihnen enthaltene Widerspruch so unversöhnlich wäre, daß er mit Mitteln des repräsentativ-parlamentarischen Systems nicht mehr 55 Otto Stammer, Politische Soziologie und Demokratieforschung. Ausgewählte Reden und Aufsätze zur Soziologie und Politik, Berlin 1965, darin: Herrschaftsordnung und Gesellschaftsstruktur, S. 16. 58 Ebenda, S. 17. 57 Otto Stammer, Politische Soziologie, in: Soziologie- ein Lehr- und Handbuch zur modernen Gesellschaftskunde, hrsg. von Arnold Gehlen und Helmut Schelsky, Düsseldorf o. J., S. 262. Stammers Kritik richtet sich u. a. gegen Schumpeter, der Demokratie bestimmt als "Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher Einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfes um die Stimmen des Volkes erwerben". Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus, Demokratie, Zweite Auflage, Bern 1950, S. 428. Gegen diese Auffassung wendet sich auch Franz Neumann, The Concept of Political Freedom, in: The Democratic and the Authoritarian State, Glencoe, Ill. 1957, S. 193 f.
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behoben werden könnte. Ein so tiefgreifender Konflikt müßte mit dem System zugleich die Gesellschaft als Ganzes sprengen58• Dieser Gefahr aber sind - England vielleicht ausgenommen - alle europäischen Gesellschaften, in denen sich das repräsentativ-parlamentarische System entfaltete, mehr oder weniger stark ausgeliefert gewesen. Für die Zeit bis zum 1. Weltkrieg, die im wesentlichen den Erfahrungshorizont abgibt, auf dem die elitären Gesellschaftstheorien Moscas und Paretos entstehen, sind mehrere Momente, die in die Struktur dieser beiden Konzeptionen eingehen, besonders charakteristisch: (1) Befinden sich die einzelnen europäischen Gesellschaften in verschieden fortgeschrittenen Phasen der industriellen Entwicklung. Während England und Frankreich die am stärksten industrialisierten Nationen sind, hinter denen Deutschland bis etwa 1880 beträchtlich zurückbleibt, beginnt in Italien im Norden gerade erst die Industrialisierung. (2) Entsprechend diesen voneinander unterschiedenen industriellen Entwicklungsstufen, auf denen sich die einzelnen Länder befinden, zeigen auch die Sozialstrukturen dieser Gesellschaften stark voneinander abweichende Züge. Während England und Frankreich schon deutlich die Physiognomie von Klassengesellschaften ausgebildet haben, wobei England im Gegensatz zu Frankreich die damit entstandenen Klassengegensätze reibungsloser institutionalisieren konnte, ohne die Kontinuität der gesellschaftlichen wie politischen Entwicklung zu stören, sind die deutsche und italienische Gesellschaft noch weitgehend von ständischen Strukturelementen beherrscht. Die gesellschaftliche Wirklichkeit beider Länder um die Wende des 19. Jahrhunderts bis zum 1. Weltkrieg ist durch die prekäre Lage des Bürgertums gekennzeichnet, das in dieser vorwiegend noch ständisch strukturierten Gesellschaftsverfassung in den Klassengegensatz zur Arbeiterklasse hineingerissen wird. Vor allem in Italien aber ist die Lage durch den Kampf des italienischen Bürgertums sowohl gegen die feudalständischen Kräfte wie gegen die vor allem im industrialisierten Norden sich im Gefolge der europäischen Arbeiterbewegung organisierenden und entfaltenden politischen Kräfte des Proletariats charakterisiert. Der Widerspruch innerhalb der kapitalistisch-industriellen Gesellschaft tritt hier schon voll und in einem verhältnismäßig zusammengerafften Zeitraum zutage, ohne daß es dem Bürgertum gelungen wäre, die politische Macht im Staat gegen die Aristokratie zu erobern. (3) Während in England das repräsentativ-parlamentarische System in der Form der konstitutionellen Monarchie seine Kontinuität erhalten 58 Otto Stammer, Herrschaftsordnung und Gesellschaftsstruktur, a.a.O., S. 19, deutet das Problem an, wenn er sagt: "Eine demokratische Ordnung ist, wenn auch im Einzelfall institutionell gesichert, praktisch durch den immer wieder erforderlichen Ausgleichsprozeß der Gruppenwillen ständig gefährdet."
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kann, und in ihm die politischen Einflußmöglichkeiten der Arbeiter ständig zunehmen, wird die Entwicklung dieses Systems in Frankreich durch das plebiszitäre Kaisertum Napoleon III. für die Zeit von 18501870 unterbrochen. Italien, das erst relativ spät (1861) zu nationaler Einheit gelangt, übernimmt dann aber auch das repräsentativ-parlamentarische System, ohne damit indes dem italienischen Bürgertum eine unbestrittene politische Vorherrschaft zu sichern. In Deutschland, wo mit der vergeblichen bürgerlichen Revolution von 1848 auch der Versuch, zur nationalstaatliehen Einheit zu gelangen, scheiterte, blieben in der Reaktion im wesentlichen die feudalen ständischen Kräfte politisch dominierend. Die preußische Verfassung von 1850, die über die Herstellung der "von oben" durchgeführten nationalen Einheit bis 1918 im wesentlichen unverändert bleibt, war Ausdruck dieser Reaktion. Nach 1848 trennte sich die auch in Deutschland anwachsende organisierte Arbeiterbewegung vom Bürgertum, das auf die Teilhabe an der politischen Herrschaft zu verzichten beginnt und sich mit den alten Gewalten auszusöhnen trachtet. (4) Bis auf die englische Arbeiterbewegung nehmen alle europäischen sozialistischen Arbeiterbewegungen den Marxismus zur Grundlage ihrer politischen Praxis. Auf dem Hintergrund dieser sich rapide verändernden gesellschaftlichen Wirklichkeit werden Mosca und Pareta gezwungen, jene liberale Idee vom barmonistischen Interessenausgleich zwischen einzelnen sozialen Klassen zu verwerfen. Zugleich vermittelt ihnen jedoch der interimistische Zustand der italienischen Gesellschaft vor allem die Relativität jeder gesellschaftlichen Ordnung überhaupt. Durch diesen erfahren sie, daß hinter allen politischen Programmen, die tatsächlich ja immer auch Antizipationen gesellschaftlicher Wirklichkeit enthalten, sich nur der Kampf um die politische und soziale Macht verbirgt. Ein Kampf, in dem es immer nur um die Sicherung und Durchsetzung partikularer Interessen geht. Die Abwertung der objektiven inhaltlichen Dimensionen gesellschaftlicher Ordnungen, die in beiden Theoremen sich vorfindet, sowie die Reduktion gesellschaftlicher Strukturen auf die subjektiven Dimensionen voluntaristischen Handelns, aus denen beide objektive gesellschaftliche Realität zu begreifen trachten, führt dazu, daß sie Gesellschaft als eine Qualität sui generis nur als durch Macht konstituiert sehen können. Das auf die Bedingungen der Funktionsfähigkeit und Stabilität gesellschaftlicher Ordnungen reduzierte "Allgemeininteresse", das eben unabhängig von dem partikularen Interesse einzelner sozialer Gruppen gedacht werden müßte, realisiert sich bei ihnen paradoxerweise immer nur in dem durch die gesamtgesellschaftliche Herrschaft von Minder-
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heiten vermittelten Zwang im Eigeninteresse dieser Minderheiten. "En politique, toutes les classes dominantes ont toujours confondu leur interet avec celui du pays entier. Quand les politiciens craignent l'augmentation excessive du nombre des proletaires, ils sont malthusiens et demontrent que c'est dans l'interet du public et du pays. Quand ils craignent, au contraire, de ne pas avoir une population suffisante pour leurs desseins, ils sont anti-malthusiens, et demontrent egalement bien que c'est dans l'interet du public et du pays. Tout cela est accepte, tant que durent les residusfavorables a de telles derivations; tout cela est change, lorsqu'ils se modifient; jamais en vertu de raisonnements58 ." Mit der Einsicht, daß die bürgerliche Gesellschaft das nicht ist, als was sie sich selbst im Liberalismus konzipiert hatte, daß sie also weder eine macht- noch eine herrschaftsfreiere oder auch nur konfliktlosere Organisationsform menschlichen Zusammenlebens darstellt, mit deren Verwirklichung sich die Geschichte von Gesellschaft vollendete, vollzieht sich bei Pareto und Mosca ein entscheidender Wandel in der ursprünglich sozialphilosophischen Fragestellung. Die Reflektion auf die Möglichkeit der Realisierung einer machtfreien Gesellschaft, in der der Mensch sich die Verfügungsgewalt über die Produktion und Reproduktion seines Lebens angeeignet hat80, wird bei beiden als Ideologie, der jeder Realitätsgehalt fehlt, verworfen: "Ce dernier consistait simplement dans l'avenement d'une nouvelle elite (la bourgeoisie), laquelle allait se substituer a l'ancienne, trop affaiblie pour defendre ses privileges, qui devenaient de jour en jour plus odieux. De nos jours, les memes causes produisent de nouveau les memes effets. Uneelite degradee detruit, par ses niaises sensibleries, le peu de vigueur qui lui reste. Seule la forme en laquelle elle exprime ses sentiments est legerement changee81 ." Damit geraten beide freilich auch in Widerspruch zum Marxismus. Bezeichnend dafür ist, daß auch Mosca, wenn er den aufklärerischen Optimismus des 18. Jahrhunderts kritisiert, zugleich den Marxismus trifft, in dem er jene aufklärerischen Elemente aufgehoben findet: "Völlig phantastisch scheint uns weiter die letzte Schlußfolgerung aus dem 2. Axiom und aus der ganzen Lehre des historischen Materialismus: Daß nämlich die Durchführung des Kollektivismus ein Zeitalter der Gleichheit und der allgemeinen Gerechtigkeit eröffnen werde, wo der Staat nicht mehr das Instrument einer Klasse sei und wo es keine Ausbeuter und keine Ausgebeuteten mehr geben werde ... Wir wollen nur erwähnen, daß das die natürliche und unausbleibliche Folgerung aus der optimistischen Auffassung von der Menschennatur ist, die im 18. Jahr58 80 81
Pareto, Traite ... , § 1499, S. 847. Vgl. Karl Marx, Das Kapital, Berlin 1957, Band I, S. 87 ff. Pareto, Systemes ... , Tome 2, S. 35.
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I.
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hundert entstand und ihre geschichtliche Rolle noch nicht ausgespielt hat, obwohl das vielleicht jetzt nahe bevorsteht82 ." In der Frontstellung gegen den Marxismus und mit der Aufgabe belastet, die Aporien des Liberalismus aufzulösen, entwickeln beide Autoren ihre Gesellschaftstheorien, in denen die Macht und der Machtanspruch gesellschaftlicher Minderheiten eine zentrale Stellung einnehmen. Indem Mosca sowohl als auch Pareto die mit den Begriffen "Herrschende Klasse" 83 bzw. "regierende Elite"" beschriebene gesellschaftliche und politische Macht von Minderheiten als den zentralen, das Ordnungsgefüge der Gesellschaft wie ihren Wandel bestimmenden Faktor auffassen, glauben sie, nicht nur jene Dimension ihres Gegenstandes bezeichnet zu haben, von der her historisch je konkrete Gesellschaften sich beschreiben und in ihrer tatsächlichen Ausprägung zureichend erklären lassen. Vielmehr sehen sie in der gesellschaftlichen und politischen Macht von Minderheiten auch den eigentlich dominanten Faktor des historischen Wandels eben dieser Gesellschaften. Mit der Formulierung der beiden Theoreme: "In allen Gesellschaften, von den primitivsten im Anfang der Zivilisation bis zu den fortgeschrittensten und mächtigsten gibt es zwei Klassen, eine, die herrscht, und eine, die beherrscht wird ... " 85, und "Le moins que nous puissions faire est de diviser la sociE~te en deux couches: une couche superieure, dont font habituellement partie les gouvernants, et une couche inferieure, dont font partie les gouvernes. Ce fait est si manifeste, qu'il s'est en tout temps impose a l'observateur le moins expert; ... " 88 glauben sie schließlich, auch das Bewegungsgesetz allen gesellschaftlichen Wandels ausgesprochen zu haben. Die Vielfalt und Komplexität sozialer Tatsachen sowie die strukturelle Ausformung einzelner Strukturzusammenhänge der Gesellschaft sind ihnen schließlich nichts anderes als von der gesellschaftlichen Macht von Minderheiten ableitbare Phänomene. Die gesellschaftliche Macht von Minderheiten, ihr Verfall sowie der Aufstieg neuer Minderheiten bilden für beide den eigentlichen Kern historischer Prozesse. Wenn Mosca sagt: "Man könnte die ganze Geschichte der Kulturmenschheit auf den Konflikt zwischen dem Bestreben der Herrschenden nach Monopolisierung und Vererbung der politischen Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 361. Vgl. zuerst Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 53. Die Begriffe "Herrschende Klasse" und "Politische Klasse" sind synonym verwendet. 84 Vgl. Pareto, Traite ... , § 2034, S. 1298. 15 Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 53. •• Pareto, Traite ... , § 2047, S. 1301. 11
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Macht und dem Bestreben neuer Kräfte nach einer Änderung der Machtverhältnisse erklären ... " 67, dann wird damit nichts anderes ausgesprochen, als das, was auch Pareto meint: "Les aristocraties ne durent pas. Quelles qu'en soient les causes, il est incontestable qu'apres un certain temps elles disparaissent. L'histoire est un cimetiere d'aristocraties68." Oder: "L'histoire des societes humaines est, en grande partie l'histoire de la succession des aristocraties69 ." So trifft dann Parsons' Bemerkung über Pareto durchaus auch auf Mosca zu: "Pareto's most important contribution to the concret interpretation of social phenomena lies in the cyclical theory of social change70." Es zeigt sich jedenfalls, daß für beide die gesellschaftliche und politische Macht von Minderheiten, die sozialstruktureilen Bedingungen dieser Macht und der als Machtverhältnis beschriebene Zusammenhang dieser Minderheiten zu den beherrschten Mehrheiten zu den wesentlichen Faktoren gehört, durch die sowohl die Stabilität gesellschaftlicher Ordnung als auch ihr Wandel dargestellt werden soll: "Vom Standpunkt der Forschung aus gesehen liegt die Bedeutung des Begriffs der politischen Klasse darin, daß deren wechselnde Zusammensetzung über die politische Struktur und den Kulturstand eines Volkes entscheiden71 ." Dieser Gedanke ist nun keineswegs neu. Schon Saint-Sirnon und Marx hatten ja auf die Bedeutung hingewiesen, die die Klassenherrschaft und die Klassenkämpfe für den Geschichtsprozeß besitzen72 • Neu ist dann auch nicht der Gedanke, die Fragen nach der Bedeutung der Faktoren Macht und Herrschaft für die gesellschaftliche Ordnung aus ihrer ausschließlichen Bezogenheit auf den Staat und seine rechtlichinstitutionellen Dimensionen zu befreien73 • "Die Anschauung, die die Gesellschaft und den Staat als zwei völlig getrennte und sogar feindliche Wesen betrachtet, ist immer noch sehr verbreitet ... Hält man sich an die großen Rechtsbücher und an das Verwaltungsrecht, dann ist der Staat gewiß ein Ding für sich, das ein juristisches Leben besitzt, die Interessen des Staatsvolkes als Ganzes vertritt und das öffentliche Vermögen verwaltet .. . Aber im politischen Sinne ist der Staat nichts anderes als Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 64--65. Parete, Traite ... , § 2953, S. 1304. su Pareto, Manuel ... , Tome 2, S. 423. 70 Talcott Parsons, "Vilfredo Pareto"; in: Encyclopaedia of Social Sciences, Vol. 11, New York 1933, S. 577. 11 Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 54. 71 Vgl. Mosca, Histoire des doctrines politiques, nouv. ed. Paris 1955, S. 233 f., 17 18
278 f.
7' Dieser Gedanke findet sich explizit bereits bei Saint-Simon. Vgl. SaintSimen, Oeuvres ... , a.a.O., Vol. 15, S. 242.
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die Organisation aller sozialen Kräfte von politischer Bedeutung. Er ist die Summe aller gesellschaftlichen Elemente, die zur Ausübung der politischen Funktionen geeignet und bereit sind74 . " Und: "Parmi les divers phenomenes compliques que l'on observe dans une societe, celui du regime politique est tres important. Il est etroitement lie a celui de la nature de la classe gouvernante, et tous deux sont en rapport de mutuelle dependance avec les autres phenomenes sociaux75." Sowohl mit Moscas Theorem der herrschenden Klasse als auch mit Paretos Elitetheorem wird die Struktur politischer und gesellschaftlicher Herrschaft mit der Struktur der Gesellschaft als Ganzer in Beziehung gesetzt. Hierin erfährt dann der Begriff des Staats in zwei Richtungen eine materiale Erweiterung. Zum einen wird er aus seinem historischen Kontext, durch den er mit dem Entstehen des europäischen zentralisierten Territorialstaates im Ausgang des Mittelalters verknüpft ist76 , gelöst. Damit aber wird er allgemein anwendbar auf alle Gesellschaften, die durch den Prozeß fortschreitender Arbeitsteilung ein Maß innerer Differenzierung erreicht haben, das sie über den quasi "organisch" integrierten Zustand primitiver, nur segmentärer Sozialordnungen hinausgeführt hat. Auf solche Gesellschaften also, die u. a. eine politische Ordnung entwickelt haben, der sie offenbar zur Lösung ihrer immer prekären Integrationsprobleme bedürfen. Staat in diesem Verständnis bezieht sich damit also überhaupt nicht ausschließlich auf die Existenz einer für die Gesellschaft zentralen und integrierten Herrschaftsstruktur; nicht nur auf den staatlichen Herrschaftsapparat als eine von der Struktur der Gesellschaft, von den in dieser auftretenden Machtverhältnissen unabhängigen und nur einseitig auf die Gesellschaft wirkenden Einheit. Vielmehr wird in diesen Staatsbegriff der strukturelle Zusammenhang mit einbezogen, in dem der Staat als Herrschaftsapparat mit der gesellschaftlichen Ordnung und den in ihr wirkenden Machtverhältnissen steht. In diesem Verständnis bezeichnen Pareto und Mosca mit dem Begriff des Staats schließlich die im gesellschaftlichen Vermittlungszusammenhang stehende politische Ordnung. Dieser Staatsbegriff ist daher am ehesten noch mit dem Hermann Hellers vergleichbar, wenn dieser bestimmt: "Der Staat ist ein durch repräsentativ-aktualisiertes Zusammenhandeln von Menschen dauernd sich erneuerndes Herrschaftsgefüge, das die gesellschaftlichen Akte auf einem bestimmten Gebiet in letzter Instanz ordnet77 ." Zum einen werden also damit der Staat als organisierter VerMosca, Die Herrschende Klasse, S. 138. Pareto, Traite ... , § 2237, S. 1435. 78 Zur Begriffsgeschichte des Staates vgl. Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Auflage, Neudruck, Bad Hornburg v. d . H. 1959, S. 129 ff. Zur Entstehungsgeschichte des modernen Staates vgl. Heinrich Mitteis, Der Staat des Hohen Mittelalters, Weimar 1955. 77 Hermann Heller, Der Staat, in: Handbuch der Soziologie, Stuttgart 1931, 7'
75
s. 616.
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band und seine Funktionen innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung verstanden. Zum anderen aber ist " ... Politik als der von der Gesellschaft in Richtung auf den Staat und im Entscheidungsbereich des Staates selber wirksam werdenden Kunst und Technik der Beeinflussung, der Gestaltung und Veränderung des menschlichen Zusammenlebens ..." 78 strukturell mit diesem verbunden. Mit dem Hinweis darauf, daß "L'Etat est deja une abstraction, car, en realite, il n'existe que des hommes qui gouvernent et des hommes qui sont gouvernes ... "79 droht freilich dessen politische Eigenständigkeit überhaupt verloren zu gehen80• Mit einem solchen Staatsbegriff wird also die politische Herrschaft in der Gesellschaft mit der Sozialstruktur in der Gesellschaft in Beziehung gesetzt. Dadurch werden die Dimensionen, die für die Sozialphilosophie des 18. und 19. Jahrhunderts im wesentlichen durch das Naturrecht axiomatisch gesetzt waren, problematisiert und soziologischer Analyse ausgeliefert. Die Fragen, die beide Autoren stellen, beziehen sich auf das Verhältnis zwischen der Struktur politischer Herrschaft und der gesellschaftlichen Ordnung als Ganzer. Sie beziehen sich damit zugleich eben nicht nur auf "politisches Handeln", sondern immer auch auf "politisch orientiertes Handeln" 81 in seinem Zusammenhang mit sozialem Handeln überhaupt. Die Fragen, die beide aufwerfen und auf die sie mit ihren elitären Gesellschaftskonzeptionen auch theoretisch befriedigende Antworten zu geben trachten, sind: Welche Funktionen innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung besitzt die Institution politischer Herrschaft, wie entsteht sie, wodurch wird ihr Wandel möglich, welche sozialen Mechanismen bewirken Veränderungen in der Zusammensetzung der Träger politischer Herrschaftspositionen und welche Konsequenzen haben solche Veränderungen für die Struktur der Gesellschaft. Dieser Ansatz findet sich von jeher vorwiegend überall dort, wo die in einer sich wandelnden sozialen Ordnung bestehende Herrschaftsordnung als problematisch erfahren wird. Dort also, wo die materialen Legitimationsgrundlagen bestehender Herrschaftsverhältnisse durch die sich verändernde Sozialstruktur zerbrechen und damit der klassengebundene partikulare Charakter der Inhalte solcher Herrschaftsverhältnisse sichtbar wird. Sobald aber einmal die politische Herrschaftsorganisation als das Instrument zur Realisierung partikularer Gruppeninter78
18 80
8.6.
Otto Stammer, Herrschaftsstruktur und Gesellschaftsstruktur, a.a.O., S. 10. Pareto, Cours ... , Tome 2, § 657, S. 55. Vgl. Otto Stammer, Herrschaftsstruktur und Gesellschaftsstruktur, a.a.O.,
81 Für diese Unterscheidung vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., Band 1, S. 29.
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essen erkannt wird, entsteht die Neigung, den Staat als eben diese Organisation seiner prinzipiellen Autonomie gegenüber der Gesellschaft, die bis dahin eine auf ihn gewendete Reflektion als das schlechthin "andere", das gegenüber der Gesellschaft "allgemeinere" konstatiert hatte, zu negieren. Der unauflösliche Zusammenhang zwischen der Gesellschaft und ihrer jeweiligen politischen Organisation, zwischen der Sozialstruktur und der Herrschaftsstruktur, wird deutlich. Die Einsicht in die gesellschaftlich vermittelte Partikularität des in einer bestehenden Herrschaftsordnung gegenwärtigen Einflusses gewinnt gegenüber der Vorstellung, wonach der Staat nichts anderes ist als der Ausdruck eines wie immer auch gearteten "Allgemeinwillens", den Vorrang82• In einem sehr allgemeinen Sinn ist dieses Problem von jeher Thema aller Sozialphilosophie. Doch gilt dies mit Vorrang von der des 18. und 19. Jahrhunderts. Entdeckte die Philosophie der Aufklärung den absolutistischen Staat als bloßes Machtinstrument im Interesse der Feudalen und des Klerus, erkämpfte sich schließlich mit dieser Philosophie das Bürgertum innerhalb dieses Staates zuerst, und endlich gegen diesen, die Gesellschaft als Raum geistiger und ökonomischer Freiheit und Gleichheit, so verweist die marxistische Sozialphilosophie entgegen dem liberalen Selbstverständnis des Bürgertums auf den bloßen Mittelcharakter des Staats in bezug auf die gesellschaftliche Macht dieses Bürgertums. Wenn Marx schließlich immer wieder betont, " ... daß RechtsverhiÜtnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind, noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des Geistes ... " 83 und zeigt, daß der Staat in seiner der Totalität der Gesellschaft immanenten Bedeutung erfaßt werden muß, dann steht diese Auffassung im Zusammenhang mit seiner Kritik an der Staats- und Gesellschaftsauffassung Hegels. Implizit jedoch kritisiert er damit auch das Verständnis, das der frühe Liberalismus vom Verhältnis zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft entwickelt hatte. Für dieses Verständnis war das Verhältnis von Staat und Gesellschaft nur äußerlich formal bestimmbar. Gegenüber dem Staat wurde die bürgerliche Gesellschaft als ein von diesem unabhängiger Raum konzipiert. Indem Marx jedoch auf die klassengebundene Mobilisierung staatlicher Macht im Eigeninteresse des Bürgertums hinweist, deckt er zugleich die ideologische Funktion dieses Verständnisses auf: "Der bürgerliche Staat ist weiter nichts anderes als eine wechselseitige Assekuranz der Bourgeoisieklasse gegen ihre einzelnen Mitglieder, wie gegen die exploitierte Klasse, eine Assekuranz, die immer kostspieliger und scheinbar immer selbständiger gegenüber der Vgl. dazu Hermann Heller, Staatslehre, a.a.O., passim. Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, VorwortS. X. Vgl. Deutsche Ideologie, I, Feuerbach, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, a.a.O., Bd. 3, S. 25. 81
83
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bürgerlichen Gesellschaft werden muß, weil die Niederhaltung der exploitierten Klasse immer schwieriger wird84 ." Gegenüber diesen Interpretationen des Verhältnisses von gesamtgesellschaftlicher Herrschaftsordnung und gesellschaftlicher Totalität, wie sie die Aufklärung und der Frühsozialismus, vor allem aber dann Marx für bestimmte, historisch konkrete Gesellschaften geleistet haben, bilden die Elitekonzeptionen Moscas und Paretos scheinbar nur eine mögliche Variation des Themas dieser Interpretationen. Doch finden in dieser Variation tatsächlich tiefreichende Differenzen nicht so sehr des Sachverhalts selbst als vielmehr der vorgängigen Denkhaltung gegenüber diesem ihren Ausdruck. Durch sie werden die für die Gesellschaftstheorien des 18. und 19. Jahrhunderts konstitutiven geschichtsphilosophischen Elemente endgültig liquidiert. Für Marx war die Institution politischer Herrschaft in der historisch konkreten bürgerlichen Gesellschaft, in der sie sich vorfand, notwendig nichts anderes als die organisierte gesellschaftliche Macht einer Klasse zur Beherrschung der Gesellschaft als Ganzer im Eigeninteresse dieser Klasse: "Alle früheren Klassen, die sich die Herrschaft eroberten, suchten ihre schon erworbene Lebensstellung zu sichern, indem sie die ganze Gesellschaft den Bedingungen ihres Erwerbs unterwarfen85 ." Da jedoch Klassenherrschaft unmittelbar aus den durch die fortschreitende Arbeitsteilung wie durch die Entwicklung kapitalistischer Produktionsund Eigentumsverhältnisse verursachten Widersprüchen in der Struktur der bürgerlichen Gesellschaft resultiert86, die sich in den antagonistischen objektiven Interessen der Klassen manifestieren, ist sie zu einem bestimmten Zeitpunkt der Entwicklung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nichts anderes als bloßes Zwangsmittel zur Aufrechterhaltung bestehender gesellschaftlicher Zustände im Interesse einer Klasse trotz der in diesen Zuständen enthaltenen objektiven Widersprüche87 • Diese kann sie zwar unterdrücken, aber nicht prinzipiell aufheben. Obgleich sie so immer an das partikulare Interesse der bürgerlichen Klasse gebunden bleibt, kann politische Herrschaft zwar gegenüber den einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft als die Repräsentanz eines Allgemeinen erscheinen. In Wahrheit ist sie aber nie etwas anderes als bloß vermittelte Allgemeinheit. 84 Vgl. Deutsche Ideologie, in: Kar! Marx, Frühschriften, hrsg. v. Siegfried Landshut, Stuttgart o. J., S. 410 ff. 85 Kar! Marx, Kommunistisches Manifest, in: Karl Marx, Frühschriften, a.a.O., S. 537. 88 Vgl. Karl Marx, Deutsche Ideologie I, Feuerbach, in: Kar! Marx/Friedrich Engels, Werke, a.a.O., Band 3, S. 32-33. 87 Vgl. Kar! Marx, Kritik der Hegeischen Staatsphilosophie, in: Frühschriften, a.a.O., S. 36.
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Die Institutionalisierung der Klassenherrschaft als politische Herrschaft trägt so paradoxerweise immer schon ihre eigene Überwindung in sich. Politische Herrschaft als Klassenherrschaft in der bürgerlichen Gesellschaft, die der Idee nach die Funktion haben soll, die in der Struktur dieser Gesellschaft notwendig mit der Arbeitsteilung sich ergebenden Konflikte integrativ zu bewältigen, kann diese Funktion tatsächlich nicht erfüllen. Vielmehr ist politische Herrschaft gerade Ausdruck des desintegrativen Zustands der bürgerlichen Gesellschaft88• Geschichtliche Veränderungen in der Struktur der gesellschaftlichen Organisation sind damit nicht einfach nur die Folge struktureller und personeller Veränderungen im Bereich der institutionalisierten gesamtgesellschaftlichen politischen Herrschaft. Sie hängen also nicht bloß von der jeweiligen Intentionalität der Herrschaftsträger ab. Vielmehr sind in der Struktur der Gesellschaft, in der die Menschen durch ihre Bedürfnisse und durch die Weisen der arbeitsteiligen Reproduktion ihres Lebens voneinander abhängen89, dynamische Momente angelegt, die historisch je konkrete Strukturzustände auflösen und in andere überführen. Diese dynamischen Momente liegen in erster Linie in der Arbeitsteilung und im System der durch die Institution des Privateigentums bestimmten Austauschbeziehungen der durch sie vergesellschafteten Individuen90 • Diese beiden Faktoren aller historisch realen gesellschaftlichen Strukturen aber begründen zugleich notwendig das Auseinanderfallen des jeweils besonderen Interesses der als vergesellschaftete Individuen auf ihre bloß soziale Eigenschaft reduzierten Menschen und des Allgemeininteresses der Gesellschaft als Ganzer: "Ferner ist mit der Teilung der Arbeit zugleich der Widerspruch zwischen dem Interesse des einzelnen Individuums oder der einzelnen Familie und dem gemeinschaftlichen Interesse aller Individuen, die miteinander verkehren, gegeben; ...91 ." Mit der Institutionalisierung gesamtgesellschaftlicher politischer Herrschaft in der bürgerlichen Gesellschaft reproduzieren sich bloß die durch die Arbeitsteilung und die spezifischen Eigentumsformen gegebenen tatsächlichen Abhängigkeitsverhältnisse. Mit diesen reproduziert sich also 88 Vgl. auch Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, Leipzig 1955, S. 208. Es heißt dort: "Der Staat ist also keineswegs eine der Gesellschaft von außen aufgezwungene Macht; ebensowenig ist er ,die Wirklichkeit der sittlichen Idee', ,Das Bild und die Wirklichkeit der Vernunft', wie Hegel behauptet. Er ist vielmehr ein Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, daß diese Gesellschaft sich in einen unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist." 89 Vgl. Karl Marx, Deutsche Ideologie, in: Werke, a.a.O., Band 3, S. 30. 90 Vgl. Karl Marx, Deutsche Ideologie, a.a.O., S. 34. 91 Vgl. Karl Marx, Deutsche Ideologie, a.a.O., S. 33.
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auch der Widerspruch zwischen dem besonderen und dem allgemeinen Interesse92 • Institutionalisierte gesamtgesellschaftliche politische Herrschaft hat für Marx daher in der bürgerlichen Gesellschaft im wesentlichen repressiven Charakter93 • Sie ist in Wahrheit mächtiger als jedes bloß individuelle, in privater Willkür gegründete Zwangsverhältnis, weil sie selbst noch im Bereich der Reproduktion gesellschaftlicher Abhängigkeitsverhältnisse, in denen gleichsam die "bewußtlose Notwendigkeit der Sache" 94 iedes am besonderen Eigeninteresse orientierte Verhalten tendenziell zu einem Beitrag der gegenseitigen Erhaltung und der Erhaltung des Ganzen umformt, wirksam ist. Politische Herrschaft ist jedoch gegenüber der sich im objektiven Interessenwiderspruch manifestierenden gesellschaftlichen Dynamik ohnmächtig, weil sie als bloß "illusorische Gemeinschaftlichkeit" 95 gerade dadurch, daß mit ihr immer nur ein je besonderes Eigeninteresse einen Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit durchzusetzen trachten muß, zur Profilierung der strukturellen Inkonsistenz der gesellschaftlichen Ordnung beiträgt. Die historischen Veränderungen der gesellschaftlichen Ordnungen sind das Ergebnis einer ihrer Struktur innewohnenden Bewegung. Sie überwinden die auf Stillstellung solcher strukturverändernder Prozesse ausgerichtete und in der politischen Herrschaft zum Ausdruck kommende Intentionalität des je besonderen Interesses96 • Geschichte von Gesellschaft, die ihren Grund in der durch die je spezifischen Formen der Arbeitsteilung vermittelten Abhängigkeitsverhältnisse und Weisen des Zusammenwirkens der vergesellschafteten Individuen hat, wird aber damit selbst zu einer "Gewalt", " ... von der sie nicht wissen, woher und wohin, die sie also nicht mehr beherrschen können, die im Gegenteil nun eine eigentümliche, ja, dieses Wollen und Glauben erst dirigierende Reihenfolge von Phasen und Entwicklungsstufen durchläuft" 97 • Für die Analyse sowohl der Funktion als auch der Genesis politischer Herrschaft kann daher die Aufhellung ihres Zusammenhangs, in dem sie mit den Strukturen konkreter Gesellschaften steht, nicht gleichgültig sein. Ihre historische Bedeutung erhellt für Marx jedoch erst der sich entfaltende gesellschaftliche Reproduktionsprozeß, in dem die Idee des Fortschritts verbunden ist mit der Aufhebung der Entfremdung des Menschen. Die Aufhebung der Entfremdung, die sich als die notwendige 92
Vgl. Karl Marx, Deutsche Ideologie, a.a.O., S. 33.
oa Vgl. Karl Marx, Deutsche Ideologie, a.a.O., S. 34. Vgl. Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie ... , a.a.O., S. 209. " Vgl. F. G. Hegel, Rechtsphilosophie, § 278.
Vgl. Karl Marx, Deutsche Ideologie, a.a.O., S. 34. Vgl. Karl Marx, Deutsche Ideologie, a.a.O., S. 34. Vgl. auch Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie ... , a.a.O., S. 208-209. D7 Karl Marx, Deutsche Ideologie, a.a.O., S. 34. 95
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Beseitigung jenes gleichsam naturhaften Zwangs darstellt, der bis dahin durch die gegenseitigen ökonomischen Abhängigkeitsverhältnisse den Strukturzusammenhang der Gesellschaft und damit auch die Existenz politischer Herrschaft begründet hatte, stellt für Marx das Bewegungsmoment der Geschichte dar. Marx überwindet dadurch jene voluntaristischen Zwangstheorien98, in denen Macht als Medium gesellschaftlicher Integration mit dem Willen von Einzelnen verknüpft ist und je konkrete Strukturzustände der Gesellschaft als blo.ße Realisationen dieses individuellen Willens in seinem Eigeninteresse interpretiert werden. Jene Zwangstheorien also, in denen der Staat als Institution gesamtgesellschaftlicher politischer Herrschaft nichts anderes ist als die Wirksamkeit dieses Willens zur Macht und die Gesellschaft nur Objekt der Tätigkeit dieses Willens. Gleichzeitig überwindet er auch jene Konsensus-Theorien99 , für die die Integration gesellschaftlicher Ordnung Ergebnis eines durch die Gesamtheit gebildeten Allgemeinwillens ist, in dem alle Einzelwillen aufgehoben und die einzelnen Gesellschaftsmitglieder nur sich selbst unterworfen sind, weil Allgemeinwille und Einzelwille identisch sind. Gegenüber den voluntaristischen Zwangstheorien verweist er auf die gesellschaftlich vermittelte Beschränktheit des Machtwillens und des in ihm zum Ausdruck kommenden besonderen Interesses, das bei der Umsetzung in durch Macht vermittelte gesellschaftliche Realität notwendig immer Konsequenzen zeitigt, die sich zu seiner eigenen Intention in Widerspruch setzen müssen. Gegenüber den Konsensus-Theorien zeigt er, daß der Allgemeinwille in beliebigen gesellschaftlichen Strukturzuständen nicht durch die bloße Summation gleichsam sich mechanisch herstellen läßt, also überhaupt nicht zu jedem Zeitpunkt der Existenz von Gesellschaft für diese zu verwirklichen ist. Vielmehr transzendiert der Allgemeinwille je konkrete gesellschaftliche Verhältnisse, in denen er als die durch die Geschichte sich entfaltende Vernunft wirksam ist, um sich an ihrem Ende in der Aufhebung der Entfremdung zu manifestieren. So sah Marx im preußischen Staat ein Beispiel dafür, wie sich die gesetzgebende Gewalt zur Interessenvertretung bloß partikularer Gruppeninteressen entwickelte, und der Staat als Ganzer einen parteiischen Charakter annahm. Seine Kritik an der Hegeischen Staatsphilosophie100 88 Solche voluntaristischen Zwangstheorien, wie sie sich in der Folge machiavellistischen Denkens vor allem auch in der Geschichtswissenschaft entfaltet haben. 88 Konsensus-Theorie in der Folge Rousseaus. 100 Vgl. Kritik der Hegeischen Staatsphilosophie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, a.a.O., Band 1, S. 203 ff.
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bezog sich deshalb auch nicht auf Regels abstrakt-allgemeine Idee, daß " ... der Zweck der Staates das allgemeine Interesse als solches und darin als ihrer Substanz die Erhaltung der besonderen Interessen ist ... " 101 • Dort jedoch, wo Regel, ausgehend von der Trennung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat, den Ständen die Funktion zuweist, den Willen der bürgerlichen Gesellschaft in bezug auf den Staat zur Geltung zu bringen, also die Synthese von bürgerlicher Gesellschaft und Staat zu leisten102, wirft er ihm vor: "In den modernen Staaten, wie in Regels Rechtsphilosophie, ist die bewußte, die wahre Wirklichkeit der allgemeinen Angelegenheit nur formell, oder nur das Formelle ist wirklich allgemeine Angelegenheit103 ." Daß die Vermittlungsfunktion der Stände zugleich auch die konkrete Allgemeinheit des im Staat sich durchsetzenden Willens sei, " ... ist die sanktionierte, gesetzliche Lüge der konstitutionellen Staaten, daß der Staat das Interesse des Volkes, oder daß das Volk das Staatsinteresse ist. Im Inhalt wird sich die Lüge enthüllen" 104• Was er Regel vorwirft, ist also nicht die Vorstellung der Versöhnung von Besonderem und Allgemeinem überhaupt. Seine Kritik trifft vielmehr Regels Gedanken, mit der Konstruktion des politischen Staats über der Gesellschaft sei bereits die Einheit von Allgemeinheit und Besonderheit in der Weise hergestellt, daß die Bestimmungen der individuellen Willen ein "objektives Dasein" erhalten und damit die Einheit zu ihrer "Wahrheit und Verwirklichung" gekommen sei1°~. Marx hielt diesen Gedanken zu jener Zeit für eine Illusion, gerade weil in ihm die Trennung der Gesellschaft in einen privaten Bereich und in einen politischen vorausgesetzt ist. Unter dem Gesichtspunkt dieser Trennung, unter dem der Mensch als konkreter Bürger und als Staatsbürger segmentiert erscheint, kann das Interesse des Menschen immer bloß Privatinteresse sein. Sein Interesse als Staatsbürger bleibt beschränkt auf die Wahrung bloß formal-rechtlicher Verhältnisse, die sein Dasein als Bürger garantieren. Folgerichtig hält Marx die Aufhebung des politischen Bereichs und seine Zurücknahme in die Gesellschaft, die gesellschaftliche Emanzipation also, für die einzige Möglichkeit, das Allgemeine mit dem Besonderen zu versöhnen106• "In diesem Zustand verschwindet die Bedeutung der gesetzgebenden Gewalt als einer repräsentativen Gewalt gänzlich. Die gesetzgebende Gewalt ist hier RepräHegel, Rechtsphilosophie, § 270. Vgl. ebenda, § 301, 302. 1" Karl Marx, FriedrtdJ. Engels, Werke, a.a.O., Band 1, S. 266. 104 Ebenda, S. 268. 105 Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie, a.a.O., § 261, S. 215 f. 108 Vgl. Karl Marx, Zur Judenfrage, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, a.a.O., Band 1, S. 347 ff. 101
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sentation in dem Sinne, wie jede Funktion repräsentativ ist, wie z. B. der Schuster, insofern er ein soziales Bedürfnis verrichtet, mein Repräsentant ist, wie jede bestimmte soziale Tätigkeit als Gattungstätigkeit nur die Gattung, d. h. eine Bestimmung meines eigenen Wesens repräsentiert, wie jeder Mensch der Repräsentant der anderen ist. Er ist hier Repräsentant nicht durch ein anderes, was er vorstellt, sondern durch das, was er ist und tut107 ." Obgleich er anerkennt, daß die "politische Emanzipation ein großer Fortschritt" ist1°8 , kann sie doch nicht das letzte Ziel der Geschichte von Gesellschaft sein: "Erst wenn der wirkliche Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine ,forces propres' als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbrachtl 09 ." Geschichte von Gesellschaft als ein Prozeß der Emanzipation des Menschen ist für Marx jedoch kein sich automatisch vollziehender Prozeß. Vielmehr wird er getragen vom bewußten Handeln der Menschen, das in der Überwindung der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft politisches Handeln sein muß. Marx' Idee der emanzipierten Gesellschaft ist damit nicht nur abstrakte Utopie. Sie gewinnt erst im politischen Handeln ihre konkrete Gestalt110• Damit bestimmt sich das Verhältnis von Staat und politischem Handeln in der bürgerlichen Gesellschaft neu. Die Qualität des Staates, selbst Machtposition zu sein, führt Marx und Engels dazu, das politische Handeln der Arbeiter als Klasse, das ja die Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft intendieren soll, auf die Eroberung des Staates zu beziehen111 • Es zeigt sich jedenfalls, daß Marx die Gestalt des Staates, seine Funktionen in bezug auf die Gesellschaft, wie seine Bestimmtheit durch die konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse nicht als etwas Statisches und ewig Unveränderliches ansieht, dessen theoretische Erklärung mit dem Aufstellen abstrakt-allgemeiner Gesetze geleistet wäre. Den Wandel des Staates wie den seiner gesellschaftlichen Funktionen sieht er eingebettet in die konkreten gesellschaftlichen Lebensprozesse, die jeKarl Marx, Friedrich Engels, Werke, a.a.O., Band 1, S. 299 f. Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, a.a.O., Band 1, S. 356. 108 Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, a.a.O., Band 1, S. 370. 110 Vgl. Karl Marx/Friedrich Engels, Grußadresse der deutschen demokratischen Kommunisten zu Brüssel an Herrn Feargus O'Connor, in: Karl Marx/ Friedrich Engels, Werke, a.a.O., Band 4, S. 24 ff. m Vgl. Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, a.a.O., Band 4, S. 459 ff. 107 108
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weils nur historisch bestimmbar sind. Gesellschaftstheorie in diesem Verständnis hat selbst eine gesellschaftliche Funktion. Sie ist kritisch, indem sie die Genese der zur "zweiten Natur" geronnenen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse aufhellt und so selbst die Möglichkeit ihrer durch Praxis zu verändernden Gestalt aufweist. Mit Moscas und Paretos elitären Gesellschaftskonzeptionen fällt die europäische Sozialphilosophie und damit auch die politische Theorie hinter die von Marx gewonnenen Positionen zurück. Bei aller Kritik an Comte und Spencer, die vor allem deren Geschichtsphilosophien trifft112, entwickeln Mosca und Pareto ihre Problemstellungen doch unter dem Blickwinkel allgemeiner mechanistisch-organologischer Gesellschaftsmodelle, die bereits bei jenen über die bloße Analogie hinausgeführt, ihren Ursprung in den von den Naturwissenschaften beeinflußten sozialphilosophischen Reflektionen Holbachs haben113• Findet sich bei Mosca der Gedanke von der Gesellschaft als einem allgemeinen integrierten System nur implizit, und läßt dieser sich bei ihm nur über seine Vorstellung vom "Gleichgewicht aller sozialen Kräfte" als der Grundbedingung der Stabilität und Funktionsfähigkeit gesamtgesellschaftlicher Ordnung erschließen114, so begreift Pareto die Gesellschaft auch explizit als ein zum Gleichgewicht tendierendes System von interdependenten Elementen: "La forme de la societe est determinee par tous les elements qui agissent sur elle; et ensuite, elle reagit sur les elements. Par consequent, on peut dire qu'il se produit une determination mutuelle. Les elements que nous avons mentionnes ne sont pas independents; la plupart sont mutuellement dependents. En outre, parmi les elements, il faut ranger les forces qui s'opposent a la dissolution, a la destruction des societes durables. C'est pourquoi, lorsqu'une de celles-ci est constituee SOUS une certaine forme determinee par les autres elements, elle agit a son tour sur ces elements. Ceux-ci, en ce sens, doivent aussi etre consideres comme etant en etat de mutuelle dependence avec la societe dont nous parlons. On observe quelque chose de semblable pour les organismes des animaux. Par example, la forme des organes determine le genrede vie; mais celui-ci, a son tour, agit sur les organes ( ... )115 ." Und: "En tout cas, que le nombre des elements que nous considerons soit petit ou grand, nous supposons qu'ils constituent un systeme, que nous appellerons systeme social ( ... ), et nous nous proposons d'en etudier la nature et les proprietes116." Vgl. Mosca, Die Herrschende Klasse, a.a.O., S. 81 ff. Vgl. Holbach, Systeme sociale, Paris 1773. 114 Vgl. Mosca, Die Herrschende Klasse, a.a.O., S. 126 f. 115 Pareto, Traite ... , §§ 2060---2061, S. 1307. 118 Pareto, Traite ... , § 2066, S. 1308. Entsprechend der nominalistischen Wissenschaftshaltung Paretos ist das "System" selber ein explikativer Construct, vgl. Traite, § 119, S. 55. 112
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Auch bei der Bildung eines formalen Systembegriffs, dessen universelle Geltung von der Subsumierbarkeit aller historisch konkreten Gesellschaft unter diesen abhängt, wird deutlich, wie sehr die sozialwissenschaftliehen Theorien Moscas und Paretos den methodologischen Prinzipien der französischen Aufklärung und in ihrem Gefolge der liberalen politischen Ökonomie verpflichtet bleiben. Wie in der liberalen politischen Ökonomie sollen mit dem formalen Systembegriff die gesellschaftlichen Verhältnisse darstellbar und erklärbar werden. Doch besteht zwischen den mechanistischen Systemanalogien Holbachs117 und Smiths auf der einen Seite, und denen Paretos und Moscas auf der anderen eine spezifische Differenz, in der der Verfall des optimistischen Glaubens an die Versöhnung der Gesellschaft mit dem, was Aufklärung und Liberalismus als die Natur des einzelnen Menschen erkannt zu haben glaubten, zum Ausdruck kommt. Der Harrnonismus der Gesellschaft als integriertes System erschien der Aufklärung und dem Liberalismus dadurch gesichert, daß dieses im am bloßen Eigeninteresse orientierten, rational in der Übereinstimmung mit seiner Natur - als die seine prinzipielle Bedürftigkeit und sein Angewiesensein auf seine Mitmenschen auftritt - handelnden Einzelnen ihr Grundelement hat. Bürgerliche Gesellschaft als System funktioniert gleichsam selbstregulativ durch das rationale Verhalten der Einzelnen hindurch und kann, über dieses vermittelt, Allgemeininteresse und Einzelinteresse aussöhnen. In dieser Aussöhnung kommt zugleich die Übereinstimmung der Vernunft des einzelnen Menschen mit der Vernunft der Natur zum Ausdruck: "Les lois, dans la signification la plus etendue, sont les rapports necessaires qui derivent de la nature des choses: ...118." Es ist dies die "Natur der Dinge", die die Übereinstimmung der Ethik mit der Natur des Menschen möglich macht, und zugleich deren Erkenntnis in einer "Naturwissenschaft" ermöglicht118• Der Verfall dieses aufklärerischen Pathos, der bereits noch vor seiner eigentlichen Entfaltung in Frankreich in der englischen Philosophie mit der Destruktion des Naturrechts bei Hume beginnt1 20 , führt nun nicht nur zur unüberbrückbaren Trennung von Theorie und Praxis. Er verändert die Theorie, die damit zur bloß wertfreien "Naturtheorie" von Gesellschaft wird, auch in ihrer inneren Struktur. Der Mensch erscheint 117
1773.
Vgl. Holbach, Systeme social, a.a.O., und La politique naturelle, Paris
118 Charles de Montesquieu, De l'esprit des lois, Paris 1803, Tome 1, Livre 1, Chap. 1, S. 65. 118 Dieser Gedanke ist zunächst noch ganz rationalistisch gefaßt wie im übrigen auch bei Voltaire, vgl. Traite de Metaphysique, in: Oeuvres, Paris 1801/02, Tome XXXI, S. 65 f. 12o Vgl. David Hume, A Treatise on Human Nature, London 1739/40.
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unter ihrem Blickwinkel nun nicht mehr als das nur rational handelnde Grundelement des gesellschaftlichen Systems. "L'homme n'est pas un etre de pure raison, c'est aussi un etre de Sentiment et de foi, et le plus raisonnable ne peut se dispenserde prendre parti, peut-etre meme sans en avoir nettement conscience, au sujet de quelques-uns, au moins, des problE~mes dont la solution depasse les bornes de la science121 ." Wo die Gesellschaftstheorie, wie bei Mosca und Pareto, eine von der liberalen Tradition ausgehende Handlungstheorie bleibt, müssen deshalb an die Stelle des rational handelnden Einzelnen neue Variablen treten, die den Systemzusammenhang, auf den die Gesellschaft als Ganzes reduziert wird, neu begründen. Diese Variablen beschreibt Pareto schließlich als Residuen122, die Manifestationen eines individuellen Verhaltenspotentials sind, und die das aktuelle Handeln des Menschen weitgehend bestimmen. Mit diesem Element wird aber zugleich auch das teleologische Prinzip der utilitaristischen Verhaltenstheorie123 abgebaut. Mit diesem Prinzip war ja seit Helvetius behauptet worden, alles menschliche Verhalten sei rationales Verhalten, weil es gleichsam ausschließlich an der Realisierung von subjektiven Interessen und der Erfüllung individueller Bedürfnisse orientiert sei124• Mit der Einsicht, " ... un tres grand nombre d'actions humaines, meme aujourd'hui chez les peuples civilises, sont accomplies instinctivement, mecaniquement, sous l'empire de l'habitude"125, fällt auch die zweite Prämisse des Utilitarismus aus. Diese bestand darin, daß die je individuellen Bedürfnisse schon durch ihr jeweiliges Zweck-Mittel-Verhältnis, in dem jedes Individuum dem anderen zum Mittel seiner Bedürfnisbefriedigung werden kann, zureichend vergleichbar gemacht seien. Es war ja die Annahme Smiths, daß auf dem atomistischen Markt überhaupt nur solche Mittel auftreten, die nachgefragt werden, und solche Bedürfnisse befriedigt werden können, für die Mittel angeboten werden126. Mit der Aufgabe dieser beiden Grundannahmen, von der die letzte immer schon eine empirisch unzulängliche Verallgemeinerung auf die Integriertheit des gesellschaftlichen Wertund Normensystems darstellte, erscheint das Handeln und Verhalten von Menschen weder ausschließlich an je individuellen Zwecken rational orientiert (es gibt Verhaltensweisen, als internalisierte Verhaltensschemata, die in überhaupt keinen angehbaren objektiven Verhältnissen zu Pareto, Systemes ... , a.a.O., Tome 1, S. 2. Ausführlich darüber Kapitel II/1. m Vgl. ausführlich weiter unten. 124 Vgl. Talcott Parsons, The Structure of Social Action, a.a.O., S. 344 ff. 125 Pareto, Traite ... , § 157, S. 72. 128 Vgl. Adam Smith, Eine Untersuchung ... , a.a.O., passim.
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den Zwecken des Handeins stehen) - noch impliziert das empirisch vorfindliehe Verhalten die Integriertheit des Systems. Damit ist aber genau jener Punkt erreicht, der die Einführung gesellschaftlicher und politischer Macht von Minderheiten logisch notwendig macht, und deren empirische Vorfindlichkeit nun aus dem Mangel an Systemintegriertheit abgeleitet werden kann. Die Einführung gesellschaftlicher und politischer Macht von Minderheiten als die sowohl für die Integration gesellschaftlicher Ordnung wie für deren Infragestellung konstitutive Bedingung, wird in dem Augenblick notwendig, in dem der Glaube an die Möglichkeit der Realisierbarkeit einer vernünftigen Gesellschaft, in der die Interessen der Mitglieder untereinander sowohl als auch mit dem Allgemeininteresse versöhnt sind, zerbricht. Der Zerfallsprozeß dieser konkreten Utopie, den Marx noch dadurch hatte aufheben können, daß er ihre Entfaltung in den Geschichtsprozeß selbst verlegte, wird bereits bei den Schülern Saint-Simons deutlich. Schon bei Comte scheint der Ausgleich zwischen den je besonderen Interessen und dem Allgemeininteresse, zwischen dem Recht und der Freiheit des Einzelnen und den Bedingungen gesellschaftlicher Stabilität, auf die das Allgemeininteresse als Begriff von nun an verengt zu werden droht, nur noch durch die Verinnerlichung gesellschaftlichen Zwangs möglich. Dieser resultiert bei Comte schließlich in der bloßen Anerkennung der Naturgesetzlichkeit gesellschaftlicher Existenz, deren Vergegenständlichung die Eliten leisten: "Car la vraie liberte ne peut consister, sans doute, qu'en une soumission rationelle a la seule preponderance, convenablement constatee, des lois fondamentales de la nature, a l'abri de tout arbitraire commendement personnel127." Bei Pareto und Mosca jedoch erst wird dieser Prozeß endgültig abgeschlossen. Hier wird der Vernunftbegriff endgültig aller Substantialität, die er seit der Aufklärung besessen hatte, entkleidet. "Vernunft" wird auf bloße "Zweckrationalität" reduziert: "Chez certains auteurs, la partie des actions non-logiques disparait entierement, ou plutöt est consideree seulement comme la partie exceptionelle du mal. La logique seul constitue un moyen de progres humain; eile est synonyme de ,bien', de meme que tout ce qui n'est pas logique est synonyme de ,mal'. Ne vous laissez pas induire en erreur par le nom de logique. Cette croyance n'a rien a faire avec la science logico-experimentale: et le culte de la raison peut aller de pair avec un autre culte religieux quelconque, y compris celui des fetiches128." 127 Auguste Comte, Cours de la Philosophie positive, Paris 1830-42, Vol. IV, S.103. 128 Pareto, Traite ... , § 300, S. 173. Diese Kritik bezieht sich auf eine Stelle bei Condorcet, Esquisse d'un tableau historique de progres humain, Paris 1795,
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Die an der Zweckrationalität orientierten Verhaltensweisen sind aber charakterisiert als solche " ... qui sont logiquement unies a leur but, non seulement par rapport au sujet qui accomplit ces operations, mais encore pour ceux qui ont des connaissances plus etendues; c'est-a-dire les actions ayant subjectivement et objectivement le sens explique plus haut. Les autres actions seron dites ,nonlogiques'; ... " 129 • Das Prinzip der Zweckrationalität kann also, was auch Pareto sieht, weder die Struktur der Gesellschaft determinieren, noch kann es das Verhalten und die Orientierung einzelner Mitglieder vollständig festlegen: " ... ; il faut encore indiquer quel est le but que doit atteindre la societe au moyen du raisonnement logico-experimental. N'en deplaise aux humanitaires et aux positivistes, une societe determinee exclusivement par la ,raison' n'existe pas et ne peut exister; et cela, non pas parce que les ,prejuges' des hommes les empechent du suivre les enseignements de la ,raison', mais parce que les donnees du problerne que l'on veut resoudre par le raisonnement logico-experimental font defaut ( ... )1 30." Die in einer Gesellschaft tatsächlich verfolgten Ziele und Zwecke des Verhaltens, die rational weder begründbar noch kritisierbar sind, zwischen denen eine rationale Entscheidung also nicht möglich sein soll, sind für Mosca streng genommen immer nur Ziele und Zwecke von Individuen. In ihrer allgemeinsten Form aber gleichen sie sich in allen Gesellschaften: "Richten wir unseren Blick vielmehr auf die inneren Bewegungen im Schoße jeder Gesellschaft, dann zeigt sich sogleich, daß der Kampf um den Vorrang viel mehr ins Auge fällt als der Kampf ums Dasein. Die Konkurrenz zwischen den Individuen gilt in jeder sozialen Gruppe dem Kampf um die höchsten Stellungen, um Reichtum und Führung und um den Besitz jener Mittel, die einem Menschen die Verfügung über Tätigkeit und Willen vieler anderer Menschen sichert. Die Besiegten, und das ist bei diesem Kampf natürlich die Mehrheit .. . können weniger Bedürfnisse befriedigen als die Sieger131 ." Indem Mosca die individuelle Konkurrenz zum Ausgangspunkt seiner für alle Gesellschaften Geltung beanspruchenden Konzeption macht, geht er zurück auf die Grundkategorie der liberalen Gesellschaftstheorie. Anders als in dieser sind aus seiner Theorie jedoch alle jene zusätzlichen Annahmen eliminiert, ohne die für den Liberalismus weder die Ordnung einer an dem utilitaristischen Konkurrenzprinzip orientierten bürgerlichen Gesellschaft noch der Interessenausgleich zwischen den Mitgliedern dieser S. 264-65. Es ist bezeichnend, daß er den Begriff der Vernunft auf den der Logik reduziert, um dann nachzuweisen, daß er die über den Begriff der Logik hinausgehenden Gehalte des Vernunftbegriffes für metaphysisch halte. 129 Pareto, Traite ... , § 150, S. 67. 130 Pareto, Traite . .. , § 2143, S. 1349. 1s1 Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 36.
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Gesellschaft denkbar war. Denn für diesen führte das am Eigeninteresse orientierte Verhalten der Mitglieder der atomistisch strukturiert gedachten bürgerlichen Gesellschaft nur dann auch gleichzeitig zu einem Maximum der Bedürfnisbefriedigung aller Mitglieder der Gesellschaft und damit zu einem lnteressenausgleich, wenn vor allem das Verhalten streng zweckrational orientiert war, eine auch inhaltliche Äquivalenzbeziehung zwischen den auf dem Markt zu tauschenden Mitteln und Zwecken vorausgesetzt werden konnte und die Konkurrenz selbst nicht durch ein ungleiches Machtgefälle gestört wurde. Weder akzeptiert Mosca die These von der Dominanz durchgängig zweckrationalen Verhaltens: "Denn der Mensch ist ein äußerst komplexes Tier voller Widersprüche, dem es nicht immer auf Logik und Folgerichtigkeit ankommt ..." 132, noch glaubt er ein durch Äquivalenzbeziehungen konsistentes System von Zwecken und Bedürfnissen voraussetzen zu können: "In Wahrheit ist das Interesse eines Menschen dasselbe wie sein persönlicher Geschmack, und jeder versteht unter seinem Interesse etwas anderes133." Aus dieser prinzipiellen Inkompatibilität der in einer Gesellschaft möglichen Interessen, die zu Orientierungsbezügen des Verhaltens werden können, und deren Vermittlungszusammenhang mit objektiven Strukturzuständen der Gesellschaft bei Mosca durch den Hinweis auf ihren privaten Charakter verdeckt zu werden droht, hat für die theoretische Erklärung der Möglichkeit gesellschaftlicher Ordnung zwei folgenreiche Konsequenzen: (1) Es sind durchaus nicht alle gesellschaftlichen Verhaltensweisen im utilitaristischen Verständnis interessenorientiert. Vielmehr resultiert der Systemzusammenhang gesellschaftlicher Ordnung aus gesellschaftlich vermittelten Verhaltensweisen, die als verinnerlichte gesellschaftliche Zwänge angesehen werden müssen: "In einer hochentwickelten Zivilisation werden die moralischen Instinkte und ebenso die egoistischen Instinkte nicht nur feiner, bewußter und vollkommener; sondern bei fortgeschrittener politischer Organisation ist auch die moralische Disziplin selber größer, also egoistische Handlungen werden vom Gewissen gehemmt, und eine größere Anzahl schärfer umschriebener egoistischer Handlungen werden durch die gegenseitige Überwachung der Einzelnen unmöglich gemacht134." Der gesellschaftliche Charakter dieser Zwänge wird bei Mosca jedoch nur allzu leicht zur anthropologischen Eigenschaft des Menschen schlechthin: "Der Leser wird bemerkt haben, daß wir bisher alle Spekulationen über den Ursprung der Moral und der altruistischen Instinkte vermieden haben. Für unseren Zweck genügt die Feststellung, daß sie dem Menschen angeboren und für das soziale Leben unentbehr131
138 134
Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 83--84. Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 102. Mosca, Die Herrschende Klasse, S.lll.
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lieh sind135." Der gesamtgesellschaftliche Systemzusammenhang wird damit zu einem guten Teil durch die Verinnerlichung136 des Wert- und Normensystems geleistet, die die gesellschaftlich erwarteten Verhaltensweisen in gesellschaftlich definierten Situationen zu individuellen Verhaltensdispositionen werden läßt, die sich selbst in diesen typischen Situationen spontan durchsetzen. Institutionell entspricht diesem Prozeß der Verinnerlichung die normensichernde Funktion "sozialer Kontrolle"137, die bei Mosca von diesem Prozeß noch nicht streng geschieden ist: "In Gesellschaften mit alter Kultur und einer Vergangenheit von Jahrhunderten guter politischer Ordnung hat die Unterdrückung, oder, wie manche Kriminalisten es nennen, die ,Hemmung' unmoralischer Impulse die volle Stärke einer tiefsitzenden Gewohnheit erreicht. In langer Arbeit entwickeln solche Gesellschaften Institutionen, durch die der herrschende moralische Sinn instandgesetzt wird, individuelle Unmoral in einer Anzahl öffentlicher und privater Beziehungen zu unterdrücken138." (2) Interessen, die auf die Veränderung des Wert- und Normensystems eines konkreten gesellschaftlichen Gesamtzusammenhanges abzielen, sind immer das Resultat der mangelnden Integriertheit dieses. Zusammenhanges: "Die größere oder geringere moralische Einheit aller sozialen Klassen erklärt die Stärke oder Schwäche politischer Gebilde in bestimmten Augenblickenm." Interessen, die also dem bestehenden Wertund Normensystem, aus welchen Gründen auch immer, widersprechen, haben die Tendenz, sich zu organisieren, und als organisierte Interessen politische Macht zu erobern. Die Institutionen politischer Herrschaft haben daher immer einen Doppelcharakter: Als legitime Herrschaft haben sie wertexplizierende und normensichernde Funktionen, die die us Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 112.
Verinnerlichung wird hier im Anschluß an Parsons gebraucht: .,It has already been made clear that, whatever its systematic form, a cultural pattern may be involved in action either as an object of the actor's situation or it may be internalized to become part of the structure of his personality. Alltypes of cultural patterns may be internalized, but particular importance is tobe attributed to the internalization of value-orientations, some of which become part of the superego structure of the personality and, with corresponding frequency, of institutionalized role-expectations." m .,A mechanism of social control, then, is a motivational process in one or more individual actors which tends to counteract a tendency to deviance from the fulfillment of role-expectations, in hirnself or in one or more alters. It is a reequilibrating mechanism." Talcott Parsons, The Social Systems, a.a.O., S. 206. Zu seiner spezifischen Form kommt der Begriff der .,social control" zuerst bei E. A. Ross, Social Control: A Survey of Foundations of Order, New York 1908. 138 Mosca, Die Herrschende Klasse, S.lll. m Ebenda, S. 96. 138
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Integration der Gesellschaft leisten sollen140. Als gesellschaftliche Institutionen sind sie aber zugleich auch immer Ziel organisierter Interessen, die selbst überhaupt erst aus den Strukturwidersprüchen der Gesellschaft entstehen. Mit der Eroberung der politischen Herrschaft durch solche organisierten Minderheiten suchen diese im Grunde nichts anderes, als ihren eigenen Interessen einen allgemeinen Ausdruck zu verleihen. "In Wirklichkeit ist die Herrschaft einer organisierten, einem einheitlichen Antrieb gehorchenden Minderheit über die unorganisierte Mehrheit unvermeidlich141." Ihre Organisiertheit ist bloß der strukturelle Ausdruck dieses gemeinsamen Interesses. In der Organisation kommen jeweils die Zielfunktionen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen zum Ausdruck. Durch sie suchen diese die gesellschaftliche Ordnung als Medium der Verwirklichung ihres eigenen Interesses zu etablieren. Dies geschieht, indem sie ihr partikulares Interesse und die daraus ableitbare Ordnung mit Hilfe von Zwang als verbindliche "soziale Werte" in der Form eines integrierten Normensystems zu institutionalisieren trachten142. Dieses integrierte N ormensystem, dessen allgemeinste Form von Mosca als Kultur bezeichnet wird 143, enthält zugleich auch den Legitimitätsanspruch sowohl der politischen als auch der gesellschaftlichen Macht dieser Minderheiten. "In allen größeren Staaten von einer gewissen Kulturhöhe rechtfertigt die politische Klasse ihre Macht, ... , nicht einfach durch deren faktischen Besitz, sondern durch gewisse in der betreffenden Gesellschaft allgemein anerkannte Lehren und Glaubenssätze144." Und: "Qualunque classe politica, in qualsiasi modo sia constituita, non confessa mai ch'essa commanda, per la semplice ragione ch'e composta degli elementi ehe sono, o sono stati fino a quel momento storico, i piu atti a governare; ma trova sempre la giustificatione del suo potere in un principio astratto, in una formula ehe noi chiameremo la formula politica: il dire ehe tutti i funzionarii ripetono la propria autorita dal sovrano, il quale poi a sua volta riceve la sua da Dio, e fare uso di una formula politica; l'altra credenza ehe tutti i poteri abbiano base nella volontä popolare e un'altra formula politica145." Stabilität und Integriertheit gesellschaftlicher Ordnungen sowie die Legitimität der Herrschaft von Minderheiten in diesen, hängen davon ab, ob es der jeweils herrschenden Minderheit gelingt, ein konsistentes System von institutionalisierten Zwecken, in dem das ihr eigene Inter140 Diese beiden Funktionen bezeichnet Mosca ganz allgemein als "die Führung der öffentlichen Angelegenheiten", vgl. Die Herrschende Klasse, S. 52. " 1 Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 55. 142 Vgl. Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 127 und S. 55. 143 Vgl. Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 93 ff. 144 Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 68. 145 Mosca, Teorica, a.a.O., S. 52/53.
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esse den Charakter des "letzten Zwecks" der Gesellschaft annehmen muß, verbindlich auch praktisch durchzusetzen. Mit dieser Konzeption muß Mosca notwendig, ohne den Utilitarismus systematisch überwunden zu haben, auf eine voluntaristische Zwangstheorie zurückfallen. Auch Pareto lehnt die Grundannahmen der harmonistischen Gesellschaftskonzeption des Utilitarismus ab. Das wird besonders deutlich in seiner Kritik gegenüber Bentham, dem er vorhält: "Les difficultes que rencontre Bentham, sont principalement les deux suivantes. 1. Il veut que toutes les actions soient logiques, et se place ainsi en dehors de la nf!alite, ou beaucoup d'actions sont au contraire non-logiques. 2. Il veut concilier logiquement des principes logiquement incompatibles, tel que le principe egoiste et le principe altruiste146 ." Dabei bezieht sich das zweite Argument auf den Versuch Benthams, nachzuweisen, daß das allein am Eigeninteresse orientierte Verhalten aller Individuen einer Gesellschaft notwendig auch dem Allgemeininteresse dienlich sei. Für ihn sind ebenfalls die manifesten Interessen, die als Zwecke die Verhaltensweisen der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft orientieren, da sie rational nicht mehr begründbar sind, inkompatibel. "Les utilites des divers individus sont des quantites heterogenes, et parler d'une somme de ces quantites n'a aucun sens; il n'y en a pas: on ne peut l'envisager. Si l'on veut avoir une somme qui soit en rapport avec les utilites des divers individus, il est nesessaire de trouver tout d'abord un moyen de faire dependre ces utilites de quantites homogenes, que l'on pourra ensuite additioner147." Durch die Heterogenität der Interessen verschiedener Individuen oder verschiedener sozialer Gruppen in der Gesellschaft aber muß prinzipiell ein Konflikt entstehen, der bei dem Fehlen eines solchen Bewertungsstandards nicht anders als durch Gewalt entscheidbar ist, da die Realisation bestimmter Zwecke die Realisationschancen anderer verringert oder gar aufhebtl48 • Dies nicht nur, weil die zur Erreichung bestimmter Zwecke verfügbaren Mittel knapp sind, sondern weil gleichzeitig in jeder Gesellschaft, die arbeitsteilig differenziert ist, Verhaltensweisen einzelner Individuen oder Gruppen selbst Mittel zur Realisation von Zwecken anderer Individuen oder Gruppen sein können. Durch diesen Bewertungsmaßstab werden die in einer Gesellschaft vorhandenen knappen Mittel nicht nur bestimmten Zwecken zugeordnet, Pareto, Traite . .. , § 1491, S. 841. Pareto, Traite ... , § 2127, S. 1337 f. 148 Daß die Gewalt letzte Entscheidungsinstanz sein muß, wenn in einer Gesellschaft kein allgemeinverbindlicher Wertmaßstab institutionalisiert ist, ist die logische Folge. " 1
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sondern in ihm sind vor allem auch die Bedingungen verbindlich festgelegt, unter denen der Zugang zu den Mitteln möglich sein soll, nach denen also ihre Verteilung erfolgt: "Hence on this level the problern is not merely one of allocation as such but also of determining of certain of the conditions under which allocation is to take place149 .'' Dieser Bewertungsmaßstab jedoch ist selbst nur einem Ziel angemessen, das der Gesellschaft als Ganzer gemeinsam sein muß. "Il faut encore indiquer quel est le but que doit atteindre la societe au moyen du raisonnement logico-experimentaP50." Da dieser "letzte Zweck" aber mit Mitteln der Rationalität verbindlich nicht auszumachen ist, kann seine Bestimmung nicht anders als durch die Explikation der Zielfunktion einer am Eigeninteresse orientierten Minderheit möglich sein. Wie vorher schon bei Mosca, so zeigt sich ebenfalls bei Pareto, daß auch er in der gesamtgesellschaftlichen Herrschaft jene Institution sieht, durch die ein solcher Standard als konsistentes Wert- und Normensystem verbindlich institutionalisiert wird. Bei der Heterogenität der in einer Gesellschaft tatsächlich vorzufindenden Interessen " ... l'autorite publique doit necessairement comparer les differentes utilites; il n'est pas necessaire de rechercher maintenant d'apres quels criteres. . .. ; mais il va sans dire que, tant bien que mal, et souvent plutöt mal que bien, l'autorite compare toutes les utilites dont elle peut avoir connaissance. En somme, elle accomplit grossierement l'operation que l'economie pure effectue avec rigeur, et, au moyen de certains coefficients, elle rend homogenes des quantites heterogenes" 151 • Unter dem Gesichtspunkt, unter dem der "letzte Zweck" der Gesellschaft als ganzer zum Maßstab eines für alle Gesellschaftsmitglieder verbindlichen Wert- und Normensystems wird, hat die Institution gesamtgesellschaftlicher Herrschaft die Funktion, alle partikularen Interessen in der Weise zu integrieren, daß die aus ihnen resultierenden Verhaltensweisen zugleich der Realisation dieses "allgemeinen Zwecks" dienen. Die Konsequenz davon ist, daß dort, wo partikulare Interessen diesem "allgemeinen Zweck" direkt oder indirekt widersprechen, diese mit den Zwangsmitteln, die der gesamtgesellschaftlichen Herrschaftsinstitution zur Verfügung stehen, unterdrückt werden müssen. "L'autorite publique intervient pour en imposer quelques-unes et en explure d'autres152 ." Die Legitimität oder Illegitimität partikularer Interessen von einzelnen Individuen oder sozialen Gruppen bemißt sich aber wiederum nur an dem "allgemeinen Zweck" der Gesellschaft als Ganzer, Talcott Parsons, The Structure of Social Action, Glencoe, 111. 1949, S. 236. Pareto, Traite ... , § 2143, S. 1349. 15 1 Ebenda, § 2131, S. 1342-1343. m Pareto, Traite ... , § 2131, S. 1342. ue uo
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dessen Allgemeinheit indes schon dadurch illusorisch sein muß, als in ihm ja doch wiederum nur ein bestimmtes partikulares Interesse zum Ausdruck kommt, das sich nur mit der gesellschaftlichen Macht durchzusetzen vermag. So mag Parsons mit Pareto durchaus zu Recht behaupten, die Gesellschaft als eine funktionsfähige, stabile und einheitliche Ordnung sei tatsächlich nur dann möglich, wenn ihr ein integriertes System "allgemeiner" Zielfunktionen unterliege, dessen Geltung durch ein institutionalisiertes konsistentes Wert- und Normensystem gesichert wird, wenn also die "ultimate ends of individual action systems are integrated to form a single common system of ultimate ends which is the culminating element of unity holding the whole structure together" 163• Trotzdem besteht am Ende zwischen beiden eine spezifische Differenz. Parsons betont vor allem die Bedeutung der sozialen Mechanismen "socialization", "internalization" und "social control" für die Stabilität des gesellschaftlichen Wert- und Normensystems als der Voraussetzung der Integriertheit und Funktionsfähigkeit gesellschaftlicher Ordnung. Bei ihm tritt der voluntaristische Aspekt politischen und gesellschaftlichen Machthandelns, welcher zur Institutionalisierung sowohl dieser sozialen Mechanismen als auch der inhaltlichen Bestimmung des Wertund Normensystems führt, in den Hintergrund154• Währenddessen bleiben sich sowohl Pareto als auch Mosca der Bedeutung des voluntaristischen Aspekts politischen und gesellschaftlichen Machthandeins durchaus bewußt. Vielmehr betonen sie diesen gerade, wenn sie ihn bei der Institutionalisierung von Wert- und Normensystemen entsprechend ihres "machttheoretischen" Ansatzes mit dem Streben organisierter Minderheiten und der durch diese explizierten gruppenspezifischen Interessen und ihre Durchsetzung in Verbindung zu bringen suchen. Während bei Parsons vorwiegend einerseits das Individuum auf ein integriertes Handlungssystem, in dem die "need-dispositions" vorab bereits mit den "Erfordernissen" der Gesellschaft integriert sind, und die Gesellschaft selbst auf ein System komplementärer Rollenerwartungen reduziert werden155 , betonen Pareto und Mosca gerade die gesellschaftliche und politische Macht von Minderheiten als das für die Gesellschaft und ihre Ordnung konstitutive Element. "Le pire des gouvernements est, pour un peuple, un moindre mal que l'absence de tout gouvernement. On voit, ä Talcott Parsons, The Structure of Social Action, a.a.O., S. 249. Dies bedeutet freilich nicht, daß er diese überhaupt nicht sieht. Für die Bedeutung von Macht und Gewalt als den Mitteln der Integration vgl. Parsons, Towards a General Theory of Action, a.a.O., S. 220. 155 Vgl. Talcott Parsons, The Social System, London 1952, S. 207-208, 481153 1"
483,250--251,103--104.
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chaque page de l'histoire les hommes se resigner aux plus lourds sacrifices et tolerer les dominations les plus criminelles, pourvu qu'elles leur donnentau moins l'ordre et quelque securite156. " Die Einführung dieses voluntaristischen Elements in die soziologische Theorie als eines für die Stabilität wie die Instabilität von Gesellschaft in gleicher Weise konstitutiven Elements ist bei Mosca und Pareto Ausdruck eines Dilemmas soziologischen Denkens, das zu seinem Hintergrund die zerfallene Utopie einer Gesellschaft hat, in der Allgemeines und Besonderes im konkreten gesellschaftlichen Lebenszusammenhang miteinander versöhnt wären. Es ist Ausdruck eines Dilemmas soziologischen Denkens, das zugleich den Versuch nicht aufgegeben hat, die Faktizität gesellschaftlicher Ordnung wie die Tatsache ihres permanenten Wandels in einer integrierten Theorie zu überdenken. Es handelt sich hier im Grunde bereits um den Versuch, sowohl Probleme gesellschaftlicher Integration als auch Probleme gesellschaftlicher Desintegration, die als Probleme vorgeblich zweier alternativer soziologischer Forschungsansätze gelten157, unter einer sie umgreifenden Theorie zu behandeln. Wenn Dahrendorf rund 50 Jahre später schreibt: "Soweit ich sehen kann, brauchen wir zur Erklärung soziologischer Probleme sowohl das Gleichgewicht- als auch das Konfliktmodell der Gesellschaft; und es mag sein, daß menschliche Gesellschaft in philosophischer Betrachtung stets zwei Gesichter von gleicher Wirklichkeit hat: eines der Stabilität, der Harmonie und des Konsensus, und eines des Wandels, des Konflikts und des Zwanges ... " 158, dann widerspricht er damit nicht nur der Praktikabilität einer solchen Theorie als auch vielmehr der logischen Möglichkeit ihrer Konstruktion. Bei Mosca und Pareto gelingt die Integration nur, weil sie implizit eine in der Theorie indeterminierte Variable einführen, die in der Theorie selbst nicht mehr erklärt werden kann. Mit der Einführung des voluntaristischen Elements wird die Spontaneität des Menschen, seine Welt zu entwerfen159 , umgebogen in ein gesellschaftlich unvermitteltes, eigentlich nicht zu begreifendes Interesse an der Durchsetzung einer gesellschaftlichen Ordnung, in der er seine eigenen, autonom gesetzten und rational nicht zu begründenden Zwecke Pareto, Cours ... , Tome 2, § 670, S. 61. Vgl. den Versuch Dahrendorfs, der strukturell-funktionalen Theorie als eine vor allem die Probleme der Integration behandelnde Theorie eine Konflikt-Theorie gegenüberzustellen: Ralf Dahrendorf, Struktur und Funktion, Talcott Parsans und die Entwicklung der soziologischen Theorie, in: Gesellschaft und Freiheit, Zur soziologischen Analyse der Gegenwart, München 1961, S. 49 ff.; Pfade aus Utopia. Zu einer Neuorientierung der soziologischen Analyse, ebenda, S. 85 ff.; Die Funktionen sozialer Konflikte, ebenda, S. 112 ff.; Elemente einer Theorie des sozialen Konflikts, ebenda, S. 197 ff. 15B Ralf Dahrendorf, Pfade aus Utopia, a.a.O., S. 111. m Vgl. Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte ... , a.a.O., 158
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zu rationalisieren vermöchte. Dieser zunächst nur intellektuell gegebenen Möglichkeit160 steht bei der Durchsetzung in gesellschaftliche Realität die Heterogenität der möglichen Zwecke, die Menschen in Gesellschaft verfolgen können und tatsächlich auch verfolgen, gegenüber. Diese die gesellschaftliche Integration ständig gefährdende Heterogenität der Zwecke ist nur mit der Durchsetzung eines allgemeinen Wert- und Normensystems zu überwinden. Sie muß überwunden werden, wenn Gesellschaft nicht ständig in den Zustand des "bellum omnium contra omnes" zurückfallen soll. Die Durchsetzung eines solchen, die Gesellschaft integrierenden Wert- und Normensystems, ist aber immer nur mit Hilfe der faktischen Macht von Minderheiten, die selbst an deren Durchsetzung interessiert sind, möglich. Auf der anderen Seite ist aber die Infragestellung des Geltungsanspruchs eines bestimmten Wert- und Normensystems ebenso Resultat der faktischen Macht solcher Minderheiten. Diese faktische Macht einzelner Gruppen, Gesellschaft entsprechend den eigenen Interessen normativ zu strukturieren, findet folgerichtig an der Macht und den Interessen anderer Gruppen derselben Gesellschaft ihre Grenzen. "Es gibt auch fast immer irgendeine politische Kraft, die ein unstillbares Verlangen zeigt, alle anderen zu besiegen und zu verschlucken und dadurch das rechtliche Gleichgewicht zu stören. Das gilt von allen politischen Kräften materieller Art wie Reichtum und militärische Macht, und solchen moralischer Art wie den großen religiösen und politischen Strömungen. Jede solche Strömung beansprucht, Wahrheit und Gerechtigkeit allein zu besitzen161 ." Der Usurpation der ganzen Gesellschaft durch eine Minderheit widerstreitet bloß die gleiche Tendenz bei anderen Minderheiten derselben Gesellschaft. Es ist also nicht so sehr die Achtung und gegenseitige Anerkennung, die zu einem Interessenausgleich führt. Toleranz nimmt hier die Gestalt der bloßen Ohnmacht vor der Macht anderer an. "Die Toleranz wächst mit der Kulturhöhe und setzt verschiedene Religionen und politische Strömungen instand, nebeneinander zu leben, die sich gegenseitig beschränken und das Gleichgewicht halten162." Gesellschaft in ihrer konkreten Gestalt ist danach immer das Resultat der in ihr wirkenden Machtverhältnisse. Sie ist in jedem Augenblick eine durch die gesellschaftliche Macht von Minderheiten zusammengehaltene Einheit, deren Integriertheit gleichzeitig jedoch deshalb ständig prekär sein muß, weil sie durch die Veränderung gesellschaftlicher Machtverhältnisse, sowie durch das Entstehen "neuer" Interessen, die mit der ihnen gegebenen faktischen Macht sich durchzusetzen trachten, gesprengt zu werden droht. 110 101 181
Vgl. dazu ausführlich Kapitel II/1. Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 127. Ebenda, S. 126.
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Aber noch in der Gestalt des "Konfliktmodells" bleibt das Beispiel der liberalen Gesellschaft gegenwärtig, der mit dem Sozialdarwinismus Spencers163 eine "plausible" Erklärung für die strukturellen Friktionen und die durch sie vermittelten Interessenkonflikte zur Verfügung stand. Selbst in der abstrakten Gestalt der Theorie Paretos scheint jenes sozialdarwinistische Element durch: "Le lutte pour la vie ou le bien-etre est un ph€momene g€meral pour les etres vivants, et tout ce que nous en savons nous la fait connaitre comme un des facteurs les plus puissants de la conservation et de l'amelioration de la race. 11 est donc extremement peu probable que les hommes puissent s'y soustraire, et surtout que cela puisse leur etre avantageux. Nous ne pouvons rien sur le fond du phenomene, et tous nos efforts ne peuvent aboutir qu'a en modifier legerement certaines formes 164." Denn die Annahme, daß die Realisierung je individueller Interessen unter den Bedingungen der "freien Konkurrenz" - und sei es der um die Macht als der allgemeinsten Form der Mittel zur Realisierung von Interessen- den sozialen Wandel befördert, gleicht jener sozialdarwinistischen These, wonach der Kampf ums Dasein den Fortschritt befördert. "Ainsi on peut dire que, dans un pays, l'evolution s'accomplira dans un sens d'autant plus favorable au bien-etre general, que les differentes classes sociales deploieront toutes d'autant plus d'energie pour defendre leurs droits et sauvegarder leurs interets. Si une de ces classes deserte son poste de combat, non seulement elle marche a sa ruine, mais encore elle fait le mal de toute la nation185." Für dieses sowohl bei Mosca als auch bei Pareto vorzufindende Konfliktmodell müssen deshalb folgerichtig Fragen nach dem Charakter und der Genesis gesellschaftlicher Macht solcher Minderheiten entstehen, sowie auch die Frage nach dem Verhältnis des Wert- und Normensystems einer Gesellschaft zu der in ihr faktisch vorhandenen und in ihr entstehenden Machtverhältnisse. Daß der Machtanspruch von Minderheiten in ihren Interessen nach Sicherung bzw. Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse entsprechend der Intention, mit Mitteln der Gesellschaft ihre eigenen Zwecke zu realisieren, begründet ist, stellt zunächst eine nur abstrakte Einsicht dar. Daß die faktische Macht von Minderheiten aber Ergebnis eines in der Gesellschaft vorzufindenden "Rationalitätsgefälles" ist, verweist nicht nur auf die strukturell vermittelte Ungleichheit, sondern ebenso auf Momente, in denen, über das bloße Konfliktmodell hinausreichend, ein Mindestmaß gesellschaftlicher Integration vorausgesetzt, das sich in der gesellschaftlich vermittelten Identifizierung der "Ohnmächtigen" mit den "Mächtigen" niederschlägt und in der 183 Vgl. Herbert Spencer, Einleitung in das Studium der Sociologie, 2 Bände, Leipzig 1896, und: Die Principien der Sociologie, 4 Bände, Stuttgart o. J. 164 Pareto, Systeme ... , Tome 2, S. 455. m Pareto, Systeme ... , Tome 2, S. 450.
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Anerkennung bestimmter gesellschaftlicher Werte und Normen seinen Ausdruck findet 1ee. Gesellschaft als der Zusammenhang je individueller Verhaltensweisen ist für Mosca sowohl wie für Pareto überhaupt nur möglich, weil sie Elemente des Konflikts, und damit der potentiellen Veränderung, wie Elemente der Integration und der Stabilität enthält. "11 est evident que si le besoin d'uniformite ( ... ) etait assez puissant, chez chaque individu, pour empecher qu'un seul d'entre eux s'ecartät d'une fa~on quelconque des uniformites existant dans la societe ou il vit, celle-ci n'aurait aucune cause interne de dissolution. Mais elle n'aurait pas non plus de cause de changement, soit du cöte d'une augmentation, soit du cöte d'une diminution de l'utilite des individus ou de la societe. Au contraire, si le besoin d'uniformite faisait defaut, la societe ne subsisterait pas, et chaque individu irait pour son propre compte, comme font les grands felins, les oiseaux de proie et d'autres animaux. Les societes qui vivent et qui changent ont donc un etat intermediaire entre ces deux extremes167." Weder wird die Gesellschaft allein durch die gesellschaftliche und politische Macht herrschender Minderheiten zusammengehalten, weder ist also die Faktizität integrierter Verhaltensmuster das ausschließliche Ergebnis der an der Macht sich befindenden Gruppen, noch muß die Gesellschaft bei Konflikten in allen ihren Teilen desintegriert sein. Der Partialität der Konflikte entspricht die Partialität der Integration. Während die Konflikte als Machtkonflikte zwischen konfligierenden Interessen den sozialen Wandel befördern und selbst noch in diesem ihre Funktionalität als Medium der Anpassung der Gesellschaft an "veränderte Umweltbedingungen" interpretiert werden können, bilden die vom Konflikt unberührten Teile der gesellschaftlichen Struktur ihren minimalen Rest an Stabilität, der erhalten bleiben muß, wenn die Gesellschaft im Wandel nicht auseinanderbrechen soll. "Auch in diesem Fall gibt wohl die richtige Mischung zweier entgegengesetzter natürlicher Tendenzen, der erhaltenden und der erneuernden, die besten praktischen Resultate. Mit anderen Worten, ein Staat, ein Volk und eine Kultur können im strengsten Wortsinn unsterblich sein, wenn sie es verstehen, sich dauernd zu wandeln, ohne sich jemals aufzulösen168." Es wird damit deutlich, daß die Interpretationen desintegrativer wie integrativer Prozesse in der Gesellschaft sowie die ambivalenten Funktionen gesellschaftlicher Macht von Minderheiten, sich gegenüber ihren 188 Zum Problem des Rationalitätsgefälles vgl. ausführlich Kap. II/1, zum Problem der ungleichen Verteilung von "Mitteln" vgl. Kap. Il/2. 187 Pareto, Traite ... , § 2171, S. 1382, vgl. auch Cours ... , Tome 2, § 625, S. 30 f., Manuel ... , Tome 1, Kap. 2, § 55, S. 85 f., und Manuel ... , Tome 2, Kap. 7, § 98, S. 423. 188 Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 372.
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historischen Entsprechungen in konkreten Gesellschaften bei beiden Autoren verselbständigt. Die desintegrativen Prozesse in der bürgerlichen Gesellschaft, ja, die Infragestellung der bürgerlichen Gesellschaft durch die sozialistischen Arbeiterbewegungen um die Jahrhundertwende, sind Pareto wie Mosca Anlaß ihres Nachdenkens über Gesellschaft. Was sich an dieser als historisch bedingt ausweist, wird nun in der Systemtheorie Paretos vor allem, aber auch bei Mosca, zu einem universellen Phänomen: Integration und Stabilität, Desintegration und Wandel als Erscheinungsformen gesellschaftlicher Strukturzustände werden zu den "prerequisites" von Gesellschaft als den beiden über die Zeit fortdauernden und einander jeweils ablösenden Formen menschlichen Zusammenlebens überhaupt. Den Zusammenhang zwischen dem "Integrationsmodell" und dem "Konfliktmodell", die die allgemeine soziologische Theorie nach Pareto und Mosca unter sich zu begreifen trachtet, bildet das zwecksetzende und in der Gesellschaft seine Interessen verfolgende Individuum. Die voluntaristische Wendung, die damit soziologische Theorie nimmt, wird aber in dem Augenblick erforderlich, wo diese ein Angerneinheitsniveau erreicht, auf dem das hinter ihr stehende Erkenntnisinteresse gegenüber den konkret-historischen Prozessen gesellschaftlichen Wandels gerade auf die invarianten Strukturen dieses Wandels sich richtet. Überall da, wo Pareto und Mosca bestimmte Gedankengänge liberaler und sozialistischer Autoren in ihr Konfliktmodell aufnehmen, schneiden sie die geschichtsphilosophischen Voraussetzungen, durch die die Bedeutung dieser Gedankengänge bei jenen überhaupt erst festgelegt worden war, ab. Bei der Übernahme liberaler Gedankengänge deuten sie den Utilitarismus in Voluntarismus um. Aus der dort noch historisch unentfalteten Vorstellung der Versöhnung von Einzelinteresse und Allgemeininteresse wird bei ihnen das "Gleichgewicht sozialer Kräfte" 169 oder das "Gleichgewicht zwischen den in der Gesellschaft auftretenden Interessen und den dieser Gesellschaft durch ihre Umwelt vorgegebenen Bedingungen ihrer Existenzfähigkeit" 170• Wo sie die Idee des Klassenkampfes als dem Bewegungselement der Geschichte von Gesellschaft von Saint-Sirnon und Marx übernehmen, deuten sie es zum Moment des zyklischen Rhythmus von Desintegration und Integration von Gesellschaft schlechthin um. Bei Mosca ist dieser Vorgang besonders in seiner Rezeption der Sozialphilosophie Saint-Simons und der Saint-Simonisten bemerkenswert. Dort hebt er den Gedanken SaintSimons hervor, daß "il existe dans chaque societe organisee deux ordres de pouvoir: l'un exerce la direction morale et intellectuelle, l'autre la direction materielle. Ces deux pouvoirs sont exerces par deux minorites Vgl. Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 126 f. Vgl. Pareto, Traite ... , § 2115 ff., S. 1334 ff. Vgl. ausführlich darüber Kap. II/1. 188
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organisees qui forment ensemble la classe dirigeante" 171 • Darin sei die Ansicht verborgen, jede Gesellschaft bedürfe der Organisiertheit einer herrschenden Minderheit. Diese Vorstellung sei aber wenigstens seit Marx wieder in Vergessenheit geraten: "Il est remarquable que, parmi les idees de Saint-Simon, celle qui rencontra immediatement le moins de succes et celle qui laissa le moins de trace parmi les ecrivains des deux generations qui vecurent dans les premiers quatre-vingts ans du XIXe siecle, fut celle qui est relative a l'existence necessaire d'une classe dirigeante et aux qualites que cette classe devait posseder. Il est probable que le long silence qui se fit sur cette idee de Saint-Sirnon s'explique par le fait, qu'a ce sujet, il etait trop en avance sur son temps172." Weder geht er dabei auf den von Saint-Sirnon analysierten Zusammenhang von Herrschaft und Sozialstruktur ein, noch setzt er sich mit der von SaintSirnon behaupteten Geschichtlichkeit dieses Verhältnisses auseinander173. Auch den Gedanken, Geschichte von Gesellschaft könnte ihr Ziel in einer befreiten Gesellschaft haben, in der das Allgemeininteresse mit dem besonderen Interesse versöhnt sei, verwirft er. Daß Saint-Sirnon wie die Saint-Simanisten auch ihre gerechte Gesellschaft als eine hierarchische konzipiert haben, läßt er gelten, daß in ihr "absolute Gerechtigkeit" möglich sein soll, findet er wenigstens verdächtig. "Ils reconnaissaient la necessite d'une hierarchie sociale a la tete de laquelle devaient setrauver ceux qui demontraient leurs capacites de commander. Mais, en meme temps, ils croyaient pouvoir realiser un programme de justice absolue lequel il devrait exister une correspondance exacte entre les Services que l'individu rend a la societe et la recompense qu'il re!;Oit, ainsi que le degre qu'il occupe dans la hierarchie sociale174." Auch Pareta erkennt die Bedeutung der Marxschen Klassenkampftheorie erst an, als er sie von allen geschichtsphilosophischen Implikationen getrennt hat. Seine systemes socialistes, in denen er die frühsozialistischen Theorien wie die von Marx selbst einer kenntnisreichen Analyse unterzieht, können sowohl als eine "Reinigungß des Klassenkonfliktmodells von geschichtsphilosophischen Implikationen wie seine Loslösung aus der Verflochtenheit mit der Marxschen Interpretation der Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft gelten175 • Indem er die bloß abstrakte Struktur der Marxschen Klassenkonflikttheorie übernimmt, also ihre historischökonomischen Dimensionen eliminiert, zerstört er auch deren geschichtsphilosophische Implikationen und damit zugleich die Möglichkeit des Nachdenkens über gesellschaftlichen Fortschritt auf eine befreite Ge111 171 178 174 175
Mosca, Histoire ... , S. 239. Ebenda, S. 241. Vgl. Saint-Simon, Oeuvres ... , a.a.O., Vol. 38, S. 119. Mosca, Histoire . . . , S. 242 f. Ausführlich dazu vgl. Kap. II/2.
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sellschaft hin. " ,Tous les mouvements historiques - disait, en 1848, le Manifeste du parti communiste - ont ete, jusqu'ici, des mouvements de minorites au profit de minorites. Le mouvement proletaire est le mouvement spontane de !'immense majorite au profit de !'immense majorite! Malheureusement, cette vraie revolution, qui doit apporter aux hommes un bonheur sans melange, n'est qu'un decevant mirage, qui jamais ne devient une realite; elle ressemble a l'äge d'or des millenaires; toujours attendue, toujours eile se perd dans les brumes de l'avenir, toujours eile echappe ä. sesfidelesau moment meme ou ils croient la tenir176." Damit ändert sich zugleich auch der Bezugspunkt der soziologischen Theorie selbst. Die weitgehend formale Übereinstimmung der Elitekonzeption Moscas und Paretas mit der Klassenkonflikttheorie von Marx kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß ihnen je verschiedene Erkenntnisahsichten unterliegen. Wenn Pareto den Zwangscharakter von Gesellschaft betonend, hervorhebt, daß das "droit a commence par la force d'individus isolt~s. il se realise maintenant par la force de la collectivite, mais c'est toujours la force ( ... )" 177, und daß es die "force" von Minderheiten in deren eigenem Interesse sei, durch welche "institutions sociales s'etablissent, c'est par la force qu'elles se maintiennent" 17s, dann wird bei aller formalen Übereinstimmung doch auch der inhaltliche Unterschied zwischen beiden Konzeptionen deutlich. Während nämlich Marx die konkreten ökonomischen und politischen Verhältnisse nicht als etwas Statisches betrachtet, und den Zusammenhang zwischen der "ökonomischen" Struktur und der gesellschaftlichen wie politischen Macht als einen sich historisch immer wieder neu konstituierenden Zusammenhang versteht, der sich mit der Veränderung der Formen gesellschaftlicher Reproduktion selbst ändertm, unterlaufen die Theorien Moscas und Paretos gerade die historisch variablen Dimensionen dieses Verhältnisses, von "Sozialstruktur" und gesellschaftlicher wie politischer Macht. Indem sie das Auffinden der "uniformites", der historisch invarianten Strukturen dieses Verhältnisses, zu ihrem Erkenntnisinteresse machen, und also die universelle Geltung allgemeiner Aussagen über Gesellschaft schlechthin intendieren, müssen sie die Begriffe ihrer Theorie selbst, mit denen sie die gesellschaftlichen Verhältnisse zu beschreiben und zu erklären trachten, als unhistarisch und invariant auffassen; wodurch dann freilich auch das, was mit ihnen ausgesagt werden soll, gleichsam als geschichtslos anerkannt werden muß1S0 • "Gerade bei den Theoretikern Pareto, Systemes ... , Tome 1, S. 60 f. Pareto, Systemes .. . , Tome 1, S. 39. 178 Ebenda, S. 40. 178 Vgl. auch Karl Marx, Das Kapital, a.a.O., Band 3, S. 870 ff. 180 Zu den Problemen, die dadurch bei der InterPretation gesellschaftlichen Wandels auftreten, vgl. Kap. II/2. 178 177
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der enthüllenden politischen Soziologie, welche wie Mosca, Pareto und neuerdings Burnham die staatlichen Herrschaftsstrukturen, das politische Handeln und die politischen Ideologien auf die einfachen Formeln des Machtkampfes politischer Klassen, Eliten und Managergruppen bringen wollen, werden die veränderlichen Phänomene der Herrschaft und der Gesellschaft völlig unzureichend erklärt. Ob sie dabei nun auf eine gleichsam natürliche, hierarchische Struktur der Gesellschaft reflektieren, die in der staatlichen Herrschaft nur ihre Krönung bekommt, auf soziologisch-psychologische Gesetze, welche die Machtbildung und die Politik in jeder geschichtlichen Gegenwart eindeutig bestimmen, oder ob sie, wie Burnham, die Kontrolle über die Produktionsmittel mit der politischen Herrschaft gleichsetzen, der Effekt dieser Theorien ist derselbe. Derartig geschlossene Systeme der soziologischen Erkenntnis politischer Phänomene können in der Regel bestenfalls die Wirksamkeit bestimmter einzelner Komponenten in den Prozessen der Machtbildung und der Herrschaftsgestalt begründen. Es kommt jedoch darauf an, die komplexen Zusammenhänge zwischen Herrschaft und Gesellschaft in ihrer historischen Vielfalt zu erkennen181.'' Die grundlegende Schwäche, die diesen unhistarisch konzipierten Theorien und ihrem formalen Gesetzesbegriff zu eigen ist, liegt vor allem darin, daß in ihnen die allgemeine logische Form von der jeweils historisch besonderen Form isoliert ist. Zwar wollte auch Marx einen allgemeinen gesetzlichen Ablauf analysieren:" ... es ist der letzte Endzweck dieses Werkes, das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen" 182. Aber er intendierte dabei durchaus nicht abstrakt unhistarische Gesetze, die ohne Unterschied für alle gesellschaftlichen Produktionsstufen Geltung beanspruchen können. Selbst der Begriff des "gesellschaftlichen Naturgesetzes"183 meint bei ihm keine bloß abstrakte Gesetzlichkeit, unter die sich der ökonomische Lebensprozeß der bürgerlichen Gesellschaft subsumieren ließe. Vielmehr stellt er nur die "historisch-logische" Konkretion eines bestimmten gesellschaftlichen Zustands" dar184. Wenn Marx, wie im übrigen vor ihm schon Regel, in seiner Kritik an der einseitigen Verstandesreflektion, die Unterscheidung zwischen "Erscheinung" und "Wesen" aufrechterhält und mit dieser in seiner Gesellschaftstheorie die "äußere", nur erscheinende Gestalt der Wirklichkeit gesellschaftlicher Verhältnisse von ihrer "inneren", eigentlich "wirklichen" trennt, dann vor allem um der Analyse des Verhältnisses zwischen beiden willen. Denn für ihn ist " ... alle Wissenschaft überflüssig ...", wenn die ErOtto Stammer, Herrschaftsordnung und Gesellschaftsstruktur, a.a.O., S. 9. 181 Kar! Marx, Das Kapital, a.a.O., Band 1, S. 6 f. 18S Vgl. Kar! Marx, Das Kapital, a.a.O., Band 1, S. 5. 1114 Vgl. dazu ausführlich Otto Morf, Das Verhältnis von Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte bei Kar! Marx, Bern 1951, S. 51 ff. 181
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scheinungsform und das Wesen der Dinge zusammenfielen185• Gerade aus der Analyse dieser Spannung zwischen "Erscheinung" und "Wesen" gesellschaftlicher Verhältnisse gewinnt Marx nicht nur Einsichten in den Prozeß ihres Wandels. Indem er mit ihr die "naturhafte Verfestigung" der gesellschaftlichen Verhältnisse als "Schein" erkennt, gelingt es ihm, die gesellschaftskritischen Implikationen seiner Theorie mit gesellschaftsverändernder Praxis zu verbinden. Wenn die soziologische Theorie bei Mosca und Pareto aber gerade auf der Erkenntnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit als bloßer "Erscheinung" besteht, und ihre Insistenz darauf gerade den Bruch zwischen einer einem solchen Erkenntnisideal verpflichteten Theorie und gesellschaftsverändernden Praxis bestätigt188, dann ist das für die Struktur der Theorie selbst folgenreich. Nicht nur entspricht die Intention auf universelle Geltung der in der Theorie formulierbaren Gesetze dem Rückzug aus jener gesellschaftlichen Wirklichkeit, die diese Theorie noch als ein Moment in sich begreift. Vielmehr kann es sein, daß gerade mit der Intention auf eine solche allgemein geltende Erkenntnis gerade die Dimensionen am Gegenstand aus dem Blick geraten, die die Theorie noch erklären will. Es kann also sein, daß eine solche Theorie in bezug auf die Erkenntnis des Gegenstandes, selbst aporetische Konsequenzen zeitigt. Für die Elitekonzeption Paretos und Moscas, in der die Ungleichheit zwischen den Individuen wie die gesellschaftliche und politische Macht von Minderheiten sowohl für die Möglichkeit gesellschaftlicher Ordnung wie für die ihres Wandels zum konstitutiven Faktor erhoben werden, der, unabhängig von den historischen Konkretionen gesellschaftlichrealer Verhältnisse, universell gelten soll, entstehen deshalb einige Fragen von nicht nur theoretischer Relevanz: (1) Ob eine auf die universelle Geltung ihrer Erkenntnis ausgerichtete Theorie den Wandel von Gesellschaft anders in den Griff zu bekommen vermag als durch implizite Annahmen über bestimmte Eigenschaften der in ihr enthaltenen Variablen, die selbst in der Theorie nicht mehr überprüfbar sind. (2) Ob eine Theorie in Ansehung der für sie "relevanten Tatsachen" nicht notwendig über sich hinausgetrieben wird, um am Ende auch wieder auf eine Geschichtsphilosophie - nun nur freilich anderen Inhalts - zurückzufallen. (3) Ob sie diesen Rückfall, der in ihrem eigenen Selbstverständnis ja ein "Rückfall in die Metaphysik" sein müßte, überhaupt noch zu reflektieren vermag.
185 Vgl. Karl Marx, Das Kapital, a.a.O., Band 3, S. 870, vgl. auch ebenda, Band 1, S. 330 f. und Band 3, S. 65 f . und 178 ff. 188 Vgl. die Ausführungen zum Wissenschaftsverständnis weiter oben.
II. Die Gesellschaft als Institution der Macht von Minderheiten 1. Die Bedeutung der Macht in der Theorie der Gesellschaft Ansatzpunkt einer Theorie der Gesellschaft ist sowohl für Mosca als auch für Pareta eine ihrem Valutaristischen Ausgangspunkt entsprechende Theorie sozialen Handelns1 • Für die theoretische Bedeutung des Konzepts gesamtgesellschaftlicher Macht von Minderheiten ist daher wesentlich, daß dessen Bedeutung sich nur im Zusammenhang mit dem als Grundkategorie zu verstehenden Begriff sozialen Handeins erhellen läßt. Mit dem Versuch, die Gesellschaft vom sozialen Handeln her zu begründen, können beide Autoren soziale Strukturen und soziale Institutionen nicht anders als durch die Verhaltensorientierung der gesellschaftlichen Subjekte erfassen. Der die bloße Subjektivität transzendierende objektive Charakter gesellschaftlicher Ordnung kann bei beiden nur begriffen werden in den schon immer verfestigten Mustern individueller Verhaltensweisen2 • Dieser Ansatz setzt allerdings voraus, daß entweder das Motiv solcher Verhaltensorientierung an der Narrnativität gesellschaftlicher Ordnung im subjektiven Glauben an deren "Richtigkeit" oder Legitimität begründet ist, oder aber, daß die Verhaltensweisen selbst gleichsam als bewußtlose Reiz-Reaktionsmechanismen verinnerlicht sind, und als solche ein integriertes Handlungssystem konstituieren, als das die Gesellschaft sich hier darstellt. Offenbar jedoch vermag dieser handlungstheoretische Ansatz des objektiven Drucks gesellschaftlicher Institutionen, mit dem der Einzelne als gegebener, von ihm unabhängiger Macht konfrontiert ist, und durch den ihm die eigenen Verhaltensorientierungen tatsächlich vermittelt sind, nicht habhaft zu werden. Im voraufgehenden Kapitel bereits waren Macht und Herrschaft als die Konsequenz eines auf seine bloße Instrumentalität reduzierten Vernunftsbegriffs erschienen, weil ohne sie die Allgemeinverbindlichkeit und Geltung eines konsistenten Systems allgemeiner Zwecke, als der Voraussetzung der Existenz von Gesellschaft, überhaupt unmöglich zu 1 1
Vgl. T. Parsons, The Structure of Social Action, a.a.O., S. 170 f. Vgl. bes. die Analyse des Begriffs der Residuen bei Pareto.
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II. Die Gesellschaft als Institution der Macht von Minderheiten
sein schien3 • In diesem Kapitel wird sich zeigen, daß der handlungstheoretische Ansatz selbst der Begriffe Macht und Herrschaft bedarf, wenn anders mit ihm die Faktizität gesellschaftlicher Ordnung verständlich werden soll. Dabei jedoch bestimmt sich das Verhältnis von Macht und der durch sie erzwungenen konkreten gesellschaftlichen Ordnung, die selbst ja zugleich deren Legitimationsbasis abzugeben hat, als ein nur äußerliches und formales. Macht und Herrschaft haben hier eher Mittel- als Zielcharakter. Daher müssen sie von vornherein als ein für allemal gegeben begriffen werden. Dies geschieht nun aber nicht im Sinne einer intentionalen oder materialen Bestimmung, sondern rein formal und nur in bezug auf das herrschende Subjekt. Macht und Herrschaft werden nicht als geschichtlich wandelbare Produkte von Gesellschaft verstanden, die gerade auch in ihren materiellen Dimensionen einer kritischen Analyse zu unterziehen wären, sondern bloß als Organon einer formalen Systematik. Durch die damit vollzogene Nivellierung der konkret inhaltlichen Dimensionen erscheinen Macht und Herrschaft in der Geschichte von Gesellschaft als die in konkreten Zuständen der Gesellschaft identischen und damit für die Theorie identifizierbaren Momente. Die im Begriff invarianten Momente, in denen die Problematik der Stabilität gesellschaftschaftlicher Systeme, die in der Geschichte von Gesellschaft inhaltlich immer verschieden gestellt ist, theoretisch identifizierbar wird, ist eben ihre Instrumentalität. Ohne daß beide Autoren etwa eine exakte Definition der Begriffe Macht und Herrschaft versuchten4 , wird die herausragende Bedeutung gerade dieser Dimension doch deutlich. Macht und Herrschaft fungieren gleichsam als undefinierte Grundkategorien, deren Bedeutungsumfang unproblematisch ist, und der daher in der Verwendung der Begriffe jeweils implizit erhalten ist: "Bei Wahlen, wie bei jeder andern sozialen Tätigkeit, zwingen diejenigen, die einen festen Willen und die moralischen, geistigen und materiellen Mittel zu seiner Durchsetzung haben, ihren Willen den anderen auf .. .'' 5, heißt es bei Mosca; und bei Pareto: " ... l'art de gouverner consiste precisement ä savoir se servir de ces Sentiments, et non ä perdre sa peine a vouloir inutilement les detruire, ce qui a souvent pour effet de les renforcer. Celui qui sait se soustraire ä la domination aveugle de ses propres sentiments se trouve en des conditions favorables par se servir de ceux d'autrui a SeS propreS fins" 8 • I
Vgl. I/1.
Dies ist vor allem bei Pareto besonders erstaunlich, da er sonst sehr wohl großen Wert auf die genaue Bestimmung des Bedeutungsgehaltes von Begriffen legt. 5 Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 135. • Pareto, Traite ... , § 1843, S. 1162. 4
1. Die Bedeutung der Macht in der Theorie der Gesellschaft
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Die Instrumentalität der Macht gründet daher in der Möglichkeit, die durch den eigenen Willen gesetzten Zwecke als unmittelbare oder mittelbare Orientierungsmaxime dem Verhalten anderer zu oktroyieren, und damit das Verhalten anderer in der Weise zu strukturieren und festzulegen, daß es in einem zweckrationalen Verständnis als angemessenes Mittel zur Realisation der durch den Willen der jeweiligen Machthaber gesetzten Zwecke fungiert. Es ist diese technische Dimension im Begriff der Macht, die mit der bürgerlichen Sozialphilosophie von MachiavellF bis zu Mosca und Pareto bedeutsam bleibt. Im Prozeß der Entfaltung der bürgerlichen Sozialphilosophie zur Soziologie aber verselbständigt sich diese Bestimmung gegenüber der sich mit Macht durchsetzenden Zwecke, bis sie bei letzteren davon ganz isoliert wird. Machiavellis technische Machtkritik ist nur verständlich im Zusammenhang mit seiner Frage, wie die entstehende italienische bürgerliche Gesellschaft mit Hilfe einer sie nach innen wie nach außen sichernden Macht konkurrenzfähig gemacht werden kann8 • Hobbes Bestimmung der Macht des Menschen als " ... his means to obtain some appearent future good ... "' war nur begreifbar im Zusammenhang mit seiner Auffassung, wonach gerade in der gleichmäßigen Entäußerung der individuellen Macht an den Staatssouverän eine Gesellschaft entsteht, in der die Menschen ihre bloß naturale Existenz und Selbstzerstörung im "Krieg aller gegen alle" überwinden. Erst Mosca und Pareto lösen diesen Zusammenhang vollends auf, indem sie ihn endgültig als bloß formales Zweck-Mittel-Verhältnis bestimmen, bei dem die Mittel gegenüber jeder Zweckbestimmung indifferent bleiben sollen. Die herausragende Bedeutung dieser technisch-instrumentellen Dimension im Begriff der Macht, die jene im Verlauf der Entwicklung der bürgerlichen Sozialphilosophie erhält, geht sicher nicht zufällig zusammen mit der Entwicklung der modernen Naturwissenschaften, die, ausgesprochen oder unausgesprochen, die Beherrschung von Natur als ihrem Gegenstand intendieren10• Mag die Historizität dieser auf Beherrschung der Natur abgestellten Intention naturwissenschaftlichen Denkens selbst durch die objektive Struktur von Gesellschaft vermittelt sein, also bereits eine soziamorphe Vgl. I/1. ' Vgl. Max Horkheimer, Die Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, a.a.O., S. 50 f. 8 Th. Hobbes, Leviathan, Zürich 1936, S. 24. 10 Vgl. Kap. I/1. 1
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II. Die Gesellschaft als Institution der Macht von Minderheiten
Projektion enthalten11 , in der der Begriff der Beherrschbarkeit ursprünglich aus den gesellschaftlichen Verhältnissen selbst abgelesen ist, so ist doch die den naturwissenschaftlichen Theorien analoge Theoriebildung für den Gegenstandsbereich Gesellschaft ein Indiz dafür, daß auch der bürgerlichen Sozialphilosophie die Intention auf die Herrschaft über Gesellschaft immanent ist. Der Macht des Menschen über die Natur entspricht jedenfalls die Macht des Menschen über den Menschen. Es ist deshalb auch nicht bloß Ausdruck einer nominalistischen Konvention, wenn Bertrand Russel noch 1938, Natur und Gesellschaft in gleicher Weise einbeziehend, Macht als " ... the production of intended effects ... " 12 bestimmt. Vielmehr kommt gerade in dieser allgemeinen Definition die Konsequenz einer solchen die Theoriebildung festlegenden und ihre Erkenntnismöglichkeiten strukturierenden Intentionalität zum Ausdruck. Dort wo, wie bei Mosca und Pareto, ein solcher bloß formaler Machtbegriff in der Theorie von Gesellschaft zu zentraler Bedeutung aufrückt, wird ihm die Gesellschaft zu einem Gegenstand, der die gleichen Eigenschaften besitzt wie die Natur, weil dieser Theorie eine Erkenntnisabsicht impliziert ist, für die nur jene Eigenschaften bedeutsam sein können, durch die die Gesellschaft "als Natur" manipuliert werden kann. In einer solchen Theorie kann Gesellschaft stets nur als das erscheinen, was an ihr beherrschbar ist13• "Der Mensch schafft nicht und zerstört nicht die Naturkräfte, aber er kann ihre Wirkungsweise und ihr Zusammenspiel erforschen und ausnutzen. Das geschieht in der Landwirtschaft, in der Schiffahrt und in der Industrie. Auf diese Art hat die moderne Wissenschaft auf allen diesen Gebieten wunderbare Ergebnisse erzielt. Die Methode kann gewiß keine andere sein, wenn es sich um die Sozialwissenschaften handelt, und es ist wirklich auch diese Methode, die bereits wesentliche Resultate in der Volkswirtschaftslehre erzielt hat14 ." Hier ist Moscas Anrufung der Einheit von Wissenschaft und Technik, von Erkennen und Machen allerdings ideologisch, weil er meint, der eigenen Gesellschaft fehle das konkrete, handelnde Subjekt, das sich solcher Theorie bediene15, gleichzeitig jedoch verkennt, daß gerade seine Theorie für jedes beliebige Wollen verfügbar ist. Wenn Pareto Soziologie als Wissenschaft in der Struktur der Naturwissenschaften intendiert16 , gleichzeitig jedoch darauf besteht, sie sollte Vgl. E. Topitsch, Vom Ende der Metaphysik, Wien 1960, Kap. 1. Bertrand Russel, Power, London 1938, S. 35. 1a Vgl. Max Horkheimer/Th. W. Adorno, Die Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1947, S. 2. 14 Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 45. ts Vgl. Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 373. 1s Vgl. Pareto, Traite ... , § 6, S. 4. 11
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1. Die Bedeutung der Macht in der Theorie der Gesellschaft
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ihre Wahrheit nicht an der sozialen Nützlichkeit ihrer Erkenntnisse, sondern vielmehr an der Übereinstimmung mit bloßer Erfahrung haben17, dann übersieht auch er, daß die halbierte Rationalität, die ihrer Logik zugrunde liegt, gerade der entschiedenen Antwort auf die Zweckfrage bedarf, wenn sie diese nicht von den jeweils Herrschenden sich vorgeben lassen will. Nachdem beide jedoch die Frage nach den Zwecken als irrational und metaphysisch denunziert haben18, die Instrumentalität ihrer Theorie und der sie konstituierenden Begriffe aber erhalten wissen wollen, lösen sie den Anspruch auf Wahrheit auf eine fatale Weise ein. Denn in dem Maß, in dem eine solche Theorie allgemein wird, produziert sie selbst, was sie ihrem Verständnis nach nur zu konstatieren vorgibt: Die Ubiquität der Herrschaft des Menschen über den Menschen. Aus dem bloß zweckrationalen Konstruktionsprinzip, das der Bildung der Kategorien unterliegt, folgt der instrumentale Charakter der ganzen Theorie. Mit der Verwerfung rationaler Sinnkritik jedoch muß einer solchen Theorie, die, wie implizit auch immer, auf Technik hin angelegt ist, dort eine Leerstelle entstehen, wo es um die Zweckbestimmung ihrer Technizität geht. Es ist im übrigen kennzeichnend, daß sowohl die politische Theorie als auch die politische Soziologie diese technische Auffassung von der Macht weitgehend erhalten haben, wie sie deutlicher nirgends als in der Webersehen Definition zum Ausdruck kommt. "Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht18." Die Monotonie, mit der die instrumentale Definition in dem Teil der Literatur, die ihr sozialwissenschaftliches Selbstverständnis unabhängig von der marxistischen Tradition im Liberalismus begründet, immer wieder ganz unbefangen in den Vordergrund gerückt wird20 , ganz so, als seien für die Reflektion die Konsequenzen einer solchen Begriffsbestimmung weitgehend unproblematisch, ist erschreckend. Sowohl in einem großen Teil der amerikanischen Sozialtheorie als auch in einem Teil der deutschen Soziologie und der politischen Wissenschaft, dort, wo die Annahme der Ubiquität gesellschaftlicher Macht eine für die theoretischen Aussagen über Gesellschaften konstituierende Annahme bildet, geht die Bestimmung des Begriffs im Grunde über die Webersehe Defi17 Vgl. Pareto, Traite ... , § 6, s. 4.
ta Vgl. I, 1.
M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 28. Vgl. Johannes Chr. Papalekas, Herrschaftsstruktur und Elitenbildung Ein bleibendes Problem der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft, Band 14, 1963, Heft 3, S. 59 ff. 18
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nition nicht hinaus. Macht in Gesellschaft unterscheidet sich von Macht über Natur lediglich dadurch, daß sie" ... a certain kind of human relationship ..." ist21 • Doch ändert sich mit dieser vorgeblich restriktiven Bestimmung gesellschaftlicher Macht als " ... the capacity of an individual or group of individuals, to modify the conduct of other individuals or groups in the manner which he desires ... "22 deren bloß technische Qualität nicht. Die differentia specifica ist eine solche, die nur die Gegenstände, über die Macht intendiert wird, voneinander unterscheidet. Indes haftet dieser Unterscheidung der Charakter des Ideologischen an, weil gerade die Macht, auf die sie intentional bezogen sind, sie einander identisch werden läßt. Es ist überhaupt erstaunlich, daß selbst bei Theoretikern, wie z. B. Charles Merriam28 , Georg Catlin24 und Harold D. Lasswell25 , deren Denken unzweifelhaft in der liberalen Tradition steht, die inneren Widersprüche eines solchen formalen Machtbegriffs nicht eigentlich reflektiert werden. Und wenn schließlich Parsons bestimmt: " . .. in one aspect all possession of facilities is possession of power because it is at least in an implied and contigent sense a control of the actions of others, ... at least in the sense of the ability to count on their non-interference. There is the complete shading off between this negative contingent aspect of power, and the positive aspect. Ego's capacity to influence the actions of others in the interest of attainment of hispositive goal beyond merely counting on their otherwise expected non-interference ... " 26 , dann wird deutlich, wie offenbar mit dem aktiven Sich-zur-Welt-Verhalten die Notwendigkeit, Macht über sie zu intendieren, unausweichlich gegeben zu sein scheint. Der Begriff der Macht erhält so überall seinen instrumentalen Kern, ohne daß dessen für die Theorie aporetischen Konsequenzen reflektiert werden. Diese liegen vor allem darin, daß der zweckrationale Gebrauch von Macht selbst, soll er überhaupt effektiv sein, die Unmündigkeit eines Teils der Mitglieder der Gesellschaft zur Voraussetzung hat. Es ist also keineswegs bloß eine analytische Feststellung ohne alle praktische Konsequenz, die zum Beispiel auch Dahrendorf trifft, wenn er sagt: "Macht und Autorität oder Herrschaft sind also Kategorien, auf Grund deren sich innerhalb sozialer Beziehungssysteme prinzipiell zwei Gruppen von Positionen bzw. Trägern von Positionen unterscheiden 21 C. J . Friedrich, Constitutional Government and Politics, New York 1937, 8.12-14. 11 R. H. Tawney, Equality, New York 1931, S. 230. n C. E. Merriam, New Aspects of Politics, Chicago 1931, 2ed. u G. Catlin, A Study of the Principles of Politics, London 1950. 25 H. D. Lasswell, Politics: Who gets What, When, How?, New York 1936. 11 T. Parsons, The Social System, a.a.O., S. 121.
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lassen - die Mächtigen und die Ohnmächtigen, die Herrschenden und die Beherrschten, die Befehlenden und die Gehorchenden27." Aber nicht die Existenz von Macht und Ohnmacht selbst konstituiert Ungleichheit. Vielmehr bedarf die Funktionsfähigkeit der Macht selbst dieser Ungleichheit, weil diese ihre genetische Basis abzugeben hat. Umgekehrt muß die Macht die Ungleichheit befestigen, wenn sie funktionsfähig bleiben soll. In den Theorien Moscas und Paretos, die die Aufhebbarkeit der Heterogenität individueller Zwecke mit Mitteln der Rationalität grundsätzlich bestreiten, und die daher Gesellschaft als eine integrierte und stabile soziale Ordnung nicht anders als durch ein mit Hilfe von Zwang gesichertes verbindlich geltendes Wert- und Normensystem für möglich halten können, muß die Herrschaft eines Teils der Mitglieder der Gesellschaft über den anderen Teil auf faktischer Ungleichheit beruhen. Der fundamentale Aspekt der die Macht begründenden Ungleichheit in der Gesellschaft ist aber gerade die ungleiche Verteilung der Fähigkeit, jene zweckrationale Haltung einzunehmen, durch die Dinge wie Menschen in gleicher Weise nur vom Standpunkt ihrer Brauchbarkeit als Mittel zur Realisation eigener Zwecke erscheinen, um als verdinglichte Sachen in den Zweck-Mittel-Kalkül einbezogen zu werden. Erst im Gefolge dieser Ungleichheit wird die ungleiche Chance im Zugang zur praktischen Verfügungsgewalt über natürliche Ressourcen wie über Menschen relevant. Denn diese Ungleichheit ist vorab in jeder Gesellschaft wenigstens zum Teil normativ geregelt. Sie setzt damit jene erste voraus, weil in der normativen Regelung des Zugangs zu natürlichen Ressourcen wie zu menschlichen Diensten allgemeine Zweck-Mittel-Bestimmungen eine Rolle spielen, deren Festlegung selbst die zuerst nur technologische Verfügbarkeit voraussetzt. Ungleichheit wird damit zur logischen Voraussetzung des instrumentalen Machtbegriffs. Obwohl beide Autoren den Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Macht an vielen Stellen empirisch zu belegen trachten28, ergibt sich dieser doch aus der Struktur des verwendeten Machtbegriffs selbst. Die logische Stringenz dieses Zusammenhangs aber wird so zu einer Notwendigkeit der gesellschaftlichen Wirklichkeit selbst, hinter die die Theorie nicht mehr zurück kann. Setzt man die Heterogenität individueller Zwecke voraus, und hält man eine gleichmäßige Verteilung jener Zweckrationalität im Verhalten aller Mitglieder einer Gesellschaft für möglich, so wäre Gesellschaft 17 R. Dahrendorf, Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft, Stuttgart 1957, S. 75-76. zs Vgl. Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 83 und Pareto, Traite . . . , § 2145.
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schlechthin nicht denkbar. Weil das an verschiedenen Zwecken orientierte zweckrationale Verhalten einzelner Mitglieder, soweit es zur Realisation der eigenen Zwecke des Verhaltens der anderen jeweils sich bedienen müßte - was ja in diesem Fall definitorisch deren eigene Zweckverfolgung ausschließt - gegenseitig sich neutralisieren müßte. Die Durchsetzung eigener Zwecke wäre am Ende nur noch mit Hilfe physischer Gewalt möglich. Da sowohl Mosca als auch Pareto sehen, daß das für die ihnen bekannten Gesellschaften eben nicht der Normalfall zu sein scheint, müssen sie davon ausgehen, daß es in jeder Gesellschaft Systemzustände gibt, in denen ein Rationalitätsgefälle herrscht. Systemzustände, in denen also für einen bestimmten Teil der Mitglieder der Zusammenhang zwischen den eigenen Zwecken und den Mitteln sowie zwischen ihren objektiven Interessen und der Struktur der gesellschaftlichen Situation nicht durchsichtig ist. Sie müssen voraussetzen, daß das Verhalten dieser Mitglieder eben nicht von der Erkenntnis des objektiven gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs, zu dem es sich sonst in Widerspruch setzen müßte, geleitet wird. "En g€meral, on peut dire, tres en gros, que la classe gouvernante voit mieuxses interets, parce que chez eile ces voiles sont plus epais. On peut dire aussi qu'il en resulte que la classe gouvernante peut tromper la classe gouvernee, et l'amener a servir ses interets, a eile classe gouvernante29." Damit erweist sich jedoch, daß die gesellschaftliche Ordnung für die Theorie nur auf dem Hintergrund dieser Ungleichheit möglich ist. Zugleich aber zeigt sich auch, daß die Stabilität gesellschaftlicher Systemzustände höchst prekär ist und jederzeit in Frage gestellt werden kann, wenn ihre Infragestellung im wesentlichen von der Klarheit des Bewußtseins der Beherrschten abhängt. Mit dieser Konstruktion gewinnen Mosca und Pareto in ihrer formalen Systemtheorie die Möglichkeit einer allgemeinen Interpretation gesellschaftlichen Wandels. Während bei Pareto der Zusammenhang von Ungleichheit, Macht und Systemstabilität bis in die Kategorienbildung seiner Handlungstheorie verfolgt werden kann, begnügt sich Mosca mit deren empirischer Bestätigung30 und zieht aus der Erkenntnis, Ordnung gründe sich überall und zu allen Zeiten auf Ungleichheit und Macht, den politisch folgenreichen Schluß: "Die Ungebildeten müssen verstehen, daß die Propaganda des Unglaubens unter den Gläbigen und unter den Ungebildeten, die ohnehin über die Fragen der Natur und der Gesellschaft sich kein eigenes Urteil bilden können, keinerlei soziale Vorteile hat31 ." 18 30
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Pareto, Traite ... , § 2250, S. 1441. Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 55. Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 212.
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Der Wunsch nach Ordnung und Stabilität in der eigenen italienischen Gesellschaft zu seiner Zeit läßt ihn die Problematik der inhaltlichen Ausgestaltung dieser Ordnung sowie die institutionelle Gestalt des politischen Regimes, das diese sichern soll, als eine sekundäre erscheinen. Weil " ... jede Form sozialer Organisation stets Unterschiede zwischen den Menschen erzeugt ... "32, Ordnung und Ungleichheit also immer nur zusammen gegeben sind, entzieht sich auch seiner Theorie die Möglichkeit, gerade diesen Zusammenhang kritisch zu reflektieren. Das mag auch der Grund dafür gewesen sein, warum er 1922 den politischen Erfolg seiner Lehre, den er in der Formierung der anti-demokratischen Kräfte im Faschismus erblickte, zunächst begrüßt hat: "Heute hat sich die Überzeugung von der Notwendigkeit einer herrschenden Klasse bei allen geschichtlich und politisch Denkenden in Europa durchgesetzt, teils durch die oben zitierten Autoren, aber wohl noch mehr im Gefolge jenes Heranreifenseiner tieferen kollektiven Erfahrung38." Muß nun ein bestimmtes Rationalitätsgefälle als das fundamentale Element der Ungleichheit in jeder Gesellschaft vorausgesetzt werden, wenn ihre innere Ordnung nicht dauernd auf physischem Zwang beruhen soll, dann muß sich Herrschaft in Gesellschaft zugleich auf ein Mindestmaß an Einverständnis der Beherrschten gründen können. Sowohl Mosca als auch Pareta sehen, daß ein Mindestmaß an Einverständnis gegenüber der gesellschaftlichen und politischen Macht von Minderheiten gegeben sein muß, mit dem jene die tatsächlichen Herrschaftsakte als VerwirkHebungen legitimer Entscheidungen auch in ihrem eigenen Interesse zu deuten vermögen. Dieses Einverständnis hat den Raum zu bezeichnen, in dem den Beherrschten eine Identifikation mit den Herrschenden möglich ist: "In allen größeren Staaten von einer gewissen Kulturhöhe rechtfertigt die politische Klasse ihre Macht, ... , nicht einfach durch deren faktischen Besitz, sondern durch gewisse in der betreffenden Gesellschaft allgemein anerkannte Lehren und Glaubenssätze34." Vom Umfang und der inneren Struktur dieses Einverständnisses hängt es ab, ob die faktische Macht der Minderheiten als bloß physische Gewalt Entscheidungen oktroyiert, oder ob diese als administrative Entscheidungen, wie ja eben auch die Sanktionen, die in ihrem Gefolge auftreten, für legitim erachtet werden: " ... on a partout une classe gouvernante peu nombreuse, qui se maintient au pouvoir, en partie par la force, en partie avec le consentement de la classe gouvernee, qui est beaucoup plus nombreuse. Au point de vue du fond, les differences resident principalement dans les proportians de la force et du consenten Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 242. aa Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 273. 34 Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 68. &•
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rnent; au point de vue de la forme, dans les rnanieres dont on fait usage de la force et dont on obtient le consenternent" 86• Ob bestimmte Entscheidungen der im Besitz der faktsieben Macht sich befindenden Minderheiten mithilfe bloß physischen Zwangs gegen den Willen der Beherrschten durchgesetzt werden, oder aber ob sie als legitime Entscheidungen Geltung finden, wobei die in ihrem Gefolge auftretenden Sanktionen in gleicher Weise von den Beherrschten als legitim anerkannt werden, hängt offenbar von der Existenz eines allgerneinen Wertsysterns ab, das Herrschende wie Beherrschte gerneinsam teilen. Gewalt und Herrschaft als die beiden Extreme sozialer Über-Unterordnung aber finden sich kaum in einer Gesellschaft rein und ausschließlich vor. Wie in der bloßen Gewalt noch ein Minimum einer diese begründenden Gemeinsamkeit erhalten bleibt, so bleibt in jeder Herrschaft die Spur der Erinnerung an ein Gewaltverhältnis: " ... si le consenternent etait unanirne, l'usage de la force ne serait pas necessaire. Cet extreme ne s'est jarnais vu. Un autre extreme est represente par quelques cas concrets. C'est celui d'un despote qui, gräce a ses soldats, rnaintient au pouvoir contre une population hostile ... ou bien il s'agit d'un gouvernernent etranger qui rnaintient dans la SUjetion un peuple indocile"88• Herrschaft als legitime Machtausübung, die nach der Definition Webers "die Chance" heißen soll, " ... für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden" 37 ; setzt jedoch schon immer die Existenz eines allgemeinen gesellschaftlichen W ertsysterns voraus, aus dem sowohl die Legitimität inhaltlich "bestimmter" Herrschaftsentscheidungen als auch die Legitimität der Herrschaftsträger selbst ableitbar sind. Herrschaft durch "consenternent" setzt bei Pareto eine fixierbare, normativ geltende Gemeinsamkeit voraus. Diese begreift er als die "uniformite" und "sociabilite" von Werten und allgemeinen Zwecken, die alle Mitglieder einer Gesellschaft teilen, und ohne die keine Gesellschaft auf die Dauer zu existieren vermag. "En general, les societes existent parce que chez la plus grande partie de leurs rnernbres, les sentiments qui correspondent aux residus de la sociabilite (IVe classe) sont vifs et puissants38.'' In ähnlicher Weise argumentiert Mosca, wenn er das, was er die "politische Formel" nennt, als Ausdruck des Legitimitätsprinzips von Herrschaft in Gesellschaft bezeichnet, das nicht nur einfach ein "betrügerisches Wundermittel" sein soll38, " ••• um die Massen gefügig zu rnachen" 40• Denn: "Eine solche Auffassung wäre ein Pareto, Traite ... , § 2244, S. 1438. Pareto, Traite ... , § 2245, S. 1438--39. 87 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 28. 38 Pareto, Traite ... , § 2170, S. 1381. ae Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 68. 40 Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 69. 35
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großer Irrtum. Sie (die politischen Formeln- P. H.) erfüllen ein echtes Bedürfnis der sozialen Natur des Menschen. Das allgemeine Bedürfnis, nicht durch einfache materielle und intellektuelle Überlegenheit, sondern auf Grundlage eines moralischen Prinzips zu regieren und Gehorsam zu finden, hat zweifellos eine reale praktische Bedeutung41 ." Die Basis des Legitimitätsprinzips und dessen allgemeine Geltung liegen bei ihm in einer für alle Mitglieder der Gesellschaft verbindlichen Kultur oder in dem, was in diesem Zusammenhang abstrakter als allgemeines Wertsystem bezeichnet werden kann. Mit dieser Feststellung jedoch entstehen einige Probleme, die als Verhältnis von Macht bzw. Herrschaft und gesellschaftlichem Wertsystem bezeichnet werden können. Zunächst ließe sich fragen, in welcher Weise das Wertsystem einer Gesellschaft, dessen Geltung durch den Zwang der faktischen Macht gesellschaftlicher Minderheiten jeweils garantiert wird, die Legitimität der Herrschaft in dem weiter oben bezeichneten Verständnis überhaupt begründen kann. Inwiefern es zudem möglich ist, daß die durch die faktische Macht garantierte Geltung des gesellschaftlichen Wertsystems nicht nur den Legimitätsglauben der Beherrschten fEstlegt, sondern darüber hinaus die Möglichkeit, Macht als Herrschaft auszuüben, auch inhaltlich strukturiert. Wodurch gleichzeitig die Grenzen festgelegt sind, in denen bestimmte Willensentscheidungen der sich an der Macht befindenden Minderheit die Chance haben, mithilfe der ebenfalls im Wertsystem als legitim definierten Sanktionen durchgesetzt zu werden, und als legitime Herrschaftsentscheidungen von den Beherrschten anerkannt zu werden. Das äußerliche Verhältnis zwischen der Geltung eines allgemeinen Wertsystems und seiner Garantierung durch die Herrschaft einer dazu legitimierten Minderheit läßt sich jedenfalls auf den ersten Blick nur durch folgende Annahmen bestimmen: (1) Die Mitglieder einer Gesellschaft anerkennen das Wertsystem wie die Legitimität der mit ihm und durch es herrschenden Minderheit durch ihren Glauben an deren "Wahrheit". (2) Ihre einzelnen Verhaltensweisen orientieren sie jedoch weniger an der abstrakten Allgemeinheit dieses Wertsystems, als vielmehr an der Macht und den Normensetzungen der herrschenden Minderheit. Wenn aber das gesellschaftliche Wertsystem prinzipiell für die herrschende Minderheit und ihre Herrschaftsentscheidungen legitimierend ist, dann läßt es sich selbst wie auch die konkrete gesellschaftliche Ordnung und ihr Wandel nur die die Analyse gerade dieser herrschenden Minderheiten in den Griff bekommen. Zugleich jedoch ergibt sich aus dieser allgemeinen Bestimmung des systematischen Orts des Konzepts "herrschende Klasse" bzw. "herr41
Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 69.
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sehende Elite" innerhalb der Gesellschaftstheorien Moscas und Paretos, daß in ihnen durchaus verschiedene Systemfunktionen gesellschaftlicher Macht bzw. Herrschaft unentfaltet enthalten sind. Für diese entstehen daher sowohl in bezug auf die sozialstruktureilen Konstitutionsbedingungen42 faktischer Macht als auch in bezug auf den Umfang und die Strukturiertheit legitimer Herrschaftsbefugnisse voneinander zu unterscheidende Problemkomplexe. Im Anschluß an Lockes Definition: "Political power, then, I taketobe aride of making laws with penalties of death, and consequently allless penalties for the regulating and preserving of property, and of employing the force of the community in the execution of such laws, and in the public good ..." 43 lassen sich wenigstens drei Funktionen voneinander unterscheiden: (1) Die ein gesellschaftliches Wertsystem konstituierende Funktion faktischer Macht, (2) die aus dem Wertsystem einer Gesellschaft normentfaltenden Funktionen legitimer Herrschaft, und schließlich (3) die normensichernde Funktion legitimer Herrschaft''· Indem Mosca die Funktion der "politischen Formel" als bloß psychologisches Machtinstrument deutet, das nur deshalb wirksam ist, weil es ein " ... echtes Bedürfnis der sozialen Natur des Menschen" ist, "nicht durch einfache materielle oder intellektuelle Überlegenheit, sondern auf der Grundlage eines moralischen Prinzips zu regieren und Gehorsam zu finden ... " 4~, verlegt er das Verhältnis zwischen Herrschenden und Beherrschten in die Psychologie. Das aber hat nun nicht nur zur Folge, daß die inhaltliche Dimension tatsächlicher Machtausübung gesellschaftlicher Minderheiten in konkreten historischen Gesellschaften in keinem angehbaren Verhältnis zum gesellschaftlichen Wertsystem steht, wodurch sie allein analysiert werden könnte. Vielmehr droht überhaupt der Vermittlungszusammenhang verloren zu gehen, in dem faktische Sozialstruktur, gesellschaftliches Wertsystem und konkrete Machtausübung stehen. In dem Maß jedoch, in dem das Wertsystem als "Kultur" einer Gesellschaft zu einem System von "Ideen und Glaubenssätzen" 48 verengt wird, das Moral und Religion, Kunst und Wissenschaft umfaßt47 , ohne daß deren Vermittlungszusammenhang deutlich wird, in dem diese zur Sozialstruktur und zu den faktisch gesellschaftlichen Abhängigkeiten stehen, muß die Behauptung, auf diesem System ruhe die Existenz der Vgl. II/2. J. Locke, Of Civil Government, New York 1955, S. 2. " Diese Funktionsdifferenzierung hat in ähnlicher Weise Dahrendorf neuerdings herausgestellt. Vgl. R. Dahrendorf, Amba und Amerikaner, in: Europäisches Archiv für Soziologie, Jg. 5, 1964, S. 96 f. u Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 69. 41 Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 71. 41 Vgl. Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 70 ff. und 93 ff. 41
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gesellschaftlichen Ordnung, wie ihre staatliche Organisation, für die Theorie aporetische Konsequenzen haben. Diese liegen vor allem in der theoretischen Interpretation gesellschaftlichen Wandels. Diesen aporetischen Konsequenzen sucht Mosca jedoch dadurch auszuweichen, daß er das Verhältnis zwischen Machtausübung, Wertsystem und Sozialstruktur voluntaristisch aufzulösen trachtet. Die herrschenden oder Herrschaft beanspruchenden Minderheiten werden zu Produzenten der jeweiligen Kultur einer Gesellschaft. "Vom Standpunkt der Forschung aus gesehen liegt die Bedeutung des Begriffs der politischen Klasse darin, daß deren wechselnde Zusammensetzung über die politische Struktur und den Kulturstand eines Volkes entscheidet48. " Mit dieser produzieren sie zugleich die Symbole und die Verhaltensstandards für die Masse der Beherrschten, die dadurch zum bloßen Objekt ihrer Herrschaft werden. Wie mit dem Legitimitätsglauben der Beherrschten eine tatsächliche Grenze der funktionalen Anwendbarkeit von Herrschaft in bezug auf die autonom gesetzten Zwecke der herrschenden Minderheiten entstehen kann, muß unter diesem Blickwinkel zunächst unverständlich bleiben. Wie den herrschenden Minderheiten dann aber überhaupt in den Objekten ihrer Herrschaft Widerstand gegen ihre Beherrschung wie gegen die von ihnen intendierte gesellschaftliche Ordnung erwachsen kann, ist aus den Elementen des Herrschaftskonzepts nicht mehr ableitbar. Bei Pareta tritt dieses Problem in ganz ähnlicher Weise bei dem Versuch auf, die Gesellschaft auch explizit als Handlungssystem theoretisch zu begründen. Es muß deshalb hier ausführlich die Paretianische Handlungstheorie analysiert werden, weil nur dadurch diese Aporie erst deutlich wird. Bei der Bildung seiner Handlungstheorie ist die erste analytische Trennung, die er bezeichnenderweise vornimmt, die zwischen Formen logischen und nicht-logischen Handelns. Parsans Bermerkung jedoch, "logical action is not an element in Pareto's theoretical system . .." 49 , ist unzutreffend. Insofern Paretas Analyse nicht anders ist als die Erweiterung seiner nationalökonomischen Theorie50, liegt sein Hauptinteresse zweifellos nicht auf dem Gebiet zweckrationalen Verhaltens. Da es ihm ja gerade darum geht, jene Parameter zweckrationalen ökonomischen Verhaltens zu bestimmen, die von der ökonomischen Theorie axiomatisch ausgeschlossen sind: die Elemente des nicht-logischen Handelns. Jedoch spielt in seiner Gesellschaftstheorie das zweckrationale Verhalten eine nicht zu übersehende Rolle. Gerade im Zusammenhang mit der 4& Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 54. " T. Parsons, The Structure of Social Action, a.a.O., S. 186. 50 Vgl. G. Eisermann, Pareto als Nationalökonom und Soziologe, a.a.O., passim.
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Funktion der Macht innerhalb des sozialen Systems ist die Zweckrationalität der Machtausübung für das Systemgleichgewicht bedeutsam. Abgesehen davon, daß " ... les actions logiques sont tres nombreuses chez les peuples civilises ..." 5 1, müssen gerade auch viele Handlungen der Macht und Herrschaftsausübung als logisch bzw. zweckrational angesehen werden. "Les actions etudiees par l'economie politique appartiennent, elles aussi, en tres grande partie, a cette classe. On doit y ranger, en outre, un certain nombre d'operation militaires, politiques, juridiques, etc.52." Ausgangspunkt der Unterscheidung ist die von Pareto beschriebene Möglichkeit, soziale Phänomene unter zwei Aspekten zu betrachten: "Tout phenomene social peut etre E'nvisage sous deux aspects, c'est-adire comme il est en realite ou tel qu'il se presente ä l'esprit de certains hommes. Nous appellerons le premier aspect: objectif, le second: subjectif~3.'' Diese Unterscheidung zwischen dem, als was die Dinge "irgendwem" erscheinen und dem, was sie in der "Realität" sind, darf jedoch nicht zu der Annahme verführen, daß ihr explizit eine Erkenntnistheorie zugrunde läge, nach der es die Möglichkeit einer im ontologischen Sinne angemessenen oder objektiven Seinserkenntnis gäbe54• Sie basiert tatsächlich vielmehr auf einem Kriterium, das innerhalb der wissenschaftlichen Theorie über Gesellschaft definiert ist: "Les noms donnes a ces deux classes ne doivent pas nous induire en erreur. En realite, elles sont toutes les deux subjectives; parce que tout connaissance humaine est subjective. Elles se distinguent, non par une difference de nature, mais par une somme plus ou moins grande de connaissances des faits. Nous savons - ou croyons savoir - que les sacrifices ä Poseidon n'ont aucune influence sur la navigationu." Es wird hier deutlich, daß die objektive Betrachtungsweise identisch ist mit der wissenschaftlichen, die nach den Normen und Standards der Paretianischen Wissenschaftslehre vor sich geht. Während die subjektive Betrachtungsweise eine solche ist, mit der der Handelnde die Situationen, in denen er handelt und in denen er mit seinem Handeln bestimmte Zwecke verfolgt, wahrnimmt: " ... the objective point of view is that of the scientific observer, while the subjective isthat of the actor58.'' Logisches Verhalten ist nun aber ein solches, in dem die objektiven Konsequenzen mit den subjektiven Zwecken, die mit einer bestimmten 51
51 53 54
Pareto, Traite ... , § 152, S. 68. Pareto, Traite . .. , § 152, S. 68. Pareto, Traite ... , § 149, S. 66. Vgl. I/1.
ss Pareto, Traite ... , § 149, S. 66. 58 T. Parsons, The Structure of Social Action, a.a.O., S. 187.
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Verhaltensweise intendiert werden, zusammenfallen: "Il a des actions qui sont des moyens appropril~s au but, et qui s'unissent logiquement a ce but. Il en est d'autres auxquelles ce caractere fait defaut. Ces deux classes d'action sont tres differentes, suivant qu'on les considere saus leur aspect objectif ou sous leur aspect subjectif. Sous ce dernier aspect, presque toutes les actions humaines font partie de la premiere classe ... Cela dit une fois pour toutes, nous appellerons ,actions logiques', les operations qui sont logiquement unies a leur but, non seulement par rapport au sujet qui accomplit ces operations, mais encore pour ceux qui ont des connaissances plus etendues; c'est-a-dire les actions ayant subjectivement et objectivement le sens explique plus haut. Les autres actions seront dites ,non-logiques' ...57." Das Kriterium aber ist eine wissenschaftliche Theorie, in der solche technologischen Aussagen über die Angemessenheit oder Unangemessenheit von Verhaltensweisen in Beziehung auf intendierte Zwecke möglich sein sollen58• Logische Handlungen in Paretas Verständnis sind im wesentlichen mit dem zweckrationalen Handeln Webers gleichzusetzen, wenn dieser jenes kennzeichnet als bestimmt " ... durch Erwartungen, des Verhaltens von Gegenständen der Außenwelt und von anderen Menschen und unter Benutzung dieser Erwartungen als ,Bedingungen', oder als ,Mittel' für rational, als Erfolg, erstrebte und abgewogene Zwecke""· Im zweckrationalen Verhalten aber sind die subjektiven Zwecke nichts anderes als Antizipationen fixierbarer Zustände, die der Handelnde zu erreichen trachtet und von denen er glaubt, daß sie Gegenstand seines zielorientierten Verhaltens sind80• Während jedoch die objektiven Folgen bestimmter Handlungsabläufe in der von Pareto angezielten Theorie prognostizierbare Resultate eines in ihr beschreibbaren Verhaltens sind, können umgekehrt in dem tatsächlichen Verhalten subjektive Zwecke unterlegt sein, die rein imaginär sind. Ein solches Verhalten ist dann aber nicht logisch, weil seine objektiven Folgen auf jeden Fall mit dem subjektiven Zweck nicht vergleichbar sind, da letzterer ja definitorisch außerhalb der empirischen Erfahrung liegt. "Le but dont nous parlons ici est un but direct; la consideration d'un but indirect est exclue. Le but objectif est un but reel, rentrant dans le domaine de l'observation et de l'experience, et non un Pareto, Traite ... , § 150, s. 66-67. " Es ist daher audl verständlidl, wenn Paretos Denken über weite Partien seines Werkes diese technische Kritik gegenüber historisch-konkreten Verhaltenssystemen behandelt. se M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 12. 80 Vgl. T. Parsons, The Structure of Social Action, a.a.O., S. 188. 17
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but imaginaire, etranger un but subjectif61 ."
a Ce domaine, et qui pourrait etre au COntraire
Gegenüber der positiven Bestimmung logischen Verhaltens sind die nicht-logischen Verhaltensweisen lediglich negativ bestimmt. Alle Verhaltensweisen, die nicht den expliziten Standards entsprechen, sind danach nicht-logisch82 • Es sind dies nun aber Verhaltensweisen, bei denen sich die objektiven Konsequenzen von den subjektiv intendierten Zwekken unterscheiden, indem ihnen entweder überhaupt kein subjektiv "gemeinter Sinn" 83 unterliegt, oder indem objektive Konsequenzen und subjektiv intendierte Zwecke auseinanderfallen, oder aber indem den subjektiv intendierten Zwecken überhaupt keine objektiven Konsequenzen gegenüberstehen. In der von Pareto vollzogenen Klassifikation der Formen nicht-logischen Verhaltens wird nun jedoch deutlich, wie problematisch die Unterscheidung zwischen logischen und nicht-logischen Verhaltensweisen ist. Abgesehen davon, läßt sie sich nur durchführen, wenn allein die unmittelbaren Konsequenzen und Zwecke eines bestimmten Verhaltens berücksichtigt werden: "Le but dont nous parlons ici est un but direct; la consideration d'un but indirect est exclue ...64." Diese Unterscheidung bedarf allerdings ebenfalls eines Kriteriums, nach dem sich unmittelbare von mittelbaren Konsequenzen unterscheiden ließen. Es ist die Bestimmung der objektiven Konsequenzen selbst, die nach dem Standard nur notwendig aber nicht zureichend definiert ist. Denn die Frage nach den objektiven Konsequenzen bestimmter Verhaltensformen wirft zugleich die Frage nach dem "frame of reference" der Theorie auf. Diese aber hat Pareto nicht explizit beantwortet65 • Die ganze Klassifikation ist also nur haltbar, wenn man unterstellt, daß die Gesellschaft als "soziales System" ihren Bezugsrahmen abzugeben hat66 • Nur innerhalb dieses Bezugsrahmens ließe sich dann auch die Unterscheidung von direkten und indirekten Folgen leisten. Es würde auch nur in diesem Zusammenhang verständlich werden, warum zum Beispiel rein rituelle Verhaltensformen keine direkten objektiven, wohl aber indirekte objektive Folgen haben sollen67 • Nur unter dieser Annahme läßt sich überhaupt die folgende Klassifikation aufrechterhalten: Pareto, Traite ... , § 151, s. 68. Vgl. T. Parsons, The Structure of Social Action, a.a.O., S. 192. 83 Vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 12. " Pareto, Traite ... , § 151, S. 68. 15 Zweifellos hat jedes Verhalten logische Konsequenzen, die Frage ist nur, von welcher Relevanz sie sind. 01 Parsans erwähnt dieses Problem an keiner Stelle seiner Interpretation. 17 Vgl. Pareto, Traite . . . , § 167, s. 79. 81
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Genres et especes
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Les actions ont-elles une fin logique Objectivement
le Classe -
Subjectivement
Actions logiques
Le but objectif est identique au but subjectif Oui
Oui
Ile Classe- Actions non-logiques Le but objectif differe du but subjectif 1er 2d 3e 4e
genre genre genre genre
Non Non Oui Oui
Non Oui Non Oui
Especes du 3e et du 4e genres 3a, 4a ooooooooooooooooooooooooooooooo
3{1, 4{1
0
•••••
0
••
0
•••••••••
0
••••
0
0.
0
•••
Le sujet accepterait le but objectif, s'il le connaissaito Le sujet n'accepterait pas le but objectif, s'il le connaissait080
Die Bedeutung zweckrationaler Orientiertheit des Verhaltens ist nach Pareta überschätzt worden: "Les economistes ont eu le tort de donner trop d'importance aux raisonnements comme motifs determinants des actions humaines69. " Tatsächlich jedoch besitzen die nicht-logischen Verhaltensformen der Unterklassen 2 und 4 einen wesentlichen Einfluß auf den jeweiligen Systemzustand der Gesellschaft: "Le ler et le 3e genres, qui n'ont pas de but subjectif, sont tres peu importants pour la race humaine. Les hommes ont une tendence tres prononcee a donner un vernis logique a leurs actions; celles-ci rentrent donc presque toutes dans le 2e et le 4e genreso Beaucoup d'actions imposees par la politesse ou la coutume pourraient appartenir au ler genre. Mais tres souvent les hommes invoquent un motif quelconque, pour justifier leurs actions; ce qui les fait passerdans le 2e genre70." Menschliches Verhalten fällt deshalb vorwiegend in diese beiden Unterklassen, weil die ihm unterliegenden Motive als solche bezeichnet werden können, die die objektiven Konsequenzen überhaupt nicht oder doch nur vermittelt berühren. So fallen zum Beispiel auch alle Verhaltensweisen, die nur realisiert werden, weil in Gesellschaft die Handelnden positive bzw. negative Sanktionen zu gewärtigen haben, in die Klasse 4, wenn sie objektive Konsequenzen für das gesellschaftliche System haben, sonst in Klasse 271 • ea Pareto, Traite ... , § 151, S o67-68. 08 Pareto, Systemes Band 1, S. 125. 1o Pareto, Traite ... , § 154, So 68. 71 Pareto, Traite ... , § 154, s. 68-69. 0
••
,
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Sieht man sich die Klassifikation unter diesem Gesichtspunkt noch einmal näher an, dann ergibt sich, daß die Klassifikationskriterien im Grunde zwei Dimensionen enthalten. Einmal werden die Verhaltensweisen nach den objektiven Konsequenzen eingestuft, die sie in einem nicht näher bezeichneten Bezug auf die Gesellschaft als System besitzen. Zum anderen werden sie danach beurteilt, ob ihnen ein subjektiv intendierter Zweck unterliegt. Und zum dritten wird das Verhältnis von objektiven Folgen und subjektiven Zwecken für die endgültige Klassifikation bestimmend. Für die Soziologie sind die objektiven Konsequenzen von Verhaltensweisen vor allem bedeutsam. Ihre Bestimmung im Hinblick auf das gesellschaftliche System ist im Grunde die Bestimmung ihres funktionalen, disfunktionalen oder nonfunktionalen Bezugs zum Systemgleichgewicht72. Das Verhältnis zwischen den empirisch nachweisbaren Funktionen einer bestimmten Verhaltensweise und dem ihr unterlegten Zweck ist, wie die Klassifikation zeigt, höchst ambivalent. Abgesehen von der Fülle objektiv konsequenzloser, aber subjektiv sinnvoller Verhaltensweisen haben nun offenbar gerade jene Verhaltensweisen eine besondere Bedeutung, bei denen der subjektive Zweck in latenter Kontradiktion zu ihren objektiven Konsequenzen steht (3 a und 4 {J). Denn gerade diesen kann eine Frustration des Handelnden folgen, die Anlaß zu zweckrationalen Zweck-Mittelanalysen geben kann. Diese selbst wieder können Ausgangspunkt eines auf die Veränderung des gesellschaftlichen Systems ausgerichteten Handeins sein. Für die hier in bezug auf den Funktionswert von Macht und Herrschaft in der Gesellschaftstheorie angestellten Überlegungen ist die Klassifikation des Verhaltens, wie sie Pareto vollzieht, unter zwei Aspekten bedeutsam. Einmal wird sichtbar, daß die Handlungstheorie mit ihrer analytischen Grundunterscheidung von logischen und nicht-logischen Verhaltensweisen überhaupt nur konsistent ist, wenn der Zusammenhang zwischen ihr und der Gesellschaft als einem theoretisch konstruierten Handlungssystem durch explizite Kriterien, nach denen sich die objektive Relevanz einzelner Verhaltensweisen beurteilen ließe, gesichert wird. Zum anderen aber wird deutlich, daß ein mögliches Ungleichgewicht zwischen den objektiven Funktionen bestimmter Verhaltensweisen und den subjektiven Zwecksystemen bestimmter Mitglieder oder Gruppen von Mitgliedern einer Gesellschaft, denen diese Verhaltensweisen in einem nicht näher bezeichneten Verständnis ja angesonnen sind, Kristallisationspunkt eines machtorientierten Verhaltens sein kann, welches auf die Veränderung bestimmter Dimensionen des gesellschaftlich normierten Verhaltenssystems abzielt. Gesellschaft7!
Vgl. T. Parsons, The Social System, a.a.O., S. 21.
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liehe Macht ist auch hier wieder als eine zweckrationale zu deuten, die intentional auf die normierende Gestaltung des Systems gesellschaftlicher Verhaltenszusammenhängen entsprechend dem subjektiven System von Zwecken der an der Macht sich befindenden Minderheit bezogen ist. Aus diesem Grund wird auch verständlich, warum Pareto "Machthandeln" bzw. "Herrschaftshandeln" dort als zweckrational bezeichnet, wo dieses auf die Gestaltung der gesellschaftlichen Handlungszusammenhänge entsprechend der eigenen Zwecke erfolgreich abgestellt ist, während er den wie immer auch motivierten Gehorsam als nicht zweckrational bestimmt. "Pour les executeurs materiels de ces travaux, qui ne font qu'accomplir les ordres de leurs chefs, ce sont des actions de la 2e classe, 4e genre73." Macht bzw. Herrschaft sind also zweckrational insofern als mit ihnen klar fixierbare Zwecke herausgestellt werden, und das Verhalten der Beherrschten in der Weise normiert wird, daß es zur Realisation dieser Zwecke führt. Zur Durchsetzung von Gesetzen als dem Medium der Normierung gesellschaftlicher Verhaltensweisen gehört die Explizitheit der Zwecke, die mit diesen Gesetzen intendiert sind74• Ebenso wie die zweckrationale Wahl der für die Durchsetzung zur Verfügung stehenden Mittel75 • Mittel einer sich an der Macht befindenden Minderheit zur Durchsetzung ihrer eigenen Zwecke und damit zur Beeinflussung der Verhaltensweisen der Beherrschten, bildet ganz allgemein die Möglichkeit, Kontrolle über den Zugang zu gesellschaftlichen Mitteln ausüben zu können, an denen die Beherrschten deshalb ein Interesse nehmen, weil sie diese zur Realisierung ihrer eigenen expliziten Zwecke benötigen. Eine andere Möglichkeit besteht darin, die allgemeine Wertorientierung78 der Beherrschten in bezug auf noch nicht normierte gesellschaftliche Situationen in der Weise zu explizieren, daß der vorgegebene Zweck mit Hilfe dieser durch die Wertexplikationen normierten Verhaltensweisen erreicht wird. Beide Möglichkeiten sieht Pareto: " ... il faut ensuite mettre en pratique cette legislation. On ne peut le faire qu'en agissant sur les interets et sur les sentiments ...77 .·' Wenn Macht aber in diesem Verständnis zweckrational heißt, dann ist unverständlich, warum es keiner herrschenden Minderheit gelingt, die konkrete gesellschaftliche Ordnung in einer Weise zu integrieren, daß sie die Realisation des Systems der durch die Minderheiten gesetzten Zwecke optimal ermöglicht. Die Frage ist, warum Macht notwendig immer auch wieder verfällt. Dies hat für 1a 74 75 70
11
Pareto, Traite ... , § 152, S. 68. Pareto, Traite .. . , § 1863, S. 1178. Vgl. Pareto, Traite ... , § 1864, S. 1178. Vgl. T. Parsons, Toward a General Theory of Action, a.a.O., S. 59. Pareto, Traite ... , § 1864, 5.1178-79.
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II. Die Gesellschaft als Institution der Macht von Minderheiten
Pareto mehrere Gründe. Einmal hängt es von der notwendigen Relativität zweckrationalen Handeins selbst ab, zum anderen aber von der genetischen Struktur dieses Handelns. Die Bestimmung der Zweckrationalität des Handelns, und damit also auch der des machtorientierten Handelns, ist bei Pareto insofern relativ, als er überhaupt nur unmittelbare objektive Konsequenzen und unmittelbare subjektive Zwecke in sie mit einbezieht. Nun hat allerdings jedes Handeln möglicherweise sehr viele objektive Nebenfolgen, die im Handlungsablauf zum ursprünglich intendierten Zweck sich in Widerspruch setzen und diesen unter Umständen neutralisieren können. Auch für machtorientiertes Handeln ist es daher unmöglich, alle Nebenfolgen in den Kalkül miteinzubeziehen: "Les obstacles a l'institution d'une ll~gislation parfaiterneut adapte au but que se propose le legislateur sont de deux genres. D'abord il faut trouver cette legislation. Pour cela il est necessaire de resoudre, non seulement le probh~me particulier que nous venons de nous proposer (§ 1825), mais aussi l'autre, plus general, des effects indirects des mesures prises, soit de la composition des forces sociales78." Jede Machtentscheidung, die sich zur Durchsetzung mit ihr gesetzter Zwecke der Interessen und allgemeinen Wertorientierung der Beherrschten bedient, muß damit rechnen, daß " ... outre les effects desires, pourra facilement en avoir d'autres auxquels on ne vise pas du tout ... " 70 • Lakonisch stellt deshalb Pareto fest, daß alle Macht- oder Herrschaftsentscheidungen in bezug auf die intendierten Zwecke " ... une partie utile et une partie inutile ou nuisible ... " 80 haben. Aber nicht nur, weil der gesamtgesellschaftliche Strukturzusammenhang nicht einmal vom nur technologischen Aspekt den herrschenden Minderheiten vollständig durchsichtig ist, ist ihre Herrschaft ständig vom Verfall bedroht. Dies ist ja dann auch ein Problem, das die Soziologie Paretos sich anheischig macht, zu bewältigen: " . .. illui manque encore les elements scientifiques avec lesquels il pourrait resoudre son probleme. On peut d'ailleurs raisonnablement esperer qu'en progressant la sociologie pourra un jour fournir ces elements81 ." Vielmehr formulieren sich bei verschiedenen Gruppen jeder Gesellschaft verschiedene Zwecksysteme, deren gleichzeitige Realisationen sich materiell ausschließen, weil die Mittelallokationen zur Verwirklichung des einen die des anderen unmöglich machen. Wie das Entstehen dieser Inkonsistenz im gesamtgesellschaftlichen Zwecksystem, das ja nach Pareto Ausgangspunkt von Herrschaftskon78
70 80
81
Pareto, Traite ... , § 1863, S. 1178. Pareto, Traite ... , § 1864, S. 1179. Pareto, Traite ... , § 1865, S. 1179. Pareto, Traite . .. , § 1863, s. 1178.
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flikten sein muß, unter der Annahme eines Mindestmaßes allgemeiner, für alle Mitglieder verbindlicher Wertorientierungen möglich sein soll, wird nur im Rekurs auf die genetischen Dimensionen des Verhaltens sichtbar. Neben der bloß beschreibenden Klassifikation logischer bzw. nichtlogischer Verhaltensformen versucht Pareto nicht nur die Elemente nicht-logischen Verhaltens zu analysieren, sondern sie in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit auch zu erklären. "Les actions logiques sont, au moins dans leur partie principale, le resultat d'un raisonnement; les actions non-logiques proviennent principalement d'un certain etat psychique: Sentiments, subconscience, etc. C'est a la psychologie a s'occuper de cet etat psychique. Dans notre etude, nous partons de cet etat de fait, sans vouloir remonter plus haut82.'' Nicht nur exemplifiziert diese nun nicht einfach nur analytische, sondern eben offenbar auch genetische Unterscheidung zwischen logischem und nicht-logischem Verhalten die Aporie der ganzen Klassifikation. Denn es wird hier sichtbar, daß letztlich auch logisches Verhalten eine nicht-logische oder besser irrationale Basis haben muß. Die Norm der zweckrationalen Orientierung und ihre Praktizierung von Individuen in konkreten gesellschaftlichen Situationen beruht letztlich ebenfalls auf einer bestimmten psychischen Haltung. Hat Zweckrationalität aber seine Basis im Irrationalen, so ist sie als Handlungsmaxime ebenfalls rational nicht mehr zu begründen. Daneben zeigt sich aber auch, daß im theoretischen Konzept psychische Syndrome für den soziologischen Erklärungszusammenhang tendenziell zu "letzten" nicht mehr auflösbaren Elementen gemacht werden. Jedes Verhalten besitzt drei Dimensionen: "Pour les animaux supposons que les actes B, qui sont les seules que nous puissons observer, soient unis a un etat psychique hypothetique A (I). Chez les hommes, cet etat psychique ne se manifeste pas seulement par des actes B, mais aussi par des expressions C, de sentiments, qui se developpent souvent en theories morales, religieuses et autres83." Der "psychische Zustand" gilt als der eigentliche Antrieb sowohl des beobachtbaren, overten Handeins als auch der sprachlichen Äußerungen, die nichts anderes sind als verbal fixierte subjektive Interpretationen des eigenen Handeins wie der sozialen Situationen, in denen dieses Handeln abläuft. In Wahrheit sind also diese Fixierbilder der "Realität" überhaupt nicht Ursachen des aktuellen Verhaltens, sondern ihre bloß linguistische Rationalisierung. "La tendance tres marquee qu'ont les hommes a prendre les actions non-logiques pour des actions logiques, les porte ä croire que B est un effet de la 81
as
Pareto, Traite ... , § 161, S. 76. Pareto, Traite ... , § 162, S. 76-77.
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II. Die Gesellschaft als Institution der Macht von Minderheiten
,cause' C84." Da nun die psychischen Haltungen oder Zustände der Beobachtung nicht direkt zugänglich sind, unternimmt es Pareto, sie über deren verbale Manifestationen zu erschließen. In der Analyse historischen Materials85 zerlegt Pareto die sprachlichen Äußerungen, die im weitesten Sinne als Weltdeutungsschemata bezeichnet werden können, wieder in zwei Elemente: (1) in einen festen konstanten Kern (2) und in seine variablen, historisch sich immer wieder anders darbietenden Formen. Die festen konstanten Kerne dieser verbalen Äußerungen bezeichnet er als "Residuen", deren historisch variierende Gestalten als "Derivationen" und die mit diesen korrespondierenden overten Handlungen als "Derivate" 88• "Les theories (c) oll le sentiment joue une röle, et qui ajoutent quelque chose ä. l'experience, qui sont au delä. de l'experience et qui constituent le 3e genre du § 523, se decomposent de meme en une partie (a}, constituees par la manifestation de certains sentiments, et une partie (b), constituee pardes raisonnements logiques, des sophismes, et en outre par d'autres manüestations de sentiments, employees pour tirer des deductions de (a)87." Es wird sofort klar, daß die Residuen nicht mit den psychischen Antrieben identisch sind, wie vielfach behauptet worden ist88• Sie repräsentieren vielmehr nur einen bestimmten Aspekt dieses psychischen Elements. Sie sind dessen Manifestationen, die in der Form verbaler Propositionen normative Verhaltensweisen darstellen, denen die Handlungsfolgen entsprechen. "Le partie (a) correspond directement ä. des actions non-logiques; elle est l'expression de certains sentiments89.'' Sie bilden also ein " ... principe qui existe dans l'esprit de l'homme ... "90• Die Derivationen dagegen " ... sont les explications, les deductions de ce principe" 91 • Sie sind Ausdruck" ... du besoin de logique qu'a l'homme" 92 • Als verbale Prinzipien je konkreten Verhaltens enthalten die Residuen die Intentionalität des Handelnden auf etwas, was sein soll; also bestimmte Antizipationen von normativ Gewolltem, von festgestellten Zu8• Pareto, Traite ... , § 162, s. 77. ss Vgl. T. Parsons, The Structure of Social Action, a.a.O., S.197. 88 Es sind dies Philosopheme und theologische Interpretationen von der Welt; also die Philosophie mit ihren "lebenspraktischen" Konsequenzen. 87 Pareto, Traite ... , § 803, S. 435-36. 88 So z. B. Franz Borkenau, Pareto, London 1936, pass.; Vilfredo Paretas Soziologie, in: Der Monat; 5. Jg., 1953, S. 493 ff.; Hans-Peter Dreitzel, Elitebegriff und Sozialstruktur, Stuttgart 1962, S. 119 f.; Urs Jaeggi, Die gesellschaftliche Elite, eine Studie zum Problem sozialer Macht, Bern-8tuttgart 1960. 8a Vgl. Pareto, Traite ... , § 798, S. 434. ao Pareto, Traite ... , § 798, S. 434. 91 Pareto, Traite ... , § 798, S. 434. 92 Pareto, Traite ... , § 798, S. 434.
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ständen, unter der Berücksichtigung dessen was ist, in der Struktur, wie es der Handelnde wahrnimmt. Sie beinhalten also auch Zwecke als die subjektiven Elemente des Sich-Verhaltens. Diese Antizipationen als die subjektiv wertenden Momente im konkreten Handlungsablauf aber bergen für den theoretischen Zusammenhang einige Schwierigkeiten. Einmal sind unter dem Begriff Residuum durchaus normative Elemente verschiedener Allgemeinheit und Abstraktheit gefaßt. Neben konkreten Handlungsanweisungen, die bestimmen, daß in bestimmten Situationen ein genau fixiertes Verhalten zu erfolgen habe- Beschreibung konkreter Handlungsabläufe und Bedingungen ihrer Geltung - 93, finden sich auch ganz allgemeine Bestimmungen und Wertungen in bezug auf Gegenstände der Situation wie auf geforderte Handlungsabläufe; also bloß wertende Einstellungen ganz allgemeiner Natur94 • Diese können ihrer Struktur nach das Handeln in konkreten Situationen gar nicht festlegen und sind deshalb explikationsbedürftig. Sie haben die Gestalt einer allgemeinen Wertorientierung, die erst dann für das konkrete Handeln in konkreten Situationen relevant wird, wenn aus ihr eine spezifizierende Norm entfaltet wird, die den Handlungsablauf festlegt, und die bestimmt, in welchen Situationen diese Norm gelten soll. Umgekehrt wird aber bei den den Handlungsablauf spezifizierenden Residuen die Explikation der Situation notwendig, die deren Relevanz für bestimmte konkrete Situationen festlegt; die also bestimmt, wann was "der Fall sein soll" 95• Aus der logischen Struktur des "Residuums" folgt, daß jedes konkrete individuelle Handlungssystem, wie eben auch die Gesamtgesellschaft, wenn sie als umfassendes Handlungssystem begriffen wird, einer Instanz bedarf, die die normative Explikation allgemeiner Wertorientierungen vollzieht. Die Gesellschaft als Ganzes wie der handelnde Einzelne bedürfen also einer Instanz, die die in der einen oder anderen Form diffusen und ambivalenten Intentionalitätendes Handeins in konkreten Situationen spezifiziert, und die damit die Anpassung des Handlungssystems an die Situation und die Fixierung relevanter Zwecke in bezug auf die Situation, in der gehandelt werden soll, leistet. Die Konkretisierung der zunächst bloß diffusen Intentionalität zu Zwecken und die kognitive Strukturierung der Situation in bezug auf diese Zwecke ist selbst aber ein Vorgang, der auf Logik sich nicht reduzieren läßt. Er muß daher die Möglichkeiten der Zweckrationalität transzendieren. Wenn für die Feststellung der empirischen Bedeutung einer allgemeinen Wertorientierung "logische Gründe" sich nicht angeben lassen, wenn also ihre Konkretion in subjektive Zwecke tatsächlich 93 94 95
Vgl. Pareto, Traite ... , § 805 ff., S. 436. Vgl. Pareto, Traite ... , § 807, S. 437. Vgl. T. Parsons, The Structure of Social Action, a.a.O., S. 211.
7 Hübner
II. Die Gesellschaft als Institution der Macht von Minderheiten
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auf bloßer Plausibilität beruhen kann, dann muß der inhaltlichen Deutung dieser allgemeinen Wertorientierung ein Evidenzerlebnis zugrundeliegen, das zur Annahme oder Ablehnung ihrer konkreten Bestimmungen führt. Allgemeine W ertorientierungen sind also nur dann für das Handeln bestimmend, wenn sie solche konkreten Bedeutungen annehmen. Benthams Maxime des größten Glücks der größten Zahl zum Beispiel wäre eine solche allgemeine Wertorientierung. Zu ihrer Konkretion in bestimmten Situationen gehört eine Explikation ihrer Prädikate: Was unter Glück zu verstehen sei, welche Individuen in die Bestimmungen mit eingehen usf. Diese nähere Bestimmung aber folgt bestimmten Interessen und schon formulierten Zwecken in der Weise, daß sie diesen die Chance ihrer Einlösung läßt98 • Die Instanz, die für die Gesamtgesellschaft die inhaltliche Deutung allgemeiner Wertorientierungen und die Adaption des Verhaltens an die konkreten Situationen leistet, sind jene herrschenden Minderheiten, die durch die Herrschaftsentscheidungen diese allgemeinen Wertentscheidungen normativ strukturieren und in situative Handlungsanweisungen umsetzen. Die Gestalt des zu normierenden gesamtgesellschaftlichen Verhaltenszusammenhangs durch die herrschenden Minderheiten hängt aber von der allgemeinen Wertorientierung dieser Minderheiten ab. ,. ,Quelle est la meilleure forme sociale?'; tandis qu'ils resolvent, au contraire, ce problerne subjectif: ,Quelle est la forme qui satisfait mieux mes sentiments?' Naturellement, le reformateur estime que ses sentiments doivent etre ceux de tous les honnetes gens, et que ces sentiments sont, non seulement excellents de leur propre nature, mais aussi tres utiles a la societe97." Die Konkretisierung dieser allgemeinen Wertorientierung in Normen verläuft aber immer im Zusammenhang mit bereits konkretisierten Zwecken und Interessen der herrschenden Minderheiten. "En outre, il faut reellereher s'il existe une certaine proportion plus avantageuse que d'autres a l'utilite sociale, entre la poursuite de buts imaginaires et celle de buts logico-experimentaux98. " Und: ,.Cela parce que le but des doctrines est presque toujours de persuader l'individu de tendre a une fin qui proeure l'utilite d'autrui ou de la societe99. " Ob dieses auf die normative Strukturierung entsprechend der eigenen Zwecke abgestellte machtorientierte Handeln der herrschenden Minderheit erfolgreich ist, wird jedoch auch bestimmt von den allgemeinen Werthaltungen der Beherrschten wie von deren eigenen expliziten realen Interessen und Zwecken. Gelingt es einer herrschenden Minderheit nicht, 98 97
98 99
Vgl. Pareto, Traite ... , § 1490, S. 840. Pareto, Traite ... , § 2145, S. 1350. Pareto, Traite ... , § 1882, S. 1190. Pareto, Traite ... , § 1883, S. 1192-93.
1. Die Bedeutung der Macht in der Theorie der Gesellschaft
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die Normen, die das Verhalten der Beherrschten orientieren sollen, diesen als identische Ableitungen aus deren eigenem Wertsystem darzustellen, oder implizieren diese Verhaltensanweisungen in der Konsequenz ihrer realen Umsetzung in Handeln den Widerspruch zum expliziten Zwecksystem der Beherrschten, dann entsteht ein Konflikt. Die Residuen können also durchaus nicht als Triebe interpretiert werden. Solche bis in die Biologie des Handelnden verinnerlichten mechanischen Handlungsabläufe hat Pareto in seiner Typologie der nicht-logischen Handlungsformen in die Klasse 3 eingestuft. Für diese ist ja charakteristisch, daß sie zwar objektive Folgen haben, ihnen aber keinerlei subjektiver Sinn unterliegt. Für die Residuen als den verbalisierbaren Manifestationen bestimmter psychischer Haltungen ist aber bezeichnend, daß sie den aktuellen Handlungsfolgen einen subjektiven Sinn unterlegen. Die Residuen sind also nichts anderes als bestimmte verbale Manifestationen von latenten Verhaltenssyndromen. Nur wenn man von einer solchen Deutung ausgeht, bekommt der Begriff in bezugauf seine theoretische Funktion, soziale Phänomene - und das sind eben nicht nur Handlungen - zu erklären, überhaupt einen Sinn. Für Pareto geht es nicht nur um ein Modell der Formen und Motivationen individuellen Verhaltens, sondern letztlich um eine Theorie von Gesellschaft. In dieser nimmt der Begriff des Residuums aber eine zentrale Stellung ein: "Celle-ci soit s'occuper, au contraire, du residu qu'on rencontre en nombre de phenomenes sociaux, et qui contribue ä. les expliquer100." In der Handlungstheorie ist der Begriff eine bloß beschreibende Kategorie. Für die Gesellschaftstheorie Paretos hingegen besitzt er als erklärende Kategorie die theoretische Funktion, bestimmte Systemzustände der Gesellschaft zu erklären101 . In der Handlungstheorie Paretos bezeichnet der Begriff eine Dimension sozialen Verhaltens. Er beschreibt die verbalen Manifestationen psychischer Zustände, die mit aktualisierten Verhaltensformen korrespondieren. Wenn sich die Residuen in der Tat als verbale Manifestationen bestimmter latenter Verhaltenssyndrome bezeichnen lassen, deren ursächliche Bestimmung durch andere soziale Faktoren Pareto nicht ausschließt102, dann ergeben sich unmittelbar zwei Einsichten in die theoretische Funktion der Residuen innerhalb der Gesellschaftstheorie. (1) Die verschiedenen Verhaltenssyndrome, aus denen ja das Handeln in getoo Pareto, Traite .. . , § 943, S. 506. 101 Pareto, Traite . . . , § 870, S. 459. 1o2 Vgl. Pareto, Traite ... , § 2206, S. 1411. 7•
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II. Die Gesellschaft als Institution der Macht von Minderheiten
seilschaftlieh objektiven Situationen folgen soll, müssen in irgendeiner Weise auf diese objektiven Situationen bezogen sein. Das heißt aber, die Orientierung103, die die Zielfunktionen des in einer Situation Handelnden und die Situationsdefinition enthält, muß genetisch der Realisation bestimmter Handlungsfolgen vorausgehen. Im Begriff des Residuums aber sind diese das Orientierungssystem konstituierenden Elemente ebenso enthalten, wie der Handlungsablauf selbst. Die außerordentliche Komplexität des Begriffs enthält damit zugleich unentfaltet das Verhältnis zwischen den durch die objektive gesellschaftliche Struktur determinierten Situation und des durch eben diese Struktur vermittelten sozialen Verhaltens. Dadurch aber entsteht für Pareto das Problem der Vermitteltheit sozialen Verhaltens überhaupt nicht. Zwar sieht er durchaus, daß zum Beispiel die verschiedene Verteilung sozialer Verhaltenssyndrome in den einzelnen sozialen Strata erklärungsbedürftig wäre: "Beaucoup d'observations ont ete faites en tout temps, au sujetdes commer~ants, des militaires, des magistrats, etc., et dans l'ensemble on admet que les sentiments varient suivant Je genre d'occupation. De cette fa~on, la theorie dite du materialisme economique pourrait se confondre avec la theorie des residus, si l'on remarque que ceux-ci dependent de l'etat economique. Cela serait certainement vrai; mais l'erreur consiste a vouloir separer l'etat economique, des autres phenomimes sociaux avec lesquels il est au contraire en rapport de dependence mutuelle, et en outre a substituer un unique rapport de cause a effet aux nombreux rapports analogues qui s'entrelacent104 . " Doch diese Einsicht wird bei der Analyse der Funktionen der Macht von Minderheiten innerhalb seiner Gesellschaftstheorie nicht berücksichtigt. Weil Pareto an die Stelle eines allseitig determinierten Systemmodells, in dem sehr wohl Fragen nach den Ursachen bestimmter Phänomene beantwortet werden könnten, bloß eine reduktionistische Tautologie formuliert, muß die genetische Erklärung des Zustandekoromens bestimmter latenter Verhaltensyndrome, ebenso wie die ihrer bloß verbalen Manifestationen unerklärt bleiben. Der Hinweis auf die Interdependenz sozialer Tatsachen105 verhindert die Analyse der strukturellen Ursachen der Verhaltenssyndrome wohl, nicht aber die Reduktion der Struktur von Gesellschaft auf diese. Aus dem Modell eines mehrdimensionalen Wirkungssystems, das Pareto selbst expliziert: "Nous dirons donc que: (I); (a) (residus) agit sur (b) (interets) (c) (derivations), (d) (heterogenite et circulation sociale) - (II); (b) agit sur (a), (c), (d) - (III); (c) agit sur 103 Unter Orientierungen verstehen wir ganz allgemein die Erfassung der Situation und die Einrichtung bestimmter Handlungsabläufe für bestimmte Situationen, also nicht bloß rationale Orientierung. 104 Pareto, Traite ... , § 1727, S. 1071. tos Pareto, Traite ... , § 1731, S. 1073.
1. Die Bedeutung der Macht in der Theorie der Gesellschaft
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(a), (b), (d) - (IV); (d) agit sur (a), (b), (c)" 108, wird im Grunde nur die erste Wirkungskette im Erklärungszusammenhang des Verhältnisses zwischen der Zusammensetzung der sich an der Macht befindenden Elite und dem Systemzustand der Gesellschaft erörtert. Denn: "Enfin, c'est cela aussi qui assure la continuite de l'histoire des societes humaines, car precisement la categorie (a) varie peu ou lentementl07 ." Damit aber fällt der Vorwurf, den Pareto den "Adepten des historischen Materialismus" macht, auf ihn selbst zurück. "L'importance de la combinaison (II) fut aper~ue par les adeptes de ,materialisme historique', qui, d 'ailleurs, tembrerent dans l'erreur de prendre la partie pour le tout, et de negliger les autres combinaisons108." Nur ist die Reduktion des gesellschaftlichen Systems auf Residuen und die hinter ihnen stehenden latenten Verhaltenssyndrome eine Reduktion auf die Psychologie, während die des Marxismus vorgeblich eine auf Ökonomie sein soll. Dadurch, daß am Ende doch psychische Phänomene zur Erklärung gesellschaftlicher Systemzustände dienen sollen, wird der Vermittlungszusammenhang zwischen diesen und der objektiven Struktur von Gesellschaft abgeschnitten. Die Erklärung gesellschaftlicher Systemzustände aus psychischen Phänomenen zerstört den theoretischen Erklärungszusammenhang aber genau an einer Stelle, von wo aus für die gesamte Gesellschaftstheorie nur noch voluntaristische Interpretationen möglich sind. Die jeweils in einer Gesellschaft herrschenden oder aber Herrschaft beanspruchenden Minderheiten, die die Konkretion der Residuen in aktuelles Handeln tendenziell für die Gesamtgesellschaft und ihre Teilbereiche leisten, sind Ausdruck eines Dilemmas, das durch die Ablehnung eines allseitig determinierten geschlossenen Systems entsteht. Zwar entgeht Pareto so einer positivistischen, antiintellektuellen Interpretation von Gesellschaft, aber nur, um letztlich einer irrational-aktivistischen zu erliegen. Infolge der Komplexität des Begriffs und der ihm zuerkannten theoretischen Funktionen sieht sich Pareto veranlaßt, einen möglichst allgemeinen und erschöpfenden Katalog der verbalen Manifestationen der Verhaltenssyndrome aufzustellen. Dieser soll ja zur Erklärung jeweils bestimmter Systemzustände dienen. Da aber sowohl das Problem der Bildung der Residuen als auch das Verhältnis ihrer Aktualisierung in bestimmten, in der Gesellschaft auftretenden Situationen zu eben der Objektivität dieser Situationen gleichsam uninterpretiert bleibt, muß Pareto letztlich doch von der Annahme ausgehen, daß alle Residuentypen wenigstens potentiell bei den Mitgliedern der Gesellschaft angelegt sind, und nur ihre Manifestationen jeweils zu verschiedenen Zeit108
107 108
Pareto, Traite ... , § 2206, s. 1411. Pareto, Traite . .. , § 2206, S. 1411. Pareto, Traite ... , § 994, S. 534.
102
li. Die Gesellschaft als Institution der Macht von Minderheiten
punkten in den einzelnen Strata der Gesellschaft wirksam werden, deren Struktur sie damit zugleich festlegen. Hier aber zeigt sich eine Schwierigkeit, die bei der Behandlung des Wechsels von Systemzuständen offenkundig wird, und die die Fruchtbarkeit des ganzen Elitetheorems für den sozialen Wandel von Gesellschaft belastet. Die Verhaltensweisen, die nichts anderes sind als die Realisationen bestimmter Verhaltenssyndrome, sind immer auf gesellschaftliche Situationen bezogen, in denen sie auftreten. Sie haben sowohl für die Gesellschaft als System wie auch für den Handelnden bestimmte Konsequenzen. Da das Handeln für den Handelnden in gesellschaftlichen Situationen Medium der Realisierung bestimmter Zielfunktionen sein kann, kann es entweder angemessen oder unangemessen sein. Das heißt aber, es kann im bezugauf die objektive gesellschaftliche Situation konsistent sein, dann wird die Zielfunktion realisiert, oder aber inkonsistent, dann wird die Zielfunktion verfehlt. Da das Handeln des Handelnden aber gleichzeitig Konsequenzen für die Struktur der Gesellschaft hat, kann es für diese Struktur entweder funktional oder disfunktional sein. Es entsteht nun das Problem, wie sich sowohl die individuellen wie auch die gesellschaftlich strukturellen Konsequenzen einer bestimmten Verhaltensweise überhaupt ändern können. Dies ist eine Frage, von deren Beantwortung die Fruchtbarkeit einer jeden Theorie des sozialen Wandels abhängt. Da in dem komplexen Begriff des Residuums das Verhältnis zwischen der Aktualisierung eines Handeins und der strukturellen Bedingtheit der Situation, in der gehandelt wird, in einer nicht mehr explizierten Weise einfach vorausgesetzt ist, kann Pareto die Frage explizit nicht stellen. Der gesellschaftliche Wandel ist dann immer nur auf eine Veränderung in der Residuenzusammensetzung der einzelnen Strata zurückzuführen. Ganz allgemein also auf das Verhältnis der Residuenzusammensetzung von Herrschenden und Beherrschten. Die Klassifikation der Residuen umfaßt sechs Klassen mit einer Fülle von Unterklassen: 1. Instinct des combinaisons 2. Persistance des agregats 3. Besoin de manifester des sentiments par des actes exterieurs 4. Residus en rapport avec la sociabilite 5. Integrite de l'individu et de ses dependances 6. Residus sexueJ109. toG
Pareto, Traite ... , § 888, S. 466-68.
1.
Die Bedeutung der Macht in der Theorie der Gesellschaft
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Das Residuum der Kombinationen ist Ausdruck für ein Verhaltenssyndrom, das sich in spekulativ orientierten Handlungen äußert, ständig neue Kombinationen von Zweck-Mittel-Relationen versucht, neue Verknüpfungen von Erfahrungselementen zu Derivationssystemen konstituiert110. Dieses Residuum ist vor allem beim zivilisatorischen Fortschritt einer Gesellschaft wirksam. "Cette classe est constituee par les residus correspondent a cet instinct, qui est puissant dans l'espece humaine, et qui a probablement ete et demeure une cause importante de la civilisation111." Das hinter diesem Residuum stehende Verhaltenssyndrom erweist sich für gegebene soziale Systeme entweder disfunktional, wenn es neue Situationsdefinitionen in einem an sich stabilen Ordnungssystem hervorbringt, oder funktional, wenn es in einem sich bereits im Wandel befindenden Ordnungssystem Kombinationen des Verhaltens entdeckt, die die Anpassung des Systems an die Umwelt ermöglichen. Denn das Verhaltenssyndrom der " ... combinaisons est parmi les plus grandes forces sociales qui determinent l'equilibre" 112. Das Residuum der Persistenz bezeichnet die verbalen Manifestationen eines Verhaltenssyndroms, das bestimmte, bestehende Kombinationen als soziale Ordnungssysteme aufrechterhält, das also für die Erhaltung stabiler sozialer Beziehungssysteme konstitutiv ist: "Mais il y a une quatrieme hypothese, qui explique beaucoup mieux les faits connus, et qui consiste a envisager ces collectivites comme des formations naturelles, constituees par un noyau qui est generalement la famille avec divers appendices. Ces collectivites, par leur permanence, font naitre ou renforcent certains sentiments qui, a leur tour, les rendent plus solides, plus resistantes et plus durables113." Typische soziale Gebilde sind für dieses Verhaltenssyndrom Familienassoziationen mit bestimmtem Religionstyp und organisierte Klassen, Stände oder Kasten mit einer einheitlichen Kultur114. Das Residuum der Soziabilität bezeichnet ein Verhaltenssyndrom, das sich in sozialen Gleichförmigkeiten ausdrückt und diese entweder als Anpassungsverhalten (Nachahmung) für sich oder als soziale Kontrolle für andere realisiert. In diese Klasse gehört auch das Über- und Unterordnungsverhaltenus. Das Residuum der Integrität des Individuums und seiner Beziehungen bezeichnet ein Verhaltenssyndrom, das innerhalb eines sozialen Gebildes 110
111 112 113 114 115
Pareto, Traite ... , § 889, S. 468. Pareto, Traite ... , § 889, S. 468. Pareto, Traite ... , § 896, S. 472. Pareto, Traite ... , § 1022, S. 548. Vgl. Pareto, Traite ... , § 1113, s. 589. Vgl. Pareto, Traite ... , § 1208, S. 649.
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II. Die Gesellschaft als Institution der Macht von Minderheiten
für die Erneuerung oder Stabilisierung seines personalen labilen Gleichgewichts sorgt116• Dieses Residuum tritt dann sehr häufig mit dem der Persistenz zusammen auf. "On comprend donc comment, en ajoutant au residu que nous envisageons les residus de la IIe classe ( ... ), on forme des residus composes, de grand importance sociale, correspondant a des sentiments vifs et puissants, exactement semblables a ceux qui, avec tres peu de precision, sont designes par le terme ,ideal de justice'117." Diese kurze Übersicht dürfte am ehesten deutlich gemacht haben, daß es sich bei den Residuen nicht um bloße Instinkte handeln kann, sondern daß sie in der Tat als verbale Ausdrücke für Verhaltenssyndrome gedeutet werden müssen; also als allgemeine Wert- und Normenorientierungen. Auf den Zusammenhang zwischen diesen Residuen und dem sozialen System, sowie auf die damit verbundenen Problemkomplexe geht Pareto an keiner Stelle ausführlich ein. Es zeigt sich nur, daß das soziale System nichts anderes sein kann, als ein Gefüge von einzelnen Handlungssystemen, das sich also zureichend beschreiben läßt durch die Bestimmung der in ihnen vorkommenden Verteilung der Verhaltenstypen (struktureller Aspekt) und durch den Aufweis des aufeinander aktuell bezogenen Handeins (funktionaler Aspekt). Diese Auffassung gewinnt zumal dann einige Plausibilität, wenn man liest: "Portons notre attention sur les molecules du systeme social, c'est-a-dire sur les individus. Ceux-ci possedent certains sentiments, manifestes par les residus. Pour abreger, nous designerons ces Sentimentspar le seul nom de residus. Nous pourrons dire alors que chez individus existent des melanges de groupes de residus, melanges qui sont analogues a ceux de composes chimiques qu'on trouve dans la nature; tandis que les groupes meme de residus sont analogues a ces composes chimiques118." Und weiter: "Que ces melanges et ces groupes soient dependants ou independants, il convient maintenant de les ranger parmi les elements de l'equilibre social119." Sieht man sich noch einmal die einzelnen Residuenkategorien an, dann zeigt sich, daß sie das, was sie eigentlich erklären sollen, bereits definitorisch enthalten. Das Residuum der Kombinationen besagt ja, daß es sich dabei um die Manifestation eines Verhaltenssyndroms handelt, das den sozialen Wandel gesellschaftlicher Systeme befördert. Der Satz, der in bezug auf das soziale System abgeleitet werden könnte, müßte heißen: Ein soziales System oder Gebilde wandelt sich, wenn in ihm ein Verhalten überwiegt, das sich nicht in der Realisierung eines gleichsam 118 117 118 118
Vgl. Pareto, Traite ... , § 1216, S. 652. Vgl. Pareto, Traite ... , ebenda. Pareto, Traite ... , § 2080, S. 1317. Pareto, Traite ... , § 2080, S. 1317.
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nur repetitorischen Handeins einer einmal gegebenen Situationsdefinition äußert, sondern in ständig noch sozial undefinierten, das heißt aber gesellschaftlich noch nicht normierten Handlungen. Das Residuum der Persistenz, das Ausdruck eines Verhaltenssyndroms ist, das sich dagegen immer in den gleichen, einmal definierten Handlungen äußert, wirkt stabilisierend, weil es in den immer gleichen Verhaltensmustern, die gesellschaftlich normiert sind, abläuft. Sein Überwiegen in einem sozialen System von Verhaltenssyndromen garantiert dessen Stabilität. Auch das erweist sich am Schluß als eine Tautologie. Der wirkliche Wert dieser Residuenkategorien liegt in ihrer beschreibenden Anwendbarkeit. Sie fallen in Klassen auseinander, die funktionale bzw. disfunktionale Konsequenzen für das soziale System und seinen Gleichgewichtszustand haben. Wenn man nun noch hinzufügt, daß das soziale System nichts anderes ist als eine bestimmte Kombination bestimmter Verhaltenssyndrome, dann hilft auch die intendierte Quantifizierung, die sich in der Verteilung ausdrücken soll, nichtmehr die Tautologie aufzulösen. Der Versuch, mithilfe der Residuen allein die Gestalt sozialer Gebilde zu erklären, läuft daher auf eine Trivialität hinaus. Die Konstruktion der Residuen als den "konsistenten Kernen" verbaler Manifestationen latenter psychischer Verhaltenssyndrome und ihre theoretischen Funktionen als Erklärung der Systemzustände von Gesellschaft haben aber noch eine andere Konsequenz. Insofern die Klassifikationskriterien von vornherein schon relational auf die Funktionalität bzw. Disfunktionalität der Residuen für bestimmte Systemzustände bezogen sind, wird gerade dieses Moment zu ihrer bedeutsamsten Eigenschaft. Daneben werden ihre konkreten historisch immer wieder anders bestimmten Inhalte vollständig gleichgültig. Der sich in den Normen entfaltende konkrete Gehalt allgemeiner Wertorientierungen und Vermittlungszusammenhang, in dem diese Entfaltung zur objektiven gesellschaftlichen Struktur steht, wird eigentlich unwichtig. Für die theoretische Erklärung ist allein relevant, welche funktionalen bzw. disfunktionalen Konsequenzen bestimmte Normenentfaltungen für die expliziten Zwecksysteme einzelner Gruppen sowohl als auch der Gesellschaft als ganzer haben. Infolge der theoretischen Degradierung konkreter Inhalte gesellschaftlicher Wert- und Normensysteme zu bloßen Akzidenzien geht die Einheit von Allgemeinen und Besonderem, die sich in den historisch konkreten Gesellschaften ständig als der totale Zusammenhang aufeinander verwiesener, vergesellschafteter Individuen reproduziert hatte, verloren120• Gesellschaft gerinnt zu einem formalen System, aus dem Geschichte als ein Prozeß anwachsender Vergesellschaftung ausgeschlos120
Vgl. Soziologische Exkurse, a.a.O., S. 32.
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sen bleibt. "Sozialer Wandel" als der theoretische Ausdruck, auf den Geschichte reduziert wird, zerstört nun nicht nur die Fortschrittsidee der Sozialphilosophie des 18. Jahrhunderts, die gerade mit ihr die Idee eines Bedeutungszusammenhangs der eigenen Reflektion mit der sozialen Realität herzustellen vermochte. Formale Soziologie, die in Paretos Verständnis auf die "Systematisierung von Tatsachen" aus ist, versagt dort ihrem eigenen Anspruch, wo sie den sozialen Wandel nur noch als "Anpassungsprozesse" und "Spannungen" beschreiben, deren Zustandekommen aber nicht mehr anders als durch die Einführung von Dezisionen handelnder Subjekte zu bestimmten Zwecken und Verfahrensweisen erklären kann. Wobei die Dezisionen selbst sich nicht mehr aus der Struktur des gesellschaftlichen Systemzusammenhangs begreifen lassen. Die aus bestimmten allgemeinen Wertorientierungen, deren Genese im System selbst unverständlich bleiben muß, aktiv entfalteten subjektiven Zwecke und die auf deren Realisierung abgestellte Normierung der eigenen Verhaltensweisen wie der anderer, ist ein Vorgang, der aufs Prinzip der Zweckrationalität sich nicht vollständig reduzieren läßt und den die Theorie nicht aufhellen kann. Die Fixierung einer allgemeinen Wertorientierung zu einem bestimmten Zwecksystem und der mehr oder weniger zweckrational angemessenen Mittelallokation, wozu eben auch das potentielle Verhalten anderer gehört, ist nicht einsehbar. Warum Menschen bestimmte Zwecke verfolgen und nicht andere, warum bestimmte gesellschaftliche Systemzustände durch die Konsistenz und Integriertheit der von den Mitgliedern oder Gruppen von Mitgliedern verfolgten Zwecksysteme ihres Handeins gekennzeichnet sind, und andere wieder gerade durch deren Desintegration und Widersprüchlichkeit, kann am Ende nur noch durch den Hinweis auf die Residuenzusammensetzung bei einzelnen Menschen wie bei ganzen Gruppen und deren Verhältnisse zueinander erklärt werden. Es handelt sich dabei tatsächlich um eine bloße Tautologie, weil ja das gesellschaftliche System selbst durch die Elemente des individuellen Handeins definiert wird. Ohne die Berücksichtigung des materiellen Gehalts gesellschaftlich schon immer vermittelter Wertorientierungen und ihrer dynamischen Entfaltung zu realen gesellschaftlichen Normensystemen ist das Entstehen manifester gesellschaftlicher Konflikte aus ursprünglich "integrierten" Gesellschaften nicht verständlich. Denn diese Konflikte entstehen nicht, weil etwa bestimmten herrschenden Minderheiten, indem sie ihre eigenen Zwecke als Orientierungsmaxime den Beherrschten oktroyieren, eine diesen Zwecken angemessene normative Strukturierung des gesamtgesellschaftlichen Handlungszusammenhangs nicht angemesgen gelingt. Es ist also neben der für die Paretianische Theorie prinzipiellen Unaufklärbarkeit des Entstehens fixierbarer subjektiver Zwecksysteme aus allgemeinen Wertorientierungen nicht nur ein technisches
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Problem gegeben, das die Handelnden darum nicht zu lösen vermögen, weil ihnen der gesamtgesellschaftliche Zusammenhang nicht vollständig durchsichtig wäre. Vielmehr ist gerade mit der konsequenten Entfaltung eines gesellschaftlichen Normensystems und seiner erzwungenen Geltung der Widerspruch zwischen den angesonnenen Verhaltensweisen und den Sanktionen, die diese erzwingen sollen, gegeben. Mit der Setzung bestimmter Verhaltensnormierungen müssen denjenigen, denen sie oktroyiert werden, Motive und Interessen des Handeins unterstellt werden, die den Zwecken, an denen die Verhaltensnormierungen orientiert sind, notwendig widersprechen. Um das verständlich zu machen, muß gezeigt werden, wie Gesellschaft sich als System durch die Elemente individuellen Handeins konstituiert. Die Bildung einer soziologischen Systemtheorie für die Erkenntnis von Gesellschaft ist bei Pareta aus den Bedürfnissen erwachsen, seine ökonomische Theorie um solche Variablen zu erweitern, ohne die jene seinen Ansprüchen, Erfahrungswissenschaft zu sein, nicht genügen konnte. Die Einfügung der Residuen und der Derivationen kann als eine materiale Erweiterung dieser ökonomischen Theorie angesehen werden. Sein " ... social system may be precisely defined as the modification of his economic system by the introduction of the variables that found he could no Ionger neglect in studying the phenomena" 121 • Die Einführung der Residuen wie die der Derivationen als den Elementen des nicht-logischen Handelns, wie überhaupt die Betonung nicht-logischen Handeins war Ergebnis seiner Argumentation gegen den hedonistischen oder utilitaristischen Ansatz der liberalen Nationalökonomie. Bereits in den Systemes ist die Feststellung, der Mensch " ... n'est pas un etre de pure raison, c'est aussi un etre de sentiment et de foi . . ." 122 implizit gegen die Annahme z. B. J evons gerichtet, daß es " .. . das unausweichliche Streben der menschlichen Natur ist, jenen Weg zu wählen, welcher zur Zeit den größten Vorteil(= Nutzen) zu bieten scheint" 123 • Während er jedoch auf der anderen Seite den Nationalökonomen Menger, Jevons und Walras verpflichtet bleibt, wenn es darum geht, die objektivistische Werttheorie, die nach den Ansätzen bei Smith und Ricardo in deren Arbeitswerttheorien vor allem durch Marx ausgebaut wurde124, gerade mithilfe des Nutzenbegriffs zu widerlegen125 • Doch nimmt er am Nutzenbegriff selbst eine Bedeutungsverschiebung dadurch vor, daß er dessen Lawrence J. Henderson, Pareto's General Sociology, a.a.O., S. 93. Pareto, Systemes ... , Tome 1, S. 2. W. Stanley Jevons, Die Theorie der politischen Ökonomie, in: Sammlung sozialwissenschaftlicher Meister, Band 23, herausgegeben von H. Waentig, Jena 1924, S. 57. 124 Vgl. Andreas Paulsen, Allgemeine Volkswirtschaftslehre, a.a.O., Band 1, S. 119. Zu dieser Differenz vgl. Ausführungen in Kap. II/2. 125 So in den Systemes . . . , Tome 2, S. 23 und 325 ff., wo er ausdrücklich gegen den "Wert" als eine objektive Größe polemisiert. 121
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zweckrationale Implikationen eliminiert und die Voraussetzung der objektiven quantitativen Meßbarkeit des Nutzens, die er als Möglichkeit im Cours noch betont hatte126, verwirft und durch das Theorem der Wahlhandlungen ersetzt127 • In diesem Theorem wird die Verknüpfung von Handeln und Nutzenorientierung als bloß formales Prinzip aufgefaßt, in dem weder die zweckrationale Orientierung noch die Meßbarkeit des Nutzens als einer objektiven Größe Voraussetzung ist: "L'individu peut disparaltre, pourvu qu'il nous laisse cette photographie de ses gouts128.'' Nutzen ist dann ein bloß formaler Index, der als Indifferenzkurvenfunktion, die sich empirisch aus beobachtbaren Wahlhandlungen von einzelnen in bezug auf zwei oder mehrere Güter bei gegebenen Mitteln ableiten läßt129 • Was der nationalökonomischen Theorie als weiter nicht auflösbar und auch nicht auflösungsbedürftiges Datum gelten kann, nämlich die Wahlhandlungen, wird in der allgemeinen Handlungstheorie in seine Dimensionen zerlegt werden130. Aber auch die Variable gesellschaftliche und politische Macht, die für die Bestimmung des sozialen Gleichgewichts eine so große Rolle spielt, ist eine Variable, die sich aus seinen nationalökonomischen Analysen ergibt. Gegenüber der in der frühen liberalen Nationalökonomie vorherrschenden Untersuchung ökonomischer Phänomene im Rahmen eines unter dem Gesichtspunkt der freien Konkurrenz atomistisch strukturierten Marktes untersucht Pareto die Gleichgewichtsbedingungen bereits im Cours131 auch für andere Marktformen, vor allem aber für den monopolistischen Markt. Indem er diese Marktformen und die aus ihr resultierenden spezifischen Formen der Mittelallokation132 in seine Gleichgewichtsanalysen mit einbezieht, wird es ihm möglich, die Bedingungen des ökonomischen Gleichgewichts in größerer Allgemeinheit darzustellen133. Gleichzeitig jedoch wird ihm der soziologische Charakter dieser neuen Variablen deutlich. Die Organisierung gemeinsamer Interessen sozialer Klassen zum Beispiel stellt zwar für die Nationalökonomie ein Datum dar, das bei der Analyse des ökonomischen Gleichgewichts konm Pareto, Cours ... , Tome 1, § 20, S. 8: "L'utilite d'une chose pour un certain homme ou pour une certaine race a aussi ses degres; eile est aussi une quantite." m Vgl. Pareto, Manuel ... , Tome 1, § 51, S. 168 ff. ns Pareto, Manuel ... , Tome 1, §57, S. 170. 120 Pareto, Manuel ... , Tome 1, § 54/55, S. 169. Schumpeter hat diese Lösung Paretos zu recht bestritten und gezeigt, daß Elemente davon bereits in Irving Fisher's Mathematical Investigations into the Theory of Value and Price, London 1892, und in Francis Isidore Edgeworth, Mathematical Psychics, London 1881, enthalten sind. Vgl. Josef A. Schumpeter, Vilfredo Pareto, in: The Quarterly Journal of Economics, Vol. LXIII, 1949, S. 161 f. uo Pareto, Manuel ... , Tome 1, § 11, S. 148/49. 131 Vgl. Pareto, Cours ... , Tome 2, § 595 f., S. 14 f. 132 Vgl. II/2. 133 Vgl. Pareto, Manuel ... , Tome 1, § 47 ff., S. 166 ff.
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kreter ökonomischer Systeme, in denen es auftritt, zu berücksichtigen ist. Die allgemeinen Bedingungen des Entstehens und ihre Bedeutung für das soziale Gleichgewicht aber bilden Probleme, die Gegenstand seiner Soziologie sind134. Untersucht er in der Nationalökonomie zum Beispiel, welchen Einfluß der durch die Gewerkschaften errungene Tariflohn für die Kostenfunktion der Produktion und die Preisfunktion der Güter hat135, so analysiert er die Bedingungen und die Bedeutung der organisierten Interessen, wie deren Einfluß auf die Veränderung der Bedingungen des sozialen Gleichgewichts in seiner Soizologie. Aber nicht nur im Bereich der sachlichen Problematik geht Paretos Soziologie überall aus nationalökonomischen Fragestellungen hervor136. Seine soziologische Systemtheorie selbst verweist in ihrem logischen Aufbau auf seine Nationalökonomie. Das "soziale System" hat die gleiche logische Struktur wie das "nationalökonomische System". Nur die Variablen, die das jeweilige System definieren, stellen andere Dimensionen menschlichen Handeins dar. In beiden Fällen werden die Systemdimensionen durch die Variablen individuellen Handeins definiert. "Le systeme economique est compose de certaines molecules mues par les goüts, et retenues par les liaisons des obstacles qui s'opposent a l'obtention des biens economiques. Le systeme social est beaucoup plus complique. Meme si nous voulons le simplifier le plus possible sans tomher en de trop graves erreurs, nous devrons du moins le considerer comme compose de certaines molecules contenant certains residus, certaines derivations, certains interets, certaines tendances. Ces molecules, sujettes a de nombreuses liaisons, accomplissent des actions logiques et des actions nonlogiques. Dans le systeme economique, la partie non-logique est entierement releguee dans les goüts. On la neglige, parce que les goüts sont supposes donnes. On se demandera si l'on ne pourrait pasfaire de meme pour le systeme social: admettre comme donnes les residus, ou serait relegues la partie non-logique, et etudier les actions logiques auxquelles ils donnent naissance137. Diese Variablen stehen also zueinander in interdependentem Zusammenhang. "Ces molecules, sujettes a de nombreuses liaisons, accomplissent des actions logiques et des actions nonlogiques138." Das System wird also gebildet durch die Summe der in ihm auftretenden Verhaltensformen logischer und nicht-logischer Art, durch die allge4 Vgl. Pareto, Manuel ... , Tome 1, § 12, S. 149. Vgl. Pareto, Manuel ... , Tome 1, § 47, S. 166/67. 138 Gottfried Eisermann hat auf diesen Umstand ausführlich hingewiesen, vgl. Gottfried Eisermann, Vilfredo Pareto als Nationalökonom und Soziologe, a.a.O., S. 6 f. und ders., in: Vilfredo Paretos System der allgemeinen Soziologie, Stuttgart 1962, S. 20 ff. 1a1 Pareto, Traite ... , § 2079, S. 1316. m Pareto, Traite ... , § 2079, S. 1316. 13
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meinen Wertorientierungen und ihre Fixierungen zu Zwecken und Interessen, sowie durch deren rationalisierende Theoretisierungen. Die Weisen des Aufeinanderbezogenseins dieser Elemente bilden die Struktur des Systems und sind für deren Gleichgewicht bestimmend. "Que ces melanges et ces groupes soient dependants ou independants, il convient maintenant de les ranger parmi les elements de l'equilibre sociaP39." Die Systemzustände und ihre dynamischen Veränderungen werden als Verteilungsfunktionen dieser Elemente dargestellt. Zwar lassen sich die Effekte einzelner isolierter Elemente wie etwa der Residuen für diese Systemzustände nicht bestimmen, da sie ja immer nur in bestimmten Zusammensetzungen auftreten141'. Jedoch bestimmen ihre tatsächlichen Verbindungen, deren Stabilität und Intensität, die Struktur des Systems. Gesellschaft als Systemzusammenhang wird bestimmt als eine Resultante " ... des faits que l'on observe dans la societe; c'est-a-dire que ceux-ci determinent l'equilibre social. Nous pourrons ajouter que si le fait de l'existence de la societe est donne, les faits qui se produisent dans cette societe ne sont plus entierement arbitraires, mais qu'il faut qu'il satisfassent a certaines conditions; c'est-a-dire que l'equilibre etant donne, les faits qui le determinent ne sont pas entierement arbitraires141." Zu den Bedingungen als den "prerequisites" des sozialen Systems, wie Pareto sie bezeichnet hat1 42, denen die Elemente des Systems und ihre Zusammensetzung entsprechen müssen, wenn dieses Stabilität und Dauer haben soll, gehören ein Mindestmaß an Integriertheit der Elemente untereinander und auch ein Mindestmaß an Adaptionsvermögen an veränderte Umweltbedingungen. Für diese beiden Bedingungen erweisen sich die Residuen der "Soziabilität" und der "Persistenz" auf der einen und der "Kombination" auf der anderen Seite als funktional. "En general, les societes existent parce que chez la plus grande partie de leurs membres, les sentiments qui correspondent aux residus de la sociabilite (IVe classe) sont vifs et puissants. Mais il y a aussi, dans les societes humaines, des individus chez lesquels une partie au moins de ces Sentiments s'affaiblissent et peuvent meme disparaitre. De la decoulent deux effects tres importants, et qui, en apparence, sont contraires: l'un qui menace de dissolution la sociE?te, l'autre qui en fait sortir la civilisation143." 139 Pareto, Traite ... , § 2080, S. 1317. 140 Vgl. Pareto, Traite ... , § 2088, s. 1320. 141 Pareto, Traite ... , § 2089, S. 1321. 142 Vgl. T. Parsons, The Social System, S. 231. 143 Pareto, Manuel ... , Tome 1, § 81, S. 99: "L'instinct de sociabilite est certainement le principal d'entre les faits qui determinent les maximes morales generales."
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Die Einflüsse, die einzelne Residuen sowie einzelne Residuenkombinationen im System auf die anderen Elemente des Systems ausüben und so zu deren Stabilisierung oder Veränderung beitragen, und der Gesamteffekt, den sie dadurch auf die Systemstruktur als Ganzes haben, lassen sich als ihre Funktionalität oder Disfunktionalität beschreiben. "On peut concevoir une socil~te homogene, ou le besoin d'uniformite est le meme chez tous les individus, et correspond a l'etat intermediaire mentionne taut a !'heure; mais l'observation demontre que ce n'est pas le cas des societes humaines. Elles sont essentiellerneut heterogenes, et l'etat intermediaire dont nous parlons existe parce que, chez certains individus, le besoin d'uniformite est tres grand; chez d'autres il est modere, chez d'autres tres petit, chez quelques-uns il peut meme faire presque entierement defaut, et la moyenne se trouve, non pas chez chaque individu, mais dans la collectivite de tous ces individus. On peut ajouter, comme donnee de fait, que le nombre des individus chez lesquels le besoin d'uniformite est superieur a celui qui correspond a l'etat intermediaire de la societe, est beaucoup plus grand que le nombre de ceux chez lesquels ce besoin est plus petit, immenserneut plus grand que le nombre de ceux ou il manque entierement14'." Unabhängig davon, ob die Funktionen bestimmter Verhaltensweisen oder Normenexplikationen von den handelnden Subjekten als subjektiv gemeinter Sinn intendiert sind oder nicht, bezeichnet Pareta die Funktionen als "utilite" 145 eines Verhaltens oder eines Residuums in bezug auf die anderen Elemente des Systems und in bezug auf das gesamte System. Diesen Begriff der "utilite" gewinnt Pareta für seine Gesellschaftstheorie unmittelbar aus seinen nationalökonomischen Analysen im Zusammenhang mit seiner Auseinandersetzung mit der Werttheorie146. Er ersetzt dort den Begriff des ökonomischen Werts als einer Eigenschaft von Gütern durch den relationalen Begriff des Nutzens, der sich immer nur im Zusammenhang mit den anderen Determinanten eines Marktverhaltens bestimmen läßt, der sich also als eine mathemaPareto, Traite ... , § 2172, s. 1382. "Utilite" hat für die Nutzentheorie einen mehrdeutigen Gehalt. Im Cours ... , Tome 1, § 4 und 5, S. 3, ersetzt er für die Nationalökonomie den Begriff durcll den der "ophelimite". 140 Vgl. Pareto, Cours ... , Tome 1, § 19, S. 8: "Dans la phrase de Ricardo ... on ne considere pas la quantite de l'eau et de l'air qui se trouvent immediatement a portee de l'echangeur. En un lieu donne pour un individu determine, la quantite d'eau a la disposition de cet individu peut passer par degres insensibles d'une quantite zero a une quantite depassante tous les desirs de cet individu; a chaque degre, correspondra un rapport different de convenance entre l'eau et l'individu qui la consomme. L'ophelimite a des degres; c'est une quantite, et comme telle, elle est soumise aux lois generales qu'etablit la science des quantites." 144
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tische Funktion der Determinanten dieses Marktverhaltens darstellen läßt147• In seiner Theorie der Wahlhandlungen ersetzt er den Begriff der "utilite" durch den der "ophelimite", weil er in der " ... Iangage ordinaire, utile s'oppose a nuisible, et que de ces deux sens differents d'un meme terme i1 resulte de nombreuses equivoques , ... " 148• Mit "ophelimite" ist also " ... la propriete d'une chose d'etre favorable au developement et a la prosperite d'un individu, d'une race, ou de toute l'espece humaine" 149 benannt. Die mit Ophelimität bezeichnete wertende Relation eines handelnden Subjekts in Beziehung auf eine Sache ist also eine " ... qualite entierement subjective" 150• Der Begriff der "utilite" aber bezeichnet eine objektive Relation zwischen Elementen des Systems. Die Realisation eines gesellschaftlichen Systemzustands - eine bestimmte soziale Ordnung etwa - die Verwirklichung bestimmter subjektiv intendierter Zwecke ist eine Funktion ihrer sie bedingenden Faktoren151 • Aus der Klassifikation der verschiedenen Formen der "utilites" geht am deutlichsten hervor, daß diese eine systemimmanente relationale Kategorie ist, die die Elemente des Systems in ihrer teleologischen Eigenschaft in Beziehung zu anderen Elementen und zum gesellschaftlichen Systemzustand als Ganzem erfaßt. " .. . : (a) Utilite de l'individu; (a-1) Utilite directe; (a-2) Utilite indirecte, obtenu parce que l'individu fait partie d'une collectivite; (a-3) Utilite d'un individu, en rapport avec les utilites des autres individus; (b) Utilite d'une collectivite donnee; on peut etablir pour ce genre d'utilites des distinctions analogues aux precedentes ...152 ; Unabhängig von den durch konkretes Verhalten intendierten Zwecken, sind Residuen, konkrete Verhaltensweisen oder Wertorientierungen in einem gesellschaftlichen System nützlich bzw. schädlich für andere Zwecke, Residuen oder Wertorientierungen, sind sie also funktional oder Pareto, Cours ... , Tome 1, § 4, S. 3. ue Pareto, Cours ... , Tome 1, § 5, S. 3. 148 Pareto, Cours . . . , Tome 1, § 7, S. 4. uo Pareto, ebenda. 1s1 Ebenda, § 10 f., S. 5. 152 Pareto, Traite ... , § 2115, S. 1334. 147
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disfunktional auch für das soziale System als Ganzes. Diese relationale Kategorie der Funktion der das gesellschaftliche System konstituierenden Elemente ist aber in bezugauf individuelles Verhalten nichts anderes als die nähere theoretische Bestimmung ihrer im Klassifikationsschema des Handeins vorerst nur allgemein als objektive Konsequenzen des Handeins bezeichnete Eigenschaft. Mehr als der Begriff der objektiven Konsequenzen, bezeichnet der Begriff der "utilite", weil mit ihm zugleich der Bezugspunkt angegeben wird, auf den ein Element "utilite" besitzt. "Utilite" als dieser relationaleBegriff hat damit eben schon den Bedeutungsumfang, den der Begriff der Funktionalität in der strukturell funktionalen Theorie besitzt. Don Martindale hat Pareto deshalb auch ganz zutreffend als "a transitional figure between organicism and sociological functionalism" bezeichnetl53• Obgleich Parsons sich ausführlich mit dem Begriff der "utilite" auseinandersetzt154, vermag er doch nicht zu sehen, daß der Systemtheorie Paretos auch dieser "strukturellfunktionale Aspekt" innewohnt165• Daß Pareto jedoch die Systemtheorie mit dem Begriff der "utilite" verbunden hat, belegt nicht nur folgendes Zitat: "Un systeme d'atomes et de molecules materielles possede certaines proprietes thermiques, electriques et autres. D'une maniere analogue, un systeme constitue par des molecules sociales a, lui aussi, certaines proprietes qu'il importe de considerer. L'une d'elles fut de toute temps perc;ue par intuition, ne fut-ce que d'une fac;on grossiere. C'est a elle qu'avec peu ou point de precision on a donne le nom d'utilite, de prosperite, ou un autre semblable. Nous devons maintenant reellereher dans les faits si, sous ces expressions indeterminees, il y a quelque chose de precis, et en decouvrir la nature1 'i 6 " Ohne die Dimension des subjektiv gemeinten Sinns, den die handelnden Subjekte ihrem Verhalten unterlegen, und der, wenn er sich in fixierbare Antizipationen niederschlägt, das Handeln entsprechend der Einsicht in den objektiven Gesamtzusammenhang der Gesellschaft leitet, aber wären die gesellschaftlichen Systemzustände gleichsam nur durch die "bewußtlosen Elemente" des Handeins determiniert. "Une societe ou agissent exclusivement les sentiments, sans raisonnements d'aucun genre157 • Ein solches System wäre bestimmt, " ... si l'on donne les Sentiments et les circonstances exterieures dans lesquelles se trouve la societe ... " 158• Selbst eine Gesellschaft, die" ... agissent exclusivement les 15a Don Martindale, The Nature and Types of Sociological Theory, Boston 1960, s. 531. 1st Vgl. Talcott Parsons, The Structure of Social Action, a.a.O., S. 241ft. 155 Vgl. T. Parsons. The Social System, a.a.O., S. VII. 156 Pareto, Traite . . . , § 2105, S. 1329. 157 Pareto, Traite . .. , § 2141, S. 1347. us Pareto, Traite ... , § 2142, S. 1348.
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raisonnements logico-experimentaux ... " 158 ist aber durchaus auch noch nicht bloß durch diese Zweckrationalität und die gleichsam bewußtlosen Elemente vollständig festgelegt. Die subjektiv intendierten Zwecke, deren Genese nicht berücksichtigt wird, die also in jeder Gesellschaft für einzelne Mitglieder voluntaristisch gesetzt werden, und an denen sie ihr Verhalten bestimmen, determinieren erst dann das konkrete gesellschaftliche System, wenn sie Ausgangspunkt eines machtorientierten Verhaltens werden. Eines machtorientierten Verhaltens, das auf die normierende Konkretisierung der latenten Verhaltenssyndrome der übrigen Gesellschaftsmitglieder entsprechend diesen Zwecken abgestellt ist. Jede konkrete Gesellschaft jedoch" ... se trouve en unetat intermediaire des deux types indiques tout a l'heure. Sa forme est determinee, non seulement par des circonstances exterieures, mais aussi par les sentiments, les interets, les raisonnements logico-experimentaux ayant pour but d'obtenir la satisfaction des sentiments et des interets, et aussi, d'une maniere subordonnee, par les derivations qui expriment, et parfois fortifient des sentiments et des interets, et qui servent, en certains cas, de moyen de propagande" 16o. Die zunächst nur objektive Dimension des Begriffs der Funktion wird damit um die subjektive Dimension erweitert. Dadurch wird es möglich, Systemzustände selbst, wie partikulare Verhaltensweisen oder potentielle Verhaltenssyndrome in ihrer Funktionalität oder Disfunktionalität in bezug auf subjektiv intendierte Zwecke zu bestimmen. Machtorientiertes Verhalten ist dann aber ein solches Verhalten, das die Multifunktionalität einzelner Verhaltensweisen, wie Wertorientierungen und Verhaltenssyndrome, wie sie sich in der Gesellschaft vorfinden, zweckrational zu ihren eigenen autonom gesetzten Zwecken in Beziehung bringt und sie bei der Mittelallokation berücksichtigt. Herrschende oder Herrschaft beanspruchende Minderheiten sind dann solche Gruppen in der Gesellschaft, die mit machtorientiertem Verhalten auf die normierende Gestaltung der Gesellschaft entsprechend ihren eigenen Zwecksystemen eingestellt sind. Sie analysieren deshalb die Verhaltenssyndrome und expliziten Zwecksysteme der übrigen Mitglieder der Gesellschaft auf ihren potentiellen Mittelcharakter hin und nehmen ein Interesse daran, diese entsprechend ihren eigenen Zwecken zu strukturieren und festzulegen. Ein Konflikt zwischen solchen herrschenden oder Herrschaft beanspruchenden Gruppen wird dann manifest, wenn die jeweiligen Zwecksysteme von diesen Gruppen als widersprüchlich erfahren werden, wenn also bestimmte Normenexplikationen als funktional für das eine, aber als disfunktional für das andere sich erweisen. "Considerons, par 158 110
Pareto, Traite ... , § 2141, S. 1347. Pareto, Traite ... , § 2146, s. 1350.
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exemple, l'augmentation de la population. Si l'on fixe son attention sur l'utilite de la collectivite, il sera bon, surtout pour sa puissance militaire et politique, de pousser la population jusqu'a la Iimite, assez elevee, au dela de laquelle la nation s'appauvrirait et la race tomberait en decadence. Mais si nous attachons notre esprit au maximum d'utilite pour la collectivite, nous trouverons une Iimite beaucoup plus hasse. Il y aura lieu de reellereher en quelles proportians les differentes classes sociales jouissent de cette augmentation de puissance militaire et politique, et en quelle proportion diverse elles l'acquierent par leurs sacrifices. Quand les proletaires disent qu'ils ne veulent pas avoir d'enfants, lesquels ne font qu'accroitre le pouvoir et les gains des classes gouvernantes, ils parlent d'un problerne de maximum d'utilite pour la collectivite 161 ." Paretos Versuch, die Phänomene gesellschaftlicher Konflikte und gesellschaftlicher Desintegration noch in der Systemtheorie zu interpretieren, den Gedanken also nicht grundsätzlich zu verwerfen, Gesellschaft als System zu verstehen, führt unmittelbar zu theoretischen Schwierigkeiten. Diese lassen sich nur dann auflösen, wenn entweder die Vorstellung von der Gesellschaft als eines allseitig geschlossenen Sytems interdependenter Elemente aufgegeben wird, und wenigstens ein systemunabhängiger Faktor als Variable in die Theorie eingeführt wird, der also systemindeterminiert ist, oder aber wenn die Elemente des Systems nur so abstrakt allgemein bestimmt werden, daß die Bestimmung ihrer Systemrelationalität zwar den logisch-formalen Anforderungen einer geschlossenen Systemtheorie genügt, die behauptete Interdependenz der Elemente untereinander aber mehrdeutig ist, und sich daher je nach den konkreten Systemzuständen einer Gesellschaft, die mit der Theorie beschrieben und erklärt werden sollen, implizit verschieden interpretiert werden können. Die erste Möglichkeit sowohl, die streng genommen bereits zur Aufgabe der Vorstellung eines geschlossenen Systems führt, als auch die zweite Möglichkeit, die, am Wissenschaftsideal Paretos selbst gemessen, unwissenschaftlich ist, weil ihr implizite Bedeutungsverschiebungen des Begriffs der Interdependenz unterliegen, hat Pareto tatsächlich ergriffen, um den Gedanken, Gesellschaft sei als System in Analogie zu mechanischen Systemen darstellbar, nicht aufgeben zu müssen. Schon an dieser Stelle wird deutlich, wie die Intention auf eine soziologische Systemtheorie durch die bloße Erfahrung desintegrativer Prozesse in konkreten Gesellschaften perhorresziert wird. Tatsächlich geht ja Pareto zunächst von einem mechanistischen System-Modell aus, dessen bloß formale Struktur er für die soziologische Theorie fruchtbar machen will: "En mechanique, il existe un phenomene analogue - le lecteur pendra garde que je dis analogue et non iden1•1
a•
Pareto, Traite ... , § 2134,
s. 1344.
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tique;- c'est celui de deux forces qui agissent sur un point materiel. Au lieu de parler de choses A, B qui ont le pouvoir d'agir sur le phenomE'me economique ou social, on peut aussi, pour simplifier, traiter de forces A et B 162 ." Schon aus dieser Textstelle geht jedoch deutlich genug hervor, daß mit einer zur physikalischen Theorie analogen sozialwissenschaftliehen Theoriebildung im Sinne Paretos nicht nur gleichsam die leere logische Form eines bestimmten, in der Physik gebräuchlichen Theoriemodells übernommen wird, sondern eben auch bestimmte Begriffe und Kategorien, denen in der physikalischen Theorie eine fest umrissene Bedeutung zukommt. Diese Eindeutigkeit verlieren sie in aller Regel immer dann, wenn sie mit der logischen Struktur des physikalischen Theoriemodells auf den sozialwissenschaftliehen Gegenstandsbereich angewendet werden. Da die Eindeutigkeit eines Gegenstandsbegriffs von den ihm definitorisch zugeordneten Eigenschaftsbegriffen abhängt, die ihn durch explizite Beobachtungsregeln mit beobachtbaren Eigenschaften von Gegenständen verbinden sollen, muß mit der Aufhebung der Zuordnung von Gegenstandsbegriff und Gegenstand auch die Eindeutigkeit des Gegenstandsbegriffs selbst verloren gehen, wenn dieser zusammen mit der logischen Struktur des Theoriemodells auf einen anderen Gegenstandsbereich übertragen wird. Bei der Übertragung bestimmter Theoriemodelle von einem Gegenstandsbereich auf einen anderen kann folgendes geschehen: (1) Entweder werden mit ihnen gleichzeitig übertragene Begriffe mit einer nur metaphorischen Bedeutung auf Gegenstände des neuen Gegenstandsbereichs angewendet, wodurch die Begriffe wie auch das Theoriemodell im streng wissenschaftlichen Sinne ausfallen. Hier werden dann z. B. die Gegenstände des soziologischen Gegenstandsbereichs so behandelt, als seien sie physikalische Gegenstände, wobei das Bewußtsein, daß sie letztlich doch etwas anderes sind, nicht immer verloren gehen muß. Oder (2) die mit dem physikalischen Theoriemodell auf den soziologischen Gegenstandsbereich angewendeten Begriffe bleiben explizit als physikalische Begriffe erhalten. Dann aber werden die Gegenstände des soziologischen Gegenstandsbereichs der Theorie nach durch solche Eigenschaften konstituiert, die durch die physikalischen Beobachtungsregeln, die ja hierbei nicht grundsätzlich geändert werden müssen, als physikalische Eigenschaften festgelegt sind. Der Gegenstandshereich der Soziologie wird auf den der Physik reduziert. Es gibt dann im eigentlichen Sinne überhaupt nur noch physikalische Gegenstände. Es ist klar, daß bei der Bildung analoger Theoriemodelle der Übergang zwischen diesen beiden Möglichkeiten fließend ist. Es ist bei einem konkreten Fall oft sehr schwer zu entscheiden, ob es sich um eine metaphorische oder aber um eine reduktionistische Theorie handelt. 1e2
Pareto, Traite ... , § 121, S. 57.
1. Die Bedeutung der Macht in der Theorie der Gesellschaft
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Die an den Naturwissenschaften- zumeist der Physik oder der Biologie - orientierten analogen Theoriebildungen für den Gegenstandsbereich der Soziologie haben bereits in der Geschichte der Sozialphilosophie immer wieder eine große Rolle gespielt. Während man zum Beispiel in den physikalistischen Theorien Lamaitris und Holbachs eher noch eine metaphorische Analogie sehen konnte, stellt sich der Physikalismus Carnaps als ein theoretisch begründeter Reduktionismus dar, der sich selbst als empirisch prüfbar soll erweisen können. Diese naturwissenschaftlichen Analogiebildungen im sozialwissenschaftliehen Bereich sind wissenschaftslogisch nicht zu rechtfertigen. Ihr Zustandekommen und die Wirkung, die sie auf die Ausbildung sozialwissenschaftlicher Theorien gehabt haben, müssen daher auch von anderen als nur logischen Faktoren abhängen. Es ist ganz offensichtlich, daß ihnen jeweils ein bestimmtes Evidenzerlebnis zugrundeliegt, in dem die strukturelle Identität zweier Wirklichkeitsbereiche bewußt wird. Diesem Evidenzerlebnis ist die Formulierung eines bestimmten Erkenntnisziels sozialwissenschaftlicher Reflektionen vorgelagert, das selbst eben durch gesellschaftlich vermittelte normative Faktoren determiniert ist. Aus der einmal als "evident" erlebten Identität von Natur und Gesellschaft wird die Isomorphie von naturwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Theorie. Diese Annahme scheint sich auch für Pareto zu bestätigen. Es zeigt sich nämlich, daß seine im Kern der Mechanik nachgebildete soziologische Systemtheorie normative lmplikationen enthält, die im scharfen Widerspruch zu seiner Auffassung von einer wertfreien wissenschaftlichen Theorie stehen. Ganz wie bei Holbach geht bei Pareto die mechanistische sozialwissenschaftliche Theoriebildung, in der an sich ein vollständiger Determinismus vorausgesetzt werden müßte, einher mit einer Demaskierung metaphysisch-philosophischer Ideen zu bloßen Illusionen, denen jeder Einfluß auf das Verhalten von Menschen wie auf die Gestalt von Gesellschaften bestritten wird. Richtete sich Holbachs These noch gegen den theologischen Spiritualismus und damit gegen die sich mit diesem legitimierenden feudalständischen Autoritäten der französischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, wurde damit zugleich grundsätzlich dieLegitimität der Macht des Menschen über den Menschen bestritten, so wird bei Pareto die Macht noch selbst zu einer Variablen, des gesellschaftlichen Systems. Dies ist aber die theoretische Konsequenz der Reflexion über Gesellschaft auf dem Hintergrund der zerfallenen Utopie. Auch bei Pareto zeigt sich deutlich die Dominanz der technologischen Dimension des Machtbegriffs gegenüber dessen inhaltlichen Bestimmungen. Ein solcher technischer Machtbegriff unterliegt also sowohl der Konzeption der herrschenden Klasse als auch der Konzeption der Elite. Die
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Behauptung, nach der es in allen Gesellschaften zwei Klassen gibt, von denen die eine herrscht, während die andere beherrscht wird, ist zunächst nichts anderes als ein nur analytisches Urteil über den Begriff der Gesellschaft, insofern er eine politische Dimension besitzt. Jede Gesellschaft, in der es Macht gibt, muß dichotomisch strukturiert sein; siebesitzt positive und negative Machtpositionen. Von der Tatsache der Existenz positiver und negativer Machtpositionen auf den Klassencharakter der Gesellschaft zu schließen, ist wenigstens problematisch. Ein solcher Schluß ließe sich nur rechtfertigen, wenn sich nachweisen ließe, daß die positiven Herrschaftspositionen konsistent integriert sind. 2. Die Sozialstruktur, die Genesis der Macht und der soziale und politische Wandel Aus der Analyse der technologischen Dimension der gesellschaftlichen und politischen Macht von Minderheiten, die in Anlehnung an Max Weber1 als deren faktische Verfügungschance über das Verhalten anderer zur Realisierung der mit den eigenen Interessen gegebenen Zwecke bestimmt werden kann, ergeben sich für eine differenziertere Charakterisierung der in beiden Theorien in Beziehung aufs "soziale System" zunächst nur formal als multivalent gekennzeichneten Funktionen der Macht mehrere Probleme. Diese lassen sich in folgende Fragen fassen: (1) Worauf gründet sich die faktische Macht von solchen Minderheiten in sozialen Systemen. (2) Worin unterscheidet sich faktische Macht als eine spezifische Form von anderen sozialen Beziehungen, in denen Individuen durch normativ geregelte wechselseitige Erwartungen, Gratifikationen und Sanktionen2, die in der Handlungstheorie in Analogie zu den als machtfrei interpretierten Tauschbeziehungen der liberalen Gesellschaftstheorie konzipiert sind. (3) Wodurch unterscheidet sich faktische, gesellschaftliche Macht von gesellschaftlicher Herrschaft. (4) Mit welchem Kriterium endlich können die Strukturen gesellschaftlicher Macht bzw. Herrschaft gegenüber den Strukturen der politischen Macht bzw. Herrschaft abgegrenzt werden. In diesen Fragen kommt nun durchaus nicht nur ein kasuistisches Interesse zum Ausdruck, dem vor allem an der Bildung "reiner" Begriffe 1 1
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., Band 1, S. 28. Vgl. Ralf Dahrendorf, Homo Sociologicus, Köln und Opladen 1959, S. 23 ff.
2. Sozialstruktur, Genesis der Macht und sozialer Wandel
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für eine soziologische Theorie gelegen wäre. Von deren Beantwortung hängt vielmehr auch die Lösung sachlicher Probleme ab, die sich hinter dem universell Geltung beanspruchenden Satz "In allen Gesellschaften, ... , gibt es zwei Klassen, eine, die herrscht, und eine, die beherrscht wird ..." 3 verbergen. Ist der Begriff der Macht nämlich relational auf das in beiden Theorien voluntaristisch interpretierte Interesse an der Verwirklichung autonom gesetzter Zwecke von Einzelnen wie von ganzen Gruppen in Gesellschaft bezogen, wobei die Macht über das Verhalten anderer dieses zu Mitteln der Realisierung der Zwecke werden läßt, dann entsteht nicht nur die Frage, worauf sich die Macht materiell gründet. Ebenso bedeutsam wird hierbei die Klärung der Bedingungen, unter denen die Macht, die bei Mosca wie bei Pareto immer Macht von Minderheiten sein soll, systemintegrierende bzw. systemdesintegrierende Konsequenzen besitzt; wenn zugleich mehr oder weniger apriorisch festgelegt ist, Macht, insofern sie als Verfügungschance über das Verhalten anderer zur Realisierung eigener Zwecke gedeutet wird, sei in bezug auf die Realisierung dieser Zwecke immer integrativ wirksam. Die Auflösung dieses Problemkomplexes ist nun aber keineswegs aprioristisch zu leisten. Dahrendorfs Versuch, z. B., die Integration gesellschaftlicher Systeme aus dem Zwang und damit letztlich aus den in ihnen angelegten Herrschaftsverhältnissen zu begreifen, ihren Wandel aber als einen Prozeß zu deuten, der wie bei Mosca und Pareto von der Desintegration zur Reinintegration, von der Destabilisierung zur Restabilisierung der Systeme verläuft, der damit zugleich also auch die Reinintegration faktischer Machtverhältnisse zu denen legitimer Herrschaft meinen muß, stellt aber ähnlich wie bei Mosca und Pareto- einen solchen aprioristischen Lösungsversuch dar4 • Dahrendorf vernachlässigt nämlich nicht nur den gegenseitigen Vermittlungszusammenhang, in dem Statik und Dynamik der Gesellschaft aufeinander bezogen sind5 • Er löst diesen Vermittlungszusammenhang geradezu auf, wenn er Integration als das mehr oder weniger angemessene Resultat der Intentionalität der Herrschenden darstellt, die Verhaltensweisen und Beziehungen der unter der Gesellschaft befaßten Individuen normativ entsprechend den eigenen Wertund Zweckorientierungen zu regeln6 ; gleichzeitig aber die Desintegration des Systems aus der Intentionalität der Beherrschten ableitet, " ... ein 3 Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 53. ' Vgl. Ralf Dahrendorf, Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, Tübingen 1961, S. 27 f. 6 Vgl. Theodor W. Adorno, Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien, in: Max Horkheimer, Th. W. Adorno, Frankfurter Beiträge zur Soziologie, Band 10, Sociologica II, Frankfurt/M. 1962, S. 223 ff. 8 Dahrendorf, Über den Ursprung ... , a.a.O., S. 29.
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Normensystem durchzusetzen, das ihnen einen ansehnlicheren Rang verspricht, weil es ihren Kräften und Wünschen näher steht ..." 7 • Diese Auflösung verliert genau jenes dialektische Moment amBegriff gesellschaftlicher Macht aus dem Blick, das nur in konkreten historischen Phänomenen einlösbar erscheint. Es erweist sich dort nämlich als der notwendige Widerspruch, der mit der faktischen Macht gesetzt wird und sich zugleich als deren Ohnmacht ausweist. Aus der gleichen Absicht, das Marxsche Klassenkonfliktmodell von seinen "geschichtsphilosophischen" und "utopischen" Voraussetzungen zu befreien, folgt auch bei Dahrendorf der Voluntarismus als die vom Liberalismus erborgte, bloß um dessen optimistische Dimension verkürzte "utilitaristische" Voraussetzung. Für die Phänomene gesellschaftlicher Integration ist nur die Intentionalität der Herrschenden verantwortlich zu machen. Für die Phänomene gesellschaftlicher Desintegration muß sich Dahrendorf wie vor ihm schon Pareto und Mosca auf die "Eigenwililgkeit" jener "weniger gut weggekommenen Gruppen einer Gesellschaft"8 berufen. Das Interesse an der Erhaltung wie das an der Veränderung gesellschaftlicher Zustände, das Marx noch als ein durch die objektive Struktur eben dieser gesellschaftlichen Verhältnisse vermitteltes wie selbst vermittelndes Element im Prozeß gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion begriffen hatte, wird zu einem Datum. Dadurch jedoch muß jeder Versuch, mit einer auf diesen Voraussetzungen ruhenden Theorie Phänomene des gesellschaftlichen Wandels zu erklären, notwendig diese Theorie transzendieren. Die theoretischen Schwierigkeiten beginnen allerdings schon sehr viel früher; dort nämlich, wo es nicht nur um die Bestimmung der Funktionalität oder Disfunktionalität faktischer Macht geht. Sie setzen bereits bei der Frage nach der Genesis der Macht aus der Struktur der sozialen Systeme ein. Bei der Bestimmung der formalen Struktur des sozialen Systems durch das Geflecht der Interdependenzbeziehungen der Systemelemente spielt bei Pareto neben den Residuen, Derivationen, die soziale "Heterogenität" der Individuen für die Analyse der Bedingungen des Systemgleichgewichts eine bedeutende Rolle. Da das Gleichgewicht des sozialen Systems " ... l'equilibre d'un systeme social est semblable a celui d'un organisme vivant" 9 , hat es im wesentlichen die gleichen Eigenschaften wie dieses: "Toute societe presente habituellement une resistance assez considerable aux forces exterieures ou interieures qui tendent a la modifier. Les mouvements accidentels qui se produisent dans la societe sont neutralises par les mouvements en sens contraire qu'ils provoquent, et, en definitive, ces mouvements finissent par s'eteindre, et la societe re7
8 8
Dahrendorf, über den Ursprung . . . , a.a.O., S. 31. Dahrendorf, Über den Ursprung ... , a.a.O., S. 31. Pareto, Traite . .. , § 2068, S. 1309. Vgl. auch Cours ... , Tome 2, § 620, S. 27.
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vient a son etat primitif. Par consequent, cette societe peut etre consideree dansunetat d'equilibre, et d'equilibre stable10." Die Funktionen, die der Erhaltung des Systems dienen, fallen als Aufgaben seinen einzelnen Elementen zu. Diese Funktionsdiffenzierung begründet ganz wie bei Spencer die soziale "Heterogenität" der Elemente. Daß Letzterer davon spricht, daß eine wirkliche Analogie zwischen einem individuellen und einem sozialen Organismus besteht, wird unbestreibar, wenn man sieht, daß gewisse die Bildung bestimmenden Notwendigkeiten dieselben gemeinsam beherrschen. "Gegenseitige Abhängigkeit der Teile ist das, was Organisation jeglicher Art hervorbringt und erhält. Solange in einer Masse lebenden Stoffs alle Teile gleich sind und alle Teile gleichmäßig ohne gegenseitige Hilfe leben und wachsen, findet keine Organisation statt; ... die Veränderungen, durch welche diese strukturlose Masse eine gebildete Masse wird ... , sind Veränderungen, durch welche die Teile ihre ursprüngliche Gleichheit verlieren; und dies tun sie, indem sie ungleiche Arten von Tätigkeiten beginnen auszuführen ... Diese Unterschiede in der Verrichtung und die daraus folgenden Unterschiede der Struktur , ... , werden mit fortschreitender Organisation bestimmt und zahlreich, und im Verhältnis, als sie dies tun, wird den Anforderungen besser entsprochen11." Diesem Prozeß der Differentiation systemspezifischer Funktionen, der für Pareta eine "passage a une heterogenite definie avait surtout attire l'attention et porte le nom de principe de la division du travail" 12 entspricht auf der anderen Seite " ... l'acroissement de la mutuelle dependance des individus composant la societe" 13• In ganz ähnlicher Weise sieht Mosca die Gesellschaft als einen Prozeß der Differentiation von Gruppen und ihrer Integration in größere soziale Gebilde14• Jede Gesellschaft entwickelt nach ihm eine Anzahl von sozialen Tätigkeiten, deren sie zum Überleben bedarf, die je nach dem Grad der inneren Differenziertheit der Gesellschaft verschiedenen sozialen Gruppen als Aufgaben zufallen, und auf die hin diese im einzelnen organisiert sind. Die Form, in der diese sozialen Tätigkeiten organisiert sind, bildet die soziale Struktur der Gesellschaft. Die Sozialstruktur ist in Beziehung auf die "prerequisites" der Gesellschaft bei beiden Autoren bis zu einem bestimmten Grade integriert: "There are functional imperatives limiting the degree of incompatibility of the possible kinds of roles in the same action system; these imperatives Pareto, Cours ... , Tarne 2, § 585, S. 9. Vgl. auch Traite ... , § 2067, S. 1308. Herbert Spencer, Einleitung in das Studium der Sociologie, a.a.O., S. 163 f.; Pareta hat dieses Zitat Spencers in seinem Cours erwähnt. Vgl. Cours ... , Tarne 2, S. 28 ff. 12 Pareto, Cours ... , Tarne 2, § 654, S. 51. 13 Pareto, Cours ... , Tome 2, § 654, S. 52. 14 Vgl. Mosca, Teorica ... , S. 63. 10
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are ultimately related to the conditions of maintenance of a total ongoing social system of the type in which the more constitutive of these roles are found 15." Auf der anderen Seite aber ist die Analogie zum Organismus nicht soweit getrieben, daß man zu Recht von einer wholeistischen Gesellschaftskonzeption sprechen könnte. Das Ganze der Gesellschaft ist nicht den unter ihr befaßten Einzelnen vorgegeben, vielmehr konstituiert es sich in deren Verhalten und wechselseitigen Aufeinanderbezogensein. Abgesehen davon, daß bereits der voluntaristische handlungstheoretische Ansatz eine solche whole-istische Konzeption ausschließt, betont Pareto gerade die Grenzen dieser Analogie: "On a use et abuse de la comparaison entre le systeme nerveux d'un animal et les classes dirigeantes de la societe. Mais peut-on serieusement croire qu'il y a, entre les hommes qui composent ces classes et le reste des hommes, la meme difference materielle qui existe entre les muscles? Quelle concurrence peut exister entre les muscles et le cerveau pour remplir les memes fonctions? Cette concurrence est au contraire un des faits principaux qu'on doit etudier dans les societes humaines' ...16." Auch bei Mosca ist schließlich der Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher und politischer Macht und der Sozialstruktur weitgehend unter dem Aspekt der individuellen bzw. gruppenspezifischen Konkurrenz gesehen. Der Begriff der Konkurrenz ist hier aber - wie im übrigen bereits bei Spencer - gleichsam sozial-darwinistisch uminterpretiert. Im Prozeß der Konkurrenz, der in seiner allgemeinsten Form ein Kampf um die gesellschaftliche wie politische Macht ist, gelingt es immer nur den für diesen "Kampf am besten gerüsteten" Individuen oder Gruppen, sich der gesellschaftlichen Mittel zu versichern, mit denen sie ihre eigenen Interessen zu realisieren vermögen17• Unter der Hand gerät dabei allerdings die Erfolgstüchtigkeit von Individuen zu einer gegebenen "natürlichen" Eigenschaft dieser Individuen. Der Vermittlungszusammenhang, in dem die sozial relevanten Fähigkeiten und Eigenschaften zu konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen stehen, wird überhaupt nicht reflektiert. Von daher wird dann auch verständlich, warum die Genese gesellschaftlicher und politischer Macht in der Sozialstruktur eher über die soziale Schichtung vermittelt interpretiert wird. Nicht so sehr die der Sozialstruktur immanenten Machtverhältnisse, die sich aus den Formen der Arbeitsteilung, der faktischen und nur zum Teil normierten Abhängigkeitsverhältnisse und den Weisen der Mittelallokation ergeben, 15 18 17
Talcott Parsans et. al., Toward a General Theory ... , a.a.O., S. 25. Pareto, Cours ... , Tome 2, § 621, S. 28. Vgl. Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 79.
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werden analysiert, nicht so sehr werden deren Relevanz für die integrativen bzw. desintegrativen Folgen aufs gesellschaftliche Systemgleichgewicht festgehalten. Vielmehr wird die Macht tatsächlich über die soziale Schichtung interpretiert, in der die Einzelnen, insofern sie Funktionsträger des arbeitsteilig organisierten gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses sind, nach ihren "sozialen Tätigkeiten" entsprechend normativ vermittelten Bewertungskriterien eingeordnet sind. Dies hat nun aber für das Verständnis nicht nur der gesellschaftlichen Machtverhältnisse selbst bestimmte Folgen. Vielmehr kann der Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher und politischer Macht gleichsam immer nur über das wertorientierte Selbstverständnis der zu analysierenden Gesellschaft eruiert werden. "Aber auch abgesehen von allen Vorteilen der Organisiertheit bestehen die herrschenden Minderheiten meistens aus Individuen, die der Masse der Beherrschten in materieller, intellektueller, sogar in moralischer Hinsicht überlegen sind, oder sie sind wenigstens Nachkommen von Individuen, die solche Vorzüge besaßen. Anders ausgedrückt haben die Mitglieder der herrschenden Minderheit regelmäßig wirkliche oder scheinbare Eigenschaften, die hochgeschätzt sind und in ihrer Gesellschaft großen Einfluß verleihen18." "In primitiven Gesellschaften, die noch auf der ersten Stufe ihres Zusammenschlusses stehen, gibt die kriegerische Tapferkeit den leichtesten Zugang zur politischen Klasse .. . Dort gewinnen die kriegstüchtigsten Individuen leicht die Herrschaft über alle anderen, die Tapfersten werden Häuptlinge19." Die dieser Gesellschaft eigene Vordringlichkeit der kriegerischen Sicherung ihrer Existenz, die von außen her ständig bedroht erscheint, verleiht dieser sozialen Tätigkeit auch objektiv gesehen eine überlegene Bewertung in der Gesellschaft. Die diese Aktivitäten tragende Gruppe erhält damit ein allen anderen Gruppen überlegenes Prestige, von dem aus sie ihren Anspruch auf gesamtgesellschaftliche Herrschaftspositionen begründet, und der auch innerhalb des der Gesellschaft immanenten Bewertungssystems legitimiert wird. Auf die Genesis jedoch der in der Sozialstruktur einer Gesellschaft angelegten faktischen Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse wird nicht zurückgegangen. Mit deren Setzung und des mit ihnen gegebenen gesamtgesellschaftlich institutionalisierten Systems der Mittelallokation ergibt sich die Beanwortung der Frage nach Zugang zur und Einfluß auf die gesamtgesellschaftliche Herrschaft von selbst. Zugleich zeigt sich, daß politische Herrschaft für Mosca nichts anderes sein kann als die bloß verallgemeinernde Abstraktion konkreter gesellschaftlicher Machverhältnisse. 18 10
Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 55. Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 56.
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Ein Mindestmaß an Konsensus in bezug auf solche der Gesellschaft eigenen Bewertungssysteme ist also eine notwendige Voraussetzung sowohl für die Definierung gesamtgesellschaftlicher Herrschaftspositionen selbst als auch für die Kriterien des Zugangs zu ihnen, wenn eine legitime Herrschaftsordnung überhaupt möglich sein soll, und wenn sich die "Über- und Unterordnungsverhältnisse" in der Gesellschaft als nicht bloß auf Gewalt gegründet darstellen sollen. Diese Aktivitäten, die eine Gesellschaft ausgebildet hat, und die in den einzelnen Aktivitätsstrukturen Führungspositionen enthalten, nennt Mosca soziale Kräfte, wenn die Gesellschaft sie als für ihre Existenzfähigkeit bedeutsam ansieht. "Unter ,sozialen Kräften' verstanden wir hierbei, was unter den gegebenen Umständen von Zeit und Ort bestimmten Individuen moralisches Prestige, geistige und wirtschaftliche Überlegenheit und damit die Mittel zur Leitung anderer Menschen verleiht20." Welche Faktoren jeweils rein inhaltlich den Zugang zu gesamtgesellschaftlichen Herrschaftspositionen ermöglichen, hängt danach nicht nur von der Aktivitätsstruktur, sondern eben auch vom Bewertungssystem der Gesellschaft ab, das sowohl die einzelnen Aktivitäten als auch deren Träger an dem Beitrag mißt, den sie für das Funktionieren der Gesellschaft als Ganzes leisten. Welche Aktivitäten in einer Gesellschaft wichtig und welche unwichtig erscheinen, hängt also im wesentlichen vom gesellschaftlichen Selbstverständnis ab, das zugleich bestimmt, was Gesellschaft in jedem Moment zu sein habe, das zugleich aber auch immer wieder durch neuauftauchende Deutungsweisen, die mit dem Entstehen neuer sozialer Gruppen auftreten, infragegestellt werden kann. Die Integration einer Gesellschaft in bezug auf ihr Bewertungssystem und in bezug auf die Aktivitätsstruktur ist so latent immer infragegestellt. Damit sind die jeweiligen bestehenden gesamtgesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse selbst ständig dem Vorrang der Konkurrenz unterworfen. Es erweist sich daher als äußerst schwierig, den objektiven Beitrag der einzelnen Aktivitäten zum Bestehen einer Gesellschaft zu bestimmen. Dieses Problem ist deshalb besonders wichtig, weil Mosca objektive und subjektive Messung nicht streng analytisch trennt und so ständig der Gefahr sich aussetzt, bestimmte normative Sätze aus den der Gesellschaft selbst immanenten Bewertungssystemen als Aussagen über die objektivfunktionale Bedeutung bestimmter Aktivitäten auszugeben21 • Vgl. Mosca, Teorica ... , a.a.O., S. 26, und Die Herrschende Klasse, S. 206. u In seiner Kritik am Parlamentarismus wird das besonders deutlich, wenn er beklagt, daß ganz bestimmte soziale Gruppen, deren funktionale Bedeutung für die Gesellschaft er betont, nicht den ihnen "angemessenen" Herrschaftsanspruch geltend machen können. 10
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Für die Analyse der Herrschaftsstrukturen ergibt sich daraus die Konsequenz, daß er die Legitimationsweisen der sich an der Herrschaft Befindenden gleichsetzt mit der Bedeutung, die sie für die Gesellschaft als Führungsträger bestimmter Aktivitäten tatsächlich haben. Mit dem wachsenden Bedürfnis, den Zusammenhang der Gesellschaft dem einzelnen Mitglied verständlich zu machen und zugleich im Kultursystem eine Form der Weltdeutung zu geben, durch das der Einzelne seine Stellung in dem ihn umgebenden Universum und seine soziale Stellung erklärt findet, steht eine zweite, wichtige "soziale Kraft". "In Gesellschaften, wo die Religion eine große Rolle spielt und ihre Diener eine besondere Klasse bilden, entsteht fast immer eine priesterliche Aristokratie, die sich einen gewissen Teil des Reichtums und der politischen Macht aneignet. Oft erfüllen die Priester nicht nur religiöse Funktionen. Sie besitzen Kenntnisse auf dem Gebiet des Rechts und der Wissenschaften und sind die Klasse mit der höchsten intellektuellen Kultur. Priesterliche Aristokratien zeigen oft eine bewußte oder unbewußte Tendenz, solche Kenntnisse zu monopolisieren22." Es zeigt sich, in welcher Weise nach Moscas Ansicht die Zahl der "sozialen Kräfte" mit der wachsenden Differenzierung der Gesellschaft steigt, und wie zugleich durch arbeitsteilige Differentiation jedesmal wieder dieser Gesellschaft das Problem der erneuten Integration sich stellt, das nun aber nicht mehr anders artikuliert werden kann als durch den Anspruch partikularer sozialer Gruppen auf gesamtgesellschaftliche Herrschaft. Mit der wachsenden Komplexität einer Gesellschaft wächst also auch die Zahl der autonomen um den Zugang zur gesamtgesellschaftlichen Herrschaft konkurrierenden Gruppen. In Gesellschaften, in denen es praktisch nur eine "soziale Kraft" gibt, stellen ihre Führungsträger die herrschende Klasse dar. Gibt es aber eine Vielzahl sozialer Kräfte, dann finden sie sich in der herrschenden Klasse repräsentiert, oder sollten sie nach Mosca repräsentiert sein. Ist das nicht der Fall, bleiben bestimmte soziale Kräfte vom Zugang zur gesamtgesellschaftlichen Herrschaft ausgeschlossen, dann entsteht die Gefahr, daß diese ausgeschlossenen Gruppierungen sich mit dem Ziel organisieren, die bestehende Herrschaftsordnung zu beseitigen und ihren eigenen Herrschaftsanspruch geltend zu machen. In dieser Feststellung liegt bereits Moscas Konzept des sozialen Wandels23 • Mit der Bildung von Städten entsteht dann auch eine weitere "soziale Kraft", nämlich die des Reichtums und die des Handelns: "Reichtum wird anstelle von militärischer Tapferkeit das charakteristische Kennzeichen 22 23
Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 60. Vgl. weiter unten.
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der herrschenden Klasse. Die wichtigste Bedingung dieser Veränderung ist eine solche Vervollkommnung der gesellschaftlichen Organisation, daß der Schutz der Staatsgewalt wirksamer wird als der Schutz durch die Macht von Privaten24." Mit diesem Vordringen des ökonomischen Elements und einer auf dieses Element hin strukturierten Gesellschaft verliert zugleich die militärische Macht ihre alte Bedeutung als autonomer politischer Faktor; er gerät selbst unter die Kontrolle von Trägern gesamtgesellschaftlicher Herrschaft, die sich aus den nicht-militärischen Teilstrukturen rekrutieren25. Wie der Reichtum eine "soziale Kraft" für die Begründung gesellschaftlicher Herrschaft wird, so bleibt er es doch nicht allein. Vielmehr hat er auch in Gesellschaften, die den Zugang zur gesamtgesellschaftlichen Herrschaft von anderen Kriterien abhängig machen, eine wichtige Funktion: "In allen Ländern sind auch andere Mittel des sozialen Einflusses, wie persönliches Ansehen, hohe Bildung, Spezialkenntnisse und die hohen Stellen in Kirche, Verwaltung und Heer den Reichen leichter zugänglich als den Armen . .." 26 ; "Prüfungen und Wettbewerbe mögen theoretisch allen zugänglich sein, aber in Wirklichkeit hat die Mehrheit nie die Mittel zur Bestreitung der Kosten einer langen Vorbereitung27 ." Hiermit kommt nun ein ganz anderer Aspekt in der Betrachtung zur Geltung; sprach Mosca zunächst davon, wie bestimmte "soziale Kräfte" Herrschaftspositionen erobern, oder besser, wie gesamtgesellschaftliche Herrschaft in der sozialen Struktur selbst begründet ist, so behandelt er in dem eben genannten Zitat das Phänomen der sozialen Mobilität innerhalb einer gegebenen Sozialstruktur, ohne daß er selbst jedoch den Unterschied in der Betrachtungsweise bewußt deutlich macht. Doch ist damit tatsächlich ein prinzipiell anderer Problemkreis angeschnitten. Einmal war davon die Rede, in welcher Weise die Prädominanz bestimmter sozialer Kräfte die Herrschaftsordnung begründet. Zum anderen aber wird die Frage nach dem Umfang sozialer Mobilität und der damit verbundenen Fluktuation in den Herrschaftspositionen gestellt. Bei dieser Frage braucht jedoch weder die jeweilige Sozialstruktur noch die bestehende Herrschaftsordnung selbst infragegestellt zu werden. Mobilität einzelner Individuen muß weder unmittelbar eine Neuorientierung der sozialstruktureilen Kriterien bedeuten, noch braucht sie die bestehenden Selektionsmechanismen, durch die die Träger gesamtgesellschaftlicher Herrschaftspositionen ausgelesen werden, außer Kraft zu setzen. Gerade diese beiden Aspekte sind analytisch sorgfältig zu scheiden. Daß Mosca 24
25 26 27
Mosca, Mosca, Mosca, Mosca,
Die Herrschende Die Herrschende Die Herrschende Die Herrschende
Klasse, Klasse, Klasse, Klasse,
S. 58. S. 194. S. 59. S. 61 f.
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die Scheidung nicht gelingt, hat seine Ursache vor allem darin, daß er dort, wo er eigentlich von der Begründung der gesamtgesellschaftlichen Herrschaftsordnung durch "soziale Kräfte" spricht, im Grunde nicht so sehr den strukturellen Aspekt im Auge hat als vielmehr den der sozialen Schichtung. Die Beispiele, die Mosca anführt, beziehen sich fast ausschließlich auf Inter- und Intragenerationsmobilität und nicht so sehr auf das Auftauchen neuer sozialer Kräfte, die selbst politisch relevant werden, was in der Regel sowohl eine Neuzusammensetzung in der herrschenden Klasse als auch eine Neuorientierung in den Kriterien der Sozialstruktur nach sich ziehen müßte. Er spricht eben nicht von einem Wandel sozialer Kräfte in diesem Zusammenhang, die zu politischen Kräften werden, als vielmehr von der Tatsache, daß innerhalb einer gegebenen Sozialstruktur bestimmte sozialstrukturell vermittelte Faktoren die soziale Mobilität bestimmen können. Diese können die soziale Mobilität entweder einschränken oder erweitern28• Durch eine eingeschränkte Mobilität kann zum Beispiel der Zugang zu den für die gesamtgesellschaftlichen Herrschaftspositionen entscheidenden sozialstruktureilen Ausgangspositionen für die niedrigeren Schichten geschlossen sein, womit sich für diese zugleich auch ein Ausschluß von gesamtgesellschaftlicher Herrschaft ergibt. Eine so entstehende Oligarchisierung bestimmter Herrschaftspositionen ist Zeichen für eine abnehmende soziale Mobilität und damit zugleich auch ein Indiz für die Monopolisierung bestimmter Rangplätze innerhalb der sozialen Schichtung. Zum anderen aber ist eine vorhandene hohe Mobilität noch immer kein Zeichen für die Instabilität einer konkreten Sozialstruktur. Das Vorhandensein sozialer Mobilität setzt ja gleichsam die Existenz einer sozialen Schichtung voraus, denn es gibt logisch keine Mobilität außerhalb einer solchen. Beim Auftauchen neuer sozialer Kräfte, die politisch relevant werden, handelt es sich in der Regel aber immer zugleich auch um einen Wandel in der Sozialstruktur selbst, d. h. um eine Neuorientierung an einem nun veränderten Bewertungssystem, oder aber um die Neufestsetzung von Positionen innerhalb der bestehenden Sozialstruktur, von denen aus der Zugang zu den gesamtgesellschaftlichen Herrschaftspositionen möglich sein soll. In diesem Fall geht es immer um ein Infragestellen bestehender Sozialstrukturen oder genauer, um ein Infragestellen des Bewertungssystems für solche Strukturen und ihre Funktionsträger. Damit ist zugleich auch in der Regel immer eine Infragestellung der Legitimitätsbasis der bestehenden Herrschaftsordnung selbst verbunden. zs Vgl. Bernard Barber, Social Stratification: A Comparative Analysis of Structure and Process, New York 1957, S. 356 f.
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Aus den bereits angedeuteten Gründen gelingt es Mosca nicht, diesen Doppelaspekt analytisch klar auseinanderzuhalten. "Wenn eine Gesellschaft schrittweise aus dem Fieberzustand zur Ruhe übergeht, dann setzen sich die dauernden psychologischen Tendenzen der Menschen wieder durch, und die Angehörigen der politischen Klasse entwickeln langsam einen neuen exklusiven Korpsgeist. Sie lernen die Kunst, sich das Monopol der Qualitäten und Haltungen zu sichern, deren man zum Herrschen bedarf29 ." Hier bezieht Mosca sich auf das Absinken sozialer Mobilität, das z. T. eben auch manipulativ verursacht wird, und das zu einer Oligarchisierung in gesamtgesellschaftlichen Herrschaftspositionen führt. Damit setzt er den Prozeß der Stabilisierung der Sozialstruktur mit dem der Oligarchisierung in eins. Ganz ähnlich wie er auch den Wandel in der Sozialstruktur und damit den Wandel der Kriterien für den Zugang zu den Herrschaftspositionen mit einer hohen sozialen Mobilität identifiziert, wenn er sagt: " ... die neuen Ideen und Überzeugungen unterhöhlen dann die Gedankenwelt, auf der der Gehorsam der Massen beruhte. Manchmal wird die politische Klasse ganz oder teilweise durch äußere Feinde vernichtet oder durch neue soziale Elemente vertrieben. Dann pflegt eine Periode der Erneuerung oder, wenn man will, der Revolution ... individuelle Energien erhalten freie Bahn. In solchen Zeiten steigen die Leidenschaftlichsten, Tätigsten, Klügsten und Entschlossensten aus der Tiefe der Gesellschaft zu ihren höchsten Spitzen auf ... Hat eine solche Bewegung einmal begonnen, dann läßt sie sich nicht auf einmal aufhalten. Das Vorbild von Zeitgenossen, die aus dem Nichts kamen und zu hervorragenden Stellungen gelangten, stachelt neuen Ehrgeiz, neue Begierden und neue Energien an, und diese molekulare Erneuerung der politischen Klasse dauert fort, bis eine lange Periode sozialer Stabilität sie wieder verlangsamt30. " Abgesehen davon, daß die Phänomene des sozialen und politischen Wandels fast ausschließlich intentional aufgefaßt werden, was die eigentlich soziologische Dimension dieser Vorgänge verdeckt, zeigt sich auch hier wieder die eigentümliche Vermengung dieser beiden weiter oben angeführten Aspekte, die in dem Satz deutlich zum Ausdruck kommt: "Übrigens stellt die demokratische Tendenz, wo sie nicht radikal und ausschließlich vorherrscht, eher eine konservative Kraft dar. Denn durch sie wird der herrschenden Klasse immer wieder neues Blut durch neue Elemente zugeführt, die eine angeborene Eignung und einen selbstverständlichen Willen zum Befehlen besitzen31 ." Ist bei Mosca die herrschende Klasse zunächst als eine soziale Gruppierung in der Gesellschaft gekennzeichnet, von der aus der Zugang zur gesamtgesellschaftlichen Herrschaft institutionell gesichert oder 29
so 31
Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 67. Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 66. Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 337 f.
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faktisch vorhanden ist, und wird sie bestimmt als eine relativ homogene Einheit, die das ihr eigene Interesse zum Inhalt der gesamtgesellschaftlichen Herrschaft macht, so stellt nun die theoretische Rückbezogenheit auf die soziale Schichtung der Gesellschaft ein weiteres spezifizierendes Bestimmungsmoment zur Verfügung. Von hier aus wird sie zu einer sozialen Gruppierung, deren Mitglieder innerhalb der einzelnen Aktivitätenstrukturen der Gesellschaft, die für die Gesellschaft von manifester funktionaler Bedeutung sein •;ollen, Führungspositionen innehaben. Die unter dem ersten As:;.ekt behauptete Einheitlichkeit der herrschenden Klasse aber wird tatsächlich wieder infragegestellt, weil im Prinzip ja unmöglich vorausgesetzt werden kann, daß die Interessen der Führungsträger der einzelnen Teilstrukturen soweit integriert sind, daß ein Konflikt zwischen ihnen nicht möglich ist. Mosca hat dann ja auch gezeigt, in welcher Weise die gerade nicht institutionalisierte, d. h. im Rahmen eines gegebenen allgemeinen Wert- und Normensystems vorfindliehe Konkurrenz das Gleichgewicht der Gesellschaft immer wieder zu stören vermag. In jeder komplexen Gesellschaft stellt sich das Problem der Integration ihrer einzelnen Teilstrukturen immer wieder neu. Bei der Beschreibung der Mobilität hatte sich gezeigt, daß Mosca den Wandel der Kriterien der Zuordnung von einzelnen oder ganzen Gruppen zu jeweils bestimmten Schichten der sozialen Schichtungspyramide von der positiven oder negativen Bewegung von Einzelnen oder ganzen Gruppen innerhalb dieser Schichtungspyramide bei grundsätzlicher Stabilität der Zuordnungskriterien nicht zu unterscheiden vermag. Bei dem ersten Aspekt handelt es sich prinzipiell um einen Wandel in der Sozialstruktur und damit in dem Wert- und Normensystem der Gesellschaft. Bei dem zweiten Aspekt aber handelt es sich gerade um einen an diesem relativ stabilen Bewertungssystem orientierten Anpassungsprozen von Einzelnen oder Gruppen. Für den Zugang zu den positiven gesamtgesellschaftlichen Herrschaftspositionen kann ein Wandel in den Bewertungskriterien eine Neufestsetzung der Ausgangspositionen innerhalb der sozialen Schichtung, damit auch in der Sozialstruktur bedeuten. Nicht jeder Wandel in den Bewertungskriterien jedoch bedeutet definitorisch schon immer eine Neufestsetzung der Zugangspositionen innerhalb der Sozialstruktur und damit der sozialen Schichtung in bezug auf die positiven Herrschaftspositionen in der gesamtgesellschaftlichen Herrschaftsstruktur. Es zeigt sich hier eine zweite Schwierigkeit, die darin liegt, daß Mosca zwar die Einheitlichkeit der herrschenden Klasse in bezug auf ihren schichtenspezifischen Hintergrund aus eben dieser gemeinsamen Schichtzugehörigkeit ableitet, die Zugangspositionen zur gesamtgesellschaftlichen Herrschaftsorganisation aber in die Teilstruk9 Hübner
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turen der Sozialstruktur zu verlegen trachtet. Die darin implizite Voraussetzung, daß nämlich die Träger sämtlicher in den einzelnen Teilstrukturen definierter Führungspositionen zur herrschenden Klasse gehören und eben als Träger Zugang zu den gesamtgesellschaftlichen Herrschaftspositionen haben sollen, ist prinzipiell nicht zu verallgemeinern. Hier wird deutlich, daß im Begriff der herrschenden Klasse ein im aristotelischen Sinne aristokratisches Element angelegt ist, das den Begriff dann doch wieder auf eine ständisch gegliederte Gesellschaft beschränkt. Was die vertikale soziale Mobilität angeht, so wird sie vor allem unter dem Blickwinkel betrachtet, unter dem sie für den Zugang zu gesamtgesellschaftlichen Herrschaftspositionen relevant wird. Von der weiter oben vorgenommenen Unterscheidung zwischen der sozialen Schichtung der Gesellschaft und der innerhalb ihrer sozialen Teilstrukturen, ergibt sich, daß die Oligarchisierungstendenzen innerhalb der herrschenden Klasse zu einer Verringerung der vertikalen Mobilität sowohl in der sozialen Schichtung als auch in der jener Teilstrukturen führen muß, die für den Zugang zur gesamtgesellschaftlichen Herrschaftsorganisation relevant sind. Mosca glaubt, daß diese auch intergenerationsmäßige Oligarchisierung und Monopolisierung bestimmter Positionen für jede Gesellschaft nachweisbar seien: "Erstens tendieren alle politischen Klassen zur faktischen, wenn auch nicht immer zur gesetzlichen Erblichkeit. Alle politischen Kräfte haben die Eigenschaft, die man in der Physik die Trägheit nennt, d. h. eine Tendenz, im gegebenen Zustand zu verbleiben32." Das Vorhandensein vertikaler Mobilität bezeichnet Mosca als die "demokratische", ihr Fehlen als die "aristokratische" Tendenz: "Hingegen wollen wir als ,demokratisch' eine bestimmte Tendenz bezeichnen, die sich offen oder versteckt mit mehr oder weniger Kraft in allen politischen Gebilden geltend macht: Die Tendenz zur Erneuerung der herrschenden Klasse durch den Aufstieg von Personen aus der beherrschten Klasse in die herrschende, um die alte herrschende Klasse zu stürzen oder mit ihr zu verschmelzen33." Hier wird wiederum deutlich, daß Mosca den Vorgang, den man als vertikale Mobilität bezeichnen kann, der also ein Anpassungsvorgang von Einzelnen ist, nicht von einer Neuregelung oder Neufestsetzung der Rekrutierungsfelder für den Zugang zur gesamtgesellschaftlichen Herrschaftsorganisation zu unterscheiden vermag. Denn selbst dort, wo er von einer Verschmelzung neuer Elemente mit der herrschenden Klasse spricht, d. h. aber letztlich einen Wandel in den Rekrutierungsfeldern meint, haben wir es nicht mit Mobilität im ursprünglichen Sinne zu tun. Daß er diese beiden Aspekte nicht ausein32 Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 61. ss Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 322.
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anderhält, liegt auch daran, daß er die Unterscheidung zwischen zwei Kriterien der bewertenden Zuordnung nicht in ihrer vollen Bedeutung erkennt: die Unterscheidung zwischen "achieved" und "ascribed" Status34• Zwar zeigt Mosca, in welcher Weise ein zugeschriebener Status zustandekommt, nämlich daß er meist in bezug auf den Status ganzer Gruppen einer Gesellschaft im Transzendenten ontologisch gerechtfertigt wird: "Erbliche Aristokratien rühmen sich oft übernatürlichen Ursprungs oder wenigstens eines anderen und höheren Ursprungs als die Untertanen ...35." Aber es gelingt ihm doch nicht, zu zeigen, wie möglicherweise vertikale Mobilität dadurch verhindert werden kann, daß einige Statuselemente die Form des "Erworbenen" haben können, prinzipiell also offen sind, vertikale Mobilität aber trotzdem nicht möglich ist, weil gerade diese Elemente im Status nur sekundär sind, also auf andere Elemente bezogen sind, die eben den Charakter des "Zugeschriebenen" haben. Das Phänomen, das hier deutlich wird, hat er wohl gesehen, aber analytisch doch nicht zu fassen vermocht: "Prüfungen und Wettbewerbe mögen theoretisch allen zugänglich sein, aber in Wirklichkeit hat die Mehrzahl nie die Mittel zur Bestreitung der Kosten einer langen Vorbereitung, und viele andere sind nicht im Besitz familiärer oder sonstiger Verbindungen, um von vorneherein den rechten Start zu finden und das Tasten und die Fehler zu vermeiden, die in einem ungewohnten Milieu ohne Führer und Helfer unvermeidlich sind38." Die damit verbundene Tendenz sowohl der Einschränkung der vertikalen Mobilität als aber auch der Einschränkung des gesellschaftlichen Wandels, die sich vor allem darin ausdrückt, daß die Gesellschaft keine neuen Aktivitäten entwickelt, für deren Träger sie einen neuen Status definieren müßte, bezeichnet Mosca als die aristokratische Tendenz. Diese Tendenz ist immer vorhanden, wenn auch in verschiedener Stärke; sie dient der Erhaltung der Herrschaft bei den Nachkommen ihrer jeweiligen Inhaber37• "Die demokratische Tendenz, d. h. die Tendenz zur Erneuerung des Bestandes der herrschenden Klasse wirkt immer und in allen menschu Unter "ascribed status" wird in der Regel ein zugeschriebener Status verstanden, der innerhalb eines Bewertungssystems Menschen oder Gruppen als Eigenschaft zugeschrieben wird, ganz gleich, ob diese Zuschreibung nun rechtlich fixiert ist wie im Fall des Geburtsadels oder ob sie einfach nur faktisch gilt, wie z. B. für die Senatorenaristokratie der römischen Republik. Unter "achieved status" verstehen wir in der Regel einen erworbenen Status. Status selbst heißt in allen beiden Fällen eine institutionell definierte Position in der Sozialstruktur. Damit aber wird die Position innerhalb der sozialen Schichtung zu nur einem Aspekt des Status. Vgl. R. Linton, The Study of Man, New York 1936; das ganze 4. Kapitel. Aber auch T. Parsons, A Revised Analytical Approach to the Theory of Social Stratification ... , a.a.O., S. 393 ff. 35 Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 62. 38 Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 62. 37 Vgl. Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 322. g•
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liehen Gesellschaften, wenn auch mit größerer oder geringerer Stärke. Hin und wieder vollzieht sich diese Erneuerung plötzlich und gewaltsam, im Normalfall jedoch durch das langsame Eindringen von Elementen aus der Unterschicht in die Oberschicht38." Gerade hiermit aber ist ganz eindeutig der Wandel von Gesellschaft bezeichnet. Die Elemente, die hier als in die Oberschicht aufsteigend bezeichnet werden, sind in der Regel aber immer Träger neuer Funktionen. Bezeichnend ist, daß Mosca hier statt herrschender Klasse Oberschicht sagt und damit stillschweigend voraussetzt, daß die Prestigehierarchie der Gesellschaft sich mit der Machtverteilung in der Gesellschaft deckt, und daß die Träger der gesamtgesellschaftlichen Herrschaft zugleich auch immer an der Spitze der gesellschaftlichen Prestigehierarchie stehen. Als Träger neuer Funktionen muß ihr Status in der Gesellschaft entsprechend der ihnen von der Gesellschaft zuerkannten Bedeutung neu definiert werden. Dabei zugleich wird dann auch ihr Verhältnis zu der gesamtgesellschaftlichen Herrschaftsstruktur definiert. Der Wandel in den Bewertungskriterien über den Zugang zur gesamtgesellschaftlichen Herrschaft stellt sich damit aber immer als ein Anpassungsprozeß der Herrschaftstruktur an die sich wandelnde Sozialstruktur und an die sich wandelnde soziale Schichtung dar. Dieser Anpassungsprozeß geht entweder langsam vor sich oder abrupt. Immer aber ist er die Folge einer sich wandelnden Sozialstruktur der Gesellschaft. "In neuerer Zeit hat es manchmal gewaltsame, umfassende Erneuerungen der politischen Klasse als Folge schwerer innerer Erschütterungen gegeben. Dies sind die echten Revolutionen, die eintreten, wenn zwischen der offiziellen politischen Ordnung und den Sitten, Ideen und Empfindungen eines Volkes ein tiefer Gegensatz entsteht, und wenn zahlreiche, zur Teilnahme an der Staatsführung höchst geeignete Elemente von ihr künstlich ferngehalten werden. Die große französische Revolution bot hierfür ein klassisches Beispiel39." Die Ursache solcher gewaltsamen Umbrüche liegt für ihn also immer in einer voraufgehenden Desintegration des Wert- und Normensystems der Gesellschaft. Es wird einsichtig, daß Mosca die dieser Desintegration des Wertund Normensystems vorgängige Desintegration der Sozialstruktur nicht sieht. Die Bedingungen der Auslösung solcher Umbrüche sind durch das Entstehen eines klassenmäßig partiellen Wert- und Normensystems, durch das bestimmte aktuelle Verhaltensweisen und Interessen innerhalb dieser Klassen40 manifest werden, bestimmt. Diese setzen sich in Widerss Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 336. 39 Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 336. 40 Der Klassenbegriff in seiner ursprünglichen Bedeutung ist für eine Verwendung innerhalb des von Mosca geschilderten Vorgangs äußerst problematisch.
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spruch zu den durch das gesamtgesellschaftliche Wert- und Normensystem für diese Klasse definierten Interessen und Verhaltensweisen. Die desintegrative Funktion dieses gesellschaftlichen Wert- und Normensystems wird aber in dem Augenblick wirksam, in dem die aktuellen Verhaltensweisen in bestimmten Positionen der Sozialstruktur von den gesamtgesellschaftlichen für diese Position definierten abweichen und aus Gründen der strukturellen Veränderungen abweichen müssen, weil anders die Positionsinhaber die für sie neu auftauchenden Situationen nicht bewältigen können. Dabei ist prinzipiell zweierlei möglich: (1) Es können solche Strukturveränderungen Situationen schaffen, die durch das gesamtgesellschaftliche Wert- und Normensystem überhaupt nicht, d. h. nicht einmal negativ definiert sind. (2) können diese gesamtgesellschaftlich undefinierten Situationen, indem sie durch die Handelnden zum Zweck der Neuorientierung definiert werden, zu einer manifesten Disfunktion in bezug auf das gesamtgesellschaftliche Wert- und Normensystem führen. Im ersten Fall entsteht zunächst nur eine gemeinsame Lage der Betroffenen, im zweiten Fall aber eine manifeste Klasse. Das gesamtgesellschaftliche Wert- und Normensystem wird in solchen Struktursituationen zu einem partiellen der an der Herrschaft sich Befindenden. Die Herrschaft selbst, die ebenfalls durch dieses Wert- und Normensystem als legitime Herrschaft ausgewiesen war, wird zur Gewalt. Die Gesellschaft ist im Zustand völliger Desintegration. Zu einem solchen gewaltsamen Umbruch führt vor allem das Vorhandensein einer starken aristokratischen Tendenz, mit der im Zusammenhang Mosca zugleich auch immer die Invariabilität des Wert- und Normensystems und damit die der Verhaltensweisen der herrschenden Klasse koppelt. Auf die Möglichkeit einer größeren Variabilität, d. h. Anpassungsfähigkeit des Verhaltens der herrschenden Klasse im Zusammenhang mit einer gleichzeitigen aristokratischen Tendenz geht Mosca nicht ein. Die aristokratische Tendenz ist zugleich auch immer eine Tendenz zur Invariabilität des Systems. Zwei Einschränkungen in bezug auf Moscas Einsichten in die strukturellen Dimensionen des Wandels gesellschaftlicher Systeme und ihrer Herrschaftsstrukturen müssen bereits hier angedeutet werden. Sie weisen auf das hin, was die Fruchtbarkeit dieses zunächst strukturellen Ansatzes wieder einzuschränken droht. Einerseits gelingt es Mosca nicht, zu zeigen, daß es auch einen Wandel gesellschaftlicher Teilstrukturen geben kann, der für die gesamtgesellschaftliche Herrschaftsstruktur zumindest unmittelbar bedeutungslos ist. Es gelingt ihm weiterhin nicht, zu zeigen, daß es innerhalb dieser Teilstrukturen Herrschaftsverhältnisse gibt, die im Verlauf eines Wandels, der sich nur auf diese Teilstruktur bezieht, infragegestellt werden können. Für Mosca gilt in diesem Fall, was Dahrendorf für Marx' Klassentheorie gesagt hat, daß
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dieser nämlich die Klassen als Herrschende oder Beherrschte auf die gesamtgesellschaftliche Herrschaft beziehe, jeder Klassenkonflikt damit notwendig immer ein Herrschaftskonflikt innerhalb der gesamtgesellschaftlichen Herrschaft sein muß41 • Daß ihm eine solche Differenzierung nicht gelingt, hat, wie bei Marx, die gleiche Ursache. Insofern Mosca davon ausgeht, daß die Herrschaftspositionen innerhalb der gesamtgesellschaftlichen Herrschaftsorganisation nur über die Führungspositionen der einzelnen sozialen Teilstrukturen erreicht werden können, muß sich notwendigerweise ein Herrschaftskonflikt innerhalb dieser Teilstrukturen immer zugleich auch als ein Herrschaftskonflikt innerhalb der gesamtgesellschaftlichen Herrschaftsstruktur darstellen. Zum andern ist die herrschende Klasse gerade dadurch definiert, daß sie als Inhaber dieser Führungspositionen in den Teilstrukturen zugleich Inhaber der Herrschaftspositionen gesamtgesellschaftlicher Herrschaft sind und zudem eine einheitliche soziale Schicht darstellen; wie umgekehrt auch die beherrschte Klasse durch den Ausschluß von der Teilnahme an der gesamtgesellschaftlichen Herrschaft sowohl als auch an der in den Teilstrukturen der Sozialstruktur bestimmt ist. Ihre Zuordnung auf die Basisplätze der sozialen Schichtungspyramide macht zugleich aus ihnen die "Masse". Die Konzeption der gesellschaftlich durchgängig dichotomisch strukturierten Herrschaft wie aber auch die der kulturellen Einheitlichkeit der in der herrschenden Klasse zusammengefaßten Führungsträger der einzelnen Teilstrukturen, machen eine Einsicht sowohl in bezugauf die Partialität von Herrschaftskonflikten innerhalb sozialer Teilstrukturen als auch eine in bezug auf den Herrschaftskonflikt in der gesamtgesellschaftlichen Herrschaftsstruktur zwischen Führungsträgern aus sozialen Teilstrukturen unmöglich. Ein Konflikt zwischen Führungsträgern in bezug auf gesamtgesellschaftliche Herrschaft ist für Mosca undifferenziert immer ein Konflikt einer herrschenden Klasse mit einer in die Herrschaft strebenden Klasse. Der Hinweis auf das Eindringen von Elementen aus der Unterschicht in die Oberschicht mag zwar ein Hinweis auf die mögliche Partialität von Konflikten in bezug auf die gesamtgesellschaftliche Herrschaft sein, die für die Begriffsbildung wichtigen Konsequenzen jedoch werden daraus nicht gezogen. Das zweite Element, das die ursprüngliche Fruchtbarkeit des Theorems der herrschenden Klasse einzuschränken droht, aber ist gravierender. Es bezieht sich vor allem darauf, daß der Wandel von Gesellschaftssystemen letztlich auf ein individuelles intentionales Verhalten reduziert zu werden droht. Ganz ebenso wie vorher Herrschaft intentional gefaßt 41
Vgl. Ralf Dahrendorf, Soziale Klassen und Klassenkonflikt, a.a.O., S. 134 f.
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wurde, ebenso wie die Unterscheidung zwischen Positionen, Rollen und deren Trägern unterbleibt, droht diese Reduktion die ursprüngliche soziologische Einsicht wieder zu verschütten. "Der Kampf zwischen denen an der Spitze und denen, die unten geboren sind und nach oben wollen, war, ist und wird immer der Antrieb sein, der Individuen und Klassen zwingt, ihren Horizont zu erweitern und jene neuen Wege zu suchen, die die Zivilisation auf den Stand des 19. Jahrhunderts geführt haben ...42 ." Es ist auch hier wieder bezeichnend, wie die Mobilität einzelner Individuen mit dem Wandel der Sozialstruktur identifiziert wird. Die Funktion der "demokratischen Tendenz" ist für Mosca vor allem für die Anpassungsprozesse der Gesellschaft sowohl an ihr äußeres System als auch für eine erneute Integration desintegrierter Teilstrukturen wichtig. "Es läßt sich nicht leugnen, daß die demokratische Tendenz, besonders wenn sie sich in gewissen Grenzen hält, für den wirklichen oder scheinbaren Fortschritt unentbehrlich ist. Wären alle Aristokratien immer abgeschlossen und unbeweglich geblieben, dann hätte sich die Welt niemals geändert, und die Menschheit wäre auf dem Standpunkt der homerischen Monarchie oder der altorientalischen Reiche stehengeblieben43 ." Die Bedeutung der "aristokratischen Tendenz" liegt vor allem in ihrer systemstabilisierenden Funktion, die allerdings dort, wo sie ihrem Umfang nach zu stark wird, disfunktional wirkt. "Eine geschlossene oder halbgeschlossene Aristokratie entwickelt unvermeidlicherweise mit der Zeit einen Kastengeist, und ihre Mitglieder bilden sich ein, der übrigen Menschheit unendlich überlegen zu sein44." Diese Haltung " .. . führt übrigens zur Vermeidung jeder Berührung mit den unteren Schichten ... " 45 • Eine rigide aristokratische Tendenz bewirkt zunächst, daß diese Gesellschaften völlig stationär werden. "In solchen Gesellschaften sind die politischen Kräfte immer die gleichen, und die Klasse im Besitz der Macht behauptet sie unangefochten. Darum bleibt die Macht dauernd in der Hand gewisser Familien, und die Tendenz zur Unbeweglichkeit überträgt sich auf alle Schichten der Gesellschaft46 ." Die damit verbundene Isolierung zwischen den Schichten, die allein nur noch durch Zwang zusammengehalten werden, kann zu einer Entwicklung verschiedener Werthaltungen und Interessenorientierungen führen. Die Gesellschaft verfällt einem Prozeß der Desintegration. Für die gesamtgesellschaftliche Herrschaftsstruktur bedeutet das, daß die ihr inkorporierte Herrschaft zur Gewalt degeneriert. Denn da, wo die Grundlagen eines geMosca, Die Herrschende es Mosca, Die Herrschende 44 Mosca, Die Herrschende 45 Mosca, Die Herrschende 48 Mosca, Die Herrschende
41
Klasse, Klasse, Klasse, Klasse, Klasse,
S. 337. S. 337. S. 340. S. 341. S. 65.
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meinsamen Wert- und Normensystems zerstört werden, wird zugleich auch die Legitimationsbasis der Herrschaft vernichtet. Moscas Versuch, die gesellschaftliche und politische Macht von Minderheiten aus ihrer Stellung in der gesellschaftlichen Schichtungspyramide abzuleiten, muß als gescheitert angesehen werden. Dieses Ergebnis ist weniger verwunderlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die soziale Schichtung einer Gesellschaft zunächst nichts anderes darstellt, als eine sich am "allgemeinen" gesellschaftlichen Wertsystem orientierende Bewertung und Rangzuweisung gesellschaftlicher Funktionen bzw. wie bei Mosca, Funktionsträgern. "Stratification in its valuational aspect is the ranking of units in a social system in accordance with the standards of the common value system47." Die soziale Differenzierung von Systemfunktionen bzw. Funktionsträgern, oder, wie Mosca sie nennt, "sozialen Kräften" und ihre Integration in den gesamtgesellschaftlichen Systemzusammenhang, durch die die konkrete Gestalt der Sozialstruktur bestimmt wird, impliziert " ... an sich noch keinerlei wertende Unterscheidung ..." 48 der einzelnen Funktionen bzw. Funktionsträger. Gleichsam definitorisch ist bereits im Begriff des "sozialen Systems", das ja durch das Zusammenwirken aller Systemelemente festgelegt ist, wenigstens die logische Gleichrangigkeit vorausgesetzt. Diese ist vorausgesetzt, weil jede soziale Funktion für's System und dessen Existenzfähigkeit gleich bedeutsam ist. Aus diesem Grunde läßt sich die Schichtungspyramide aus der Sozialstruktur allein nicht ableiten. Wenn aber die systemrelevanten sozialen Eigenschaften, die entsprechend dem geltenden "allgemeinen" Wert- und Normensystem bewertet werden - wodurch in aller Regel auch Umfang und Art der Gratifikationen bestimmt sind, die die einzelnen Funktionsträger erhalten- deren Stellung in der sozialen Schichtung bestimmen, dann kann aus ihr nicht umgekehrt die gesellschaftliche Macht der Funktionsträger abgeleitet werden. Der Besitz oder Nichtbesitz gesellschaftlicher Macht ist unter Umständen selbst Schichtungskriterium. Gesellschaftliche Macht muß also in den sozialstrukturell vermittelten tatsächlichen Abhängigkeitsverhältnissen begründet sein. Der mit dem funktionellen Schema gegebene systemtheoretische Ansatz, der implizit auch bei Mosca vorliegt, verdeckt aber durch die Betonung der funktionellen Abhängigkeit der einzelnen aufeinander verwiesenen Funktionsträger die mit dieser Abhängigkeit gegebenen Machtverhältnisse. Während es für Mosca unproblematisch zu sein scheint, daß es in den einzelnen Teilstrukturen 47 Talcott Parsons, A Revised Analytical Approach to the Theory of Social Stratiftcation; in: Essays in Sociological Theory, Glencoe 1958, revised edition; s. 388. 48 Ralf Dahrendorf, Vom Ursprung ... , a.a.O., S. 15.
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Herrschaft geben muß, ja gerade dort Herrschaft als legitime Machtausübung prinzipiell funktional für den Beitrag dieser Teilstruktur zur Systemerhaltung wirksam ist, erscheinen ihm die mit den Abhängigkeitsverhältnissen zwischen den einzelnen Teilstrukturen gegebenen Machtverhältnisse als im Grunde abnorme Ausnahmefälle einer gesellschaftlichen Ordnung, die sich im Wandel befindet. Mit dieser systemtheoretischen Konzeption gesellschaftlicher Macht, die für ihn immer legitime Herrschaft sein muß, verbindet sich bei ihm zugleich eine Abwertung der Bedeutung der Institution politischer Herrschaft, wie sie ihm vor allem in der Gestalt des liberalen parlamentarischen Repräsentativsystems vor Augen stand. Während nämlich gesellschaftliche Herrschaft in den Teilstrukturen- wie etwa in der Hierarchie militärischer Organisation und in der der industriellen Arbeit im wesentlichen als funktionale Autorität begriffen wird, die sich allein auf Leistungskriterien gründen soll49 , läßt sich gerade das Leistungskriterium im Bereich der politischen Herrschaft nicht zur Voraussetzung des Einflusses auf Herrschaftsentscheidungen, wie zur Voraussetzung des Zugangs zu Herrschaftspositionen in der politischen Ordnung einer Gesellschaft begründen. Es sei denn, es würde der Versuch gemacht, für den Bereich der politischen Ordnung selbst leistungsspezifische Kriterien zu definieren, die den Einfluß auf und den Zugang zu politischer Herrschaft festlegen, die selbst aber unabhängig von den Leistungskriterien der anderen sozialen Teilstrukturen wären. Mosca hat das wohl zunächst im Auge gehabt, als er davon sprach: "Eine Gesellschaft hat dann die beste Chance, eine verhältnismäßig vollkommene politische Ordnung zu schaffen, wenn eine breite Schicht wirtschaftlich von der höchsten Gewalt unabhängig und vermögend genug ist, um einen Teil ihrer Zeit ihrer eigenen Vervollkommnung und dem Dienst am öffentlichen Wohl, d. h. jener aristokratischen Gesinnung zu widmen, die allein Menschen dazu bringen kann, ihrem Land nur um ihres Stolzes und ihrer Selbstachtung willen zu dienen&o." Hinter dieser "aristokratischen Wendung" steht nun aber durchaus nicht nur das Unbehagen im Angesicht des Entstehens einer pluralitären parlamentarischen Massendemokratie51 , die den politischen Willen eines juristisch mündigen Volkes über intermediäre "künstliche" Organisationen wie Parteien und Interessengruppen zu politischen Entscheidungen vermittelt sieht. Es ist im Grunde auch das Mißtrauen gegenüber dem Einfluß immer nur partikularer Interessen auf die politischen 41 Vgl. Mosca, Die Herrschende Klasse, S. !56 f. und Teorlca . . . , S. !50 f. so Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 126. 11 Zum Begriff der pluralitären Massendemokratie vgl. Otto Stammer, Gesellschaftliche Entwicklungsperspektiven und pluralitäre Demokratie, a.a.O., 8.137 ff.
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Entscheidungen, das Mosca auf eine Apologie der Form des liberalen Parlamentarismus zurückführt, der bis 1832 in England-in Italien, Frankreich und Deutschland noch sehr viel länger - auf Honoratiorenbasis funktioniertes2 • Die Eskamotierung jeder rationalen kritischen Instanz auf dem Hintergrund des Zerfalls liberaler Harmonievorstellungen von der Gesellschaft führt bei ihm zu einer Konzeption der "herrschenden Klasse" als einer säkularisierten Aristokratie. Diese gleichsam als eine über den bloß partikularen Interessen stehende Instanz politischer Entscheidungen zu konzipieren, ist im Angesicht der Sozialstrukturellen Positionen, denen er sie zurechnet, ideologisch. "Wenn heute gewisse unverkennbare und von keiner Seite bestrittene Schwächen im System der Führungsauslese der Bundesrepublik als Symptome der ,Erkrankung der Gesellschaft' hingestellt werden, wenn die ,Rettung der Gesellschaft vor dem Verfall in die egalitäre Massengesellschaft' verlangt wird, die Wiederherstellung einer angeblich ,natürlichen Rangordnung und Oligarchisierung' mit Hilfe einer ,echten Elite', die als ,geborene Auslese' eine unabhängige, geschlossene, ausgewählte demokratische Führungsschicht sein soll, so muß von sozialwissenschaftlicher Warte aus vor solchen unter Ideologieverdacht stehenden Äußerungen entschieden gewarnt werdens3." Darüber hinaus jedoch wird deutlich, daß das theoretische Konzept der "herrschenden Klasse" nicht nur anti-demokratische Wertungen enthält, also dem eigenen Wissenschaftsverständnis nach überhaupt nicht wertfrei ist, sondern daß es darüber hinaus nicht zu leisten vermag, was es intendiert. Die Analyse des Zusammenhangs zwischen der gesellschaftlichen Macht von Minderheiten, den Strukturen der politischen Ordnung und denen der gesellschaftlichen Herrschaft kann nicht gelingen, wenn die zunächst nur analytische Trennung soweit reduziert wird, daß der Zusammenhang, der erklärt werden soll, gleichsam tautologisch gesetzt wird. Das aber ist bei Mosca der Fall. "Von unserem Standpunkt aus kann es zwischen Staat und Gesellschaft keinen Gegensatz geben. Der Staat ist für uns bloß jener Teil der Gesellschaft, der ihre politischen Funktionen ausübt54." Wenn aber die "herrschende Klasse" zugleich definiert ist als die Klasse der Träger jener sich aus dem arbeitsteilig organisierten Reproduktionsprozeß ableitenden gesellschaftlichen Funktionen, mit denen der Besitz gesellschaftlicher Macht bzw. Herrschaft gegeben ist, dann verbirgt sich dahinter eine ständisch-hierarchische Konzeption der 52 Vgl. dazu Max Weber, Parteiwesen und Parteiorganisation, in: Max Weber, Staatssoziologie, Berlin 1956, S. 50 ff., vgl. auch Jürgen Habermas, u. a., Student und Politik, a.a.O., S. 21. 51 Otto Stammer, Zum Elitebegriff in der Demokratieforschung, in: Politische Soziologie ... , a.a.O., S. 171. 54 Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 138.
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Gesellschaft und ihrer politischen Ordnung. "Im Grunde erscheint hier die Demokratie, angereichert mit liberalen und neo-liberalen Elementen, im Gewande der schon von Aristoteles gepriesenen gemischten Staatsform, welche durch die ausgleichende Stellung der mittleren Schichten sowohl wie durch den Einfluß von Bildungsschichten und konstitutionellen Herrschaftsgruppen in ihrer Tendenz zur Massenherrschaft gehemmt oder gemildert wird55 ." "In allen diesen Theorien ist das Volk lediglich als Objekt der Herrschaft und eventuell noch als Reservoir einer abgebogenen Ergänzung der Eliten von Bedeutung56." Diese ständisch-hierarchische Gesellschaftskonzeption, die hier vorgeblich zu einer historischinvarianten Struktur von Gesellschaft überhaupt gemacht wird, verhindert nicht nur die Einsicht in den historisch vermittelten Charakter der Institutionen der politischen Ordnung und deren Zusammenhang zur Sozialstruktur der Gesellschaft. Auf ihrem Hintergrund nämlich muß die historisch je konkrete Gestalt dieser politischen Ordnung zur bloßen, beliebig auswechselbaren und daher auch bedeutungslosen Form eines identischen Sachverhaltes werden57• Daß die politische Formel unabhängig von ihrer sich in der Geschichte als identisch ausweisenden Funktion als der Grundlage der Legitimation von Herrschaft gerade in ihrer historisch veränderlichen Gestalt Ausdruck eines immer auch historisch besonderen Verhältnisses von gesellschaftlichen Machtstrukturen und ihres Zusammenhangs mit der politischen Ordnung ist, wird für Mosca durchaus sekundär. Daß damit auch die historisch besonderen Formen der gesellschaftlichen Verhältnisse selbst dem Erkenntnisinteresse zweitrangig werden müssen, belastet die Fruchtbarkeit der soziologischen Theorie. So zeigt sich, daß die Einheitlichkeit der "herrschenden Klasse" in bezug auf das in ihr zum Ausdruck kommende Interesse am Besitz politischer Macht den sozialstrukturell gesetzten Widerspruch zwischen den "sozialen Kräften", die die herrschende Klasse konstituieren, nur noch intentional aufgelöst werden kann. "Es gibt auch fast immer irgendeine politische Kraft, die ein unstillbares Verlangen zeigt, alle anderen zu besiegen und zu verschlucken und dadurch das rechtliche Gleichgewicht zu stören5B." Darüber hinaus ist diese Einheitlichkeit überhaupt nicht an der Stellung der einzelnen "sozialen Kräfte" in der Sozialstruktur abgelesen, die ja gerade durch die Differentiation der voneinander unterschiedenen gesellschaftlichen Funktionen deren Inhomogenität im gesellschaftlichen Funktionszusammenhang verursacht. Ihre relative Einheitlichkeit ist da" Otto Stammer, Das Elitenproblem in der Demokratie, in: Politische Sozio· logie . . . , a.a.O., S. 65. 51 Ebenda, S. 63. 57 Vgl. Mosca, Teorica ... , S. 52 f. ss Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 127.
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her tatsächlich an einer sozialen Schichtungspyramide abgelesen, in der die systemrelevanten Funktionen selbst Maßstab einer der Gesellschaft immanenten, sich an einem in ihr geltenden allgemeinen Wert- und Normensystem orientierenden Bewertung sind. Diese auch kulturelle Einheitlichkeit der herrschenden Klasse, die an der sozialen Schichtung der bürgerlichen Gesellschaft abgelesen ist, offenbart wiederum nur ein Indiz für die Tendenz, die in der bürgerlichen Gesellschaft herrschenden Verhältnisse zu Verhältnissen von Gesellschaft überhaupt zu verallgemeinern. Wenn aber die Kriterien, die die soziale Schichtung einer Gesellschaft bestimmen, selbst Ausdruck des geltenden Wert- und Normensystems der in ihr herrschenden Klasse sind, die in der Schichtung immer nur die Oberschicht darstellen kann, dann ist die gesellschaftlich normierte Institutionalisierung des Zugangs zu Positionen der gesamtgesellschaftlichen Herrschaft nur der formelle Ausdruck für ein schon real bestehendes, kann also nicht zur genetischen Ableitung von faktischen Machtverhältnissen herangezogen werden. Im Auftauchen "neuer" sozialer Kräfte und ihres sich organisierenden Interessesam Einfluß auf die gesamtgesellschaftlichen Herrschaftsentscheidungen gerät bei Mosca nur die Oberfläche dieses Vorgangs in den Blick. Der Kampf um die gesamtgesellschaftlichen Herrschaftspositionen, der in der Regel zur Institutionalisierung neuer Bewertungs- und Zugangskriterien führt, ist aber Ausdruck eines sozialstrukturell vermittelten Widerspruchs zwischen den "alten" und den "neuen" sozialen Kräften in der Sozialstruktur. Der Hinweis darauf, daß ein Konflikt innerhalb der politischen Ordnung, der zugleich deren institutionalisierte Struktur in Frage stellt, Ausdruck dafür sei, daß bestimmten sozialen Kräften ein "ihrer wirklichen Bedeutung entsprechender Einfluß" 59 versagt ist, bedeutet wiederum keine wirkliche Einsicht in die vorgängigen sozialstruktureilen Widersprüche der in dieser angelegten Abhängigkeitsverhältnisse, weil die "wirkliche Bedeutung" sozialer Kräfte nicht unabhängig von einem das gesellschaftliche Selbstverständnis transzendierenden Bewertungsmaßstab festgestellt werden kann, der gleichwohl aus den objektiven Prozessen der Gesellschaft ableitbar sein müßte. Wenn Mosca aber "soziale Kräfte" von vorneherein als Inhaber von Führungspositionen in gesellschaftlichen Teilstrukturen bestimmt, und die funktionale bzw. disfunktionale Relevanz dieser Teilstrukturen in Beziehung zur Stabilität des sozialen Systems setzt, ohne zu zeigen, wie der Wandel der funktionalen Relevanz bestimmter Teilstrukturen sich tatsächlich vollzieht, dann kann er gesellschaftlichen und politischen Wandel nicht erklären. Er muß diesen vielmehr aus der Gegebenheit bzw. Nicht-Gegebenheit neuer "sozialer Kräfte" ableiten; deren Entstehen wie deren Bedeutungswandel kann er nicht mehr aufhellen. 68
Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 127.
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Bei Pareto entstehen im wesentlichen die gleichen Probleme wie bei Mosca. Auch er sucht die Faktizität der gesellschaftlichen wie politischen Macht von Minderheiten aus der Ungleichheit der unter die Gesellschaft befaßten Individuen abzuleiten. Gerade gegen die naturrechtliche Interpretation der "natürlichen Gleichheit" der Menschen polemisiert er, wenn er sagt: "Que cela plaise ou non a certains theoriciens, il est de fait que la societe humaine n'est pas homogene: que les hommes sont düferents physiquement, moralement, intellectuellement. Ici, nous voulons etudier les phenomenes reels. Donc, nous devons tenir compte de ce fait80." Hierbei gerinnen die sozialrelevanten Eigenschaften und Fähigkeiten, die zum Maßstab systemimmanenter Ungleichheit werden, zu solchen der Natur des einzelnen Menschen. Der gesellschaftliche Prozeß, durch den sie vermittelt sind, der allererst also auch die Ungleichheit konstituiert, tritt überhaupt nicht in den Blick. Eben weil die Paretianische Soziologie beim Handeln des Einzelnen bzw. bei den die Handlungen des Einzelnen konstituierenden Elementen einsetzt, und so nirgends hinter die individuellen Konstitutionsbedingungen zurückgeht, gerät ihr zur Natur, was seinem Wesen nach bloß die Besonderung eines gesellschaftlichen Allgemeinen am Individuum darstellt. Die "inegalites" sind "propre a l'etre humain" 81 und als solche eine universale Tatsache von Gesellschaft überhaupt. Jede Theorie der Gesellschaft hat sie deshalb zu berücksichtigen. Überall dort, wo konkrete Formen der gesellschaftlichen Ungleichheit zerstört werden, entstehen unweigerlich neue82 . Nicht nur der Sozialismus, überhaupt jede politische Bewegung, die die Beseitigung der Ungleichheit zum Programm erhoben hat, wird damit für Pareto fragwürdig83. Insofern die Menschen immer nur in Gesellschaft leben, die Abstraktion von diesem Phänomen bloß pure Spekulation bedeutet, ist mit deren Vergesellschaftung zugleich auch immer ihre Ungleichheit mitgesetzt. "L'homme qui ne vit pas en societe est un homme extraordinaire, qui nous est a peu pres, ou plutöt qui nous est entierement inconnu84." " ... la societe n'est pas homogene, et ceux qui ne ferment pas volontairement les yeux, doivent reconnaitre que les hommes different fortement les uns les autres au point de vue physique, moral et intellectuel85." Ungleichheit ist also für Pareto wie für Mosca durchaus ein gesellschaftliches Phänomen, dessen Funktionalität ihm unter dem Gesichtspunkt 10
11 11
e3 84
15
Pareto, Traite ... , § 2025, S. 1293. Pareto, Manuel ... , Tome 2, Chap. 7, S. 380. Vgl. Pareto, Cours ... , Tome 2, § 1009, S. 360. Vgl. Pareto, Traite ... , § 2021, S. 1286-87. Pareto, Manuel ... , Tome 1, Chap. 2, S. 101. Pareto, Manuel ... , Tome 2, Chap. 7, S. 380.
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des arbeitsteilig organisierten gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses überhaupt nicht fragwürdig ist66 • Für die Ubiquität des Phänomens sucht er indessen keine theoretische Erklärung. Wie Residuen, Derivationen und Interessen ist die soziale Heterogenität ein gegebenes, das soziale System wie dessen Gleichgewicht bestimmendes Element67 • Vielmehr wendet er sich gerade gegen den Versuch von Marx, das Phänomen der Ungleichheit wie der gesellschaftlichen Macht aus den konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen abzuleiten. "Par consequent, tous les sentiments que l'on observe chez l'homme vivant en societe, sont individuels a un certain point de vue, et sociaux a un autre. La metaphysique sociale qui sert de substratum a ce genre de recherches est simplement de la metaphysique socialiste, et tend a defendre certaines doctrines a priori68." Mit dieser Kritik am dialektischen Ansatz von Marx und seiner Auflösung in den Positivismus verwirft Pareto aber überhaupt den Gedanken an die Möglichkeit, die Genesis von Ungleichheit und Macht mit ihren funktionalen Konsequenzen, diebeidefür Gesellschaft haben, im Begriff der Vermittlung zusammenzudenken. Damit zugleich gibt er aber auch die Frage nach der Genesis sozialer Phänomene überhaupt auf. Der Erklärwert seiner Theorie reduziert sich auf die Lösung von Problemen der Systemstruktur als Funktionen ihrer Elemente. Die Frage nach der Genesis der die Systemzustände konstituierenden Elemente, die zugleich die Frage nach dem Wesen konkreter historischer Gesellschaftsformen wäre, wird überhaupt nicht mehr gestellt. Die Behauptung: "11 serait beaucoupplus important de savoir comment les sentiments naissent, se modifient et disparaissent de nos jours que d'en rechercher l'origine ... Malheureusement, nous savons bien peu de choses sur l'histoire naturelle des Sentiments a notre epoque" 69 verschleiert nur die Tatsache, daß die Paretianische Theorie dieses empirischen Wissens nicht einmal mehr bedarf, um ihre bloß tautologischen Definitionen gesellschaftlicher Systemzustände zu beschreiben. In dem Augenblick, wo diese Fragen aber nicht mehr explizit gestellt werden, wird auch bei Pareto der Ubiquitätsthese der Ungleichheit eine im Anschluß an Spencer vollzogene sozialdarwinistische Interpretation unterlegt. Ebenso wie die Gesellschaft als Ganze bestimmten "prerequisites" genügen muß, um existenzfähig zu sein, sie sich also in ihrem Strukturzusammenhang an die gegebenen, von ihr nicht beeinflußbaren Umweltbedingungen anpassen muß, ebenso ist die Fähigkeit der vergesellschafteten Individuen, sich an die von ihnen unabhängigen gesellEbenda. Vgl. Pareto, Traite ... , § 2060, S. 1306 ff. es Pareto, Manuel ... , Tome 1, Chap. 2, S. 101. 81 Ebenda. 88
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schaftliehen Situationsbedingungen anzupassen, Voraussetzung ihres Reüssierens in dieser. Was hier, wie bereits bei Spencer70, soziale Evolution71 heißt, ist nichts anderes als die kontinuierliche Entfaltung von Gesellschaft im fortschreitenden Prozeß sozialer Differenzierung und Arbeitsteilung, und der durch diese bedingten zunehmenden Vergesellschaftung der Individuen wie ihrer wachsenden gegenseitigen Abhängigkeit. "Le passage a une heterogE'mite definie avait sourtout attire l'attention et porte le nom de principe de la division du travail. On n'avait pas manque d'observer, que cette division du travail avait, pour consequence, l'accroissement de la mutuelle dependence des individus composant la societe72." Für das Phänomen gesellschaftlicher Ungleichheit aber ist dieser Prozeß immer schon vorausgesetzt. Auf welche Weise er selbst mit konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen als deren dynamisches Moment in den spezifischen Formen von Ungleichheit und Macht vermittelt ist, bleibt unerörtert. Für die Analyse sozialer Macht und Ungleichheit in historisch konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen sind vorab der Grad wie die Formen sozialer Differentiation und Arbeitsteilung schon immer gegeben. Bei Mosca hatte sich bereits gezeigt, daß die Differentiation entsprechend der Systemfunktionen nicht eigentlich die hierarchisch gedachte Ungleichheit zwischen den einzelnen Funktionsträgern zu begründen vermag, da diese ja definitorisch alle gleich bedeutsam sein müssen. Die Funktionen als solche sind damit notwendig in Beziehung auf ihre Bedeutsamkeit inkompatibel. Es muß also ein sich nicht unmittelbar aus ihrer Systemrelevanz ableitbares Bewertungskriterium hinzutreten, damit sie zur Grundlage der sozialen Schichtung werden können. Zunächst versucht Pareto, ein Modell der sozialen Schichtung zu konzipieren, das für potentiell sozialrelevante, homogene Eigenschaften bzw. Fähigkeiten unabhängig von seiner Anwendung und auf konkrete Gesellschaften gelten kann. "Supposons donc qu'en toutes les branches de l'activite humaine, on attribue a ch;lque individu un indice qui indique ses capacites, a peu pres de la maniere dont on donne des points aux examens, dans les differentes matieres qu'enseignent les ecoles. Par exemple, a celui qui excelle dans sa profession, nous donnerans 10. A celui qui ne reussit pas a avoir un seul client, nous donnerans 1, de fac;on a pouvoir donner 0 a celui celui qui est vraiment cretin73 .'' Auf diesen 70 Vgl. Herbert Spencer, Principles of Sociology, a.a.O., § 222, S. 392. 71 Vgl. Pareto, Cours ... , Tome 2, §§ 574 ff. 71 Pareto, Cours ... , Tome 2, § 654. 7' Pareto, Traite ... , § 2027, S. 1296.
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Meßskalen, deren es für die Bestimmung der objektiven Dimensionen der sozialen Schichtung prinzipiell so viele geben müßte, wie es in einer Gesellschaft systemrelevante Eigenschaften gibt, stellen die obersten Rangplätze die Elitepositionen dar. "Formons donc une classe de ceux qui ont les indices les plus eleves dans la branche ou ils deploient leur activite, et donnons a cette classe le nom d'elite. Tout autre nom et meme une simple lettre d'alphabet, seraient egalement propres au but que nous nous proposons ( ... )14 ." Dieser formal-abstrakte Ansatz indes führt zu theoretischen Schwierigkeiten nicht, weil etwa das Problem der Messung für bestimmte sozialrelevante Eigenschaften unüberwindlich wäre75• Vielmehr wird mit ihm das Problem der Systemrelevanz der einzelnen Fähigkeiten und Eigenschaften nicht gelöst. An dieser Stelle aber begegnet Pareto einer Schwierigkeit, die in ganz ähnlicher Form bei Dahrendorf wieder auftreten wird76 • Die Bewertung der Systemrelevanz für sich genommen inkompatibler Eigenschaften und Fähigkeiten vergesellschafteter Einzelner, durch die die Gestalt der sozialen Schichtung überhaupt erst festgelegt wird, ist Element des geltenden Selbstverständnisses einer Gesellschaft, welches sich in deren Wert- und Normensystem niederschlägt. Mit diesem zusammen ist eine "allgemeine" Zielvorstellung für die Gesellschaft verbindlich festgelegt. Nur im Zusammenhang mit diesem "allgemeinen" Wertsystem und den ihm inhärenten Zielvorstellungen lassen sich die Eigenschaften und Fähigkeiten in ihrer Systemrelevanz beurteilen und entsprechend ihrer relativen Bedeutsamkeit einstufen. Da die Verbindlichkeit des Wertsystems wie dessen Garantierung dort, wo es nicht durch Verinnerlichung von verfestigten Verhaltensmustern zur "zweiten Natur" 77 geronnen ist, vorgängig von der gesellschaftlichen und politischen Macht von Minderheiten abhängen, mit deren geselleschaftliehen Interesse es übereinstimmen muß, kann es auch Pareto nicht gelingen, die Faktizität gesellschaftlicher wie politischer Macht aus der sozialen Schichtung abzuleiten78 • Die Schwäche des rein formalen Ansatzes, die nicht nur für das abstrakte Schichtmodell, sondern für den ganzen handlungstheoretischen Ansatz kennzeichnend ist, besteht darin, daß die gegenseitige Vermittlung von Ungleichheit und Macht, die immer nur am Beispiel historisch-konkreter Gesellschaften sich aufzeigen ließe, mit den Mitteln eines abstrakt-allgemeinen Begriffsapparats nicht erfaßt werden kann. Es ist deshalb durchaus nicht erstaunlich, wenn Pareto den Versuch, Macht genetisch aus der Tatsache sozialer Schichtung abzuleiten, aufgibt. Anstatt jedoch gesellschaftliche Pareto, Traite ... , § 2031, S. 1297. Vgl. Pareto, Traite ... , § 2035, S. 1298. 76 Vgl. Ralf Dahrendorf, über den Ursprung ... , a.a.O., S. 23. 77 Dieser "zweiten Natur" entsprechen bei Pareto die RP.;;iduen, vgl. II/1. 78 Vgl. Talcott Parsons, An Analytical Approach to '•he Theor.r of Sr..cial Stratification, a.a.O., passim. 7•
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Macht als die faktische Verfügungschance über das Verhalten anderer in ihrem Verhältnis zur gesellschaftlichen Herrschaft als deren institutionalisierte und normierte Verfügungschance zu untersuchen, konstatiert er einfach die Faktizität von Macht und nimmt sie als Systemelement in die Theorie auf. "Nous avons donc deux couches dans la population: 1° la couche inferieure, la classe etrangere a l'elite; nous ne rechercherons pas, pour le moment, l'influence qu'elle peut exercer dans le gouvernement; 2° la couche superieure, l'elite, qui se divise en deux: (a) l'elite gouvernementale; (b) l'elite non-gouvernementale79." Dadurch jedoch, daß die gesellschaftliche Macht bzw. Herrschaft sozialer Gruppen in bestimmten Teilstrukturen der Gesellschaft übersprungen werden, kann Pareto die Sozialstrukturellen Bedingungsfaktoren für die Analyse der Funktionalität bzw. Disfunktionalität konkreter politischer Herrschaftsprozesse nicht in den Griff bekommen. Er intendiert zwar eine Analyse der Bedeutung politischer Macht bzw. Herrschaft für das Systemgleichgewicht. "Pour l'etude a laquelle nous nous livrons, celle de l'equilibre social il est bon encore de diviser en deux cette classe. Nous mettrons a part ceux qui, directement ou indirectement, jouent un röle notable dans le gouvernement; ils constitueront l'elite gouvernementale. Le reste formera l'elite non-gouvernementale80." Dabei jedoch vernachlässigt er die in der Sozialstruktur bestehenden viel unmittelbareren Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Es stimmt zwar nicht, wenn Hamann behauptet, Pareto gebe den "formalen Ansatz" seines Modells der sozialen Schichtung auf und setze mit der Bestimmung der gesellschaftlichen Eliten durch das Kriterium politischer Herrschaft völlig neu an: "Das Element der Herrschaft bildet das Kriterium, mit dessen Hilfe PARETO den Gefahren des Formalismus zu entgehen versucht. Tatsächlich erreicht PARETO mit der Verengung des Elitebegriffs auf die Inhaber von Herrschaftspositionen eine schärfere Präzisierung dessen, was er unter Elite verstanden wissen willdoch nur auf Kosten neuer Definitionsmängel81 ." Da Hamann die Unterscheidung zwischen Sozialstruktur und sozialer Schichtung nicht zu kennen scheint, kann ihm auch nicht einsichtig werden, daß Pareto doch auf dem Zusammenhang zwischen sozialer Schichtung und politischer Herrschaft besteht. Ausdrücklich betont er das, wenn er sagt: "De la meme maniere que dans une societe on distingue les riches et les pauvres, bien que les revenus croissent insensiblement depuis les plus faibles jusqu'aux plus eleves, on peut distinguer dans une societe l'elite, la partie aristocratique, ... , et une partie vulgaire; ... La notion de cette elite est Pareto, Traite ... , § 2034, s. 1298. Pareto, Traite ... , § 2032, S. 1297. 81 Vgl. Rudolf Hamann, Paretos Elitentheorie und ihre Stellung in der neueren Soziologie, Stuttgart 1964, S. 22, aber auch S. 10. 78 80
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subordonnee aux qualites que l'on reellerehe en elle. 11 peut y avoir une aristocratie de saints, comme une aristocratie de brigands, une aristocratie de savants, une aristocratie de voleurs, etc. Si l'on considere cet ensemble de qualites qui favorisent la prosperite et la domination d'une classe dans la societe, on a ce que nous appellerons simplement l'elite82." Die individuellen Eigenschaften bzw. Fähigkeiten, die tatsächlich aber in der Sozialstruktur prozessual zu interpretierende, konkrete Verhaltensweisen darstellen, mit denen Individuen aufeinander bezogen sind, sind systemrelevante Schichtkriterien, die er zur politischen Herrschaft bzw. Macht in Beziehung bringt. Denn "Cette elite existe dans toutes les societes et les gouverne, meme quand le regime est en apparence celui de la plus large democratie" 83• Die theoretischen Schwierigkeiten, die sich aus der Betonung des Zusammenhangs von sozialer Schichtung und politischer Macht für die Analyse der Genesis und der Systemrelevanz dieses Faktors ergeben, sind keine bloß definitorischen. Paretos wie Moscas Rekurs auf soziale Schichtung, der in diesem Zusammenhang leicht dazu führen kann, die je konkrete Vermitteltheit der Schichtkriterien zu vernachlässigen, ist auch in diesem Fall nur eine konsequente Folge des handlungstheoretischen Ansatzes, der letztlich den institutionellen Charakter gesellschaftlicher Strukturen in die Variablen individuellen Handeins und Verhaltens auflöst. Wenn nun hier überhaupt noch von institutionellen Elementen in der soziologischen Theorie gesprochen werden kann, dann höchstens im Sinne des Parsons'schen Institutionsbegriffs. "An institution will be said tobe a complex of institutionalized role integrates which is of strategic structural significance in the social system in question. The institution should be considered to be a higher order unit of social structure than the role, and indeed it is made up of a plurality of interdependent role-patterns or components of them. Thus when we speak of the ,institution of property' in a social system we bring together those aspects of the roles of the component actors which have to do with the integration of action-expectations with the value-patterns governing the definition of rights in ,possessions' and obligations relative to them84." Die Ähnlichkeit zwischen diesem rollenbezogenen Institutionsbegriff und den Residuen Paretos, die als verinnerlichte, systemrelationale, individuelle Verhaltensmuster gelten85, ist nicht zu übersehen. Nimmt man Herrschaft als eine "Institution", die für Pareto wie für Mosca von struktureller Signifikanz für alle Gesellschaften ist, und untersucht den Best Pareto, Manuel ... , Tome 1, Chap. 2, S. 129.
Ebenda. Talcott Parsons, The Social System, S. 39. 85 Vgl. den Abschnitt über den Begriff ,Residuum' und dessen theoretische Funktion in der Systemtheorie Paretos. 83 84
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deutungsgehalt der beiden Residuen "sentiments des superieurs" 86 und "Sentiments des inferieurs" 87, dann zeigt sich, daß Herrschaft in eine interdependente Beziehungzweier verinnerlichter, auch intentional aufeinander bezogener Verhaltensmuster aufgelöst wird. Den "sentiments des superieurs", die dadurch charakterisiert sind, daß sie "sont des sentiments de protection et de bienveillance, auxquels s'ajoutent souvent des sentiments de domination et d'orguei1" 88, und die die individuellen Verhaltenskomponenten des oder der Herrschenden kennzeichnet, entsprechen die "sentiments des inferieurs", die " .. . sont des sentiments de sujetion, d'affection, de respect, de crainte. Eprouver ces sentiments est une condition indispensable ä la constitution ... des societes humaines" 89• Sie stellen die individuellen Verhaltenskomponenten der Beherrschten dar, die zu denen der Herrschenden komplementär sind. In ganz ähnlicher Weise, wenn auch nicht in der theoretischen Präzision einer expliziten formalen Handlungstheorie, hatte Mosca Herrschaft als eine bloß spezifische Form individuellen Handeins dargestellt90 • In dieser Theorie wird die Sozialstruktur von Gesellschaft so in die Elemente individuellen Handeins aufgelöst, daß die Gesellschaft selbst für die unter ihr befaßten Individuen den Charakter des konkret-realen verliert. Weil noch dessen Zwang als ein den Individuen gegenüber äußerlicher im Handeln verinnerlicht wird. Zwar sind auch im Verständnis Moscas und Paretos "wirkliche" Gesellschaften nie so weit stabilisiert und integriert, daß die Komplementarität der aufeinanderbezogenen Verhaltensmuster vollkommen konsistent funktionierte. Zwar sind nicht alle Störungen des Systemgleichgewichts nur durch system-exogene Faktoren verursacht. Vielmehr ist mit dem "Kampf um den Vorrang" 91, in dessen Gestalt soziale Mobilität hier erscheint, dann ein disruptives, das Systemgleichgewicht gefährdendes Element gegeben, wenn dieser den normativen Rahmen zu sprengen droht, und zum "Kampf ums Dasein" wird. Dieses gleichsam naturalistische Element, das selbst als normierter Anpassungsprozeß seine Herkunft schlecht zu verbergen vermag, kann im rein quantitativen Überhandnehmen subjektiv motivierter Abweichungen oder Fehlanpassungen desintegrierend wirken. Wie bei Mosca so erscheinen auch bei Pareto diese desintegrativen Phänomene, die normierte Konkurrenz durch offenen Kampf ersetzen, weil die Zwecke und Bedürfnisse sich mit dem Vgl. Pareto, Traite ... , § 1155, s. 614. Vgl. Pareto, Traite ... , § 1156, S. 614. se Pareto, Traite ... , § 1155, s. 614. 88 Pareto, Traite ... , § 1156, S. 614. uo Vgl. II/1. 91 Vgl. Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 36; Pareto, Cours ... , Tome 2, § 636, s. 43. 8e
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tatsächlichen System der Mittelallocation nicht decken, nur in der Gestalt subjektiver Intentionalität. Die strukturell vermittelten Widersprüche zwischen den Bedürfnissen und den Verfügungschancen über Mittel zu ihrer Befriedigung kann hier immer nur als das sich selbst bewußte Interesse an der "Adjustierung" des Systems der Mittelallocation an seine eigenen Zwecke und Bedürfnisse erscheinen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn auch der Klassenbegrüf, den beide Autoren verwenden, im wesentlichen durch die subjektiven Konstitutionselemente bestimmt wird. Pareto nimmt im Cours zwar noch - aber auch schon da im Gegensatz zu Marx, der ja als Ursachen der Klassenbildung in der bürgerlichen Gesellschaft sozialstruktureHe Faktoren angibt - Faktoren der sozialen Schichtung an, die als Ursachen die Klassendifferenzierung bewirken. "Mais unedes causes principales de differenciation des classes sociales, c'est certainement la richesse. Les riches ont une tendance a se grouper ensemble, tout comme la classe moyenne et les pauvres. Ce groupement s'observe meme dans les castes indiennes, les riches formant comme une caste dans la caste. Lc pouvoir des aristocraties de tous genres, s'il n'est pas soutenu par la richesse, decline rapidement. Le groupement dependant le l'importance des revenus a donc une importance des plus considerable92 . " Gleichsam nur noch in der Erinnerung an Ricardo und Mi1193 , für die ja die Einkommensarten als Kriterien der Klassenbildung galten, und die damit bereits implizit auf die Relevanz der Stellung der Einkommensträger im Produktionsprozeß als einem sozialstruktureilen Kriterium hingewiesen hatten, gibt er zu: "Dessousgroupes se forment suivant l'origine des revenus; les proprietaires fonciers se separent, en certains cas, des proprietaires des capitaux mobiliers, les ouvriers se separent des petits rentiers, etc.94. " Bereits in den Systemes, die ja eine intensivere Auseinandersetzung mit der Marxschen Ökonomie wie mit dessen politischer Theorie bildeten, erscheinen am Ende beinahe beliebige soziale Schichtelemente als mögliche Ursachen der Klassenbildung. Schon hier wird der Zusammenhang zwischen der Position, die bestimmte Individuen in der sozialen Schichtung einnehmen, und den gemeinsamen Interessen, die sie zu politischem Handeln führen, das, wo es nicht auf die Eroberung politischer Herrschaft abzielt, doch einen Einfluß auf die Herrschaftsentscheidung entsprechend ihren eigenen Bedürfnissen intendiert, sekundär. Die Gestalt "klassengebundenen politischen Handelns" wird hier reduziert auf die Interessenorientiertheit politischen Handelns. Die Genesis eines gemeinsamen Interesses verliert überhaupt ihre theoretische Relevanz. ez 93 9'
Pareto, Cours ... , Tome 2, § 1051, S. 385. Vgl. I/2.
Pareto, Cours ... , Tome 2, § 1051, S. 385.
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"La Iutte des classes se complique et se ramifie. Nous sommes loin d'une simple Iutte entre deux classes les divisions s'accentuent aussi bien parmi Ies ,bourgeois' que parmi Ies ,proletaires'95 ." Dies enthält über die Kritik der Marxschen Klassenkonzeption hinausgehend bereits die Tendenz zur Verallgemeinerung des Klassenbegriffs: aus der Klasse wird eine Interessengruppe. Diese Verallgemeinerung vollzieht er wenige Seiten später auch explizit: " ... , ce sont des hommes qui s'associent pour la defense de leurs interets, et, comme tous les hommes qui ont vecu, qui vivent, et qui vivront, ils vont parfois trop loin dans cette defense; soit qu'ils pechent par ignorance: ce ne sont pas des etres omniscients; soit qu'ils se trouvent entraines par leurs passions: ils n'en sont pasplus exempts que le restedes mortels96." Der Klassenkonflikt wird, wie später bei Dahrendorf, zum Interessenkonflikt verallgemeinert97• Es ist nun nicht mehr die sozialstrukturell gleiche Lage98, die der Klassenbildung voraufgeht und sie bestimmt, es sind nicht einmal mehr die Faktoren der sozialen Schichtung, die sie bestimmen, und von wo sich das identische Interesse an der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse ableitet; umgekehrt bestimmt nun das Vorhandensein eines gemeinsamen Interesses die Bildung dessen, was sich nur noch den Namen aus der Tradition des Gedankens entliehen hat. Mit der Loslösung der "herrschenden Klasse" bzw. "Elite" von ihrem sozialstruktureilen Hintergrund gerät die soziologische Theorie bei Mosca und Pareto, die ja mit dem Anspruch aufgetreten ist, Gesellschaft und gesellschaftlichen Wandel zu erklären, zu einer voluntaristischen Interpretation. In dieser wird Gesellschaft zum Produkt aktiver Minderheiten, in deren Handeln sie sich vollzieht, ohne zu bedenken, daß diese Minderheiten selbst Produkt der Gesellschaft sind. Stammer trüft mit seiner Kritik an Moscas Konzept zugleich auch Pareto, wenn er sagt: "Hier ergibt sich die Frage, ob die Schichten, die Mosca im Sinne hat, wirkliche Klassen nach dem hergebrachten Begriffe sind, d. h., verhältnismäßig breite, zusammengefaßte gesellschaftliche Gruppierungen mit einheitlicher gesellschaftlicher Funktion und einein Pareto, Systemes ... , Tome 2, S. 420. Ebenda, S. 443 f. 87 Vgl. Ralf Dahrendorf, Soziale Klassen und Klassenkonflikt ... , a.a.O., passim. Wie Dahrendorf, dessen Lösungsvorschlag in wesentlichen Partien sich mit dem Paretos und Moscas deckt, zu dem wenig kenntnisreichen Urteil kommt: "Ein bezeichnender, wenn schon verwirrender Zug der Klassentheorien von Pareto und Mosca liegt darin, daß es beiden weniger um die Erklärung sozialen Wandels als um die Stabilität ... geht." (Soziale Klassen und Klassenkonflikt ... , S. 195), ist unerfindlich. 88 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft ... , a.a.O., S. 177 f . 85
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gemeinsamen sozialen Habitus. Das darf mit Recht bezweifelt werden, denn anderenfalls müßte Mosca doch annehmen, daß diese Schichten aus sich selbst wieder besondere Willensgruppen heraussetzen, die jeweils die Funktion der Herrschaft in einem sozialen System übernehmen. In Wirklichkeit meint Mosca mit seinen , ... politischen Klassen . . .' Eliten. Er versäumt nur, die Beziehungen aufzuzeigen, die dann jeweils in den verschiedenen sozialen Systemen zwischen diesen einflußreichen, zur Herrschaft besonders geeigneten kleinen Gruppen und den übrigen, ebenfalls zur ,politischen Klasse' gehörenden Trägern politischer Funktionen, wie Funktionären, Beamten, usw. bestehen. Es dürfte unschwer festzustellen sein, daß die Bildung der Eliten an die größeren Klassengruppen und an die sozialen Systeme in ihrer Gesamtheit jeweils unter den verschiedenen historischen Voraussetzungen stark differiert. Hier hat aber unseres Erachtens eine soziologische Elitentheorie mit ihren Untersuchungen zu beginnen18." Der Ausbruch aus dem circulus vitiosus, den beide Autoren mit der Konzeption eines allseitig determinierten Systems, in dem sie gesellschaftliche Ordnung wie deren Wandel zu begreifen trachten, sich selbst geschaffen haben, führt sie in die Aporien des Voluntarismus. Daß es individuelle Interessen gibt, ist allenfalls verständlich, in welchem Zusammenhang deren Genesis zu der Chance ihrer Durchsetzung steht, ist nicht mehr zu begreifen. Dieses voluntaristische Konzept des machtorientierten, nur die eigenen Interessen zweckrational verfolgenden gesellschaftlichen und politischen Handeins von Minderheiten hat für Mosca sowohl wie für Pareto die theoretische Funktion, in einem Statik und Dynamik gesellschaftlicher Systemzustände zu beschreiben. Hinter diesem Konzept verbirgt sich zugleich die geistesgeschichtliche Abkehr von Rousseau und der späten französischen Aufklärung und die Rückbindung auf die Hobbes'sche Lösung des gesellschaftlichen Ordnungsproblems, ohne daß es indes mit diesem identisch würde. Verwerfen Mosca und Pareto Rousseaus Vorstellung von der Integrität der Gesellschaft als dem Ergebnis eines "freien und ausnahmslosen Konsensus" 10° aller Mitglieder einer Gesellschaft101, und sehen sie, wie Hobbes, den gesellschaftlichen Zusammenhalt eher durch Zwang garantiert, der durch die souveräne Herrschaftsgewalt eines einen oder weniger gegenüber den vielen vermittelt ist, so vermeiden Mosca wie Pareto doch, die das Hobbes'sche wie das Rousseausche Modell begründende Prämisse. Daß nämlich Gesellschaft allein Otto Stammer, Das Elitenproblem in der Demokratie, a.a.O., S. 69 f. Vgl. Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, a.a.O., S. 208. 101 Vgl. Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 267.
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durch das zweckrationale Handeln von einzelnen konstituiert sei1°2 • Gegen diese Prämisse wenden beide die gleiche Argumentation wie sehr viel später Parsons103 • Die ganze Paretianische Handlungslehre hatte sich ja gerade als der Versuch erwiesen, diese Prämisse aus der soziologischen Theorie zu isolieren104• Für das Modell des gesellschaftlichen Wandels durch Herrschaftskonflikte ist nun gerade aber bezeichnend, daß es auf der Annahme beruht, der Konflikt entstehe durch die Einsicht in die Desintegration des gesamtgesellschaftlichen Wert- und Normensystems und des mit beiden gegebenen institutionalisierten Systems der Mittelallocation. Ähnlich wie bei Marx wird die Erkenntnis der Beherrschten in die Inkonsistenz zwischen gesellschaftlich vermittelter Mittelallocation und eigenen Interessen zum auslösenden Faktor des Konflikts. Wie vorher Herrschaft als zweckrationales Instrument der Herrschenden zur Realisierung ihrer eigenen Ziele bestimmt war, so beginnt der Widerspruch gegen die bestehenden Herrschaftsverhältnisse als eine zweckrationale Erkenntnis der Unmöglichkeit, im bestehenden, durch Herrschaft gesicherten System der institutionalisierten Mittelallocation die eigenen Zwecke zu realisieren. Die Rationalität als Zweckrationalität der Beherrschten setzt sich im die Normen der Gesellschaft transzendierenden Kampf um knappe Mittel und um die Verfügungsgewalt über menschliches Handeln so durch, daß die Beherrschten ihre gesellschaftliche Lage als Ganzes erkennen, und diese entsprechend ihren eigenen Interessen mit Macht umzustrukturieren sich anschicken. Aus der objektiven Inkompatibilität situativ bedingter, konfligierender Interessen folgt dann für sie subjektiv die Legitimität ihrer eigenen Interessen, wie die Partikularität und Illegitimität der Interessen der Herrschenden. Indem das bislang Geltung beanspruchende gesellschaftliche Wert- und Normensystem als bloßer die Interessen der Herrschenden garantierender und sichernder Zwang entlarvt wird, verfällt dessen Autorität und damit zugleich die Legitimität der Herrschaft der "herrschenden Minderheit". Jeder gesellschaftliche Konflikt wird damit zu einem Konflikt um die Verteilung knapper Mittel und um die Anpassung des gesellschaftlich normierten Verteilungssystems an die Interessen der konfligierenden Gruppen. In seiner allgemeinsten Form muß er zugleich immer ein Herrschaftskonflikt um den Zugang zu den gesamtgesellschaftlichen Herrschaftspositionen und um den Einfluß auf gesellschaftliche Herrschaftsentscheidungen sein, der mit der aus der Sozialstruktur resultierenden objektiven Machtverhältnissen den konfligierenden Gruppen zukom102 103
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Vgl. I/2.
Talcott Parsons, The Structure of Social Action ... , a.a.O., S. 82. V gl. II/1.
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menden Macht entschieden wird. Dabei müssen dann freilich auch, wie die Interessen der normativen Struktur der Gesellschaft vorgängig sind, die objektiven gesellschaftlichen Machtverhältnisse dem System der normativ institutionalisierten gesamtgesellschaftlichen Herrschaft vorgängig sein, da sonst unverständlich bliebe, mit welchen Mitteln die konfligierenden Gruppen den Kampf um die institutionalisierten Herrschaftspositionen jeweils für sich entscheiden. Das System gesamtgesellschaftlicher Herrschaft wird damit für Pareta und Mosca- auch hier wieder scheinbar ganz so wie bei Marx - zum bloß allgemeineren und zugleich abstrakten Ausdruck für die in der Gesellschaft bestehenden objektiven Machtverhältnisse. Der Kampf um die gesamtgesellschaftliche Herrschaft ist zugleich der Kampf um die Durchsetzung von Interessen, wie um deren Verklärung zu einem gesellschaftlich Allgemeinen im Wert- und Normensystem der Gesellschaft, das in Wahrheit Mittel zur Sicherung dieser Interessen ist. Von hier aus ergibt sich nun die grundsätzliche Frage, wie es in einem ursprünglich integrierten gesellschaftlichen Systemzustand, der durch die Integrität des Wert- und Normensystems, durch die Konsistenz von Interessen und Mittelalocation, wie durch die Legitimität gesamtgesellschaftlicher Herrschaft beschrieben ist, ein Konflikt dieser Form überhaupt entstehen kann und wodurch die konkrete Gestalt seines Ablaufs bestimmt wird. Bei dem Versuch, diese Frage innerhalb der Paretianischen Systemtheorie zu erörtern105, wird sich zugleich auch zeigen, welche Prämissen diese voluntaristische Konzeption selbst impliziert und auf welche Variablen sie verzichten muß, wenn sie ihre immanente Logik nicht transzendieren will. Daß sie um den Preis ihrer inneren Konsistenz gerade auf die Variablen verzichten muß, die zur Erklärung der Genesis der konkreten Gestalt historisch zu ermittelnder gesellschaftlicher Konflikte und Wandlungsprozesse herangezogen werden müssen, ist zu belegen. Pareta geht bei der Analyse des Strukturwandels und der diesen bestimmenden Faktoren von der allgemeinen These aus, daß das soziale System gleichzeitig Mechanismen zu seiner Erhaltung besitzt wie es Faktoren enthält, die die kontinuierliche Überwindung des Statuts quo und die Anpassung an veränderte Umweltbedingungen leisten: "L'equilibre economique et l'equilibre social nous observons qu'en generall'etat d'une societe change fort lentement. Toute societe presente habituellement une resistance assez considerable aux forces exterieures ou interieures qui tendent a la modifier. Les mouvements accidentels que se produisent dans la societe sont neutralises par les mouvements en sens contraire qu'ils provoquent, et, en definitive, ces mouvements finissent tos
Zu Mosca vgl. weiter unten.
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par s'eteindre, et la societe revient a sont etat primitif. Par consequent, cette societe peut etre consideree dans un etat d'equilibre, et d 'equilibre stable106." Diese Faktoren, die bereits als Interesse, Residuen und soziale Heterogenität (soziale Schichtung) bezeichnet worden sind107, bestimmen die konkrete Gestaltung und Struktur des sozialen Systems108• Die virtuelle Ausgangslage des gesellschaftlichen Systems vor dem manifestwerden sozialer Konflikte läßt sich danach als die idealtypisch vollständige Integriertheit aller den Systemzustand bestimmenden Variablen beschreiben: Das institutionalisierte System der Mittelallocation ist in bezug auf die in der Gesellschaft wirksamen Interessen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder wie auf das ganzer Gruppen funktional. Die soziale Heterogenität (soziale Schichtung) ist in bezug auf die Systemerfordernisse wie in bezug auf die Realisierung der Zwecke konkretisierten Interessen funktional. Das Wert- und Normensystem (als ein Aspektinbegriff des "Residuum") wie die sich aus diesen ableitenden konkreten Verhaltensformen sind situativ adäquat. Die schichtenspezifische Verteilung dieser Verhaltensformen garantiert die ständige Reproduktion des gegebenen Systemzustands: "L'etat reel, statique ou dynamique, du systeme est determine par ses conditions. Supposons qu'on provoque artificiellement quilque modification dans sa forme (mouvements virtuels, § 130); aussitöt une reaction se produira; eile tendra a ramener la forme changeante a sonetat primitif, modifie par le changement reeJ1°8 ." Dieser Gleichgewichtszustand des sozialen Systems, der vorgeblich nur eine heuristische Annahme bedeuten soll110, impliziert in Wirklichkeit jedoch die totale Selbstregulativität des Systems, die ihrerseits wiederum die Funktionalität der Herrschaft auf die bloße Sicherung und Garantierung des Normensystems, wo dieses als Zwang nicht vollständig verinnerlicht ist, beschränkt. Herrschaft im politischen Sinn hätte in einem solchen System keinen Ort. Nun wurde bereits vorher gezeigt111, daß die im Begriff des Residuums angelegten normativen Elemente durch die ihnen zugehörende charakteristische Ambivalenz gar nicht in der Lage sind, in objektiv gegebenen sozialen Situationen aktuelles Handeln zu bestimmen, daß vielmehr die Ambivalenz der Normen in einem Akt der Interpretation 1oe 107
1os 100
11o 11t
Pareto, Cours ... , Tome 2, § 585, S. 9. Vgl. II/1. Vgl. G. Eisermann, Pareto als Nationalökonom und Soziologe, a.a.O., S. 65. Pareto, Traite ... , § 2068, s. 1308. Vgl. II/1. Vgl. II/1.
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und Explikation konkretisiert werden muß, wenn sich Handeln in gesellschaftlichen Situationen soll vollziehen können. Dies aber hat zur Folge, daß im sozialen System weder die Komplementarität des Handlungssystems durch die weiter oben beschriebenen Faktoren vollständig garantiert werden kann, noch daß das soziale System selbst durch sie auch nur im logischen Sinne vollständig bestimmt zu werden vermag. Die Explikationsbedürftigkeit des gesellschaftlichen Wert- und Normensystems bezeichnet nun aber genau den logischen Ort im Systemmodell selbst, an dem dieses indeterminiert ist. Hier erweist sich, daß die Theorie die Annahme machen muß, daß jedes soziale System durch eine "imperfect integration" 112 gekennzeichnet ist, die Parsans später in folgender Weise charakterisiert: "The various value systemswill be differentially selective as to which facts fit and which do not , .. but there will always be some facts that will be problematical for every value system. They can be dealt with only on the basis of standards that will be inconsistent with the principal standards of the actor, whatever these may be113 ." An dieser Stelle werden dann die aus dem Voluntarismus der Handlungstheorie ableitbaren Konsequenzen für die Systemtheorie wirksam. Die konkrete Explikation gesellschaftlicher Werte und Normen in gegebenen sozialen Situationen, d. h. die eindeutige Festlegung des Handlungsablaufs in diesen ist weder psychologisch reduzierbar noch ist deren inhaltliche Bestimmtheit durch die Variablen des gesellschaftlichen Systems genetisch erklärbar. Sie verdankt sich der bloßen Subjektivität des an seinen Interessen orientierten handelnden Individuums, wobei auch die Existenz der Interessen nicht reduzierbar, auf die Struktur des sozialen Systems nicht zurückführbar ist. Von hier aus wird dann auch verständlich, daß die gesamtgesellschaftliche Herrschaft die Funktion hat, solche normative Explikation zu leisten und damit die Integrität des sozialen Systems fortwährend neu herzustellen. Voluntaristisch ist dieses Herrschaftskonzept insofern, als es in den interessenorientierten Herrschaftsentscheidungen der herrschenden Minderheit gründet, deren konkrete lnhaltlichkeit von eben diesen Interessen wie von der Gestalt des sozialen Systems, das ja nur als stabiles und funktionsfähiges zum Mittel der Realisierung dieser Interessen werden kann. Insofern die Herrschaftsentscheidungen zweckrational sind, bewirken sie die normative integrierte Institutionalisierung von Handlungsfolgen, die die Realisierung der "herrschenden Interessen" möglich machen, oder diese jedenfalls doch nicht paralysieren. Einziger Maßstab der Rationalität ist hierbei das Erfolgskriterium. Legitim ist die Herrschaft der herrschenden Minderheit nur so lange, solange sie sich durch die in den Herrschaftsentscheidungen vermittelten normativen Explikationen der Teile m Vgl. Talcott Parsons, Toward a general Theory ... , a.a.O., S. 231. Ebenda, S. 173, Fußnote.
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des gesellschaftlichen Wertsystems nicht in Widerspruch zu den Interessen der Beherrschten setzt, wenn sie zugleich nicht in der Lage ist, diese selbst zu unterdrücken. Zugleich aber sind auch nur solche Herrschaftsentscheidungen zweckrational, die nicht die Disfunktionalität der von diesen betroffenen Elementen des sozialen Systems bewirkt. Hat die Legitimität der Herrschaft ihren Grund in der Anerkennung des Wertsystems, von dem her sie sich ableitet, und das auch von den Beherrschten geteilt wird, so bezieht sie ihre objektive Geltung wie ihre eigene Stabilität aus der Funktionalität ihrer Herrschaftsentscheidungen selbst. Herrschaft, der die subjektive Anerkennung durch die Beherrschten versagt bleibt, impliziert zugleich auch immer die Disfunktionalität der Herrschaftsentscheidungen in dem oben bezeichneten Sinne. Hintergrund einer solchen Situation ist ein divergierendes Wertsystem, das konfligierende Interessen zwischen Beherrschten und Herrschenden zuläßt. Der Herrschaftskonflikt, der dann entstehen kann, wird zum Interessenkonflikt an sich inkompatibler Interessen. Über deren Berechtigung kann das Wertsystem nicht mehr entscheiden. Zugleich aber ist auch die Institution gesamtgesellschaftlicher Herrschaft nicht länger in der Lage, mit verbindlicher Kraft einen Interessenausgleich herbeizuführen, da ihre Legitimität in diesem Interessenkonflikt selbst problematisch geworden ist. Sie ist aber auch objektiv nicht in der Lage, einen Interessenausgleich durchzusetzen, weil der Interessenkonflikt die allgemeine Geltung des Standards, nachdem sie zwischen den konfligierenden Interessen entscheiden müßte, verlorengegangen ist. Die Heterogenität der Legitimität beanspruchenden Interessen ist nicht aufzuheben, weil der Maßstab problematisch geworden ist, und weil zugleich die Beherrschten mit der ihnen zur Verfügung stehenden Macht einer Neutralisierung ihrer eigenen Interessen widerstehen114• Die Struktur des Konflikts wird in der folgenden Beschreibung Paretos deutlich: "Il y a un travail commun de l'ouvrier et du capitaliste, et l'on veut connaitre en quelle proportion le produit de ce travail doit etre reparti entre eux. Ce problerne est insoluble, si l'on ne definit pas rigoureusement le terme doit, et l'apalogue de Bastiat ne nous est, par consequent, d'aucun secours. Celui qui estime que le produit doit revenir au ,capital', tiendra pour usurpee la part qui va a l'ouvrier, en sus de ce qui est strictement necessaire pour le maintenir dans des conditions telles qu'il puisse travailler, et il conclura en faveur de l'esclavage, ou de toute autre organisation donnant un maximum de benefice au capitaliste. Celui qui estime que le produit doit revenir au ,travail', tiendra pour usurpee la part que prend le capital; il l'appellera plus-value et nommera sur-travail le travail auquel il correspond. Celui qui estime que le produit doit revenir non pas aux individus qui l'obtiennent, mais a la societe, qui assure a m
Vgl. Pareto, Traite ... , § 2134, S. 1344 f.
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ces idividus les conditions sans lesquelles ils ne pourraient produire, celui-la jugera que le produit revient a la socü~te, qui le repartit ensuite au mieux. Celui qui estime que le produit doit se partager suivant certaines regles, par exemple selon celles de la libre concurrence, estimera qu'il faut laisser l'ouvrier et le capitaliste debattre entre eux ce partage. Et ainsi de suite, on aura autant de solutions que l'on assignera de sens au terme doit. Nous aurons d'autres solutions encore, si nous supposons que le terme doit sous-entend qu'on attent certains buts d'utilite sociale. Par example, on pourrait rechercher quelles regles de repartition correspondent a un maximum de puissance politique et militaire du pays, quelles sont celles qui correspondent a un maximum de jouissances pour une collectivite determinee, et ainsi de sutie. On ne peut declarer ,vraie' ni ,fausse' en elle-meme aucune de ces solutions; et ce n'est qu'apres qu'on aura {monce avec precision ce qu'on entend par ce terme doit, qu'on pourra rechercher si la solution proposee est ou non une consequence de cette definition115." Wird eine solche Situation im gesellschaftlichen Gesamtsystem manifest, d. h. tritt ein solcher, rational überhaupt nicht mehr lösbarer Interessenkonflikt auf, dann entsteht "stress and strain" 116, den die konfligierenden Interessen mit der ihnen jeweils tatsächlich zur Verfügung stehenden Macht zu überwinden trachten. Dieser aus der "imperfect integration", oder wie Pareto sagt, "unvollständigen Gleichgewichtslage"117, des gesellschaftlichen Systems resultierende und durch die normensetzende und wertexplizierende Funktion gesamtgesellschaftlicher Herrschaft sich profilierende Konflikt wird nun für die Theorie des sozialen Wandels zur konstitutiven Voraussetzung. Sie erscheint dort dann auch nicht mehr problematisch. Insofern der Konflikt als Interessenkonflikt nicht in den Sozialstrukturellen Dimensionen seiner Genesis analysiert wird, vielmehr mit der Ambivalenz und Mehrdeutigkeit gesellschaftlicher Wert- und Normensysteme einfach gesetzt ist, impliziert die funktionale Notwendigkeit institutionalisierter gesamtgesellschaftlicher Herrschaft als Herrschaft von Minderheiten die Ubiquität des Interessenkonflikts als Herrschaftskonflikt. Konflikt und Desintegration wie der aus ihnen resultierende soziale Wandel wachsen so gleichsam ständig aus den bestehenden gesamtgesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen hervor. 118. Mit dem Konzept der Ubiquität herrschender Minderheiten ist der theoretische Angelpunkt von Statik und Dynamik bePareto, Traite ... , § 2147, s. 1354 f. T. Parsons, The Social System ... , a.a.O., S. 432. 111 Vgl. Pareto, Traite ... , §§ 2067 ff. 118 Eine ähnliche Lösung, Statik und Dynamik theoretisch zusammen zu denken, findet sich später in Dahrendorfs Konfiiktmodell, vgl. R. Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, a.a.O., S. 216. 115 118
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grifflieh gefaßt. Dadurch jedoch, daß bei Pareto Herrschaft handlungstheoretisch gedeutet ist, und deshalb immer nur auf der normativen Ebene von Befehlen und Gehorchen expliziert zu werden vermag118, müssen die Elemente der faktischen Sozialstruktur, die allererst die Herrschaftsverhältnisse wie die aus ihnen hervorwachsenden Interessenkonflikte bedingen, aus der Theorie eskamotiert werden. Der postulierten Irreduzibilität von Herrschaft entspricht die Irreduzibilität von Interessen. Die gesellschaftlich institutionalisierte Mittelallocation und die damit gesetzte Bestimmung der "Lebenschancen" der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft als Herrschaftsfunktion wie als Konfliktgegenstand bezieht sich am Ende auf einen Wertpluralismus als der begründenden Ursache sozialer Konflikte. Insofern dieser in der allgemeinen Theorie formuliert ist, wird er für alle Gesellschaften gesetzt. Seine Herkunft indessen wird gleichsam als in anthropologischen Konstanten gründend begriffen120• In diesem Wertepluralismus wie in seiner anthropologischen Begründung liegt für Pareto letztlich die Ursache, die den unaufhaltsamen Wandel gesellschaftlicher Systeme bewirkt. In diesem Gedanken ist die Idee von der Möglichkeit der Formulierung eines unabänderlichen Bewegungsgesetztes der Geschichte, die Pareto mit der Sozialphilosophie des 19. Jahrhunderts teilt121, aufgehoben. Sie ist hier jedoch zugleich um die fortschrittsoptimitische Variante, in deren Gestalt sie bei SaintSirnon wie bei Marx auftrat, gebracht. Daß Geschichte ihr Ende in einer befreiten Gesellschaft haben könnte, wird als Metaphysik ebenso denunziert122, wie der Gedanke Comtes etwa verworfen wird, Gesellschaft vermöchte sich als integrierte bürgerliche Gesellschaft als das Topos der Geschichte zu konstituieren123• Aus der Unmöglichkeit, Geschichte noch länger als den Prozeß der Entfaltung und des Wirklichwerdens einer Wahrheit zu begreifen, folgt die Zirkulation des immer Gleichen. Aus dem behaupteten Wertepluralismus in der Gesellschaft folgt konsequent die eingestandene Ohnmacht der soziologischen Theorie gegenüber diesem als einem geschichtlich auszumachenden Tatbestand noch irgendetwas zu seiner Auflösung zu vermögen. Die Relativität menschlicher Existenz in Gesellschaft findet im Relativismus dieser Theorie ihren angemessenen Ausdruck. In der Reduktion der Geschichte von Gesellschaft auf die Theorie des sozialen Wandels und das für diesen konstitutive Konzept der "circulation des elites" hat sich der Verlust dieses optimistischen Glaubens sedimentiert. Zwar betont Pareto noch in den Systemes: "Apres avoir note l'importance qu'a dans l'histoire le fait de la succession des elites, il ne faut pas 118
Vgl. II/1.
uo Vgl. II/1.
Vgl. Hamann, a.a.O., S. 50. m Vgl. Pareto, Systemes ... , S. 280 ff. 113 Vgl. ebenda. m
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II. Die Gesellschaft als Institution der Macht von Minderheiten
tomher en une erreur qui n'est que trop frequente, et pretendre tout expliquer par cette seule cause. L'evolution sociale est extremement complexe124." Jedoch darf gesagt werden, daß Pareto glaubte, mit der Theorie der Elitenzirkulation das wesentliche Element des sozialen Wandels gefunden zu haben. Wenn Borkenaugegen diese Reduktion jedoch polemisiert: "A political change is not simply the result of a creative effort of the leading minority, or the result of a change in its personal, but it is the consequence of changing conditions, of new problems arising and demanding new solutions, which the leading group of society may or may not supply ..." 125, dann bleibt diese Kritik an der Oberfläche und berührt die eigentliche Problematik des Reduktionismus nicht. Der gleiche Einwand gilt im übrigen der Bemerkung Hamanns, wo dieser, die formalen Ähnlichkeiten zwischen Marx und Pareto erkennend, meint, " ... indem beide durch die Verabsolutierung eines einzelnen Faktors eine monokausale Erklärung des sozialen Wandels geben, unterliegen sie auch derselben Kritik 126." Man muß schon den systematischen Zusammenhang, in dem das Zirkulationsmodell der Eliten mit der Paretianischen Handlungstheorie steht, aus dem Auge verloren haben, um jenem die theoretische Funktion monokausaler Erklärung zu unterlegen. Das eigentliche Problem des Zirkulationsmodells liegt, wie gezeigt wurde, bereits auf der Ebene der Handlungstheorie. Es geht hinter die Problemstellungen Borkenaus etwa zurück, wenn man die Fragen aufwirft, wie entstehen "neue Bedingungen" und "neue gesellschaftliche und politische Probleme", und warum ist in bestimmten gesellschaftlichen Konfliktsituationen die "leading group" in der Lage, diese zu lösen, in anderen aber nicht. Die Schwäche des Paretianischen Zirkulationsmodells führt auf die Schwäche seines voluntaristischen handlungstheoretischen Ansatzes zurück. Nicht, weil es sich etwa um einen monokausalen Erklärungsversuch handelte, scheitert diese Elitentheorie, sondern weil der Reduktionismus die objektiven sozialstruktureilen Faktoren außer acht läßt, muß er gegenüber konkreten Phänomenen sozialen Wandels versagen. Die Eklärungsfunktionen, die das Zirkulationsmodell der Eliten für den gesellschaftlichen und politischen Wandel hat, sind eben überhaupt nur verständlich auf dem Hintergrund der Handlungstheorie127• Dies wird sofort deutlich, wenn man sich die handlungstheoretische Charakterisierung der konfligierenden Eliten im Zirkulationsmodell näher ansieht. 124 Pareto, Systemes ... , Band I, S. 41. 125 Franz Borkenau, Pareto, London 1936, S. 114. ue Hamann, a.a.O., S. 81. 127 Weil es fast allen Interpreten der Paretianischen Elitentheorie nicht gelingt, diesen Zusammenhang verständlich zu machen, konnte es geschehen, daß ihm eine biologistische Interpretation einfach unterschoben wurde.
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Die erste Formulierung dieses Modells findet sich bereits in den Systemes, wo es heißt: "Soit A l'elite au pouvoir, B celle qui eherehe a l'en chasser, pour y arriver elle-meme, C le reste de la population, comprenant les inadaptes, les hommes auxquels l'energie, le caractere, l'intelligence, font defaut, et qui, en somme, sont ce qui reste lorsqu'on met a part les elites. A et B sont des chefs, c'est sur C qu'il comptent pour se proeurer des partisans, des instruments. Les C seuls seraient impuissants, c'est une armee sans chefs, ils n'acquierent d'importance que quand ils sont guides par A ou par B. Fort souvent, presque toujours, ce sont les B qui se mettent ä.leur tete, les A s'endormant dans une fausse s~curite ou meprisant les C. D'ailleurs ce sont les B qui peuvent mieux leurrer les C, precisement parce que, n'ayant pas le pouvoir, leurs promesses sont ä. plus longue echeance. Parfois pourtant les A tächent d'encherir sur les B, esperant de pouvoir contenter les C pardes concessions apparentes sans trop en faire de reelles. Si les B prennent peu a peu la place des A, par une lente infiltration, si le mouvement de circulation sociale n'est pas interrompu, les c sont prives des chefs qui pourraient les pousser a la revolte et l'on observe une periode de prosperite. Les A tächent generalement de s'opposer ä. cette infiltration, mais leur opposition peut etre inefficace et n' aboutir qu'ä une bouderie sans consequence. Si l'opposition est efficace, les B ne peuvent emporter la position qu'en livrant bataille, avec l'aide des C. Quand ils auront reussi et qu'ils occuperont le pouvoir, une nouvelle elite D se formera et jouera, ä. leur egard, le meme röle qu'ils ont joue par rapport aux A; et ainsi de suite128." Steht in den Systemes Socialistes das Zirkulationsmodell der Eliten noch gleichsam für sich129 , und tritt dort vor allem der intentionale Aspekt der um die Herrschaft ringenden Interessengruppen, als deren organisatorische Kristallisation die Eliten interpretiert werden können, deutlich in den Vordergrund, so baut Pareto es im Traite in seine Systemtheorie von der Gesellschaft ein, und verbindet es mit der Kategorieapparatur seiner voluntaristischen Handlungslehre130• Hatte er gerade in den Systemes Socialistes gegenüber Marx betont, die Phänomene des Klassenkonfliktes könnten nicht länger mehr als ein gesamtgesellschaftlicher, die Gesellschaft in zwei Klassen spaltender Konflikt angesehen werden, weil die Zahl der um die Macht und den Einfluß aufs gesellschaftliche politische Entscheidungshandeln ringenden Interessen sich vervielfacht hätten131 • Hatte er zugleich damit auch zu zeigen versucht, daß die Vielzahl möglicher und empirisch auch nachus Pareto, Systemes . .. , a.a.O., Band I, S. 35.
tu Vgl. Pareto, Systemes ... , Vol. II, S. 384 ff. uo Vgl. Pareto, Traite ... , § 2060 ff. 131 Vgl. Pareto, Systemes ... , Vol. II, S. 384 ff.
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weisbarer Interessenkonflikte nicht auf das eine ökonomische Prinzip des Anteils an oder des Ausschlusses von der Verfügungsgewalt über Produktionsmittel zurückführbar sei, womit er dann allerdings auch das Problem der sozialstruktureilen Vermitteltheit von partikularen Interessen überhaupt aus seinen theoretischen Überlegungen ausgeklammert hatte, so kehrt er nun im Traite in genialer Verallgemeinerung zu einem "Zweiklassenmodell" zurück, das ihm hier zum konstitutiven Element seiner Theorie des sozialen Wandels wird: "Le moins que nous puissions faire est de diviser la societe en deux couches: une couche superieure, dont fQnt habituellement partie les gouvernants, et une couche inferieure, dont font partie les gouvernes132." Diese beiden Klassen stehen sich nicht selten völlig fremd gegenüber. Denn: "Pour avoir une premiere idee de ces importantes phenomenes, on peut observer que grosso modo la classe gouvernante et la classe gouvernee sont l'une a l'egard de l'autre comme deux nations etrangeres183." Der entscheidende Unterschied zum Klassenkonfliktmodell, mit dem Marx die bürgerliche Gesellschaft analysiert hatte, liegt nun aber gar nicht so sehr darin, daß Pareto dessen Funktion innerhalb des Marx'schen teleologischen Geschichtsbildes zerstört und es in sein Kreislaufmodell von Geschichte einsetzt. Bedeutsamer ist vielmehr, daß Pareto den Vermittlungszusammenhang, indem Klassenbildung und Interessenkonflikt zu den objektiven sozialstruktureilen Gegebenheiten stehen, überhaupt nicht mehr erfaßt. Hatte er bereits im Cours nur noch Berufsschichtung und Einkommensverteilung gleichsam als objektive Relikte, welche die Klassenbildung bestimmen können, gelten lassen und damit bereits die Einkommensart als ein sekundäres Phänomen abgetan134, so verzichtet er im Traite überhaupt auf die sozialstruktureilen Dimensionen. Selbst das, was er soziale Heterogenität nennt, und was sich- um einen Begriff der neuerensoziologischen Theorie zu benutzen- als soziale Schichtung nach Kriterien systemfunktionaler Relevanz bezeichnen ließe, ist selbst nicht mehr vermittelt gedacht. Als gleichsam objektiver Rest in der Theorie verbleibt allein die Dichotomie gesamtgesllschaftlicher Herrschaftsverhältnisse. Mit ihm wird der Interessenkonflikt zwischen Herrschenden und Beherrschten als ein Konflikt um knappe Mittel zur Realisierung inkompatibler Interessen gesetzt. Aber auch noch dieses Relikt wird handlungstheoretisch aufgelöst. Nicht nur durch die Explikation des Herrschaftsbegriffs auf der Verhaltensebene135, sondern vielmehr mit der Charakterisierung der m Pareto, Traite ... , § 2047, S. 1301. Pareto, Traite ... , § 2227, S. 1424. 13' Vgl. Pareto, Cours ... , Tome 11, S. 299 ff. 1u Vgl. weiter oben. 133
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konfligierenden Interessengruppen durch zwei, ebenfalls dichotomisch einander entgegengesetze Verhaltenssyndrome, werden die strukturellen Dimensionen des Interessenkonflikts zwischen Herrschenden und Beherrschten, der latent zumindest jederzeit existiert, handlungstheoretisch umgedeutet. Wenn nun im Zirkulationsmodell die konfligierenden Eliten, also die Gruppen, die die Herrschaftsposition der Gesellschaft besetzt halten, und die, welche den Zugang zu ihnen zu erlangen trachten, mit dem Residuum der Kombination138 bzw. dem der Persistenz137 beschrieben werden, dann wird damit nicht nur die strukturelle Ebene des Konflikts verlassen, sondern der Konfliktgegenstand selbst deriviert zum bloßen, in beiden Verhaltenssyndromen verinnerlichten einander widersprechenden subjektiven Intentionen. Während das Residuum der Kombination sich vor allem in spekulativ orientierten, gesellschaftlich nicht bereits institutionalisierten oder normierten Verhaltensformen äußert, ständig neue Zweck-Mittelrelationen versucht und neue Verknüpfungen von Erfahrungselementen zu Derivationssystemen konstituiert, und sein Vorhandensein eine grundlegende Bedingung sozialer Innovation darstellt, ist das Residuum der Persistenz vor allem durch einen habituellen Traditionalismus und durch die regide Identifikation mit einmal institutionalisierten Verhaltensformen gekennzeichnet. Deren Verteilung innerhalb der herrschenden bzw. beherrschten Klasse bestimmt nun nicht nur ganz allgemein die Gleichgewichtslage des sozialen Systems als Ganzem, sondern zugleich auch die Phasengestalt des sozialen Wandels dieses Systems1ss. Da die Gesellschaft als soziales System zwischen Gleichgewichtslage und Ungleichgewichtslage, zwischen Integration und Desintegration sich rhythmisch hin und her bewegt, und dieser kontinuierlich sich vollziehende Prozeß auf der abstrakten Ebene, auf der er hier gefaßt ist, als Zyklus zu begreifen ist, ist es relativ gleichgültig, in welcher Phase man mit der Analyse des Zusammenhangs zwischen dem Zirkulationsmodell der Eliten und dem sozialen Wandel einsetzt. Unmittlbar nach einem mit Hilfe nackter Gewalt vollzogenen revolutionären Umbruch befindet sich in den Herrschaftspositionen der Gesellschaft eine Elite, deren Mitglieder sich vorzüglich um das Verhaltenssyndrom der Persistenz auszeichnen. Hatte die Elite den Interessenkonflikt eben durch die Anwendung nackter Gewalt für sich entscheiden 1se 137 138
Vgl. II/1. Ebenda. Vgl. Pareto, Traite.. , § 2048, s. 1301 f.
11 Hübner
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II. Die Gesellschaft als Institution der Macht von Minderheiten
können139, so sieht sie sich nun, im Besitz der gesamtgesellschaftlichen Herrschaftspositionen, der Notwendigkeit gegenüber, ihr eigenes Interesse, das sie unter den vorher bestehenden gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen nicht zu verwirklichen vermochte, und das sie mittlerweile in ein mehr oder weniger irrationales Gesellschaftskonzept verkleidet hat, mit Hilfe der ihr zur Verfügung stehenden Herrschaft so in institutionalisierte gesellschaftliche Realität umzusetzen, daß ihr aus dieser nicht zugleich ein Widerspruch erwächst, den sie mit Gewalt zu unterdrücken nicht imstande wäre. Diese Aufgabe setzt jedoch einen mehr pragmatisch orientierten sozialen Habitus, der dem persistenten Verhaltenssyndrom im Grunde fremd ist. Indem dem persistenten Elitetyp im wesentlichen eine dogmatische und bloß exegetische Weltorientierung zu eigen ist, deren faktische Konsequenzen er allein mit Gewalt in gesellschaftliche Wirklichkeit umzusetzen trachtet140, ihm also im Grunde jener zweckrationale Habitus, der es verstünde, die eigenen materiellen Interessen und die gesellschaftlichen Verhältnisse mit der ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu integrieren, nicht eignet, produziert er geradezu die gesellschaftlichen Widersprüche: die Herrschaftsentscheidungen, die persistente Eliten mit Gewalt durchzusetzen trachten, bedingen nicht nur die gesellschaftliche Desintegration. Die Anwendung von Gewalt als Ultima ratio produziert ihre eigene Ohnmächtigkeit. "Il arrive souvent que la classe gouvernante provoque elle-meme sa propre ruine141 ." Wo es einer solchen Elite nicht gelingt, den Status quo der Gewaltherrschaft zu perpetuieren, was letztlich auch objektiv zur Zerstörung der gesamten Gesellschaft führen müßte, wird ihr einziges objektives ZieP 42, nämlich die Aufrechterhaltung ihrer eigenen Gewaltherrschaft zur Chimäre. In dieser Situation nun müssen in die Herrschaftspositionen der Gesellschaft Mitglieder der "kombinatorischen Gegenelite" aufsteigen können, da nur sie in der Lage sind, die gesellschaftlichen Verhältnisse mit Hilfe von Herrschaftsentscheidungen so zu regulieren, daß die Gesellschaft als Ganzes nicht auseinanderfällt. Obschon die persistente Elite den Zugang zu den geseamtgesellschaftlichen Herrschaftspositionen kontrolliert, und in der Regel überhaupt nur Individuen ihres eigenen Habitus zu kooptieren trachtet, gelingt es doch den Mitgliedern der "kombinatorischen Elite" mit List und Betrug in die gesamtgesellschaftlichen Herrschaftspositionen aufzusteigen143 • Die zunächst nur Vgl. Pareto, Traite ... , § 2178, S. 1386. Vgl. Pareto, Traite ... , §§ 992, 1047, 1048, 2227. 141 Pareto, Traite ... , § 2227, S. 1424. 141 Objektiv im Sinne "objektiver Zielfunktionen und ihrer Bestimmung in der Paretianischen Handlungstheorie vgl. II/1. 143 Vgl. Pareto, Traite ... , § 2227, S. 1424 f. 131
uo
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äußerliche Folge davon ist, daß Gewalt als Mittel der Herrschaft zunehmend durch List und Manipulation ersetzt wird: "Pour empecher la violence ou pour y resister, la classe gouvernante recourt a la ruse, a la fraude, a la corruption et, pour le dire en un mot, le gouvernement, de lion se fait renard. La classe gouvernante s'incline devant la menace de violence, mais ne cede qu'en apparence, et s'efforce de tourner l'obstacle qu'elle ne peut surmonter ouvertementl44." Dieser Vorgang jedoch ist für die Gesellschaft als System zugleich von funktionaler Bedeutung. Denn nicht nur sind die kombinatorischen Elitemitglieder in der Lage, zunächst in scheinbarer Konformität mit dem durch die persistente Elite etablierten gesellschaftlichen Wertsystem, dieses mit Hilfe der gesamtgesellschaftlichen Herrschaft so zu deuten und als institutionalisierte Verhaltensweisen durchzusetzen, daß die Integrität des gesellschaftlichen Gesamtsystems unter den veränderten inneren und äußeren Bedingungen wieder bis zu einem bestimmten Grade garantiert ist. Vielmehr integrieren sie damit zugleich ihr eigenes materiales Interesse nicht nur mit den gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen, sondern zugleich auch mit den materiellen Interessen, der sozialen Schichten, denen sie entstammen und von denen sie unterstützt werden. In dieser Phase der Zirkulation hat die kombinatorische Elite also die objektive Funktion, die verschiedenen Interessen zu integrieren und die Verhaltensweisen im Gesamtsystem wie das System der Mittelallocation so zu normieren, daß eine optimale Realisierung der verschiedenen Interessen möglich ist145• Die kombinatorische Elite hat hier also die normsetzende und normexplizierende Funktion. Auf dieser Funktion beruht nicht nur ihr Erfolg, sondern paradoxerweise auch umgekehrt ihre tatsächliche Macht. In dem Maße, in dem der Anteil der "kombinatorischen Verhaltenssyndrome" unter den Mitgliedern der herrschenden Elite zunimmt, nimmt der Anteil der persistenten Verhaltenssyndrome ab. Individuen, die sich durch persistente Verhaltenssyndrome auszeichnen, sinken in die beherrschten Teile der Gesellschaft zurück: " ... de cette fagon, les residus de l'instinct des combinaisons (Ie classe) se fortifient dans la classe gouvernante; ceux de la persistance des agregate (He classe) s'affaiblissent, car les premiers sont precisement utiles dans l'art des expedients, pour decouvrir d'ingenieuses combinaisons qu'on substituera a la resistance ouverte146." 144
t4s 148
Pareto, Traite ... , § 2178, S. 1386. Vgl. Pareto, Traite ... , §§ 2131 ff. Pareto, Traite ... , § 2178, s. 1386.
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Unter der Herrschaft einer rein "kombinatorischen Elite" bleibt die Gesellschaft für enige Zeit stabil und integriert. "Il reste, en outre, dans la classe gouvernee, beaucoup d'individus possedant des instincts de combinaisons qui ne sont pas utilises en politique ou dans des operations du meme ordre, mais seulement dans les arts qui en sont independants. Cette circumstance donne de la stabilite auxsocietes, car il suffit a la classe gouvernante de s'adjoindre un nombre restreint d'individus, pour priver de ses chefs la classe gouvernee147 ." Aber auf die Dauer gerät auch diese Gesellschaft als Gesamtsystem in einen instabilen und desintegrativen Zustand, weil " ... Les desseins de la classe gouvernante ne portent pas sur un temps trop lointain. La predominance des instinct des combinaisons, l'affaiblissement de la persistance des agregate, font que la classe gouverante se contente davantage du present et se soucie moins de l'avenir. L'individu prevant, et de beaucoup, sur la famille; le citoyen, sur la collectivite et sur la nation. Les interets presents ou d'un avenir prochain, ainsi que les interets materiels, prevalent sur les interets d'un avenir lointain et sur les interets ideaux des collectivites et de la patrie. On s'efforce de jouir du present sans trop se soucier de l'avenir148 " denn: " ... a la longue, la difference de nature s'accroit entre la classe gouvernante et la classe gouvernee. Chez la premü~re, les instincts des combinaisons ont tendance a predominer; chez la seconde, ce sont les instincts de persistance des agregate qui ont cette tendance. Quand la difference devient suffisamment grande, il se produit des revolutions149. " Indem sich in der beherrschten Klasse eine Gegenelite organisiert, die durch die Dominanz des persistenten Verhaltenssyndroms ihrer Mitglieder sich auszeichnet, ensteht eine neue revolutionäre Bewegung mit chiliastischen Zügen: "4° Celles-ci donnent souvent le pouvoir a une nouvelle classe gouvernante, presentant un renforeerneut des instincts de persistance des agregats; et cette classe ajoute, par consequent, a ses projets de jouir du present, ceux de jouissances ideales a obtiner dans l'avenir; le scepticisme le cede en partie a la foP 50. " Der Zyklus beginnt von vorne. An diesem Zirkulationsmodell bleiben am Ende drei Aspekte besonders interessant: (1) Die selbstregulative Funktion, die dem Interessenkonflikt in seiner allgemeinsten und formalsten Gestalt für den Systemwandel zugeschrieben wird, (2) die Bedeutung, die die Residuendichotomie "Kombination Persistenz" für die Rhythmik des Systemwandels be-
Pareto, Pareto, uo Pareto, 150 Pareto,
147 148
Traite ... , § Traite ... , § Traite ... , § Traite ... , §
2179, 2178, 2179, 2179,
S. 1388.
S. 1387. S. 1388. S. 1388.
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sitzt, schließlich (3) das Kreislaufmodell der Geschichte, daß hinter Paretos Theorie des sozialen Wandels sich verbirgt, und das die teleologischen Geschichtsphilosophien des 19. Jahrhunderts ablöst, um an deren Stelle eine andere zu setzen, die im Sinne scientifischen Anspruchs ebensowenig "erfahrungswissenschaftlich" begründet ist wie jene. Indem Pareto mit der Dichotomisierung der Gesellschaft in Herrschende und Beherrschte theoretisch auch einen zumindest latent allgegenwärtigen Interessenkonflikt setzt, der sich intentional auf Herrschaft als dem allgemeinsten gesellschaftlichen Mittel zur Realisierung subjektitv gesetzter Zwecke richtet, verweist er nicht nur die Aufhebung der Nicht-Identität von Individuum und Gesellschaft und damit die Aufhebung der Entfremdung überhaupt ins Reich der Utopie. Insofern der Konflikt zwischen Einzelnen in der Gesellschaft mit der Ubiquität von Herrschaft theoretisch vorausgesetzt wird, Herrschaft zugleich in allen ihren Formen auf lnstrumentalität als dem objektiven Kern reduziert wird, wird auch die immer bloß partiell mögliche Integrität und Stabilität des gesellschaftlichen Gesamtsystems, die als formale Gegenstücke zur Idee der Aufhebung menschlicher Entfremdung in Gesellschaft zu begreifen sind, postuliert. Erst von hier aus wird verständlich, wenn später auch Dahrendorf mit Pareto behaupten kann, Starrheit und Verfestigung, I. i. E. e. die vollständige Integriertheit, der Gesellschaft nicht aber ihre kontinuierlichen Wandlungsprozesse seien abnorm151 • Eine in den Systemkategorien gedachte totale Stillstellung der Gesellschaft im Zustand vollständiger Integration käme dann ja auch tatsächlich einer "Friedhofsruhe" gleich. Nur hat diese Integrationsvorstellung mit der Aufhebung der Entfremdung in einer befreiten Gesellschaft, gegen die sich die Argumente beider ja richten, nichts gemein. Da dieser "philosophische Gedanke" eben als philosophisch denunziert wird, der in einer rein erfahrungswissenschaftliehen soziologischen Theorie keinen Platz hat1 52, und folgerichtig aus dieser ausgeschieden werden muß, wird der Gedanke an eine total integrierte Gesellschaft identisch mit dem an eine total entfremdete Gesellschaft. Insofern die Herrschaft des Menschen über den Menschen diesen zum Mittel für andere werden läßt, setzt die Theorie auch dessen subjektiven Widerspruch gegenüber den Herrschaftsverhältnissen, den er unterworfen wird, voraus. Es ist bezeichend, wenn Pareto die Legitimität bestehender Herrschaftsverhältnisse wie das Einverständnis der Unterworfenen mit diesen dort enden läßt, wo den Beherrschten bewußt wird, daß jene Herrschaftsverhältnisse es sind, die ihnen die Verwirklichung ihrer eigenen Interessen verwehren, und sie selbst erst die Herrschafts151 15!
Vgl. Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, a.a.O., S. 227. Vgl. Pareto, Traite ... , § 2024 ff.
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verhältnisse ändern müssen, um ihre eigenen Zwecke durchsetzen zu können. Der Widerspruch setzt im Grunde also da ein, wo die Beherrschten selbst beginnen, ihr eigenes Handeln zweckrational an ihren eigenen autonom gesetzten Zwecken zu orientieren. Solange die gesamtgesellschaftlichen Herrschaftsentscheidungen der herrschenden Elite in einem zur Optimierung ihrer eigenen Interessenrealisation wie zu der der Beherrschten führen, bleibt die Legitimität ihrer Herrschaft wie die Identifikation der Beherrschten mit jener gewahrt. Erst dort, wo die Herrschenden die Verwirklichung ihrer eigenen Zwecke auf Kosten der Beherrschten zu maximieren trachten, verfällt nicht nur die Legitimität ihrer Herrschaft, sondern zugleich auch die in ihr investierte faktische Macht153• Die einzelnen Herrschaftsentscheidungen werden disfunktional, das gesellschaftliche Gesamtsystem desintegriert, und es entsteht ein offener Konflikt zwischen Herrschenden und Beherrschten154 , Dieser Zusammenhang zwischen Interessenkonflikt und Systemzustand impliziert die Selbstregulativität des Systems. Es zeigt sich, daß das Systemmodell der Gesellschaft selbst einen teleologischen Charakter annimmt. In welchem Maße Pareto dem Interessenkonflikt eine zentrale Bedeutung für den Systemwandel zumißt, wird deutlich, wenn er die konfligierenden Eliten mit den Residuen der Kombination bzw. der Persistenz identifiziert. Hatte er bereits in seiner Verhaltenslehre diesen beiden Syndromen einen gewichtigen Einfluß auf die Gleichgewichtslagen des Systems zugeschrieben155, so läßt er sie hier zu den eigentlichen Faktoren des gesellschaftlichen Wandels bzw. der gesellschaftlichen Stabilität werdenm. Entscheidend hieran ist, daß in dieser Residuendichotomie die multivalenten Funktionen der Residuen zu verschiedenen Phasen gesellschaftlicher Systemzustände funktionale bzw. disfunktionale Bedeutung erlangen. Hinter diesem Zirkulationsmodell steht nun aber zugleich auch eine Säkularisierungsvorstellung. Der Entgegensetzung von Persistenz und Kombination entsprechen die von Dogmatismus, Irrationalismus, Konservativismus und Gewalt auf der einen und Skeptizismus, Rationalität, Fortschritt und Manipulation als Form der Herrschaft auf der anderen Seite. 153
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155 156
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Pareto, Traite ... , § 2132 ff. Pareto, Traite ... , ebenda. II/1.
Pareto, Traite ... , § 2231 ff.
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Der zyklische Wandel des gesellschaftlichen Gesamtsystems zwischen diesen Polen ist Resultat des Wechsels von persistenten und kombinatorischen Eliten in den Herrschaftspositionen der Gesellschaft. Hatte die Geschichtsphilosophie noch des 19. Jahrhunderts die ganze Geschichte der Gesellschaft als einen einzigen Säkularisationsprozeß begriffen, an deren Ende eine aufgeklärte Gesellschaft sich entfalten sollte, bei Pareto gerät sie in den Kreislauf des Immergleichen. Geschichte wird zu einem Zyklus, in dem sich Skeptizismus und Glaube ständig in der Herrschaft abwechseln157. "The whole story of mankind becomes a struggle between conservativism and changetss." Auch bei Mosca ist die Universalität des Interessenkonflikts mit der Universalität von Herrschaft gesetzt. "Der Tag kann kaum jemals kommen, an dem es keine Konflikte und Rivalitäten zwischen verschiedenen Religionen und verschiedenen Parteien mehr geben wird159." Ebenso wie Pareta hält auch Mosca den Konflikt für ein normales Phänomen aller Gesellschaften, dessen Existenz die einzige Garantie für liberale Verhältnisse ist: "Bisher war in der Geschichte Freiheit zu denken, Menschen und Dinge ruhig und leidenschaftslos zu beurteilen, immer nur für einige wenige und auch nur dann nur dort möglich, wo verschiedene Religionen und politische Strömungen innerhalb einer Gesellschaft um die Herrschaft kämpften. Das ist auch ... die Voraussetzung der politischen Freiheit und für jenes Maß von Gerechtigkeit in den Beziehungen zwischen Regierenden und Regierten, die mit unserer unvollkommenen menschlichen Natur vereinbar istl 60." Aber auch bei Mosca ist die Funktion gesamtgesellschaftlicher Herrschaftskonflikte auf die Vorstellung eines zyklisch verlaufenden Säkularisationsprozesses, auf den die Geschichte von Gesellschaft reduziert wird, bezogen. Dies tritt ganz deutlich dort hervor, wo Mosca die allgemeinen Bedingungen für das Entstehen revolutionärer Bewegungen analysiert. In allen Gesellschaften, in denen die "demokratische Tendenz", und d. h. die Möglichkeit, in die herrschenden Klassen aufzusteigen, blockiert ist und eine "aristokratische Tendenz" sich durchsetzt, die herrschende Klasse sich also gegenüber der beherrschten Klasse abzuschließen vermag, entsteht eine soziale Distanz zwischen Herrschenden und Beherrsch157
ua 159
teo
Vgl. Pareto, Traite ... , § 2227 f. Franz Borkenau, Pareto, a.a.O., S. 73. Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 166. Ebenda, S. 167.
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II. Die Gesellschaft als Institution der Macht von Minderheiten
ten, und" ... jene verlieren die Fähigkeit, die Massen zu führen 161 ." Die Folge davon ist, daß sich in der Unterklasse eine andere Kultur entwickelt, und daß das ursprünglich integrierte gesamtgesellschaftliche Wert- und Normensystem zerbricht. In der Klasse der Beherschten " ... bildet sich infolge der Isolierung eine neue führende Schicht, die sich oft im Gegensatz zu der die legale Regierungsgewalt besitzenden Klasse befindet162." Was hier auf der Ebene gesellschaftlicher und klassenbedingter Wertorientierung analysiert wird, hat aber seinen Ursprung darin, daß in der Unterklasse zugleich mit dem Wertsystem eine "neue soziale Kraft" entsteht, deren materiale Interessen in Widerspruch zu denen der Herrschenden stehen. Dadurch, daß Mosca diesen Vorgang auf der Ebene der Wertorientierung diskutiert, verschleiert er nicht nur die objektiven Verhältnisse, die zur Entfaltung gesellschaftlicher Konflikte führen. Vielmehr reduziert er auch tendenziell die Bedignungen gesellschaftlicher Widersprüche auf die Psychologie. Wird der Konflikt zwischen Herrschenden und Beherrschten letztlich nur auf der intentionalen Ebene beschrieben, dann führt auch nur die Orientierung der Herrschenden an einem den Beherrschten fremden Wertsystem zur Profliierung des Konflikts. Solche Herrschaftsentscheidungen wirken fürs Gesamtsystem disfunktional und bedingen den faktischen Machtverfall der herrschenden Klasse. "Politische Klassen sinken unweigerlich herab, wenn für die Eigenschaften, durch die sie zur Macht kamen, kein Platz mehr ist, wenn sie ihre frühere soziale Bedeutung für die Allgemeinheit (sie) verlieren, wenn ihre Vorzüge und Leistungen in einer sozialen Umgebung an Bedeutung verlieren163." Entsteht nun aber in der Unterklasse eine neue soziale Kraft und damit ein neues Wert- und Normensystem, und wird gleichzeitig den Trägern dieser neuen Wertorientierung der Zugang zu den gesamtgesellschaftlichen Herrschaftspositionen versagt, dann bildet sich innerhalb der Unterklasse eine revolutionäre Bewegung mit einer neuen politischen Klasse, die die Eroberung der gesamtgesellschaftlichen Herrschaftspositionen anstrebt. Denn: "Jede politische Kraft muß organisiert sein, um einen ihrer wirklichen Bedeutung entsprechenden Einfluß zu erringen164." Diese neue organisierte politische Klasse sucht und findet die Unterstützung der sozialen Schicht, der sie selbst entstammt und mit deren Hilfe erobert sie die gesamtgesellschaftlichen Herrschaftspositionen. 111 181
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Ebenda, S. 341. Ebenda, S. 104. Ebenda, S. 65. Ebenda, S. 127.
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Dieser Prozeß, der mit dem Entstehen neuer sozialer Kräfte, deren Entstehungsbedingungen nicht analysiert werden, beginnt, ist nun aber begleitet von einer ideologischen Bewegung, die eine andere politische Formel, und d. h. ein neues Wert- und Normensystem für die Gesamtgesellschaft verbindlich durchzusetzen trachtet. Der strukturelle Zusammenhang zwischen dem Entstehen einer neuen sozialen Kraft und dem einer neuen politischen Formel wird jedoch nicht analysiert. Es läßt sich deshalb nur vermuten, daß beide insofern aufeinander bezogen sind, als daß die politischen Formeln, mit denen sich die verschiedenen sozialen Kräfte jeweils identifizieren, auch einen Normensystem implizieren, daß die Gesellschaft entsprechend den hinter diesen sozialen Kräften stehenden materialen Interessen strukturiert. Gelingt nun einer neuen politischen Klasse die Eroberung der gesamtgesellschaftlichen Herrschaftspositionen, und kann sie durch diese einen Normensystem in der Gesellschaft verbindlich institutionalisieren, das ihre eigenen Interessen in Übereinstimmung mit denen der übrigen Gruppen bringt, dann wirkt ihre Herrschaft funktional, d. h. die Gesamtgesellschaft wird durch sie integriert. Die revolutionäre Phase ist abgeschlossen. Neben diesem revolutionären Wandel kennt Mosca ebenso wie Pareto den evolutionären Wandel. Dieser wird dadurch möglich, daß die herrschende Klasse gegenüber der Klasse der Beherrschten nicht vollständig geschlossen ist. "Hingegen läßt sich auch in normalen Zeiten fast immer die langsame und schrittweise Erneuerung der politischen Klasse durch das Eindringen von Elementen der Unterschicht in die Oberschicht beobachten. Manchmal steht diese Tendenz, die wir die demokratische nannten, im Vordergrund und wirkt durchgreifend und schnell; manchmal wirkt sie verdeckt trotz aller ihr entgegenstehenden Gesetze und Sitten185." Die theoretischen Konsequenzen aus der Funktion, die dem Herrschaftskonflikt für den gesellschaftlichen Wandel zugeschrieben wird, sind bei Mosca wie bei Pareto letztlich die Gleichen. Hinter der Interpretation der gegenseitigen Abhängigkeit von gesellschaftlicher Ordnung und gesellschaftlichem Wandel taucht auch bei Mosca ein zyklisches Geschichtsverständnis auf. In ihm erscheinen gesellschaftliche Ordnung und gesellschaftlicher Wandel als die beiden Pole oszilatorischer Bewegungen, die die Gesellschaft unaufhörlich vollzieht. Soziologische Reflexion, die auch bei Mosca mit der Kritik an den metaphysischen Implikationen der liberalen und der marxstischen So116
Mosca, Die Herrschende Klasse, S. 287.
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II. Die Gesellschaft als Institution der Macht von Minderheiten
zialphilosophie begonnen hatte, fällt auf ein "transempirisches Denken" zurück, über das sie sich längst hinaus glaubte. Die der Gesellschaftstheorie Moscas implizite Vorstellung der Geschichte von Gesellschaft ist als zyklisches Modell gegenüber den teleologischen Geschichtsmodellen bloß eine Variante. Das Selbstverständnis, es handle sich um eine erfahrungswissenschaftliche Konstruktion, ist bloße Täuschung und Selbsttäuschung in einem.
Literaturverzeichnis Abkürzungen der verwendeten Zeitseilritten ASR EAfS GewM= KZfS KVfS AJS BJS
American Sociological Review Europäisches Archiv für Soziologie Gewerkschaftliche Monatshefte Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie The American Journal of Sociology The British Journal of Sociology A. Verwendete Primirliteratur
Mosca, Gaetano: Teorica dei governi e governo parlamentare; zuerst 1884 in Mailand erschienen. Zitiert wird die Arbeit hier nach der Ausgabe des Sammelwerkes: Cio ehe la storia potrebbe insegnare. Scritti di sciensa politica, Milano 1958. - Elementi di sciensa politica; zuerst Mailand 1895, 2. Auflage Turin 1923. Diese Auflage besteht aus dem Text der 1. Ausgabe und einem zweiten völlig neu verfaßten TextteiL - Zitiert wird hier die von Franz Borkenau besorgte deutsche Obersetzung, die nach der italienischen Ausgabe letzter Hand übertragen wurde, und die in der Anordnung des Stoffes der amerikanischen Übersetzung "The Ruling Class", New York 1939, folgt. - Titel der deutschen Ausgabe: Die Herrschende Klasse, Grundlagen der politischen Wissenschaft, Bern 1950. - Storia delle dottrine politiche, Roma 1928. Zitiert in der französischen Übersetzung: Histoire des Doctrines Politiques, nouv. ed., complete par Gaston Bouthoul, Paris 1955.
Pareto, Vilfredo: Cours D'Economie Politique, Lausanne 1896/97. Verwendet wurde hier die Ausgabe aus den Oeuvres Completes, Tome 1, nouv. ed., G. H. Bousquet et G. Busino, Geneve 1964. - Les Systemes Socialistes, Paris 1901/02. - Manuale d'economica politicha, Milano 1906, zitiert wurde die französische Ausgabe: Manual D'Economie Politique, traduit sur l'edition italienne par Alfred Bonnet (revue par l'auteur), 2. ed. nouv. tirage, Paris 1963. - Trattato di sociologia generale, Milano 1916, zitiert wurde die französische Ausgabe: Traite De Sociologie Generale, ed. fran