Hermann Mulert. Sein Leben, Wesen und Wirken [Reprint 2020 ed.] 9783112320372, 9783112309100


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German Pages 62 [76] Year 1954

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VORWORT
INHALT
1. Leben
2. Wesen
3. Wirken
4. Anhang
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Hermann Mulert. Sein Leben, Wesen und Wirken [Reprint 2020 ed.]
 9783112320372, 9783112309100

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H E R M A N N MULERT Sein Leben, Wesen und Wirken Von

Martin Mulert

ALFRED TÖPELMANN B E R L I N W 3 5 1954

Fur Elisabeth Mulert geb. WeijS

VORWORT

M

ehr als drei Jahre sind verflossen, seitdem Hermann Mulert am 22. Juli 1950 von uns ging. Schon damals nahm ich mir vor, eine kurze Lebensgeschichte von ihm zu schreiben, aber erst im letzten Jahr fand ich während der Urlaubszeit die Muße, sie zu beginnen und in diesem Jahr, ebenfalls im Urlaub, sie zu vollenden. Ich hätte diese Arbeit nicht leisten können ohne die freundliche und bereitwillige Unterstützung eines kleinen Kreises von Menschen, die Hermann Mulert ebenso liebten wie ich selber. Seiner Schwester Amalie Reinmuth verdanke ich die meisten Angaben über die Jugendzeit, seinem Freunde Professor Heussi, Jena, über das Studium und die anschließende akademische Lehrtätigkeit, seiner Nichte Maria Flux, der ältesten Tochter von Amalie Reinmuth, die Einzelheiten aus den letzten Lebensjahren und vor allem seine bisher nicht veröffentlichten Gedichte. Schließlich schenkte mir Johannes Rathje mit seinem vor kurzem erschienenen Buch über Martin Rade eine überwältigende Fülle von Tatsachen und Einsichten, die mir nicht nur fiir diese Arbeit wertvoll sind und bleiben werden. Gerade an dem Buch von Rathje ermesse ich, wie wenig es ist, was ich über Hermann Mulert aussage, und ich rate jedem, dem es um eine genauere Kenntnis der geistesgeschichtlichen Zusammenhänge zu tun ist, nach diesem grundlegenden Werk zu greifen, das den Obertitel trägt: „Die Welt des freien Protestantismus". Weil gewiß manches, was ich bringe, unvollständig ist, würde ich mich freuen, wenn mir entsprechende Beiträge aus dem Leserkreis zugingen. So empfindet es der eine oder andere vielleicht als einen Mangel, daß er nicht unter den Freunden genannt wird (S. 38) und gibt mir durch einen Hinweis die Möglichkeit zu späterer Ergänzung. Eine Biographie Hermann Mulerts kann, recht verstanden, nur ein Wort des Dankes sein für all das, was dieser reine und gütige Mensch uns gewesen ist und gegeben hat. Ich hoffe, daß auch der Leser so empfindet. Bonn, am 6. August 1953

Dr. M u l e r t

INHALT i. L e b e n Heimat und Herkunft Kindheit und Jugend Als Student Als Privatdozent Als Professor Als Emeritus Abschied

i 7 9 11 16 18 21

2. W e s e n Würdigung Erscheinung und Veranlagung Geistiger Typus Sittliche Haltung Tolerant Temperament

25 25 28 30 32 33

3. W i r k e n Familie Freundeskreis Politisches Wirken Theologische Arbeiten Schleiermacher-Forschung Konfessionskunde Kirchenpolitisches und Allgemeines Theologische Stellung Die „Christliche Welt" und der freie Protestantismus Schriftleitung der „Christlichen Welt" Schwierigkeiten Ende der „Christlichen Welt" Abschiedsworte

35 36 38 42 42 44 46 47 49 51 52 53 54

4. A n h a n g 1. Gedichte 2. Bibliographie

55 58

LEBEN HEIMAT UND HERKUNFT

V

on der sächsischen Landeshauptstadt Dresden fuhrt eine vielbenutzte Bahnlinie westwärts über Tharandt herauf zum Vorland des Erzgebirges, nach Freiberg. Kurz vor dieser alten Stadt, die wegen ihres Silberbergbaus und ihres daraus erwachsenen Reichtums im Mittelalter weithin berühmt war, überquert sie zwei Täler: das tiefeingeschnittene, schluchtartige Bett der Mulde, das durch die altersgrauen, rauchgeschwärzten Dächer und Schlote seiner Hüttenwerke ein wenig düster wirkt, und vorher auf einem schönen Rundbogen aus Granitsteinen das sehr viel flachere, freundlich grüne Tal der lustig plätschernden, forellenreichen Bobritzsch. Bachaufwärts liegen hingestreut an beiden Ufern, durch Zäune und Hecken getrennt, die Gehöfte, Häuser und Gärten des erzgebirgischen Kirchdorfes Niederbobritzsch. Hier im Pfarrhause, das dicht unterhalb der Kirche liegt und dessen Grasgarten bis hinab an den Bach reicht, wurde Christian H e r m a n n M u l e r t am I i . Januar 1879 geboren. Er war das jüngste Kind seiner Eltern, der einzige Sohn. Mit ihm wuchsen drei Schwestern auf, während ein Sohn und eine Tochter im frühen Alter gestorben sind. Nicht nur sein Vater sondern auch der Großvater, Urgroßvater und noch die nächsten drei Ahnen sind, bis hinauf zum Jahre 1678, evangelische Pastoren im Sächsischen gewesen. Die Ursprünge der Familie Mulert aber lassen sich urkundenmäßig noch weiter, nämlich bis zum Ausgang des 15. Jahrhunderts verfolgen. Damals gehörten die Mulerts in Göttingen zu der achtbaren Gilde der Schuhmacher. 1496 wird Cord Mulert dort als Hausbesitzer, Bürger und Gildemeister erwähnt. Von ihm aus reicht die Kette 1

Mulert

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Leben

über fünf Generationen in Göttingen ansässiger Schuhmacher bis zum ersten Pfarrer Thomas Mulert, geboren am 4. 8. 1644 ebenfalls in Göttingen, gestorben am 2. 3. 1722 als Pfarrer in Burgkemnitz, einem sächsischen Kirchdorf 2 Meilen nordöstlich von Bitterfeld. Der Großvater Hermanns, Detlev Mulert, lebte von 1791—1873. Er hatte von 1808—1813 in Leipzig Theologie studiert und war dann 3 Jahre lang Hauslehrer beim Grafen Heinrich Ludwig von Brühl, Stiftskammer-Rat in Merseburg. Hier entwickelte sich zwischen ihm und der acht Jahre jüngeren Tochter des Hauses, Henriette, eine tiefe Liebe, und im Jahre 1826 heirateten die beiden. Wenn auch die gräfliche Familie, die später in Plauen im Voigtland ansässig wurde, nicht sonderlich begütert war, so bedeutete diese Ehe gleichwohl ein Hinwegsetzen über Standesunterschiede und Standesvorurteile, wie es in jener Zeit keineswegs selbstverständlich war. Der Briefwechsel zwischen den Brautleuten ist erhalten geblieben und gibt uns ein Bild von der schlichten Frömmigkeit und engen Verbundenheit dieser beiden Menschenkinder. Es muß auch später ein guter und gesunder Geist in der Familie lebendig geblieben sein, die zunächst in Würzen b. Leipzig, dann seit 1835 in Meißen a. d. Elbe ihren Wohnsitz hatte. Hier war der Großvater Detlev bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1863 als Diakonus an der Fürstenschule St. Afra tätig. Hier wuchs auch der 1833 noch in Würzen geborene Vater auf, der denselben Vornamen Hermann trug. Auch er hatte in Leipzig Theologie studiert, die Lizentiatenwürde und auch den Grad eines Dr. phil. erworben. In seiner Heimatstadt Meißen lernte er seine 7 Jahre jüngere, 1840 geborene Frau Clementine kennen, die jüngste Tochter aus dem kinderreichen lebendigen Hause des vielseitig interessierten und gebildeten Arztes Dr. Gottlieb Thierfelder. Zwei ihrer Brüder, Theodor und Albert Thierfelder, wurden Professoren der Medizin an der Universität Rostock i. Mecklbg., und die große Familie zählt noch heute eine ganze Anzahl wissenschaftlich und künstlerisch tätiger Persönlichkeiten in ihrenReihen. Man kann den Einfluß und die Bedeutung des Thierfelder-

Heimat und Herkunft

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Anteils für die Wesensart und die Entwicklung unseres Hermann Mulert nichtleichtüberschätzen. Hinzu kommt, daß auch seine Frau mütterlicherseits aus der gleichen Familie Thierfelder stammt. Bei der Mutter Clementine Mulert geb. Thierfelder zeigten und bewährten sich die hohen Anlagen der Familie besonders im Sittlichen. Sie wurde mit zunehmendem Alter immer mehr zu einer ebenso schlichten wie großen und bezwingenden Gestalt von vollendeter Herzensgüte und Selbstlosigkeit. In ihrer Gegenwart mußte auch der Grobe und Rohe höflich und friedlich werden, weil sie allen Menschen mit der gleichen entwaffnenden Freundlichkeit und Hochschätzung begegnete. Für jeden brachte sie eine unendliche Geduld und Zeit auf. Sie fühlte sich in ihrer grenzenlosen Güte und Bescheidenheit immer in der Schuld der anderen und brachte diese ihre Einstellung bei jeder Gelegenheit zum Ausdruck, schon in ihrer üblichen Anrede: „Mein Guter, mein Lieber, mein Bester." Bezeichnend dafür ist ein Vorfall aus den ersten Jahren ihrer Ehe. An einem dunklen, späten Herbstabend begehrten drei abgerissene wildfremde Männer im Pfarrhaus Einlaß und Wegzehrung. Trotzdem sie alles andere als vertrauenerweckend aussahen, nahm die Frau Pfarrer sie mit größter Selbstverständlichkeit und Freundlichkeit auf und bereitete ihnen mit Hülfe von frisch aufgeschüttetem Stroh in einem freien Raum ein Nachtlager. Einige Zeit später standen diese drei Gesellen vor Gericht. Sie hatten in zahlreichen Pfarrhäusern und Kirchen eingebrochen und gestohlen. Während der Verhandlungen kam heraus, daß sie auch in Niederbobritzsch mit solchen wenig freundlichen Absichten vorgesprochen hatten. Das Verhalten der jungen Frau Pastor aber habe sie so beeindruckt, daß sie von ihrem Vorhaben absahen. So war sie ihr ganzes Leben lang. Niemals wollte oder verlangte sie nur das Geringste für sich, alles war immer nur fiir die anderen da, und mit Recht hat man später in den bösen Hungerjahren des i. Weltkrieges davon gesprochen, daß sie eine solche Zeit aus lauter Verzicht zugunsten anderer nicht überlebt haben würde. Sie hat es sicher nicht leicht gehabt, allen Ansprüchen des Haushaltes mit den vier Kindern gerecht zu werden. i*

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Leben

Von 1892—1900 mußten nebenher 13 Morgen Pfarracker mit einigem Vieh bewirtschaftet werden, da sich kein Pächter dazu gefunden hatte. Zwanzig Jahre lang hatte sie in den Sommerwochen zu allem anderen auch noch 2 oder 3 englische Studenten zu betreuen, die als Pensionäre im Pfarrhause wohnten. Eine in Freiberg lebende englische Witwe hatte ihre Söhne im Jahre 1876 in das Bobritzscher Pfarrhaus gegeben, und von da an kamen in jedem J a h r immer wieder neue Bekannte und Verwandte der vorigen, um deutsche Sprachkenntnisse zu erwerben. Der Vater Hermann Mulert hatte in früheren Jahren aus Unterrichtsbriefen Englisch gelernt und unterwies die Gäste täglich einige Stunden im Deutschen. Diese Tatsache spricht fiir eine große Aufgeschlossenheit und gab Hermann schon früh die Möglichkeit, auch mit außerdeutschen Kreisen Verbindungen anzuknüpfen. Eines aber ist sicher. Bei dem völligen Mangel an Geschäftssinn, der für die Frau Pfarrer bezeichnend war, werden auch diese englischen Zugvögel günstigstenfalls die Unkosten gedeckt haben, die sie verursachten, nicht aber die Bilanz des Pfarrhaushalts verbessert. Der äußere Lebensstil im Pfarrhause war bei aller Ordnung und Sauberkeit immer denkbar einfach und bescheiden. Die Einkünfte waren eben nicht groß. Wenn es aber darauf ankam, konnte die Frau Pfarrer Glementine Mulert durchaus einen guten, festlich bereiteten Tisch hinstellen. So bei den Pfarrerkonferenzen, die reihum in den acht oder neun Pfarrhäusern des Bezirkes abgehalten wurden und bei denen die ganzen Familien schon am frühen Nachmittage kamen, um bis zum Abend zu bleiben. Nach dem Kaffee und Kuchen zogen sich die Herren zu einem Vortrag oder zu Besprechungen zurück, und am Abendbrotstisch war man dann wieder beisammen. Davon abgesehen, gab es kaum irgendwelche gesellschaftlichen Verpflichtungen oder Veranstaltungen. Nur im Winter machte man ab und an eine fröhliche Schlittenfahrt in den benachbarten Forst von Tharandt. Aus ihrer übergroßen Güte und ihrem Bestreben, niemandem wehe zu tun, mag sich eine gewisse Unentschlossenheit erklären, die, zumal im höheren Alter, an der Mutter Clementine erkennt-

Heimat und Herkunft

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lieh war. Auch ihre Neigung, alles und jedes aufzuheben, Dinge, die schwerlich noch eine praktische Verwendung finden konnten, verstärkte sich im Alter. Neben dem Sinn fiir Sparsamkeit werden die Schwierigkeiten des Einkaufs vom Lande aus und die Weiträumigkeit des Pfarrhauses mit seinen großen Dachböden dazu verleitet haben. Später fehlten dann Zeit und Kräfte, um alles durchzuräumen. Aber was bedeuten diese kleinen menschlichen Züge im Gesamtbild einer Persönlichkeit, die so unendlich liebenswert und allen, die sie gekannt haben, unvergeßlich bleibt. Sie wurde 74 Jahre alt und starb 11 Jahre nach ihrem Manne im November 1914 an einer Blinddarmentzündung. Der damalige Niederbobritzscher Pfarrer Häßler sprach bei der Trauerfeier von ihr als von einer „anima Candida". Als Denkmal für sie mögen hier die Worte stehen, die ihr Sohn Hermann an ihrem Sarge gesprochen hat: „Psalm 90: Du lässest sie dahin fahren wie einen Strom; sie sind wie ein Schlaf, gleichwie ein Gras, das doch bald welk wird. . . . Unser Leben währet 70 Jahre, und wenn es hoch kommt, so sind es 80 Jahre, und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen, denn es fahret schnell dahin, als flögen wir davon. Wenn es köstlich gewesen ist, ist es Mühe und Arbeit gewesen — oft hat man die letzten Worte umgekehrt und gesagt: wenn's Mühe und Arbeit gewesen ist, so ist es köstlich gewesen. Unserer Mutter Leben war köstlich, weil es Mühe und Arbeit war und weil es Liebe war. Jeder von uns, der an ihrem Sarge oder Grabe spricht, könnte immer nur dasselbe sagen, und weil wir das alle wissen, darum brauchen wir nicht viel davon zu reden. Zwar, wieviel Mühe und Arbeit sie in ihrem Leben gehabt hat, das werden wir nie ganz wissen, und wie lieb sie uns und alle, die ihr begegneten, gehabt hat, das läßt sich nicht aussagen. Die Älteren unter uns wissen es besser als die Jüngeren. Wieviel Mühe und Arbeit sie in früheren Jahren mit Haus und Wirtschaft gehabt hat und wie mühsam es ihr oft in den letzten Jahren gewesen sein mag zu reisen, ihre eigene Häuslichkeit zu besorgen,

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Leben

das können wir mehr ahnen, als daß wir es wissen. Sie hat es oft schwer gehabt, damit wir es leicht haben sollten, und wenn wir dazu kommen werden, in ihren Briefen zu lesen, den Briefen, die sie empfangen und die sie in so großer Menge so treu aufgehoben hat und in den Briefen, die sie geschrieben hat, dann werden wir immer von neuem sehen, wieviel Liebe von ihr ausgegangen ist und wie diese Liebe die Menschen zu ihr gezogen hat. Ihre Kunst, sich mit andern und für andere zu freuen, war unerschöpflich, und ihr sehnlicher Wunsch, allein zu sein, allein für sich in Bobritzsch zu bleiben, stand damit nur scheinbar in Widerspruch. Gerade hier lebte sie für andere, hier wollte sie Kindern und Enkeln ein Stück Großelternhaus erhalten, soviel es ihr möglich war. Und wenn sie allein war, lebte sie fort mit unserem Vater. Wie sehr ihre Gedanken bei ihm gewesen sind, das sprach sie nicht oft aus, in Augenblicken aber, wo sie sich unbeachtet glaubte, konnte man es deutlich wahrnehmen. Ihre Gedanken waren nicht mehr hier, ihre Seele lebte schon lange in der Ewigkeit und für die Ewigkeit. Können wir am Grabe irgendeines Menschen das Wort jenes alten Kirchenvaters sprechen dann vertrauen wir, daß es hier wahr werden wird: Selig sind, die da Heimweh haben, denn sie sollen nach Hause kommen. Und solange wir sie überleben, wollen wir es nicht vergessen: das Erbe an inneren Gütern, das sie uns hinterläßt, ist nicht schon unser Besitz. Wir können nur versuchen, es zu erwerben, uns bemühen, daß wir ihr ähnlich werden in Geduld und Treue, in der Liebe, die trägt und hofft, die an jedem Menschen das Gute heraussucht, die sich nicht erbittern läßt, die alles zum Besten kehrt und das Böse mit Gutem überwindet, das Schlimme umgestaltet zu einem Mittel, Gottes Reich unter den Menschen zu fordern. Daß die Kraft dazu noch wachsen kann, auch wenn die äußeren Kräfte abnehmen, das haben wir an unserer Mutter gesehen; u m solche Kraft bitten wir in dieser Stunde den, der ihre Zuversicht war in guten und schweren Tagen. Herrgott, Du bist unsere Zuflucht für und für. Wir danken Dir für alles, was Du uns und unserer Mutter gegeben hast und wir bitten Dich, laß ihre Liebe

Kindheit und Jugend

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weiter mit uns gehen auf unserem Lebensweg, laß uns in ihrem Sinne, laß uns in Dir verbunden sein und bleiben, bis wir ihr nachgehen." Der Vater Hermann Mulert wirkte neben der freundlichen Güte und inneren Heiterkeit seiner Frau verschlossener und zurückhaltender, obwohl auch er in hohem Maße selbstlos und hilfsbereit war und ebenso wie sie Sinn für Humor und harmlose Neckereien besaß. Er war eine mehr theoretische, eine Gelehrtennatur, ohne aber deshalb unpraktisch zu sein, ein Mann mit großem Wissen und mit Verständnis auch für die Errungenschaften der Neuzeit, von denen er in seinen Predigten gern als von den „lobenswerten, neuen Erfindungen" sprach. Zeit seines Lebens hat er viel und gründlich geistig gearbeitet, und seine geistlichen Kollegen achteten und schätzten ihn ebenso wie die Glieder seiner Gemeinde. Bezeichnend für ihn ist ein Lieblingswort, das er häufig gebrauchte: „Freundlich und ernst, das mische wohl, wenn dir's mit Menschen geraten soll." Körperlich nicht sehr kräftig sprach er zuhause meist mit leiser Stimme. Er soll in seiner Jugend ein Kehlkopfleiden gehabt haben. Längeres Gehen fiel ihm mit zunehmendem Alter immer schwerer. Seine religiöse Stellung war bei echter Herzensfrömmigkeit, die nicht viel Worte machte, offenbar strenger gebunden, „rechtgläubiger" als die seines Sohnes, aber doch nicht so weit, daß es zwischen beiden Gegensätze gegeben hätte. Er hat es seinem Sohn später während desStudiums inLeipzigsogarfreigestellt, von der Theologie zurJurisprudenz überzuwechseln, als dieser von den Vorlesungen Sohms besonders stark beeindruckt wurde. KINDHEIT UND JUGEND Jedenfalls war es ein geradezu ideales, vom Geist der Liebe erfülltes Elternhaus, in dem Hermann Mulert seine Jugend verlebte unter dem ein wenig rauhen Himmel des Erzgebirges mit seinen langen, schneereichen Wintern. Als Kind war er zart und wurde ebenso wie seine Geschwister mit der Flasche aufgezogen, weil die Mutter nicht stillen konnte und das Geld für eine Amme nicht reichte. I m 10. oder n . Lebensjahr erkrankte er an einer

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Leben

schweren Diphtherie, in deren Gefolge er monatelang Lähmungserscheinungen an den Beinen zeigte und lebenslänglich ein leichtes Herunterhängen des rechten Augenlides zurückbehielt. Später kräftigte er sich und wurde ein tüchtiger, ausdauernder Wanderer. I m J a h r e 1886 pflegte ihn einer der Engländer, später Professor in Cambridge, auf seinen Spaziergängen mitzunehmen, und die Mutter hatte Sorge darum, daß er als 7jähriger mit dem langbeinigen Gast Schritt halten könne. Hermann zeigte schon in früher Jugend die Eigenschaften, die ihn so liebenswert machten. E r war ein leicht erziehbares Kind, das sich ohne Schwierigkeiten einfugte und nie einen ernstlichen Trotz entwickelte. E r erfüllte in seinem Verhalten die selbstverfaßten Worte eines Neujahrsgrußes, den er in seinen ersten Schuljahren für die Eltern geschrieben hatte: „Gott wolle Euch geben gute Gaben, doch als die schönste immerdar sollt Ihr den besten Sohn wohl haben, den Ihr Euch wünscht im Neuen J a h r . " Allerdings war die Erziehung seitens der Eltern vorbildlich auch im Sinne der heutigen Psychologie. Es gab keine Strafen oder gar Schläge, höchstens einmal einen langen freundlichen Blick des Vaters mit der schweigenden Frage: „Ist das recht?" Dabei war Hermann keineswegs ein Musterknabe oder gar ein Mucker, sondern er tollte mit der jüngsten Schwester Amalie und später mit der Dorfjugend im Garten, auf den Wiesen und Feldern. Im Alter von 9 Jahren trug er den Spitznamen „Boulanger", nach jenem damals viel genannten französischen General und Politiker. Es bleibt offen, ob die Klangverwandtschaft der Namen oder seine Führerstellung oder sein Interesse fiir die Tagespolitik dafür verantwortlich zu machen sind. Bei schlechtem Wetter spielte er gern und ausdauernd mit seinem Steinbaukasten, auch machte er Laubsägearbeiten und sammelte später Briefmarken. Also ein rechter Junge, aber mit hohen geistigen Gaben und von einer ungewöhnlichen Selbständigkeit und Hilfsbereitschaft. Drei J a h r e lang besuchte er die Volksschule in Niederbobritzsch und wurde von seinem Vater nebenher in die Anfangsgründe des

Als Student

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Lateinischen eingeführt. Dann kam er auf das humanistische Gymnasium im nahen Freiberg, das mit der Bahn leicht zu erreichen war, und lebte hier während der Wochentage als Pensionsschüler in anderen Familien. Nur in den Ferien und zum Wochenende kam er nach Hause. E r hatte das Glück, in Freiberg eine gediegene humanistische Ausbildung alten Stils zu erfahren. Sie stützte sich auf die geistigen Pfeiler der Antike, des Christentums und des Deutschtums. Dieser Dreiklang, damals noch völlig harmonisch und unangezweifelt, fand in seinem Innern einen lebendigen Widerhall und gab ihm die solide Grundlage, auf der er weiterbauen konnte. Dank seines Fleißes, seiner schnellen Auffassungsgabe und seines ungewöhnlichen Gedächtnisses war er, schon in der Schule, stets einer der Besten oder der Beste überhaupt und erhielt mehrfach vom Gymnasium Prämien, so wie er später als Student mit dem „goldenen Stipendium" ausgezeichnet wurde, das alljährlich in Sachsen nur e i n Student erhielt. Mit seinen Klassenkameraden hielt er bis zuletzt treue Freundschaft, und noch eine Woche vor seiner letzten Erkrankung hatte er mit denen, die noch lebten und reisefahig waren, eine Zusammenkunft in Oschatz. ALS

STUDENT

Nach dem mit Auszeichnung bestandenen Abitur bezog er Ostern 1897 mit 18 Jahren die Universität Leipzig, wo schon der Vater und der Großvater Theologie studiert hatten, und trug sich in die gleiche Fakultät ein. Er blieb hier 6 Semester, also 3 J a h r e , nicht zuletzt wohl deshalb, weil er durch Stipendien an Leipzig gebunden war und weil das Studium möglichst wenig kosten sollte. Besonders fesselten ihn im Anfang die Vorlesungen des großen Juristen und Kirchenhistorikers Rudolf Sohm, so daß er, wie bereits erwähnt, vorübergehend an einen Wechsel der Fakultät dachte. Vielleicht um so mehr, als ihm die sehr rückständige, konfessionell lutherische Richtung, wie sie in Leipzig damals vertretenwurde, innerlich widersprach. Die echt liberale und tolerante Grundhaltung, die ihn sein Leben lang auszeichnete, wies ihm sehr

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Leben

frühe den Weg zu eigenen, freieren Anschauungen und zu gleichgesinnten Denkern und Gelehrten. Das war der Hauptgrund, weshalb er das Sommersemester 1900 in Marburg a. d. Lahn verbrachte, um hier die Professoren Herrmann und Jülicher zu hören. In Marburg trat er in engere persönliche Beziehungen zu Martin Rade, Bindungen, die ebenso wie seine Freundschaft mit dem späteren Mitarbeiter Karl Heussi durch das ganze Leben bestehen blieben. Neben diesen beiden muß vor allem der große Kieler Theologe Otto Baumgarten genannt werden. Er übte auf Hermann Mulert eine starke Anziehung aus. Vornehmlich seinetwegen ging er später nach Kiel. Für das Wintersemester 1900—1901 kehrte er zunächst nach Leipzig zurück, um hier das erste theologische Examen abzulegen. Er bestand es, ebenso wie das Abitur, mit der besten überhaupt möglichen Note. Nach diesem Examen weilte Hermann Mulert von Ostern 1901 an im Hause seiner ältesten Schwester Elisabeth, die ihren Vetter Gottlieb Mulert, einen Apotheker, geheiratet hatte. Gottlieb Mulert wohnte damals in dem märkischen Landstädtchen Oderberg, 60 km nordöstlich von Berlin. So ergab sich für Hermann die Möglichkeit, während der Semesterzeit in jeder Woche von Oderberg nach Berlin zu fahren und dort an den seminaristischen Übungen von Adolf Harnack und Ulrich von WilamowitzMoellendorff teilzunehmen. Der Unterricht seiner beiden Neffen Johann und Martin Mulert, der in Oderberg seine Hauptaufgabe war, ließ ihm offenbar Zeit genug für eigene Arbeiten. Daß er trotzdem ein guter und erfolgreicher Lehrer war, bewies der Erfolg. Martin kam in dem einen J a h r so weit, daß er Ostern 1902, anstatt in der dritten, gleich in der vierten Klasse der Oderberger Volksschule Aufnahme finden konnte. Hermann liebte in den Stunden einen harmlosen Scherz, konnte aber auch recht energisch werden. So erinnere ich mich, daß er eine ebenso faule wie unbegabte und unerzogene Arzttochter, die vorübergehend am Unterricht teilnahm, nach kurzer Zeit als völlig ungeeignetes Objekt pädagogischer Beeinflussung mit Schimpf und Schande nach Hause jagte. Einmal brachte er in eine Rechenstunde einen dünnen Faden mit. Eine Geigenseite, wie er erklärte.

Als Privatdozent

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und versprach freundlich lächelnd, die leidigen Rechenaufgaben für diesen Tag zu erlassen, wenn wir das armselige Fädchen zerreißen könnten. Die Enttäuschung war groß, als es sich allen knabenhaften Anstrengungen gewachsen zeigte. Seine schriftstellerische Begabung verschaffte ihm im Sommer 1902 im Anschluß an die Oderberger Zeit eine Anstellung als Hilfsredakteur an einer Tageszeitung in Marburg. So hatte er Gelegenheit, die Beziehungen, die er hier im Sommersemester 1900 angeknüpft hatte, zu vertiefen und besonders Martin Rade noch näher zu kommen. Auch in Kiel, wo er anschließend sein letztes theologisches Semester, das Wintersemester 1902—1903, verbrachte, mußte ihm die Tätigkeit an einer Zeitschrift die Mittel zum Studium liefern. Hier waren ihm neben den Vorlesungen Baumgartens vor allem das Kolleg Albert Eichhorns über mittelalterliche Kirchengeschichte besonders wertvoll; eine vollständige Niederschrift dieser Vorlesung zeugt von seinem besonderen Interesse. Nach sechsjährigem Studium legte Hermann Mulert im Frühjahr 1903 vor dem Konsistorium in Dresden die zweite theologische Prüfung ab. Daß er diesmal nicht die Note 1, sondern „nur" eine 2 a erhielt, hängt — wenn auch nichts Sicheres darüber bekannt ist — offenbar mit seiner liberalen theologischen Einstellung zusammen. Sie wird den Herren in Dresden nicht entsprochen haben. In die gleiche Zeit fallt der Tod seines Neujahr 1902 emeritierten Vaters in Niederbobritzsch. Er starb am 21. Mai 1903 und wurde unmittelbar neben der Kirche beigesetzt, in der er so lange Jahre gepredigt hatte. Für den Sohn ergab sich die Notwendigkeit, den elterlichen Haushalt größtenteils aufzulösen und die äußeren Umstände der Mutter neu ordnen zu helfen. ALS PRIVATDOZENT Von Anfang an hatte ihm als Ziel seiner Studien die eigene Lehrtätigkeit unverrückbar festgestanden, die Habilitation an einer Universität. Die Mittel aber, um die wissenschaftlichen Grundlagen zu gewinnen, mußte er sich seit der Emeritierung des

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Leben

Vaters im J a h r e 1901 weitgehend selber beschaffen, und so suchte er immer wieder eine entsprechende Tätigkeit, die ihm eine, wenn auch bescheidene, finanzielle Basis gab, ohne seine Zeit übermäßig zu beanspruchen. Ähnlich wie in dem Oderberger J a h r e gab ihm vom Herbst 1903 bis zum Frühjahr 1906 die Arbeit als Pädagoge diese Möglichkeit. E r war in diesen zweieinhalb Jahren wieder in Leipzig, zunächst an der Privatschule von Schuster, später am Realgymnasium, beide Male nur als Aushilfskraft, nicht fest angestellt. In die Leipziger Zeit fallt seine Heirat. Seitdem ich im J a h r e 1901 das Glück hatte, von ihm selber unterrichtet zu werden, habe ich meinen Onkel Hermann verehrt und geliebt wie wenig andere Menschen. Zu diesen anderen gehört neben seiner Mutter, meiner Großmutter Clementine, von der bereits die Rede war, an allererster Stelle seine Frau, Elisabeth Mulert geb. Weiß, die noch heute unter den Lebenden weilt. Im J a h r e 1891 kaufte der emeritierte Pastor Weiß, dessen Frau Emilie geb. Thierfelder die ältere Schwester von Hermanns Mutter Clementine war, in Niederbobritzsch ein freigewordenes älteres Haus, etwas unterhalb der Pfarre am andern Ufer des Baches. Von seinen beiden hochbegabten Kindern war der Sohn Felix Arzt geworden, die sehr musikalische Tochter hatte am Konservatorium Dresden eine pianistische Ausbildung erfahren und konnte dank dieser dem 15 J a h r e jüngeren Vetter Hermann Klavierunterricht geben. Die erste Begegnung der beiden aber muß sehr viel früher gewesen sein, denn bei gelegentlichen Besuchen im Bobritzscher Pfarrhaus wird sie ihn schon als ganz kleines Kind auf den Armen gehalten haben. Zwischen diesen an Jahren so verschiedenen, an geistigen und seelischen Kräften ebenbürtigen Menschen entwickelte sich, als Hermann älter und reifer wurde, eine tiefe Neigung, von einer Stärke und Dauerhaftigkeit, wie sie nur wenigen Begnadeten geschenkt wird. Auf der goldenen Hochzeit der Eltern Weiß, am 10. Oktober 1903, entstand durch Erhitzung eines Balkens ein Küchenbrand, an dessen Löscharbeiten sie sich gemeinsam beteiligten. An diesem Tage, so pflegte Hermann später scherzhaft

Als Privatdozent

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zu sagen, sei auch bei ihm ein großes Feuer ausgebrochen. Die Heirat war am 9. Februar 1905 in Niederbobritzsch, wo beider Eltern Häuser standen. Leibliche Kinder blieben ihnen versagt; Elisabeth stand j a bei der Heirat bereits im 4 1 . Lebensjahr und mußte sich bald danach einer Operation unterziehen, die ihr Bruder Felix, Frauenarzt in Schwerin i. Mecklbg., ausführte. Stattdessen aber haben sie an vielen, vielen Menschen geistige, seelische und auch wirtschaftliche Elternschaft vertreten, und niemand wird j e ermessen, wieviel an Segen, Rat, Trost und unmittelbarer praktischer Hilfe von ihnen ausgegangen ist. So weiß ich, daß die Frau Professor, obschon sie bei ihren vielen Verpflichtungen Mühe hatte, die Aufgaben des eigenen großen Haushaltes ohne eine entsprechende Hilfskraft zu bewältigen, längere Zeit in den Abend- und Nachtstunden die zerrissenen Strümpfe einer kinderreichen Familie stopfte, die diese ihr mit der Post zuschickte, offenbar ohne recht zu wissen oder zu begreifen, was sie damit anrichtete. Selbstverständlich wurde eine so unbegrenzte Güte ab und an auch mißbraucht, obwohl die Klugheit und Menschenkenntnis beider groß genug war, um andere zu übersehen und richtig zu beurteilen. Aber im Konflikt zwischen einem großen Herzen und einem großen Verstand ist erfahrungsgemäß das Herz immer wieder der stärkere Teil. Nicht alle Menschen vertragen es, dauernd Liebe, Güte und Nachsicht zu erfahren, ohne daß unmittelbare Anforderungen an sie selber gestellt werden. Diese Tatsache aber mindert in keiner Weise die Größe und den Wert einer solchen Haltung, die dem innersten Wesen entspringt und erst zuletzt nach dem Erfolg fragt. Ich habe lange genug, zwei Semester als Student und später bei häufigen, wenn auch kurzen Besuchen an ihrem Leben teilgenommen, um mir ein eigenes Bild von ihren wechselseitigen Beziehungen machen zu können. Der große Altersunterschied trat eigentlich überhaupt nicht in Erscheinung. E r wurde vielleicht auch dadurch ausgeglichen, daß Elisabeth das lebhaftere Temperament war, ein Feuergeist, während Hermann mehr den Gelehrten verkörperte, die allezeit kritisch wägende und Abstand wahrende Vernunft. Das trat allerdings mehr im Umgang mit

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Leben

anderen Menschen hervor. Die beiden untereinander gaben sich zeit ihres Lebens wie echte Liebende; saßen sie in der Eisenbahn oder in der Elektrischen, so suchten sich ihre Blicke immer wieder, um ein kurzes, stilles Einverständnis auszutauschen. War ihr Platz nebeneinander, so fanden sich ihre Hände. Und jede Rückkehr von den häufig auch länger dauernden Reisen, die Hermann machte, wurde zu einem Fest. „Die Heimkehr", sagte er einmal nach der Rückkehr von Rom, „ist das Schönste an der ganzen Reise gewesen." Er meinte die Heimkehr zu ihr. Trotzdem sie beide selbständige und selbst urteilende Persönlichkeiten waren, kann ich mir nicht vorstellen, daß es jemals einen ernsten Gegensatz oder gar einen Streit zwischen ihnen gegeben hat. Zum mindesten habe ich derartiges niemals erlebt. Dafür waren sie im Innersten viel zu sehr miteinander verwandt, in der schlichten praktischen Frömmigkeit, in der Achtung vor allem Großen, in der Liebe zu allem, was Gott geschaffen hat und besonders in der tiefen Demut und Selbstlosigkeit. Wie schon die Großmutter Clementine legten sie beide auf die äußerlichen Dinge des Lebens, auf nur Formales, keinen sonderlichen Wert. Auch Elisabeth war trotz der musikalischen Begabung und trotzdem sie, wie die Bilder beweisen, in jüngeren Jahren eine wirklich schöne, blutvolle Erscheinung gewesen ist, kein Mensch, dem die Form und der Rahmen Wesentliches bedeuteten. Sie brauchte das nicht und wirkte trotzdem dank ihrer Persönlichkeit stärker als so manche große Dame von Welt. Ihre Wohnung war gewiß freundlich und anheimelnd, aber in keiner Weise aufwendig und nicht nach überwiegend ästhetischen Gesichtspunkten eingerichtet. Sie kauften eben keine Bilder und Teppiche; das Geld hätte dazu auch gar nicht gereicht, weil es für Aufgaben gebraucht wurde, die ihnen dringender erschienen: anderen zu helfen und anderen eine Freude zu machen. Menschen von solcher Güte bleiben immer geldarm, wenn sie nicht von vornherein ein gewisses Vermögen mit auf den Weg bekommen. Nun, davon konnte bei allen beiden nicht die Rede sein, und so mag es auch rein äußerlich ein Glück bedeutet haben, als Hermann im Frühjahr 1906 zum Geistlichen ordiniert und zum Hilfsprediger

Als Privatdozent

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in Brockau bei Netzschkau i. Voigtland ernannt wurde. Nur ein J a h r lang hat er in dieser Stellung gewirkt, aber es muß ein besonders schönes und glückliches Jahr gewesen sein. Sooft seine Frau später davon sprach, leuchteten ihre Augen noch heller und klang eine leise Sehnsucht in ihrer Stimme mit. Die eigentliche akademische Laufbahn begann im Frühjahr 1907 mit der Promotion zum Lizentiaten der Theologie und der gleichzeitigen Habilitierung als Dozent für systematische Theologie und neuere Kirchengeschichte an der theologischen Fakultät in Kiel. Es war wohl Prof. Baumgarten, der Hermann hierbei die Wege geebnet hatte. Er verschaffte ihm auch durch eine Anstellung an der Zeitschrift „Die evangelische Freiheit", die von ihm herausgegeben wurde, die wirtschaftliche Grundlage, um als Privatdozent überhaupt existieren zu können. Bei der damals überaus geringen Zahl der Kieler Theologiestudenten können auch die Vorlesungsgelder nur ganz unerheblich gewesen sein. Der anhaltende wirtschaftliche Druck führte denn auch im März 1909 dazu, daß Hermann Mulert sich von Kiel nach Halle a. d. S. umhabilitierte. Hier konnte er nämlich eine Stellung als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Evangelischen Bundes annehmen, der damals seine Hauptgeschäftsstelle in Halle unterhielt. Daneben liefen natürlich seine eigenen wissenschaftlichen Arbeiten und seine Tätigkeit als Dozent. Im Herbst 1 9 1 1 machte er eine schwere Erkrankung durch, die zu einem operativen Eingriff an einer Niere führte. Eine anschließende Embolie brachte sein Leben zeitweise in ernste Gefahr. Als der Evangelische Bund im Herbst 1912 nach Berlin übersiedelte, verlegte auch Hermann Mulert seinen Wohnsitz dorthin. In der Blumenthaistraße 5, in der Nähe der Potsdamer und der Steinmetzstraße, bezog er eine Mietswohnung von der typischen älteren Berliner Bauart. Dieses Haus hat die Bombenangriffe des 2. Weltkrieges überstanden, während das angrenzende in Trümmer gesunken ist. Ich lebte zu jener Zeit während meiner beiden ersten Semester als Pensionär bei ihnen und habe den Umzug von Halle nach Berlin, das Auspacken und Neuaufstellen der großen Bücherbestände noch lebhaft im Gedächtnis.

Leben

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ALS

PROFESSOR

Im März 1 9 1 7 wurde Hermann Mulert als außerordentlicher Professor für systematische Theologie nach Kiel berufen. Wieder hatte Baumgarten nachgeholfen, indem er seinen Einfluß beim Kultusministerium in Berlin zu Hermanns Gunsten geltend machte. Zehn J a h r e eines mehr als kärglich dotierten Dozententums mit dreimaligem Wechsel der Universität und der aufreibenden Zersplitterung der Kräfte zwischen der eigentlichen Aufgabe und dem Broterwerb lagen hinter ihm. Nun endlich hatte er festen Boden unter den Füßen, konnte sich ganz seiner akademischen und wissenschaftlich-literarischen Tätigkeit widmen. Nun konnte das Ehepaar einen alten Herzenswunsch erfüllen. D a sie keine eigenen Kinder besaßen — Elisabeth war inzwischen 55 J a h r alt geworden — übernahmen sie im J a n u a r 1 9 1 9 die Elternschaft für ein 2 Monate altes Mädchen aus der Unversitäts-Kinderklinik Kiel. Es gab anfangs viel Mühe mit dieser kleinen Gisela, die an allerlei Gesundheitsstörungen zu leiden hatte. Dann aber entwickelte sie sich prächtig; anderthalb J a h r e später (im August 1921) holten sie — als ob es mit dem einen Kind nicht genug wäre und wohl auch, um Gisela nicht allein aufwachsen zu lassen — noch einen neugeborenen Buben aus Dresden, namens Theodor, dazu. Seine Mutter war bei der Geburt gestorben und hatte ihrem Manne noch 4 weitere Kinder hinterlassen. Diese Adoptionen sind überaus bezeichnend für ihre sittliche Haltung, fiir die unbegrenzte Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft, derer sie beide in gleichem Maße fähig waren. Man muß wissen, wie groß und wie vielseitig die Aufgaben waren, die bei ihrer selbstverständlichen Hilfsbereitschaft ohnehin auf den Schultern der Frau Professor lasteten. Erfreulich ist deshalb die Feststellung, daß beide Kinder (die den Namen Mulert tragen) zu ordentlichen Menschen herangewachsen sind; der Sohn, wohlbehalten aus dem 2. Weltkriege heimgekehrt, ist Lehrer im Sächsischen, die Tochter Gisela heute die unersetzliche Hilfe und Stütze der hochbetagten Pflegemutter. 1920 wurde Hermann Mulert im Alter von 41 Jahren in Kiel zum ordentlichen Professor der Theologie ernannt und erhielt im

Als Professor

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gleichen J a h r e von der Fakultät Halle a. d. S. die Würde eines D. theol., eines Doktor der Theologie ehrenhalber. Das komplizierte, nur historisch zu verstehende akademische Brauchtum jener Zeit ersetzte zwangsläufig bei allen neuernannten ordentlichen Theologieprofessoren die Vorstufe des damit erlöschenden Lizentiatentitels durch den höherrangigen D. theol. Aber selbst als ordentlicher Professor blieb Hermann Mulert benachteiligt, weil innerhalb der Kieler theologischen Fakultät kein eigener ordentlicher Lehrstuhl für ihn vorgesehen war. E r galt als sogenannter p e r s ö n l i c h e r Ordinarius: die Würde des Amtes knüpfte sich an ihn nur als Person. Wohl besaß er alle Rechte und Pflichten eines ordentlichen Professors und war als solcher ein J a h r lang Dekan, aber sein Gehalt blieb das geringere eines Extraordinarius. Ihm persönlich hat das bei seiner grenzenlosen Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit sicherlich nichts ausgemacht. Leider habe ich von dem Leben in Kiel, das mit einer Dauer von 18 Jahren zum mindesten äußerlich den Schwerpunkt und den Höhepunkt des Wirkens Hermann Mulerts vorstellt, keine unmittelbaren persönlichen Eindrücke. Aber ich habe mir berichten lassen, daß er gerade in Kiel den besonderen Aufgaben eines Lehrers und Betreuers der akademischen Jugend voll gerecht werden konnte, daß er in seiner Wohnung in der Feldstraße offene Abende für die Studenten abhielt, Zusammenkünfte, die unter der Mitwirkung der Hausfrau sehr lebendig und fröhlich verliefen und allen Beteiligten unvergeßlich blieben. Es war das kurze, geistig so bewegte und fruchtbare Jahrzehnt von 1920—1930. Eine Zeit der Besinnung, der Hoffnung, der Bedrohung und zuletzt der bitteren Enttäuschung. Die allzu kurze Zeit der allzu belasteten Weimarer Demokratie, die keine wirkliche Demokratie werden konnte. Dann fielen in den Jahren 1 9 3 1 , 32 und 33 die vergängnisvollen Entscheidungen, die der deutschen Geschichte eine so unfaßbare Wendung brachten.

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Mulert

Leben

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EMERITUS

Auch Hermann Mulert wurde schon früh von den Wirkungen der nationalsozialistischen Machtübernahme betroffen. Bei seiner aufrechten liberalen Haltung war er als amtlicher Lehrer an einer staatlichen Universität nicht mehr recht am Platze, und so zog er sehr bald die Folgerungen aus der neuen Lage. Schon 1935, erst 56 Jahre alt, ließ er sich emeritieren und verlegte seinen Wohnsitz von Kiel nach Leipzig in den südwestlichen Vorort Markkleeberg. Hier wohnte er in der Nähe seiner jüngsten Schwester Amalie Reinmuth, deren Ehemann, der Pfarrer Heinrich Reinmuth, sich kurz zuvor in der Siedlung Wolfswinkel zur Ruhe gesetzt hatte. Bei dem Entschluß, Kiel zu verlassen, werden noch einige andere Gesichtspunkte eine Rolle gespielt haben: das feuchte und windige Klima der Stadt „nahe am Nordpol" war besonders für seine Frau wenig zuträglich; Prof. Baumgarten, mit dem ihn eine enge Freundschaft verband, lebte nicht mehr, vor allem aber hatte er seit dem J a h r e 1932 eine große wesentliche Aufgabe übernommen, die Redaktion der angesehenen evangelischen Halbmonatsschrift „Die christliche Welt", die so lange von dem bedeutenden Theologen Martin Rade geleitet worden war. Diese Aufgabe füllte ihn weitgehend aus, so daß ihm der Entschluß, die hauptamtliche Lehrtätigkeit aufzugeben, nicht allzu schwer gefallen sein dürfte. Bis zum J a h r e 1941 war es ihm noch möglich, seine Zeitschrift „Die christliche Welt" trotz der immer größeren Widerstände und der bösartigen Schikanen des nazistischen Antichristentums zu erhalten. Dann mußte auch sie ihr Erscheinen einstellen, wie so manches altberühmte „Blatt" im Dritten Reich, das sich dem neuen Kurs nicht anpassen konnte oder mochte. Hermann lebte zu jener Zeit wieder in seinem Geburtsort Niederbobritzsch. Z u Anfang des Jahres 1939 war er von Leipzig dorthin übergesiedelt, nicht zuletzt wohl deshalb, um das Haus besser auszunutzen, das er von seinem Schwiegervater, dem erst 1909 im Alter von 87 Jahren verstorbenen Pfarrer Weiß, geerbt hatte. Es ist ein schmuckloses, etwas verwohntes zweistöckiges

Als Emeritus

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Gebäude, um die Mitte des vorigen Jahrhunderts als „Auszug" von einem Altbauern errichtet, mit ausgetretenen Steinstufen, recht engen Räumen und einem kleinen Vorgarten, der durch ein verrostetes Eisengitter von der Dorfstraße getrennt wird. Als Kinder liebten wir es, auf die niedrigen Türflügel dieses Gitters zu steigen und uns von ihnen im Halbkreis drehen zu lassen. Auch diese seine letzte Wohnung läßt zweierlei deutlich werden, einmal, wie wenig Wert Hermann und Lisa Mulert auf die äußeren Dinge legten, wie er durch das ganze Leben den Grundsatz „ M e h r sein als scheinen" verwirklichte, zum andern aber auch, wie schwer er allezeit um das tägliche Brot hat kämpfen müssen. Während der letzten Kriegsjahre freilich bedeutete es für die Familie sicher einen Vorteil, in der verhältnismäßigen Geborgenheit des Landes zu leben und von den verheerenden Bombenangriffen verschont zu bleiben. In der Nacht des 13. Februar 1945 erlebten sie, wie endlose Geschwader dumpfbrausend über ihre Häupter nach Osten flogen und wie der Himmel über Dresden sich blutig rötete. In den nächsten Tagen ergoß sich dann über Bobritzsch, ebenso wie über die gesamten benachbarten Dörfer, der graue Strom verstörter und zerbrochener Menschen, die in wenigen grauenhaften Stunden alles verloren hatten, was solange der Inhalt ihres Lebens gewesen war. Beim Einmarsch der sowjetischen Truppen blieben das Ehepaar Mulert und ihre Pflegetochter vor ernsthaftem Unbill bewahrt. Als die Soldaten ins Haus drangen und die beiden ebenso ruhigen wie freundlichen alten Leute sahen, verzichteten sie auf Gewaltsamkeiten und Plünderung. Es gab j a auch wirklich weder Kostbarkeiten noch Vorräte, und mit den hohen Büchermauern hätten sie nichts anzufangen gewußt. Schwer, besonders wirtschaftlich schwer, wurden die ersten Nachkriegsjahre, in denen zunächst keine Ruhegehälter gezahlt wurden. U m wenigstens eine bescheidene Grundlage zu haben, aber auch weil es an politisch unbelasteten Hochschullehrern fehlte, hielt Hermann Mulert, sobald der Bahnverkehr wieder in Gang kam, im Wintersemester 1945-46 Vorlesungen über systematische Theologie an der Universität Jena. 1948 übernahm er einen 2*

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Leben

Lehrauftrag für neue Kirchengeschichte und systematische Theologie in Leipzig. Aber welch ein mühseliges Geschäft war es damals, in den unzuverlässigen, maßlos überfüllten Zügen mit ihren zerbrochenen Fensterscheiben regelmäßige Reisen zu machen, volle Tage zu brauchen, wo man sonst in wenigen Stunden ans Ziel gekommen war. Ohne Murren, mit immer gleicher Freudigkeit und Freundlichkeit hat er sich allen Strapazen jener J a h r e unterzogen und alle Entbehrungen, nicht zuletzt den chronischen Hunger, ertragen und damit fraglos seine Lebenskräfte übermäßig beansprucht und vorzeitig verbraucht. Bald schon zeigten sich bedrohliche, objektive Symptome dafür, daß sein Herz dem nicht gewachsen war, hartnäckige Schwellungen der Beine und schwerwiegende Veränderungen in der elektrischen Herzstromkurve. D a war war es gut, daß er besonders bei seinen Fahrten nach Leipzig von seiner Nichte Maria Flux, der ältesten Tochter des schon erwähnten Pfarrers Reinmuth, ärztlich behandelt und auch versorgungsmäßig betreut wurde. Sie hatte ihre Praxis in einem schönen großen Hause mit Garten in Mügeln b. Leipzig und konnte ihm vieles von dem geben, was er in dem lebensmittelmäßig besonders benachteiligten Bobritzsch nicht bekam. E r ist mehrfach für kürzere oder längere Zeit zur Erholung bei ihr gewesen, und in verschiedenen Gedichten kommt seind Dankbarkeit für diese Wohltat zum Ausdruck. E r fand hier die äußere und zugleich auch die innere Erholung, die sein Körper so dringend brauchte. Nur ungern fuhr er jedesmal von Niederbobritzsch fort, weil er seine Frau, der es schon seit der Kieler Zeit gesundheitlich schlecht ging, allein lassen mußte. Nach einem lange zurückliegenden Sturz bei häuslicher Arbeit hatte sie eine Wirbelsäulenerkrankung behalten, die mit zunehmenden Jahren immer schmerzhafter wurde und trotz aller Behandlung, trotz mehrfacher Kuren in Bad Teplitz, zu einer immer ärgeren Verkrümmung des Rückens führte, bis sie schließlich völlig versteifte und auch der Brustkorb fast unbeweglich wurde. Aber die ererbte Lebenskraft ließ sie trotzdem selbst einen Schenkelhalsbruch im J a h r e 1947 überstehen und trotz schwerer Atemnot bis zur Stunde durchhalten.

Abschied

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Als die Trennung des östlichen vom westlichen Deutschland vom J a h r e 1948 ab durch die sowjetischen Maßnahmen immer schärfer durchgeführt wurde, beschäftigte sich Hermann Mulert mit dem Gedanken einer Übersiedlung nach Kiel. Hier waren seine Pensionsansprüche anerkannt, und hier hatten sich die Beträge angesammelt, die nicht mehr in die Ostzone überwiesen werden konnten. Trotz ihres hohen Alters und trotz ihrer Gebrechlichkeit war seine Frau sofort bereit, mit ihm zu gehen. Nur da, wo er war, hatte sie ihre Heimat. Aber das Schicksal wollte es anders. Der Kreis seines Lebens, der von Bobritzsch seinen Anfang genommen hat, sollte sich in Bobritzsch schließen.

ABSCHIED Z u seinem 70. Geburtstag am 1 1 . J a n u a r 1949 hatte man seiner und seiner Verdienste in theologischen Kreisen mit großer Herzlichkeit und Dankbarkeit gedacht. Die Kieler Universitätsmedaille wurde ihm verliehen. Die „Theologische Literaturzeitung" brachte in der Nr. 1 des Jahrgangs 1949 eine warmherzige Würdigung des Freundes Heussi und den Abdruck einer Glückwunschadresse der Leipziger theologischen Fakultät, in der ihm besonders dafür gekannt wurde, daß er in den Jahren der Gesinnungsknebelung und der dauernden Versuche geistloser Uniformierung alles Denkens unbeirrt seinen eigenen Weg gegangen ist, ohne sich binden zu lassen. Der am Schluß ausgesprochene Wunsch aber, daß ihm Frische und K r a f t trotz des biblischen Alters noch eine gute Zeit erhalten bleiben möge, sollte sich nicht erfüllen. Nachdem ihn die sorgfaltige und liebevolle Behandlung in Mügeln anfanglich, besonders 1946, weitgehend gebessert und vor allem die Schwellung der Füße beseitigt hatte, ließ die Herzkraft seit dem Frühjahr 1949 immer deutlicher nach. Er konnte sich nicht entschließen, die unbedingt notwendigen längeren Liegezeiten einzuhalten und unternahm weiterhin seine Reisen von Bobritzsch nach Leipzig, nach Berlin und zuletzt noch im Frühjahr 1950 nach Kiel.

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Leben

Im Juni 1950 erkrankte er an einer epidemischen Leberentzündung. Trotz schlechten Befindens zwang er sich am 21. Juni zu seiner letzten Vorlesung in Leipzig und blieb dann auf der Rückfahrt bei seiner Nichte Maria Flux in Mügeln. Trotz bester Pflege und Behandlung nahm die Lebererkrankung einen Verlauf, wie er bei älteren Menschen meistens zu erwarten ist; sie führte zu einem immer stärkeren Verfall der körperlichen Kräfte. Geistig blieb Hermann Mulert — trotz der schweren Krankheit — bis zum Vormittag des letzten Tages klar, innerlich frei und fröhlich, wie es seiner Art entsprach. Er hatte noch die ganz große Freude, daß seine Frau aus Bobritzsch zu ihm gebracht wurde und an seinem Lager saß; er strahlte richtig Liebe und Güte auf jeden aus, der zu ihm hereinkam, wie Maria Flux berichtet. Als ihn an einem der letzten Abende Aufstoßen und Durst quälten, ließ er sich aus dem Schluß von Goethes Faust II. Teil die Worte der Mulier Samaritana vorlesen. „Bei der reinen reichen Quelle, Die nun dorther sich ergießet, Überflüssig, ewig helle, Rings durch alle Welten fließet—"

So wurde er zum letztenmal mit einer körperlichen Not dadurch fertig, daß er sie aus innerer Kraft in geistige Bereiche erhob. A m Sonnabend, dem 22. Juli ist er in den Mittagsstunden friedlich eingeschlafen. A m Sonntagmorgen sprach sein langjähriger Freund, der Quäker Prof. Emil Fuchs, Abschiedsworte an seinem offenen Sarge. Der war mit allen Sommerblumen geschmückt, die der Garten gab, und seine Frau saß still daneben. Fuchs drückte aus, was ein weiter Freundeskreis über ganz Deutschland hin bei der Nachricht dieses Abschiedes empfand: Den tiefen Schmerz, einen Freund verloren zu haben, der in seiner wundervollen Kraft der Freundschaft, in seiner reichen, nie ermüdenden Güte so viel für jeden einzelnen bedeutet habe. Gott habe ihm die Gnade gegeben, daß er sich die Güte des Herzens bewahren konnte durch das ganze Leben bis in sein Alter. Als die schweren Zeiten der Lebensgefahr und der Not

Abschied

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über Fuchs selber und die Seinen hereingebrochen seien, hätten sie im Mulertschen Hause eine Stätte des Friedens und der Güte gefunden. Was ihm dort widerfahren sei, gehöre zu dem ganz Unvergeßlichen seines Lebens. „Ungebeugt, klaren Denkens suchte er die Wahrheit und suchte Menschen für das Ringen um sie zu wecken. Unverwirrt suchte er das Reine und das Licht und sammelte es im gütigen Herzen, daß es Euch und vielen leuchtete und ihn zum Mittelpunkt eines weiten Kreises suchender Menschen machte." Fuchs schloß seine Ansprache mit den schönen Versen des Entschlafenen: Was bleibet von des Menschen Erdentagen? Geht einst auch unseres Lebens Pfad zu Ende, zagt unsere Seele vor der schmalen Brücke, wenn an des Lebens letzter steiler Wende kein Glück mehr leuchtet, uns kein Zuspruch frommt, dann heben zu den Bergen wir die Blicke, den ewigen, von da uns Hilfe kommt.

Noch am gleichen Tage wurde der Sarg von Mügeln nach Niederbobritzsch überfuhrt und am Montagnachmittag — unter einem kurzen Regenschauer — neben den Hügeln der Schwiegereltern Weiß an der Mauer des Bobritzscher Kirchhofs beigesetzt. Nur klein war die Schar derer, die ihm das letzte Geleit gaben, Verwandte und Einwohner von Bobritzsch. Einem Wunsch des Entschlafenen gemäß sprach der Bobritzscher Pfarrer an seinem Grabe nur ausgewählte Worte der Bibel. So schien es mir nicht in seinem Sinne zu sein, hinterher doch noch den eigenen Abschiedsgruß zu bringen. Das hätte den Pfarrer kränken können. Erst nachher im Hause habe ich ihn seiner Frau und denen, die Hermann Mulert als Vater kannten und liebten, vorgelesen. Er hatte folgenden Wortlaut: „Lieber Onkel Hermann I m Namen unserer Familie, deren gelehrtester und was so viel mehr sagen will, deren gütigster und meist geliebter Vertreter D u gewesen bist und für uns heute Lebenden immer bleiben wirst, entbiete ich Dir den letzten Gruß.

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Leben

Wie oft habe ich Dich bei Hochzeiten, Kindtaufen und an Gräbern zu uns sprechen hören, in Deiner schlichten, tief empfundenen Art. Und nun kommt es mir zu, Dir, meinem einstigen Lehrer, meinem geistigen Vater, den Dank auszusprechen, den tausendfaltigen Dank, den ich und den wir alle Dir schuldig sind. Freilich, Du würdest ihn weit von Dir weisen, mit Deinem feinen Lächeln und der Demut Deines großen Herzens. Von Deiner Mutter her hattest Du die alles überwindende Liebe zu jeglicher Kreatur, von Deinem Vater das kritische, unbestechliche Urteil und den heiligen Zorn über Niedertracht und Gemeinheit. Aber je älter Du wurdest, desto mehr sprach die Mutter aus Dir, meine unvergessene, unvergeßliche Großmutter Clementine Mulert geb. Thierfelder. Danken, rühmen, loben und preisen müssen wir, wenn wir von Dir sprechen, Deine Lebensgemeinschaft mit Deiner Frau, die schönste und vollendetste menschliche Beziehung, die ich aus eigener Anschauung kenne, Deine unermüdliche Hilfsbereitschaft, Deine tiefe, echte Sorge und Dein tätiger liberaler Einsatz für das gemeinsame Wohl des deutschen Vaterlandes und der ganzen Menschheit, Deine Toleranz, Deine Duldsamkeit und Dein Verständnis auch für entgegengesetzte Auffassungen, Dein unbestechlich waches Pflichtgefühl, das dem durch Krankheit geschwächten Körper bis zuletzt die größtmögliche Leistung abnötigte, Deine Bescheidenheit, Deine Demut, Deine Herzensgröße. Ich habe es oft vor andern ausgesprochen und heute an Deinem Grabe darf ich es zum ersten Male auch Dir selber sagen: Du und Tante Lisa, Ihr wart für mich ebenso wie einst Deine Mutter anschauliche lebendige Gottesbeweise. Zeugen dafür, daß der Mensch nicht nur von dieser Erde ist, sondern darüber hinaus eine ewige Heimat hat, daß wir nicht nur Menschenkinder, sondern Gotteskinder sind oder doch sein könnten. Nun bist Du heimgegangen, der Kreis hat sich geschlossen, und im Schatten derselben Kirche, die Dich als Täufling und als Konfirmanden sah, wirst Du in der nämlichen Erde wie Deine Eltern den letzten Schlaf tun. Ave pia anima Ruhe in Frieden

WESEN WÜRDIGUNG

W

er Hermann Mulert gewesen ist und wieviel er für einen weiten, weiten Kreis von Menschen bedeutet hat, das ist an der Schilderung seines Lebensweges deutlich geworden. So bedarf es eigentlich keiner besonderen Würdigung mehr, zumal da es überwiegend Freunde sein werden, die diese kleine Arbeit in die Hand nehmen. Er selber würde es, freundlich lächelnd, als ein höchst überflüssiges Geschäft bezeichnet haben, daß man so viel Wesens von ihm mache. Aber gerade weil er in seiner übergroßen und so überaus seltenen Bescheidenheit alles für selbstverständlich hielt, was er geleistet hat, scheint mir doch der Versuch berechtigt, die wesentlichen Züge seiner Persönlichkeit noch einmal herauszustellen. Auf dem großen Jahrmarkt der Eitelkeit erscheint und spreizt sich so vieles, was wirklich nur als billige Dutzendware bezeichnet werden kann. Warum sollte echte menschliche Größe sich dem gegenüber verstecken und darauf verzichten, für spätere Jahre im Bilde festgehalten zu werden?

ERSCHEINUNG UND VERANLAGUNG Hermann Mulert wirkte verhältnismäßig groß, hielt sich bis ins Alter aufrecht und war in seinem Anzug überaus schlicht und bescheiden. Charakteristisch die hohe Stirn, das leicht herabhängende rechte Oberlid, der kurze dunkle Bart, der das Kinn umrahmte, bezwingend' die echte Herzlichkeit, mit der er jeden begrüßte, der ihm irgendwie nahestand. Seine Sprache war im Gegensatz zu seinem eher bedächtig wirkenden Wesen verhältnismäßig schnell und lebhaft, nicht sehr laut, von dunklem Klang.

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Wesen

Die Tönung der Vokale verriet die sächsische Herkunft und gab seinen Worten etwas Anheimelndes und Gemütvolles. Wie wirklich vornehme hochgebildete Leute legte er wenig Wert auf sorgfaltige Beobachtung gesellschaftlichen Zeremoniells. Ich wiederhole seine eigenen Worte aus einem Abschnitt der „Besinnung". „Sie haben gar keine Zeit darauf zu achten und behandeln jeden bald nach seinem innern Wert, den sie aus dem Gespräch mit ihm heraushören." Schon nach seinem äußeren Eindruck mußte man ihn für einen Mann geistigen und gelehrten Standes halten. Er führte ein sehr regelmäßiges Leben von puritanischer Schlichtheit, brauchte, um leistungsfähig zu sein, ausreichenden Schlaf und ging als Frühaufsteher zeitig zu Bett. In den Morgenstunden hatte er dann seine Hauptarbeitszeit. Es bleibt schwer zu entscheiden, wie weit seine Bedürfnislosigkeit der inneren Veranlagung und der Erziehung, wie weit sie den wirtschaftlichen Notwendigkeiten zuzuschreiben ist. Sicher ist, daß es ihm widersprochen hätte, viel an sich selbst zu wenden, trotzdem er volles Verständnis für die Freuden anderer hatte und sich selber an den schönen und guten Dingen des Lebens von Herzen freuen konnte. Niemals habe ich ihn rauchen sehen, und auch alkoholische Getränke erschienen für gewöhnlich nicht auf seinem Tisch. I m Essen mehr als bescheiden und maßvoll, dankbar für alles, was ihm geboten wurde, führte er im Grunde ein Leben, wie es alte ärztliche Weisheit vorschreibt, ähnlich einem Ahnherrn der Familie Mulert, der mit gefalteten Händen vor einem Laib Brot und einem Schälchen Salz am Tische sitzend dargestellt wird. Seine hohe geistige Begabung erhellt aus seinem Lebensweg und aus seinem Werk. Sie beruhte auf einer raschen Auffassungsgabe, einem scharfen, kritischen Denken von unbestechlicher Logik und vielleicht am stärksten auf einem geradezu phänomenalen Gedächtnis. Er hatte die Abfahrts- und Ankunftszeiten aller Züge, die er benutzt hatte, lückenlos und zuverlässig im Kopf und wurde von der Familie ab und an auch als lebendes Kursbuch gebraucht. Namen, Beziehungen, Tatsachen und Zitate, die er einmal gelernt hatte, waren ihm jederzeit gegenwärtig, und es versteht sich von selbst, welch unschätzbare Hilfe ein solcher Wissensbestand ins-

Erscheinung und Veranlagung

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besondere aus dem Reich der Geschichte für seine Arbeit als Gelehrter bedeutete. Vielleicht hängt es mit dieser seiner geistigen Veranlagung zusammen, daß er nicht einfach auf einem bestimmten Teilgebiet ganz besondere Erkenntnisse forderte, sondern immer ein weiteres Feld bestellte und den Zusammenhang mit Nachbargebieten und dem Leben selber aufrecht erhielt. Wer in Hermann Mulerts Büchern liest und auch wer ihn als Redner erlebte, der wird einer Feststellung beipflichten, die Reinhard Liebe in seinem warmherzigen Nachruf über ihn trifft ,,Er gehörte nicht eigentlich zu den mitreißenden, rednerisch blendenden oder auch ideenreich führenden Naturen, sondern er war ein ganz schlichter, ungemein bescheidener und streng sachlicher Mensch". Eben diese Schlichtheit und Sachlichkeit ließ seine Ausdrucksweise stellenweise ein wenig lehrhaft und trocken wirken, das geschriebene Wort ebenso wie das gesprochene. Es war nicht immer leicht, ihm mit der nötigen Aufmerksamkeit bis zum letzten Wort zu folgen, weil er ohne alle Effekte und ohne wesentliche Änderungen der Stimmstärke zu sprechen pflegte. Er stellte dadurch — ganz gewiß, ohne es zu wollen — größere Ansprüche an seine Zuhörer, und es kann sein, daß diese Eigentümlichkeit neben anderem dafür verantwortlich ist, wenn seine Vorlesungen wohl niemals eine besonders starke Frequenz aufzuweisen hatten. Auch die Lektüre seiner Schriften, die sich doch durch eine hohe Klarheit und Folgerichtigkeit auszeichnen, wird manchmal durch eine gewisse Umständlichkeit und sprachliche Eigentümlichkeiten erschwert. So liebt er es, eine längere Periode mit Nebensätzen zu beginnen, denen der übergeordnete Hauptsatz erst später folgt. Nur ein Beispiel aus der „Besinnung": „Von Freiheit und Autonomie reden, mit ihr einen höheren Weg gehen wollen als die gebundenen und Heteronomen, dürfen wir nur, wenn unsere Hingabe an die Pflicht, an den heiligen Gott entsprechend ernster und treuer ist." Der gleiche Satz würde einfacher und verständlicher sein, wenn er die gewöhnliche Wortstellung hätte: „nur dann dürfen wir von Freiheit und Autonomie reden . . ., wenn . . .

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Wesen

U m so überraschender und beglückender ist es, seine hinterlassenen Gedichte in die Hand zu nehmen. In ihnen zeigt er sich auch als ein Meister der Form, und seine Sprache ist hier dem Gegenstand völlig angemessen, volkstümlich schlicht, bilderreich und klangvoll. Man möchte also annehmen, daß er ursprünglich ganz bewußt alles wegließ, was nicht unbedingt zur Sache und zum Verständnis gehörte, und später an diesem nüchternen Stil festgehalten hat. GEISTIGER TYPUS Leistung und Rang eines Menschen werden, soweit sie von ihm allein und nicht von den Einflüssen der Umwelt abhängen, von zwei Faktoren bestimmt: seinen geistigen Gaben und von der Kraft und Richtung seines Willens. Man hat in den Geisteswissenschaften die Bedeutung des Willens, der inneren Antriebe, jahrhundertelang nicht entsprechend gewürdigt, und erst die neuere Psychologie zeigt, wie entscheidend diese im Menschen selber liegenden bewegenden und weitertreibenden Kräfte für seinen Lebensweg sind. Unbewußt oder bewußt streben die meisten Menschen nach einem bestimmten Ziel, sie folgen einem Leitbild, das ihnen das Gesetz ihres Handelns gibt. Der Philosoph Eduard Spranger hat in seinem Buche „Lebensformen" verschiedene Grundtypen der Persönlichkeit unter diesem Gesichtspunkt aufgestellt, die, mehr oder minder rein ausgeprägt oder in vielfaltiger, Mischung eine gewisse Einteilung der Menschen gestatten. Er unterscheidet sechs Typen: der theoretische Mensch findet in der Wissenschaft seinen höchsten Wert und sein Genügen, der ökonomische in der Wirtschaft, der ästhetische in der Kunst, der soziale in der Brüderlichkeit, der Machttyp in der Politik und der religiöse in der Transzendenz, die für ihn alle anderen Werte bestimmt. Man kann darüber streiten, ob man überhaupt dazu berechtigt ist, ausgeprägte Charaktere in ein Schema einzuordnen. Wenn man sich aber dieser Sprangerschen Formeln bedient, dann ist Hermann Mulert eine glückliche Vereinigung von drei Grund-

Geistiger Typus

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typen: zuerst und am meisten ins Auge fallend, auch nach seinem Lebensweg, ein theoretischer Typ, als solcher ausgezeichnet durch einen starken Sinn fiir Gegenständlichkeit oder Objektivität. Fast im gleichen Atemzuge aber möchte man den sozialen Zug nennen, der seiner Persönlichkeit ihr ganz besonderes Gepräge gab. Er schreibt einmal in einer Betrachtung „Liebe und Wahrheit" in seinem schönen Buch „Besinnung" folgendes —„das reine Streben nach Erkenntnis und die tätige Liebe sind an sich sehr verschieden und selten in einem Menschen gleich stark." Nun, er selbst gehörte zu diesen seltenen Menschen und wäre also eine Verschmelzung des theoretischen Typs mit dem sozialen. Der Katalysator aber, der diese beiden Edelmetalle zu einer Legierung zusammenschmelzen ließ, man kann auch sagen der Grundton des Dreiklanges, ist der ausgeprägte religiöse Ernst, der ihm eigen war. Folgt man wieder der Betrachtungsweise von Spranger, dann vereinigte er die theoretische mit der religiösen Veranlagung, das Wissen mit dem Glauben durch eine Art doppelter geistiger Buchführung, die beide Sphären nach ihrer spezifischen Leistung abgrenzt. Am klarsten hat Pascal diese Zusammenhänge mit folgenden Sätzen ausgesprochen: „Nichts steht so sehr mit der Vernunft im Einklänge wie die Verleugnung der Vernunft in Glaubenssachen. Nichts steht mehr mit der Vernunft im Widerspruch als ihre Verleugnung in Dingen, die nicht Glaubenssachen sind. Die Vernunft gar nicht gelten lassen und nichts gelten lassen als die Vernunft: das sind zwei gleich gefahrliche Verkehrtheiten." Theoretisch-sozial-religiös bestimmt, so ist das Wesen Hermann Mulerts nach meinem Eindruck richtig gesehen. Von den anderen drei Grundtypen dagegen, die Spranger aufgestellt hat, findet sich in ihm kaum etwas. Ganz bestimmt nicht das geringste vom ökonomischen Menschen und vom Machtmenschen, verhältnismäßig wenig vom ästhetischen. Nur seine Gedichte lassen erkennen, wie sehr er sich am Schönen freuen konnte und wie weit seine Seele dem Walten der Natur geöffnet war. Aber der Grundton, gerade auch der der Gedichte, ist doch religiös und sozial.

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Wesen SITTLICHE HALTUNG

Hermann Mulert war eine „sokratische" Natur, wenn man diesen Ausdruck so auffaßt, daß jemand, ebenso wie Sokrates, Wissen und Handeln gleichsetzt und das, was als gut und richtig erkannt ist, mit Selbstverständlichkeit auch tut. Schon daraus erhellt, daß die eigentliche Mitte und die beispielhafte Größe Hermann Mulerts im Sittlichen zu suchen ist, in dem bedingungslosen, freudigen Gehorsam gegenüber dem göttlichen Gebot der Nächstenliebe. Wer sich die Freude macht, in seinem schönen „Andachtsbuch" B e s i n n u n g zu lesen, der findet fast auf jeder Seite die Feststellung, daß es allein auf die echte Hingabe, die Liebesfahigkeit, die Ehrfurcht und das Opfer ankommt. Der letzte Satz einer „Selbstsucht in der Frömmigkeit" überschriebenen Betrachtung aus diesem Werke lautet: „Die Probe auf des Christen Hingabe an Gott ist seine Hingabe an den Nächsten." Wer Hermann Mulert näher kannte, der weiß, daß er all das praktisch vorlebte und verwirklichte, was er uns in diesem Werk als gut und richtig nahebringt. Das Sittliche ist der Maßstab, den er an alles Menschenwerk legt, selbst an die wissenschaftliche Erkenntnis. Nur Lehrmäßiges, Theologisches und Dogmatisches ist für ihn gegenüber der Ethik zweitrangig, trotzdem doch sein eigenes Lebenswerk der Wissenschaft und Erkenntnis gewidmet war. „Des Christen innere Freiheit v o n aller Meinung und Gesetzen der Welt ist Freiheit z u m Dienst an Haus, Beruf, Volk und Welt." (Aus der Betrachtung „Freiheit, Hingabe, Opfer".) Aus dem Geist der Liebe erwächst für ihn auch der Gedanke der Gerechtigkeit, insbesondere der sozialen Gerechtigkeit. Das Ernstnehmen all der Nöte, unter denen so breite Volksschichten leiden. Er erwähnt einmal, daß sein Lehrer Sohm einen Vortrag über die sozialen Pflichten der Gebildeten hielt mit dem Grundton: Bildung verpflichtet. Auch für ihn war das eine Selbstverständlichkeit.

Wahrhaftigkeit

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WAHRHAFTIGKEIT In den Nachrufen wurde von verschiedener Seite eine Eigenschaft hervorgehoben, die eigentlich jeden Wissenschaftler auszeichnen sollte und die für Hermann Mulert selber untrennbar zum Wesen der Wissenschaft gehörte: die unbedingte Wahrhaftigkeit. Lüge und Verstellung waren ihm völlig fremd, und zu nichts hatte er weniger Talent als zum Intrigantentum. Und ebenso wäre er bei seinen Arbeiten niemals etwa um eines Effektes willen auch nur einen Zoll von der streng sachlichen, wahrheitsgemäßen Darstellung eines Tatbestandes abgewichen. Hier scheint mir eine der Wurzeln seines freiheitlichen Christentums zu liegen. Es hätte seiner strengen Auffassung des Wahrheitsbegriffes widersprochen, eine Lehre ungeprüft nur deshalb zu übernehmen, weil sie von einer menschlichen Autorität — und sei sie noch so maßgeblich und anerkannt — für richtig und verbindlich erkärt wurde. Den Satz vollends — credo quia absurdum — hätte er niemals aus Uberzeugung aussprechen können. So war es ihm unmöglich, alle Folgerungen der überlieferten Dogmatik auch für das eigene Denken zu ziehen. Allzu stark empfand er die Antinomien, Gegensätze und Spannungen, die in jedem religiösen Glauben liegen, und allzu viel hatte er über diese großen Fragen nachgedacht, als daß er an eine verstandesmäßige wirkliche Lösung hätte glauben können. E r wußte, daß es in der Theologie ein widerspruchsloses System von Erkenntnissen nicht geben kann. Die in der zweiten Hälfte des Mittelalters ausgesprochene Lehre von der doppelten Wahrheit, wonach ein Satz in der Theologie wahr sein könne, der in der Philosophie falsch sei, erschien auch ihm als eine gar zu verzweifelte Ausflucht. Das sind Gedanken aus seinem Aufsatz „Antinomien", den er in der Nr. i der „Theologischen Literaturzeitung" 1949 veröffentlichte. Die letzten Sätze dieser Abhandlung seien hier gekürzt wiedergegeben, weil sie seinen Standpunkt besonders gut erkennen lassen. „Gottesglaube ebenso wie sittlicher Glaube sind beide eine Deutung von Rätseln. Eine Summe klarer widerspruchsloser Sätze über die letzten Gründe und Ziele des Seienden ent-

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Wesen spräche dem nicht, daß Ehrfurcht immer irgendwie auf Geheimes geht. In der Ehrfurcht liegt zwar, daß wir die Glaubensgedanken der Väter nicht leichthin preisgeben dürfen, aber auch, daß wir alles menschliche Denken über das Ewige niemals mit diesem Ewigen selbst gleichsetzen dürfen." Albert Schweitzer sagt geradezu: „ J e tiefer die Frömmigkeit ist, desto anspruchsloser ist sie in Hinsicht auf die Erkenntnis des Übersinnlichen." Und zum Schluß noch ein bezeichnendes Wort aus der „Besinnung": „Die sittliche Wahrheit ist wichtiger als die theoretische." TOLERANZ

Es gibt Wahrheitsfanatiker, die bereit sind, diesem Prinzip alles andere zu opfern. Solange es dabei nur um ihre eigenen Interessen geht, kann man ihnen die Achtung nicht versagen. Wenn aber der Fanatismus sich rücksichtslos auch über das Lebensglück anderer Menschen hinwegsetzt, dann kann selbst der Fanatismus der Wahrheit zu einer Gefahr, j a zu einem Fluch werden. Nichts war dem Wesen Hermann Mulerts so fremd wie Einseitigkeit und blinder, rechthaberischer Eifer. Sein geistiger Horizont reichte viel zu weit, als daß er glauben konnte, alle menschlichen Wege dürften nur in eine bestimmte Himmelsrichtung fuhren und alle anderen seien Irrwege. Was nicht heißen soll, daß er für sich selber keinen entschiedenen Standpunkt vertreten hätte. Aber die gleiche Freiheit und das gleiche Recht, zu urteilen und zu entscheiden, das er für sich in Anspruch nahm, räumte er mit Selbstverständlichkeit auch jedem anderen ein. Er war liberal, und das heißt in diesem Zusammenhang, er war tolerant. I n einer Betrachtung „Vom Schatten" fordert er, daß m a n auch im Gegner die wirkenden Kräfte erkennen und achten solle und zwar besonders dann, wenn es sich um Widerstände gegen eine Sache handele, die uns wichtig ist, um eine Bewegung, der wir mit ganzem Herzen dienen. „Denjenigen, der einige oder viele unserer, Vorstellungen von Gott vom ewigen Licht nicht teilt, schon deshalb ungläubig zu nennen, wie es Christen und Bekenner

Temperament

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anderer Religionen oft getan haben, das zeugt weder von Ehrfurcht gegen Gott noch von Liebe zu den Brüdern." H. Mulert gehörte zu denen, die sich eher freuen, wenn ihnen fremde Anschauungen begegnen, weil ihm damit die Möglichkeit zu fruchtbarer Auseinandersetzung geboten wurde. Aber auch hier sah er Grenzen, und wieder lagen sie für ihn im Sittlichen. Wo unbeherrschte Leidenschaft, die sich in den Mantel des philosophischen Revolutionärs hüllt, und Gewissenlosigkeit sich durch den Unglauben an sittlichen Ordnungen rechtfertigen will, da hat auch er als echter Christ und sittlich ernster Mensch sich nicht gescheut, „seine Ablehnung schlicht, aber scharf auszusprechen und kräftig dreinzuschlagen''.

TEMPERAMENT Jede Zergliederung einer Persönlichkeit bringt die Gefahr mit sich, daß über der Aufzählung der Einzelzüge der innere Zusammenhang nicht genügend gewahrt bleibt. Der Mensch ist aber in jeder Hinsicht unteilbar, ein Ganzes, bei dem jedes von jedem abhängt und es seinerseits bestimmt. Und so sind auch die bisher geschilderten Wesenszüge Hermann Mulerts nur richtig zu verstehen vor dem Hintergrund und auf dem Boden seines Temperaments, seiner weitgehend angeborenen Gemütslage. Er besaß ein ungewöhnlich harmonisches, in sich ausgeglichenes Seelenleben und würde nach dem Schema von Ernst Kretschmer, ebenso wie seine Mutter, in die zyklothyme Reihe gehören. Keine schroffen Gegensätze, keine unüberbrückbaren inneren Spannungen, keine dunklen dem normalen Denken kaum verständlichen Untergründe. Im Gegenteil, ein klares, folgerichtiges Ineinandergreifen aller seelischen Vorgänge, ein selbstverständliches Fertigwerden mit den Umständen und den Aufgaben und vor allem ein warmer, unmittelbarer Kontakt zur Umgebung. Die inneren Gewichte sind richtig verteilt und der an sich schon so gefährdete und schwierige Ablauf des Lebens wird nicht noch zusätzlich mit eigenen seelischen Betriebsstörungen belastet. 3

Mulert

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Wesen

Dabei fehlte es Hermann Mulert keineswegs an echtem Temperament, und er konnte bei gegebenem Anlaß rasch und lebhaft reagieren. Man spürte, daß eine große durch das ganze Leben geübte Selbstzucht sein Verhalten bestimmte. Die geistige Beweglichkeit und die glückliche Gabe, auch mit den Widrigkeiten des Lebens fertig zu werden, spiegelt sich wider in seinem ausgesprochenen Sinn für Humor. Er liebte es, harmlose Scherze und Schnurren aus dem unerschöpflichen Schatz seiner Erinnerung zu erzählen, und er hat selber unter dem Decknamen „Euthymius Haas" eine Sammlung von Anekdoten aus Kirchengeschichte und kirchlicher Gegenwart herausgegeben, der er den Titel „Der vergnügte Theologe" gab. Das kleine Werk erlebte drei Auflagen, und er ließ ihm später noch zwei Ergänzungen folgen. In der Vorrede betont er, daß lebendig fromme Menschen immer wieder einen starken Humor gehabt haben und daß der Humor bei einer bestimmten Auffassung der Religion als ihr nahe verwandt erscheint. „Dann nämlich, wenn man (weil die Religion alles sub specie aeternitatis betrachtet) eine Lebensstimmung, die über alle Werte und Unwerte dieser Welt wehmütig lächelnd hinweggeht, als die für den frommen Menschen charakteristische ansieht." Auch dies ist wieder ein Stück Selbstbekenntnis.

WIRKEN

M

an wird der Persönlichkeit Hermann Mulerts nicht gerecht, wenn man den Blick nur auf sein theologisches Werk richtet. Die Vielseitigkeit seiner Interessen, seine Aufgeschlossenheit gegenüber allen Fragen, die ihm begegneten, machen es nötig, ihm in den verschiedenen Kreisen nachzugehen, denen er angehörte. In dem Verhältnis des Einzelnen zu der Gesamtheit, in welcher er sich entwickelt und auf die er zurückwirkt, liegt nach einem Wort Diltheys aus der Vorrede zum,,Leben Schleiermachers" der Schwerpunkt der Biographie und des Lebens selber.

FAMILIE Da ist zunächst die Familie. Aus der Schilderung seines Lebensweges ging bereits hervor, wie viel sie ihm selber gewesen ist. Umgekehrt aber hat er für den recht weiten Kreis der Verwandtschaft, der die beiden Familien Mulert und Thierfelder umfaßte, eine ganz besondere Bedeutung gehabt. Schon rein äußerlich durch seine Stellung als ordinierter Geistlicher der evangelischen Kirche. Bei seiner allgemeinen Beliebtheit war es selbstverständlich, daß man ihn bat, bei den großen Familienfesten die Aufgaben des Geistlichen zu übernehmen, und wenn es seine Zeit irgend erlaubte, kam er solchen Bitten gerne nach. Ich weiß nicht, bei wie vielen Taufen, Trauungen und Begräbnissen innerhalb der Familie er den Segen gesprochen hat. Darüber hinaus aber war er ein seelischer und geistiger Mittelpunkt, eine Instanz, auf deren sicheres Urteil man jederzeit zurückgreifen konnte, wenn die Wegrichtungen zweifelhaft erschienen. Immer stand er zur Verfugung und immer sah er die 3*

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Dinge und die Menschen in ihrem ganzen Zusammenhang. So konnte er das Für und Wider einer Entscheidung klug und vorsichtig abwägen mit großer Geduld und Einfühlungsgabe. Immer spürte man die Anteilnahme am Schicksal des anderen, die Liebe. Niemals hätte er versucht, einen Druck oder gar Zwang auszuüben. Davor bewahrte ihn seine Toleranz und seine Achtung vor der menschlichen Selbstbestimmung. Wo er helfen konnte, auch materiell, tat er es mit größter Bereitwilligkeit. Er trug die Schicksale auch der anderen auf seinem gütigen Herzen. So hat es ihn schwer getroffen, als sein hochbegabter, nach ihm benannter Neffe Dr. Hermann Reinmuth, der älteste Sohn seiner Schwester Amalie, ein Opfer des nazistischen Terrors wurde. Wegen der Hilfe, die er den Opfern des brutalen Systems aus reiner Menschlichkeit zuteil werden ließ und wegen seiner politischen Gegnerschaft geriet er in die Netze des Sicherheitsdienstes und kam ins Zuchthaus, zuletzt in das Konzentrationslager, das er lebend nicht mehr verlassen sollte. Keiner im ganzen Umkreis der Familie genoß deshalb ein solches Maß an Vertrauen, Verehrung und Liebe wie er, und auch die so kritische jüngere Generation empfand die Einmaligkeit und die Größe seiner Art. Immer war es eine Freude und eine Auszeichnung, ihn als Gast bei sich haben zu dürfen, die nur dadurch beeinträchtigt wurde, daß er meist schon nach wenigen Stunden bestenfalls nach ein oder zwei Tagen zu anderen Aufgaben weiter mußte. FREUNDESKREIS Es war ein ganz ungewöhnlich weiter Kreis von Menschen überall im deutschen Vaterland und auch um Auslande, zu dem er engere persönliche Bindungen hatte, Beziehungen, die er immer wieder durch Besuche und Begegnungen festigte. Dabei kam ihm sein Gedächtnis zugute, dank dessen er jederzeit dort anknüpfen konnte, wo er vor Jahren stehengeblieben war. Es wird wenig Menschen geben, die sich auch in den persönlichen Lebensverhältnissen ihrer Freunde so gut auskennen, wie er es tat. Dieses Fest-

Freundeskreis

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halten an sich belangloser Einzelheiten ist um so beachtlicher, als sich die wissenschaftliche Arbeit doch viel mehr auf allgemeine Beziehungen und umfassendere Tatbestände richtet, sodaß Weltfremdheit und Zerstreutheit, wenigstens früher, als typische Eigenschaften für den Gelehrten gelten konnte. Bei ihm aber kam zu dem erstaunlichen Gedächtnis die echte menschliche Anteilnahme hinzu, die auch die kleinen Dinge ernst nahm, wenn sie ihm Nahestehende betraf. Er war ein Meister der Freundschaft, darin ähnlich seinem großen, verehrten und geliebten Lehrer Martin Rade. Ende 1952 kam ein Werk heraus, das für die genauere Kenntnis der geistigen Heimat Hermann Mulerts und das Verständnis seines Lebenswerkes unentbehrlich ist. Es trägt den Titel „Die Welt des freien Protestantismus, ein Beitrag zur deutsch-evangelischen Geistesgeschichte, dargestellt am Leben und Werk von Martin R a d e . " Es ist verfaßt von Hermann Mulerts Freund Johannes Rathje. Ein Buch, ähnlich umfassend und ähnlich angelegt wie die Biographie Friedrich Naumanns von Theodor Heuss. Ursprünglich hatte Frau Rade, die eine Schwester Friedrich Naumanns war, sich wegen dieser Biographie ihres Mannes an Heuss selber gewandt. Dieser hatte sich aber wegen anderer Arbeiten versagen müssen, und Rathje wurde gebeten, an seine Stelle zu treten. Nun, eine gründlichere und zugleich fesselndere Darstellung der theologischen und kirchlichen Verhältnisse des evangelischen Deutschlands in den letzten 70 Jahren vor dem Hintergrunde des gesamten kulturellen und politischen Lebens läßt sich kaum vorstellen. Die Höhe des Standpunkts, die Weite der Sicht und die vorbildliche schlichte Klarheit der Sprache sind für den Leser eine reine Freude, und er ist dankbar für ein so ebenbürtiges Denkmal einer großen, leider nicht allzu bekannten Erscheinung des deutschen Geisteslebens, des freien Protestantismus. Aus diesem Werk zitiere ich ein Urteil Rittelmeyers über den Freundeskreis der „Christlichen Welt": „Wenige wissen heute noch, welcher menschliche und geistige Genuß es doch sein konnte, sie alle zu erleben: den beweglichen, immer etwas unruhigen unzufriedenen Otto Baumgarten, den sarkastisch-scharfsinnigen

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Hermann Gunkel, den blitzenden Geistesritter Wilhelm Bousset, den impulsiven Stürmer Heinrich Weinel, den tapferen und warmen Herzensmenschen Paul Wernle, den mit der ganzen Welt geradezu geistesathletisch spielenden Ernst Troeltsch, und wie sie alle heißen, die ihren geborenen Zusammenhang hatten in Martin Rade, dem immer offenen, immer beweglichen Mann des Verstehens und Verbindens, der schicksalmäßig in der rechten Stunde zur Stelle war." Das sind die Männer, zu denen der um 10—15 Jahre jüngere Hermann Mulert trat, als einer der Ihren und als Bewahrer ihres Erbes. Aber es ist nur ein kleiner Ausschnitt aus dem kaum übersehbaren Umfang seiner Bekanntschaften und Freundschaften. Karl Heussi in Jena, Johannes Ratje, Johannes Herz, Emil Fuchs in Leipzig, Siegmund Schultze, Leopold und Ehrenfried Klotz, seine Verleger, Professor Bülck, Professor Engelland, Pastor Jansen und Pastor Martens, Professor Schütz, Studiendirektor Plat — . Jedenfalls, wenn Hermann Mulert eine Reise machte, dann gab es in jeder größeren deutschen Stadt gleich mehrere Häuser, wo man auf ihn wartete und wo man ihn gern für längere Zeit aufgenommen hätte. Sein Freund Heussi hat in einem Brief an mich ausgedrückt, wie er zu Hermann Mulert stand. Seine Worte mögen hier Platz finden, weil sie etwas von dem wiedergeben, was so viele ähnlich empfunden haben: „Was Hermann Mulert mir gewesen ist, habe ich dort, wo ich vor der Öffentlichkeit spreche, nur eben angedeutet. Er war mir eines der größten Geschenke, die mir das Leben gegönnt hat. 50 Jahre hindurch hat diese Freundschaft gewährt, ohne daß ein einziger ernstlicher Mißklang sie getrübt hätte." POLITISCHES WIRKEN Der Kreis freier Protestanten, in dem Hermann Mulert zu Hause war, hat seine Aufgabe immer darin gesehen, die in ehrlichem geistigen Ringen neu gewonnenen Erkenntnisse im öffentlichen Leben zur Wirkung zu bringen. Das waren keine weltfremden Theoretiker, keine sich selbst genügenden Naturen,

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sondern Männer, denen die großen Nöte der Zeit auf der Seele brannten und die sich nach besten Kräften um Abstellung oder wenigstens Linderung bemühten. An dieser Stelle muß zuerst der größte unter ihnen genannt werden: Friedrich Naumann. Im Protestantismus wurzelnd und von der Kirche ausgehend, erwuchs er zu einem der großen Führer und Wegweiser des deutschen Volkes. Es gehört zur Tragik der so schwer begreiflichen deutschen Geschichte, daß diese wahrhaft prophetische Gestalt nicht zur vollen politischen Auswirkung kam und daß der Tod diese einmalige Persönlichkeit in einem Augenblick abrief, als die deutsche Demokratie gerade eines Friedrich Naumanns so dringend bedurfte. Auch Hermann Mulert hat über Friedrich Naumann zuerst den Zugang zum öffentlichen Leben gefunden. Seine Auffassung vom Christentum als sittlicher Verpflichtung hätte ihn in jedem Falle zur Teilnahme an den großen Fragen der Zeit gefuhrt. Aber in Naumann fand er das große verehrungswürdige Vorbild, das seiner eigenen Richtung vollauf entsprach. Als er während des Studiums in Leipzig zuerst Gelegenheit hatte, Naumann zu hören, war das geistige und politische Ringen um die Seele des deutschen Arbeiters bereits seit einem Jahrzehnt im Gange. Es hatte begonnen mit dem ersten evangelisch-sozialen Kongreß, der im wesentlichen auf die Initiative Stöckers und Friedrich Naumanns unter Beteiligung der maßgeblichen Kräfte des verantwortungsbewußten evangelischen Deutschlands im Mai 1890 in Berlin getagt hatte und sich zu einer ständigen Einrichtung entwickelte. Die zunehmende Entkirchlichung und die überwiegend materialistische Richtung der immer stärker werdenden Sozialdemokratie und der ihr folgenden Arbeitermassen warf damals ein Problem auf, das bis zum heutigen Tage nicht gelöst werden konnte. Gerade die Kreise des freien Protestantismus, die in der „Christlichen Welt" ihr Sprachrohr hatten, sahen hier eine unabdingbare Aufgabe und förderten alle Bestrebungen, um den unheilvollen Riß zu überwinden, der mitten durch das deutsche Volk ging. Naumanns Gründung des „National-sozialenVereins" im J a h r e 1896 entsprang dem gleichen Wunsch. Der weitere Verlauf der innerdeutschen Geschichte hat gezeigt, daß eine Ver-

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söhnung und echte Zusammenarbeit zwischen der Sozialdemokratie und den kirchlich gebundenen Kreisen Deutschlands nicht möglich war und daß die Verhärtung, um nicht zu sagen Versteinerung, der parteipolitischen Gegensätze sich nicht aufhalten ließ. Auch die soziale Frage wurde immer stärker nicht so sehr unter allgemein nationalen, als unter parteipolitischen Gesichtspunkten gesehen. Daraus ergab sich zwangsläufig, daß jemand, der in der politischen Sphäre mitwirken wollte, auch am Parteileben teilnehmen mußte. Auch dieser Notwendigkeit hat sich Hermann Mulert nicht entzogen. Es kam für ihn als den ausgesprochenen Verfechter einer freiheitlichen und toleranten Haltung nur eine liberale Partei in Frage. A m Reichstagswahlkampf des Jahres 1903 beteiligte er sich aktiv zugunsten Friedrich Naumanns, dem bekanntlich damals der politische Erfolg versagt blieb. Seit dieser Zeit blieb Hermann Mulert in ständiger tätiger Verbindung mit dem politischen und parteipolitischen Leben, wenn er auch seiner Art nach niemals als ein „Parteipolitiker" bezeichnet werden kann. In Kiel war er Schriftführer des demokratischen Landesverbandes, in den letzten Lebensjahren Vorsitzender der kleinen liberal-demokratischen Ortsgruppe in Niederbobritzsch. Sie war als einzige Organisation bei seiner Beisetzung zugegen. Schon seine Tätigkeit als Redakteur und Schriftsteller zuerst an der Marburger Zeitung unter Wenck, einem Freunde Friedrich Naumanns, dann in Kiel als Helfer Baumgartens an dessen „Monatsschrift für die kirchliche Praxis", vor allem aber die Schriftleitung der „Christlichen Welt" waren Ausdruck und Folge seines echten politischen Interesses. Ein gesundes und sittlich gebundenes Deutschtum war ihm seit seiner Jugend, gefördert durch die Einflüsse des Freiberger Gymnasiums, eine Selbstverständlichkeit. De Lagarde hat stark auf ihn eingewirkt, und Hermann Mulert hat dessen greise Lebensgefahrtin mehrfach in Göttingen aufgesucht, auch selber einen Band von ihm herausgegeben. Wie sehr ihn die mit dem nationalen Denken zusammenhängenden Fragen bewegten, geht daraus hervor, daß er während des ersten Weltkrieges im J a h r e 1 9 1 5 eine Schrift herausbrachte „ D e r Christ und das Vaterland" und ihr noch im

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gleichen J a h r e eine speziellere Abhandlung über den „Waffendienst der evangelischen Pfarrer" folgen ließ. Der zuverlässige Prüfstein für die politische Urteilsfähigkeit eines Deutschen in den letzten 30 Jahren scheint mir seine Stellung zum Nationalsozialismus zu sein. Nun, Hermann Mulert hat ihn, wie es gar nicht anders sein konnte, von allem Anfang an aus tiefster Seele abgelehnt und später verabscheut. Er teilte vorbehaltlos die Auffassung von Rade, daß es unsere sittliche Pflicht sei, an der Politik aktiven Anteil zu nehmen, daß aber nur diejenige Politik fruchtbar sein könne, die auf einem ethischen Fundament beruhe. Es gehörte kein besonderer Scharfsinn dazu, um die moralisch verbrämten Tiraden der Machthaber und Wortführer des Dritten Reiches an ihren Taten zu messen und sie als lügenhafte Fassade zu erkennen. Wohl verstanden, es handelt sich zunächst nur um die politische Urteilsfähigkeit, nicht um die moralische Wertung irgend eines gläubigen Anhängers oder harmlosen Mitläufers der mit so raffinierten und eindrucksvollen Mitteln arbeitenden Bewegung. Der Liberale mußte zwangsläufig, ich möchte sagen, a priori, in schärfsten Gegensatz zu einer Richtung kommen, die durch Ausschließlichkeit, Unduldsamkeit und Fanatismus ihre Ungeistigkeit dokumentierte. Und umgekehrt mußte dieser Ungeist im Liberalen seinen Todfeind wittern. Wie früh dieser Gegensatz bei Hermann Mulert akut wurde, zeigt seine kleine Broschüre „Baumgarten und die Nationalsozialisten". Er schrieb sie, als sein Lehrer und Freund Baumgarten von nationalsozialistischen Studenten feige angegriffen wurde. Auch sein persönliches Leben hat seit 1933 unter dem dunklen Schatten dieser undeutschesten Zeit der deutschen Geschichte gestanden. Von dem tragischen Schicksal seines Neffen Hermann Reinmuth war schon die Rede. Im Zusammenhang mit dem Verfahren, das gegen diesen vor dem Volksgericht durchgeführt wurde, erhielt Hermann Mulert 1934 einen Verweis. Auch seine Entpflichtung vom Lehramt im J a h r e 1935 war ausschließlich eine politisch bedingte Maßnahme, obwohl er rein formal seine Emeritierung selber beantragt hatte, wie es den alten akademischen Gepflogenheiten entsprach. Es fehlt in

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dem Gesuch, das sich noch in der Kieler Theologischen Fakultät befindet, die nähere Begründung. Im Zusammenhang mit den Kämpfen um eine national bestimmte Glaubenshaltung hatte man damals die Absicht, die theologische Fakultät Kiel überhaupt aufzulösen. Es braucht wohl nicht eigens gesagt zu werden, daß Hermann Mulert die Verbindung begrenzter nationaler Zwecke mit dem unbegrenzten Ewigen um so stärker ablehnen mußte, j e mehr sich die Kirche dabei ihrer inneren und äußeren Selbständigkeit begab. Selten habeich ihn, den Mann der Mitte, des Ausgleichs und der Versöhnung, so scharfe und vernichtende Urteile fallen hören wie bei der Bewertung alles dessen, was mit dem Dritten Reich zusammenhing, und er hat schon im J u l i 1939 ganz klar gewußt und ausgesprochen, daß der Krieg unmittelbar vor der T ü r stehe, zu einer Zeit, als ich selber immer noch zögerte, an ein solches Übermaß von Wahnwitz und Verblendung zu glauben. THEOLOGISCHE ARBEITEN Wenn ich jetzt als letzten Abschnitt eine kurze Betrachtung des wissenschaftlichen, also im wesentlichen theologischen Lebenswerkes Hermann Mulerts bringe, bin ich mir vollauf bewußt, wie wenig mein Bildungsgang und meine Kenntnisse als Arzt die nötigen Voraussetzungen dazu abgeben. V o r allem gehörte ein ungleich genaueres Studium seiner Werke selber dazu, hier Wesentliches auszusagen, als es mit neben Berufsarbeit und andrer starker zeitlicher Beanspruchung möglich war. Ich bin deshalb sehr dankbar dafür, daß mir einige kurze Zusammenfassungen, insbesondere seines Freundes Heussi, und das bereits erwähnte grundlegende Werk von Johannes Rathje vorliegen, an die ich mich halten und auf die ich mich berufen kann. SCHLEIERMACHER-FORSCHUNG Drei Gebiete sind es vornehmlich, denen das Forschen, Denken und Schaffen Hermann Mulerts galt. Zunächst ein geschichtliches Thema, aber eines von ganz besonderem Rang, die Erhellung der gewaltigen Persönlichkeit Friedrich Schleiermachers, der wie ein

Schleiermacher-Forschung

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mächtiger, einsamer Felsblock am Beginn der neuzeitlichen evangelischen Theologie steht. Sowohl seine Habilitationsschrift „Schleiermachers geschichtsphilosophische Ansichten in ihrer Bedeutung für seine Theologie" wie seine letzten Besuche in der Berliner Staatsbibliothek im Jahre 1949 dienten dieser Aufgabe. Ein Großer im Reich der Wissenschaft hatte hier vorgearbeitet, Wilhelm Dilthey, der deutsche Begründer einer selbständigen geisteswissenschaftlichen Betrachtungsweise im Reiche der Kultur und ihrer Geschichte. Dilthey hat seine Anschauungen und seine Methode zum erstenmal praktisch durchgeführt in seinem Werke „Leben Schleiermachers", das heute noch mit vollem Recht als das Meisterstück geistesgeschichtlicher Forschung und Schilderung gilt. Die Fülle und die Tiefe der Gedanken und Erkenntnisse, die unvergleichliche Kunst des Verstehens und Einfühlens, die wissenschaftliche Zuverlässigkeit der Einzelangaben nötigen höchste Bewunderung ab. Man bedauert nur immer wieder, daß die Unrast und die Aufgaben unserer Zeit kaum einem die Möglichkeit lassen, sich wirklich in ein solches, immerhin 879 Seiten umfassendes Werk zu vertiefen. Als Dilthey am 1. 10. 1910 starb, hatte er seine Arbeit über Schleiermacher leider nicht vollendet, trotzdem der 1. und einzige Band bereits 40 Jahre zuvor, im März 1870, erschienen war. Hermann Mulert, der sich bei der Vorbereitung der bereits erwähnten Habilitationsschrift noch der Unterstützung des greisen Wilhelm Dilthey erfreut hatte, übernahm es im Sommer 1914, die Arbeit Diltheys an Hand des Nachlasses fortzuführen und womöglich zum Abschluß zu bringen. Auch ihm ist dies in weiteren 40 Jahren nicht beschieden gewesen. Aber sein Name bleibt trotzdem für immer mit der Schleiermacher-Forschung verbunden. Im Herbst 1921 brachte er eine zweite Auflage des längst vergriffenen ersten Bandes heraus, in die er wesentliche Stücke aus dem Nachlaß Diltheys eingearbeitet hatte. Seine Hoffnung, den zweiten, abschließenden Band noch fertigzustellen, wurde durch die Ungunst der Verhältnisse zunichte gedacht, und es erscheint mir fraglich, ob sich nach Hermann Mulerts Tode jemand finden wird, der dieses überaus mühevolle, umfangreiche und verant-

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wortungsvolle Geschäft übernimmt, zumal da das Interesse der neuen theologischen Forschung sich nicht mehr in gleichem Maße historischen Fragen zuwendet. Neben dieser zeitraubenden Hauptarbeit steht die Herausgabe von 6 kleineren, aber wichtigen Schriften Schleiermachers selber, sowie die einer Abhandlung eines anderen Forschers (Heinr. Meißner) über Schleiermacher. Und schließlich gibt es gleichsam als Zugabe ein kurzes, allgemeinverständliches Lebensbild Schleiermachers aus seiner Feder, das in der Sammlung religionsgeschichtlicher Volksbücher als 28. und 29. Heft im Kriegsjahr 1918 herauskam.

KONFESSIONSKUNDE Auch der zweite Kreis, den Hermann Mulerts wissenschaftliches Werk umfaßt, ist überwiegend historisch bestimmt. Den Studenten und Kandidaten der Theologie ist sein Name heute vor allem aus zwei Werken bekannt, seiner „Konfessionskunde" und aus dem „Atlas der Kirchengeschichte", den er gemeinsam mit seinem Freunde Heussi herausgab und der ein unentbehrliches Hilfsmittel für kirchengeschichtliche Studien vorstellt. Die „Konfessionskunde" ist sein größtes, eigenes Werk. Auf 437 Seiten stellt sie in gedrängter Form die Lehren und das Wesen aller christlichen Bekenntnisse dar. Sie trägt den Untertitel „Die christlichen Kirchen und Sekten heute". Nach dem sachverständigen Urteil Professor Heussis ist sie ähnlichen Werken bekannter Theologen an Vollständigkeit der Übersicht überlegen, in der Sachkunde und in dem maßvollen Urteil ebenbürtig. Der Hauptteil dieses Werkes dient der Schilderung des römischen Katholizismus wegen der ganz besonderen praktischen Bedeutung, die gerade dieser Konfession bei dem engen Zusammenleben mit dem deutschen Protestantismus zukommt. Hermann Mulert war ein besonders guter Kenner der römischen Kirche schon von seiner Arbeit im Evangelischen Bunde her. Im J a h r e 1925 unternahm er eine Reise nach Rom, eigens um dort an der Quelle einen persön-

Konfessionskunde

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liehen Eindruck vom Wesen dieser geistigen Weltmacht zu gewinnen. Dem gleichen Zweck der persönlichen Anschauung diente im folgenden J a h r eine Fahrt nach Rumänien, auf der er das morgenländische Christentum studierte, diese uns verwandte und doch so fremde Welt, die man früher unter der Bezeichnung griechisch-katholische Kirche zusammenfaßte und die ihren geschichtlichen Ausgangspunkt und ihr geistiges Zentrum in Byzanz hatte. Unter dem Titel „Christentum und Kirche in Rußland und dem Orient" hat er 1 9 1 7 auch eine für die Allgemeinheit bestimmte Schrift über dieses Gebiet in den religionsgeschichtlichen Volksbüchern herausgegeben. In der „Konfessionskunde" spürt man, wie stark Hermann Mulert von manchen Erscheinungen dieses alten, so stark gebundenen und teilweise erstarretn Christentums berührt worden ist. Ich darf als Beleg eine Stelle aus dem 5. Kapitel wiedergeben, die sich mit Askese und Mönchstum befaßt. „Unter den einsamen Brüdern und Schwestern in jenen morgenländischen Klöstern und Einsiedeleien gibt es wahrhaft ehrwürdige Erscheinungen, in denen Christus Gestalt gewonnen hat, reine Herzen, denen verheißen ist, daß sie Gott schauen werden. Eine verlassene Klosterkapelle in den Wäldern am Südabhang der transsylvanischen Alpen, Skitsu Topolnita, in der alte Malereien überraschend gut erhalten sind, hat unter ihren Wandbildern eins der ägyptischen Maria, die von jahrzehntelangem Büßerleben völlig abgezehrt nach der letzten Kommunion verlangt; ein Heiliger reicht sie ihr. Dieselbe Heilige beschwört im letzten Akt des Goetheschen Faust „Bei der vierzigjährigen Buße, Der ich treu in Wüsten blieb; Bei dem seligen Scheidegruße, Den in Sand ich niederschrieb — " die Himmelskönigin um Erbarmen für eine Genossin menschlicher Schwachheit; und ihr Gebet wird erhört. So werden protestantische Christen nicht zweifeln, daß edle Vertreter morgenländischen Mönchtums auch unter den uns fremdesten Formen wahre Gemeinschaft mit Gott suchen und finden."

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Wie Hermann Mulert seine Aufgabe als Lehrer der „ K o n fessionskunde" auffaßte, geht aus dem Vorwort hervor: E r möchte den Studenten im Hinblick auf andere Formen des Christentums zur Selbstbesinnung darauf helfen, worin Wert und Gefahren der Art des Christentums liegen, die uns von unseren Vätern und Müttern überliefert ist. Und weiter äußert er seine Besorgnis über den leidenschaftlichen Widerwillen vieler, namentlich auch jüngerer Theologen unserer Tage, gegen den Historismus. „Wen der Uberfluß am Gelehrt-Historischen und einseitig Verstandesmäßigen dazu führt, daß er nun Vernunft und Wissenschaft überhaupt verachtet, der sehe zu, ob er damit wirklich Gott dient, oder ob er nicht vielmehr in die Gefahr kommt, daß ein ganz anderer als Gott ihn schon unbedingt hat. Und die Zeit wird nicht fern sein, wo man auf große Prophetensprüche nicht mehr hören, sondern ein wenig mehr Sachkunde, Tatsachenkunde verlangen wird, gründliche Beschäftigung mit dem Einzelnen der harten Wirklichkeit. Eine Hauptaufgabe der „Konfessionskunde" ist es, Vorurteile durch begründete Urteile zu ersetzen." Auch derNichttheologe, der sich über die verschiedenen Formen des Christentums unterrichten möchte, wird die Konfessionskunde mit großem Gewinn in die Hand nehmen.

KIRCHENPOLITISCHES UND ALLGEMEINES Mehr der Gegenwart und ihren Anliegen verpflichtet sind die vielen übrigen, meist kürzeren Arbeiten, die Hermann Mulert geschrieben hat. So verschieden jeweils der zu behandelnde Gegenstand ist, im wesentlichen dreht es sich immer um die innere Freiheit des Christenmenschen, um die Geltung des Sittlichen innerhalb aller geistigen Bereiche und um die Ehrfurcht vor dem Nichtwißbaren und Unsagbaren. Gleich die erste Arbeit, die er 1904 drucken läßt, „Die Lehrverpflichtung in der evangelischen Kirche Deutschlands" betrifft die Frage der Gewissensentscheidung des Geistlichen gegenüber der geltenden kirchlichen Dogmatik. Noch deutlicher kommt das schon im Titel heraus in den

Theologische Stellung

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beiden folgenden Schriften des Jahres 1 9 1 1 : „Wahrhaftigkeit und Lehrverpflichtung" für die e v a n g e l i s c h e Kirche und „Antimodernisteneid, freie Forschungen und theologische Fakultäten" für die k a t h o l i s c h e Kirche. Papst Pius X . forderte im J a h r e 1910, um die auch in der katholischen Theologie sich ausbreitende Denkweise, den Modernismus, zu bekämpfen, daß alle Priester den Antimodernisteneid leisten sollten. Ein wesentlicher Punkt dieses Eides war die Anerkennung, daß ein kirchliches Dogma und ein Satz der Geschichtswissenschaft nicht in Widerspruch treten k ö n n t e n . Wohl verstanden; nicht nur, daß bisher kein Widerspruch bestünde, sondern daß so etwas überhaupt, auch für alle Zukunft, unmöglich sei. Eine solche Feststellung legt der wissenschaftlichen Forschung eine Fessel auf, die ihrem Wesen absolut widerspricht. Selbst ein so konservativer lutherischer Kirchenmann wie Julius Kaftan hat gesagt: „ F ü r alle Wissenschaft ist Freiheit der Forschung Existenzbedingung. Eine Wissenschaft mit vorgeschriebenen Resultaten ist nicht Wissenschaft, sondern Advokatur.

THEOLOGISCHE STELLUNG Wie Hermann Mulert selber sich mit diesen grundlegenden theologischen Problemen auseinandersetzt, der Spannung zwischen Frömmigkeit und Autorität einerseits, Wahrheit und Wissenschaft andererseits, das geht auch aus mehreren anderen Schriften von ihm hervor. Besonders klar und auch für den Laien überaus anschaulich aus einem Werke „Religion, Kirche, Theologie", eine Einführung in das theologische Studium, die er 1931 als Extrakt entsprechender Vorlesungen erscheinen ließ. Jemandem, der in der geistigen Welt der Theologie nicht so zu Hause ist, fallt es schwer, die Kernfragen mit genügender Sachkenntnis darzustellen, die auch Hermann Mulert sein Leben lang bewegten. Immerhin hat mir die Beschäftigung mit seinem Werk einen gewissen Eindruck von dem Gegensatz gegeben zwischen den beiden Richtungen, die gleichsam a priori, seit dem Beginn des kritischen Denkens da sind, die positive und die kritische Richtung. Während

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die einen bei dem Doppelwort Theologie — Gotteslehre das erste betonen, das Göttliche, Unbedingte, hoch über alles Erkennen Erhabene und den Menschen Verpflichtende, legt die andere zum mindesten den gleichen Ton auf die Lehre, auf das Erkennen, auf die kritische Durchdringung der geschichtlichen und auch der seelischen und philosophischen Zusammenhänge. Hermann Mulert war, immer wieder muß das gesagt werden, liberal, ein Mann des Ausgleichs, der Versöhnung, eine irenische, d. h. eine Friedensnatur. Allen extremen Richtungen stand er von vornherein skeptisch gegenüber, und so hat er auch zur modernen dialektischen Theologie, wie sie von K a r l Barth und Gogarten vertreten wird, niemals eine persönliche Beziehung gewonnen. Trotzdem er den tiefen Ernst anerkannte, mit dem Barth von Gottes Willen, Gottes Macht, Gottes Gericht und Gottes Gnade spricht, und die Glaubenskraft dieser neuen Haltung. Für ihn sind Erkenntnis und Bekenntnis-Motiv, wie er es ausdrückt, die beiden historischen und psychologischen Wurzeln der Theologie, sie stehen nebeneinander. „Wenn in Gott die Wahrheit wohnt und er dem Menschen den Willen zu Wahrheit in die Brust legte, dann wird auch künftig in den evangelischen Theologen mit der Ehrfurcht vor dem Heiligen, dem Willen zum Guten und der Freude am Schönen verbunden sein müssen der strenge Sinn für die Wahrheit." Aus demselben Geist sind zwei andere Schriften entstanden, die sich vorwiegend mit dem Problem befassen, wie sich Gottesglaube, Freiheitsglaube und Determinismus zueinander verhalten, mit dem unlösbaren Widerspruch, der zwischen der kausalen Bindung und der sittlichen Verantwortung des Menschen besteht. Schriften, die ganz gegenwartsnahe sind und die den Blick klarer machen für so manche Fragen, die man für gewöhnlich in einem bequemen, aber nicht gerade ehrlichen Halbdunkel läßt, um sich die damit verbundenen Beunruhigungen zu ersparen. „Gebetserhörung, Freiheitsglaube, Gottesglaube" erschien 1 9 2 1 , „Gott im Schicksal", seine letzte selbständige Schrift, 1947. Damit sei dieser Abschnitt über die wissenschaftliche Arbeit Hermann Mulerts abgeschlossen, trotzdem ich mir darüber klar

Die „Christliche Welt"

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bin, wie wenig er einen Anspruch auf Vollständigkeit machen kann. Er hat daneben eine Fülle von Aufsätzen in Zeitschriften und Sammelwerken hinterlassen. In einer Zusammenstellung von Joachim Schulze in der Nr. 2 der „Theologischen Literaturzeitung" 1941 sind sie alle angeführt. Pflicht eines gewissenhaften Chronisten wäre es gewesen, sie insgesamt zu lesen. Dazu fehlt es mir jedoch nicht so sehr an Neigung und Bereitwilligkeit, wohl aber an der praktischen Möglichkeit. Vielleicht fallt diese Unterlassung dadurch etwas weniger ins Gewicht, als sich das Lebenswerk Hermann Mulerts entsprechend seinem Wesen durch eine ungewöhnliche Folgerichtigkeit und Klarheit auszeichnet. D a gibt es keine jähen Wendungen, kein Verbrennen dessen, was gestern angebetet wurde. Sinnvoll erwächst eins aus dem anderen, und man kann, wenn man seine Grundhaltung und seine entscheidenden geistigen Positionen kennt, bei bestimmten Einzelfragen mit ziemlicher Sicherheit wissen, wie er über sie urteilt. Im Zweifelsfalle gibt immer das Sittliche den Ausschlag. „Zerbrich den Kopf die nicht zu sehr, zerbrich den Willen, das ist mehr" — diese Mahnung des alten Matthias Claudius gibt er in dem vorher erwähnten Werke „Religion, Kirche, Theologie" an seine Studenten weiter. Er selber aber hat zeitlebens beides getan, intensiv kritisch gearbeitet und gleichzeitig, ohne Rücksicht auf eigene Bequemlichkeit, der Gemeinschaft gedient, zu der er gehörte.

DIE „CHRISTLICHE WELT" Diese Gemeinschaft war auf seinem eigentlichen Schaffensgebiet die Welt des freien Protestantismus. Daß er im J a h r e 1932 die Redaktion der „Christlichen Welt" aus den Händen ihres Begründers Martin Rade übernommen hatte, war bereits erwähnt. Die „Christliche Welt" hat im deutschen Geistesleben mehr als ein halbes Jahrhundert von 1887—1941 eine besondere Stellung eingenommen. Man könnte das bereits mehrfach erwähnte grundlegende Werk von Rathje über Martin Rade mit Fug und Recht auch als eine Chronik der „Christlichen Welt" bezeichnen. 4

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Wirken

Die „Christliche Welt" ihrerseits aber ist der dokumentarische Niederschlag einer überaus lebendigen und fruchtbaren Epoche des deutschen Protestantismus, in der mit tiefem Ernst darum gerungen wurde, die Verbindungen zwischen der Religion und der Kirche einerseits, der Wissenschaft und der staatlichen Ordnung andererseits fester und vor allem wahrhaftiger zu gestalten als sie gemeinhin zu sein pflegen. Wer sich selber zum freien Protestantismus rechnen darf, der wird mit Bewunderung und mit Wehmut auf diese Zeit und die Männer zurückblicken, die ein so großes und so schwieriges Unterfangen furchtlos und treu in Angriff nahmen, weil ihr Gewissen und ihr Gottesglaube sie dazu nötigten. Daß sie ihr Ziel nicht erreichten, nimmt dem Versuch nichts von seiner Größe. Wann konnte je eine Forderung des Geistes in vollem Umfange verwirklicht werden, wenn sie sich nicht auf äußere Ordnungen berufen kann, sondern an die Selbstentscheidung, an das Gewissen des Einzelnen appelliert? Wer am Sinn des Lebens nicht irre geworden ist, weiß, daß der gewaltige Strom des Geistes zu Zeiten Teile seiner Fluten durch dunkle, unterirdische Kanäle leitet, aus denen sie einmal wieder klar und sieghaft zum Licht des Tages hervorbrechen. Ein Säemann, von Gott gesandt, streut Samen aus von Land zu Land, Fragt nicht danach, wohin er fallt: allüberall ist Gottes Feld. Hie Weg und Stein, hie Fels und Dorn — verbräucht, vertan manch edles Korn. Ihn kümmerts nicht. Er sät und sucht, und heimlich reift ihm Frucht um Frucht. Diese schönen, schlichten Verse des österreichischen Pfarrers Johannes Heinzelmann, die für Rade geschrieben wurden, drücken das gleiche aus. Wir haben auch heute in Deutschland eine Gemeinschaft freier evangelischer Christen, gewiß nicht von dem Gewicht und dem Ansehen des damaligen Freundeskreises, der sich um die „Christliche Welt" scharrte. Und auch die heutige Gemeinschaft hat in

Schriftleitung der „Christlichen Welt"

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dem „Freien Christentum" ihr eigenes Sprachrohr, das mit allen Vorbehalten als ein Nachfolgeblatt der „Christlichen Welt" bezeichnet werden darf. So ist es selbstverständlich, daß der Schriftleiter des „Freien Christentums", Pfarrer Dr. Priebenow, dem Buche von Rathje eine ausführliche und überaus anerkennende Würdigung widerfahren läßt (Freies Christentum 5. J g . Nr. 7 vom 1. 7. 53).

SCHRIFTLEITUNG DER „CHRISTLICHEN WELT" Hermann Mulert gehörte seit dem Marburger Sommersemester 1900 zu den Anhängern und treuesten Freunden Rades und damit zugleich der „Christlichen Welt". 1907 erscheint zum erstenmal ein Aufsatz von ihm in dieser Zeitschrift. Viele andere folgen. Wie eng er mit dem Blatt verbunden ist, zeigt, daß er im Jahre 1927 — zum 70. Geburtstag Rades am 4. April — eine Festgabe für ihn herausbringt unter dem Titel „40 J a h r e Christliche Welt". 98 Mitarbeiter und Leser der „Christlichen Welt", darunter bekannte und bedeutende Namen, äußern sich in diesem überaus vielseitigen und aufschlußreichen Sammelwerk zum Teil in sehr persönlicher Form, als erster Adolf von Harnack. Als die Frage der Nachfolge des 74jährigen R a d e in der Leitung der „Christlichen Welt" 1931 brennend wurde, fiel die Wahl nach mancherlei Überlegungen auf Hermann Mulert. Besonders setzte sich Prof. Baumgarten für ihn ein „weil er die Marburger Tradition wahren würde, für Gegenwartsströmungen innerhalb und außerhalb der Kirche aufgeschlossen sei und dabei in fester historischkritischer Gewissensbindung stände. Auch habe er eine sehr leichte Feder" (aus einem von Rathje inhaltsgemäß wiedergegebenen Protokoll). In den ersten zwei Jahren zeichnet Friedrich Siegmund Schultze als Mitherausgeber, bis dieser zurücktritt, um den Fortbestand des Blattes im Dritten Reich nicht zu gefährden. Er war als Pazifist bekannt und etikettiert und deshalb für die neuen Machthaber, auch nach der Meinung des Verlegers Klotz, nicht tragbar.

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Wirken SCHWIERIGKEITEN

Schon die ersten beiden J a h r e sind stürmisch bewegt und bringen Hermann Mulert auch manche schwere seelische Belastung. Immer wieder geht es um die Frage, was man i m Dritten Reich noch veröffentlichen kann, ohne von der Zensur beschlagnahmt oder überhaupt verboten zu werden. Es genügte einmal die Mitteilung vom Tode eines früheren Landgerichtsdirektors jüdischer Herkunft, der im Konzentrationslager umgebracht worden war, um eine Nummer der Zeitschrift einzuziehen. Vielleicht noch bedrückender aber als die groben staatlichen Eingriffe mußte es für Hermann Mulert sein, daß R a d e selber, eigenwillig wie er war, mit seiner Kritik und seinen Ratschlägen manches anders haben wollte als Mulert es machte; einen schärferen K u r s gegenüber dem Nationalsozialismus, auf der anderen Seite mehr Verständigungsbereitschaft gegenüber der dialektischen Theologie K a r l Barths. Dieser wurde im J a h r e 1934 als Professor in Bonn abgesetzt, weil er Bedenken gegen den vom Staat geforderten Eid auf Hitler äußerte, erhielt aber sofort eine Berufung nach Basel. Hermann Mulert hatte, wie schon erwähnt, starke Bedenken gegenüber der Neigung zu einem festen dogmatischen System, wie sie bei Barth unverkennbar war. Dazu kam ein weiterer Gegensatz, derselbe wie der zur „Bekennenden K i r c h e " . Barth erwartete von der „Christlichen Welt" einen schärferen Widerstand und warf ihr Verschwommenheit und Ziellosigkeit vor. Dabei konnte Hermann Mulert mit Recht darauf hinweisen, „ d a ß nur eine verschwindend kleine Zahl der sogenannten kritischen (also der freien) Protestanten deutsch-christlich geworden war. Jedenfalls sei diese Zahl bedeutend kleiner als die Zahl der Positiven, die dahin gingen, kleiner auch als die Zahl der Kritischen, die zur „Bekennenden K i r c h e " gingen. Der leidige Gegensatz, der hier aufbricht, gehört zu dem großen Riß, der von 1 9 3 3 bis heute durch das deutsche Volk geht und der wohl erst mit dem Schwinden der beteiligten Generation sein Ende finden wird. Nicht nur Für oder Wider den National-

Ende der „Christlichen Welt"

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Sozialismus, sondern auch mit welchem persönlichen Einsatz Dafür oder Dagegen. Nun, entscheidend sollten gerade bei dieser Bewertung, abgesehen von den eindeutigen Extremfallen, die innere Einstellung und die Motive sein, welche die Entscheidung bestimmten. Was der einzelne faktisch gegen das System tun konnte, das hing doch weitgehend von seiner Stellung und seinen Möglichkeiten ab. Wenn selbst die Männer vom 20. Juli, die fraglos eine einmalige sittliche und geistige Auslese unseres Volkes vorstellten und die obendrein Schlüsselstellungen auch der militärischen Macht, inne hatten, gescheitert sind, wenn ein General von dem Mut und der Entschlossenheit Rommels in letzter Stunde auf Widerstand verzichtete, was vermochten dann andere zu tun. Es hat Hermann Mulert gewiß nicht an Mut gefehlt, und wenn sein Gott es von ihm verlangt hätte, würde er auch das Opfer seines Lebens gebracht haben. Rathje bestätigt ihm an mehreren Stellen, daß er als Herausgeber der „Christlichen Welt" tapfer seine Pflicht getan habe. So zitiert er u. a. aus einem Artikel „Führertum und Gewissen", den Hermann Mulert unmittelbar nach der verhängnisvollen Reichstagswahl am 5. März 1933 in der „Christlichen Welt" veröffentlichte, folgende Sätze: „Die Gefolgschaftstreue der Mannen kann auch zu einer blinden Unterwürfigkeit entarten. Vor der schweren Pflicht selbständiger Gewissensentscheidung flüchtet man zum Gehorsam gegen Führer. Dieser gewissenlose Gehorsam ist undeutsch, unevangelisch, unchristlich. Ihm gegenüber heißt unsere Pflicht: zur Besinnung mahnen, widerstehen und, wenn es sein muß, darunter leiden."

ENDE DER „CHRISTLICHEN

WELT"

A m 9. April 1940 ist Martin Rade, fünf Tage nach seinem 83. Geburtstag, entschlafen. Er hat das Grauen der letzten Kriegsjahre nicht mehr erlebt und auch nicht das Ende seines Lebenswerkes, der „Christlichen Welt". A m 24. Mai 1941 erschien die 10. Nummer des 55. Jahrganges. Auf der vorletzten Seite bringt

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Wirken

sie die Mitteilung, daß die Zeitschrift mit dem heutigen Tage ihr Erscheinen einstelle, um Menschen und Material für andere kriegswichtige Zwecke frei zu machen. Zum letzten Male kam Hermann Mulert auf ihren Seiten zu Wort. E r wendet sich — deutlich genug — gegen Rassenwahn, Kastengeist und nationalen Dünkel und weist auf den barmherzigen Samariter hin, der in vorbildlicher Schlichtheit das Gute tat, Gottes Wille. „ F ü r Jünger Jesu darf es keine Dogmen des Hochmutes und des Hasses geben. I n diesem Kampfe gegen Gewohnheit und Uberlieferung können und sollen alle Christen, Katholiken wie Protestanten, zusammenstehen. Auch Du bist zu diesem Kampfe gerufen." Hier spricht noch einmal der Hermann Mulert, der durch sein ganzes Wesen den Geist christlicher Ethik zu erfüllen bemüht gewesen ist. Er war schon würdig, der Nachfolger Martin Rades geworden zu sein. Diese letzten Sätze sind dem Werk von Rathje entnommen. Es dürfte kaum jemanden geben, der zu einem solchen Urteil berufener wäre als er, der Biograph Martin Rades, der Chronist der „Christlichen Welt".

ABSCHIEDSWORTE Der letzte Beitrag zu dem von Hermann Mulert herausgegebenen bereits erwähnten Werk „40 Jahre Christliche Welt" stammt aus seiner eigenen Feder. Er trägt die Überschrift „Unsere Toten". Und der erste Name, der hier genannt wird, ist der des großen theologischen Wegbereiters, des würdigen Nachfahren Schleiermachers, Albrecht Ritschi. Hermann Mulert schließt seine Totenehrung mit Worten, die nun auch für ihn selber Geltung haben: „Stärker als die Trauer um unsere Brüder und Schwestern mögen wir den Dank für alles empfinden, was sie uns gewesen sind, und den Willen, immer mehr hineinzuwachsen in die Gemeinschaft des Geistes und des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung, die über die Länder und über die Zeiten hinweggreift, der sie gedient haben und der wir dienen wollen, solange wir noch leben."

GEDICHTE

Neujahrsmorgen Helle leuchtet immer wieder Gottes Sonne auf uns nieder; bricht sie durch die Wolkenschleier, mahnt sie uns zu stiller Feier. O b ihr Licht sie nicht auch streute über ferne Gräber heute? Wald und Feldern will sie sagen leis' ein Wort von Frühlingstagen, lichtdurchglühten, blütenvollen die, wenn's Zeit ist, kommen sollen. Seelen, die im Dunkel stehen, sollen neue Wege gehen, bis das Finstre, das Gemeine, ganz verscheucht der Glanz, der reine. Mit des Neujahrs Morgenglocken will zu neuem Mut sie locken: Einmal noch im Licht, dem hellen, darfst Dein Feld Du neu bestellen. Helle leuchtet heute wieder Gottes Sonne auf uns nieder.

Z u L i s a s G e b u r t s t a g 1927 Im Lebensmittag ist oft laut das Lärmen, heiß scheint die Sonne auf das Feld der Ernte. Die Hände schaffen rastlos bis zum Abend, bis sich der Sonne letzter Schein entfernte. Wird nun auch uns an uns'rem Lebenstage der Abend kühler, wird das Haar uns bleicher, Es birgt auch diese Stunde ihren Segen, der Lärm verstummt, es wird die Liebe reicher.

Anhang

Frühlingsfest In heißem Sonnenscheine saßen wir gedrängt und froh an langem Tische hier, als wäre keine Not im Land umher, als ob schon heute Fried' auf Erden wär. Die Kinder haben es in ihrer Lust noch lange nicht gemerkt und nicht gewußt, daß von dem Himmel, der so mild und klar, hinabgesunken schon die Sonne war. Leb ich noch länger, find ich wohl im T r a u m zurück noch oft den Weg zu dieser Nacht, da im April schon fast auf jedem Baum lag schimmernd junger weißer Blüten Pracht, da mit Gesang bei bunter Lampen Schein wir durch den Garten zogen, Groß und Klein, und weil zu dieser Zeit ihm ungewohnt ein solches frohes Sing- und Farbenspiel, und weil es seinem stillen Blick gefiel, nur desto heller schien herab der Mond.

Dent du Midi Gekrönt von sieben Zacken reinsten Weißes, auf die der Sonne erste Strahlen fallen, um dessen Wände weiße Wolken wallen, hoch über uns im Reich des ewigen Eises; erhabnes Haupt, zu dem der Weg voll Schrecken. Der Völker Schicksal und den Gang der Zeiten siehst du und bleibst, wir Menschen gehn, wir streiten fest ragt der Fels, ob Wolken ihn bedecken. Die Wahrheit bleibt, ob Irrtum sie umbrande, Recht kann sich nimmer mit dem Unrecht einen, ob unser Sinn das Rechte nicht erkannte. Wir unten gehn im Staub, im Dunkel, blind — Laß wachsen in uns Sehnsucht nach dem Reinen, der Stille und dem Licht, die droben sind!

Gedichte

Auf dem F r i e d h o f von C i a r e n s I m hellsten Lichte dunkelste Zypressen, auf Marmorsteinen ungezählte Namen, so Vieler auch, die krank von ferne kamen — sind sie noch heut geliebt? sind sie vergessen? Von jenseits blauer Flut herüberragen zerrissene Gipfel, schroffes Urgestein. Versinkt vor ihnen unser flüchtig Sein? Was bleibet von des Menschen Erden tagen? Geht einst auch unseres Lebens Pfad zu Ende, zagt unsere Seele vor der schmalen Brücke, wenn an des Lebens letzter steiler Wende kein Glück mehr leuchtet, uns kein Zuspruch frommt, dann heben zu den Bergen wir die Hände, den ewigen, von da uns Hilfe kommt.

BIBLIOGRAPHIE (Zusammengestellt von Joachim Schulze)

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Anhang

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HERMANN

MULERT

Religion, Kirche, Theologie Gr.-Oktav - XIII, 169 Seiten . 1931 • Ganzleinen DM 5,50 (Sammlung

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Reihe 1: Theologie

HERMANN

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Das W e r d e n d e r Kirche Eine Geschichte der Kirche auf deutschem Boden 2., verbesserte Auflage • Oktav • XIX, 569 Seiten • 1950 Ganzleinen DM 18,— „ . . . Das studenten Kreis der Aufgaben

Buch ist nicht xrar für Pfarrer, Religionslehrer and Theologiegedacht, sondern es wendet sich gerade anch an den weiten Leser, die voll innerer Teilnahme für die heutigen Nöte und der Kirche nach einer geschichtlichen Grundlegung zum Verständnis der Kirche suchen." W E S T D E U T S C H E A L L G E M E I N E , Essen

ALFRED

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A G N E S VON

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Adolf von Harnaek 2. Aufl. . Oktav • XIII, 453 S. • 1951- Ganzleinen DM 16,80 „Das ist der von Liebe and wissenschaftlicher Sachlichkeit zugleich diktierte Lebensabriß des großen Theologen A. von Harnaek. Damit ist uns ein Buch vorgelegt, das wir nicht nur wegen des großen Menschen Harnaek, dessen ein Menschenalter erfüllendes Kämpfen und Ringen nm Erkenntnis und Reifen in dem Gewonnenen uns vor Augen geführt wird, sondern auch ob seiner klaren Gliederung und seines ausgezeichneten Stiles und trotz des nicht leichten Stoffes und seiner Fragestellungen mit reichem Gewinn lesen. Das Buch ist eine Fundgrube für alle, deren Interesse den Jahrzehnten vor und nach der Jahrhundertwende gilt." S O N N T A G S G R U S S , Saarbrücken

W A L T E R D E G R U Y T E R & CO. / B E R L I N W 35