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German Pages 399 [400] Year 1959
G . P F L U G / H E N R I BERGSON
HENRI BERGSON QUELLEN UND KONSEQUENZEN EINER INDUKTIVEN METAPHYSIK
VON
GÜNTHER
BERLIN
PFLUG
1959
W A L T E R D E G R U Y T E R & CO. VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG / J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG GEORG REIMER / KARL J. TRÜBNER / VEIT & COMP.
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INHALT Einleitung: Ausgangspunkt
1
1. Kapitel: „Données immédiates"
15
2. Kapitel: „Matière et Mémoire"
137
3. Kapitel: Die metaphysische Methode
199
4. Kapitel: „Evolution créatrice"
269
5. Kapitel: „Deux Sources"
303
Schluß
355
Literaturverzeichnis
359
Bibliographie
367
Register
390
Einleitung: Ausgangspunkt Als Henri Bergson in die philosophische Diskussion seiner Zeit eintrat, stand die französische Philosophie in der letzten Phase eines Prozesses, der durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch die philosophischen Geister beschäftigt hatte. In einer großen, in mehreren Phasen sich vollziehenden Auseinandersetzung bemühten sich die Denker ein volles Jahrhundert lang, der Philosophie einen streng umrissenen Platz in dem Wissenschaftsgefüge einzuräumen, das mit der Ausbreitung des naturwissenschaftlichen Denkens auf fast alle Bereiche der Wirklichkeit zu einem umfassenden Geflecht geworden war. Dieser Ansatz, der seinen Ausgangspunkt bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen kann, erreichte seinen großen Höhepunkt um die Mitte des 19. Jahrhunderts, als sich die Lehre Comtes — lange Jahre fast völlig unbeachtet — durch die Gründung der Zeitschrift „La philosophie positive" durch Littré und Wyrouboff allgemein auszubreiten begann. Damit war aber auch zugleich der Kulminationspunkt des Prozesses überschritten. Das, was bis dahin lebendes Problem war, wurde zu einer gelösten These, deren Richtigkeit von den Anhängern um so stärker verteidigt wurde, wie sich die Angriffe auf sie mehrten. Die Argumentation, die bislang von dem Streben nach Klärung einer philosophischen Fundamentalfrage getragen wurde, glitt immer stärker in soziale und politische Formulierungen ab. Dadurch gestaltete sich der Gegensatz zwischen dem positivistischen und den antipositivistischen Lagern mehr und mehr zu einer weltanschaulichen Diskrepanz um. Schon bei Comte hat der Positivismus in seinen letzten Jahren eine deutliche Wendung zu einer Weltanschauungslehre erhalten, eine Tendenz, die in Laffitte und Renan1) eine konsequente Weiterführung fand. Die rein wissenschaftlichen Probleme traten immer stärker hinter dem Kampf um eine neue Lebensform zurück; die ursprüngliche Fragestellung wich einer umfassenden Problematik um eine weltanschauliche Fundierung einer von den wissenschaftlichen Belangen bestimmten Zeit. Diese Tendenz bestimmte auch die Formulierungen der Gegner des Positivismus. Schon Guizot hatte die stark sozialkritischen Tendenzen der Comteschen Lehre mit äußerstem Befremden hinter den wissenschaftlichen Erörterungen hervorragen sehen2). x ) Pierre Laffitte: Les grands types de l'humanité. — Ernest Renan: L'avenir de la science. — Emile Littré: Conservation, révolution et positivisme. 2 ) François Guillaume Guizot: Mémoires pour servir à l'histoire de mon temps. Bd. 3, S. 1 2 6 - 1 2 7 .
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Sie schienen ihm eine schwere Belastung der Verständigung zwischen dem Positivismus und der spiritualistischen Tradition. Als schließlich Comte jedoch gerade dieser Seite seiner Lehre eine besondere Ausprägung gab, brach jede Möglichkeit einer gemeinsamen Diskussion der Position der Philosophie unter dem Druck des alles überdeckenden sozialen Gegensatzes völlig zusammen. Damit aber waren zwei Bemühungen um eine Neubestimmung der philosophischen Position durch außerrationale Elemente in einer derart rigorosen Weise geschieden, daß es schier unmöglich schien, eine Brücke über diese Kluft zu schlagen und beide Ansätze in dem Bemühen um die Grundfrage der philosophischen Position zusammenzufassen. Dieser Gegensatz zwischen Positivismus und Spiritualismus findet den jungen Bergson der École normale und der ersten Jahre als Professeur in Angers und Clermont-Ferrand auf der Seite der Positivisten. Trotz einer unter Leitung führender Geister der antipositivistischen Bewegung stehenden Ausbildung an der École normale hielt er streng an den Methoden wie an der Weltanschauung des Positivismus fest. Den zentralen Problemen dieses Gegensatzes ausweichend, fühlte er sich im Grunde so sehr als Naturwissenschaftler — wesentlich bestärkt durch seine ersten Erfolge als Mathematiker —, daß er mit dem Streben nach einer wissenschaftlichen Durchdringung der ganzen Realität ohne Bedenken auch die Vorstellung über die Struktur der Realität von den Positivisten übernahm 3 ). Zwei Geister haben das erste Weltbild Bergsons wesentlich bestimmt: Ribot und Spencer. Unter diesem doppelten Einfluß steht seine erste Veröffentlichung, „Sur la simulation inconsciente dans l'état d'hypnose", die 1886 in Ribots Zeitschrift „Revue philosophique" erschien; unter ihm beginnt er die Arbeit an seinem ersten Werk, dem „Essai sur les données immédiates" 4 ), in dem er die große Wendung vom positivistischen Lager zu einer spiritualistischen Philosophie vollzieht. Was ihn zu Ribot führte, war die Aussicht auf eine Wissenschaft vom Menschen, die den Anforderungen des positiven Wissenschaftsbedürfnisses entsprach. In den Bemühungen des 19. Jahrhunderts um eine solche Wissenschaft hatte vor allem die Medizin einen wesentlichen Vorstoß zu einer einzelwissenschaftlichen Anthropologie gemacht, als sich um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert die Psychiatrie als selbständige Wissenschaft zu konstituieren begann. Besonders die École médicopsychologique bemühte sich um eine Klärung der psychologischen Zusammenhänge durch eine Untersuchung medizinischer Phänomene. Damit wurde eine neue Form der psychologischen Forschung überhaupt erschlossen. Ausgehend von der einzelwissenschaftlichen Untersuchung, gestützt auf die klinische Erfahrung, begründete sie eine Forschung des ®) Vgl. René Doumic in Journal officiel de la République française. 1918. S. 967. ) Vgl. die Selbstdarstellung Bergsons in „Pensée et Mouvant", S. 8.
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Seelenlebens, die dem positivistischen Wissenschaftsideal weitgehend entgegenkam. Doch zeigten die Arbeiten Baillargers oder Moreau de Tours deutlich die Grenze dieser medizinischen Schule. In erster Linie Mediziner bemühten sie sich mehr um eine Erklärung pathologischer Erscheinungen als um eine integrale Erfassung der Psyche, die sie weitgehend als bereits vollzogen hypostasierten. Ribot hingegen erfaßt das psychologische Problem in seiner ganzen Tiefe. Ihm gilt es nicht nur, gewisse Abnormitäten auf Irregularitäten normaler psychischer Funktionen zurückzuführen, sondern unter Zuhilfenahme der Irregularitäten der Psyche die Funktionen des normalen Seelenlebens zu erfassen. Was also Ribot von der École médicopsychologique trennt, ist die Umkehrung des Blickwinkels vom Medizinischen zum Psychologischen: während jene die Anomalität aus einer funktionellen Störung normaler psychischer Komponenten zu erklaren gedachte, bemüht sich Ribot um eine Strukturanalyse des normalen Bewußtseins mittels der Phänomene des Anomalen. Damit aber bleibt er zugleich von den Arbeiten der Mediziner abhängig. Selbst ohne die nötige Fachausbildung, ist er in jedem Faktum auf die Darstellung wie Auswertung der Mediziner angewiesen. So blieb für ihn die Psychologie selbst eine Wissenschaft der Interpretation medizinischer Fakten. An diesem Punkt überschreitet Bergson die Position Ribots und gliedert sich in die Entwicklung der positivistischen Psychologie ein, die durch Richet, Binet und Pierre Janet über die Ribotsche Position hinausgeführt wurde. Der Gegenstand der ersten Veröffentlichung Bergsons ist die Hypnose. Gerade sie ist für die Entwicklung einer positivistischen, d. h. einzelwissenschaftlichen Psychologie ein zentraler Ausgangspunkt, da sie das erste Phänomen ist, das eine von der Medizin abgelöste Beobachtung der Psychologie ermöglichte. Das, was die Hypnose zu einem bevorzugten Phänomen der positivistischen Psychologie macht, ist zweierlei; einerseits ist sie ein Phänomen, das eine hinreichende Allgemeinheit für die Psychologie hat. Während die pathologischen Untersuchungen der École médico-psychologique und Ribots durchaus die Gefahr einer Übertragung krankhafter Anomalien in die allgemeine Psychologie in sich schließen5) und durch die Gleichschaltung von Psychopathologie und Psychologie immer befürchten lassen, aus der Psychologie eine medizinische Teildisziplin zu machen, löst sich die Untersuchung der Hypnose von den rein medizinischen Betrachtungen ab und stößt in ein Gebiet vor, das bisher noch nicht Gegenstand irgendeiner Wissenschaft war. Daran ändert auch nichts die Tatsache, daß gerade die Medizin die Hypnose als psychologisches Fak5 ) Vgl. die Reserve zur psydiopathologisdien Betrachtung bei Alired Binet: Introduction à la psychologie expérimentale, S. 2.
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tum entdeckt hat. Denn das Phänomen ist weder eine Anomalie im Sinne der École médico-psychologique, die auf ihre Ursache im Versagen des gesunden Organismus zurückgeführt werden könnte, noch ein einer von epiphänomenalen Vorstellungen ausgehenden Betrachtungsweise günstig zugängiges Objekt. Die Brocaschule, der Charcot entstammt, sah die Veröffentlichungen Charcots keineswegs mit Freude: Die Verfechter der strengen Lehre empfanden sehr deutlich, daß eine von dem Lokalisationsbestreben Brocas losgelöste Betrachtung irgendeines Erscheinungskomplexes die postulierte Parallelität zwischen Gehirnphysiologie und Psychologie gefährdete, ohne daß sie andererseits eine Möglichkeit sahen, die Phänomene der Hypnose in den Rahmen ihrer Untersuchungen zurückzuführen. So ist der Schritt Charcots zu einer Betrachtung der hypnotischen Erscheinungen im Grunde die Auflösung der Forschungen seines Lehrers. Der Verzicht auf die Konstatierung des physiologischen Äquivalents löst die Untersuchungen aus dem Bereich der Medizin heraus und stellt sie ganz auf sich. Damit hat Charcot selbst den Schritt von der Medizin zur Psychologie vollzogen. Hier liegt nun die zweite Bedeutung der Hypnose für die Psychologie. In der Ablösung des Phänomens von der medizinischen Forschung gewinnt die Psychologie in ihr ein eigenes Feld der Beobachtung. Während f ü r Ribot die Medizin der Psychologie die einzelnen Phänomene liefern mußte, die Psychologie so also auf eine Interpretation der medizinischen Fakten beschränkt blieb, gewinnt hier die Psychologie zum ersten Mal ein Feld eigener Beobachtung, das von der Medizin völlig unabhängig ist. So ist es durchaus verständlich, daß sich die Schüler Ribots mit besonderer Freude diesen Phänomenen zuwandten — und darüber hinaus durch Hinzunahme verwandter Erscheinungen des Schlafes, des Somnambulismus, der Trancezustände etc. die ersten Phänomene zu erweitern gedachten. Dieser große Prozeß der Ablösung der Psychologie von der Medizin hat sich fast unmerklich für die Psychologen vollzogen. Sie haben die entscheidende Differenz zwischen der Methode Ribots und der neuen selbständigen Psychologie kaum bemerkt. Ihr Augenmerk war so sehr auf den alten, von Taine in aller Schärfe formulierten Gegensatz zwischen Metaphysik und Psychologie gerichtet, daß ihnen darüber der entscheidende Prozeß zwischen Psychologie und Medizin entging. So feierten die Psychologen die Gründung des Institutes für experimentelle Psychologie an der Sorbonne im Jahre 1889 als die Befreiung von den Fesseln der Metaphysik — eine Befreiung, die Taine de facto schon 40 Jahre früher vollzogen hatte — und erwähnten die Loslösung von der Medizin mit keinem Wort 6 ). 6 ) Z. B. Alfred Binet: Introduction à la psychologie expérimentale, S. 146. Charles Ridiet: Dans cent ans. S. 220.
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Dies sind die historischen Voraussetzungen der ersten Veröffentlichung Bergsons. Eine diesen Strömungen entspringende Arbeit übernimmt naturgemäß um so mehr die methodischen und sachlichen Postulate der sie bestimmenden Richtung, je mehr sie lediglich die Behandlung eines kleinen sachlichen Teilgebietes ins Auge faßt. So ist der Boden, auf dem sich die Arbeit über gewisse Verhaltensweisen im hypnotischen Zustand entwickelt, das Wissenschaftsideal des Positivismus. Bergson hat sich bis tief in die Zeit der vollen Entwicklung seiner Lehre hinein mit experimentalpsychologischen Themen befaßt. Eine von ihm entwickelte Aphasietheorie, die Studien über das Gedächtnis und seine Störungen, die Aibeit über den Traum zeugen von seiner Verbundenheit mit der einzelwissenschaftlichen Psychologie. Was jedoch diese erste Arbeit wesentlich von den späteren scheidet, ist das völlige Fehlen jedes Versuches, von den speziellen Erscheinungen der psychologischen Beobachtung zu einer umfassenden Theorie des menschlichen Geistes fortzuschreiten. Während seine späteren Arbeiten ausdrücklich unter dem Blickwinkel einer speziellen philosophischen Theorie verfaßt wurden, bestimmt ihn hier noch völlig ein Wissenschaftsideal, das ihm die positivistischen Denker lieferten, und das in seiner Betonung der Prädominanz des Faktischen vor aller ausdeutenden Theorie, in dem Streben nach wissenschaftlicher Teilarbeit im Dienste einer die Einzelforschung umfassenden Gesamtwissenschaft Bergsons Intentionen auf die bloße Beschreibung eines beobachteten Phänomens einschränkte. Damit ist zugleich gegeben, daß die philosophische Bedeutung dieser ersten Arbeit nicht in ihrem Inhalt, sondern wesentlich in dem liegt, was in ihr als selbstverständliche methodische Voraussetzung unausgesprochen bleibt: Eine Psychologie als empirische Einzelwissenschaft in der Art der Naturwissenschaften durchzuführen. Dieses Programm bestimmte in doppelter Weise die methodische Haltung des Positivismus. Einerseits bedingt die Forderung der Empirie einen charakteristischen Ansatz, der von den Fakten der Beobachtung ausgehend alle Schlüsse der Wissenschaft auf sie zu basieren versuchte. Das führt zu einer zweifachen Voraussetzung. Zum ersten wirkt sie stark auf die Realitätsvorstellung der positivistischen Denker ein, insofern, als sie das Prädikat des Realen nur solchen Gegenständen zuzuordnen gedenkt, die in einem empirischen Prozeß erfahren wurden. Dieses von den Naturwissenschaften entlehnte Bild einer Realität blieb aber bei seiner Übertragung auf die Psychologie nicht ohne Schwierigkeiten. Solange, wie in den klassischen Naturwissenschaften, der Gegenstandsbereich klar umrissen war, blieb die Vorstellung der Realität eindeutig. Die Bildung einer empirischen Psychologie jedoch bedurfte einer neuen Klärung des psychischen Gegenstandes. Diese Frage, vor der Comte die Waffen streckte und die Psychologie kurzerhand aus dem Kodex seiner Wissenschaften überhaupt strich, ist im psychologischen Lager des Positivismus immer ein Streitpunkt geblieben. Wie ein psy5
chischer Realismus aussieht, darüber sind sich, die positivistischen Psychologen selbst niemals einig geworden. Die rigoroseren unter ihnen bemühten sich, die Parallele zu den Naturwissenschaften bis in die letzte Konsequenz durchzuführen, und verdammten streng jede Form der Selbstbeobachtung, da sie das Psychische in seiner Realität anders als einen naturwissenschaftlichen Gegenstand liefert. Andererseits offenbarte gerade das eigene Bewußtsein der Psychologie eine Reihe von Phänomenen, die die Psychologie kaum entbehren konnte. Das zeigt z. B. der Streit um das Ichbewußtsein: Offensichtlich dem Selbstbewußtsein entsprungen, kann es kaum in eine streng naturwissenschaftliche Psychologie als Phänomen eingehen. Diese Erkenntnis hat sich seit der Kritik Taines an diesem Vorstellungskomplex 7 ) wohl allgemein im positivistischen Lager verbreitet. Dennoch konnten die bedeutendsten unter den Psychologen das Ichbewußtsein als psychologisches Faktum nicht entbehren. Ribot selbst fordert ausdrücklich seine psychologische Anerkennung. Damit aber verlagerte sich der Streit, der ursprünglich eine Frage der psychologischen Existenz war, zu einem Problem der Fundierung des Ichbegriffes 8 ). Schwieriger jedoch gestaltete sich der psychische Realitätsbegriff bei Begriffen wie Aufmerksamkeit, Wille, etc. Weniger im allgemeinen Blickpunkt des Meinungsstreites stehend als die Frage des Ich, zeigen sie deutlich die Ambivalenz des psychischen Realismus 9 ). Das jedoch, was an diesem Empirismus wesentlich den weiteren Gang der Bergsonschen Philosophie beeinflußte, war weniger die Realitätsvorstellung des Positivismus, die bereits einen ernsten Stoß in dem „Essai sur les données immédiates" erhielt, als vielmehr die methodische Haltung, die dieser Vorstellung einer positivistischen Realität zugrunde liegt. Der Ausgang von den Data der Empirie ist eine der fundamentalen Forderungen der positivistischen Philosophie. Unter Außerachtlassung des gesamten Problemkomplexes der Form der empirischen Forschung in der Psychologie übernimmt Bergson hier als eine der Hauptmaximen des Positivismus jene These vom empirischen Fundament aller Erkenntnis. Die Einschränkung seiner Untersuchung auf eine ganz spezielle Teilfrage, die Form dieser Fragestellung und die Methode der Untersuchung überheben Bergson noch der Auseinandersetzung um eine genaue Bestimmung eines psychologischen Realitätsbegriffes. Um so mehr kann sich an dieser ersten Arbeit Bergsons das Bewußtsein festigen, das Erkenntnisfundament in der Erfahrung zu suchen. Bergson blieb zeit seines Lebens unter dem Einfluß dieses empirischen Denkens, der in doppelter Weise in seiner philosophischen Haltung auskristallisierte. Einerseits hielt er für seine eigene Arbeit streng an dem 7
) ) tions 9 ) 8
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Hippolyte Taine: Les philosophes français, S. 223 ff,; Intelligence. Bd. 1, S. 338. Théodule Ribot: Les maladies de la volonté. S. 13. - Alfred Binet: Les altérade la personnalité. S. 316. Theodule Ribot: Les maladies de la volonté; Psychologie de l'attention.
Prinzip fest, der philosophischen Diskussion ein eingehendes Studium der durch die Einzelwissenschaften erschlossenen Fakten vorausgehen zu lassen 10 ). Bis in die „Deux Sources" hinein blieb jedes seiner Werke durch eine profunde Kenntnis eines großen Faktenbereiches getragen. Experimentelle Psychologie, Biologie, Physik, Soziologie und Ethnologie lieferten ihm nacheinander eine Fülle von Phänomenen, auf denen er seine philosophischen Theorien aufbaut. Dieser eigenen Methode schließt sich zum anderen Bergsons prinzipielle Haltung gegen jede transzendentale Fragestellung in der Philosophie an. Eindeutig ausgesprochen in den „Données immédiates" 11 ), findet die Haltung gegen eine rein transzendentale Betrachtung der philosophischen Probleme bei Bergson stets eine Abwertung gegenüber den aus der empirischen Philosophie entspringenden Fragestellungen. Freilich ist die Betonung einer empirischen Philosophie in Frankreich noch keineswegs ein Zeichen einer positivistischen Denkweise. Die transzendentale Problematik hat in der französischen Philosophie stets nur einen kleinen Raum eingenommen. Der Einfluß Kants auf das philosophische Denken in Frankreich erfolgte durch die Vermittlung des deutschen Idealismus, wo die Problematik der transzendentalen Deduktion durch die Einführung eines allgemeinen Deduktionsprinzips schon verdeckt war. Und selbst als durch die textkritisch einwandfreien Übersetzungen Barnis und Tissots sich eine klassische Kantinterpretation in Frankreich gründete, neigte sie bald wieder zu einer ausgesprochen psychologischen Interpretation des kantischen Transzendentalansatzes. Davon hat sich weder die Kantinterpretation Lacheliers noch die Weiterführung der Kantischen Philosophie bei Renouvier frei halten können 12 ). Bergson, der der Philosophie Kants durch seinen Lehrer Lachelier begegnete, hat stets die erkenntnistheoretische Seite Kants stärker als die transzendentale empfunden. Andererseits hat aber auch das strenge Deduktionsprinzip in Frankreich nur wenig Anhänger gefunden. Sieht man von den wenigen Hegelianern wie Vacherot oder Nourrison ab, so ist der Einfluß des deutschen Idealismus in Frankreich kaum bis zur Übernahme des deduktiven Prinzips vorgestoßen. Schon bei Cousin macht sich das Bestreben bemerkbar, an seine Stelle eine — freilich vom sensualistischen Erfahrungsbegriff weit verschiedene — Erfahrungsform zu setzen. Der Empirismus in jeder Form ist eigentlich die gemeinsame Grundtendenz aller philosophischen Richtungen im 19. Jahrhundert in Frankreich. Was Bergson jedoch von der spiritualistischen Interpretation dieses Realismus trennt und der positivistischen Grundhaltung näherbringt, 10 ) Vgl. Brief vom 27. théorie bergsonienne de la u ) Données immédiates. 12 ) Vgl. Jules Lachelier:
Juli 1909 an Natan Soederblom in Hjalmar Sunden: La religion. S. 37. S. 69. L'observation de Platner, in Oeuvres, Bd. 2, S. 67.
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ist die weitgehende Gleichsetzung von Empirie und Naturwissenschaften. Das zeigt sich schon in aller Deutlichkeit an der Tatsachenvorstellung der „Données immédiates". Keiner der von den Spiritualisten als Fakten des Psychischen betrachteten Gegenstände geht in die Bergsonsche Betrachtung ein. Ich, Kraft, Fähigkeit, Vermögen sind außerhalb seines psychologischen Interesses. Dagegen dominieren die Beobachtungen der Mediziner13), der angloamerikanischen Psychologen14), der deutschen experimentellen Schule15). Die ganze Form der Belegung durch Fakten der Naturwissenschaften entspricht genau der Methode Ribots. Die ersten Kapitel der „Données immédiates" unterscheiden sich in ihrer Methodik in nichts von den Schriften der positivistischen Psychologenschule. Diese in den „Données immédiates" eingeschlagene Methode findet ihre Fortsetzung in der „Evolution créatrice" und reicht bis zu den „Deux Sources". Der zweite Fragenkomplex, der von der ersten Zeit seiner positivistischen Haltung her Bergson« ganzes Denken beeinflußt hat, ist die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Philosophie und den Einzelwissenschaften. Dodi während das erste Problem des Realismus mit erstaunlicher Konstanz in dem ganzen Werk Bergsons der gleichen Lösung zutreibt, führt die Übernahme der positivistischen Lösung des Verhältnisses von Philosophie und Einzelwissenschaften im Laufe der Bergsonschen Entwicklung zu einer schweren Krise. Je mehr Bergson die Kluft, die sich ihm methodisch zwischen der Philosophie und den Einzelwissenschaften seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts auf tat, zu einer Wesensbestimmung der Philosophie ausbaute 16 ), um so stärker nötigte ihn diese Position, das Verhältnis zwischen Einzelwissenschaft und Philosophie, das er vom Positivismus übernommen hatte, zu revidieren. Andererseits jedoch lieferten ihm die Einzelwissenschaften bis in die letzte Epoche seines Schaffens hinein das Material seiner Untersuchungen. Nun bedingt eine Benutzung der einzelwissenschaftlichen Fakten in der Philosophie noch nicht eo ipso eine naturwissenschaftliche Orientierung des philosophischen Ansatzes. Eine Intuition über die Fakten der Wirklichkeit, die zugleich die Fakten der Naturwissenschaften sind, ist sehr wohl denkbar. Eine so auf einem Empirismus aufbauende Philosophie kann einerseits aus den Erkenntnissen der Naturwissenschaften schöpfen, zum anderen sich methodisch wie sachlich sehr weit von ihnen entfernen. Eine Betrachtung der Lorentzformeln jedoch, die keine Realität im naturwissenschaftlichen Sinne sind sondern eine Theorie über eine Realität, kann sich kaum als eine die Naturwissenschaften über13
) ) 15 ) 16 ) 14
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Vulpian, Ferrier. Spencer, Bain, James, Darwin. Helmholtz, Fechner, Weber. Vgl. vor allem die „Introduction à la métaphysique".
steigende Intuition geben. Hier offenbart sich der Gegensatz zwischen den beiden Positionen der Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Einzelwissenschaft. Bergsons Werk über die Einsteinsche Relativitätstheorie ist der Kronzeuge für jene Ambivalenz in der Bestimmung dieses Verhältnisses. Eine erste Bestimmung dieser Relation hat Bergson bereits 1882 in seinem zur Preisverteilung am Lycée in Angers gehaltenen Discours über die Spécialité getroffen. „C'est que la vérité est une: les sciences particulières en examinent les fragments, mais vous ne connaîtrez la nature de chacun d'eux que si vous vous: rendez compte de la place qu'il occupe dans l'ensemble. On ne comprend pas une vérité particulière quand on n'a pas aperçu les rapports qu'elle peut avoir avec les autres . . . C'est que tout l'art est dans l'arrangement, et que l'important n'est pas de connaître la pierre, mais la place qu'elle occupera" 17 ). Die Frage des Verhältnisses von Philosophie und Einzelwissenschaften hat im Positivismus im Laufe seiner Entwicklung eine doppelte Lösung erfahren. Die den Bemühungen der Sensualisten des 18. Jahrhunderts verpflichteten Denker greifen immer wieder die von dort erfolgte Bestimmung der Philosophie als Einzelwissenschaft auf. Gerade die aus England kommende Bewegung des Positivismus — die besonders auf Taine und Ribot wirkte 18 ) —, hat bewußt oder unbewußt das Verhältnis zu den Sensualisten gepflegt19) und sich um eine Einordnung der Philosophie in die Einzelwissenschaft bemüht. Die Richtung dieser Lösung, die schon durch die Formulierung der philosophischen Forschung im ersten Jahre der Revolution festgelegt war und durch die Definition Destutt de Tracys in der Prägung des Begriffs der Ideologie eine feste, schlagwortartige Stütze fand, bekam ihre endgültige Formulierung schließlich bei de Gérando 20 ), der in der Definition der Philosophie als der Einzelwissenschaft der abstrakten Ideen den letzten Unterschied zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften zu verwischen trachtete. Diese Bestimmung des Verhältnisses von Einzelwissenschaft und Philosophie fand ihren Weg über England zurück in die französische Philosophie des Positivismus 21 ). Jedoch hat diese Form der Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Einzelwissenschaft bei Bergson kaum einen Niederschlag gefunden. Sieht man von der einzigen Stelle in seinem ersten Discours 17
) La spécialité. S. 6 - 7 . ) Hippolyte Taine: La philosophie anglaise. Théodule Ribot: La psychologie anglaise contemporaine. 19 ) Hippolyte Taine: Intelligence. Bd. 1, S. 5; Bd. 2, S. 4; Les philosophes français. S. 4. 20 ) Joseph Marie de Gérando: Histoire comparée des systèmes philosophiques. T. 1, Bd. 1, S. 18. 21 ) Über das Verhältnis von Sensualismus und englischem Positivismus vgl. Léon Dewaule: Condillac et la psychologie anglaise. 18
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über die Spécialité ab, wo diese Bestimmung als eine Möglichkeit des Verhältnisses referiert, aber weder belegt noch bestritten wird, so kann diese Art der Einordnung der Philosophie in den Rahmen der Einzelwissenschaften keinen weiteren Niederschlag in Bergsons Werk verzeichnen. Andererseits hat der Positivismus sowohl in England wie in Frankreich eine zweite Bestimmung dieses Verhältnisses von Philosophie und Einzelwissenschaften entwickelt, die nicht wie die erste eine Nivellierung des Unterschiedes anstrebt, sondern sich um eine Überhöhung der Einzelwissenschaften mittels der Philosophie bemüht. Die auf eine große Systematik des gesamten Erkenntniskomplexes gerichteten Denker des Positivismus — in Frankreich vor allem Comte, in England Spencer — begegneten sich in dem Bestreben, über den Fakten der Einzelwissenschaften noch eine Wissenschaft zu errichten, die alle Phänomene, die die Einzelwissenschaften erschließen, in einen durchgängigen Zusammenhang bringt. Diese Bildung einer die Einzelwissenschaften übersteigenden Erkenntnis ihres Zusammenhanges konnte sich natürlich für das positivistische Bewußtsein nur in engem Kontakt mit den speziellen Wissenschaften aufbauen. Gegen jede Tendenz der Deduktion durchaus feindlich eingestellt, sehen Comte wie Spencer den Weg zum universalen Geist nur über die spezielle Kenntnis der Einzelwissenschaften. Damit aber entwickeln sie einen Begriff der Philosophie, der in engem Kontakt mit den Einzelwissenschaften lebend, sich dennoch deutlich von ihnen absetzt. Der Zug auf das Allgemeine, der der sensualistischen Bedeutung des Wortes innewohnte, geht auch hier in die zweite Bestimmung des Philosophiebegriffes ein. Für Comte wie für Spencer ist die Philosophie eine Wissenschaft des Allgemeinen, insofern, als sie sowohl die fundamentalsten Axiome jeder Wissenschaft wie auch die allgemeinsten Formen ihrer Ergebnisse zum Gegenstand hat. Der Unterschied zu den Sensualisten bestimmt sich jedoch durch die Stellung, die das Allgemeine zum Besonderen in ihrem System einnimmt. Während die Sensualisten von einer Realitätsvorstellung ausgingen, die durch die erkenntnistheoretischen Arbeiten der englischen Empiristen bestimmt war, bildete sich der Comtesche und Spencersche Positivismus wesentlich über den Fakten der Naturwissenschaften. Damit wurde aber die Frage des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem, die für die Sensualisten durch eine Nebeneinanderstellung von allgemeinen und besonderen Ideen in der Form der prinzipiellen Gleichsetzung gelöst war, wieder auf das alte Verhältnis der Über- und Unterordnung zurückgeführt. Damit wird zugleich auch die Wissenschaft vom Allgemeinen, die Philosophie, über die des Speziellen erhoben. Eine auf diesem Fundament aufbauende Philosophie erhält eine induktive Form. Von den Phänomenen der Wissenschaften ausgehend, bildet 10
sie sich durch eine Übersteigerung des Faktischen. Durch Abstraktion und Induktion werden die Grenzen der Einzelwissenschaften überschritten und das Gebiet der Philosophie erreicht. Diese Methode der Induktion hat gerade im englischen Positivismus eine bedeutende Pflege erfahren. In speziellen Untersuchungen als logisches und wissenschaftliches Mittel des evidenten Schlusses über Naturtatsachen entdeckt22), findet sie bei Spencer ihre große thematische Anwendung auf die Philosophie. Damit ist aber zugleich eine philosophische Methode und eine philosophische Wissenschaft geschaffen, die sowohl dem positivistischen Wissenschaftsideal wie dem Interesse der Philosophie an einem Übersteigen der Einzelwissenschaften Rechnung trägt. Diese Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Einzelwissenschaften findet von Spencer aus ihren Weg in das Bergsonsche Denken. Übereinstimmend berichten die Zeugen seiner Jugendzeit die Vorliebe Bergsons für den englischen Denker 23 ). Der Einfluß, den Spencer auf die Sprache Bergsons bis in die „Données immédiates" ausgeübt hat, ist bereits untersucht worden 24 ). Der Zusammenhang der Ideen läßt sich in gleicher Weise aufzeigen. Alle in ihm durch sein ganzes Schaffen latenten Neigungen, die Vorliebe für einen gewissen psychologischen Ausgangspunkt, die Neigung zu biologischen Problemen, die Übernahme eines Evolutionismus, bis hin zur Fundierung der Ethik — wenigstens in einer Quelle — im Sozialen haben ihren Ausgangspunkt in der Lektüre des „System of synthetic philosophy". Darüber hinaus ist Spencer der einzige moderne — und überhaupt einer der wenigen Denker gewesen, mit dem Bergson sich während seiner Lehrtätigkeit am Collège de France beschäftigt hat 25 ). In dieser Verbindung zu Spencer stellt das Problem des Verhältnisses von Philosophie und Einzelwissenschaften nicht so sehr eine thematische Übereinstimmung dar, als vielmehr eine gemeinsame Voraussetzung, auf der sich die Systeme des Denkens aufbauen. Das Thema, das sich für Spencer nie ausdrücklich als Problem gestellt hat, dessen Lösung er bereits seinen Untersuchungen voranstellen konnte, ist mehr als eine Geisteshaltung denn in der Form einer ausdrücklichen Fragestellung auf Bergson übergegangen. So ist es erklärlich, daß es zu den wenigen Komplexen gehört, die mit Bergsons Wendung 22 ) William Whewell: Philosophy of the inductive sciences. John Stuart Mill: A system of logie, ratiocinative and inductive. 23 ) Vgl. die Zeugnisse Bergsons in seiner Selbstdarstellung: „Pensée et mouvant", S. 8 und in dem Brief vom 9. Mai 1908 an William James: „J'étais resté tout imbu, jusque-là, de théories mécanistiques, auxquelles j'avais été conduit de très bonne heure par la lecture de Herbert Spencer, le philosophe auquel j'adhérais à peu près sans reserve." Revue des deux mondes. 103. S. 810. 24 ) Paul Kucharski: Sur le point de départ de la philosophie de Bergson. In: Bergson et le bergsonisme. Archives de philosophie. 17. S. 56 ff. 25 ) In den Studienjahren 1 9 0 5 / 0 6 und 1 9 0 7 / 0 8 .
2 Pflug, Henri Bergson
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vom Positivismus zu einem spiritualistischen Ansatz nicht eine rigoros neue Lösung erfahren haben. Gerade die Treue zu dieser Haltung trennt Bergson entschieden von den traditionellen Spiritualisten seiner Zeit. Er selbst hat die Abgrenzung in einem Brief an F. Vanderém vorgenommen, wo er, veranlaßt durch einen Artikel Vanderéms im Figaro, sich selbst gegen Caro absetzt. „Quand on compare mes cours à ceux de Caro, on oublie que je n'ai jamais fait l'ombre d'une concession au ,grand publique', que mon enseignement s'adresse aux spécialistes, que je le rendais même de plus en plus technique à mesure que l'affluence à mes cours augmentait 2 6 )." Diese Absage an das „große Publikum" ist mehr als eine Eitelkeit. Sie ist der Verzicht auf die von den Spiritualisten im Verlauf des 19. Jahrhunderts entwickelte philosophische Methode des sens commun. Schon -die „Données immédiates" zeigen deutlich Bergsons Haltung gegen diese Quelle der Erkenntnis. Sie wird stets betont in den Gegensatz zu der von Bergson verfolgten Analyse der Bewußtseinsgegebenheiten gebracht, tritt immer als eine vorschnell geschlossene Vorstellung einer von der wissenschaftlichen Problematik unberührten Denkweise auf, der sich die wirkliche Philosophie als Fachwissenschaft entgegensetzt 27 ). Dieser Gedanke der Philosophie als Fachwissenschaft ist das zweite wesentliche Erbe Spencers in der Philosophie Bergsons. Die Idee der induktiven Philosophie, die bei Bergson ihren prägnantesten Ausdruck in den Debatten um die Konstituierung des Lalandeschen Vocabulaires technique et critique de la Philosophie in der Société française de Philosophie gefunden hat 2 8 ), bedingt jedoch die Annahme einer prinzipiellen Gleichheit des Objektes f ü r Philosophie und Wissenschaften. Diese so mit einer induktiven Philosophie verbundene Übernahme des naturwissenschaftlichen Realitätsbegriffes ist das zentrale Problem f ü r die Bergsonsche Philosophie. Denn der Gegensatz zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften, den Bergson um die Jahrhundertwende entdeckte, reißt auch den gemeinsamen Objektbegriff wieder auseinander, ohne daß Bergson daraus die Konsequenz zu ziehen bereit ist, die Wissenschaften der Philosophie überhaupt zu opfern. Hier bleibt das Verhältnis zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften in der Schwebe. Eine klare Entscheidung hat Bergson bis in sein letztes Werk nicht gefällt. Die ersten Schriften Bergsons halten dieses Problem noch in einer selbstverständlichen Offenheit. Nicht der Mangel an Klarheit in diesen Fragen, sondern das Fehlen der Problematik überhaupt lassen diese Themata in keiner der Schriften vor den „Données Immédiates" anklin26
) Le Figaro vom 28. Februar 1914. ) Données immédiates. S. I, 2, 3, 53, 63, 169; vgl. auch Le bon sens et les études classiques. 29 ) Bulletin de la société française de philosophie. Bd. 1, S. 98/99. Bd. 3, S. 51 ff. 27
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gen. Lediglich der Discours über die Spécialité bekennt sich zu einer alle Wissenschaften übergreifenden Forschung, hat aber dabei mehr die Problematik der Vereinzelung und Spezialisierung der Einzelwissenschaften als die Frage einer Bestimmung der Philosophie im Auge. De facto vermeidet Bergson es sogar in dieser Schrift, diese die Einzelwissenschaften übergreifende Forschung mit dem Namen Philosophie zu belegen, obwohl seine Ausführungen offensichtlich von einem Unternehmen wie das „System of synthetic philosophy" Spencers bestimmt sind. Mit den „Données immédiates" tritt die Problematik zum ersten Male ins Bewußtsein. Die Lösung, mit der das erste Werk aufwartet, bleibt allerdings durch die Beschränkung des Blickwinkels auf die Phänomene der Innenwelt bestimmt. Dennoch zeigt sich ein erstes Absetzen von den positivistischen Vorstellungen einer wissenschaftlichen Psychologie: ein erster Schritt auf dem Wege zu einer philosophischen Neuorientierung.
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KAPITEL
I
Die „Données immédiates" Bergson umreißt im Vorwort zu seinem „Essai sur les Données immédiates" das Ziel seiner ersten Untersuchung mit den Worten: „Nous avons choisi, parmi les problèmes, celui qui est commun à la métaphysique et à la psychologie, le problème de la liberté 1 )." Die dieser Thematik innewohnende Ferne zu seiner Jugendhaltung zeigt sich schon deutlich in dem Bekenntnis zu einer metaphysischen Forschung überhaupt. Gegen die ständigen Erhärtungen der englischen und französischen Positivisten vom Ende der Metaphysik findet sie hier ihre Proklamation zum eigentlichen Anliegen der Philosophie. Damit aber schließt sich Bergson den Bekräftigungen der französischen Spiritualisten an, die in einem jahrhundertalten Kampf die Metaphysik vor den von naturwissenschaftlichen Vorstellungen ausgehenden Denkern zu retten bemühten. Dieser Anschluß Bergsons an die spiritualistische Philosophie bestimmt den philosophischen Charakter der „Données immédiates". Dabei geht es Bergson in diesem Werk vordringlich nicht um eine Neubegründung der Metaphysik. Stets der Diskussion der Philosophen seiner Zeit femstehend, greift er in seiner Schrift — wie auch später — keines der Argumente des Kampfes um die Möglichkeit einer Metaphysik auf. Im Vorwort zu den „Données immédiates" als ein selbstverständliches Anliegen des menschlichen Geistes aufgestellt, erfährt die Metaphysik keinerlei Verteidigung im weiteren Verlauf der Untersuchung. So wird der Essai durch die Vorstellung einer gesicherten metaphysischen Forschung bestimmt, als ob es niemals eine Argumentation gegen die Metaphysik als solche gegeben hätte, und als ob Bergson nicht selbst lebhafter Parteigänger dieser Bewegung gewesen wäre. Was jedoch für Bergson die metaphysische Forschung bestimmt, bleibt in den „Données immédiates" noch unausgesprochen. Die oben zitierte Stelle bestimmt das Wesen der Metaphysik nur sehr ungenau. Einerseits bezeichnet sie zwar einen Fragekomplex als metaphysisch: das Freiheitsproblem. Zum anderen aber wird diese Bestimmung dadurch wieder abgeschwächt, daß Bergson den Problemkomplex zugleich zum Gegenstand der Psychologie erklärt. Die sich hier anschließende Frage ') Données immédiates. S. VII—VIII.
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ist also doppelter Natur. Einerseits gilt es zu klären, inwieweit das Freiheitsproblem ein metaphysisches Problem ist, zum anderen jedoch, inwiefern ein Übergang von der Psychologie zur Metaphysik erfolgt, mit welchen Mitteln er bewerkstelligt wird und inwieweit dabei die Psychologie überschritten wird. Diese Fragen greifen den ganzen Komplex der „Données immédiates" in sich. Eine erste Bestimmung der Metaphysik in der Bedeutung, wie Bergson sie in der Einleitung zu den „Données immédiates" zitiert, liefert eine historische Betrachtung des Freiheitsproblems in der philosophischen Auseinandersetzung des 19. Jahrhunderts. Auch die Positivisten haben dieses Problem diskutiert, ohne daß sie jemals vorgaben, Metaphysik zu treiben. Deutlich hat sich Taine zu einer deterministischen Lösung dieses Problems bekannt. „Je suis déterministe au sens le plus absolu du mot" schreibt er in einem Brief an Ciarisse Coignet 2 ). Das ist eine deutliche Stellungnahme in der Frage der Freiheit, der sich die Ausführungen in der „Intelligence" anschließen 3 ). Dennoch denkt niemand daran, diese Rückführung des Freiheitsproblems auf einen den Naturwissenschaften entlehnten Mechanismus als Metaphysik zu bezeichnen, selbst nicht unter der Voraussetzung, daß Taine sich ausdrücklich auf Spinoza und Marc Aurel beruft. Die Vorstellung, die die Nennung des Begriffs Metaphysik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Frankreich hervorruft, ist also nicht ausschließlich von der Behandlung eines bestimmten Fragenkomplexes bestimmt, sondern schließt darüber hinaus noch eine Lösung der Frage in eine ganz bestimmte Richtung ein. Das Wiedererwachen des metaphysischen Bewußtseins nach der französischen Revolution und die Aufhebung der damit verbundenen Auflösung der philosophischen Forschung in eine streng sensualistische Ideologie verband sich seit seiner ersten Zeit mit dem Gedanken einer Restauration zumindest auf moralischem Gebiet. Wenn auch politisch von dem Gedanken eines gewissen Liberalismus bestimmt, so ließ sich diese Bewegung in ihrer philosophischen Spekulation doch von dem Bewußtsein der christlichen Tradition bestimmen, so daß die Ziele der alten metaphysischen Forschung, die Erhärtung von Gott, Freiheit, Unsterblichkeit, fast als feste Themen mit ihren Lösungen vorweggegeben schienen, zu denen lediglich noch ein spekulativer Weg zu finden blieb. Diese Bewegung blieb zwar in der Restaurationszeit nicht ohne innere wie äußere Schwierigkeiten, zumal die Theologie selbst diese Bestimmungen um eine philosophische Fundierung ihrer Glaubenssätze nicht gern sah. Jedoch hat in Frankreich — im Gegensatz zur Hegeischen Linken in Deutschland — niemand ernstlich den Versuch unternommen, den spekulationsphilosophischen Ansatz von den metaphysischen Vorstellungen des Christentums abzulösen. Das mehr oder weniger ver-
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2)
Clarisse Coignet: De Kant à Bergson. S. 19.
3)
Hippolyte Taine: Intelligence. Bd. 1, S. 2.
steckte Verfolgen einer pantheistischen Neigung war das äußerste, zu dem sich der französische Spiritualismus durchringen konnte. Eine auf diesem Boden sich konstituierende metaphysische Forschung belastet nun den Begriff der Metaphysik um so mehr, als die sich gegen sie richtenden Gegenströmungen auf jede metaphysische Prätention gänzlich verzichteten. Die alten Argumente der Sensualisten gegen eine metaphysische Forschung überhaupt, vermehrt um die Ergebnisse der modernen Naturwissenschaften, dienten ihnen nicht nur zur Bekämpfung der metaphysischen Theorien der Spiritualisten, sondern darüber hinaus zu einer Ablehnung einer auf die metaphysischen Gegenstände gerichteten Frageweise überhaupt. In einem allgemein naturwissenschaftlichen Agnostizismus bezüglich der Fragen nach dem Sinn und Zweck der Welt oder der Bestimmung der menschlichen Existenz versuchten sie alle metaphysischen Komplexe, die sich nicht — wie das Freiheitsproblem — durch den naturwissenschaftlichen Ansatz von selbst zu lösen schienen, als zugleich unlösbar und unersprießlich zu bezeichnen und das ihnen zugrunde liegende Bedürfnis der Klärung als ein Residuum eines überwundenen theologisch-metaphysischen Stadiums abzuweisen. Die äußerste Konzession an den alten Geist ist das Anbieten einer naturwissenschaftlichen Ersatzreligion 4 ), die die metaphysischen Fragekomplexe auf naturwissenschaftliche Vorstellungen zurückführt und so die alte Metaphysik auf die einzelnen naturwissenschaftlichen Disziplinen verteilt. In dieser Auseinandersetzung erhielt der Begriff der Metaphysik eine typische Festlegung, die nicht nur von den Themen, sondern zugleich von den Lösungen der Fragestellung mitbestimmt wurde. Die den positivistischen Prätentionen widerstrebenden Aussagen über den alten metaphysischen Fragekomplex waren die einzigen, die zugleich den Namen der Metaphysik behielten. Das bestimmte die Position der Bergsonschen Untersuchung. Das Berufen auf eine Metaphysik bedeutet zugleich ein Bekenntnis nicht nur zu den Methoden, sondern auch zu den Ergebnissen der spiritualistischen Philosophie. Dieser Positionswechsel Bergsons von einem Anhänger Ribotscher und und Spencerscher Methoden zu einem „Metaphysiker" bedeutet jedoch noch keineswegs ein uneingeschränktes Bekenntnis zu der spiritualistischen Tradition. Schon die Fortsetzung des obigen Zitates zeigt eine ebenso deutliche Absetzung Bergsons von den Methoden der Spiritualisten, wie von denen der Positivisten. Beiden Seiten wirft er eine Vermischung von Begriffen vor, von deren Auflösung er eine Auflösung der gesamten Problematik erwartet. „Une fois cette confusion dissipée, on verrait peut-être s'évanouir les objections élevées contre la liberté, les définitions qu'on en donne, et, en un, certain sens, le problème de la liberté lui-même 5 )." 4 5
) Comte, Littré, Laffitte, Renan. ) Données immédiates. S. VIII.
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In diesem Bemühen Bergsons um eine Position zwischen den beiden Lagern des Spiritualismus und des Positivismus lag eine Diskussion des Preiheitsproblems nahe. Als einziges Problem, das von den alten metaphysischen Fragestellungen einen Weg in die positivistische Diskussion gefunden hat, wurde es zum Prüfstein der spiritualistisch-positivistischen Auseinandersetzung. Dennoch war eine gegensätzliche Formulierung und damit die Möglichkeit einer Auseinandersetzung überhaupt selbst in diesem Problembereich nicht von vornherein gegeben. Der Spiritualismus, wesentlich auf die Fragen der Moral beschränkt, fand von den Phänomenen der moralischen Verantwortlichkeit nur schwer ein Verständnis f ü r die von den Belangen der Wissenschaftlichkeit getragenen rigorosen Lösungsversuche des Positivismus. Stets unter der Furcht des Zersetzens des Bewußtseins der Verantwortlichkeit lebend, wußten die Spiritualisten dem Positivismus in der ersten Zeit nichts als die Warnung vor den moralischen Konsequenzen einer materialistischen Lebensanschauung entgegenzusetzen 6 ) und erst langsam erwachte mit der Verbreitung der naturwissenschaftlichen Bildung ein Verständnis f ü r den Ausgangspunkt der positivistischen Argumentation. Auf dieser Ebene bildete sich im spiritualistischen Lager eine erste Präzisierung der Frage der Freiheit in der Problematik des Nebeneinanders von Willensfreiheit und Naturnotwendigkeit. Nachdem bereits Lachelier in einem Brief an Ravaisson die ersten Grundzüge einer solchen Theorie entwickelt hat 7 ), waren es vor allem zwei Denker, die diese Aufgabe in Angriff nahmen: Fouillée und Boutroux. Auf der einen Seite bemühte sich Fouillée in seiner Thèse: „La liberté et le déterminisme 8 )" durch eine Einschränkung des Freiheitsbegriffes auf das Ideal einer Freiheit, dem in der Realität nicht notwendig ein Äquivalent gegeben sein muß, diesen mit einem von den Naturwissenschaften geforderten Determinismus der Welt der Erscheinungen zu versöhnen. Auf der anderen Seite drängt die von Boutroux in seiner Thèse „La contingence des lois de la nature 9 )" vorgetragene Theorie auf eine Einschränkung des Determinismus zugunsten einer allgemeinen Kontingenz. Aber während Fouillée durch seine Theorie der Idées-forces bereits eine idealistische Struktur der Wirklichkeit hypostasiert, kann auf der anderen Seite die Bemühung Boutroux' nicht an der Tatsache des Erfolges einer streng deterministischen Theorie in den Naturwissenschaften vorbeigehen. So zeigt sich der Fouilléesche Freiheitsbegriff als zu sehr von dem naturwissenschaftlichen Determi6
) ) 8 ) 9 )
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Ravaisson, Lachelier, Paul Janet, Caro. Brief vom 2 5 . September 1 8 6 6 in Jules Ladielier: Lettres. S. 54—55. Alfred Fouillée: La liberté et le déterminisme. Emile Boutroux: La contingence des lois de la nature.
nismus in die Enge gedrängt, der Boutrouxsche auf Grund einiger extremer Randerscheinungen zu sehr gegenüber diesem Determinismus hervorgehoben. Für die spiritualistische Position bedeutete diese Doppelheit des Lösungsversuches eine schwere Belastung insofern, als der von den beiden Denkern vorausgesetzte Freiheitsbegriff völlig divergiert. Boutroux, der ihn in der Nachbarschaft zur Kontingenz gewinnen will, findet sich in ausgesprochenem Gegensatz zu Fouillée, der eine Interpretation des Freiheitsbegriffes über einen Indeterminismus ausdrücklich ablehnt 10 ). Zwar scheidet Boutroux noch zwischen Zufall und Kontingenz, doch rettet ihn auch diese Scheidung nur schwer vor einer Naturalisierung des von der Moral entlehnten Freiheitsbegriffs. Denn wenn er auch dadurch dem Bedenken Fouillées entgeht, die Freiheit als einen bloßen Mangel, als eine Lücke in der Naturgesetzlichkeit zu erklären, so bekommt sein Gesetz der Kontingenz als freies schöpferisches Prinzip nur über den Umweg des Göttlichen eine Relation zu den Phänomenen der Willensfreiheit. So drängt der doppelte Ansatz zu einer neuen Spaltung in der Frage der Freiheit: Willensfreiheit oder Indeterminismus. Bergson selbst hat diesen Gegensatz in einer Note zum Vocabulaire technique et critique von Lalande herausgearbeitet und dort die Position seiner Untersuchung des Freiheitsbegriffes in den „Données immédiates" als einen Versuch der Zwischenstellung bezeichnet. „Je pourrais donc dire que l'objet de ma thèse, sur ce point particulier, a été précisément de trouver une position intermédiaire entre la .liberté morale' et le ,libre arbitre'. La liberté, telle que je l'entends, est située entre ces deux termes 11 )." Dieser Versuch eines Ausgleiches heißt zugleich die Fouilléesche wie die Boutrouxsche Position zu überschreiten. Eine Diskussion der Freiheitsfrage kann weder von einer idealistischen Vorstellung ausgehen, noch eine idealistische Methode benutzen. So gilt es, gegen Fouillée den Freiheitsbegriff aus seiner idealistischen Verstrickung zu befreien, gegen Boutroux, den Naturbegriff der Naturwissenschaften in seiner ganzen Konsequenz den Betrachtungen zugrunde zu legen. Das aber bedingt eine neue grundsätzliche Auseinandersetzung mit den positivistischen Lösungen des Problems der Willensfreiheit, die in ihrem strengen Determinismus das Wissenschaftsbewußtsein der Physik der Zeit repräsentieren. Die positivistischen Denker fanden ihre Position wesentlich durch das von ihnen immer wieder betonte Bekenntnis zu einer strengen wissenschaftlichen Untersuchungsmethode. Primär nicht durch die Phänot0
) Alfred Fouillée: La liberté et le déterminisme. S. 74. " ) Vocabulaire technique et critique de la philosophie. Bd. 1, S. 414—416. Vgl. Brief vom Februar 1903 an Léon Brunschvicg in Bulletin de la société française de philosophie. Bd. 3, S. 95.
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mene der Willensfreiheit noch von den Belangen einer zu entwickelnden Ethik, sondern durch die Forderung der Wissenschaftlichkeit bestimmt, forderten sie eine den Methoden der Physik angeglichene Behandlung dieses Themas. Darin gipfelt die Argumentation Taines gegen den spiritualistischen Freiheitsbegriff, daß er eine „wissenschaftliche" Behandlung der durch sie bestimmten Phänomene unmöglich mache. Nur wenn auch die Tatsachen des Willens streng wissenschaftlich aufweisbaren Gesetzen gehorchen, sieht er die Möglichkeit einer allgemeinverbindlichen Lösung des Fragenkomplexes gewährleistet. „Si on nie la détermination absolue des voûtions humaines, il n' y a plus de science morale, plus de prévision. Si 1' homme peut améliorer sa condition, son esprit et son âme, c'est seulement parce que les événements internes sont rigoureusement et mutuellement dépendants. La connexion des faits, qui nous donne notre empire sur le monde physique, nous donne aussi notre empire sur le monde morale 12 )." Dennoch ist es Taine trotz dieses klaren Entwurfs einer streng deterministischen Freiheitstheorie nicht gelungen, eine hinreichend fundierte wissenschaftliche Lösung der Phänomene des freien Willens durchführen zu können. Einerseits drängte ihn — wie schon früher Comte und Littré 13 ) — der Realitätsbegriff des Positivismus, der durch die Forderung der allgemeinen Konstatierbarkeit in der Raumzeitmannigfaltigkeit geprägt war, zu einer Übertragung der Phänomene der Willensfreiheit auf Erscheinungen, die dieser Sphäre zugängig waren. Zum anderen strebte ein von den englischen Positivisten herüberkommender Gedankengang auf eine Konstatierung eines bewußtseinsimmanenten Kausalismus in Form einer Assoziationstheorie. Der erste Ansatz, der seinen Ursprung im materialistischen Denken des 18. Jahrhunderts hatte und seine systematische experimentelle Durchführung bei den Ärzten der Revolutionszeit erhielt 14 ), drängte auf eine physiologische Ableitung der Phänomene des Bewußtseins aus den streng experimentell beobachtbaren Zuständen des Zerebralsystems. Eine auf dieser Voraussetzung durchgeführte Theorie des Bewußtseins erfüllte nicht nur die Vorstellung, die der Positivismus von dem Wesen eines wissenschaftlichen Objekts hat, sondern trägt zugleich ein streng mechanistisches Schema in die Untersuchung der psychischen Zustände. Die experimentelle Fundierung dieser These gewann jedoch nur langsam an Boden. Nachdem die vorschnell gezogenen Schlüsse Galls den vereinigten Bemühungen der Mediziner und Philosophen erlegen waren, konnte Bouillaud nur mit Mühe unter strenger Anwendung der physiologischen Methoden Bichats einen letzten Kern aus der Gallschen Argumentation retten, indem er in unantastbarem experimentellen Aufweis 12
) in Clarisse Coignet: De Kant à Bergson. S. 21.
13
) Auguste Comte: Cours de philosophie positive. Médecine et médecins. S. VII. 14
20
) Cabanis, Broussais, Gall.
Bd. 3, S. 538. Emile
Littré:
die Lokalisation gewisser Phänomene des Sprechens darlegen konnte. Auf diesen Untersuchungen Bouillauds baute vor allem Broca und die eng mit ihm verbundene Société d' Anthropologie eine Theorie des psychophysischen Parallelismus durch eine immer weiter gehende Lokalisationstheorie auf. Neben der Sprache gelang ihm vor allem die Lokalisation des Geruchs und die Voraussage charakteristischer Gehirnlesionen beim Ausfall gewisser motorischer Fähigkeiten 15 ). Diese sich streng in der medizinischen Diskussion haltenden Arbeiten Brocas, die nur dann der Öffentlichkeit näher kamen, wenn Broca, als Gerichtssachverständiger berufen, einen krassen strafrechtlichen Determinismus vertrat 16 ), fanden ihren Weg in die positivistische Philosophie durch die Vermittlung Littrés, der durch seine ursprüngliche medizinische Ausbildung einen fachlichen Zugang zu den Arbeiten der Société d' Anthropologie hatte. Von hier aus griffen sowohl Taine als auch Ribot und seine Schule den Gedanken des psychophysischen Parallelismus in gleichem Maße auf 17 ). Verstärkt durch die ebenfalls der medizinischen Forschung erwachsenen Arbeiten der deutschen psychologischen Schule Fechners, fand die französische Psychologie des Positivismus in diesem Ansatz ein wissenschaftlich durch namhafte Repräsentanten gesichertes Feld für eine deterministische Theorie des Bewußtseins. Eine Auseinandersetzung mit dem positivistischen Determinismus schließt also als zentralen Punkt eine Zersetzung dieses Ansatzes des psychophysischen Parallelismus in sich. Der zweite Ansatz des Positivismus um eine wissenschaftliche Erfassung der Phänomene des Bewußtseins greift auf die Theorie der Assoziation zurück. Diese in ihrer Wurzel bis in die Antike zurückreichende Theorie18) ist keineswegs von vornherein der Ausgangspunkt für eine deterministisch-mechanistische Erklärung der Bewußtseinszustände gewesen. Selbst in ihrer Fixierung bei Hume, der am Schnittpunkt der modernen Assoziationstheorie steht, bleibt noch eine idealistische Interpretation der Assoziationsphänomene offen, die historisch ihre Verwirklichung in der schottischen Philosophie fand. Diese Doppelheit der Interpretation der Assoziationsphänomene in England im 18. Jahrhundert trug wesentlich dazu bei, die Erscheinungen der Assoziation zu einem zentralen Gegenstand der philosophischen Betrachtung zu machen. Die Differenz zwischen den beiden Interpretationen der schottischen und der positivistischen Schule liegt weniger in dem Aufweis ver,5
) Paul Broca: Mémoires d'anthropologie. Bd. 5, S. 227, 243, 460 ff. ) Paul Broca: Mémoires d'anthropologie. Bd. 5, S. 1 8 0 - 1 8 1 , 242. ") Hippolyte Taine: Intelligence. Bd. 1, S. 237 ff. Théodule Ribot: Les maladies de la mémoire. S. 51. 18 ) Aristoteles: De memoria et reminiscentia. Über die Bedeutung des Aristotelischen Ansatzes für die englisrh-schottische Entwicklung vgl. William Hamilton: Note D** in Thomas Reid: Works. Bd. 2. le
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schiedener Fakten, als in der generellen Einordnung der Assoziation in den geistigen Zusammenhang. Die Schotten, die von der Vorstellung eines dem Bewußtsein durch den common sense schlicht gegebenen Faktums der Seele ausgehen, ordnen infolge dieses Ausgangspunktes alle das Bewußtsein betreffenden Erscheinungen der Seele als Eigenschaften oder Fähigkeiten zu. Damit wird die Assoziation zu einem geistigen Vermögen. Die Seele kann durch Gewöhnung oder Vergleichung Verbindungen zwischen zwei realiter unverbundenen Phänomenen herstellen. Diese als Assoziationsvermögen bezeichnete Fähigkeit wird in ihrer Interpretation durch die Schotten zu einem die Freiheit der Seele gegenüber den äußeren Gegebenheiten bekräftigenden Faktum. Die Assoziation ist also einer der Beweise für die Existenz der Freiheit. Diese Interpretation ist wesentlich durch die a priori angenommene Struktur des Geistigen bestimmt. Von einer Zweiteilung der Phänomene der Wirklichkeit ausgehend, gewinnen die Schotten im Gegensatz zum Naturbegriff das Faktum der Seele als das Fundament der geistigen Phänomene. Diese die geistigen Erscheinungen veranlassende Mächtigkeit kann schon wegen der rigorosen Trennung der beiden Bereiche des Materiellen und Spirituellen nicht wiederum von der Natur abhängen. Die so gewonnene Selbstbestimmung der Seele ist der erste Ausgangspunkt für1 die Gewinnung des Freiheitsbegriffs. In der gleichen Weise gewinnen die Positivisten ihre entgegengesetzte Position. Für sie wird entscheidend für die Einordnung der Assoziation in den geistigen Zusammenhang der ihnen von vornherein durch die Naturwissenschaften gelieferte Wissenschaftsbegriff. In dem Bestreben, die Wissenschaften des Bewußtseins in analoger Weise wie die Naturwissenschaften aufzubauen, bemühten sie sich darum, auch den Erscheinungen des Geistigen einen kausalen Zusammenhang zu verleihen. Diese Etablierung eines Kausalismus im Bereich des Geistigen setzt jedoch eine Verbindung der einzelnen Zustände des Bewußtseins voraus, die die Positivisten in den Phänomenen der Assoziation gefunden zu haben glaubten. Damit wird für sie die Assoziation zum Kausalphänomen des geistigen Bereichs. Die Schwierigkeit dieses Ansatzes liegt wie bei den Schotten in der Annahme der völligen Eigenständigkeit des Geistigen. Soll der Kausalismus vollständig sein, so darf z. B. die Wahrnehmung keinen Einfluß auf die Bildung einer Vorstellung haben, da sie lediglich durch die ihr vorangehenden Vorstellungen determiniert sein kann. Die Schwierigkeit des assoziationistischen Ansatzes, die in ihrer ganzen Konsequenz in Taines „Intelligence" zum Ausdruck kommt, führt dort zu einer ebenso eigentümlichen wie unzureichenden Theorie der äußeren Wahrnehmung. Von einer strengen, mit der Evidenz physikalischer Gesetze ausgestatteten Assoziationsgesetzlichkeit ausgehend, ordnet er den inneren Kausalismus bei der Bildung der Vorstellungen der äußeren Wahrnehmung über. 22
Das Gehirn erzeugt für ihn in assoziativer Weise eine nicht abreißende Kette von Bildern, die mit den Kausalketten der Natur vergleichbar ist. Diese Kette ist jedoch kontinuierlich nur in den Zuständen mangelnder Wahrnehmung, z. B. im Schlaf, in der Halluzination. Während der Zustände der Perzeption hingegen besteht die Möglichkeit des Abreißens der Assoziationskette für den Fall, daß die Wahrnehmungen und die assoziativen Vorstellungen sich nicht decken. In diesem Falle entsteht eine „image contredite" 19 ). Eine auf dieser Grundlage entwickelte Wahrnehmungstheorie schränkt die äußere Perzeption stark zugunsten der freien Aktivität des Gehirns in der Assoziation ein. Die Rolle, die ihr in der Bildung der Wahrheit zufällt, ist mehr die eines Regulativs als eines Konstitutivs. Deshalb spricht Taine von ihr als einer Verifizierung einer Halluzination. „C'est que la perception extérieure est une hallucination vraie" 20 ) und weiter „Au lieu de dire que l'hallucination est une perception extérieure fausse, il faut dire que la perception extérieure est une hallucination vraie" 21 ). Dies ist die eine Seite des Assoziationismus. Der kausalen Verknüpfung von Vorstellungen im Repräsentativen entspricht im Voluntativen die kausale Bestimmung des Willens durch das Motiv. Auch dieser von' den englischen Positivisten entwickelte Gedankengang fand in der „Intelligence" seine Weiterführung und systematische Durchdringung. Ebenfalls auf ein antikes Vorbild zurückgehend, versucht diese Form des Assoziationismus die eine Handlung konstituierenden Faktoren in der die Handlung tragenden Motivation aufzuweisen. Das vor die Wahl gestellte Bewußtsein ist determiniert durch die Kette von Motiven, die die einzelnen Vor- und Nachteile der Handlung selbständig gegeneinander abwägen. Das sich in seiner Entscheidung frei wähnende Bewußtsein ist also de facto streng durch die der Handlung zugrunde liegenden Motive determiniert. Der so entstehende Kausalismus ist nicht minder rigoros als der Assoziationismus der Vorstellungen. Die Auseinandersetzung Bergsons mit den beiden Formen des positivistischen Determinismus' bestimmt seine philosophische Aktivität bis in die Mitte des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts hinein. Zwei große Werke — der „Essai sur les données immédiates de la conscience" und „Matière et Mémoire" — und zwei zentrale Vorträge — „Le parallélisme psychophysique et la métaphysique positive" 1901 vor der Société française de Philosophie und „Le paralogisme psychophysiologique" 1904 vor dem Internationalen Philosophenkongreß in Genf—sind die Frucht dieser ersten Problematik. Dabei nimmt die Widerlegung der Parallelismusthese seit „Matière et Mémoire" den wesentlich breiteren Raum ein. In den „Données immédiates" noch auf wenige Seiten 19
) Hippolyte Taine: Intelligence. Bd. 2, S. 46.
20
) Hippolyte Taine: Intelligence. Bd. 2, S. 10.
21
) Hippolyte Taine: Intelligence. Bd. 2, S. 13.
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beschränkt und weit zurückgedrängt hinter die Problematik der Assoziationsphilosophie, ist sie seit „Matière et Mémoire" der einzige Gegenstand der Auseinandersetzung Bergsons mit der positivistischen Philosophie geblieben. Diese Verschiebung der Akzente ist wesentlich durch einen Wandel des Bergsonschen Blickfeldes bestimmt. Die „Données immédiates", die eine Fundierung der Metaphysik durch die Phänomene der Psychologie im Auge hatten, begünstigten in ihrer Fragestellung eine Auseinandersetzung mit der Form des Determinismus', der in seinem Wesen psychologisch ist. So nimmt hier die Argumentation gegen den Assoziationismus, den Bergson den psychologischen Determinismus nennt 2 2 ), den größeren Raum ein. Hingegen reichen die in den „Données immédiates" entwickelten metaphysischen Mittel noch nicht aus, die in viel stärkerem Maße physiologisch-physikalischen Phänomene des Parallelismus' zu untersuchen. Erst eine vom psychologischen Standpunkt aus gesicherte allgemeine Metaphysik kann auch zu einer Widerlegung der parallelistischen These übergehen. Zwar finden sich schon in den „Données immédiates" erste Ansätze auch zu einer generellen Untersuchung der Parallelismusphänomene, besonders in der Kritik des Prinzips der Erhaltung der Energie 2 3 ), oder in der Bezugnahme auf das Carnotsche Kreisprinzip 24 ), doch ist der Schritt von der Psychologie zur Ontologie in den „Données immédiates" noch nicht vollzogen: Bergson kann von diesen Ansätzen noch nicht zu einer generellen Auseinandersetzung mit den Psychophysikern gelangen. Deshalb bleibt die Widerlegung der Parallelismusthese in den „Données immédiates" noch wesentlich auf eine Einschränkung der von den Positivisten behaupteten Relation beschränkt. Die Diskussion hält sich von einer systematischen Untersuchung der Phänomene fern und gibt sehr wohl eine gewisse Abhängigkeit der Bewußtseinsfakten von bestimmten Gehirnfunktionen zu 25 ). So übernimmt Bergson in den „Données immédiates" noch unbeanstandet neben den von den Medizinern konstatierten Fakten der Lokalisation zugleich die von ihnen mitgelieferten mechanistischen Erklärungen. Das einzige, was Bergson an der parallelistischen Theorie problematisch erscheint, ist ihre generelle Anwendung auf den ganzen Komplex der geistigen Phänomene. Von dieser als Arbeitshypothese von Broca aufgestellten These 2 6 ), die von den positivistischen Philosophen im gleichen Maße wie von den philosophierenden Medizinern schließlich als Grundsatz übernommen wurde, verlangt Bergson eine für alle Akte des 22
24
) Données immédiates. S. 1 0 9 .
23
) Données immédiates. S. 1 1 4 .
=4
) Données immédiates. S. 1 1 1 .
25
) Données immédiates. S. 1 7 ,
26
) Paul B r o c a :
22.
Mémoires d'anthropologie. B d . 5, S. 4 ff.
Geistigen durchgeführte experimentelle Bestätigung 27 ). Dieser Einwand Bergsons gegen die Psyehophysiker erhält in der Diskussion um die Willensfreiheit um so mehr Gewicht als die von Broca und seinen Schülern aufgewiesenen Abhängigkeiten nur unwillentliche Phänomene betreffen, der so experimentell bestätigte Parallelismus also gar nicht in die Problematik der Willensfreiheit hineinragt. Dieser Punkt der Kritik bestimmt die Umreißung des Parallelismus' in den „Données immédiates" als eine Übertragung einer naturwissenschaftlichen Hypothese in eine metaphysische Diskussion 28 ). Nicht zentral von den Phänomenen» sondern von der Annahme einer allgemeinen Struktur des Geistigen ausgehend, gelangte der Positivismus nur durch eine experimentell nicht gerechtfertigte Ausweitung einer für gewisse Phänomene erwiesenen Relation zu der von ihm behaupteten Determinierung des Psychischen durch physiologische Funktionen. Die Zerschlagung der Übertragung eines speziellen Phänomens auf ein viel allgemeineres Problem und die Forderung einer speziellen experimentellen Untersuchung bestimmen das Pathos des Bergsonschen Ansatzes. Den Beteuerungen der Positivisten von der Wissenschaftlichkeit ihrer Bemühungen setzt Bergson die konkrete Forderung einer uneingeschränkten Empirie entgegen. Damit gelingt es ihm, die ständigen Vorwürfe der Positivisten gegen die Metaphysik, die seit Taines erster Kritik den mangelnden Realbezug der metaphysischen Forschung tadelten, gegen die Positivisten selbst zurückzubiegen. Damit kann er das Pathos der Wissenschaftlichkeit, das bisher die stärkste Waffe der Positivisten im Kampf gegen den Spiritualismus war, für den spiritualistischen Ansatz gegen die Positivisten nutzbar machen. Die Konsequenz dieser ersten Widerlegung des positivistischen Ansatzes durch eine Rekursion auf eine streng empirische Forschung zeigt sich in ihrer ganzen Tragweite in der Auseinandersetzung mit der Assoziationsphilosophie. Die Kritik Bergsons an der Assoziationsphilosophie setzt an der gleichen Stelle ein wie die Kritik an der These des psychophysischen Parallelismus'. Hier wie dort bemüht er sich, die gegnerische Position mit dem Argument mangelnden Realbezuges zu zersetzen. Damit gewinnt er zugleich für seine eigene Forschung die Position eines strengen Empirismus. Das Wesen des Assoziationismus ist die Zurückfübrung der Bewußtseinsfakten auf einen allgemeinen Kausalismus. Die seit den Newtonischen Prinzipien zum allgemeinen Bewußtsein der Naturwissenschaften durchdringende Vorstellung der notwendigen kausalen Verknüpfung drängt eine von der naturwissenschaftlichen Wissenschaftsvorstellung bestimmte psychische Forschung ebenfalls in die Richtung einer Kausaluntersuchung. Diese Übertragung der naturwissenschaftlichen Kausali27
) Données immédiates. S. 112. ) Données immédiates. S. 109.
2S
25
tätsvorstellung auf die Phänomene des psychischen Geschehens verlangt die Annahme einer dreifachen Strukturierung des psychischen Gegenstandes. Die Rückführung des psychischen Ablaufs auf einen Kausalismus setzt einerseits die Annahme einer Distinktion zwischen einem Verursachenden und einem Verursachten voraus, fordert also die Möglichkeit einer Zerlegung des Bewußtseinsflusses in distinkte Bewußtseinsfakten; zum anderen verlangt sie eine Zerlegbarkeit der Bewußtseinsfakten in einen Komplex einfacher unveränderlicher Elemente, deren Wechselwirkung die psychischen Veränderungen entspringen; und drittens zwingt sie zur Annahme der Meßbarkeit dieser Elemente, um so die Relation der psychischen Veränderungen analog zu den entsprechenden Vorgängen in der Natur durch eine mathematische Operation darstellen zu können. Mit diesen drei Forderungen an das psychologische Objekt versuchen die Positivisten eine den Naturwissenschaften analoge psychologische Forschung zu entwickeln. Bezüglich des ersten Punktes, der Distinktion getrennter Bewußtseinszustände, bemerkt schon Taine die Schwierigkeit, die Forderung des Wissenschaftsbegriffes mit den Phänomenen in Einklang zu bringen 29 ). Dennoch trägt er keine Bedenken, trotz der sich phänomenal ergebenden Kontinuität des Bewußtseins, die Möglichkeit einer kausalen Forschung in der Psychologie zu behaupten. Gestützt auf gewisse Beobachtungen über das Verhältnis von Motiv und Handlung, so wie sie C. Darwin, Bain und Spencer beschrieben haben, glaubt er die Hypothese der Assoziation von der Distinktion der Bewußtseinszustände rechtfertigen zu können. Selbst der in vielem wesentlich phänomenalere James gelangt trotz differenzierter Analyse des Bewußtseinsflusses, die eine viel bemerkte Nähe zu Bergsons Zeitbegriff aufweist 30 ), noch nicht über die Annahme der Distinktion hinaus 31 ). Bergson selbst hat diese Differenz zwischen James und seinem Standpunkt in einem Brief an Delattre klar herausgearbeitet. „Pour moi, au contraire, et dans la durée réelle où j'opère, il n'y a que du, flight, il n'y a pas de rest; et de plus il n'y a jamais de places, pas plus de flight que de rest" 32 ). Der Ausgangspunkt der Bergsonschen Betrachtung ist alsö die unmittelbare Erfahrung der Kontinuität der Bewußtseinszustände. Ihr phänomenales Gerüst hat diese Erfahrung mit den analogen Erfahrungen der Positivisten gemein. Ihre Differenz liegt also weniger in einer Verschiedenheit der Beobachtungen, als in einer Verschiedenheit der Inter29 50
) Hippolyte Taine: Intelligence. Bd. 2, S. 53.
) Der erste, der auf diese Verwandtschaft hinweist, ist Gaston Rageot in seinem Artikel: Le 5e congrès international de psychologie. Revue philosophique. 3 0 = 6 0 . 1 9 0 5 , S. 6 8 - 8 7 . 31 ) William James: Principles of psychology. Bd. 1, S. 6 0 5 ff. ®2) Brief vom 2 3 . August 1 9 2 3 an Floris Delattre in Revue anglo-américaine. 1 9 3 4 . S. 3 9 3 .
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pretationen. Damit ist jedoch noch keine prinzipielle Differenz bestimmt. Interpretationsdifferenzen weisen auch die verschiedenen Schriften der positivistischen Psychologen auf. Die Untersuchungen an Paralytikern z. B. finden in der gleichen Schultradition die verschiedensten Ausdeutungen. Die Differenz zwischen Bergson und den Positivisten ist jedoch grundsätzlicher. Während die Unterschiede in der positivistischen Schule lediglich die Einordnung eines spezifischen Phänomens in einen wissenschaftlichen Gesamtzusammenhang betreffen, läßt die Bergsonsche Absetzung von der positivistischen Interpretation das Wesen der positivistischen Einordnung eines Faktums in einen vorgegebenen Wissenschaftsbegriff selbst problematisch erscheinen. Der Gegensatz wird hier mehr als eine Differenz in der Interpretation von Fakten, er ist eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Faktizität überhaupt. Die positivistische Behandlung des Phänomenalen ist wesentlich durch den Realitätsbegriff der Naturwissenschaften bestimmt. Indem sie in dem einzelnen Faktum den Ausdruck einer speziellen Struktur gewisser analytischer fundamentaler Gesetzlichkeiten sieht, richtet sie ihr Interesse auf eine analytische Zerlegung der Faktizität, um so zu den sie konstituierenden Elementen zu gelangen. Damit aber erfährt das Faktische eine typische Abwertung gegenüber einem aus den Phänomenen abgeleiteten System von Gesetzlichkeiten, das f ü r die Positivisten die eigentliche Wirklichkeit ist. Damit ist das Phänomenale f ü r sie sehr wohl noch der Ausgangspunkt ihrer Untersuchung — und insofern beanspruchen sie den Titel des Realismus —, dennoch aber nur ein Derivat einer hinter ihm liegenden Wirklichkeit. An diesem Punkt aber setzt die generelle Absetzung Bergsons von den Positivisten ein. Auf ein altes Argument der Spiritualisten von der Realität der Freiheit in der schlichten Gegebenheit des sich frei fühlenden Bewußtseins zurückgreifend 33 ), rollt Bergson die Frage des Verhältnisses von Phänomenalem und Wirklichkeit auf, die f ü r die Positivisten eine Lösung in der Relation von Konstituiertem und Konstituierendem gefunden hat. Die Positivisten haben das Faktum des Bewußtseins der Freiheit niemals geleugnet. Jedoch scheint ihnen die Eigenschaft, daß es eine unmittelbare Gegebenheit des Bewußtseins ist, kein prinzipieller Vorzug zu sein. In ihrer Vorstellung von der Komplexität der Wirklichkeit wird ihnen das unmittelbar Gegebene zugleich zum real Derivativen. Die spiritualistische Philosophie hingegen hat gerade in dieser Tatsache die Möglichkeit einer metaphysischen Forschung erblickt. Aus der allgemeinen Kritik der Sinneswahrnehmung mit ihrer Tendenz zur sensuellen Verfälschung der Wirklichkeit hat sie mit der Selbsterfahrung die ss
) Données immédiates. S. 108.
3 Pflug, Henri Bergson
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Möglichkeit einer unsensiblen, also auch unverfälschten Erfahrung ergriffen. Das bestimmte den philosophischen Ansatz der spiritualistischen Philosophie. Von den unmittelbaren Gegebenheiten des Bewußtseins in der schlichten psychischen Erfahrung ausgehend, bemühten sich Cousin und seine Nachfolger, zu einer metaphysischen Forschung durchzustoßen. Der Versuch einer Überwindung eines erkenntnistheoretischen Skeptizismus durch eine Betonung der Unmittelbarkeit der psychischen Erfahrung rückt die Psychologie in eine bevorzugte Stellung zur Philosophie. Im Gegensatz zur sensiblen Erfahrung ist sie die einzige, die ihr Objekt in voller Wirklichkeit ergreift. Damit bietet sie als einzige die Möglichkeit, zu einer uneingeschränkten Wahrheit — und damit zu einer philosophischen Erkenntnis durchzustoßen. Dieses Bewußtsein erfüllt die psychologischen Bemühungen der französischen Spiritualisten im 19. Jahrhundert. Von Maine de Biran zuerst ausgesprochen, veranlaßte es vor allem Cousin, Jouffroy und Garnier zur Konstituierung einer spiritualistischen Psychologie34). Dennoch hebt dieser Ansatz nicht alle Schwierigkeiten der naturalistischen Philosophie auf. Zwar liefert die psychische Erfahrung in ihrer Unmittelbarkeit einen unantastbaren Faktenbereich in seiner vollen Wirklichkeit, doch ist die psychische Erfahrung noch nicht eo ipso philosophische Erkenntnis. In dem Maße, wie mit dem Verfall der französischen Revolution die metaphysischen Prätentionen wuchsen und durch das um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert erwachende Gefühl der Tradition in die Bahnen der alten metaphysischen Fragestellung gelenkt wurden, mußte die unmittelbare psychische Erfahrung des Ichs, die sich ursprünglich als Lösung der philosophischen Schwierigkeiten anbot, zu einer singulären, und damit zugleich partikulären und akzidentellen Erkenntnis abgewertet werden 35 ). Vollends der Einbruch des deutschen Idealismus in die französische Philosophie durch Cousin zersetzte mit seiner Erfahrungsfeindlichkeit die großen Hoffnungen auch der französischen Spiritualisten, die diese ursprünglich in die metaphysische Leistungsfähigkeit der Selbsterfahrung gesetzt hatten. Andererseits hielt jedoch die französische Philosophie in ihrem generellen Bedürfnis nach einer empirischen Fundierung der philosophischen Erkenntnis an der Fundamentalität der psychischen Erfahrung für die philosophische Erkenntnis fest. Stets von einem Mißtrauen gegen die reine Spekulation beseelt, bemühten sich selbst die vom deutschen Idealismus bestimmten Denker um einen ursprünglich erfahrensmäßigen Ausgangspunkt der Philoso34 ) François Pierre Maine de Biran: De la décomposition de la pensée. Oeuvres. Bd. 3, S. 156 ff. Victor Cousin: Programme du cours de philosophie. Oeuvres. Bd. 2, S. 91 ff. Théodore Jouffroy: Nouveaux mélanges philosophiques. S. 209 ff. Adolphe Garnier: Traité des facultés de l'âme. Bd. 3, S. 42, 44, 52, 429. 35 ) Vgl. die Kritik am subjektiven Ansatz bei den christlichen Denkern. Louis Bautain: De l'enseignement de la philosophie en France au 1 9 e siècle. S. 10—11; Alphonse Gratry: Logique. Bd. 1, S. 227 if.; Pierre Leroux: Réfutation de l'éclectisme.
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phie 3 6 ). Damit bekam die Psychologie in ihrer Möglichkeit einer zwar realen, aber dennoch unphilosophischen Erkenntnis die Stellung einer Propädeutik zur Metaphysik 37 ). Die hier aufbrechende Problematik des Überganges von der Psychologie zur Metaphysik, die ihre erste Formulierung bereits bei Maine de Biran fand 3 8 ), ließ die Frage nach dem der psychologischen Faktizität zugrunde liegenden Allgemeinen nicht mehr zurückdrängen. Diese Frage nach dem Verhältnis zwischen dem subjektiven Zustand, der unmittelbar erfahren wird, und dem allgemeinen Ich, das diesem Zustand zugrunde liegt, wurde schließlich — ebenfalls schon sehr früh in der Entwicklung des französischen Spiritualismus, — in die alte Form des Verhältnisses von Seele und Ich gegossen und ließ damit die neue philosophische Fragestellung in ein der alten Metaphysik entstammendes Problem einmünden. Das aber bedeutet, die psychische Erfahrung in die gleichen Schwierigkeiten zu verstricken, in die auch der Positivismus geriet. Das wirkliche Objekt der Psychologie ist in einem solchen Ansatz nicht der psychologischen Beobachtung, sondern nur dem Raisonnement zugängig. Die Seele als das wirkliche Objekt der Psychologie wird in ihrem Wesen nicht in einem unmittelbaren Akt des Selbstbewußtseins erfahren, sondern erst in der Reflexion — oder in der Konzeption — erkannt. Damit aber ist auch auf Seiten de,r spiritualistischen Philosophie eine Differenz zwischen dem phänomenal Gegebenen und der Realität aufgebrochen. Die Wirklichkeit liegt nicht in, sondern hinter der Erfahrung. Zwar beanspruchen auch die Spiritualisten den Titel eines Realismus 3 9 ), doch decken sie sich hierin mit den Positivisten, daß sie wie diese die Erfahrung durch eine Tendenz auf eine die Phänomenalität konstituierende Faktizität wesentlich abwerten. Im betonten Gegensatz zu dieser Form der Realitätsbestimmung greift Bergson das Problem der philosophischen Wirklichkeit von der Seite der unmittelbaren psychischen Erfahrung auf und versucht, in dem einfachen Akt des Bewußtseins zugleich die Realität zu sehen. Bergson hat die Bedeutung dieses Schrittes für die philosophische Diskussion sehr wohl erkannt. E r hat das Programmatische dieses Ansatzes beim rein Phänomenalen äußerlich schon dadurch ausgezeichnet, daß er die Formulierung der Realität im psychisch unmittelbar Gegebenen in den Titel seiner ersten Untersuchung setzte: „Essai sur les Données immédiates de la Conscience". Damit ist das Ziel seines Werkes als einer Realitätsuntersuchung über die Fakten des Bewußtseins gegeben. 36
) Vgl. Victor Cousin: Oeuvres. Bd. 2, S. 9 1 .
37
) Théodore Jouffroy: Vorrede zu Oeuvres de Dugald Stewart. Bd. 1, S. 2 2 ff.
) François Pierre Maine de Biran: psychologie. Oeuvres. Bd. 10, S. 27 ff. 3S
39
3'
Rapports
des
sciences
naturelles
avec
la
) Theodore Jouffroy: Vorrede zu Oeuvres de Dugald Stewart. Bd. 1, S. 17—18.
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Schon der Titel bestimmt diese neue Realität in zweifacher Weise. Er trifft die Bestimmung der Realität als einer Gegebenheit und zugleich als einer unmittelbaren Gegebenheit. Der Donnée — Begriff ist zur Charakterisierung der Realität in der Diskussion des ausgehenden 19. Jahrhunderts nicht ungewöhnlich. Bergson kann sich hier in dieser Bestimmung der Zustimmung sowohl der Spiritualisten als auch der Positivisten versichern. Besonders das starke Interesse an der Kantischen Philosophie, das sich seit den ersten einwandfreien Übersetzungen der „Kritik der reinen Vernunft" durch Barni und Tissot in Frankreich allgemein verbreitete, hat die Vorstellung der sinnlichen Gegebenheit allgemein auch in der spiritualistischen Vorstellungswelt verbreitet. Diese besonders in der neokritizistisdien Richtung Renouviers entwickelte Parallele zur Kantischen Philosophie trieb hier bereits den Realitätsgedanken ein wesentliches Stück in die Richtung einer psychologischen Gegebenheit, ohne allerdings zur prinzipiellen Realitätsfrage vorzustoßen 40 ). Die positivistische Gedankenwelt auf der anderen Seite hat mit ihrer nie ganz abgebrochenen Verbindung mit den sensualistischen Gedanken die Vorstellung der Realität als einer Gegebenheit trotz aller Realitätskonstruktionen niemals von ihren Thesen gestrichen. Der Ausgangspunkt bei den sinnlichen Gegebenheiten schien ihr, trotz aller Kritik an der vollständigen Deduktionsfähigkeit des Geistigen aus der Sensibilität, die sich bereits mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert bemerkbar machte41), immer der einzig tragbare Ausgangspunkt einer philosophischen Untersuchung. So betonten nicht nur Comte und Taine 42 ), sondern in eben dem Maße die positivistische Psychologie den Ursprung ihrer Erkenntnis in der sinnlichen Gegebenheit. Unmittelbar und prinzipiell findet der Begriff der Gegebenheit jedoch seine Durchführung bei Herbert Spencer. In dem Streben nach einer systematischen Gliederung seines philosophischen Gebäudes strebt er eine Fundierung jeder Wissenschaft in ihren unmittelbaren Gegebenheiten an. So spricht er von den Gegebenheiten der Psychologie, der Biologie, der Ethik 43 ); und die französischen Übersetzer haben keine Bedenken, stets dieses Wort mit „donnée" zu übersetzen 44 ). — Trotz dieser allgemeinen Übereinstimmung des Ausgangspunktes der Realitätsuntersuchung in der Gegebenheit bleibt Bergson bei einer präziseren Fassung dieses Begriffes den positivistischen Denkern weit mehr verpflichtet als den Spiritualisten. Gerade die Diskussion des Kantischen 40 4t
) Victor Egger: La parole intérieure. S. 207.
) Laromiguière, Maine de Biran, de Gérando.
42 ) Auguste Comte: Cours de philosophie positive. Bd. 3, S. 550 ff. Hippolyte Taine: Intelligence. Bd. 1, S. 25 ff. 43
) Herbert Spencer: A System of synthetic philosophy. Principles of psvchology. S. 3 ff. 44 ) Vgl. die Übersetzungen von Emile Cazelles, Théodule Ribot und AIFred Espinas.
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Gegebenheitsbegriffes zeigt eine zentrale Problematik, die in den Erörterungen des Bergsonschen Werkes völlig fehlt. Die Schwierigkeiten, die dem Kantischen Ansatz innewohnen und die ihren Durchbruch in dem Deduktionskapitel finden, wo in der Apprehension eine deutliche Rivalität zwischen Sinnlichkeit und Verstand und damit zugleich eine merkliche Wendung gegen eine Theorie der Passivität der Sinnlichkeit zu bemerken ist, haben im Bergsonschen Denken keinen Niederschlag gefunden. Für ihn tritt überhaupt die transzendentale Fragestellung wesentlich hinter eine psychologische Betrachtung zurück. Das zeigt sich deutlich in der Diskussion des Raumes. „On aurait tort d'attribuer une trop grande importance à la question de la réalité absolue de l'espace: autant vaudrait peut-être se demander si l'espace est ou n'est pas dans l'espace. En somme, nos sens perçoivent les qualités des corps, et l'espace avec elles: la grosse difficulté paraît avoir été de démêler si l'étendue est un aspect de ces qualités physiques — une qualité de la qualité — ou si ces qualités sont inétendues par essence, l'espace venant s'y ajouter, mais se suffisant à lui-même, et subsistant sans elles 45 )." Die Bergson am Raumproblem interessierende Frage ist also nicht, das Verhältnis von kategorialem Gefüge und sensibler Erfüllung dieses Gefüges zu erfassen, sondern ein von jeder Abstraktion einer allgemeinen Räumlichkeit losgelöstes Raumempfinden herauszuschälen. Auch hier will er also weniger die transzendentale Scheidung sondern die wesentlich psychologischere von ursprünglicher Raumgegebenheit und später darüber gebildeter allgemeiner Raumvorstellung untersucht wissen — ein Problem, das er in seiner historischen Abhängigkeit von Aristoteles zum Gegenstand seiner Thèse supplémentaire gemacht hat. Auch hier zeigt sich der gleiche Donnée-Begriff wie in den „Données immédiates". Schon die Wendung des Raumproblems vom spatium auf den Begriff des locus zeigt die Einschränkung der Frage auf eine psychologische Ursprünglichkeit. Vollends die Zusammenfassung zeigt seine Tendenz für die Aristotelische Lösung „(Aristoteles) Difficultates igitur quae oriuntur e spatio nostro libro ac soluto praesensit, immo existimavit insuperabiles: in quo vix peccavisse nobis videbitur, si animadverterimus recentiorem esse ac paene hesteram, quatenus ac cognitionem ipsam potius quam ad res cogitans pertinet, formae materiaeque distinctionem. Spatium ergo, praemature a Leucippo Democritoque emancipatum, eo modo voluit in corpora reduci ut pro spatio locus, pro theatro motionis infinito, finitarum rerum in finitis rebus inclusio substitueretur 46 )." Diese Anlehnung des Données-Begriffes an die positivistische Vorstellung schließt jedoch zugleich eine charakteristische Interpretation des Verhältnisses von Sinnlichkeit und Verstand ein, die wiederum eine deutliche Affinität zum positivistischen Realitätsbegriff hat. In der Pas4j
) Données immédiates. S. 69—70.
4e
) Quid Aristoteles de loco senserit. S. 78—79.
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sivität, mit der das Bewußtsein die Realität in der Gegebenheit erfährt, liegt zugleich eine Kritik an der geistigen Aktivität als einer Verfälschung der unmittelbar durch die Sinnlichkeit gegebenen Realität. Die Sensualisten haben ursprünglich der Realität selbst alle Aktivität in ihrem Eintritt in das Bewußtsein zuzuordnen gedacht, und sich das Bewußtsein in seinem ganzen Vorstellungsbereich passiv vorgestellt. Der Zusammenbruch dieser Theorie der Sensation durch den Aufweis der spontanen Willensaktivität bei Maine de Biran und der Aufmerksamkeit bei Laromiguière fiel zeitlich zusammen mit dem ersten Eindringen Kantischer Vorstellungen von der Aktivität des Denkens gegenüber der Passivität der sinnlichen Wahrnehmung nach Frankreich 47 ). Der Positivismus hat nun im Besonderen versucht, das Wesen der geistigen Aktivität über der sinnlichen Gegebenheit festzulegen. Da er dabei stets von der Vorstellung der Naturwissenschaften ausgeht, gilt es ihm in erster Linie, die Wissenschaftlichkeit der geistigen Tätigkeit zu durchleuchten. Zwei Bestimmungen charakterisieren die positivistische Theorie der wissenschaftlichen Verstandestätigkeit: Abstraktion und Induktion. Beiden gemein ist die Tatsache, daß sie lediglich Operationen über sinnliche Gegebenheiten sind. Beide bedürfen eines sensuell Gegebenen, das sie auf ein Allgemeines hin zu verlängern trachten. Das Wesen der geistigen Leistung wird so wesentlich als eine Verallgemeinerung und damit zugleich als eine Entleerung der sinnlichen Wirklichkeit angesehen. So zeigt sich die durch den Verstand verallgemeinerte Gegebenheit zwar als Struktur der Gegebenheit entsprechend, jedoch aus dieser durch Verarmung des Inhalts entstanden. Bergson greift den Gedanken der Umbildung der Gegebenheit durch das Denken von den positivistischen Denkern auf. „Et c'est pourquoi nous raisonnons sur ces états et leur appliquons notre logique simple: les ayant érigés en genres par cela seul que nous les isolions les uns des autres, nous les avons préparés pour servir à une déduction future 4 8 )." Doch während die Positivisten dieser Kraft des Denkens, wenigstens in soweit sie sich in den Rahmen der wissenschaftlich einwandfreien Formen der Abstraktion und Induktion hält und nicht versucht, zu einer deduktiven Behandlung der Probleme überzugehen, eine Fähigkeit zusprechen, die es ermöglicht, von einem bloßen Phänomen zur konstituierenden Wirklichkeit überzugehen, so schließt der Ansatzpunkt Bergsons, die Realität in der Phänomenalität zu konstituieren, die Möglichkeit einer solchen Lösung aus. Zweierlei scheidet Bergson von der positivistischen Theorie. 1. kann er die formale Struktur — besonders im Psychischen — nicht so hoch einschätzen. Eine Entleerung der Gegebenheit bis auf die formale Struktur
32
47)
Maximilien Vallois: La formation de l'influence kantienne en France. S. 33 ff.
4S)
Données immédiates. S. 1 0 0 .
scheint ihm nicht nur seiner Entleerung sondern einer völligen Vernichtung der Realität gleichzukommen. Damit ist zugleich der zweite Punkt gegeben. Das Formale der Gegebenheit ist für ihn selbst keine Gegebenheit, sondern ein erst durch den Akt des Denkens selbst Erzeugtes. Wenn also die Abstraktion zu einem allgemeinen Begriff von einer sinnlichen Gegebenheit aus gelangt, so ist dieser Begriff nicht die eine, wenn auch weitgehend verblaßte Gegebenheit mehr, sondern ein bloßes Schema in einem intelluktuellen Prozeß, dem in seiner Struktur nichts mehr an den ursprünglichen Tatsachen entspricht. „La conscience, tourmentée d'un insatiable désir de distinguer, substitue le symbole à la réalité, ou n'aperçoit la réalité qu'à travers le symbole 49 )-." Während Bergson so den Begriff der Gegebenheit in einer Spannung zu den positivistischen Denkern bildete, setzt er ihn durch eine weitere Bestimmung der Unmittelbarkeit zugleich vom positivistischen Gegebenheitsbegriff insofern a;b, als er ihn von der sensualistischen Färbung befreit, die er in der ganzen positivistischen Literatur des 19. Jahrhunderts hat. Uber das Wesen der Vermittlung der Realität durch die Sinne ist seit dem Sensualismus viel geschrieben worden. Die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Sensation und Gegenstand schwankte von einer schlichten Bildtheorie bis zu den Thesen völliger Heterogenität; und es fehlte auch im positivistischen Lager nicht an Denkern, die das Problem durch eine rigorose Gleichschaltung von Sensation und Realität zu lösen trachteten. Diese stets in einer gewissen Nähe zur Berkeleyschein Philosophie entwickelte Erkenntnistheorie verstrickte die Positivisten jedoch um so mehr in Schwierigkeiten, als die Phänomene einfacher Sinnestäuschung, wie sie die Physik aufweist, eine Differenz zwischen der Sinnlichkeit und der Realität angeraten sein lassen. Selbst die schon auf Kant zurückgehende Lösung, die Täuschung der Sinne in den Verstand zurückzuverlegen, hebt die Diskrepanz zwischen Impression und Realität nicht auf. Schließlich taten die neurophysiologischen Untersuchungen, die im 19. Jahrhundert einen breiten Raum in der französischen Medizin einnahmen 50 ), ein übriges, die Bestimmung der Verhältnisse von Sensation und Gegenstand immer weiter von einer reinen Abbildungstheorie zu entfernen; und in dem Maße, wie der Positivismus mit der Intensivierung seiner psychologischen Ambitionen diese medizinische Forschung in sein Bewußtsein übernahm, löste er sich von den alten sensualistischen Theorien ab 5 1 ). 49
) Données immédiates. S. 96—97.
50
) Lélut, Leuret, Gratiolet, Longet, Auburtin, Bouillaud, Broca.
51
) Emile Littré: La science au point de vue philosophique. S. 3 0 7 ff.
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Jedenfalls verbreitete die ganze Diskussion um das sensible Faktum im Bewußtsein aller Richtungen mehr und mehr den Gedanken der Mittelbarkeit der sinnlichen Wahrnehmung. Die Kritik an der sinnlichen Wahrnehmung wegen ihrer verfälschenden Tendenz führte in der spiritualistischen Philosophie zu einer Suche nach einem zwar empirischen, jedoch unsensiblen Ausgangspunkt der Philosophie. Durch die Trennung der körperlichen und geistigen Welt in der schottischen Philosophie bestimmt, drängte der Objektbegriff der Spiritualisten dazu, die von den Schotten noch ganz im Rahmen der traditionellen Geisteswissenschaften aufgefaßte geistige Sphäre 52 ) als eine psychologische zu verstehen. So erhielt der mind der Schotten als Gegenstand der Geisteswissenschaften schon bei Royer-Collard eine ausgesprochene psychologische Interpretation 5 3 ), die er—abgesehen von einer Randstelle bei Reid 54 ) — in der schottischen Philosophie niemals gehabt hat. Die Entdeckung der psychischen Erfahrung als einer Erfahrung sui generis ist ein geistesgeschichtliches Phänomen des letzten Jahrzehnts des 18. Jahrhunderts. Weitgehend einer literarischen Rousseaunachfolge erwachsen, brach plötzlich eine seltsame Vorliebe für eine Deskription psychischer Zustände fast gleichzeitig in mehreren Geistern durch. Diese sich die Form eines Journal intime schaffende Geisteshaltung hielt sich ursprünglich weitgehend im Literarischen. Weder Constant noch Restif de la Bretonne drangen von der Deskription zu einer prinzipielleren Form der psychologischen Erfahrung durch. Mit Maine de Biran jedoch trat dieses Phänomen des psychischen Erlebens zugleich in die philosophische Diskussion der Zeit ein. Mit der Problematik eines bereits im letzten Zustand der Selbstzersetzung sich befindenden Sensualismus 55 ) verbunden, gelang es dem Phänomen der unmittelbaren psychischen Erfahrung im Denken Maine de Birans, das Problem des Willens einer neuen, unsensualistischen Lösung entgegenzutreiben. Jedoch bedeutete dieser Schritt bereits eine weitgehende Differenzierung des ursprünglichen Ansatzes. Das, was bisher unmittelbarer Erlebnisakt war, wurde nun in der philosophischen Betrachtung zu einer unabhängigen Erfahrungstatsache. Diese Ausweitung des psychischen Erlebens zu einer philosophischen Erkenntnis verwandelte das unmittelbare Erleben in eine Erfahrung. Diese Umsetzung des psychischen Erlebens in eine für die Philosophie brauchbare Apperzeptionsform bedeutet in erster Linie eine Rationalisierung des Erlebens. Die die Journalr ' 2 ) Vgl. dis Aufzählung der Geisteswissenschaften in Reids " E s s a y s on the intellectual powers of m a n " : grammar, logic, rhetoric, natural theology, morals, jurisprudence, law, politics, and the fine arts. Thomas Reid: Works. Bd. 1, S. 2 1 8 . 5 3 ) Pierre Paul Roy er Collard: Discours. S. 3. 5 4 ) Thomas Reid: Works. Bd. 1, S. 2 1 7 . (Reid spricht noch von Pneumatology.) 5 5 ) Pierre Laromiguière: Leçons de philosophie. Bd. 1, S. 79 ff. Vgl. auch Sur les paradoxes de Condillac.
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intime-Literatur bestimmenden Qualitäten des psychischen Erlebens, die unmittelbare Eindringlichkeit und die ungetrübte Nähe zum Erfahrungsgegenstand trat mehr und mehr hinter die Vorstellung eines Ausgangspunktes beim Cartesischen Cogito zurück. Maine de Biran hat diese Wendung zum Cartesianismus sehr wohl empfunden. Durch seine betont in Anlehnung an das Cartesische Cogito gebildete Formel des Volo hat er in der Rationalisierung der psychischen Erkenntnis den entscheidenden Schritt vollzogen. Zwar hielt er noch an der ursprünglichen Form der Unmittelbarkeit des psychischen Erlebnisses auch in der philosophischen Erfahrung fest, zwar galt es für ihn noch, im psychischen eine eigene Form der Erfahrung überhaupt aufzuweisen, und die Differenzen zwischen innerer und äußerer Erfahrung nicht nur auf eine Differenz der Gewißheit einzuschränken, doch ging mit dem Eindringen des deutschen Idealismus diese Form der Unmittelbarkeit der psychischen Erfahrungen völlig verloren. Mit Cousin war dieser erste Prozeß der Nutzbarmachung des psychischen Erlebens für die Philosophie abgeschlossen. Die Differenz zwischen psychischem Erlebnis und sinnlicher Außenwelterfahrung war auf die Differenz der sinnlichen und nichtsinnlichen Erfahrung zusammengeschrumpft. Die Formen der Erfahrungen wurden dabei völlig aneinander angeglichen. So substituiert Cousin der psychologischen Erfahrung wieder das alte Schema: Die Realität, das Wesen wird hinter der Unmittelbarkeit gesucht, die selbst nur eine erste und einfache Phänomenalität ist. So führt er wieder die alte Scheidung von actuel und primitif in die psychologische Betrachtung ein und sichert damit die Konformität der äußeren und inneren Erkenntnis bis auf den einzigen Punkt der überwundenen Sensibilität 5 6 ). Doch schon der Cousinschule entging nicht die Schwierigkeit, die eine Gleichschaltung der äußeren und inneren Erkenntnis, die Cousin zu seinem Übergang von einer Psychologie zu einer umfassenden Metaphysik benötigte, ergab. Cousin ist zu sehr Empirist, um die Psychologie durch transzendentale Bewußtseinsanalyse im Sinne Fichtes zu ersetzen 57 ). Dadurch treibt der empirische Ansatz ihn in eine arge Klemme. Einerseits will er die Unmittelbarkeit der psychischen Erfahrung als Rechtsgrund für diese Erfahrung gelten lassen: das Sich-selbst-Erfassen des Bewußtseins soll ihm die Gewähr für die Wahrheit dieser Erkenntnis geben. Zum anderen zwingt ihn jedoch die Theorie der Sinnestäuschung, die ihr Schwergewicht mehr und mehr auf die Annahme eines rationalen als eines sensiblen Irrtums legt, zu äußerster Vorsicht gegenüber der Victor Cousin: Oeuvres. Bd. 2, S. 9 1 - 9 9 . ) Vgl. die sicherlich voneinander unabhängige Kritik Schellings und Ladheliers. ..Victor Cousin über die französische und deuts-che Philosophie". Vorrede S. X X I und Jules Ladielier: Lettres. S. 123 (Brief vom 2 5 . November 1879 an Paul Janet) und S. 1 3 3 - 1 3 4 (Brief vom 15. Mai 1 8 8 5 an Paul Janet). 5|
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unmittelbaren Gegebenheit im Bereich des Sinnlichen. J e mehr nun Cousin die beiden Erkenntnisformen einander annähert, um so stärker gewinnen die Bedenken gegen die Wahrheit der unmittelbaren psychischen Erfahrung an Gewicht. Vergeblich wehrt sich Cousin gegen das positivistische Argument der Subjektivität der unmittelbaren psychischen Erfahrung. Es ist eine Konsequenz der Gleichschaltung von innerer und äußerer Wahrnehmung. Zwei Versuche sind von der Cousinschule gemacht worden, um diese Schwierigkeit der Cousinschen Philosophie zu überbrücken. Nicht zufällig stehen am Anfang der beiden Versuche die Übersetzungen der Werke Reids und Dugald Stewarts durch Jouffroy. Die in den beiden umfangreichen Vorworten zu diesen Übersetzungen fixierten philosopischen Gedanken bestimmen bereits die erste Lösung in einer stillschweigenden Aufgabe der Cousinschen Annäherung von äußerer und innerer Erfahrung 5 8 ) und der Beschränkung der Philosophie auf eine Anthropologie 59 ). Diese erneute Betonung der von den Schotten etablierten Zweiteilung löst die Frage nach dem Rechtsgrund der unmittelbaren psychischen Erfahrung von den Bedenken der Sinnestäuschung ab. Jouffroys Interesse ist darauf gerichtet, die Psychologie, die den Schotten als Wissenschaft des Geistes noch sehr ungeläufig war, in das von Reid entwickelte Schema der Wissenschaften des Geistes einzufügen. Das aber bedingt, daß Jouffroy die typisch psychischen Erfahrungsweisen in Relation zu den von den Schotten in der geistigen Sphäre aufgewiesenen Erkenntnisformen setzt. Der Rechtsgrund der unmittelbaren Erkenntnis des Psychischen muß also in dem Rechtsgrund der unmittelbaren Erkenntnis in der Sphäre des mind überhaupt liegen. Gibt es also irgend im Bereich des Geistigen eine wirkliche unmittelbare Erfahrung, so ist die unmittelbare Erfahrung des Psychischen in ihrer Wahrheit gesichert. Dieser Gedanke bestimmt Jouffroy, eine Lösung auf dem Weg der Analogie zu suchen. Die Parallele, die er dabei zum aesthetischen Erleben entdeckt, legt zugleich eine spezifische Definition der Psychologie fest, indem er die Philosophie der Kunst nähert. Zwar bemüht sich Jouffroy, den wissenschaftlichen Charakter der Philosophie durch eine weitgehende Annäherung von Kunst und Wissenschaft zu wahren, was ihm über die psychologische Art der französischen Komödie — vor allem Molières — wenigstens zum Teil gelingt 60 ), doch treibt die einmal vollzogene Annäherung zwischen Philosophie und Kunst diese in den Augen der Positivisten immer weiter von der Wissenschaft fort 6 1 ). Zwar hat auch Taine die psychologische Beobachtung der Dichter zu einer Begründung der Psychologie als positive Wissenschaft nutzbar zu machen ver58
36
) Théodore Jouffroy: Vorrede zu Oeuvres de Dugald Stewart. Bd. 1, S. 26 ff.
59
) Théodore Jouffroy: Nouveaux mélanges philosophiques. S. 192.
s0
) Théodore Jouffroy: Vorrede zu Oeuvres de Dugald Stewart. Bd. 1, S. 55.
91
) Vgl. die Kritik Hippolyte Taines: Les philosophes français. S. I, 122.
sucht, jedoch galt es ihm dabei niemals, die Prinzipien der Gewißheit der Dichtung, sondern nur die empirischen Phänomene für die Psychologie zu aktivieren 62 ). Jouffroy hingegen, der gerade diese Seite der Dichtung für seine Deduktion der psychischen Gewißheit benötigt, substituiert den Wahrheitsbegriff der dichterischen Wahrhaftigkeit, dem sowohl die Allgemeinheit wie die Gesetzlichkeit eines wissenschaftlichen Wahrheitsbegriffes fehlt. Die zweite Lösung, die ebenfalls auf den Theorien der Schotten aufbaut, ist von Jouffroys Nachfolger an der Sorbonne, Adolphe Garnier, versucht worden. Die Bemühungen Jouffroys um die schottische Philosophie aufnehmend, galt es ihm besonders, die Theorie des common sense für die französische Philosophie nutzbar zu machen. Hierbei greift er die schottischen Ansätze mit den französischen Bemühungen um eine Fixierung des sens commun zusammen und versucht, wesentlich von der spiritualistischen Trennung zwischen Verstandes- und Vernunftswahrheiten eine Fundierung des sens commun zu erreichen. Von hier aus gelingt es ihm dann auch, die Unmittelbarkeit des psychischen Bewußtseins an die Unmittelbarkeit der Erfahrungen des sens commun zu knüpfen und dadurch den Rechtsgrund der psychischen Unmittelbarkeit mit dem des sens commun zu verbinden. Der Vorzug dieses Ansatzes liegt in dem Verzicht auf die von Jouffroy benötigte rigorose Trennung von Geistigem und Materiellem. Da der sens commun beide Teile der Erfahrung konstituiert — oder zumindest in beiden Teilen am Fundament teilhat, so ist die Unmittelbarkeit keine für die innere Erfahrung besonders zu betonende Eigenschaft, sondern eine Konsequenz aus der Trennung des Bewußtseins in Verstand und Vernunft. Der Nachteil jedoch bleibt in der Schwächlichkeit einer common-sensePhilosophie überhaupt zu suchen. Gerade die Diskussion in England zwischen Hamilton und J. St. Mill hat deutlich gezeigt, daß schließlich kein einziger der vom sens commun als evident aufgestellten Sätze unangreifbar ist 63 ). Diese Versuche der Spiritualististen zur Klärung des Rechtsgrundes der Unmittelbarkeit der psychischen Erfahrung mußten die Kluft, die zwischen der positivistischen und der spiritualistischen Vorstellung vonder Psychologie als Wissenschaft bestand, nur noch vertiefen. Die Psychologie zu einer Kunstgattung oder zu einer normativen Wissenschaft zu machen, widersprach gründlich den Intentionen der Positivisten. Sollte es überhaupt eine Wissenschaft von den psychischen Erscheinungen geben, so nur um den Preis des Verzichts auf die unmittelbare Evidenz der psychischen Erfahrung und unter strenger Anlehnung an einen von den Naturwissenschaften bestimmten Wissenschaftsbegriff. 62 63
) Hippolyte Taine: Intelligence. Bd. 1, S. 93.
) John Stuart Mill: Examination of Sir William Hamilton's philosophy. S. 548 ff.
37
Als Bergson im Verlaufe der Untersuchung in seiner Thèse in dieses Problem der Unmittelbarkeit der psychischen Erfahrung eintrat, schied für ihn die Möglichkeit einer Übernahme der spiritualistischen Lösungen von vornherein aus. Zu sehr von den positivistischen Idealen der Wissenschaftlichkeit durchdrungen, kann er dem unmittelbaren Gefühl der psychischen Realität nicht a priori eine Vorzugsstellung einräumen. Zwar sieht er mit den Spiritualisten das Faktum, das einen Übergang von der Psychologie zur Metaphysik ermöglicht. Jedoch bleibt ihm, vom positivistischen Wissenschaftsbegriff bestimmt, sein Rechtsgrund noch durchaus zweifelhaft. „Chacun de nous a en effet le sentiment immédiat, réel ou illusoire, de sa libre spontanéité 64 )." Soll es also gelingen, auf dieser unmittelbaren Gegebenheit des psychischen Bewußtseins eine positive Metaphysik aufzubauen, so muß das unmittelbare Bewußtsein selbst ein wissenschaftliches Bewußtsein sein. Alles sträubt sich in Bergson anzunehmen, daß gerade die Erkenntnisse der Metaphysik auf einem der wissenschaftlichen Erkenntnis so völlig konträren Weg gewonnen werden sollten. Wenn also die unmittelbare Erfahrung für die Metaphysik nutzbar gemacht werden kann, dann nicht wie bei Jouffroy oder Garnier in einem Absetzen von der wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern nur mit ihrem Einbeziehen in den Rahmen der einzelwissenschaftlichen Untersuchung. Bergson überschaut vom Anfang seines Werkes an die Bedingungen, unter denen diese Einordnung der unmittelbaren Erfahrung in den Rahmen der Wissenschaften möglich wird. Er beschränkt seine Untersuchungen von vornherein auf die Psychologie und läßt jede ontologische Betrachtung beiseite. Zwar betont er nicht ausdrücklich, daß diese Beschränkung auf die Psychologie mehr als eine zufällige Wahl eines Ausgangspunktes für eine metaphysische Untersuchung ist, die nicht ebensowohl durch die Wahl eines anderen Ausgangspunktes — etwa der Physik wie bei Boutroux — zum mindesten derivieren könne. Doch lassen die Stellen, an denen er von einer Berührung der inneren und äußeren Sphäre spricht, deutlich erkennen, daß dem ganzen Werk unausgesprochen die schottische Teilung in eine äußere und eine innere Welt zugrunde liegt65). Bergson erkennt deutlich, daß eine positive Metaphysik aus dem Bewußtsein der Unmittelbarkeit der metaphysischen Gegebenheiten nur von einer Neufassung der Psychologie zu gewinnen ist. Das aber ist die Position des französischen Spiritualismus in seiner traditionellsten Form. Unter Überspringen der Versuche Boutroux', Fouillées, Vacherots von verschiedenen Seiten aus den Zugang zur Metaphysik zu erweitern,
38
64
) Données immédiates. S. 108.
85
) Données immédiates. S. 94, 115.
hält Bergson an der Biranischen These der Sonderstellung der Psychologie fest. Die Differenz zur spiritualistischen Tradition liegt also nicht in der Intention, die Metaphysik auf den Phänomenen der Psychologie zu begründen, sondern in der Form, die psychischen Phänomene zu einer Wissenschaft zusammenzufassen. Das also, was für Garnier und Jouffroy auseinanderfiel: Bewußtseinsunmittelbarkeit und Wissenschaft, wird für Bergson der Angelpunkt seiner Erörterung. Damit ist die Aufgabe der „Données immédiates" umrissen. Eine Metaphysik über den von den Spiritualisten herausgestellten Fakten des unmittelbaren Bewußtseins scheint Bergson nur möglich, wenn diese Fakten des unmittelbaren Bewußtseins zugleich eine Wissenschaft konstituieren und so beweisen, daß sie nicht auf einer bloßen Täuschung des Bewußtseins beruhen. Dieses Streben nach einer psychologischen Wissenschaft über den inneren Gegebenheiten des Bewußtseins bedingt vordringlich eine Zersetzung der positivistischen Psychologie, die ihrerseits den Anspruch einer wissenschaftlichen Erfahrung der Psyche erhebt, andererseits jedoch in ihrer Tendenz zu einer rein mechanistischen Auffassung der Psyche einen Übergang von der Psychologie zur Metaphysik von vornherein ausschließt. So bedingt die Sicherung des spiritualistischen Ansatzes von der Psychologie zur Metaphysik die Zersetzung der positivistischen Psychologie. Die spiritualistischen Psychologen sahen sich in einem permanenten Abwehrkampf gegen die Positivisten. Vergeblich versuchten sie, ihnen die Argumente für einen doppelten Phänomenbegriff in der Psychologie klarzumachen. Indem sie überhaupt die Möglichkeit eines an die naturwissenschaftlichen Tatsachen angeglichenen Faktums in der Psychologie zuließen, lieferten sie den Positivisten selbst das Argument gegen die unmittelbaren Gegebenheiten als psychologische Fakten. Die Aufgabe Bergsons ist es also, die von den Positivisten als wissenschaftliches Faktum herausgestellte Tatsache als eine den wissenschaftlichen Belangen der Psychologie nicht entsprechende Substitution aufzuweisen. Nur in der Zersetzung der positivistischen Gegenstandsvorstellung kann es Bergson gelingen, den Gegenstand der Psychologie in den unmittelbaren Gegebenheiten des psychischen Bewußtseins zu setzen. Die Argumentation der Positivisten gegen die Einführung der unmittelbaren psychischen Gegebenheit in die psychologische Wissenschaft wurde wesentlich durch die doppelte Festlegung einer wissenschaftlich gesicherten Realität bestimmt. Einerseits forderte die Allgemeingültigkeit eines Phänomens seine ständige Fixierbarkeit im Raum-Zeit-Kontinuum. Das aber bedingt, daß die psychischen Erscheinungen sich nur dann zu einer Wissenschaft verdichten lassen, wenn sie in irgendeiner Form ständig wiederholbar sind. 39
Zum anderen drängt der der positivistischen Wissenschaftsvorstellung innewohnende Gesetzesbegriff das wissenschaftliche Faktum in den Bereich der Meßbarkeit. Schon Descartes hat auf diese Konsequenz der Wissenschaftlichkeit hingewiesen. Die Positivisten haben es als Selbstverständlichkeit der naturwissenschaftlichen Tradition entnommen, daß eine Wissenschaft notwendig auf die Konstatierung von Gesetzen gerichtet sein muß. Die Savoir-pour-prévoix-Formel Comtes schließt die Gesetzlichkeit der Wissensfakten in einer keine Bedenken findenden Weise ein. Diese Gesetzlichkeit drängt aber, teils durch den Begriff eines Naturgesetzes überhaupt, teils durch die Nachbarschaft zur Physik zu der Forderung der Meßbarkeit der Phänomene. Von dem Idealbild einer mathematischen Relation bestimmt, versuchen so die positivistischen Psychologen, die Meßbarkeit in den Bereich des Psychischen einzuführen. Die Grundlage hierzu lieferten ihnen die Arbeiten der deutschen Psychophysiker — vor allem die Untersuchungen von Fechner und Helmholtz über die Reizschwellen — die ursprünglich von physiologischem Interesse getragen, sich immer mehr zu einer allgemeinen naturwissenschaftlichen Psychologie entwickelten. Diese Bemühungen führten in Frankreich zu einer eigenen psychometrischen Schule unter Alfred Binet, die sich von den ursprünglichen Ansätzen Ribots einer durchweg physiologisch orientierten Psychologie immer mehr ablöste und eine strenge Psychometrie durchzuführen gedachte. Diese beiden von den Positivisten dem wissenschaftlichen Objektivbegriff hypostasierten Eigenschaften der Wiederholbarkeit und der Meßbarkeit lassen sich durch eine einfache Operation in der Psychologie erreichen. Nimmt man nämlich überhaupt die Möglichkeit einer Analogiebildung im Bereich des Psychischen an, so erhält man sowohl ein meßbares wie ein verifizierbares Phänomen. Die Wiederholung der elementaren psychischen Zustände wie Freude, Trauer, Liebe, Haß etc. legen die Annahme der Wiederholbarkeit der psychischen Erscheinungen nicht nur f ü r eine positivistische Psychologie nahe. Diese Form der Faktizität ist den Positivisten von den Spiritualisten niemals bestritten worden. Damit aber offenbart gerade das Affektive als die reinste Form des psychischen Lebens eine Fülle von Analogien, die die positivistische Psychologie nur auszuschöpfen braucht. In gleicher Weise präformiert der gemeine Verstand durch seine Annahme einer Graduierung der Gefühle die Vorstellung der Positivisten, durch eine Vergleichung der psychischen Intensitäten eine Möglichkeit der Messung auch in den Bereich der Psychologie einzuführen. Niemals hat ein spiritualistischer Denker an der Möglichkeit der Komparation der psychischen Zustände gezweifelt. Daß man damit zugleich der metrischen Methode den Weg ebnete, ist erst von Bergson deutlich herausgestellt worden. Die spiritualistische Schule glaubte, alles gegen eine mechanistische Tendenz 40
getan zu haben, wenn sie die psychischen Analogien von den physischen durch die Annahme einer doppelten Quantitierung, einer meßbaren physischen und einer nicht meßbaren psychischen schied. Diese Theorie der intensiven Quantitäten ist der erste Angriffspunkt Bergsons. „C'est esquiver la difficulté que de distinguer, comme on le fait d'habitude, deux espèces de quantité, la première extensive et mesurable, la seconde intensive, qui ne comporte pas la mesure, mais dont on peut dire néanmoins qu'elle est plus grande ou plus petite qu'une autre intensité. Car on reconnaît par là qu'il y a quelque chose de commun à ces deux formes de la grandeur, puisqu'on les appelle grandeurs l'une et l'autre, et qu'on les déclare également susceptibles de croître et de diminuer. Mais que peut-il y avoir de commun, au point de vue de la grandeur, entre l'extensif et l'intensif, entre l'étendu et l'inétendu? 6 6 )." Bergson erkennt deutlich, daß die Kluft zwischen Psychischem und Physischem tiefer gegraben werden muß, wenn sich die Möglichkeit einer positiven Metaphysik aus der Psychologie ergeben soll. So bildet die Cartesische Scheidung der Welt in Materie und Denken in der ganzen Schroffheit des Cartesischen Systems den Hintergrund der Bergsonschen Lösung. Ist das Denken, das bei Descartes noch das ganze Psychische repräsentiert, von der Materie durch deren Räumlichkeit unüberbrückbar getrennt, so ist es damit ein f ü r allemal von der Möglichkeit der Meßbarkeit abgeschnitten. Denn niemals ist seit Descartes bestritten worden, daß die Ausbildung einer messenden Methode an die Konstatierung räumlicher Verhältnisse geknüpft ist. Aber ebenfalls ist es niemals problematisch gewesen, nach den Erfolgen der Physik bei dem Versuch einer Umsetzung nicht räumlicher Gegebenheiten in räumliche Relationen generell Intensitäten durch eine Transposition in räumliche Vorstellungen einer messenden Methode zugänglich zu machen. Dieses Verfahren, seit Descartes, seit Newton tagtäglich geübt, wurde zu einer so großen Selbstverständlichkeit, daß das Wesen der messenden Methode über ihre Praxis mehr und mehr in Vergessenheit geriet, und daß sich niemand mehr ernstlich Gedanken über die Konsequenzen einer Transposition von Unräumlichem in Räumliches machte. Bergson läßt in den „Données immédiates" die generelle Frage noch beiseite. Die prinzipielle Möglichkeit einer Umsetzung überhaupt muß ihm zum Gegenstand von „Matière et Mémoire" werden, nachdem eine einmal konstituierte Metaphysik ihre ontologischen Konsequenzen zeigt. In den „Données immédiates" jedoch beschränkt sich die Untersuchung auf das Psychische. Es gilt Bergson hier nur zu zeigen, daß das Psychische selbst keine meßbare Struktur hat, oder, um die These zu präzisieren, daß überall da, wo sich das Psychische als Meßbares oder nur als Graduiertes zu zeigen scheint, im Grunde entweder eine Vermischung von 66
) Données immédiates. S. 2.
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Psychischem mit Physischem — wie bei der Mehrzahl der repräsentativen Vorstellungen und den affektiven Vorstellungen der eigenen Kraft — oder eine Übertragung räumlicher Begriffe auf psychische Vorstellungen — wie im Affektiven und Emotionalen — vorliegt. W i r d die Vorstellung von diesen Elementen gesäubert, so bleibt ein reines Gefühl zurück, das in seiner völligen Unvergleichbarkeit mit jedem anderen Gefühl eo ipso die Möglichkeit von Analogiebildungen ausscheidet. Der Verzicht auf die Meßbarkeit, ja selbst auf die Vergleichbarkeit der psychischen Fakten bedingt eine prinzipielle Neufassung des Wissenschaftsbegriffes bei Bergson. Die positivistische Wissenschaftsvorstellung, die elementar von dem Gesetzesbegriff beherrscht wird, fand keine Möglichkeit einer wissenschaftlichen Verarbeitung einer ungeordneten nicht ordnungsfähigen Mannigfaltigkeit von Phänomenen, da über einen solchen Komplex eine Gesetzlichkeit nicht zu konstatieren ist. Das Kriterium der Wissenschaftlichkeit muß von Bergson also vom Gesetzesbegriff abgezogen werden, wenn er eine psychologische Wissenschaft in dem oben entwickelten Sinn konstruieren will. Das aber heißt, das Wahrheitskriterium der Positivisten durch ein neues zu ersetzen. Die Sicherung des einzelnen Faktums in einem allgemeinen Zusammenhang muß zugunsten eines Kriteriums aufgegeben werden, das die Wahrheit der einzelnen Tatsache nicht erst an ihre Einordnungsfähigkeit in eine umfassende Ordnung knüpft. Hier hilft Bergson die These der spiritualistischen Philosophie von der Selbstevidenz der unmittelbaren Gegebenheiten des psychischen Bewußtseins. Jede in einem rein perzeptiven Akt erfahrene Tatsache des Bewußtseins ist durch die Kraft der reinen Wahrnehmung in ihrer Wahrhaftigkeit ausgewiesen. Da die unmittelbare Selbsterfahrung die Erkenntnis vor der Verfälschung durch die Sinnlichkeit schützt, ist in der Ausdehnung des Begriffs der Unmittelbarkeit durch Bergson auf ein vorlogisches Bewußtsein auch eine Verfälschung durch die Rationalität ausgeschieden. Damit wird diese unmittelbare Erfahrung des Psychischen zu einer Perzeption eines Dings an sich67). So sichert die Berufung auf einen integralen Empirismus — wenigstens in der Psychologie — die Wissenschaftlichkeit der Erkenntnis. Damit aber hat Bergson den Begriff der Wissenschaft gegenüber den Positivisten, die ihn in der durchgängigen Gesetzlichkeit sehen wollten 68 ), durch die Bestimmung der empirischen Gegebenheit ersetzt. " ) Bergson hat sidi stets gegen die Kantische These von der Unerkennbarkeit des Dinges an sich gewandt. Darin folgt er der Tradition der spiritualistischen Schule. Vgl. Données immédiates. S. 176. Matière et mémoire. S. 203. 6 8 ) Vgl. Auguste Comte: „ N o u s voyons, par ce qui précède, que le caratère fondamental de la philosophie positive est de regarder tous les phénomènes comme assujettis à des lois naturelles invariables." Cours de philosophie positive. Bd. 1, S. 16. Auch H i p p o l y t e Taine: Les philosophes français. S. 31.
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Auf dieser Basis gelingt es Bergson, die positivistische Psychologie als eine unwissenschaftliche zu deklarieren. Durch den Nachweis der in der Hypostasierung der Meßbarkeit vollzogenen Umbildung der Phänomene löst er sich von der positivistischen Psychologie ab und gibt seinen Bemühungen durch den Nachweis der größeren Phänomenalität den Vorzug größeren Wirklichkeitsbezuges gegenüber der positivistischen Psychologie. Die in dieser Abwertung der positivistischen Psychologie liegende Waffe im Kampf um die Gestaltung der Psychologie zwischen den Positivisten und den Spiritualisten hat gegenüber den bisherigen Argumenten der Spiritualisten den großen Vorzug, die positivistische Psychologie an einem Punkt anzugreifen, der auch in den Vorstellungen der Positivisten von entscheidender Bedeutung war. Während die bisherigen Argumente wesentlich durch die metaphysischen und ethischen Belange der Spiritualisten bestimmt waren 69 ), greift Bergson die Positivisten an einem Punkt an, an dem sie selbst ihre Überlegenheit gegenüber den Spiritualisten immer betonten 70 ). Damit hat Bergson die ganze Position umgekehrt. Die bisher ausschließlich von den Positivisten erhobenen Vorwürfe des mangelnden Realbezuges kann Bergson mit Erfolg zum Kernstück seiner Gegenargumentation machen. Zwar ist der Rückgang auf einen integralen Empirismus in der spiritualistischen Psychologie nicht neu. Schon Jouffroy, der Vater der spiritualistischen Psychologie, hat das empirische Programm mit aller Deutlichkeit umrissen. „II saute aux yeux, en effet, que la psychologie est une science d'observation, et qui, par conséquent, n'en présuppose aucune autre" 7 1 ). Die Differenz Bergsons zu diesen Bemühungen der Spiritualisten liegt jedoch in der völligen Neufassung des Begriffs der Realität, und damit in einer wesentlich strengeren Interpretation des Terminus Empirismus. Die Schwierigkeiten in der Definition der Differenz zwischen Psychologie und Naturwissenschaften, die sich schon bei Cousin bemerkbar machten, lassen bei Jouffroy — und erst recht bei Garnier — eine konkrete Bestimmung des Realitätsbegriffs in den Hintergrund treten. Diese Schwierigkeiten, die letztlich auf die Differenzen in der Theorie der Perzeption des Allgemeinen bei den verschiedenen Lehrern des Spiritualismus' zurückgehen, treiben die spiritualistische Generation der Jahrhundertmitte in eine eigentümlich unentschiedene Haltung bezüglich der Realitätsvorstellung. Einerseits bestimmt die schottische Trennung der Wirklichkeit in einen mundus intellectualis und einen mundus sensibilis die Annahme zweier getrennter Realitäten, die jedoch mit den gleichen 69
) Paul Janet. Eime Caro.
) Vgl. Auguste Comte: Cours de philosophie positive. Bd. 1, S. 9. Hippolyte Taine: Les philosophes français. Préface. 10
") 4
Théodore Jouffroy: Nouveaux mélanges philosophiques. S. 2 1 0 .
Pflug, H e n r i B e r g s o n
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methodischen Mitteln erschlossen werden, andererseits erreicht Maine de Biran die Trennung gerade von der Differenz der Methoden, schließlich drängt die vom deutschen Idealismus herkommende Gedankenwelt auf eine Einheit der Gegenstände und Methoden. In dieser Schwierigkeit hat Cousin den Realitätsbegriff durch die Annahme einer doppelten Erkenntnisform der Perzeption und der Konzeption in gleicher Weise über sinnliche Einzeldata und über Allgemeinheiten ausgedehnt 72 ), eine Lösung, die von seiner Schule ohne Prüfung übernommen wurde. Damit aber haftet dem spiritualistischen Realitätsbegriff eine unüberbrückbare Ambivalenz an. Einerseits ist das sinnliche Faktum, andererseits das hinter diesem Faktum liegende Allgemeine real. Eine Bestimmung des Verhältnisses dieser beiden Realitäten ist in der spiritualistischen Philosophie nie erfolgt. Diese Unbestimmtheit im Realitätsbegriff veranlaßt die Positivisten, die empirischen Beteuerungen der Spiritualisten nicht sehr ernst zu nehmen. Gerade den Jouffroyschen Analysen gegenüber wahren sie eine große Reserve73). In dem Bestreben, das Verhältnis zwischen Allgemeinem und Einzelnem präzise zu bestimmen, scheint ihnen die spiritualistische Annahme einer doppelten Realität, die in einem doppelten Erfahrensakt zugängig wird, eine starke Verwässerung des Realitätsbegriffes. An dieser Stelle setzt die Bergsonsche Kritik an den Positivisten ein. Er macht sich ihre Kritik an den Spiritualisten zu eigen, verzichtet selbst auf die Doppelheit des spiritualistischen Ansatzes und bemüht sich, den Realitätsbegriff noch schärfer als die Positivisten zu fassen. So verzichtet Bergson auf eine Doppelheit der Erkenntnis von Allgemeinem und Einzelnem, gibt die spiritualistische Analyse des Psychischen, ihr Bestreben einer Zerlegung der Seele in einen Komplex von Fähigkeiten auf und beschränkt sich auf eine Konstatierung der im unmittelbaren Bewußtsein gegebenen Phänomene. Damit zeigt sich der Bergsonsche Realismus als ein ausgeprägter Phänomenalismus. Von hier aus gelingt es ihm, den positivistischen Realitätsbegriff als einen konstruierten abzuwerten. Der Zusammenfall von Realität und Phänomenalität gibt der Bergsonschen Theorie ihre Überlegenheit gegenüber der positivistischen Psychologie. Dieser Ansatz zu einem psychologischen Phänomenalismus ist eine der großen geistesgeschichtlichen Konsequenzen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Das Zusammentreffen eines starken Realitätsbedürfnisses mit dem dumpfen Drängen eines wiedererwachten metaphysischen Strebens trieb an verschiedenen Stellen der philosophischen Welt die Denker zu einer der Bergsonschen analogen Methode. Die Verwandtschaft zu James 72 ) Victor Cousin: Cours de l'histoire de la philosophie moderne. Ser. 1, Bd. 2, S. 4 8 - 4 9 . 73
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) Vgl. Hippolyte Taine: Les philosophes français. S. 225.
führte zu der bekannten, von Bergson heftig widersprochenen Formulierung bei Rageot 7 4 ): „Durch eine natürliche Kreuzung haben wir aus Amerika eine Psychologie importiert und eine Philosophie zurückgegeben 7 5 )." Die Nachbarschaft zu Diltheys beschreibender Psychologie ist bisher noch niemals herausgearbeitet worden. Die Form Diltheyscher Argumentation gegen eine positivistische Psychologie deckt sich völlig mit der Bergsonschen: die gleichen Vorwürfe mangelnden Realbezuges, der gleiche Versuch einer Überwindung der positivistischen Einseitigkeiten durch eine Rekursion auf ein vorlogisches Unmittelbares, das bei Dilthey als unmittelbares Erleben auftritt. Doch während es in Amerika überhaupt an einer metaphysischen Tradition fehlte, in die die Analysen James' einmünden konnten, in Deutschland andererseits das Vertrauen in die metaphysische Kraft der Psychologie sehr bald zerstört wurde, drängte in Frankreich aus dem traditionellen Ansatz des Spiritualismus eine neue Lösung der metaphysischen Probleme aus dem neuen psychologischen Bewußtsein hervor. So ist es lediglich Bergson gelungen, die Ansätze zu einer geisteswissenschaftlichen Psychologie aus dem neuen Realitätsbewußtsein zu einer Theorie zu verdichten. Gegenüber James gelingt es ihm, die rein psychologischen Blickwinkel bis zu einer Metaphysik zu vertiefen, gegenüber Dilthey, die bei diesem Denker lediglich in der Absetzung von einer positivistischen Psychologie gebildeten Gedanken zu einer eigenständigen Theorie durchzubilden. So wenig James sich von der Psychologie lösen konnte, so wenig vermochte sich Dilthey ihr wirklich zu nähern. Hier verstand es Bergson, die ganze Tradition des französischen Spiritualismus, die ihm alle Mittel des Nutzbarmachens der psychologischen Ergebnisse für eine Metaphysik lieferte, zu einer positiven Theorie zusammenfassen. Dieses neue Realitätsbewußtsein, das sich hier zu einem großen Bekenntnis zu einer empirischen Methode durchringt, ist jedoch noch keineswegs damit hinreichend umrissen, daß es als eine Rückkehr zu einer phänomenalistischen Interpretation ¡der Realität charakterisiert ist. Das, was gerade die Versuche Bergsons und Diltheys gegenüber den Realitätsauffassungen ihrer Lehrer, etwa Lacheliers oder Trendelenburgs, auszeichnet, ist das Bemühen um die Erschließung einer neuen Sphäre der Wirklichkeit. Unter betonter Abwertung dessen, was die Generation ihrer Lehrer unter dem Begriff der Realität verstanden, versuchten sie, den ursprünglichen Realbezug des Menschen gegenüber der wissenschaftlichen Realitätsinterpretation zum philosophischen Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen zu machen. Dieses Bestreben, die Realität nicht nur in verstärktem Maße in die Philosophie zurückzuholen, , 4 ) Brief vom 10. Juli 1 9 0 5 an den Direktor der Revue philosophique in Revue philosophique. 3 0 - 6 0 . 1 9 0 5 . S. 2 2 9 - 2 3 1 . 7 5 ) Gaston Rageot: Le 5 e congrès international de psychologie. Revue philosophique. 3 0 - 6 0 . 1 9 0 5 . S. 8 4 - 8 5 .
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sondern eine völlig neue Form von Realität zu gewinnen, zeigte sich bereits in den vielfältigen Versuchen Taines oder Helmholtz' vorbereitet, die durch eine scharfe Fassung der physiologisch-psychologischen Relation zu einem strenger formulierten Realitätsbegriff zu kommen strebten. Aber in dem Maße, wie man sich den einzelwissenschaftlichen Untersuchungen der Sinnesphysiologie verpflichtete, verloren diese Denker die Möglichkeit, den Realitätsbegriff neu zu interpretieren. Sie blieben der Wissenschaftlichkeit zu sehr verpflichtet, um einen von den Naturwissenschaften bestimmten Realitätsbegriff unbedenklich opfern zu können. So konnte selbst der mit aller Konsequenz durchgeführte Versuch Machs, den Positivismus streng auf den Fakten des Bewußtseins zu begründen 76 ), den Vorsprung in der Ausweitung des Realitätsbegriffs durch die Spiritualisten nicht mehr einholen. In den Schriften Bergsons, in den „Données immédiates", ist die Philosophie zu einer neuen Form von Realität durchgedrungen, der die Positivisten nichts mehr entgegenzusetzen hatten. Die wesentliche Bestimmung der neuen Wirklichkeit ist ihre vorlogische Struktur. Methodisch gab sich diese Bestimmung bei Bergson aus der Absetzung von einer die Wirklichkeit verfälschenden Rationalität in einer von den Naturwissenschaften bestimmten Realitätsbetrachtung. Das vorlogische Bewußtsein wird jedoch nicht etwa wie bei Levy-Bruhl oder Cassirer zum Gegenstand einer Untersuchung gemacht, es wird von Bergson vielmehr überhaupt keine sachliche Scheidung des Bewußtseins in zwei Sphären vorgenommen. Die „Données immédiates" sehen noch streng darauf, daß die Einheit der Realität nicht durch die Annahme eines doppelten Realitätsbezuges des Bewußtseins — eines vorlogischen und eines logischen — gefährdet wird, da dadurch zugleich die neue Psychologie Gefahr liefe, den Charakter einer Wissenschaft zu verlieren. So geht es Bergson bei der Bestimmung der neuen Realitätsform vordringlich darum, eine Säuberung der wissenschaftlichen Methodik von den Elementen vorzunehmen, die geeignet sind, die unmittelbare Realität der Gegebenheit zu zerstören. Das aber legt die Vermutung nahe, daß es nicht der ganze Komplex des Rationalen ist, dem Bergson in den „Données immédiates" den Vorwurf der Verfälschung der Wirklichkeit macht, sondern daß es sich hier um eine von den Positivisten wesentlich in den Mittelpunkt gerückte Methode handelt, die es in den „Données immédiates" zu überwinden gilt 77 ). Jedoch läßt sich Bergson in den „Données immédiates" noch keineswegs darüber aus, wo er die Grenze der wissenschaftlichen Methode gesetzt wissen will. So bleibt es thematisch völlig unbestimmt, was er von 76
) Ernst Mach: Analyse der Empfindungen. S. I ff.
" ) Bergson hat sich selbst später, als seine Haltung zum Rationalismus wesentlich schärfer wurde, als sie je in den „Données immédiates" war, immer gegen eine Interpretation seiner Philosophie gewandt, die sie als antirational charakterisierte.
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der alten Methode der Wissenschaft in die neue Psychologie zu übernehmen bereit ist und was für den Neuansatz geopfert werden muß. Diese Unentschiedenheit in der Haltung Bergsons hat ihren ersten greifbaren Grund in der Tatsache, daß Bergson in den „Données immédiates" nicht eine Grundlegung einer neuen Psychologie, sondern einen metaphysischen Exkurs über das Problem der Freiheit beabsichtigte. Gemäß der spiritualistischen Tradition setzt ein solches Unternehmen bereits eine gesicherte psychologische Wissenschaft voraus. Was also überhaupt noch zu klären ist, ist der Übergang von der Psychologie zur Metaphysik. Die Psychologie selbst jedoch kann ihm nicht mehr zum Problem werden. Je stärker sich Bergson also der Tradition verpflichtet fühlt, um so weniger wird ihm die Bestimmung des Verhältnisses von Logischem und Vorlogischem in den „Données immédiates" zum Problem. Denn gerade in der Tradition der Spiritualisten scheint ihm die zu konkreten metaphysischen Ergebnissen führende Psychologie durchaus gesichert. Indem er an die Vorstellung der Spiritualisten von einer auf den unmittelbaren Gegebenheiten des Bewußtseins aufbauenden Psychologie anknüpft, scheint ihm zugleich die Methodik seiner Untersuchung durch den Anknüpfungspunkt bestimmt. Was er an rationalen Mitteln für seine Diskussion des Freiheitsproblems zu aktivieren gedenkt, bestimmt sich von der Methodik einer spiritualistischen Psychologie her. So liefert eine Erhellung der methodischen Differenz zwischen Positivismus und Spiritualismus in der Behandlung der Psychologie einen wesentlichen Aufschluß über die Methodik Bergsons und damit zugleich über eine Bestimmung des Verhältnisses von Rationalem und Außerrationalem im Bergsonschen Données-immédiates-Begriff. Der ständige Vorwurf der Positivisten gegen die spiritualistische Philosophie, ein Vorwurf, mit dem das Standardwerk des Positivismus, der „Cours de Philosophie", beginnt, ist der Einwand mangelnder Kausalforschung: Gegen die Versuche der Spiritualisten, die Gegebenheiten nicht in Kausalitätsreihen, sondern in einem Komplex von Essenzen und Akzidenzen aufzulösen, setzte Comte die Methode der kausalen Verknüpfung als der wissenschaftlich einzig relevanten. „L'explication des faits, réduite alors à ses termes réels, n'est plus désormais que la liaison établie entre les divers phénomènes particuliers et quelques faits généraux dont les progrès de la science tendent de plus en plus à diminuer le nombre 78 )." Die Spiritualisten ihrerseits halben jedoch die Wissenschaftlichkeit der Kausalforschung niemals in Frage gezogen. Die Frage nach dem Wesen des Kausalprinzips ist eine der großen Problematiken gewesen, die sie von Maine de Biran übernommen haben. Dennoch ist das Grundverhältnis zum Kausalproblem zwischen den Spiritualisten und den Positivisten prinzipiell verschieden. Die Positivisten, von den Belangen der Wissenschaft ausgehend, sehen in ihm ein notwendiges Constituens der 78
) Auguste Comte: Cours de philosophie positive. Bd. 1, S. 10.
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Wissensbildung überhaupt. Die Spiritualisten, wesentlich durch die moralische Fragestellung bestimmt, sehen in ihm eine Bestimmung des Verhältnisses von Wille und Tat in viel größerem Maße als eine Bestimmung der Phänomenverknüpfung der äußeren Gegebenheiten. Maine de Biran hat sich als erster — von den sensualistischen Vorstellungen der Kausalität ausgehend — um eine Bestimmung des Verhältnisses von Naturkausalität und psychischem Kausalismus bemüht. Es lag natürlich in seinem Bestreben, die Naturkausalität aus der Erfahrung der psychischen Aktivität abzuleiten, um so den Übergang von Psychologie zur Metaphysik zu retten. Die von ihm gegebene, von Cousin übernommene und mit dem transzendentalen Ansatz Fichtes verbundene Lösung wurde zu einem allgemeinen Bestandteil der spiritualistischen Philosophie 79 ). Das Prinzip der Kausalität wird aus der unmittelbaren Erfahrung der eigenen Spontaneität verbunden mit der Erfahrung des Widerstandes der Außenwelt gewonnen, dergestalt, daß sich aus dem ursprünglichen Begriff der Ursache, der noch ganz psychisch ist, durch Übertragung dieses Begriffes auf die Außenwelt ein allgemeines Gesetz bildet. Es ist also die Übertragung eines Begriffs, der durch Verknüpfung des unmittelbaren Bewußtseins der eigenen Spontaneität mit dem taktilischen Empfinden der Außenwelt entsteht. Diese Erklärung führt zu scharfem Gegensatz mit der Kausalbetrachtung der Positivisten, die — von einem Phänomenalismus ausgehend — sich um eine Begründung der sensiblen Erfahrung der Kausalität bemühten und dadurch wesentlich von den Betrachtungen Humes über die visuelle Relation der Kausalität bestimmt waren. Unter mehr oder weniger bewußter Ausnützung der Kantischen Lösung der Humeschen Schwierigkeiten80) gelangten sie zu einer Vorstellung der Kausalität, die primär von dem Charakter der unumstößlichen Notwendigkeit getragen wurde. Der Begriff des Gesetzes überwog bei ihnen so sehr, daß sie keine Möglichkeit sahen, die von den Spiritualisten in ihrem Prinzip mit eingefangene Form der sich selbst bestimmenden Kausalität in ihre Vorstellungen einzubeziehen. Unter ständigem Hinweis auf die Wissenschaftlichkeit der naturwissenschaftlichen Kausalforschung griffen sie also die spiritualistischen Kausalitätsvorstellungen schärfstens an und zwangen die spiritualistischen Denker dadurch, den Kausalitätsbegriff durch eine stärkere Akzentuierung seines Gesetzescharakters den positivistischen Vorstellungen anzugleichen. So sahen sich die Spiritualisten denn schon bald unter dem Druck der naturalistischen Denker gezwungen, das von ihnen entwickelte Kausalprinzip in seiner Anwendung auf die Natur einer generellen Wand79 ) Philibert Damiron: Cours de philosophie. S. 10 ff. Adolphe Garnier: Traité des facultés de l'âme. Bd. 1, S. 390. Paul Janet: Principes de métaphysique et de psychologie. Bd. 1, S. 130 ff. 80
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) Auguste Comte: Cours de philosophie positive. Bd. 6, S. 619.
lung zu unterziehen, um der Kausalität im Bereich der Natur eine schärfere Gesetzesfassung zu geben, ohne damit zugleich die Möglichkeit einer Deduktion der Freiheit im Psychischen aufzugeben. Zu diesem Zweck trennte schon Cousin die Kausalität in eine vorwissenschaftliche „notion" und ein wissenschaftliches „principe", das sich von der ersten durch den Charakter der allgemeinen Gesetzlichkeit scheidet. Damit aber ist der Spiritualismus in eine tiefe Schwierigkeit bezüglich des Kausalprinzips geraten. Schon Schelling hat den Finger auf diesen Punkt gelegt und auf die mangelnde Deduktion dieser beiden Komponenten des Kausalbegriffs auseinander hingewiesen81), und Bergson nahm die Schellingsche Kritik — sicherlich durch Vermittlung seines Lehrers Lachelier82) — wieder auf. „Mais outre qu'elle laisse assez obscur et rend même fort difficile le passage de la notion à la loi, elle glisse trop légèrement sur la différence capitale que fait le sens commun entre la causalité du moi et celle de la nature. A tort ou à raison, nous croyons tenir de notre conscience l'affirmation de notre libre arbitre. A tort ou à raison, nous voyons dans nos volitions et dans nos mouvements des effets contingents, indéterminés, dans une certaine mesure au moins, par rapport à leur cause. Ce n'est donc pas la notion de causalité déterminante, mais celle de causalité libre, que nous puisons dans l'observation pure et simple de nous-mêmes. Comment expliquer la métamorphose que cette notion subit quand nous l'appliquons au monde extérieur? Et comment sommes-nous amenés à l'y transporter si elle devra s'y transformer? 83 ) " Durch diese Schwierigkeit wurde das Kausalprinzip in der spiritualistischen Philosophie nicht mehr mit der gleichen Vordringlichkeit betrachtet, mit der es noch in den Untersuchungen Maine de Birans auftrat. Als zudem unter dem Einfluß Jouffroys sich die spiritualistische Philosophie auf die anthropologischen Probleme einschränkte, verlor der Kausalismus als Naturgesetzlichkeit sein letztes Interesse, es sei denn, man betrieb seine Widerlegung für den Bereich der metaphysischen Gegebenheiten. Diese Wendung war in der Bestimmung der methodischen Mittel in der spiritualistischen Psychologie von entscheidender Bedeutung. Während die Positivisten den Kausalismus zur methodischen Grundlage ihrer Psychologie erklärten, rückten die Spiritualisten immer weiter von jeder kausalen Methode ab. Hatte der Biranische Ansatz die Möglichkeit einer kausalen Methode in der Psychologie immerhin noch nahe gelegt, insofern, als eine Betrachtung der kausalen Zusammenhänge von Selbsterlebnis und Außenwelterfahrung dem Bewußtsein das kategoriale 81
) „Victor Cousin über die französische und deutsche Philosophie". Vorrede. S. XXII.
82
) Jules Lachelier: Lettres. S. 123. e3 ) Note sur les origines psychologiques de notre croyance à la loi de causalité. Bibliothèque du congrès international de philosophie. Bd. 1, S. 5—6.
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Denken vermittelte, so hat der Zweifel in diese Methode, der im spiritualistischen Lager selbst entstand, diesen Ansatz bald wieder erstickt. Dennoch blieb das Problem des Kausalismus als wissenschaftliche Methode einer Psychologie nicht gelöst, sondern nur zurückgedrängt, zurückgedrängt vor allem durch die Furcht, durch einen Kausalismus zu sehr in die Nähe einer Naturnotwendigkeit zu gelangen und dadurch die metaphysischen Anlagen der Psychologie a priori abzukappen. So entstand ein Zustand latenter Unbestimmtheit bezüglich der Rolle der Kausalität als wissenschaftlicher Methode. Erst Bergson sollte es gelingen, diese große Unsicherheit der spiritualistischen Philosophie zu beheben und den Kausalismus endgültig auf die Sphäre der äußeren Gegebenheit zu beschränken. Indem es ihm nämlich gelang, nachzuweisen, daß das Gesetz der Kausalität überhaupt kein Fundament im Psychischen hat, sondern lediglich durch eine Koordinierung der taktilischen und der visuellen Impressionen entsteht, gelingt es ihm einerseits, die spiritualistischen und die positivistischen Kausalitätsvorstellungen zu verbinden und andererseits, den Kausalismus aus einer Psychologie zu verbannen, der weder taktilische noch visuelle Impressionen zugrunde liegen. Was Bergson bestimmte, dieses Thema auf einem internationalen Philosophenkongreß zu diskutieren, muß bei der mangelnden internationalen Resonanz der französischen Philosophie des 19. Jahrhunderts durchaus fraglich erscheinen. Die meisten der Zuhörer und vor allem alle Nichtfranzosen werden an dem Kern der Ausführungen vorbei gehört haben. Es ist bezeichnend, was die verzeichneten ausländischen Diskussionsteilnehmer, Aars, Oslo, und Barth, Leipzig, zur Diskussion beitrugen. Eine Parallelisierung des Bergsonschen Versuches mit den streng von einer Kanttradition bestimmten Ausführungen A. Riehls konnte bei Bergson nur Verwunderung hervorrufen 84 ). Selbst die französischen Diskussionsteilnehmer, der Lagneau-Schüler Chartier und Griveau, wissen die entscheidende Untersuchung Bergsons als endgültigen Abschluß der spiritualistischen Unentschiedenheit nicht zu würdigen. Wesentlich unter dem Einfluß einer durch Renouvier, Lachelier und Lagneau geförderten Kant-Sicht stehend, tritt für sie das Problem der Koordinierung der taktilischen und visuellen Impressionen in den Vordergrund, eine Frage, die auch Lachelier in seiner Untersuchung über die Beobachtungen Platners an Blindgeborenen anschnitt 83 ). So ging die große Bedeutung der Bergsonschen Ausführungen in einer ungeeigneten Atmosphäre völlig unter. Diese Stellung zum Kausalismus bestimmte die Bergsonsche Kritik an der Methode der positivistischen Psychologie. So wie er in seinen 84 ) Diskussion auf dem internationalen Philosophenkongreß métaphysique et de morale. 8. 1900. S. 659—660. 85
50
) Jules Lachelier: Oeuvres. S. 67 ff.
1900
in
Revue
de
„Notes sur les origines de notre croyance à la loi de causalité" als Bedingung für die Entstehung des Kausalismus die Existenz von taktilischen und visuellen Impressionen aufweist und damit die legitime Anwendung des Kausalismus auf eine durch taktilische und visuelle Impressionen vermittelte Wirklichkeit beschränkt, so konzentriert er sich in den „Données immédiates" darauf, eine von den Positivisten unternommene Übertragung der Kausalmethode auf die Psychologie in ihren Fehlern aufzuheben. Diese Haltung gegen den Kausalismus ist bei Bergson primär durch das Thema seiner Untersuchung bestimmt. In dem Maße, wie er die Freiheit als metaphysische Realität darstellen will, muß er die Annahme eines integralen Kausalismus widerlegen. Das ist schon die Intention Fouillées und Boutroux' gewesen. Da aber die Metaphysik als Wissenschaft bei den Positivisten kaum mit einer Anerkennung rechnen kann, so muß Bergson seine Kritik am Kausalismus bis in die Ebene zurücktragen, in der die Metaphysik mit einer von den Positivisten anerkannten Einzelwissenschaft zusammenstößt. Damit ist Bergsons Ziel, nämlich eine methodische Verbannung der Kausalität aus der Psychologie, gesetzt. Vergleicht man die Stellen, an denen Bergson in den „Données immédiates" den Vorwurf einer Verfälschung der psychischen Realität erhebt, so zeigen sie eine einheitliche Grundtendenz in dem stets wiederkehrenden Vorwurf einer Verräumlichung einer an sich nicht räumlich gegebenen Wirklichkeit. Deutlich in der Zusammenfassung seines Werkes herausgestellt — „Intensité, dûrée, détermination volontaire, voilà les trois idées qu'ils s'agissait d'épurer, en les débarrassant de tout ce qu'elles doivent à l'intrusion du monde sensible et, pour tout dire, à l'obsession de l'idée d'espace 8 6 )", — ist das Thema der Verräumlichung der psychischen Wirklichkeit durch die positivistische Psychologie und die damit verbundene Verfälschung der Gegebenheiten das eigentliche Anliegen der „Données immédiates". Diese Verräumlichung jedoch zeigt sich in ihrem Wesen als die Grundlage des Kausalismus. Indem Bergson zeigt, daß die Durchführung einer Kausalfoschung an die Existenz einer distinkt im Raum gegebenen Vielfalt von Elementen geknüpft ist, kann er die Diskussion um die Tragfähigkeit des Kausalismus zu einer Diskussion um die räumliche Struktur der Gegebenheit erweitern. „Le déterminisme associationiste se représente le moi comme un assemblage d'états psychiques 87 )." Diese Konstatierung der Mannigfaltigkeit schließt bereits die Annahme der Räumlichkeit der psychischen Erscheinungen in sich. „Mais la pluralité n'apparaîtra que par une espèce de déroulement dans ce milieu homo86
) Données immédiates. S. 170.
87
) Données immédiates. S. 122.
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gène que quelques-uns appelent durée et qui est en réalité espace 88 )." So versucht Bergson nicht wie Boutroux, den Kausalismus in der Natur selbst einzuschränken, was notwendig zu einem Gegeneinander von Wissenschaft und Philosophie führen muß 89 ), sondern durch eine Diskussion der Tragfähigkeit des Kausalismus gewisse Wissenschaften aus der Herrschaft eines unbeugsamen kausalen Determinismus herauszubrechen und dadurch eine metaphysische Forschung möglich zu machen, ohne die Einheit von Wissenschaft und Philosophie zu gefährden. Die Argumentation Bergsons läuft von einer Untersuchung der Meßbarkeit der psychischen Fakten über eine Diskussion der Zahl zur Frage der Ordnungsfähigkeit der psychischen Erscheinungen in einem räumlichen Nebeneinander und schließlich von dort zur Bestreitung der Möglichkeit einer Kausalforschung im Psychischen. Schon auf der ersten Seite seines Werkes hat Bergson dieses letzte Ziel im Auge. Die Erörterung der Intensität der Bewußtseinszustände ist bereits das erste Argument gegen den Kausalismus. Denn indem Bergson di© Meßbarkeit von der Bedingung der Extensität abhängig macht, zugleich aber die Inkommensurabilität von Raum und Zeit demonstriert, und schließlich die Zeitlichkeit zur fundamentalen Kategorie des Psychischen erhebt, ist der Kausalismus im Psychischen schon widerlegt, wenn Bergson nachweist, daß die Anwendung einer kausalen Methode eine diskontinuierliche Struktur der Gegebenheiten voraussetzt. Die Tragfähigkeit dieser Argumentation Bergsons ist an zwei Bedingungen geknüpft, erstens an die tragenden Argumente seiner Raumanalyse, zweitens an die Begründung der Unterscheidung von qualitativer und quantitativer Mannigfaltigkeit. Die Raumanalyse der „Données immédiates" steht primär unter der großen Trennung von Innen und Außen, die Bergson seinem Werk zugrundelegt, um die Anlehnung der Metaphysik an eine Wissenschaft zu ermöglichen. Was f ü r eine solche Trennung phänomenal spricht, wird von ihm in seinem Werk nicht erörtert. Die im allgemeinen von den Spiritualisten angegebenen Gründe werden zum Teil nicht wiederholt, zum Teil widerlegt. Nichts von dem Animismus, der sich bei Jouffroy findet90), nichts von dem Biranischen sens intime. Selbst die bei allen Spiritualisten gleichermaßen vertretene Begründung über das unmittelbare Bewußtsein seiner selbst 91 ), wird nur mit einigem Zögern betrach88
) Données immédiates. S. 124—125.
89
) Vgl. Léon Brunschvicg: La modalité du jugement. S. 243. Introduction à la vie de l'esprit. S. 51. 90 ) Théodore Jouffroy: Noveaux mélanges philosophiques. S. 199—201. 91 ) Vgl. Victor Cousin: Oeuvres. Bd. 2, S. 92; Théodore Jouffroy: Vorrede zu Oeuvres de Dugald Stewart. Bd. 1,S. 15 ff; Emile Saisset: L'âme et la vie. S.81; Adolphe Garnier: Traité des facultés de l'âme. Bd. 1, S. 2; Charles de Rémusat: Essais philosophiques. Bd. 1, S. 457.
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tet 92 ). Dennoch erscheint es in den „Données immédiates" wie selbstverständlich, daß ein Phänomen der Außenwelt generell von einem psychischen Faktum verschieden ist. Die wenigen Scheidungen, die die „Données immédiates" geben, können kaum befriedigen. Daß die Psychologie keine Dinge zum Gegenstand hat, sondern Tatsachen93), unterscheidet sie nicht prinzipiell von der Physik. Außerdem spricht Bergson ständig von Gegebenheiten wie Seele und Ich, deren tatsächliche Struktur er keineswegs nachweist. So bleibt seine erste Hypostasierung lediglich auf einem mehr oder weniger vagen sens-commun-Begriff gestützt, dessen Stellung im System Bergsons noch keineswegs geklärt ist. Diese Tatsache ist nicht ohne Bedeutung für die historische Entwicklung des Bergsonschen Denkens. Schon „Matière et Mémoire" bringt eine neue Position, indem Bergson versucht, die Einheit allen Bewußtseins gegenüber der in den „Données immédiates" als fundamental auftretenden Spaltung zu erhärten. Auf diese Trennung von Außen und Innen baut Bergson seinen Raumbegriff auf. Ausgehend von dem Gedanken, daß — unabhängig von aller Struktur des Raumes — die Empfindungen zweier sich nur in der Lage unterscheidender Gegenstände verschieden sein müssen, „car si ces deux points nous affectaient de la même manière, il n'y aurait aucune raison pour placer l'un d'eux à droite plutôt qu'à gauche94)", greift er die in seiner Thèse secondaire entwickelte Aristotelische Unterscheidung zwischen reinem Raum und dem Ort, an dem sich ein Gegenstand befindet, wieder auf. Gestützt auf gewisse Beobachtungen des Orientierungsvermögens der Tiere und der als angeboren angenommenen Unterscheidungsfähigkeit des Menschen von rechts und links 95 ), glaubt Bergson auf ein ursprünglich heterogenes Raumempfinden schließen zu können. Damit aber gleicht er die Perzeption der räumlichen Lage eines Gegenstandes an. Der Raum wird für den Körper eine Qualität, nicht nur der Raum, den er einnimmt, sondern auch seine Lage zu anderen Körpern. Diese These von der qualitativen Form der unmittelbaren Raumerfahrung rückt das Außen wieder ganz in die Nähe des Innen. Die Gegenstände selbst sind nicht mehr in einem heterogenen Raum, das Bewußtsein erfährt nur eine Fülle von Qualitäten, unter denen sich die Qualitäten der Lage durch nichts gegenüber den anderen Qualitäten auszeichnen. Erst das Denken erzeugt in seiner Aktivität einen homogenen Raum über die Data der schlichten Gegebenheit. Gerade diese Aktivität in der Raumerzeugung aber wurde von Bergson als ein wesentliches Kriterium für die Differenz zwischen Innen und Außen angesehen. 92 ) Données immédiates. S. 108; Note sur les origines psychologiques croyance à la loi de causalité. S. 5 ff. 93
de notre
) Données immédiates. S. 151.
94
) Données immédiates. S. 72.
95
) Données immédiates. S. 73.
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Während das Außen sich zwanglos in ein Raumschema fügte, bedurfte es zu einer Verräumlichung des Innern einer spezifischen Anstrengung. „Dès lors, aucun effort d'invention ou de représentation symbolique ne nous est nécessaire pour les compter" schreibt Bergson über die „räumlich gegebene" Mannigfaltigkeit 96 ). Nun aber aktiviert er auch die Baumerfahrung des Außen und verwischt die einmal errichtete Unterscheidung von Außen und Innen. Die Problematik dieses Ansatzes liegt in der Struktur, die Bergson dem homogenen Raum zuteilt. Vordringlich mag es so scheinen, als ob der homogene Raum eine bloße Konstruktion des Denkens ist, dem de facto in den schlicht gegebenen Phänomenen nichts entspricht, da ja selbst die Qualitäten der Lage heterogen sind und somit nichts mit einem homogenen Medium gemein haben. In diesem Sinn spricht Bergson von der Aktivität des Geistes. „Plus on insistera sur la différence des impressions faites sur notre rétine par deux points d'une surface homogène, plus seulement on fera de place à l'activité de l'esprit, qui aperçoit sous forme d'homogénéité étendue ce qui lui est donné comme hétérogénéité qualitative 9 7 )." Doch können die „Données immédiates" diesen Standpunkt, der sich nach der Jahrhundertwende allgemein im Bergsonschen Denken verbreitete, keineswegs uneingeschränkt zugestehen. Die Annahme einer homogenen Räumlichkeit als bloßer Fiktion des diskursiven Bewußtseins gefährdet den Kausalismus als Methode auch für die Phänomene einer sogenannten Außenwelt, die mit einem Schlage die gleiche rein qualitative Struktur bekämen wie die Phänomene der psychischen Sphäre. Denn da Bergson die Anwendbarkeit des Kausalismus von dem Vorhandensein der Phänomene in einer homogenen Räumlichkeit abhängig gemacht hat, würde ein solcher Schritt jede Kausalforschung überhaupt nur in den Bereich der reinen Konvention verbannen. Das aber hieße, die Kluft zwischen den positiven Wissenschaften und der Philosophie, die Bergson gerade mühsam durch eine Trennung von Innen und Außen geschlossen hat, unvermittelt wieder aufreißen. Doch sträubt sich das positive Verhältnis Bergsons, ein Erbe seiner ersten positivistischen Periode, energisch gegen eine Isolierung der Philosophie von der einzelwissenschaftlichen Forschung. Der Schritt, zu dem ihn die Konsequenz seiner Untersuchungen nach „Matière et Mémoire" treibt, wird in den „Données immédiates" noch mit allen Mitteln zu verhindern versucht. Bergson bannt den Zwiespalt einer qualitativen Ortserfahrung und der Erkenntnis eines homogenen Raums durch die Übernahme einer der spiritualistischen Tradition entstammenden Trennung der Erkenntnisformen in Perception und Konzeption. „II faudrait donc distinguer entre
54
96
) Données immédiates. S. 65.
87
) Données immédiates. S. 72.
la perception de l'étendue et la conception de l'espace 98 )." Das aber ist zugleich eine der dunkelsten Wendungen der „Données immédiates". Kein Begriff ist mit größerer Unsicherheit in seiner Bedeutung im spiritualistischen Lager gebraucht worden als dieser. In keinem Begriff spiegelten sich mehr die kleinen und kleinsten Nuancen in der Interpretation des Erkenntnisvorganges wider wie hier. Ihren Ursprung hat die Unterscheidung von Konzeption und Perception in der hier gebrauchten Form in der schottischen Philosophie bei Thomas Reid. In seinen „Essays on the intellectual powers of man" benutzt er diese Differenz von Konzeption und Perzeption, um die Differenzen zwischen wahrgenommenen und vorgestellten Gegenständen zu bezeichnen. So schreibt er im ersten Essay: „We are never said to perceive things, of the existence of which we have not a full conviction. I may conceive or imagine a mountain of gold, or a winged horse; but no man says that he perceives such a creature of imagination. Thus perception is distinguished from conception or imagination 99 )." Hier also tritt die Konzeption als eine der geistigen Kräfte des Menschen auf, die es ihm ermöglicht, sich einen Gegenstand ohne Perzeption eines sinnlich Gegebenen vorzustellen. Diese Fähigkeit baut auf zwei speziellen Vermögen auf: auf der Einbildungskraft und auf der Erinnerungsfähigkeit. Offensichtlich jedoch wünscht Reid die erste Komponente für seine Betrachtung der Konzeption stärker betont, wie die thematische Parallelisierung von conception und imagination zeigt. Damit aber ist zugleich das Problem der Differenz in ein neues Stadium getreten. Am Beispiel des Künstlerischen greift nämlich der Konzeptionsbegriff mehr und mehr von einer bloß repräsentativen zu einer schöpferischen Fähigkeit hinüber. ..When a man paints, there is some work done, . . . Let us next consider what is done when he only conceives this picture. He must have conceived it before he painted it; for this is a maxim universally admitted, that every work of art must first be conceived in the mind of the operator 100 )." Hier erhält die Konzeption mehr und mehr die Form einer Erfahrung nicht sinnlicher Gegebenheiten. Durch diesen Wandel erfährt die Spaltung von Perzeption und Konzeption eine neue Problemgrundlage. Ursprünglich zur Bezeichnung der Differenz zwischen wahrgenommenen und vorgestellten Objekten gebraucht, rückt die Konzeption immer stärker in den Gegensatz von sinnlicher und nichtsinnlicher Erkenntnis ein, die sie besonders an den Stellen bei Reid voll ausfüllt, wo er den Begriff der Konzeption zur Bezeichnung der mathematischen Erkenntnis benutzt. Dort gewinnt er auch die erste Trennung von imagination und conception von der Trennung der Begriffsursprünge in sinnlicher und nichtsinnlicher Erfahrung. „Imagination, when it is distinguished 98
) Données immédiates. S. 72. ) Thomas Reid: Works. Bd. I, S. 222. 10 °) Thomas Reid: Works. Bd. 1, S. 362-363.
M
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from conception, seems to me to. signify one species of conception — to wit, the conception of visible objects. Thus, in a mathematical proposition, I imagine the figure, and I conceive the demonstration; it would not, I think, be improper to say, I conceive both, but it would noti be so proper to say, I imagine the demonstration 101 )." Dieser Wandel, der der Verschiebung der Differenz zwischen Perzeption und Konzeption zugrunde liegt, ist für Reid noch nicht entscheidend. Dadurch bleibt die Terminologie weiterhin schwankend. Das belastete besonders die Schultradition der Schotten in England, als durch eine Verschiebung des philosophischen Interesses gerade diese Probleme in das aktuelle Bewußtsein traten. So bedauert Hamilton mehrfach die unpräzise Form der Unterscheidung von Konzeption und Perzeption bei Reid, die durch eine völlige Vermischung der Begriffe conception, apprehension, imagination, notion entstanden ist 102 ). Die entscheidende Wendung des Konzeptionsbegriffs vollzog sich jedoch in Frankreich unter dem Druck der Absetzung vom sensualistischen Ideal der Philosophie. Die durch die Lockesche Tradition festgelegte Forschungsrichtung der Schotten tendierte in der Erkenntnistheorie mehr auf eine Umreißung der Fähigkeiten des Menschen als auf eine Erhellung des Realbezuges zwischen Erkennendem und Erkanntem. Schon die Titel der Reidschen Werke spiegeln diese Abhängigkeit von der Lockeschen Philosophie wider. Die „Essays on the intellectual powers of man" und die „Essays on the active powers of the human mind" sollen für ihn die ganze Philosophie umfassen, die Ontologie geht als Theorie der Notionen in die ersten, die Ethik als Theorie der Handlung in die zweiten Essays ein. Das Erkenntnisobjekt wird so für ihn an keiner Stelle von Bedeutung, das Ernennen wird als eine Fähigkeit des Menschen lediglich in einer Analyse des mind erklärt, die ihm zugrunde liegende Begrifflichkeit lediglich auf ihre innere Struktur untersucht, ohne daß die Frage des Verhältnisses vom Realbezug der Begriffe überhaupt aufträte. Sie ist durch eine sensualistische Theorie, verbunden mit dem Glauben an einen pyramidenförmigen Begriffschematismus, der auf der abstraktiven Fähigkeit des Geistes ruht, bereits vorweg gelöst. Dadurch jedoch werden völlig heterogene Formen der Geistestätigkeit wie die Repräsentation von bereits Erfahrenem und die Erkenntnis nicht sinnlicher Gegebenheiten wie die mathematischen Gegebenheiten in eigentümlicher Weise vermischt. Als jedoch mit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in Frankreich das Interesse an einer reinen Untersuchung des Zusammenhangs der Ideen durch eine stärker auf die ontologische Relation des Erkennens gerichtete Form ersetzt wurde, und sich die Bemühungen der Ideologen mehr und mehr von der Erforschung des Erkenntnismechanismus auf
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101
) Thomas Reid: Works. Bd. 1, S. 3 6 5 - 3 6 6 .
102
) Thomas Reid: Works. Bd. 1, S. 279, 291, 373, 183 Anmerkungen.
den Erkenntniswert der Begriffe verlegten, wurde die noch von Reid in unmittelbarer Nachbarschaft angenommene Differenz zwischen vorgestellten und wahrgenommenen Objekten einerseits und sinnlicher und nichtsinnlicher Gegebenheit andererseits auf zwei völlig getrennte Problemkreise verteilt. Das erste Verhältnis verlor mehr und mehr seinen Boden in der Philosophie und ging ganz in die Forschung der theoretischen Medizin über, wo es in den gehirnphysiologischen Abhandlungen eine große Rolle spielt. Selbst die Positivisten haben es von hier aus nicht mehr in die Philosophie zurückgerufen. Die Frage nach dem Rechtsgrund einer Erkenntnis hat sich im 19. Jahrhundert mit solcher Intensität gestellt, daß auch die Positivisten hier die Intentionen der Ideologen nicht mehr weiterzuführen gedachten. Anders die Differenz zwischen sinnlicher und nichtsinnlicher Erkenntnis. Je mehr nämlich das stillschweigend übernommene Fundament der Begriffspyramide, repräsentiert durch die These des sensuellen Ursprungs aller Begriffe, durch die speziellen Untersuchungen Maine de Birans, Royer-Collards, Laromiguieres, de Gerandos zersetzt wurde, um so stärker traten die Erscheinungen in das aktuelle Interesse der Philosophie, die einen realen Wahrnehmungsbezug des Menschen zu nicht sinnlichen Gegebenheiten vermuten lassen. Hieraus entstand eine Problematik der Bestimmung des Verhältnisses von Sinnlichkeit und einer unsinnlichen Schau in dem Akt der Wahrnehmung. Damit wird das Problem des Verhältnisses von Perzeption und Konzeption in einer völlig neuen Weise wieder opportun. Den entscheidenden Impuls erhielt die Entwicklung der Differenz zwischen Perzeption und Konzeption bei V. Cousin. Von seinen drei Lehrern hat nur Royer-Collard einen erwähnenswerten Schritt auf diese das ganze Denken der Spiritualisten bestimmende Teilung unternommen. Dabei jedoch blieb sein Sprachgebrauch nicht weniger schwankend als der Reids 103 ). Wie dieser bemüht auch er den Begriffsgegensatz von Konzeption und Perzeption, um sowohl die Differenz zwischen Denken und Sein, als auch um die zwischen Sinnlichem und Außersinnlichem im Erkenntnisakt zu bezeichnen. .Seine grundlegende Weiterentwicklung dieses Begriffspaares liegt jedoch nicht in seiner allgemeinen Wahrnehmungstheorie, in der er ein wesentlicher Urheber der im 19. Jahrhundert viel vertretenen extremen antisensuellen Wahrnehmungstheorie im Stile Malebranches ist 104 ), als in der speziellen Untersuchung der Strukturen von Raum und Zeit. Man kann der Raum-Zeit-Analyse von Royer-Collard ihre Originalität absprechen. Sie treibt vordergründig nicht über die Bahnen hinaus, in die Leibniz und Kant die Diskussion gelenkt haben. Das Entschei103
) Pierre Paul Royer Collard: Discours. S. 3.
104
) Vgl. Brief Hippolyte Taines vom 7. Juni 1852 an Adolphe Garnier. Correspondance. Bd. 1, S. 2 6 0 - 2 6 4 .
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den de jedoch für das französische Denken des 19. Jahrhunderts ist nicht die Frage der Originalität dieser Betrachtungen, sondern das Phänomen des Zusammenfassens der verschiedenen Analysen zu einer Theorie des Raumes, die dem allgemeinen Bedürfnis der spiritualistischen Philosophie nach einer reinen Erfahrungsphilosophie entsprach. Das rückt die Diskussion von vornherein aus dem Kantischen Rahmen heraus und stellt die Frage nach dem Ursprung des Raum- und Zeitbegriffes in einer Weise, die für die spiritualistische Philosophie entscheidend wurde. An die Position Clarkes in seiner Diskussion mit Leibniz anknüpfend, erhärtet Royer-Collard gegen Leibniz die Realität des Raumes, um damit zugleich gegen die Schotten und gegen Kant seine empirische Struktur zu behaupten 105 ). Da ihm nun Kant weiterhin das Argument gegen eine Abstraktionstheorie des Raumes aus der sinnlichen Erfahrung liefert 106 ), kann er den Raum als eine reale, unmittelbar erfahrene Gegebenheit aufweisen, die darüber hinaus noch im Gegensatz zu den sinnlichen Gegebenheiten allgemein ist. Royer-Collard verwendet für diese Form der unmittelbaren Erfahrung einer allgemeinen Realität noch nicht den Begriff Konzeption. Erst Victor Cousin benutzt ihn in diesem Sinn in seiner Vorlesung „Du vrai, du beau et du bien" von 1817/18. „En effet, quand nous affirmons la vérité des principes absolus, nous ne croyons pas qu'ils ne soient vrais que relativement à nous: nous les croyons vrais en eux-mêmes, et vrais encore quand notre intelligence ne serait plus là. pour les concevoir 107 )." Cousin nahm die Problematik nicht nur in dem von Royer-Collard umrissenen Rahmen einer Untersuchung der Strukturen des Raumes und der Zeit auf. Es konnte für ihn nicht nur darum gehen, einige Fakten über das allgemeine Begriffsschema, das von der Perzeption durch die Abstraktion zum Konzept zu gelangen trachtete, hinauszuschieben. Er mußte das gesamte Verhältnis von einzelner Wahrnehmung und allgemeinem Begriff neu bestimmen, wenn er jemals die Sicherheit haben wollte, trotz des Ansatzes bei einer reinen Erfahrungsphilosophie den Konsequenzen des Sensualismus zu entgehen. Die Cousinsche Lösung ist durch zwei extreme Positionen bestimmt, von denen Cousin sich in gleicher Weise abzusetzen trachtete. Einerseits galt es, der These der Sensualisten zu entgehen, die alle Begriffe auf abstrakte Sensationen zurückführen wollte. Die Entwicklung der Philosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hat Cousin so sehr die Konsequenzen sowohl einer Einschränkung der Philosophie auf eine Ideologie, wie des Verlustes der metaphysischen Fragestellung überhaupt, ja selbst jedes ontologischen Ansatzes gezeigt, daß er, erfüllt von dem metaphysischen Bewußtsein des deutschen Idealismus, nicht hierin 105 ) Bd. 4, 106 ) 107 )
58
Pierre Paul Royer Collard: Fragments, in Thomas Reid: Oeuvres complètes. S. 356. Pierre Paul Royer Collard: Fragments. S. 436. Victor Cousin: Cours de l'histoire de la philosophie moderne. Ser. X, Bd. 2, S. 68.
eine ernste Gefahr für die Philosophie gesehen hätte. Auf der anderen Seite aber drohte für ihn ein Piatonismus, der den Begriffen jede Erfahrensbasis entzog und sie zu reinen Ideae innatae machte, und so Gefahr lief, jeden Konnex mit den empirischen Frageweisen zu verlieren. Durchaus von der These des empirischen Fundamentes der Philosophie überzeugt, schien für Cousin der Platonismus der Keim einer von den wirklichen Belangen der Philosophie fortführenden Spekulation 108 ). Unter Berufung auf das Aristotelische Argument der Weltverdoppelung durch eine Ideenlehre im Sinne Piatons trat er so für eine empirische Begründung der allgemeinen Begriffe ein. In dieser Spannung zwischen Sensualismus und Platonismus wählte Cousin die Lösung einer Zerlegung des Erkenntnisaktes in eine zweifache Erfahrung. Einerseits erfaßt das Bewußtsein mittels der Perzeption das sinnlich gegebene Einzelne als ein Akzidentelles. Zum anderen erfährt das Bewußtsein gleichzeitig und ohne Vermittlung durch die Perzeption das Allgemeine als ein Essentielles in dem ebenfalls rezeptiven Akt der Konzeption. Damit ist aus dem Begriff die von den Schotten ursprünglich in ihn verlegte geistige Aktivität wieder völlig elidiert. Die Konzeption ist für Cousin in gleicher Weise ein Vorgang schlichter Erfahrung wie die Perzeption. Diese Theorie der Wahrnehmung überschreitet bei weitem die Position des deutschen Idealismus, der in der Theorie der intellektuellen Anschauung einen der Konzeption aequivalenten Begriff entwickelt hat. Denn während die intellektuelle Anschauung auf die innere Erfahrung des Bewußtseins eingeschränkt bleibt 109 ) und sich so auf eine Sphäre beschränkt, die von der Perzeption sowieso nicht berührt wird, trägt Cousin die Konzeption in den eigentlichen Bereich der sinnlichen Wahrnehmung hinein und spaltet den ursprünglich einheitlich angenommenen Erfahrunigsakt in zwei völlig heterogene Komponenten 110 ). los ) Cousin bemühte sich stets, Platón von einem Platonismus zu reinigen. Vgl. die Vorworte zu den Piatonübersetzungen und Cours de l'histoire de la philosophie moderne. Ser. 1, Bd. 2, S. 37. io») Vgl. Schelling: System des transzendentalen Idealismus. S. 51. Fichte: System der Sittenlehre. S. 50. 110 ) Am weitesten kommt Cousin noch der intellektuellen Anschauung Friedrich Heinrieh Jacobis entgegen, der — die Kanttradition des Sprachgebrauchs aufgreifend (Kritik der reinen Vernunft A 279 ff.) — über diese Wahrnehmungsart zu einer Erfassung des Unsinnlichen schreiten will (vgl. Werke, Bd. 2, S. 59). Cousin hat auf seiner ersten Deutschlandreise lebhaften Konnex mit Jacobi und seinen Schülern — vor allem Bouterweck — gehabt. (Vgl. Proménade philosophique e n Allemagne. Revue des deux mondes. 1857, und Souvenirs d'un voyage en Allemagne. Revue des deux mondes. 1866). Die Wirkung Jacobischer Gedankengänge in Frankreich geht wesentlich auf Cousin zurück, wenn er sich auch betont von Jacobis Mystizismus distanziert. (Vgl. Cours de philosophie, ed. Garnier. S. 103 ff.) Vor allem ist seine Stellung zu Kant durch die Nachbarschaft zu Jacobi bestimmt. Der Vorwurf der allzu großen Einschränkung der Erfahrung dedst sich mit dem Einwand Jacobis. Von hier aus wird die Argumentation vom gesamten Spiritualismus bis auf Bergson übernommen. (Vgl. vor allem: Emile Saisset: Le seepticisme, Aenésidéme, Pascal, Kant. Emile Maurial: Le scepticisme combattu dans ses principes.)
5
Pflug, Henri Beigson
59
Die Brücke dieser Theorie der Wahrnehmung von Cousin zu Bergson ist durch den allgemeinen philosophischen Geist des Spiritualismus im 19. Jahrhundert gegeben. Die von Cousin angeschnittenen Probleme blieben mit ihren Lösungen allgemeines philosophisches Gut durch das ganze Jahrhundert hindurch. Ob Bergson Cousin selbst gelesen hat, läßt sich bei dem fast völligen Fehlen von philosophischen Zitaten in Bergsons Werken kaum feststellen. Die wenigen Stellen über Cousin in der Rede auf Ravaisson 1 1 1 ) geben wenig Aufschluß über seine Stellung zur Cousinschen Philosophie. Sie zeigen die allgemeine Haltung der Generation zu Cousin, die nicht von großer Bewunderung getragen war 1 1 2 ), und treten auch nirgends in eine spezielle Diskussion ein. Eine direkte Vermittlung läßt sich jedoch über die Linie Garnier-Paul Janet vermuten. Den letzteren hat Bergson als Professor an der Sorbonne während seiner Studienzeit gehört und intensiv verfolgt, wie die Rezension der Principes de Métaphysique et de Psychologie in der Revue philosophique beweist. Jedoch bietet auch diese Brücke nur wenig Anhaltspunkte für eine Interpretation des Begriffs der Konzeption in den „Données immédiates". Denn Garnier greift in eben dem Maße auf Reid zurück, wie er sich an Cousin anlehnt. Schon die Einführung der Perzeption-KonzeptionsDifferenz geschieht unter ausdrücklicher Berufung auf Reid. „Reid a fait très-bien comprendre la nature de la conception 113 )." Und selbst die Worte des Tadels an Reid 114 ) verändern nichts an der Grundhaltung, die Konzeption als eine Fähigkeit des Geistes zu verstehen. Damit entfernt sich Garnier aber wieder von der Linie, auf die Cousin die Differenz festgelegt hatte und nähert sich dem schottischen Sprachgebrauch. Während so Cousin unter dem Begriff der Konzeption die Erkenntnis aller Begriffe faßt, die eine allgemeine Form haben, beschränkt sich Garnier im Verfolgen der schottischen Intentionen auf eine Bezeichnung der rein rational gebildeten Begriffe 1 1 5 ). Dennoch kann man Garnier nicht völlig auf die Linie der Schotten festlegen. Denn die Differenz zwischen Perzeption und Konzeption ist nicht lediglich die Differenz zwischen Wahrnehmung und Vorstellung. „L'enfant aperçoit le reflet de la lune dans l'eau, il croit qu'un corps solide existe sous cette lumière, et il demande qu'on le lui donne, mais iî ne le perçoit pas. La perception n'est donc pas la conception d'un ) Pensée et mouvant. S. 283, 290, 2 9 8 - 3 0 0 . ) Vgl. Paul Janet: Victor Cousin et son oeuvre. S. 57. m ) Adolphe Garnier: Traité das facultés de l'âme. Bd. 2, S. 165. U 4 ) Adolphe Garnier: Critique de la philosophie de Thomas Reid. S. 15, 24. Traité des facultés de l'âme. Bd. 3, S. 259. ln m
1 1 5 ) Die Differenzen zwischen Cousin und Garnier zeigen sich deutlich bei der Interpretation der Naturgesetze. Während Cousin die Naturgesetze f ü r notwendige Gesetze hält, die er zu den Konzeptionen des Bewußtseins rechnet, faßt Garnier sie mit Reid
60
objet accompagné de la croyance à la présence actuelle de cet objet 116 ). " Vielmehr übernimmt Garnier zugleich mit dem Konzeptionsbegriff die Cousinsche Scheidung von Allgemeinem und Speziellem, von Essentiellem und Akzidentellem. Der Unterschied zu Cousin beschränkt sich also nur auf die Form des Erfassens des Wesens. In der Cousinschen Auffassung rein empirisch, ist sie bei Garnier — bestimmt durch die Restriktion des philosophischen Interesses auf eine Anthropologie durch Jouffroy und durch die damit verbundene Anknüpfung bei der Biranschen Intuition — ausdrücklich apriorisch, in dem Sinne, In dem die Schotten den common sense konstituierten. Damit aber nimmt die Konzeption bei Garnier eine der intellektuellen Anschauung der deutschen Idealisten verwandte Form an. Beschränkt auf die Erfassung der allgemeinen und zugleich reinen Begriffe bezeichnet sie eine Form der transzendentalen Aktivität des Bewußtseins. Die Umreißung der Bedeutung des Konzeptionsbegriffes in der französischen Philosophie des 19. Jahrhunderts kann nicht abgeschlossen werden, ohne die dem spiritualistischen Sprachgebrauch völlig entgegengesetzte Bedeutung hervorzuheben, die der Begriff bei Taine hat. In der „Intelligence" umreißt er den Akt des Erkennens: „II reste alors pour constituer la perception d'un corps, d'abord une sensation actuelle, et un groupe associé d'images, ensuite la conception, c'est-à-dire l'extraction et la notation au moyen d'un signe, d'un caractère commun à toutes les sensations représentées par ces images . ." 117 ). Während also bei Reid die Konzeption das der Perzeption übergeordnete Erfahrungsprinzip ist, dreht Taine dieses Verhältnis um und ordnet die Konzeption der Perzeption unter. Das bedeutet einerseits, daß Taine die Differenz von Konzeption und Perzeption in der Spannung von geistiger Rezeptivität und geistiger Aktivität sehen will. Ihm geht es in der „Intelligence" weniger um die repräsentativen Fähigkeiten des Geistes als um eine Analyse des Vorgangs der Erfahrung. Dabei ist seine Theorie durch den sensuellen Ausgangspunkt seiner Untersuchung bestimmt. Insofern ist er gezwungen, die Konzeption der Perzeption unterzuordnen. Das bedingt aber andererseits das Wiederaufleben des alten Begriffsschematismus eines pyramidenförmigen Aufbaus der Begriffe. Gestützt wesentlich auf die Analysen der englischen Empiristen Mill und Bain, glaubt Taine wieder den abstraktiven Charakter aller allgemeinen Beals bloße Verallgemeinerungen der sinnlichen Erfahrung auf, die sich durch den Glauben an die Stabilität der Phänomene und an die Möglichkeit der Generalisierung bilden. Die Naturgesetze werden so bei Garnier echt englisch als Induktionen angesehen, während sie für Cousin Wesensbestimmungen der Natur sind. Vgl. Victor Cousin: Cours de l'histoire de la; philosophie. Ser. 1, Bd. 2, S. 35; Adolphe Garnier: Traité des facultés de l'âme. Bd. 3, S. 121. U6
) Adolphe Garnier: Traité des facultés de l'âme. Bd. 2, S. 28.
" ' ) Hippolyte Taine: Intelligence. Bd. 2, S. 121.
5«
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griffe wie Raum und Zeit bewiesen. Er übernimmt in der „Intelligence" in diesem Punkte thematisch die Untersuchungen der Engländer 118 ). In einem so gebauten System wird die Konzeption zu einem Akt des Geistes, aber im Gegensatz zu Garnier nicht des transzendentalen, sondern des durch die Sinnlichkeit in Tätigkeit gesetzten Geistes. Die Konzeption ist die Mobilisierung einer Erfahrung in abstrakter Form, um das sinnlich Gegebene auf bequeme Weise in die durch die Erfahrung bereitstehenden Formen gießen zu können. „Par conséquent, ma conception de la substance n'est qu'un résumé; elle équivaut à la somme des conceptions composantes, comme un nombre à la somme de unités composantes, comme un signe abréviatif aux choses qu'il abrège et signifie" 119 ). Die Interpretation des Bergsonschen Gebrauchs des Konzeptionsbegriffs bleibt in der Spannung dieser Möglichkeiten zwischen einer reinen Rezeptionsthese, wie sie Cousin vertreten hat und der reinen Konstruktionstheorie Taines. Die philosophische Haltung der „Données immédiates" begünstigt keine Interpretation dieses Begriffs aus einer Schultradition heraus. Bergson ist Taine nicht stärker verpflichtet als Cousin oder Garnier. Er bildet seine Begriffe weniger in Anlehnung an einen Denker als vielmehr in dem Fluß des allgemeinen Sprachgebrauchs. Das erschwert eine Bestimmung des Bergsonschen Konzeptionsbegriffs nicht unerheblich. Das Kernstück seiner Bestimmung des Verhältnisses von Konzeption und Perzeption zeigt eine ausgesprochene Tendenz auf die Tainesche Begriffsfassung hin. „II faudrait donc distinguer entre la perception de l'étendue et la conception de l'espace: elles sont sans doute impliquées l'une dans l'autre . . , 120 )" Zwar gibt Bergson nicht an, wie er sich dieses Verhältnis der Implikation denkt, doch zeigt schon der nächste Satz deutlich, daß er die Perzeption als das umfassendere verstanden wissen will. Das aber ist die Bestimmung Taines. Von hier aus interpretiert sich die Konzeption als die aktive Komponente der Perzeption. In diesem Sinne scheint Bergson von der „activité de l'esprit" und einem „effort de l'intelligence" 121 ) zu sprechen. Zweierlei jedoch rückt von dieser Interpretation des Konzeptionsbegriffs auf den Taineschen Gebrauch hin ab. Erstens verbindet Bergson ihn ausdrücklich mit dem Intuitionsbegriff: zuerst zaghaft mit einem zwischengeschobenen „ou plutôt" 122 ), schließlich thematisch 123 ). Das schließt eine Interpretation des Begriffs auf eine sensualistische Begriffsus
) Hippolyte Taine: Intelligence. Bd. 1, S. 56 ff.
119
) Hippolyte Taine: Intelligence. Bd. 2, S. 77.
120
) Données immédiates. S. 72.
m
)
122 m
62
Données immédiates. S. 72.
) Données immédiates. S. 72.
)
Données immédiates. S. 74, 104.
pyramide hin aus. Als zweites kommt die ausdrückliche Absetzung von der Abstraktion als der die allgemeine Räumlichkeit konstituierenden Geistestätigkeit hinzu. „Cette faculté n'est point celle d'abstraire: même, si l'on remarque que l'abstraction suppose des distinctions nettement tranchées et une espèce d'extériorité des concepts ou de leurs symboles les uns par rapport aux autres, on trouvera que la faculté d'abstraire implique déjà l'intuition d'un milieu homogène" 124 ). Bergson läßt das Verhältnis von Konzeption und Intuition völlig im Dunkel. Die beiden fast gleichlautenden Wortgruppen „la conception d'un milieu vide homogène"125) und „l'intuition d'un milieu homogène" 126 ) bestärken die Vermutung einer Identität des Sprachgebrauchs zum mindesten in dem hier in Frage stehenden Bereich. Hingegen hebt das „ou plutôt" 127 ) deutlich einen Unterschied heraus, der aber nicht näher umrissen wird und an späteren Stellen wieder völlig verschwindet. Der Versuch, diese Differenz der Begriffe der Intuition und der Konzeption von dem Gebrauch des Intuitionsbegriffs her interpretieren zu wollen, den Bergson seit der „Introduction à la métaphysique" zu einem zentralen Thema seiner Metaphysik macht, würde dem Intuitionsbegriff in den „Données immédiates" eine zu entscheidende Rolle zuteilen. An nur wenigen Stellen mit schwankender Bedeutung gebraucht 128 ), hat er sehr wenig von einem dem Bergsonschen Denken charakteristischen Begriff, sehr viel jedoch von einem der Tradition entstammenden Sprachgebrauch an sich. Eine vorsichtige Sichtung des Zitats S. 72 zeigt jedoch, daß Bergson hier zweifelsohne an eine Differenz gedacht hat, die sich mit den Worten seines Lehrers Lachelier in folgender Weise darstellen ließe. ,,L' idée de l'intuition comme donnant immédiatement le réel de quelque nature qu'il soit, par opposition aiu concept, sorte de substitut mental du réel, qui prétend y correspondre, mais qui peut fort bien ne pas y correspondre — cette idée (entièrement due, ce me semble, à Kant) est d'une extrême importance pour la philosophie et mérite qu'on réserve exclusivement pour l'exprimer le mot intuition" 129 ). Damit wäre eine eindeutige Bestimmung des Verhältnisses der geistigen Aktivität in der Konzeption gegeben, und zugleich von diesem Punkt aus die Trennung von Konzeption und Intuition erreicht. Dennoch ist auch dieser Sprachgebrauch von Bergson nicht eindeutig eingehalten worden. Zweifellos gebraucht er den Intuitionsbegriff ebenfalls in der Bedeutung einer aktiven Setzung des Geistes. So schreibt er 124
) Données immédiates. S. 73—74.
125
) Données immédiates. S. 72.
126
) Données immédiates. S. 74.
12
') Données immédiates. S. 72.
128
) Données immédiates. S. 58, 72, 74, 86, 104.
129
) Vocabulaire technique et critique de la philosophie. Bd. 1, S. 401.
63
über die Zahl: „Tout nombre est un, en effet, puisqu' on se le représente par une intuition simple de l'esprit et qu'on lui donne un nom 1 3 0 )." Damit aber wird die Lacheliersche Unterscheidung zwischen Konzeption und Intuition wieder aufgehoben. Die beiden Begriffe fließen ineinander. Ohne hier schon in eine spezielle Diskussion des Intuitionsbegriffs bei Bergson eintreten zu wollen, läßt sich aus den wenigen Stellen, an denen Bergson in den „Données immédiates" von einer Konzeption spricht, für das Verhältnis von Konzeption und Perzeption zweierlei herausstellen; einerseits, daß die Konzeption nicht wie bei Taine eine sekundäre Leistung des Bewußtseins über ein perzeptiv Gegebenes ist, sondern wie die Perzeption eine ursprüngliche und selbständige Form der Erfahrung. Zum anderen, daß die Konzeption keine reine Konstruktion des Geistes, sondern wie die Perzeption eine Form der schlichten Aufnahme einer Gegebenheit ist. Wenn Bergson also von einer Konzeption eines homogenen Mediums spricht, so wird damit weitgehend ein Wahrnehmungsakt einer realen Gegebenheit bezeichnet. Diese Interpretation des Konzeptionsbegriffs, die zweifellos die beiden Stellen des „ou plutôt" und der „activité de l'esprit" nicht voll mitumfassen kann, findet jedoch eine weitere Stütze in den Stellen, an denen Bergson von der Realität des Raumes spricht. „Ce qu'il faut dire, c'est que nous connaissons deux réalités d'ordre différent, l'une hétérogène, celle des qualités sensibles, l'autre homogène, qui est l'espace. Cette dernière, nettement conçue par l'intelligence humaine, nous met à même d'opérer des distinctions tranchées . . , 1 3 1 ) " . Hier spricht Bergson deutlich von einer Realität, die durch das Bewußtsein konzipiert wird, und die dieser Formulierung zugrunde liegende Vorstellung ist zweifelsohne die einer doppelten Erfahrung zweier verschiedener Realitäten. Bekräftigt wird diese Stelle weiter durch Ausdrücke wie „ces deux réalités" 1 3 2 ) oder „une réalité aussi solide que ces sensations mêmes" 1 3 3 ), eine Ansicht, die er Kant zuschreibt und die er „nicht ernstlich bestritten" glaubt. Diese Theorie der Konzeption des Raumes erlaubt es nun, die These Bergsons von der Verfälschung der psychologischen Objekte durch die positivistischen Psychologen näher zu erläutern. Im folgenden sei unter einer transzendentalen Aktivität eine Leistung des Bewußtseins verstanden, die eine Erkenntnis überhaupt erst möglich macht, während eine empirische Aktivität eine solche sein möge, die das Bewußtsein über einer Erkenntnis ausübt, um sie für ein spezielles Ziel — etwa der Wissenschaft oder der Praxis — nutzbar zu machen. 13
64
°) Données immédiates. S. 57—58.
lsl
) Données immédiates. S. 7 4 .
152
) Données immédiates. S. 83.
133
) Données immédiates. S. 70.
An dieser Scheidung gemessen wird die Garniersche Konzeption eine transzendentale Leistung des Bewußtseins, die Tainesche eine empirische. Denn der Akt der einzelnen Erfahrung ist f ü r Taine bereits mit der Sensation abgeschlossen. Das Verallgemeinern dieser Sensation kann der Erfahrung nichts mehr hinzufügen. Die entgegengesetzte Annahme müßte nämlich den abstraktesten Begriff zugleich f ü r den erfahrungsgeladensten erklären, da er am meisten von den Konstitutionsprinzipien einer Erfahrung überhaupt enthielte. Im Gegenteil aber faßt die positivistische Schule ihn als den ärmsten, weil am weitesten entleerten unter allen Begriffen auf. Damit aber wird die Begrifflichkeit zu einer Verarbeitung der Erfahrung, nicht mehr zur E r f a h r u n g selbst. Dieses Schema liefert das Fundament f ü r die Umreißung der geistigen Aktivität im Wahrnehmungsakt bei Bergson. Er selbst parallelisiert die Konzeption des Raumes mit der Kantischen Theorie der transzendentalen Idealität. „Pour que l'espace naisse de leur coexistence, il faut un acte de l'esprit qui les embrasse toutes à la fois et les juxtapose; cet acte sui generis ressemble assez à ce que Kant appelait une forme a priori de la sensibilité 134 )." In Wirklichkeit jedoch ist die Fragestellung Bergsons eine andere als die Kants. In der historischen Umreißung der Raumforschung Wundts, Lotzes, Bains charakterisiert er zugleich seine eigene Position. „Les explications empiristiques ou génétiques ont donc bien repris le problème de l'espace au point précis où Kant l'avait laissé: Kant a détaché l'espace de son contenu; les empiristes cherchent comment ce contenu, isolé de l'espace par notre pensée, arriverait à y reprendre place 135 )." Damit ist der erste Punkt der transzendentalen Aktivität von Bergson umrissen. Die Fragestellung Bergsons ist also nicht zentral auf die ontologische Bestimmung des Raumes gerichtet. Er hat ihn bereits als absolut real angenommen und sich dadurch grundsätzlich von Kant geschieden. Die Frage f ü r ihn ist vielmehr, wie die einzelnen Empfindungen, die an sich unräumlich sind, in dem Raum lokalisiert werden können. Dieses Problem aber drückt sich in der perzeptiv-konzeptiven Differenz in folgender Weise aus: Die Konzeption liefert die E r f a h r u n g eines homogenen Mediums, die Perzeption liefert eine Fülle von nicht ausgedehnten Empfindungen. Wie ist es also möglich, daß die beiden völlig heterogenen Erfahrungsvorgänge in einem Akt der Erkenntnis vereinigt werden können? „Mais comment expliquer une pareille genèse sans une intervention active de l'esprit 1 3 6 )"? Die transzendentale Aktivität des Geistes ist also die Koordinierung einer konzeptiven und einer perzeptiven Erfahrung. Ohne diese Leistung der Synthese wäre eine außenweltliche Erkenntnis nicht möglich. 134
) Données immédiates. S. 71.
135
) Données immédiates. S. 71.
136
) Données immédiates. S. 71.
65
Damit ist aber der Raum dem Bewußtsein zugleich in einer doppelten Weise gegeben. Einerseits wird er in einer Konzeption als ein homogenes Medium erfahren, zum anderen wird er als Raumlage der perzipierten Gegenstände in der Perzeption mitgeliefert, und hier zwar gemäß der Struktur der perzeptiven Empfindungen in der Form von heterogenen Qualitäten. Die Koordination ist also die Abstimmung der perzeptiven und der konzeptiven Rajumerfahrung aufeinander. Insofern ist sie transzendental, als gewisse Qualitäten überhaupt erst in einer Erfahrung erfaßt werden können, wenn sie in das homogene Medium des konzeptierten Raumes umgebettet werden. Mit dieser Lösung setzt sich Bergson von den beiden Versuchen der Erklärung der Raumerfahrung ab, die ihm historisch in der Kantnachfolge überliefert worden sind. Einerseits wirft er dem Versuch der Idealisten, die Raumerfahrung auf die Konstruktion des reinen Raumes zurückzuführen, vor, daß eine solche Theorie nicht in der Lage ist zu erklären, warum das Bewußtsein die völlig unräumlichen Qualitäten der perzeptierten Gegenstände in das konstruierte räumliche Schema einzuordnen imstande ist. „Dira-t-on, avec les partisans de la théorie des signes locaux, que des sensations simultanées ne sont jamais identiques, et que, par suite de la diversité des éléments organiques qu'ils influencent, il n'y a pas deux points d'une surface homogène qui produisent sur la vue ou sur le toucher la même impression? Nous l'accorderons sans peine, car si ces deux points nous affectaient de la même manière, il n'y aurait aucune raison pour placer l'un d'eux à droite plutôt qu'à gauche137). " Zum anderen wendet er sich gegen die Empiristen, die den Begriff des homogenen Raumes aus einer Abstraktion der perzipierten räumlichen Qualitäten zu erklären dachten. Ihnen hält er vor, daß eine Menge unausgedehnter heterogener Empfindungen allein niemals die Vorstellung eines homogenen Raumes erzeugen können. „Ainsi, des sensations inextensives resteront ce qu'elles sont, sensations inextensives, si rien ne s'y ajoute 138 )." Von diesem Raumbegriff aus gewinnt Bergson sein Argument gegen die positivistische Psychologie. Ausgehend von der Tatsache, daß die Verräumlichung einer Empfindung ihrer Einordnung in ein homogenes Medium entspricht, kehrt Bergson den Gedanken um, und versucht aus der Homogenisierung einer Empfindungsfolge zugleich ihre Verräumlichung abzuleiten. „Or, si l'espace doit se définir l'homogène, il semble qu'inversement tout milieu homogène et indéfini sera espace. Car l'homogénéité consistant ici dans l'absence de toute qualité, on ne voit pas 13
~) Données immédiates. S. 72.
138
66
) Données immédiates. S. 71.
comment deux formes de l'homogène se distingueraient l'une de l'autre 139 )." Dieser Umkehrschluß beruht darauf, daß Bergson Räumlichkeit und Homogenität als eindeutig einander zugeordnete Begriffe betrachtet. De facto jedoch wurde ihm diese Relation lediglich in einer Analyse der empirischen Fakten geliefert. Bergson hilft dem Schluß dadurch nach, daß er das empirisch konstatierte Verhältnis ins Logische transponiert. Er spricht von einer Definition, wo es sich um eine Phänomenbeschreibung handelt. Das läßt die Relation von Räumlichkeit und Homogenität intimer erscheinen als sie wirklich ist. Dadurch gelingt es Bergson, den Zeitbegriff des sens commun, der seit Kant als eine zweite Form der Homogenität neben den Raum gestellt wurde — ohne daß es dabei zur Frage der Unterscheidbarkeit überhaupt gekommen wäre —, als eine Verräumlichung einer ursprünglichen unhomogenen Zeiterfahrung zu charakterisieren. Die Grenzen dieser Zerschlagung des wissenschaftlichen Zeitbegriffs in eine Komponente der reinen Dauer und eine Verräumlichung durch die Bildung einer homogenen Zeit werden sich in der Diskussion um die Zeitkomponente in den Lorentzformeln mit Langevin und Einstein zeigen. Hier wird erneut die Frage der Zeit als homogene Form außenweltlicher Erfahrung auftreten. In Hinblick auf die Auseinandersetzung mit Einstein muß schon festgestellt werden, daß die Identität von Raum und Homogenität in den „Données immédites" zwar aufgestellt aber nur unvollständig begründet ist. Für die Frage der Tragfähigkeit der positivistischen Psychologie und damit für das Grundanliegen Bergsons in den „Données immédiates" ist die Konsequenz des Verhältnisses von Räumlichkeit und Homogenität jedoch nur von untergeordneter Bedeutung. Bergson kehrt bald wieder von der logischen Erörterung zur Phänomenanalyse zurück. Es geht ihm vordringlich nicht darum, die logische Unmöglichkeit eines homogenen Zeitbegriff als vielmehr die Heterogenität der psychischen Zeiterfahrung darzutun. Die wesentliche Erörterung dreht sich um die Widerlegung der Homogenität der psychischen Zeit. Bergson greift sein zentrales Beispiel aus dem Bereich der Erfahrung eines musikalischen Phänomens. „La preuve en est que si nous rompons la mesure en insistant plus que de raison sur une note de la mélodie, ce n'est pas sa longueur exagérée, en tant que longueur, qui nous avertira de notre faute, mais le changement qualitatif apporté par là à l'ensemble de la phrase musicale 140 )." Das heißt, in die Fachsprache der Spiritualisten zurückgeholt, daß die Veränderung der Zeitposition der einzelnen perzipierten Phänomene nicht nur eine Veränderung des Phänomens in der Zeit, sondern eine qualitative Veränderung der Struktur seiner Zeitlich139 14
) Données immédiates. S. 74.
°) Données immédiates. S. 76.
67
keit überhaupt nach sich zöge. Welche Relation also ein Körper zum Raum einnimmt, ist f ü r ihn in seinem Wesen relativ unbedeutend. Die Relation zur Zeit jedoch beeinflußt die Wesensbestimmung eines Phänomens in viel ausdrücklicherem Maße. Die reine Form der Zeitlichkeit bleibt zwar in der Sukzessionsfolge erhalten, doch ist die Zeitlichkeit nicht auf diese Sukzession eingeschränkt, wie etwa der Raum auf die Homogenität. So ist die Zeitlichkeit enger mit dem Wesen eines zeitlichen Phänomens verbunden als der Raum. Das ist natürlich indirekt eine Absage an die Cartesische Definition der außenweltlichen Substanzen, deren Wesenheit gerade in ihrer Räumlichkeit lag. Jedoch tritt diese Konsequenz in den „Données immédiates" noch nicht in den Vordergrund. Festzuhalten bleibt dennoch, daß Bergson schon hier eine Form der Wesenserkenntnis über die Zeitlichkeit eröffnet, die sich in betontem Gegensatz zum positivistischen Wissenschaftsbegriff entwickelt. Die Durchbildung dieses Gedankens bis zum Intuitionsbegriff in der „Introduction à la métaphysique" ist nur eine konsequente Folge dieses ersten Ansatzes. Nachdem Bergson die psychische Zeit vom Raumbegriff und damit von Jeder Vorstellung der Homogenität restlos abgelöst hat, folgt die Widerlegung der positivistischen Psychologen fast von selbst. Indem die Emotionen, Affektionen, Vorstellungen etc. wie Gegenstände im Raum liegen, exteriorisieren sie die psychischen Zustände, d. h. sie tragen an die Gegebenheiten der inneren E r f a h r u n g eine Raumkonzeption heran, die nicht real erfahren, sondern auf Grund eines konstruierten Zeitbegriffs hinzugedacht wird. Damit aber begeht die positivistische Psychologie eine doppelte Verfälschung. Die Diskussion über den Raum hatte die Wahrnehmung des Raumes in zwei Komponenten aufgelöst: in eine Konzeption des homogenen Mediums und in eine Perception der Raumlagen. Damit also ein Gegenstand als ein räumlicher erkannt werden kann, ist eine dreifache Operation nötig: einerseits eine Konzeption der Homogenität, zum zweiten eine Perzeption der spezifischen Raumlage des perzipierten Gegenstandes und drittens eine geistige Aktivität, die die völlig differenten Erfahrungen der Perzeption und Konzeption in einen Zusammenhang bringt. Wenn nun die positivistische Psychologie die psychischen Erscheinungen in ein homogenes Medium einzubetten versucht, das sie Zeit nennt, das aber de facto eine derivierte Räumlichkeit ist, so ist sie gezwungen, die Konzeption der Homogenität, die ihr bei den psychischen Phänomenen nicht mitgeliefert wird, hinzuzukonstruieren. Sie bildet also eine Konzeption, d. h. aber eine Wahrnehmung, hinzu, die ihnen real nicht gegeben ist. Damit aber wird die transzendentale Aktivität des Bewußtseins, die bei der Wahrnehmung der Außenwelt durch die Koordinierung von Konzeption und Perzeption umrissen ist, durch die freie Erfindung eines nicht wirklich konzipierten Phänomens der 68
Homogenität durchbrochen. Die hier sich übende Aktivität des Geistes kann nicht mehr transzendental genannt werden. Es ist der empirische Akt des Bewußtseins von einer Erfahrungsgegebenheit, um sie gemäß einem vorgegebenen Schema der Wissenschaftlichkeit umzubilden, das wiederum seinen Ursprung in den praktischen Bedürfnissen des Lebens hat. „La tendance en vertu de laquelle nous nous figurons nettement cette extériorité des choses et cette homogénéité de leur milieu est la même qui nous porte à vivre en commun et à parler 1 4 1 )." Die Aktivität, die eine Konzeption der Homogenität zu den Gegebenheiten der schlichten psychischen Erfahrung hinzuerfindet, konstituiert nicht mehr bloß die Erfahrung, sondern bildet eine bereits fertig gegebene Erfahrung nach den Prinzipien eines utilitaristischen Sozialismus um. Jedoch ist diese Form der mutwilligen Ergänzung der Gegebenheit nicht die einzige Verfälschung, die die positivistische Psychologie an ihrem Objekt vornimmt. Denn indem sie die perzipierte psychische Erfahrung in ein homogenes Medium einordnet, bildet sie zugleich auch die Perzeption selbst um. Während nämlich die Räumlichkeit zugleich in der Konzeption eines homogenen Mediums und der Perzeption der speziellen Raumlagen gegeben ist, die es erst möglich macht, daß die perzipierten Gegebenheiten eindeutig in den Raum eingeordnet werden, müssen also auch hier gewisse perzeptiv erfahrene Qualitäten zwecks eindeutiger Einordnung der Gegebenheit in die Homogenität als Raumcharakteristica umgedeutet werden, obwohl sie wegen des völligen Fehlens jeder Raumbestimmung im Psychischen keinerlei Affinität zu diesen außenweltlichen Qualitäten haben. Denn damit die psychischen Phänomene überhaupt in ein homogenes Medium eingebettet werden können, müssen die perzeptiven Gegebenheiten Qualitätsbestimmungen enthalten, die eine konkrete Einordnung überhaupt erst möglich machen. Das aber bedingt die zweite Verfälschung der Gegebenheit durch ein den Naturwissenschaften entlehntes Wissenschaftsideal. Nicht nur, daß eine Konzeption eines homogenen Mediums zu den psychischen Perzeptionen hinzukonstruiert werden muß, auch die psychischen Perzeptionen selbst werden durch die Interpretation als Gegebenheiten in einem homogenen Medium dadurch verfälscht, daß man notwendig völlig beziehungslos gewisse perzeptiv gegebene Qualitäten als Ordnungsprinzipien für die Einordnung der psychischen Phänomene in das homogene Medium, d. h. aber letztlich als Lokalzeichen umdeuten muß. Die Annahme einer perzipierten Ordnung ist aber in eben dem Maße eine Verfälschung der schlichten Gegebenheiten wie die Konstruktion einer real nicht gegebenen Homogenität. „On ne saurait établir un ordre entre des termes sans les distinguer d'abord, sans comparer ensuite les places qu' ils occupent; on les aperçoit donc multiples, simultanés et distincts; en un mot, on les juxtapose, et si l'on établit un ordre dans le 141
) Données immédiates. S. 104.
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successif, c'est que la succession devient simultanéité et se projette dans l'espace 142 )." Damit ist die Position Bergsons gegenüber der positivistischen Psychologie umrissen. Der Vorwurf der rationalen Verfälschung läßt sich primär auf die Annahme eines Kausalismus in der Psychologie anwenden. Darüber hinaus trifft er die diese Annahme konstituierende Konstruktion eines Schemas, das von der Außenweltserfahrung entlehnt ist und das die Möglichkeit der Einfügung der perzeptiven Qualitäten in ein homogenes Medium auch für die Innenwelt hypostasiert, die überhaupt erst die Basis für die Meßbarkeit der Phänomene und damit für die Annahme eines Kausalismus ermöglicht. Mit dieser Widerlegung der Bedingungen für eine positivistische Psychologie ist das Verhältnis Bergsons zur Rationalität noch keineswegs umrissen. Die Ablehnung eines von den Naturwissenschaften bestimmten Wissenschaftsideals der Positivisten klärt zwar die prinzipielle Differenz zwischen Bergsons Vorstellung von der Kraft des Geistes im Erkenntnisakt und der der Positivisten, bestimmt jedoch nicht die endgültige Stellung der Rationalität in Bergsons Philosophie. Wenn Bergson von einer psychologischen Wissenschaft spricht, die er mehrfach und deutlich vom Sens commun abhebt, so ist sein Wissenschaftsideal — wenn auch vordergründig durch die These strenger Empirie bestimmt — doch nicht ohne die rationale Verarbeitung der schlichten Gegebenheit möglich. Das aber bedingt, daß die Scheidung zwischen positivistischer Psychologie und der von Bergson angeregten neuen Form der psychologischen Forschung nicht ausschließlich über die Trennung von transzendentaler und empirischer Aktivität möglich ist. Auch die neue Psychologie kann die empirische Aktivität nicht entbehren, um überhaupt zu einer Wissenschaft zu werden. Bergson selbst hat eine Umreißung der geistigen Aktivität in der neuen Psychologie niemals vorgenommen; die „Données immédiates" schränken das Thema ihrer Untersuchung zu sehr auf die Diskussion des Freiheitsbegriffes ein, als daß ihnen diese methodologische Fragestellung erwachsen könnte; die späteren Schriften jedoch schreiten soweit über die Position der „Données immédiates" hinaus in Richtung auf eine Metaphysik, daß sie die Frage der psychologischen Methode aus den Augen verlieren. Dennoch wird es sich zeigen, daß Bergson in ständiger Auseinandersetzung mit der Frage der wissenschaftlichen Aktivität gestanden hat. Bergson selbst hat die Forderungen wohl empfunden, die die Wissenschaftlichkeit in bezug auf eine Rationalität ihrer Methoden stellte. Er ist stets allen Behauptungen — sowohl seiner Schüler wie seiner Gegner — entgegengetreten, die von einem Antiintel142
70
) Données immédiates. S. 77.
lektualismus in seiner Philosophie sprachen 143 ). Dennoch hat er niemals eine Umreißung der Rationalität in der Wissenschaft gegeben, jedenfalls nicht thematisch. Auch hier liefert wiederum eine historische Betrachtung der Position der französischen Philosophie die Lösung in einer Frage, die von Bergson nicht unmittelbar angegriffen wurde. Die Methode der Philosophie ist in Frankreich seit dem Vorherrschen der empirischen Haltung von allen Denkern in der gleichen typischen Weise behandelt worden. Die große Bewegung des Abrückens von einer prinzipiellen Systematik, die historisch als Konsequenz des Versagens des Cartesischen Ansatzes entstand — vielleicht aber nur der Ausdruck einer typischen Haltung des französischen Geistes ist, der seine prägnanteste Formulierung in der Reaktion gegen die weiteste Entfernung von seinen empirischen Idealen bei Malebranche fand 144 ) —, hat schon in Pierre Bayle eine methodische Klärung erfahren. Mit der Proklamation des empirischen Prinzips hatte Bayle zugleich die Entwicklung einer analytischen Methode verknüpft, die von dort aus zu einem festen Bestand des französischen Denkens werden sollte. Zu einer großen Einheit verschmolzen, bildete die analytische Methode sich mit dem empirischen Prinzip zur tragenden Methode der französischen Philosophie aus. Diese Konstanz der methodischen Haltung überlieferte die analytische Methode in gleichem Maße den beiden großen philosophischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts, dem Spiritualismus und dem Positivismus. So übernimmt Bergson in gleicher Weise von beiden Strömungen, denen sein Denken verpflichtet ist, die Analyse als philosophische Methode. Wenn Bergson sich ihrer bedient, so fühlt er sich zu keiner Erklärung in irgendeine Richtung verpflichtet. Das stillschweigende Übereinstimmen im methodischen Ansatz liefert ihm den Rechtsgrund für seine Methode. Dadurch ist die philosophische Handlung des Analysierens selbst so sehr aus dem Blickpunkt der philosophischen Erörterung gerückt, daß sich die Denker aller Lager über das, was sie in dieser methodischen Handlung vornehmen, keine Gedanken mehr machen. Die Gleichheit der Haltung läßt diese methodische Frage aus dem aktuellen philosophischen Bewußtsein verschwinden. Dennoch ist die Konsequenz der analytischen Methode für die Bergsonsche Philosophie von weittragender Bedeutung. Das Problem, vor dem die Bergsonsche Philosophie in den „Données immédiates" steht, ohne daß es dort jemals thematisch wird, ist die Diskrepanz zwischen einer ganzheitlichen Be14s ) Brief Bergsons an Jacques Chevalier vom 28. April 1920. Vgl. auch Léon Husson: Intellectualisme de Bergson, Jacques Chevalier: L'Intellectualisme de Bergson. Nouvelles littéraires. 1922. 144 ) Bergson hat sich selbst bemüht, diesen historischen Zusammenhang aus der grundsätzlichen Haltung des französischen Geistes abzuleiten. La philosophie française. S. 31.
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trachtung der psychischen Phänomene und1 der methodischen Mittel der Analyse, die zu ihrer Untersuchung zur Verfügung stehen. Wenn Bergson bis in die letzten Jahre seines Schaffens hinein an der Analyse als der einzigen Methode sowohl wissenschaftlicher wie philosophischer Relevanz festgehalten hat, so konnte er dennoch niemals erklären, wie aus dieser im Grunde ihres Wesens zergliedernden Arbeitsweise jemals eine Einsicht entspringen konnte, die gerade in völliger Entgegensetzung zur Analyse synoptisch war. Wenn Bergson also die Analyse als die unerläßliche Voraussetzung der Intuition bezeichnet, so bleibt diese Relation zwischen den beiden Methoden so lange im Unklaren, als Bergson nicht zeigt, wie aus der zergliedernden Form des analytischen Denkens die vereinigende Schau der Intuition abgeleitet werden kann. Für die „Données immédiates" liegt das Problem noch nicht in seiner ganzen Komplexität vor. Indem Bergson nämlich noch keine methodische Grenze zwischen seinen psychologischen und seinen metaphysischen Erörterungen setzt, lautet die methodische Fragestellung einfach, wie Bergson die Ganzheit des Psychischen dort fassen kann, wo er analysiert. Diese Schwierigkeit findet ihren zentralen Ausdruck in der Umreißung der Bergsonschen Vielheitsbegriffe in den „Données immédiates". Die extremste Stelle der „Données immédiates" lehnt für die Psychologie überhaupt jede Vorstellung von Mannigfaltigkeit ab "Comme si l'on pouvait encore parler de grandeur là où il n'y a ni multiplicité ni espace! 145 )" Hier wird der analytischen Betrachtung überhaupt jeder Rechtsgrund geraubt. Dort, wo es keine Vielfalt gibt, kann die Analyse keine realen Strukturen zutage fördern, sondern nur eine in sich einheitliche Struktur durch methodische Voraussetzungen verfälschen. Das Eigentümliche dieses Zitats ist es jedoch, daß es von einer Fülle von Formulierungen umgeben ist, die nicht nur die Mannigfaltigkeit des Psychischen voraussetzen, sondern es darüber hinaus als ein Komplexum von einer Fülle von Elementen deuten. So spricht Bergson von einem „grand nombre d'éléments psychiques 146 ), von einer „intervention progressive d'éléments nouveaux 147 )", von einem „élément psychique irréductible 148 )" usw. 149 ). Selbst wenn man diese Rekursion Bergsons auf eine elementarpsychologische Betrachtungsweise als ein letztes Residuum seiner Abhängigkeit von Spencer betrachten will, das sich desto mehr verliert, je weiter Bergson in seinen Erörterungen in den „Données immédiates" fortschreitet, so lassen dennoch die Formulierungen des ersten Kapitels keinen 145
) Données immédiates. S. 7. ) Données immédiates. S. 6. ) Données immédiates. S. 9. 148 ) Données immédiates. S. 22. 14B ) Vgl. die Zusammenstellung bei Paul Kucharski: Sur le point de départ de la philosophie de Bergson. S. 56, 59, 61. 146
147
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Zweifel darüber, daß die völlige Ablehnung der Mannigfaltigkeit im psychischen Bereich keineswegs den Bergsonschen Intentionen entspricht. Schon die Form der Verbindung der Begriffe von Vielheit und Raum zeigt, daß Bergson nicht generell jede Form der Mannigfaltigkeit aus der Psychologie auszuschließen gedenkt. Neben dem Begriff der psychischen Elemente tritt nämlich mit fortschreitender Untersuchung immer stärker ein zweiter Begriff zur Bezeichnung einer psychischen Mannigfaltigkeit, die „faits (oder données) de conscience 150 )", die die psychische Gegebenheit in eine Mannigfaltigkeit einzelner Data zerfallen lassen. Diese Doppelheit der Strukturierungsmöglichkeiten des Psychischen in der psychologischen Konzeption der „Données immédiates", deren phänomenaler Ursprung noch genauer zu untersuchen bliebe, führt in ihrer Konsequenz denn auch zu der Konstatierung einer doppelten Form von Mannigfaltigkeit. „Or, si 1' on admet cette conception du nombre, on verra que toutes choses ne se comptent pas de la même manière, et qu'il y a deux espèces bien différentes de multiplicité. Quand nous parlons d'objets matériels, nous faisons allusion à la possibilité de les voir et de les toucher; nous les localisons dans 1' espace . . . Il n'en est plus de même si nous considérons des états purement affectifs de F âme, ou même des représentations autres que celles de la vue et du toucher 151 )." Der Hintergrund dieser Unterscheidung zweier verschiedener Vielheiten ist wohl der doppelte Ursprung des Analysenbegriffs in der Bergsonschen Philosophie. Zugleich dem Positivismus wie dem Spiritualismus entlehnt, offenbart der gemeinsam benutzte Begriff bei seiner gleichzeitigen Verwendung in einem philosophischen System die Nuancen, die die positivistische Vorstellung von der spiritualistischen unmerklich schied. Hier bei Bergson zeigt es sich, daß die Proklamation einer analytischen Methode allein noch keine hinreichende Bestimmung eines philosophischen Ansatzes ist. Sie setzt, um überhaupt einen Ausgangspunkt für eine Zerlegung des phänomenal Gegebenen zu haben, bereits einen Vorgriff auf die Struktur der Wirklichkeit voraus. Dieser Vorgriff jedoch ist für die französische Philosophie des 19. Jahrhunderts durch die geistesgeschichtliche Situation nicht in eindeutiger Weise gegeben. Die Idee der Analyse wird den philosophischen Denkern des 19. Jahrhunderts von zwei verschiedenen Seiten dargeboten. Einerseits bestimmt der Erfolg der von Descartes begründeten analytischen Methode in der Mathematik den Begriff der Analyse in charakteristischer Weise. Durch die Erfolge der Infinitesimalrechnung in ihrer Anwendung auf die im 18. Jahrhundert sehr im allgemeinen Bewußtsein stehenden Probleme der Physik begründet, wurde der Begriff der Analyse in der französischen Geisteswelt wesentlich durch die Formulierung bekannt, die ihr Lagrange in dem Titel seines die physikalische Forschung des Jahrhun150 151
) Données immédiates. S. 159, 162. ) Données immédiates. S. 64—65.
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derts beherrschenden Werkes „Mécanique analytique" gab. Diese Bezeichnung einer mathematischen Forschungsrichtung mit dem Begriff der Analyse löste nicht nur in der Mathematik eine Reihe älterer Bezeichnungen der Analysis wie z. B. Arithmologie ab, sondern bestimmte auch den allgemeinen Sprachgebrauch des Wortes Analyse entscheidend. Aus den Definitionen, die im 19. Jahrhundert von dem Begriff der mathematischen Analysis gegeben wurden, läßt sich für die philosophische Diskussion der analytischen Methode ein wesentlicher Passus herauskristallisieren, der einen zentralen Einfluß auf die methodische Stellung der philosophischen Analyse hatte. Die Definition beispielsweise, die Ersch1 und Gruber in ihrer Encyclopädie von der mathematischen Analysis geben, hebt bereits das für die Philosophie wesentliche Element heraus. „Analysis (in der Mathematik) als wissenschaftlicher Lehrbegriff besteht in den sämtlichen Ergebnissen aller Untersuchungen über die Eigenschaften und Verhältnisse der Zahlen und mannigfachen Zahlenverbindungen, welche durch die Algebra und deren Verbindungen mit der Geometrie veranlaßt und erleichtert sind 152 )." Und die Grande Encyclopédie übernimmt den entscheidenden Passus fast wörtlich: „Cette science, que l'on appelle aussi arithmologie, théorie des membres, a pour but 1' étude des propriétés des nombres en eux-mêmes, indépendamment des opérations que l'on peut effectuer sur ces nombres 153 )." Der zentrale Gedanke, der von der mathematischen Analyse in die philosophische Methodologie einging, war die Charakterisierung der Analyse als eine „Untersuchung über die Eigenschaften" eines Objekts. Die Übertragung dieses Gedankens, der in der Mathematik durch die wissenschaftliche Intention der Erforschung von Propositionen legitim war, auf die philosophische Forschung bedingte eine wesentliche Vorwegnahme der Struktur der Gegebenheit. Da die Mathematik zum Gegenstand ihrer Betrachtung Größen hat, deren Relation zu untersuchen sind, ist der Vorgriff auf die Struktur der zu untersuchenden Objekte in der Mathematik für die objektive Entwicklung der Wissenschaft ohne wesentliche Folgen. In der Philosophie jedoch bedingt die Übernahme analytischer Methoden der Mathematik eine spezielle ontologische Struktur der Gegebenheit. Denn die Analyse als eine Untersuchung von Eigenschaften setzt die Annahme einer doppelten Form der Realität voraus: einerseits eine Wesenheit, an der die Eigenschaften haften, zum anderen aber die Eigenschaften selbst, die als Akzidentien der Wesenheiten eine andere Seinsform haben müssen. Die Annahme einer doppelten Seinsart schließt zugleich eine Doppelspurigkeit des gnoseologischen Vorgangs in sich. Denn in der Gegebenheit muß in einem doppelten Akt sowohl das zu analysierende Kom152 ) Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber: Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste. Bd. 1 , 3 . S . 4 6 1 . 153
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) La grande encyclopédie. Bd. 2, S. 918.
plexum der Eigenschaften wie die einfach gegebene Substanz erfaßt werden. Diese Konsequenz jedoch hält alle die Denker von der Übernahme des mathematischen Analysisbegriffes ab, die die Einheit der Sednsstruktur zu ihren wesentlichen Prinzipien gemacht haben. Diesem Begriff der Analysis als der Untersuchung der Eigenschaften eines Objekts entgegen bildete sich in der chemischen Wissenschaft ein weiterer Sprachgebrauch des Begriffs der Analyse heraus, der weniger auf die Konstatierung von Eigenschaften einer Gegebenheit als auf die sie konstituierenden Elemente gerichtet ist. Die Erfolge, die die chemische Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts in den Augen der wissenschaftlich interessierten Welt zu einer selbständigen Wissenschaft machten, und die ihre Ergebnisse in die philosophische Erörterung einbeziehen ließen, blieben nicht ohne Wirkung auf den allgemeinen Sprachgebrauch derjenigen Begriffe, die die Vorstellungen der Chemiker bestimmten. Aus diesem chemischen Vokabular ragen wesentlich zwei Begriffe heraus, die eine große Fruchtbarkeit in dem Bereich der allgemeinen Vorstellungen entwickelten, und die — schon in der chemischen Wissenschaft eng miteinander verknüpft — auch im philosophischen Sprachgebrauch eine das philosophische Denken bestimmende Einheit bildeten. Es sind dies die Begriffe der Analyse und des Elements. Die Vorstellungen einer Analyse als eines Rückganges auf eine Anzahl von Elementen sind in der Philosophie zwar wesentlich älter als jede chemische Wissenschaft. Jedoch hat die Entwicklung der Chemie ausdrücklich dazu beigetragen, diese Vorstellungen in der Philosophie zu erneuern, nachdem sie seit der Erneuerung der Demokritischen Philosophie im ausgehenden 17. Jahrhundert wieder völlig verschwunden waren. Auch dter der Chemie entlehnte Begriff der Analyse bedingt bei seiner Übertragung auf die Philosophie — schon durch die enge Verbindung zur Elementvorstellung — eine spezifische ontologische Hypostasierung. Während nämlich die von der Mathematik entlehnte Denkweise die Struktur der Gegebenheit in der Weise hypostasiert, daß sie als ein Komplex von Proprietäten einer Wesenheit erscheint, deuten die von der chemischen Methode bestimmten Denker die Komplexität des Phänomenalen als. ein Konglomerat verschiedener Elementarteile und übernehmen damit alle Konsequenzen einer atomistischen Philosophie. Diese beiden Vorgriffe auf die Struktur der Wirklichkeit, die die Übernahme der analytischen Methode in die Philosophie begleiten, lassen sich jedoch nicht eindeutig auf die beiden großen Geisteshaltungen der französischen Philosophie im 19. Jahrhundert aufteilen. Die positivistische Philosophie begann mit einer ausgesprochen mathematischen Deutung des Analysenbegriffs. Wesentlich bestimmt durch die mathematisch-physikalische Ausbildung Comtes, tritt bei ihr der 6
Pflug, Henri Bergson
75
Gedanke der Analyse mathématique durchaus in den Vordergrund. „L'analyse mathématique est donc, d'après les principes que nous avons constamment suivis jusqu'ici, la véritable base rationnelle du système entier de nos connaissances positives. Elle constitue la première et la plus parfaite de toutes les sciences fondamentales 154 )." Dennoch hat die positivistische Tradition nichts von diesem ersten Ansatz behalten. Die immer stärker werdende Orientierung von den Naturwissenschaften auf die Geisteswissenschaften155) im positivistischen Lager bedingte mehr und mehr ein Verlassen des Comteschen Ansatzes. So machte sich schon bei Taine, wohl unter dem Einfluß der englischen Denker, eine ausgesprochene Aversion gegen die Übernahme einer Eigenschaftsforschung bemerkbar. Dieser Forschungsrichtung, die ihm im tiefsten Grund metaphysisch — d. h. aber mit dem Vorurteil der Annahme einer doppelten Form der Wirklichkeit belastet scheint, versucht er durch den Rückgriff auf eine Elementaranalyse eine Forschung entgegenzusetzen, die die Einheit aller Wirklichkeit zum Ausgangspunkt der Untersuchung hat. In diesem Sinn umreißt er bereits seine analytische Methode im letzten Kapitel seiner Kampfschrift gegen die traditionelle Philosophie des französischen Spiritualismus. „Analyser, à mon avis, c' est traduire. Traduire, c' est apercevoir sous les signes des faits distincts 156 )." Diese in ihrer allgemeinen Thematik in den „Philosophes français" entwickelte Methode findet ihre Anwendung auf die Psychologie in Taines Hauptwerk „De 1' Intelligence". Hier übernimmt er von der 20 Jahre älteren Formulierung alle Argumente gegen die spiritualistische Psychologie: die falsch angewandte Analyse, das unhaltbare Schema einer Eigenschaftsforschung, die damit verbundene Annahme einer psychischen Substanz 157 ), und erklärt sich im Sinne einer echten Wissenschaftlichkeit für eine elementaranalytische Methode in der Psychologie. „De tout petits faits bien choisis, importants, significatifs, amplement circonstanciés et minutieusement notés, voilà aujourd'hui la matière de toute science; chacun d'eux est un spécimen instructif, une tête de ligne, un exemplaire saillant, un type net auquel se ramène toute une file de cas analogues; notre grande affaire est de savoir quels sont ses éléments, comment ils naissent, en quelles façons et à quelles conditions ils se combinent, et quels sont les effects constants des combinaisons ainsi formées 158 )." 1M
) Auguste Comte: Cours de philosophie positive. Bd. 1, S. 109. ) Taine und Renan sind reine Geisteswissenschaftler, Littré blieb trotz aller medizinischen Ausbildung doch in erster Linie ein Grammatiker. Daneben treten die reinen Naturwissenschaftler wie Leblais und Lefèvre in ihrer Bedeutung zurück. lss ) Hippolyte Taine: Les philosophes français. S. 317 157 ) Hippolyte Taine: Intelligence. Bd. 1, S. 6. 158 ) Hippolyte Taine: Intelligence. Bd. 1, S. 2. 155
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In der spiritualistisdien Philosophie hingegen läßt sich in gewisser Weise die umgekehrte Bewegung beobachten. Schon bei Cousin kann man die Analyse als eine Elementaranalyse charakterisieren. Wenn auch Cousin durch die Vermeidung des Begriffs des Elements eine eindeutige Stellungnahme umgeht, so zeigt doch der Ansatz seines Denkens deutlich die Tendenz auf eine Elementarstruktur. Die Scheidung der Wirklichkeit in „actuel" und „primitif" bedeutet weniger eine Konstatierung einer Differenz in der Form der Wirklichkeit als die Explikation des Phänomens der Komplexität der Gegebenheiten. Denn das Primitive ist das das Aktuelle konstituierende Element. Versucht man allerdings das primitive Faktum bei Cousin zu umreißen, so entdeckt man eine ausdrückliche Tendenz auf eine Eigenschaftsuntersuchung 159 ). Jedoch liegt dieser Haltung nicht die Hypostasierung einer krassen Differenz zwischen Essenz und Akzidenz zugrunde. Denn in einem allgemeinen idealistischen Ansatz will Cousin das Essentielle in der Bestimmung des Akzidentellen fassen. Im Gegensatz zu der Position Maine de Birans ist er nämlich nicht bereit, die Trennung von Akzidenz und Essenz auch gnoseologisch zu untermauern. So kann er das Essentielle im Akzidentellen erfassen und damit die Differenz auf die elementaranalytische Scheidung von Phänomen und konstituierendem Element zurückführen. Dieser Gedanke beherrschte die Cousinschule bis zur Mitte der dreißiger Jahre, wo Jouffroy durch seinen Rückgriff auf Maine de Biran die alte Form der Erforschung der Fähigkeiten wieder belebte und dadurch der analytischen Methode das Übergewicht zur mathematischen Bedeutung verlieh. Dieser Rückgriff auf Maine de Biran erleichterte schon dadurch die eigenschaftsanalytische Methode, als er die Wesenheiten, deren Eigenschaften analysiert werden sollten, auf die einzige der Seele dadurch einschränkte, daß er die philosophische Intention auf eine anthropologische Forschung zurückführte. Schon stets hat die spiritualistische Philosophie die Analyse des Psychischen als eine Aufschlüsselung der Eigenschaften der Psyche gedeutet. Bereits Royer-Collard hat diese Forschung in dieser Richtung umrissen. „Les faits semblables, nous les rapportons à un même principe que nous appelons faculté, et que nous concevons comme une capacité ou comme une force de notre esprit 160 )." Die Intensivierung dieser Forschung fand ihren typischen Au druck in dem Werk des Jouffroyschülers Garnier „Traité des facultés de l'âme". Schon die Umreißung der Aufgabe der Psychologie im Vorwort zeigt die analytische Richtung. „La psychologie recherche les facultés de l6e
) Victor Cousin: Oeuvres. Bd. 2, S. 93.
160
6'
) Pierre Paul Royer Collard: Disconrs. S. 5.
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l'âme, comme la physique recherche les propriétés des corps. La méthode qui dirige ces deux genres d'études est la même 161 )." Dennoch ist die Differenz zwischen den beiden analytischen Methoden in Garniers Werk — wenigstens vordergründig — weitgehend überdeckt. Er selbst zitiert zur Charakterisierung seiner analytischen Intentionen die Chemie als Beispiel 162 ). Indem sich Garnier nämlich auf die reine Diskussion der Eigenschaften einschränkt, und für die Seele als die sie begründende Substanz eine andere Erfahrungsquelle als die Erkenntnis der einzelnen Fähigkeiten annimmt, kann er die in seinem Werk analysierten Eigenschaften als für den dort betrachteten Wissenschaftsbereich konstituierende Elemente ansehen und so zu einer Parallele mit der Chemie gelangen. Der Preis, den er für diese Vereinheitlichung der analytischen Methode zahlen muß, ist eine Zerschlagung der Einheit der Erkenntnis in eine Wesenserfassung und eine Erfahrung der Akzidentien, — zwei getrennte Wissenschaftsbereiche, die sich einander nichts mehr zu geben haben, obwohl die ihnen zugrunde liegenden Phänomene eindeutig aufeinander bezogen sind. Jedoch hat Garnier diese in seinem Werk konzipierte Trennung, die in ihrem Grund auf Maine de Biran zurückverweist, nicht konsequent beibehalten können. Schon der Beginn des Traité zeigt deutlich, daß die Psychologie nicht ohne Anleihe bei der Metaphysik auskommen kann. Dadurch wird jedoch wieder die Klarheit der methodischen Distinktion verwischt. In ihrer strengen Form betrachtet ergibt sich für die Analyse als Methode folgerndes Bild: Im Hinblick auf das Erkenntnisfeld der Substanzen ist sie eine Eigenschaftsanalyse, im Bereich des Akzidentellen bleibt sie Elementaranalyse. Während es also ontologisch betrachtet keine Elemente gibt, sondern nur streng geschiedene Wesenheiten, die keine Komposita bilden, entstehen sie in dem Augenblick, wo man die Betrachtung von ihrer ontologischen Basis löst und die Zusammenhänge der Akzidentien für sich gesondert betrachtet. Diese Interpretation der einzelwissenschaftlichen Analyse vermag in ihrer Konsequenz einen wesentlichen Beitrag zur Bestimmung der Verfälschung der Wirklichkeit zu liefern und damit zugleich die Konsequenzen der analytischen Methode bei Bergson zu erhellen. Diese Frage, die für Bergson in den Mittelpunkt seiner philosophischen Erörterung rückte, konnte bei den französischen Spiritualisten no