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German Pages 296 Year 2021
Svenja Kück Heimat und Migration
Sozial- und Kulturgeographie | Band 43
Svenja Kück, geb. 1988, lebt und arbeitet in Berlin. Sie promovierte im Rahmen des transdisziplinären Reallabor-Forschungsprojekts »Asylsuchende in der Rhein-Neckar-Region« am Geographischen Institut der Universität Heidelberg.
Svenja Kück
Heimat und Migration Ein transdisziplinärer Ansatz anhand biographischer Interviews mit geflüchteten Menschen in Deutschland
Gutachterinnen: Prof. Dr. Ulrike Gerhard Prof. Dr. Hans Gebhardt Gefördert durch das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg, im Rahmen des Projekts »Reallabor Asylsuchende in der Rhein-Neckar-Region«
Gefördert durch das Abschlussstipendium des Young Researchers Fund der Graduiertenakademie der Universität Heidelberg Förderung mit den Mitteln der Kurt-Hiehle-Stiftung des Geographischen Instituts Heidelberg Druckkostenzuschuss im Rahmen der Arbeitsgruppe Stadtgeographie am Geographischen Institut, Universität Heidelberg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Krishan Rajapakshe Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5511-7 PDF-ISBN 978-3-8394-5511-1 https://doi.org/10.14361/9783839455111 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
Danksagung ........................................................................ 11 Zusammenfassung .................................................................13 Summary ........................................................................... 15 1. 1.1 1.2
Heimat und Migration als Forschungsfeld ..................................... 17 Erkenntnisinteresse dieser Arbeit ............................................. 20 Zum wissenschaftlichen Vorgehen ............................................ 24
2.
Heimat als kulturgeschichtliches Produkt – historischer und soziopolitischer Zugriff ...................................................... 27 Die Etymologie des Heimatbegriffs ............................................ 28 Heimat als Rechtsbegriff ..................................................... 29 Heimweh als Krankheitsbild................................................... 30 Romantik – das Fremde in der Heimat ......................................... 31 Heimatschutzbewegungen und industrieller Umbruch.......................... 32 Eigenständiges Phänomen und politische Propaganda – Heimat zur Zeit des Nationalsozialismus .......................................................... 34 Heimatvertriebene – Heimat unter Ideologieverdacht ......................... 36 Umweltschutz und Heimatfilm – Die Wiederentdeckung des Lokalen ........... 37 Heimat heute – Gleichzeitigkeiten und Gegensätzlichkeiten .................... 39 Zeitenübergreifende Muster in der Thematisierung von Heimat – Zwischenfazit ................................................... 47
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9 2.10
3 3.1
Von Außenwelten zu Innenwelten – Heimat als Analysebegriff in der Forschung zu Flucht und Migration............................................ 51 Subjektive Deutungsmuster von Heimat ....................................... 52
Kindsheimat, Satisfaktionsraum und sozialräumliche Einheit ........... 53 Heimat als Praxis und Strategie ........................................ 59 Heimatempfinden in Sehnsucht und Utopie ............................. 62 Heimat in der Dialektik von Fremde und Vertrautheit ................... 64 Heimat als Entwicklungsprozess und dauerhafte Suchbewegung ........ 65 Reflexionen zu normalisierenden Annahmen im subjektzentrierten Heimatbegriff – Zwischenfazit ......................................... 67 3.2 Heimat als Analysebegriff – Kontextualisierungen mit dem Konzept der Migrationsregime......................................... 71 3.2.1 Der Regime-Ansatz in der Forschung zu Flucht und Migration ........... 71 3.2.2 Nutzbarmachung des Regime-Ansatzes in der eigenen Forschung ...... 77 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6
4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 5
Forschungsdesign und methodologische Reflexionen ........................ 83 Prinzipien und Haltungen in einem reflexiven Forschungsprozess .............. 84 Das Reallabor als Forschungsmodus und Zugang zum Feld .................... 88 Feldforschung und teilnehmende Beobachtung ................................ 96 Das biographisch-narrative Interview ......................................... 98 Biographische Fallrekonstruktion und Typenbildung .......................... 105
Heimat im Kontext von Migration und Flucht – Analyseergebnisse und Typenbildung ................................................................ 111 5.1 Biographische Informationen und Selbstrepräsentationen ..................... 111 5.1.1 Mahmoud – »Wie ein Garten mit bunten Blumen« ....................... 112 5.1.2 Bah – »It is not easy at all« ............................................ 117 5.1.3 Lavin – »Für mich wünsche ich nichts« ................................ 121 5.1.4 Yasmina – »I think that I lose that strong woman«..................... 125 5.1.5 Kama – »It’s a mental slave trade« .................................... 129 5.1.6 Attila – »Das werde ich nie vergessen«................................ 135 5.1.7 Kavith – »I still enjoy my decision«..................................... 141 5.1.8 Yochanan – »Me being me, I continue« ................................. 147 5.2 Semantische Facetten von Heimat und ihre Aushandlungen im Kontext von Migration und Flucht ......................................................... 153 5.2.1 Heimat als sozialräumliche Einheit im direkten Lebenszusammenhang . 153 5.2.2 Alltägliche Praktiken der Beheimatung in Krisensituationen.............170 5.2.3 Strategien der Beheimatung und Beheimatung als Strategie ............ 179 5.2.4 Sehnsucht – Erinnerung zwischen Verklärung und Schmerz ............ 200 5.2.5 Utopien als widerständige Sinnentwürfe............................... 206 5.2.6 Kindsheimat als Schablone und Gegenbild ............................. 220
5.3 Zentrale Ergebnisse und Typenbildung ....................................... 235 5.3.1 Typ 1: Heimat ist transportabel ....................................... 236 5.3.2 Typ 2: Heimat als Nische .............................................. 237 5.3.3 Typ 3: Heimat als Mosaik.............................................. 238 6
Heimat im Spannungsfeld von Einflussnahme und Autonomie – Fallübergreifende Erkenntnisse ..............................................241 6.1 Zentrale Dynamiken und Mechanismen in der Aushandlung von Heimat in tabellarischer Darstellung ................................................... 243 6.2 Brüche und Kontinuitäten – Konturen eines akteurszentrierten Heimatkonzepts in der Gegenüberstellung von Theorie und Empirie .......... 250 7
Forschungsperspektive Heimat: geographisch, transdisziplinär und machtkritisch............................................................... 259
Literaturverzeichnis.............................................................. 267 Anhang ........................................................................... 289 Liste der Interviewpartnerinnen und Informationen zu den Erhebungssituationen ... 289 Informationsblatt zum Umgang und dem Schutz der personenbezogenen Daten und die Einwilligungserklärung .................................................... 290 Transkriptionsregeln nach Dresing und Pehl 2018 ...................................291 Abbildungsverzeichnis ........................................................... 293 Tabellenverzeichnis .............................................................. 293
Nationalisten missachten den intimen Kern von Heimat. Sie setzen der persönlichen Weltbeziehung die Narrenkappe einer konstruierten Uniformierung auf. Ilija Trojanow There is no return to a native land, only field notes for its reinvention. James Clifford
Danksagung
Monate und Jahre der intensiven Forschungs- und Schreibarbeit liegen hinter mir. Damit ist es an der Zeit, mich bei den Menschen zu bedanken, die mich in dieser Zeit voller Herausforderungen und Begeisterung begleitet und unterstützt haben. Zuerst bedanke ich mich bei meiner Doktormutter Prof. Dr. Ulrike Gerhard. Von der ersten Idee bis zur fertigen Arbeit begleitete sie mich verlässlich, zugewandt und ermutigte mich stets in meinem Vorhaben. Die regelmäßigen Sprechstunden, Kolloquien und AG-Kollegs trugen dazu bei, dass ich meine Doktorarbeit nur selten vernachlässigte und meine Anliegen eingehend besprechen konnte. Gleichzeitig schätzte ich die Freiheiten, die ich im Forschungsprozess erhielt, wodurch diese Arbeit zu einer echten Leidenschaft wurde. Danken möchte ich auch Prof. Dr. Hans Gebhardt für sein Interesse an meiner Arbeit und die Bereitschaft, das Zweitgutachten zu übernehmen. Mein großer Dank gilt auch meinen Kolleginnen Cosima Werner, Dr. Editha Marquardt, Dr. Gregg Culver, Judith Keller, Dr. Kerstin Fröhlich und Philipp Schulz. Ob entspannt auf der Bank vorm Institut oder im wissenschaftlichen Streitgespräch vor der Kaffeemaschine, ich erinnere mich gerne an unser alltägliches »Wissenschaft-machen«! Dies gilt auch für das transdisziplinäre Team des Reallabors, in dem sich mein wissenschaftliches Projekt entwickelte. Dr. Christina West, Prof. Dr. Havva Engin, Jaro Eiermann und Krishan Rajapakshe hatten immer Interesse an meinem Vorhaben und unterstützten mich darin, das Anliegen auch in der Öffentlichkeit zu diskutieren. Bei der Korrektur des Manuskripts haben mich Alexander Altevoigt, Ben Schlink, Beate Kubitza-Lun, Frank Kubitza, Inara Gabdurakhmanova, Rasmus Niebaum, Dr. Renke Kruse und Sina Oelkers tatkräftig unterstützt. Danke dafür! Auch für die vielen persönlichen und fachlichen Gespräche über Heimat möchte ich mich bei euch und meinen anderen Freundinnen und Familienmitgliedern bedanken. Was wäre Heimat ohne meinen Freund und
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Lebenspartner Dr. Christoph Kubitza? Ich danke ihm, dass er nie daran gezweifelt hat, dass diese Arbeit fertig wird; dass er mir immer wieder den Rücken gestärkt und mich sowohl mental als auch organisatorisch unterstützt hat. Meinen Eltern Friederike Kirschner und Harry Kück sowie meiner Oma Heide Kirschner danke ich dafür, dass sie mir in der Wahl meiner Lebensentscheidungen immer große Freiheiten gewährt haben. Mein wichtigster Dank gilt den insgesamt neun Interviewpartnerinnen, die mit mir ihre Lebensgeschichten teilten und mir ihr Vertrauen entgegenbrachten. Die Begegnungen und Gespräche mit Menschen, die eine lange Phase der Migration und Flucht hinter sich haben und nach mehreren Jahren unter ganz unterschiedlichen, zum Teil widrigen, Umständen in Deutschland leben, haben meine Sicht auf vieles verändert, aber auch geschärft.
Zusammenfassung
Heimat ist wieder seit einigen Jahren ein politisch und gesellschaftlich umkämpfter Begriff. Aktuell geführte Debatten werden vor allem zurückgeführt auf den vermehrten Zuzug geflüchteter Menschen nach Deutschland und Europa seit 2015. Menschen mit Fluchterfahrung erscheinen dabei im Diskursfeld von Heimat und (Flucht-)Migration zum Teil als Bedrohung angenommener gesellschaftlicher und politischer Stabilität. Gleichzeitig wird Flucht als Heimatverlust deklariert. Daneben regen sowohl politisch liberale Kräfte als auch Initiativen aus der Zivilgesellschaft die Besprechung eines offenen und inklusiven Heimatbegriffs an. Auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung, wie in der Migrationsforschung, wird Heimat nicht mehr selbstverständlich an das Herkunftsland oder »kulturelle Merkmale« geknüpft. Heimat wird als aktiv hergestellt verstanden, umfasst individuelle und subjektive Bedürfnisse und Zugehörigkeiten und entwickelt sich in alltagsweltlichen, sozialen und räumlichen Beziehungen. Dabei wird eine gleichzeitige eingehende Beschäftigung mit den begriffsgeschichtlichen Facetten des Heimatbegriffs sowie seinen zum Teil problematischen Bedeutungsgehalten allerdings oftmals vernachlässigt. Das Forschungsprojekt nimmt diese Überlegungen zum Ausgangspunkt. Unter Berücksichtigung der historischen Dimensionen und enthaltenen normalisierenden Annahmen, stehen die subjektiven und individuellen Bedeutungen von Heimat für in Deutschland lebende geflüchtete Menschen im Zentrum des Erkenntnisinteresses. Es wird angenommen, dass Migration und Flucht zwar von Mobilität bestimmt sind, aber auch von Ankommen, Da-sein und Beheimatung. So wird die stetige Aushandlung von Heimat im Kontext flucht- und migrationsspezifischer Spannungsfelder analysiert. Jenseits der Frage nach »gelungener Integration« wird damit eine differenzierte Sicht auf Lebenswelten und emotionale Verankerungen von geflüchteten Menschen er-
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zeugt, die in der öffentlichen Debatte um Heimat zumeist ausgeschlossen, ungefragt oder in bestimmter Weise positioniert werden. Für die wissenschaftliche Analyse wurde ein analytischer Rahmen entwickelt, der Heimat für die qualitative empirische Auseinandersetzung nutzbar machte. Dazu wurden zentrale Heimatkonzeptionalisierungen aus der umfangreichen Literatur herausgearbeitet. Auf der methodischen Ebene etablierte ein transdisziplinärer Forschungsmodus einen sehr persönlichen Zugang zu den befragten Personen. Die Methoden der Biographieforschung wurden zum zentralen Instrument während des Forschungsprozesses. Den befragten Personen wurde ein breiter Raum für die Erzählung ihrer Lebensgeschichten eröffnet, wodurch ihnen bei der Produktion neuen Wissens ein zentraler Stellenwert zukam. Das Konzept der Migrationsregime wurde als Beobachtungsperspektive herangezogen. Es berücksichtigte die vielfältigen kontext- und gegenwartsbezogenen Faktoren, die an Konstruktionen von Heimat beteiligt sind und beförderte das Einnehmen einer nicht-essentialistischen Haltung im Forschungsprozess. Die Analyse offenbarte, dass Heimat in komplexen Spannungsfeldern ausgehandelt wird. Einerseits bestehen diese in migrations- und fluchtspezifischen Dynamiken, wie Rassismus oder Stigmatisierung. Andererseits entwickeln Individuen Mechanismen im Umgang mit diesen. Sie entwerfen Zukunftsvisionen oder aber adaptieren persönliche Fähigkeiten im neuen Lebenszusammenhang. Heimat ist dabei nicht als ganzheitliche Empfindung zu verstehen, sondern besteht in Assemblagen verschiedener emotionaler Verortungen, die sich insbesondere in Umbruchsituationen neu arrangieren. Die Auswertung konnte zentrale Typen herausarbeiten, die die Aushandlung von Heimat in migrations- und fluchtspezifischen Spannungsfeldern aufzeigen. Zuletzt werden Konturen eines akteurszentrierten Heimatkonzepts skizziert, um zu der wissenschaftlichen Diskussion eines differenzierten Heimatverständnisses beizutragen. Die präsentierten Erkenntnisse sind nicht als abschließende Erklärungen zu verstehen. Zentral ist, dass Heimat hochkomplex und biographisch geprägt ist, aber auch maßgeblich von Kontextfaktoren des gegenwärtigen Lebens beeinflusst ist. Nicht eine funktionalistische, sondern eine am Menschen orientierte Betrachtung sollte deshalb an erster Stelle in wissenschaftlichen, politischen und sozialen Debatten stehen.
Summary
In recent years, Heimat has emerged as a highly contested and instrumentalized term in the political and social sphere. This rise is often attributed to the increasing number of refugees in Germany and Europe since 2015. Refugees appear in this discourse about Heimat often as a threat to presumed social and political stability. In addition, flight is declared as a loss of Heimat. At the same time, politically progressive forces as well as initiatives from the civil society encourage the understanding of an open and inclusive concept of Heimat. In scientific debates, such as in migration research, Heimat is also no longer linked to the country of origin or »cultural characteristics«. Heimat is understood as social construct; it encompasses emotions, needs and affiliations at an individual and subjective level and emerges in everyday life and social and spatial relationships. However, scientific studies of Heimat rarely combine the subjective analysis of Heimat and an in-depth study of the conceptual-historical facets and its problematic connotations. The research project takes these observations as a starting point and analyses the subjective and individual meanings of Heimat for refugees living in Germany under consideration of the conceptual-historical facets. It is assumed that migration and flight are not only determined by mobility but also arrival, daily routines and Beheimatung. In this sense, the study focuses on how Heimat is shaped, preserved and always renegotiated in flight and migration-specific areas of conflict. Beyond the question of »successful integration«, a differentiated perspective on everyday life, living environment and emotional anchoring of refugees is generated, who are usually excluded, mute or positioned. To use Heimat as analytical concept in a qualitative empirical study, an analytical framework is developed. To this end, the historical dimensions of Heimat as well as central conceptions of Heimat are identified in the extensive literature. At the methodological level, a transdisciplinary research mode
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allowed a personal approach to the interview partners. The biographical interviews offered a wide space for the interviewees to tell their life stories, and made them central to the production of new knowledge. The concept of migration regimes is used as an observation perspective. The approach takes into account the diverse context factors involved in constructions of Heimat and promotes a non-essentialist attitude in the research process. The analysis reveals that Heimat is negotiated in complex areas of conflict. On the one hand, these consist of migration and flight-specific dynamics such as racism or stigmatization. On the other hand, individuals develop own mechanisms to deal with these issues such as designing future visions or by adapting personal resources to their new life contexts. Heimat is not to be understood as one holistic feeling, but consists of assemblages of different emotional localizations that are constantly rearranged, particularly in situations of radical change. The analysis identified three central types which illustrate the construction of Heimat and processes of Beheimatung in the context of migration and flight. Finally, four major characteristics of an actor-centered Heimat concept are outlined in order to contribute to the scientific discussion on an open and differentiated understanding of Heimat. These findings are not to be understood as final conclusions. It is essential that Heimat is highly complex and biographical. However, Heimat is also shaped by contextual factors of everyday life. Not a functionalistic, but a human-oriented approach should be the focus of scientific, political and social debates.
1. Heimat und Migration als Forschungsfeld
Heimat erlebt seit einigen Jahren wieder eine eindrucksvolle Renaissance im politischen, gesellschaftlichen und auch wissenschaftlichen Diskurs. Die Bundestagswahl 2017 stellte hierbei einen Höhepunkt der politischen Thematisierung dar. Beinahe jede Partei setzte Heimat auf ihre politische Agenda und in den folgenden Monaten und Jahren wurde in zum Teil leidenschaftlichen Debatten um die Deutungshoheit dieses veränderlichen Begriffs gerungen. Die Umbenennung und inhaltliche Erweiterung des Bundesministeriums des Innern (BMI) um die Bereiche »Bau und Heimat« im Frühling 2018 kann hier als weiteres Indiz einer zunehmenden Politisierung verstanden werden. Während konservative politische Kräfte Heimat mit Traditionen, Wertvorstellungen und der Aufwertung ländlicher Regionen in Verbindung bringen (de Maizière 2017; Seehofer 2018), bemühen sich liberale Stimmen um ein zukunftsgewandtes Verständnis und beschreiben Heimat als gesellschaftliches Projekt, das man nicht »den Nationalisten« überlassen dürfe (vgl. Steinmeier 2017:5f). Darüber hinaus ist Heimat seit etwa 2015 Thema in Dossiers großer Tageszeitungen, wie zum Beispiel in der »Süddeutschen Zeitung« (»Was ist Heimat«) oder im Onlinemagazin der Zeitung »Die Zeit« (»Heimatmysterium«). Auch in den Folgejahren erscheint das Thema Heimat beinahe täglich in der Presse. Thematisiert wird insbesondere die Bedeutung des persönlichen Heimatempfindens in Zeiten globaler Veränderungsprozesse wie der wirtschaftlichen Internationalisierung, der Digitalisierung und der vermehrten Migrationsbewegungen. Auch außerhalb der parteipolitischen Sphäre und medialen Aushandlung ist Heimat für Bereiche wie Marketing von anhaltender und wachsender Bedeutung. So wirbt eine große Supermarktkette mit Saft aus »heimischen Früchten«, während eine Biersorte aus Südniedersachsen den Namen »Heimatliebe« trägt. Heimat steht dabei für eine emotionale Bindung zur eigenen (Herkunfts-)Region oder symbolisiert eine intakte ländliche Idylle. So ist Heimat Assoziations-
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generator in einer Vielzahl öffentlicher Debatten, weshalb es kaum noch möglich ist, einen vollständigen Überblick über den Stand und die Entwicklung der Diskussionen zu erhalten. Angelehnt an Bausinger nennt Schmoll Heimat ein Chamäleon, das sich jeweils an die historischen Bedingungen anpasst (Bausinger 2009; Schmoll 2019:83f). Bei der Frage nach dem Bedeutungsgehalt von Heimat werden immer wieder Vergleiche zu ähnlichen Bezeichnungen in anderen Sprachen gezogen. So sind im Englischen Begriffe wie home und homeland Näherungen zu Heimat; im Französischen steht der Begriff la patrie für die emotionale Verbindung zum Nationalstaat Frankreich; auf Arabisch können die Begriffe manzil für Zuhause oder wattan für Niederlassungsort herangezogen werden. Bausinger und andere warnen dabei davor, die Unübersetzbarkeit von Heimat darauf zurückzuführen, dass es sich um ein »typisch deutsches Gefühl« handelt. Diese Annahme impliziere, dass Menschen in anderen Ländern keine gleichwertige Beziehung zu einem Ort entwickeln, wodurch Heimat zu einem nationalen Phänomen deklariert würde (Bausinger 2009:72; Hüppauf 2007:111). Hinter dem Versuch, Heimat in andere Sprachen übersetzen zu wollen, wähnt Bausinger eine subtile Deutschtümelei, die aus einem Übersetzungsproblem eine Wesensbeschreibung mache (Bausinger 2001:133). Heimat ist dabei Teil normativ politischer Gesellschaftskonzepte, weshalb die Rede von ihr niemals harmlos ist. Hinter Heimat stehen Vorstellungen von einer geschlossenen, vorgestellten Gemeinschaft, die sich abgrenzt gegen ein fremdes Außen (Schmoll 2016:33). So ist aufgrund der Veränderlichkeit des Heimatbegriffs und seiner immer neuen Konjunkturen in der gesellschaftlichen und politischen Besprechung eine eindeutige Begriffszuweisung auch kaum möglich. Ähnlich wie die zuvor genannten Begriffe versammelt Heimat eine Reihe ganz unterschiedlicher Bedeutungsfacetten auf sich, was von einer langen und wechselhaften Begriffsgeschichte zeugt (Gebhardt et al. 1995:5). So ist Heimat vielmehr als gesellschaftliche Konstruktion und kulturgeschichtliches Produkt zu verstehen (Seifert 2010:12). Im gesellschaftlichen und politischen Diskurs gewinnen die vielschichten Aspekte von Heimat wiederkehrend an Bedeutung, existieren zum Teil problemlos nebeneinander und werden je nach politischer und gesellschaftlicher Stimmung mobilisiert (Hüppauf 2007:115). Geht die emotionale Besprechung von Heimat zurück bis ins 17. Jahrhundert (Neumeyer 1992:14f), so gewinnt Heimat in Zeiten gesellschaftlicher Veränderungsprozesse bis heute an Relevanz und wirkt komplexitätsreduzie-
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rend. Aktuelle Debatten um den Heimatbegriff werden vor allem zurückgeführt auf den vermehrten Zuzug geflüchteter Menschen nach Deutschland und Europa im »langen Sommer der Migration« 2015 (vgl. Hess et al. 2017). Dabei gewinnt Heimat im Kontext von Migration und Flucht eine besondere Brisanz. Personen mit Fluchterfahrung werden im Diskursfeld von Heimat oftmals als heimatlos dargestellt oder auch als Bedrohung angenommener gesellschaftlicher und politischer Stabilität auf regionaler, nationaler und europäischer Ebene. So konstatiert der CDU-Politiker Pöttering: »Wir haben eine Heimat in Europa, die die Menschen in Ägypten, im Jemen oder Syrien so nicht haben, die sie verloren haben oder noch nicht haben, weil Krieg und Terror, Verfolgung und Unterdrückung ihr Leben bestimmen […]. Um dieser Werte willen verlassen viele Menschen ihre Heimat, um in den Ländern der Europäischen Union eine neue Heimat zu finden.« (vgl. Pöttering 2012:7). Pöttering koppelt Heimat an politische Grenzen, die Frieden, Wohlstand und Selbstentfaltung ermöglichen, während er Heimat denjenigen abspricht, die in der imaginierten Gemeinschaft eines europäischen Friedensprojekts nicht leben (können). Damit einher geht die Vorstellung einer nach innen gewandten, homogenen sowie durch politische und »kulturelle« Grenzen definierten Gemeinschaft. Demgegenüber, so Koppetsch, erscheinen Migrationsbewegungen als von außen kommend, unkalkulierbar, unrechtmäßig und bedrohlich (Koppetsch 2019:244). Flusser spricht in diesem Sinne von der Wahrnehmung von Migrantinnen1 als heranrückende heimatlose Zukunft (Flusser 1992). Heimat, so bemerkt Binder, werde geflüchteten Menschen und Migrantinnen im gesellschaftlichen und politischen Diskurs zugesprochen, aber auch abgesprochen, dabei handle es sich um eine »hegemoniale Zuweisung von Heimatlosigkeit« (vgl. Binder 2010:193). Mitzscherlich hebt die Tragweite dessen auf gesellschaftlicher und individueller Ebene hervor und erklärt, ein Migrationshintergrund sei kein Belastungsfaktor. Zu Konflikten komme es aber, wenn Migrantinnen sich als unerwünscht und nicht willkommen wahrnehmen und ihnen Chancen zur Teilhabe erschwert und Heimat abgesprochen wird (Mitzscherlich 2008). Auch die Volkskundlerin Egger hebt die
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In dieser Arbeit wird eine gendergerechte Sprache verwendet. Mit der Verwendung der weiblichen Form sind alle Geschlechter gleichermaßen angesprochen. Dabei wird die weibliche Form ebenfalls verwendet, wenn die geschlechtliche Identität einer Personengruppe unklar, irrelevant oder scheinbar eindeutig ist (zum Beispiel: die Soldatinnen).
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Bedeutung von gesellschaftlicher Teilhabe für das Empfinden von Heimat hervor. In unserer Gesellschaft, so Egger, dürfen sich nicht alle zugehörig fühlen, Migrantinnen und geflüchteten Personen würde allzu oft das Recht auf Heimat abgesprochen (Egger 2017). Es wird ihnen ein Status der Fremdheit zugewiesen, bevor sie selbst zu sprechen beginnen (Binder 2008:9; Binder 2010:194). Die tatsächlichen Befindlichkeiten und Innenwelten der so adressierten Menschen bleiben unbeachtet. Daneben wird im Rahmen zahlreicher lokaler sowie überregionaler Kunst- und Kulturprojekte für eine Erweiterung und Umdeutung des Heimatbegriffs plädiert, der die gesellschaftliche Vielfalt der Migrationsgesellschaft anerkennt. So trat der deutsche Beitrag auf der Architekturbiennale in Venedig 2016 mit dem Ausstellungskonzept »Making Heimat – Germany, Arrival Country« auf. Die Veranstalterinnen stellten die Frage: »Wie und wo kann ein Mensch, der sich außerhalb seines gewohnten Umfeldes bewegt, heimisch werden?« (Cachola Schmal et al. 2016:13). Die jährlich stattfindenden »Internationalen Wochen gegen Rassismus« werden seit 2016 in Stuttgart unter dem Titel »Heimat-Wochen« durchgeführt. Die Veranstalterinnen erklären hierzu, sie wollen einen Beitrag dazu leisten, »dass alle Stuttgarter Bürgerinnen und Bürger IHRE Stadt […] HEIMAT nennen können« (Heimat. Internationale Wochen gegen Rassismus Stuttgart 2019). Bereits in dieser nur kurzen Übersicht verdeutlicht sich die vermehrte Besprechung eines subjektiven, emotionalen und offenen Heimatbegriffs, insbesondere im Verhältnis zu neuen Migrationsbewegungen. Es wird hervorhoben, dass Heimat auf Emotionalitäten, Bedürfnisse und Zugehörigkeiten auf individueller und subjektiver Ebene verweist (Seifert 2017). Dabei rückt in den Fokus, dass der Mensch in allen Zeiten bestrebt ist, Verbindungen herzustellen.
1.1
Erkenntnisinteresse dieser Arbeit
Die vorangegangenen Ausführungen bilden den Ausgangspunkt des eigenen wissenschaftlichen Interesses. Insbesondere im Kontext von (Flucht-)Migration entfaltet Heimat eine besondere Brisanz. Zum einen werden Migration und Flucht sowie Migrantinnen und geflüchtete Personen in der öffentlichen Besprechung in besonderer Weise angesprochen und positioniert. Zum anderen kommen sie selbst kaum zu Wort und tragen, wie bereits angedeutet, nur in spezifischer Weise zum Diskurs über Heimat bei. Das Potential
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und die Kontroverse in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung um den Heimatbegriff liegen dabei begründet in der Verwobenheit eines öffentlich besprochenen und zum Teil instrumentalisierten Heimatbegriffs und seiner Bedeutung auf individueller und subjektiver Ebene. Der Kulturanthropologe Seifert plädiert gerade aufgrund dieser Verschränkung für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Heimat. »Heimat und Beheimatung bieten in diesem Sinne gerade durch ihre Assemblage von Alltagspraxis, Gefühlslagen und Imaginationen in ihrer Verwobenheit mit Gesellschaftspolitik und ökonomischem Kalkül eine geeignete Perspektive zur kulturwissenschaftlichen Untersuchung des Lebens unter den Bedingungen spätmoderner Gesellschaftsverhältnisse.« (vgl. Seifert 2016:56) Diese Arbeit begegnet dem skizzierten Spannungsverhältnis. Ziel ist es zu untersuchen, wie Heimat, verstanden als Phänomen einer migrationsgesellschaftlichen Realität und eingebettet in spezifische Prozesse der Migrationspolitik und -kontrolle, auf der subjektzentrierten Ebene gestaltet wird (Mecheril 2018:315). Im Zentrum des Forschungsinteresses stehen dabei die Perspektiven und Empfindungen von geflüchteten Menschen. Es wird angenommen, dass Migration und Flucht zwar von Mobilität bestimmt sind, aber auch von Ankommen, Da-sein und »Beheimatung« (vgl. Binder 2010). Menschen richten sich an neuen Orten ein, sie eignen sich Räume an und verleihen ihrem Leben einen Sinn. Vor dem Hintergrund dominanter integrationspolitischer Forderungen bleibt dies meistens unsichtbar (Binder 2008:11). Die Anthropologin Avtar Brah nennt das Bedürfnis nach Sicherheit an dem jeweiligen Aufenthaltsort und die Sehnsucht, sich ein Zuhause einzurichten, homing desire (Brah 1996:180). Angelehnt an Hannerz legen auch Hedetoft und Hjort dar: »Globalization encourages ›biterritorialization‹ or ›multiterritorialization‹, an ability to imagine two or more sociographic sites as home.« (Hannerz 2002; Hedetoft, Hjort 2002:xxviii). Wissenschaftlerinnen befassen sich bereits seit etwa den 1970er Jahren mit einem Heimatverständnis, das Formen der Zugehörigkeit, Identitätsbildung, Bedürfnisse sowie emotionale Verankerungen des Selbst in einer jeweiligen Lebenswelt umfasst (Gebhardt et al. 1995:4). In Zusammenhang mit Flucht und Migration bezeichnen insbesondere frühe Forschungsansätze aus der Diasporaforschung Heimat als einen festen Ort mit besonderer Bedeutung. Mit der Einführung des transnationalen Paradigmas zu Beginn der 1990er Jahre durch die Ethnologinnen Glick Schiller, Basch und Szanton-
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Blanc wurde dieser Ansatz unter anderem von Migrationsforscherinnen problematisiert: Prozesse des Ankommens und Einfindens in einem neuen räumlichen Lebenszusammenhang wurden aus der Perspektive der Ankunftsländer funktionalisierend als Integration oder Assimilation bezeichnet (Ralph, Staeheli 2011:521; Vertovec 2009). Die Transnationalismusforschung bot nun die theoretische Rahmung für die Untersuchung standortübergreifender sozialer, politischer und ökonomischer Verbindungen, die Migrantinnen herstellen (Glick Schiller et al. 1992). Aus dieser Perspektive wirkt die soziale Konstruktion von Heimat allerdings verschwommen und ungenau. Vertovec setzt hier an und bemerkt, die Fokussierung auf grenzüberschreitende transnationale Alltagspraktiken vernachlässige die Anstrengungen und Mühen, denen Migrantinnen in ihren neuen Lebenswelten ausgesetzt sind (Vertovec 2009; Ralph, Staeheli 2011:521f; Karakayali, Tsianos 2007:10, 15f). Der aus heutiger Perspektive bereits seit einigen Jahren in der Migrationsforschung etablierte local turn verweist in diesem Sinne auf den Einfluss von lokalen Kontexten, Politiken beziehungsweise vorgefundenen »Umständen« (vgl. Karakayali, Tsianos 2007:16) auf individuelle Prozesse der Migration und Integration (Pott, Schmiz 2018:4). Heute ist Heimat ein vielschichtiges und unübersichtliches Forschungsfeld, das in vielen Disziplinen sowie interdisziplinär besprochen wird. Trotz dieser Popularität und der allgemeinen Erkenntnis, dass es sich hierbei um ein individuelles, psychologisches und dynamisches Konzept handelt, gibt es kaum empirische Studien, die Prozesse der Beheimatung beschreiben und dabei die konkreten Kontextbedingungen berücksichtigen, in denen Heimat ausgehandelt wird (Mitzscherlich 2019:184; Ralph, Staeheli 2011:520). Darüber hinaus wird die empirische Auseinandersetzung mit dem Heimatbegriff kaum verknüpft mit der Analyse und Berücksichtigung begriffsgeschichtlicher Aspekte. Diese Skepsis gegenüber dem Heimatbegriff liegt begründet in seinen ideologischen und kulturalisierenden Bedeutungsgehalten, seiner wechselhaften Geschichte und zum Teil problematischer politischer Instrumentalisierung in Vergangenheit und Gegenwart sowie der kaum zu überschauenden Varianz seiner Bedeutungen. Nicht zuletzt scheint Heimat in einer zunehmend globalisierten und von Migration und Mobilität geprägten Gesellschaft an Relevanz eingebüßt zu haben (Seifert 2016:55). In der sozialwissenschaftlichen empirischen Forschung werden daher andere Analysekonzepte herangezogen, um Zugehörigkeiten, emotionale Verankerungen und ortsbezogene Bindungen zu beschreiben. Konzepte wie belonging, homing desire oder feeling
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at home2 betonen verschiedenen Facetten eines akteurszentrierten Heimatbegriffs und erlauben Wissenschaftlerinnen, mit klar(er) umrissenen Konzepten zu arbeiten. Angesichts aktueller politischer und gesellschaftlicher Debatten plädiert diese Arbeit für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den vielgestaltigen Dimensionen des Heimatbegriffs und versteht diese als Notwendigkeit und Verantwortung. Jenseits eines überhöhten Heimatpathos gilt es, den Heimatbegriff sowohl ausgehend von seinen begriffsgeschichtlichen Dimensionen als auch unter Beachtung seiner vielgestaltigen subjektzentrierten Semantiken für die wissenschaftliche Beschäftigung und seine Anwendung im Rahmen einer empirischen Arbeit handhabbar zu machen. Insbesondere eine Auseinandersetzung im Kontext von Migration und Flucht beabsichtigt, jenseits der Frage nach »gelungener Integration« eine differenzierte Sicht auf Lebenswelten und emotionale Verankerungen von geflüchteten Menschen zu erzeugen, die in der öffentlichen Debatte um Heimat zumeist ausgeschlossen, ungefragt oder in bestimmter Weise positioniert werden. Anknüpfend an die vorangegangenen Überlegungen, macht es sich das Dissertationsprojekt zur Aufgabe, die subjektiven und individuellen Bedeutungen von Heimat für geflüchtete Personen zu ergründen. Dabei ist von zentraler Bedeutung, in welchen Spannungsfeldern einer migrationsbezogenen Realität Heimat subjektiv hergestellt, angeeignet und immer neu ausgehandelt wird. Ganz offenkundig kann damit ein wichtiger Beitrag geleistet werden zu einem aktuell zwar hermeneutisch und theoretisch, aber doch wenig empirisch bearbeiteten Forschungsfeld. Die zentralen Fragestellungen dieser Arbeit lauten: • •
• •
2
Welche Bedeutungen hat Heimat für Personen mit Fluchterfahrung? In welchen flucht- und migrationsspezifischen Spannungsfeldern wird Heimat durch Personen mit Fluchterfahrung gestaltet, bewahrt und immer neu ausgehandelt? Welche Dynamiken nehmen also Einfluss auf die Gestaltung von Heimat und welche Mechanismen werden im Umgang mit diesen durch Individuen entwickelt? Welche allgemeinen Charakteristika lassen sich daraus ableiten für die Konzeptionalisierung eines offenen Heimatbegriffs? Welches Potential birgt die Beschäftigung mit Heimat für die empirische geographische Migrationsforschung? Ausführungen zu den genannten Konzepten in Kapitel 2.10.; 3.1.1.; 3.1.2.; 3.1.4.
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Heimat und Migration
Auch wenn sich das Forschungsvorhaben dem Thema Heimat empirisch über die Narrationen geflüchteter Menschen nähert, lautet der Titel dieser Arbeit »Heimat und Migration«. Hiermit soll das einschneidende Erlebnis einer erzwungenen Migration und dessen Bedeutung und Auswirkungen auf Individuen, Gemeinschaften und Gesellschaften nicht verharmlost werden. Menschen, die gezwungen sind, den Ort, an dem sie leben, zu verlassen, werden aber als Akteure verstanden, die Migrationsentscheidungen bewusst treffen und ausgehend von ihren Lebensumständen und Zukunftsvisionen Strategien entwickeln. Migration und Flucht gehen daher miteinander Hand in Hand. Daran anknüpfend wird auch die Unterscheidung zwischen Migrantin und Flüchtling nicht als »objektive oder nur wissenschaftliche«, sondern »gesellschaftlich kontingente, historisch variable und häufig sehr umkämpfte Unterscheidung« (vgl. Pott 2018:110) bezeichnet. Migration wird in diesem Sinne als Überbegriff eines vielgestaltigen, hochkomplexen und keinesfalls geradlinigen menschlichen Phänomens verstanden. Darüber hinaus ist Heimat ein in hohem Maße diskursiv geformter Begriff, dessen Bedeutungsgehalte konträr zu Migration und Mobilität erscheinen. So steht der Titel dieser Arbeit auch für die Auseinandersetzung mit Heimat auf der begriffsgeschichtlichen, semantischen und konzeptionellen Ebene.
1.2
Zum wissenschaftlichen Vorgehen
Die wissenschaftliche Annäherung an die Multidimensionalität von Heimat verlangt eine sowohl inter- als auch transdisziplinäre Herangehensweise. Diese Arbeit bedient sich daher der Ansätze benachbarter Disziplinen der Geistes- und Sozialwissenschaften, den Schwerpunkt der disziplinären Verortung bildet aber die geographische Migrationsforschung. Für die Konzeptionalisierung von Heimat und ihre Handhabung im Rahmen einer empirischen qualitativen Studie werden zunächst zwei Verständnisebenen differenziert. Es wird hervorgehoben, dass Heimat einerseits kulturhistorisches Produkt ist, andererseits aber auch Gültigkeit und Potential als analytisches Instrument besitzt. Kapitel 2. widmet sich in begriffsgeschichtlicher Perspektive der Ausführung zentraler historischer Phasen bis in die Gegenwart, in denen Heimat gesellschaftlich und politisch diskutiert wurde. Nach der historischen Zusammenschau folgt ein Perspektivenwechsel: Basierend auf der Systematisierung eines umfangreichen wissenschaftlichen Literaturkorpus, in dem Heimat als Begriff individueller, subjektiver
1 Heimat und Migration als Forschungsfeld
Verortung beschrieben wird, arbeitet Kapitel 3. seine wesentlichen semantischen Facetten heraus. Hiermit wird beabsichtigt, eine Annäherung an die wesentlichen Bedeutungsfacetten von Heimat zu erreichen, auch wenn hier selbstverständlich kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden kann. Bei der Beschäftigung mit Heimat gilt es, nicht blind zu sein hinsichtlich der darin enthaltenden problematischen und ideologischen Annahmen. Der akademischen Auseinandersetzung mit Heimat ging immer eine politische und gesellschaftliche Besprechung voraus, weshalb auch in ihrem Verständnis als subjektives Phänomen eine Bandbreite an normalisierenden Annahmen enthalten ist. Pfaff-Czarnecka spricht in diesem Sinne von »Frames« »mit gefährlichen, exkludierenden und unzeitgemäßen Bedeutungen« (Pfaff-Czarnecka 2012:1). Ziel einer Konzeptionalisierung ist es also auch, das »identitäre, harmonistische, mit dem Herkunftsmilieu verknüpfte Heimat-Verständnis zu überwinden« (vgl. Rosa 2019:153) und eine Freilegung des analytischen Potentials von Heimat in der empirischen Forschung vorzunehmen. Das Konzept der Migrationsregime dient dabei als »nicht-essentialistische Forschungs- und Analyseperspektive« (vgl. Nieswand 2018:94) und unterstützt das Einnehmen einer für Flucht- und Migrationsfragen sensiblen Haltung im Forschungsprozess. Darüber hinaus ermöglicht es die Beobachtung von Kontextfaktoren, die an der individuellen Aushandlung und Gestaltung von Heimat beteiligt sind. In Kapitel 4. erfolgt die ausführliche Darstellung der methodologischen Herangehensweise. Das Forschungsvorhaben entwickelte sich im Setting einer transdisziplinären Reallaborforschung. So ging fast allen erhobenen Interviewdaten eine intensive Phase des Kennenlernens und Zusammenarbeitens zwischen den Interviewten und den Beteiligten im transdisziplinären Forschungsteam voraus. Die Methoden und Ansätze der Biographieforschung stellen die interviewten Personen ins Zentrum der Forschung und eröffnen diesen durch die wenig vorstrukturierte Form der Datenerhebung Raum für die Entwicklung ihrer biographischen Erzählungen. Die biographische Methode ermöglicht sowohl die Betrachtung von Selbstdefinitionen als auch die Analyse von Zuschreibungen und deren Auswirkungen auf biographische Konstruktionen. Sie ist daher ein wichtiges Element in einem machtsensiblen und selbstreflexiven Forschungsprozess. Kapitel 5. und 6. widmen sich der Darstellung der Erkenntnisse des empirischen Forschungsprozesses entlang der zentralen Fragstellungen. Kapitel 5. stellt in drei Schritten die Ergebnisse der Analyse vor. An die Darstellung der biographischen Informationen und Selbstrepräsentationen jeder befra-
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Heimat und Migration
gen Person schließt die Formulierung von sechs zentralen Heimatphänomenen an, die – angelehnt an die Ausführungen in Kapitel 3. – aus der Empirie hervorgegangen sind. Im dritten Schritt werden drei Typen vorgestellt, in denen sich die gewonnenen Erkenntnisse verdichten, sodass allgemeine Aussagen getroffen werden können zu zentralen Konstruktionen von Heimat und Formen der Beheimatung von geflüchteten Menschen. Kapitel 6. befasst sich mit der Darstellung der fallübergreifenden Erkenntnisse dieser Untersuchung. Entlang der eingangs formulierten Fragstellung wird ausgeführt, in welchen Spannungsfeldern geflüchtete Menschen Heimat stetig aushandeln. Abschließend skizzieren vier zentrale Aussagen die Konturen eines akteurszentrierten Heimatkonzepts, nehmen dabei aber bewusst keine (erneute) Begriffsdefinition vor. Das letzte Kapitel wirft sowohl einen Blick zurück als auch nach vorne. Als bedeutsam hervorgehoben für die zukünftige Beschäftigung mit Migration und Heimat werden sowohl die raumtheoretischen Ansätze aus der Geographie als auch die Prinzipien und Ansätze der transdisziplinären Reallaborforschung. Damit leistet diese Arbeit einen wichtigen und notwendigen Beitrag zu der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Heimat sowie der Etablierung transdisziplinärer Forschungsansätze in der geographischen Migrationsforschung.
2. Heimat als kulturgeschichtliches Produkt – historischer und soziopolitischer Zugriff
Die Auseinandersetzung mit dem Konzept Heimat ist heute so komplex wie nie zuvor – trotz oder gerade wegen seiner fortwährenden intensiven medialen, politischen, gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und nicht zu vergessen persönlichen Rezeption. Die Ausführungen in Kapitel 2. und 3. beabsichtigen, die Komplexität und Vielschichtigkeit der Verwendung des Heimatbegriffs zu beleuchten und seine Beschaffenheit als universelles Phänomen emotionaler Verankerung, jenseits einer »deutschen Wesensbeschreibung« herauszuarbeiten (Bausinger 2001:133). Diese systematische und mehrschrittige Auseinandersetzung verfolgt damit das Ziel, Heimat greifbar zu machen, seine ideologischen Bestandteile zu identifizieren und weitestgehend zu entmystifizieren. Dies ist ein Vorgehen, das im Kontext aktueller Besprechungen und Mutmaßungen unbedingt vonnöten ist (Mitzscherlich 2019:184; Costadura et al. 2019:21). Der hier erfolgende historische Zugriff ist nicht als bloße Pflichtübung zu verstehen. Es wird verdeutlicht, dass Heimat kein natürlich gegebenes Phänomen ist, sondern zeitlebens gesellschaftlich ausgehandelt, beansprucht und instrumentalisiert wurde. Der Heimatbegriff ist Sammelbecken unterschiedlicher Bedeutungsschichten, die entlang gesellschaftlicher Bedürfnisse hervortreten. Diese werden explizit bemüht und weiter angereichert und Heimat so zu einem kulturgeschichtlichen Produkt gemacht (Seifert 2010:12). Dieses Verständnis ist eng verwoben mit Semantiken, die auf subjektiver Ebene wirksam werden. Einschränkend wird angemerkt, dass sich die Ausführungen in erster Linie auf die deutschsprachige Auseinandersetzung im Gebiet der heutigen Bundesrepublik beziehen. Chronologisch wird nun ein Überblick zu politischen und gesellschaftlichen Konjunkturen des Heimatbegriffs vom späten Mittelalter bis in die Gegenwart gegeben. Die Übersicht schließt mit der Herausarbeitung und Dar-
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Heimat und Migration
stellung von zeitenübergreifenden Mustern. In Form eines Zwischenfazits wird hier zusammengefasst, was Gesellschaften dazu veranlasst, sich immer wieder mit Heimat auseinanderzusetzen. So vermag diese Analyse auch gegenwärtige Thematisierungen von Heimat in den historischen und gesellschaftlichen Kontext einzuordnen. Übergänge zwischen den genannten zeitlichen Phasen sind fließend, sie überlappen sich und Semantiken, die auch gegenwärtig in Heimatkonzepten enthalten sind, bleiben erhalten. Dabei ist es nicht das Ziel dieses Kapitels, eine vollständige Übersicht bedeutsamer Konjunkturen in historischer Perspektive bereitzustellen. Dies ist angesichts der Komplexität des Sachverhalts und der Richtung dieser Arbeit weder möglich noch nötig. Ausgehend von der Sichtung eines breiten interdisziplinären Literaturkorpus wird beabsichtigt, Bezüge herzustellen zwischen Heimat in historischer Betrachtung und den semantischen Dimensionen, die in Kapitel 3. ausgeführt und zur Grundlage der empirischen Analyse werden. Entlang der leitenden Fragstellung ist dabei von besonderem Interesse, Dynamiken von Inklusion und Exklusion, den Umgang mit Fremdheit und Vertrautheit sowie Zusammenhänge zwischen Migration und Mobilität in der Besprechung von Heimat hervorzuheben. Zudem offenbart sich das emotionale Potential von Heimat. In diesem Sinne bildet das Kapitel den Auftakt für die kritische inhaltliche und analytische Auseinandersetzung mit dem Heimatbegriff.
2.1
Die Etymologie des Heimatbegriffs
Während erste Erwähnungen und Vorläufer des heutigen Heimatbegriffes bis ins Hochmittelalter nachgewiesen sind, ist die aktive Verwendung des Wortes sehr viel jünger zu datieren (Seifert 2010:12). Die Vorläufer des heutigen Wortes Heimat sind auf die aus dem Mittelhochdeutschen stammenden Begriffe heimout(e), heimōt(e), heimōde, heimüete, auf die althochdeutsche Bezeichnung heimōti, heimuoti, eimōdi sowie auf das mittelniederdeutsche he(i)mode, heinmōt zurückzuführen. Das Suffix »-ōti« bildet dabei auch Wörter wie Armut oder Einöde. Für den Begriff heim für Haus, Wohnort, Wohnsitz, Heimstätte, Heimwesen, aber auch Gesinde liegt die indogermanische Wurzel kei mit der Bedeutung »liegen« und »Ort, an dem man sich niederlässt, Lager« zugrunde (Deutsches Wörterbuch 1971; Drosdowski 1997; Kluge 2011). Im Goethe-Wörterbuch findet sich zum Begriff Heimat eine Vielzahl sowohl enger als auch weiter gefasster Begriffserläuterungen. So meint Heimat
2 Heimat als kulturgeschichtliches Produkt – historischer und soziopolitischer Zugriff
einen durch Abstammung oder Ansässigkeit vertrauten Lebensraum wie das »Vaterland«; aber auch ein »Glück und Geborgenheit vermittelndes Zuhause« sowie einen »geistig-seelischen Zufluchtsort«. Ebenso wie im Deutschen Wörterbuch ist die Silbe »Heim-« oder «-heim« zudem Teil zahlreicher Komposita, wie »heimatsüchtig«, »Heimsuchung« oder »heimlich-kätzchenhaft« (Deutsches Wörterbuch 1971; Goethe-Wörterbuch 2004). Auch wenn sich über den tatsächlichen Gebrauch dieser Heimatkomposita wenig sagen lässt, so kann doch ein vielfältiger, beinahe schon inflationärer Erfindungsreichtum rund um den Begriff Heimat festgestellt werden.
2.2
Heimat als Rechtsbegriff
Der Begriff Heimat findet im 15. Jahrhundert zum ersten Mal schriftlich Erwähnung. Aber erst im Übergang zum 18. Jahrhundert, als bestimmte soziale Gruppen, beispielsweise aufgrund eines geerbten Landbesitzes in der Heimatgemeinde, sich dauerhaft niederließen, gewann Heimat an Bedeutung und fand Eingang in den deutschen Sprachgebrauch (Schmoll 2016:25; Schneider 2003:1). Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts war Heimat definiert in den vorindustriellen dörflichen Rechts- und Sozialstrukturen und hatte eine klare alltagsweltliche Bedeutung (Reuber 1993:3; Emig, Frei 1990:308). Heimat stellte einen materiellen Versorgungsanspruch gegenüber einer Gemeinde dar. Zahlte man Abgaben für seinen Besitz, so war man auch im Fall von Krankheit und Alter durch die Gemeinde versorgt. Im Falle des sogenannten »Abschubs«, wenn man wegen Haftbarkeit in einer fremden Gemeinde in die eigene zurückgebracht wurde, stand diese ebenfalls in der Verantwortung für den entstandenen Schaden. Im Zuge des sogenannten Anerbenrechts erhielt der älteste männliche Nachkomme mit dem Erbe des Familienbesitzes dieses Heimatrecht qua Geburt. Jüngere männliche Geschwister mussten sich andere Wege des Zugangs zum Heimatrecht beziehungsweise zur Existenzsicherung suchen. Heimat in diesem rechtlichen Sinne war in der Regel mit sozialem Ansehen, Status sowie politischem und ökonomischem Einfluss verbunden. Frauen konnte das Heimatrecht lediglich mit der Hochzeit übertragen werden (Schneider 2003:2; Seifert 2010:12f; Köstlin 2010:32). Mittellose Personen, wie Landstreicherinnen, Gelegenheitsarbeiterinnen oder Kriegsflüchtlinge, wurden bis ins 16. Jahrhundert vom Heimatrecht ausgeschlossen (Bausinger 1980:12; Joisten 2012:40). »Heimatlosigkeit« bedeutete den Aus-
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Heimat und Migration
schluss von wichtigen Rechten, wie der Eheschließung, der Niederlassung oder der Ausübung eines Gewerbes (Köstlin 2010:32). Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das Recht auf Versorgung durch die Heimatgemeinde durch ein anderes Recht abgelöst. Nachdem bereits mit der Gründung des Norddeutschen Bundes Gesetze erlassen worden waren, die mehr Freizügigkeit zuließen, wurde 1871 das Recht des Unterstützungswohnsitzes eingeführt. Dieses formulierte den Anspruch auf Unterstützung durch die Zugehörigkeit zu einem Ortsarmenverband (Gesetz zur Ausführung des Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870 über den Unterstützungswohnsitz vom 17. April 1873). Das Heimatrecht verlor damit seine rechtliche Bedeutung, wird aber heute als eine der Grundlagen des sozialen Rechtstaates betrachtet (Pfister-Heckmann 1998:105; Neumeyer 1992:9; Unruh 1985:12). Während Heimat hier nicht vordergründig als emotionalisierter Begriff in Erscheinung trat, verdeutlichte sich doch seine räumliche Dimension. Heimat bezeichnete den konkreten Besitz von Land und den damit in Verbindung stehenden Rechten in Abgrenzung zu denjenigen, die von diesem Recht ausgeschlossen waren. Dadurch wurden ebenfalls die Bedeutung und das Privileg von Sesshaftigkeit bekräftigt.
2.3
Heimweh als Krankheitsbild
Auch wenn Emotionen in der rechtlichen Ausrichtung des Heimatbegriffs noch keine Rolle spielten, so finden sich bereits im 17. Jahrhundert Beschreibungen von Heimat als Teil eines Krankheitsbildes und damit zum ersten Mal Hinweise auf eine emotionale Besetzung des Heimatbegriffs. Der heute noch geläufige Begriff des Heimwehs taucht erstmals auf in Darstellungen von Schweizer Söldnerinnen, die, zumeist nur vorübergehend, fern ihrer »Heimat« stationiert waren. Unter diesen Bedingungen neigten sie zu Orientierungsverlust, begingen Verbrechen und drohten sogar an den Folgen der Krankheit zu sterben (Neumeyer 1992:14f). Im Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache wird Hei(m)wē als die Sehnsucht nach der Heimat, daher der vertrauten Umgebung und den Angehörigen beschrieben. Es wird weiter ausgeführt, dass das Mitgeben oder Einnähen von Brot in die Kleidung der in der Fremde Lebenden das Heimweh zu lindern vermochte (Schweizerisches Idiotikon Band XV:42ff). Der Mediziner Johannes Hofer beschrieb in seiner 1688 veröffentlichten Dissertationsschrift das erste Mal ausführlich das Phänomen Heimweh unter dem medizinischen Begriff »Nostalgia«. Das griechi-
2 Heimat als kulturgeschichtliches Produkt – historischer und soziopolitischer Zugriff
sche Wort beinhaltet die Begriffe »Rückkehr in die Heimat« sowie »Schmerz« und »Traurigkeit«. In einer späteren Fassung hat der Autor den Titel erweitert zu »Heimwehe oder Heimwehsucht« (Gerschmann 1975:86). Heimweh impliziert also die Sehnsucht nach Geborgenheit im zurückgelassenen Ort. Sie trat auf bei empfundener Einsamkeit und Hilflosigkeit, fern der bekannten Umgebung (Pfister-Heckmann 1998:105). Das Phänomen der »Heimwehkranken« ging daher über rechtliche Belange hinaus (Karl-Jaspers-Stiftung 2019). Auch spätere Arbeiten, wie die Schriften des Philosophen und Psychiaters Karl Jaspers Anfang des 20. Jahrhunderts, geben Aufschluss über Formen und Verläufe dieses Krankheitsbildes. Sie schließen an eine bis dahin bereits über 200jährige Begriffsgeschichte an, in der das Heimweh als pathologischer Befund thematisiert wurde (Bausinger 2001:126f).
2.4
Romantik – das Fremde in der Heimat
Die in der Pathologisierung von Heimweh bereits enthaltene Dialektik von Fremdem und Vertrautem ist eine auch heute noch geläufige Facette des Heimatbegriffs. Im Zeitalter der Romantik am Ende des 18. Jahrhunderts wird diese weiter vertieft. Mit der Dichtung der Romantik wurde Heimat beziehungsweise Heimweh, als Fachbegriff aus der Medizin, in den allgemeinen Sprachgebrauch überführt. Die Heimatsehnsucht wurde in die Innenwelt verlagert und Heimat damit um weitere Bedeutungsnuancen bereichert (Neumeyer 1992:15f; Mitzscherlich 2013:48). Die philosophischen Strömungen der Romantik begriffen den Zeitgeist überwiegend als Epochenkrise. In einer zunehmend von Technisierung geprägten Welt entstand in der Romantik das Bedürfnis nach emotionaler Vollständigkeit und der Hinwendung zur Natur. Heimat wurde die Idee einer Welt, die einem nicht starr, sondern resonant entgegentritt, wie dies Rosa formuliert (Rosa 2019:167f). Die Annäherung an die Natur wurde als das Wahre und als Gegensatz zu einer immer kälter werdenden Welt betrachtet. Heimat galt als Wunschort, an dem die Möglichkeit einer uneingeschränkten Geborgenheit bestand (Hüppauf 2007:116). Darüber hinaus benennen Gebhard et al. als typisch für diese Zeit »eine Weitung des Horizontes, [die] auch Heimat nicht unberührt lässt« (vgl. Gebhard et al. 2007:18). Beispielsweise zeigt sich mit Blick auf die Auseinandersetzung mit dem Eigenen und dem Fremden in den Werken Hölderlins einerseits eine Abstraktion des Heimatbegriffs und andererseits die Möglichkeit seiner reflexiven Aneignung. Die Erfahrung von Fremdheit lieferte Schriftstellerin-
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nen in dieser Zeit häufig einen Impuls, um über sich selbst und ihr Verhältnis zur Welt nachzudenken (Piltz 2007:73). Hölderlin beschreibt Heimat als etwas Basales und zu Erwartendes, das sich beispielsweise anhand von Landschaften, wie dem Neckar, zeigt, aber auch in familiären Umarmungen (Gebhard et al. 2007:14ff; Schmitz 1999:230). Zugleich stellt er dieses Bekannte in eine Dialektik zum Fremden, das er insbesondere während seiner Wanderungen erlebte. Der Philosoph Ophälders verdeutlicht, Heimat erschließe sich für Hölderlin immer in der Erfahrung des Fremden. So beinhaltet der Heimatbegriff nicht nur das Vertraute, sondern meint auch den Aufbruch und die Öffnung des Heimatlichen (Cluverius 2018). Eine insbesondere in dieser Zeit zu verortende und bis heute geläufige semantische Facette beschreibt Heimat als Ordnungsprinzip von Zugehörigkeit und Ausschluss. Ihre Bedeutung entfaltet sie demnach erst in der Abgrenzung von Eigenem und Fremdem. Im 19. Jahrhundert wurde diese Vorstellung in Nationalisierungsdiskursen identitätspolitisch instrumentalisiert (Gebhard et al. 2007:19f).
2.5
Heimatschutzbewegungen und industrieller Umbruch
Mit dem Beginn der Industrialisierung, dem einsetzenden wirtschaftlichen Aufschwung und einem damit einhergehenden gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozess, entwickelte sich eine grundsätzlich neue Bedeutung von Heimat (Neumeyer 1992:17; Seifert 2010:13; Bausinger 1980:14). Ein rasantes Bevölkerungswachstum, Landknappheit und das Aussterben ganzer Berufszweige, insbesondere in der Landwirtschaft, sind nur einige Entwicklungen, die viele Menschen am Ende des 18. Jahrhunderts dazu veranlassten in die Städte zu ziehen. In Deutschland wie auch in Europa stieg die Bevölkerung in den Städten um das Vielfache. Wohnungsknappheit führte dazu, dass Familien auf kleinstem Raum zusammenlebten. Andere entschieden sich dazu, nach Amerika auszuwandern. Eine Romantisierung der »zurückgelassenen Heimat« führte dabei zu einer semantischen Erweiterung des Heimatbegriffs (Costadura, Ries 2016:9). In seiner Monographie »[d]ie Unwirtlichkeit unserer Städte« spricht der Psychoanalytiker Mitscherlich von einer »industriellen Massenzivilisation« (vgl. Mitscherlich 1996:31). Industrialisierung, Technisierung und Bevölkerungsanstieg hätten »die soziale Stabilität« zerrüttet (vgl. Mitscherlich 1996:82). Die Gemälde Edward Hoppers und Friedrich Menzels sind typisch für diese Zeit: Eine Dampflok durchschneidet eine bäuerliche Landschaft,
2 Heimat als kulturgeschichtliches Produkt – historischer und soziopolitischer Zugriff
Fabrikarbeiterinnen bändigen Glut in einem Eisenwalzwerk. In Hoppers Gemälden scheinen die leeren Blicke der abgebildeten Figuren auszudrücken, dass sie nicht wissen, wieso sie in der Welt sind. Wie als Antwort auf diese Umwälzungen formierte sich in Deutschland seit den 1870er die Heimatschutzbewegung, der unterschiedliche Strömungen und Gruppierungen angehörten. Trachten-, Geschichts- und Heimatvereine hatten das Ziel, Rückschau zu halten und vermeintliche Traditionen zu pflegen. Ihre Tätigkeiten bestanden in der Erfassung, Bewahrung und Untersuchung von Artefakten und Landschaften, die einen Bezug zum regionalen und lokalen Kontext herstellten (Ditt 1990:135ff; Seifert 2010:9f). Die räumliche Organisation der Heimatvereine unterschied sich dabei deutlich. In den Dörfern und kleineren Städten, wo die Anzahl an Akademikerinnen geringer war als in den Städten, schlossen sich diese mit interessierten Laiinnen in fachübergreifenden Heimatvereinen zusammen. Die Gründung angesehener fachspezifischer Wissenschaftsvereine zum Thema Heimat war dagegen ein Phänomen größerer Städte (Ditt 1990:136; Haase 1968). Die sogenannten Heimatmuseen entstanden zumeist aus der Umwandlung von Lagerräumen in öffentlich zugängliche Bildungsstätten. Ein weiteres wichtiges Arbeitsfeld war die Erhaltung und Verschönerung der Gemeinden (Ditt 1990:138). Am 30. April 1904 wurde auf Initiative einiger einflussreicher Personen im Bildungsbürgertum der Deutsche Bund Heimatschutz (DBH) gegründet (Ditt 1990:138). Zwar blieben mit dieser Zentralisierung die ursprünglichen Aufgaben der Heimatvereine weitgehend erhalten, es sind jedoch auch Verschiebungen erkennbar. So entwickelten sich die Heimatmuseen mehr und mehr zu bloßen Materialsammlungen, ohne eine historische Forschung zu praktizieren, die wissenschaftlichen Standards genügt hätte (Ditt 1990:140f). Diese Institutionalisierung von Heimat kann auf unterschiedliche Aspekte und Geschehnisse in dieser Zeit zurückgeführt werden. Zum einen wird die Besinnung auf Heimat begriffen als Gegenbewegung zur Industrialisierung (Köstlin 2010:31; Schneider 2012:15, 17; Costadura, Ries 2016:11ff). Heimat wird zu einem konstruierten Rückzugsort, zu einer Kulisse, die eine vorindustrielle, intakte ländliche Welt fingiert (Schneider 2012:15, 17; Costadura, Ries 2016:11ff; Bausinger 1980:14). Die Reichsgründung im Jahr 1871 gab den Heimatvereinen außerdem Anlass, sich Zentralisierungs- und Vereinheitlichungsbemühungen entgegenzustellen. Die Heimatbewegung erfuhr in dieser Zeit überdies eine Internationalisierung, die Bausinger auch als eine Vorstufe zur Globalisierung betrachtet. Nation verband sich hier mit Heimat zu einem vermeintlich natürlichen Prinzip (Bausinger 1980:14ff). Damit wurde
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sie Bausinger zufolge zu einem Kompensationsraum, um die Unsicherheiten zu verdrängen, die durch die gesellschaftlichen Veränderungen hervorgerufen wurden (Bausinger 1986:96). Köstlin, Békési und andere weisen aber darauf hin, dass diese Sehnsucht nach Heimat nicht nur rückwärtsgewandt, sondern auch progressiv zu verstehen sei. Die Heimatbewegung formierte sich aus vielen unterschiedlichen Gruppierungen, die trotz konservativer Tendenzen mitunter auch Zivilisations- und Fortschrittskritik üben konnten und insbesondere im Bereich Umwelt- und Naturschutz reformerische Ansätze verfolgten. Die wissenschaftlich fundierten Einschätzungen zu dieser Frage gehen jedoch weit auseinander (Köstlin 2010:27; Békési 2010:55; Ditt 1990:141; Neumeyer 1992:25, 27). Der Dachverband der Heimatvereine entstand nicht zuletzt aus der Idee, Deutschland befinde sich in einer tiefen Kulturkrise, die durch die Industrialisierung hervorgerufen worden sei und sowohl die soziale Ordnung als auch die Natur bedrohe (Ditt 1990:139).
2.6
Eigenständiges Phänomen und politische Propaganda – Heimat zur Zeit des Nationalsozialismus
Während Heimat zuvor meist einen starken realräumlichen Bezug hatte, entwickelte sich ihre Bedeutung in den 1920er und 1930er Jahren zunehmend zu einem standardisierten, entlokalisierten und damit auch eigenständigen Phänomen (Piltz 2007:73). Heimat äußerte sich in Symboliken, Gegenständen und Bildern, die keinen Bezug mehr zu einem konkreten Lebenszusammenhang aufwiesen. In dieser Zeit liegen die Wurzeln der sogenannten Heimatliteratur und deren bedeutsamste Form, des Heimatromans (Bausinger 2001:128f; Bausinger 1980:17). Während Bilder und Assoziationen zu Heimat, wie die Darstellung ländlicher Idylle oder die Identifikationen mit abgeschlossenen räumlichen Kontexten und sozialen Gruppierungen, in den Erzählungen der Heimatromane weiterhin existierten, verlor Heimat in dieser Zeit an konkreter Bedeutung, sie wurde zunehmend diffus und uneindeutig (Neumeyer 1992:32). Nach den Erschütterungen des Ersten Weltkriegs und einer zunehmenden Nationalisierung entwickelte sich Heimat mehr und mehr zu einem Element politischer Propaganda. Der Begriff stand für eine überschaubare romantische Gegenwelt, deren Beschaffenheit sich zunehmend vermengte mit der Blut-und-Boden-Ideologie der Nationalsozialisten, wodurch insbesondere die Stellung der in der Landwirtschaft tätigen »arischen«
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Bevölkerung verherrlicht wurde (Neumeyer 1992:33; Bergmann 1970:278ff; Schneider 2012:15). Diese völkische Ausrichtung des Heimatbegriffs führte außerdem zu einem neuen Aufschwung von »Heimatschutz« und »Heimatpflege« (Bausinger 1980:15). Nicht mehr nur die Landschaft und die Region standen jetzt für Heimat, sondern die Volkszugehörigkeit wurde mit Heimat verbunden (Köstlin 2010:26). Die Verfechterinnen der Heimatbewegung und die Nationalsozialistinnen unterschieden sich in ihren Begrifflichkeiten kaum noch voneinander, zudem waren die Gruppierungen auch auf der organisatorisch-strukturellen Ebene miteinander verschränkt. Dies hatte zur Folge, dass die Heimatbewegung ihr einstiges Profil verlor (Ditt 1990:136, 153f). Der Begriff »Heimatfront« stand dabei für den Einbezug der Zivilbevölkerung in die militärische Mobilisierung und nahm Bezug zu den im Alltag erlebten Verlusten und Zerstörungen (Echternkamp 2015). Im Rahmen des nationalsozialistischen Bevölkerungstransfers wurde mit der propagandistischen Formel »Heim-ins-Reich« die Ideologie einer sogenannten Urheimat bemüht. Allen, die zum Zweck der Gründung eines Großdeutschen Reichs »zurück« in die Grenzen des Reiches siedelten, wurde ein ebenso großes Stück Boden versprochen, wie dasjenige, das sie verlassen hatten (Greverus 1979:102). Derartige Vorstellungen wurzelten im frühen Heimatverständnis des 19. Jahrhunderts, als Heimat an Besitz gebunden war und qua Geburt vererbt wurde (Bausinger 2001:132). Jedoch hatten Bindungen an einen festen Ort zu dieser Zeit bereits an Bedeutung verloren. Der Heimatbegriff wurde in diesem Sinne gleichgesetzt mit dem »Vaterland« und zu einem »politischen Beschwichtigungsangebot«, da er auch an die Idee einer vermeintlich natürlich gewachsenen Verbindung anknüpfte (vgl. Bausinger 1990:80f). Folgenreich war das nationalsozialistische Heimatverständnis insbesondere für jene, die von dieser »völkischen Heimat« exkludiert waren. Für den Holocaust-Überlebenden Jean Améry ging damit die Zerstörung des eigenen heimatlichen Zugehörigkeitsgefühls einher: »Das echte Heimweh […] bestand in der stückweisen Demontage unserer Vergangenheit« (vgl. Améry 1980:88). Mit ähnlichen Fragen beschäftigten sich im Zweiten Weltkrieg verfolgte, exilierte und internierte Schriftstellerinnen, wie Else Lasker-Schüler oder Stefan Zweig. Sie reflektierten den Heimatbegriff unter der Fragestellung, ob eine neue Heimat im Ausland möglich sei. Zudem beschrieb Heimat jenseits einer konkreten Verortung auch die Hoffnung und Sehnsucht, dem erlebten Leiden zu entkommen. Ihre literarischen Auseinandersetzungen mit Heimat bezeichnet der Historiker Sturm als Aspekte eines nichthegemonialen Hei-
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matdiskurses. Sie fanden lange kaum öffentlich Gehör, da exilierte Schriftstellerinnen in der Bundesrepublik noch lange Zeit als »vaterlandslos« geächtet wurden (Costadura, Ries 2016:14f; Sturm 2019:5; Schlink 2000:14).
2.7
Heimatvertriebene – Heimat unter Ideologieverdacht
Schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Vereine und Initiativen der Heimatbewegung bestrebt, ihre Tätigkeiten fortzusetzen. Ihre Vertreterinnen betrachteten sich selbst als unpolitisch und losgelöst von persönlichen Verstrickungen zum System des Nationalsozialismus, ungeachtet der Tatsache, dass ihre Vorstellungen doch organisatorisch-strukturell zur Ideologie des Nationalsozialismus anschlussfähig gewesen waren (Schaarschmidt 2010:128). Während in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) die Nation weiterhin zu einer sozialistischen Heimat umgedeutet wurde, kam in den 1950er Jahren in der Bundesrepublik (BRD) eine neue Form der Heimatbewegung auf (Costadura et al. 2019:17). Das Phänomen der sogenannten Heimatvertriebenen und die Frage nach deren Zugehörigkeit bestimmte in dieser Zeit die Debatte um den Begriff Heimat (Sturm 2019:6). Diskriminierung und Ausschluss dieser aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten kommenden Flüchtlinge und Umsiedlerinnen durch Teile der einheimischen Bevölkerung führten zu einer Aufwertung von kulturellen Symbolen wie Trachten, Gesängen und Speisen (Greverus 1979:103). Die Glorifizierung der Heimat durch die Vertriebenenverbände fungierte auch als Mittel zur Bewältigung der eigenen Vergangenheit und diente der Konstruktion eines neuen heimatorientierten Gruppenzusammenhangs. Der Heimatbegriff der Vertriebenenverbände galt aber weithin als konservativ und rückwärtsgewandt, er richtete sich einerseits auf konkrete Orte und beschwor zudem eine emotional verbundene Gemeinschaft. Gemeinhin trug der in dieser Zeit geprägte Heimatbegriff zu seinem negativen Bild bei, unter anderem, weil damit die Frage nach der »Rechtmäßigkeit« der Einteilung von Täterinnen und Opfer des Nationalsozialismus infrage gestellt wurde (Türcke 2006:67ff; Schmitt 2014:18). Ein weiteres, hier nur am Rande angeführtes Phänomen, sind die sogenannten »heimatlosen Ausländer«, auch als »Displaced Persons« bezeichnet. Diese Bezeichnung, gemäß dem »Gesetz über die Rechtsstellung heimatloser Ausländer im Bundesgebiet (HAuslG)«, erhielten Zivilistinnen, wie ehemalige Zwangs- und Fremdarbeiterinnen und KZ-Häftlinge, die sich als Staatenlose
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oder Ausländerinnen nach dem Zweiten Weltkrieg als Flüchtlinge in Westberlin beziehungsweise im Gebiet des ehemaligen Deutschen Reichs aufhielten. Sie wurden laut Gesetz von der Internationalen Organisation in Obhut genommen (HAuslG §1), da es nicht allen möglich war, in die Länder zurückzukehren, von denen aus sie nach Deutschland gelangt waren. Das Ziel der Betreuung war die Rückführung der »Displaced Persons« in ihre Herkunftsländer oder aber ihre Überführung in den regulären Arbeitsmarkt, was allerdings auch mehrere Jahrzehnte nach dem Ende des Krieges nicht erreicht werden konnte (Hennies et al. 2018; Kühne o.J.).
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Umweltschutz und Heimatfilm – Die Wiederentdeckung des Lokalen
In den 1950er Jahren erlebte der Heimatfilm einen Aufschwung. Er zeigte idyllische Landschaften, kam aus mit schlichten, aber sympathischen Charakteren und absehbaren Erzählungen von Familie, Liebe und dem Leben auf dem Land. Er fand, immer begleitet von tragender Musik, ein wohltuendes Ende. Heimatfilme in dieser Zeit wie »Grün ist die Heide (1951)« oder »Das alte Försterhaus (1956)« beschrieben eine einfache, aber auch unwirkliche Welt, die das Bedürfnis vieler nach einer stabilen Einheit von Mensch, Natur und Umwelt inszenierte (siehe zum Beispiel Film- und Fernsehjuwelen 2013). Das Aufkommen von Schlagerfestivals und der Deutschen Hitparade war neben dem Heimatfilm ebenfalls charakteristisch für die Medienkultur der Nachkriegszeit. Heimat und Heimweh waren gängige Topoi dieser Zeit, oftmals in einer Dichotomie mit dem Phänomen der Reiselust und des Fernwehs als Folgen der Wirtschaftswunderzeit (Schulz 2012:128ff). Der Musiktitel »Heimweh« von Freddy Quinn wurde in den 1950ern veröffentlicht und verkaufte sich acht Millionen Mal; auch ein Schlager wie »Heimatlos« erreichte ähnliche Verkaufszahlen. Er steht beispielhaft für das im zeitgenössischen Schlager typische Besingen der verlassenen Heimat (Fraser, Hoffmann 2006:262f). Die 1970er und 1980er Jahre dokumentieren eine positive Umdeutung des Heimatbegriffs. Diese »Wiederentdeckung der Heimat« (vgl. Mitzscherlich 2013:52) war insbesondere ein Phänomen ökologisch orientierter linker Gruppierungen, die gegen Waldsterben, Umweltverschmutzung, militärische Aufrüstung und Atomkraft protestierten. Damit gewann auch der Bezug zu einem lokalen und konkreten Kontext wieder an Bedeutung (Mitzscherlich 2013:52). Die Bewegungen wiesen durchaus Parallelen zu den Gruppierungen
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um die Jahrhundertwende auf, die angesichts von Industrialisierung und wachsender Verschmutzung, Heimat als Gegenbegriff konstruiert hatten (Costadura, Ries 2016:16; Mitzscherlich 2008). Ähnlich wie zu Zeiten dieser ersten Heimatschutzbewegung bezog sich Heimat nicht auf ein rückwärtsgewandtes romantisches Bild der Natur, sondern war Teil einer politisch motivierten Friedensbewegung, die zunehmend in der breiten Bevölkerung akzeptiert wurde und über parteipolitische Zielsetzungen hinaus ihren Niederschlag fand (Binder 2010:190; Costadura et al. 2019:16). Diese Rückbesinnung auf den lokalen Kontext spiegelte sich auch in anderen gesellschaftlichen Erscheinungen wider. Mitzscherlich führt hier den Heimatfilm an, der ab den 1960er Jahren eine Renaissance erlebte (Mitzscherlich 2013:52). Während der etwa 1945 aufkommende Heimatfilm die Werte eines guten und einfachen Lebens noch beschönigte, die dargestellte ideale Welt allerdings wirklichkeitsfremd erschien und von Kulturschaffenden heftig kritisiert wurde, zeigte der Heimatfilm seit den 1960er Jahren Lebens- und Arbeitsbedingungen in einer weniger geschönten Art und Weise (Mitzscherlich 2008; Bausinger 1980:20). Beispielhaft angeführt werden kann der 1981 entstandene erste Teil der Fernsehchronik »Heimat« von Edgar Reitz: Während darin die Bedeutung des Nationalstaats bewusst in den Hintergrund trat, gewann ein regionaler Ortsbezug, also Heimat als Nahwelt, an Bedeutung. Schlink sieht in dieser erneuten Annäherung an lokale Systematiken den Grund für die Wiederentdeckung des Nationalstaates in Deutschland ab den 1980er Jahren (Schlink 2000:16). Zur gleichen Zeit, ab den 1970er Jahren, wurden Diskussionen um den Heimatbegriff leiser und von zunehmender Skepsis begleitet. Zu sehr war Heimat noch von den Einflüssen des Nationalsozialismus geprägt (Gebhardt et al. 1995:3). Eine gesellschaftliche Orientierung in Richtung Modernisierung und Fortschritt passte nicht zu der reduzierenden Tendenz des Heimatbegriffs. Auch der nach wie vor ideologische Beigeschmack des Heimatbegriffs wird als Grund für den Rückgang seiner öffentlichen Rezeption gesehen (Bausinger 1990:86). Das Schulfach »Heimatkunde« wurde umbenannt in »Sachkunde« und aus der »Bundeszentrale für Heimatdienst« wurde die »Bundeszentrale für politische Bildung« (Pöttering 2012:7).
2 Heimat als kulturgeschichtliches Produkt – historischer und soziopolitischer Zugriff
2.9
Heimat heute – Gleichzeitigkeiten und Gegensätzlichkeiten
Costadura und Ries sprechen in ihrem 2016 erschienen Sammelband »Heimat gestern und heute« von einer Renaissance des Heimatbegriffs. Nach wie vor dominiert in der Alltagssprache ein Heimatverständnis, das die Beziehung zwischen Mensch und Nahwelt bezeichnet. Heimat ist der Ort, an dem man geboren wird, erste Bindungen knüpft und sozialisiert wird. Das Sprechen über die eigene Heimat impliziert heute nicht automatisch eine emotionale, romantische oder ideologische Verortung. Das Nennen der eigenen Heimat als Ort, an dem die Eltern leben, ist eher neutral, oft auch ironisch gemeint (Zudeick 2018:44). Heute wird eine große Heterogenität des Heimatverständnisses konstatiert, die aufeinandertreffen, um Deutungshoheit ringen und ebenso problemlos nebeneinander existieren (Costadura, Ries 2016:17f). Andere Einschätzungen sehen in der gesellschaftlichen und politischen Diskussion um den Heimatbegriff vielmehr ein wellenförmig wiederkehrendes Dauerthema, das seit etwa 2015 einen erneuten Höhepunkt erreicht hat. Migrationsbewegungen, Digitalisierungs- und Globalisierungsprozesse werden als die zentralen Triebfedern der politischen und gesellschaftlichen Heimatdebatte der letzten Jahre identifiziert (Zudeick 2018:52, 55). Angesichts der Vielzahl an verhandelten Begriffsverständnissen, die Heimat diffus und unberechenbar erscheinen lassen, steigt auch wieder die Anfälligkeit für politische und gesellschaftliche Ideologisierungen (Trost 1990:867). Die unzähligen Positionen, Formate und Kontexte der Heimatdebatte lassen es kaum zu, die Dimensionen vollständig darzustellen. Die folgenden Ausführungen versuchen ganz bewusst Kontroversen und Widersprüche jüngerer und gegenwärtiger Diskussionen herauszuarbeiten. Lokalisiert und enträumlicht Mehr denn je, so lauten die gängigen Erklärungsversuche der Diagnose Globalisierung, sind Menschen seit etwa den 1990er Jahren vielfältigen Beschleunigungen ihrer Lebenswelten ausgesetzt. Die erneute Bemühung des Heimatbegriffs erscheint darin als eine widerständige Antwort auf die vielfältigen damit in Zusammenhang gebrachten Wandlungsprozesse. Verstanden als eine sichere Weltverankerung scheint Heimat verloren oder zumindest in Gefahr (Costadura, Ries 2016:17; Rosa 2012:158). Anonymität und Uniformität werden zur alltäglichen Erfahrung; zunehmende Mobilität und Flexibilität, ein ständiges Unterwegssein und Abschiednehmen führen zu der Sehnsucht nach einem konkreten Ort. Der Philosoph Türcke sieht in einer zunehmend von Mobilität und Flexibilisierung geprägten Le-
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benswelt die Gefahr eines Heimatverlusts durch das Verlorengehen einer vertrauten Umgebung (Türcke 2006:62). Soziologinnen wie Giddens sprechen angesichts der Globalisierung über Tendenzen des disembedding, was ein Aufbrechen von lokalisierten Traditionen und Lebenszusammenhängen meint (Giddens 1991:17; Kühne, Schönwald 2015:101; Seifert 2012:203). Hüppauf und Bausinger formulieren weniger alarmierende Zukunftsprognosen. Sie sehen die erneute Diskussion des Heimatbegriffs nicht in erster Linie als rückwärtsgewandte Sehnsuchtsdebatte. Vielmehr habe die zunehmende weltweite Vernetzung und die damit einhergehende Wahrnehmung des »Zusammenrückens der Welt« das Bewusstsein für verortete Zugehörigkeiten geschärft (Hüppauf 2007:132; Bausinger 2001:125). Im Zuge von Terroranschlägen, Wirtschaftskrisen und Migrationsbewegungen orientieren sich Menschen vermehrt in ihren lokalisierten alltäglichen Lebenswelten, etwa im Dorf oder im Kiez (Schlink 2000:21f). Während Hüppauf 2007 konstatierte, der Heimatbegriff werde mit Großstädten, Metropolen und neuen Megastädten kaum in Verbindung gebracht (lediglich im Rahmen der Stadt-LandDichotomie) (Hüppauf 2007:122), so hat sich diese Diagnose mit Blick auf aktuelle Diskussionen doch in Teilen geändert. So wird im Rahmen zahlreicher lokaler aber auch überregionaler Kunst- und Kulturprojekte die Erweiterung und Neudeutung des Heimatbegriffs betrieben: Auf der Architekturbiennale in Venedig 2016, wo der deutsche Beitrag mit dem Ausstellungskonzept »Making Heimat – Germany, Arrival Country« auftrat, wurden die Fragen aufgeworfen: »Wie sieht es aus mit einer ›zweiten‹ oder ›neuen‹ Heimat? Wie und wo kann ein Mensch, der sich außerhalb seines gewohnten Umfeldes bewegt, ›heimisch werden‹« (Cachola Schmal et al. 2016:13)? Anlässlich der 2017 in Karlsruhe stattfindenden »Heimattage Baden-Württemberg« äußerte Oberbürgermeister Mentrup: »In einer jungen großen Stadt, in der unterschiedliche Kulturen und vielfältige Lebensentwürfe aufeinandertreffen, ist Heimat vielfältig, individuell und immer in Bewegung und trotzdem – oder vielleicht deshalb? – ist diese Stadt eine tolle Heimat für uns alle« (Baden-Württemberg 2019). In Stuttgart werden die »Internationalen Wochen gegen Rassismus« seit 2016 unter dem Titel »Heimat-Wochen« veranstaltet. Auf der Veranstaltungshomepage heißt es: »Mit den Programmangeboten der Stuttgarter ›HEIMAT-Wochen‹ möchte die Initiative ihren Teil dazu beitragen, dass alle Stuttgarter Bürgerinnen und Bürger IHRE Stadt in diesem Sinne HEIMAT nennen können« (Heimat. Internationale Wochen gegen Rassismus Stuttgart 2019). In der Stadt Heidelberg regte die erneute Besprechung des Heimatbegriffs in den letzten Jahren mehrere Diskussions-
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formate an: Das von der SPD initiierte »Netzwerk Heimat Gestalten« lud im Herbst 2017 zu einem stadtweiten Nachdenken über Heimat ein. Initiativen und Privatpersonen erstellten Kurzfilme über persönliche und gemeinsame Heimatbegriffe, deren Diskussion in einer stadtweiten Abschlussveranstaltung weitergeführt wurde (Pieske 2017). Das [Ak.T]-heater Heidelberg inszenierte im Herbst 2018 das Stück »Heimaten« in den Akten »Ankunft – Aufbruch – Heimkunft«. Auf der Homepage heißt es: »Wir verstehen ›Heimaten‹ in doppelter Weise: Zuerst als Vielfalt der Möglichkeiten, die eigenen Wurzeln rückwärts zu verfolgen, unser Erbe anzutreten. Zweitens als Tätigkeit, die eine gegenwärtige aktive Gestaltung beschreibt: ich heimate, du heimatest, wir heimaten …« (vgl. [Ak.T]-heater 2018). Im Rahmen dieser und auch weiterer Veranstaltungen dominiert ein positiv besetzter, zum Teil in die Zukunft gerichteter, Heimatbegriff. Unter dem Label »Heimat« wird ein Sprechen über regionale und städtische Zugehörigkeiten und Identitäten angeregt, das dabei auch Fragen des Zusammenlebens in der Zukunft anstößt. Heimat wird als »produktive Herausforderung« (vgl. Hüppauf 2007:132) begriffen und eben nicht als starres Gegenbild zu Veränderungsprozessen konstituiert. Gegenwärtige lokale Besprechungen von Heimat als »Rückverortung in das Lokale und Vertraute« (vgl. Kühne, Schönberg 2015:101) zu bezeichnen, trifft es daher vermutlich nicht (allein). Heimat wird zum Ort der Auseinandersetzung und zum Kommunikationsangebot (Hüppauf 2007:132). Charakteristisch für gegenwärtige Besprechungen des Heimatbegriffs sind dabei unter anderem die Verhandlungen von Flucht und Fremdheit, die insbesondere Brüche und Widersprüche in der Besprechung von Heimat aufwerfen (Binder 2010:195). Neben der Verortung in Stadt und Kiez hat der Heimatbegriff auch Eingang gefunden in die Debatte um Umwelt- und Klimaschutz. Köstlin weist darauf hin, dass unser persönliches Verhältnis zu Heimat, im Sinne einer umgebenden Welt, von einer »neuen Moral« bestimmt und von Angst durchdrungen sei. Es werde angemahnt, die Umwelt angesichts des Klimawandels zu bewahren und eigene Gewohnheiten und Lebensstandards auf eine nachhaltigere Lebensweise umzustellen (Köstlin 2010:34f). Nicht allein die Umwelt, sondern der Planet Erde, als Lebensraum von Mensch und Tier, wird dabei als globale Heimat stilisiert. So erklärt der medienwirksame Astronaut Gerst in einem Interview: »Wenn man diesem Planeten wieder entgegenfliegt, wenn man in der Steppe bei Schnee landet und man riecht den torfigen, erdigen Boden, hat man das Gefühl, hier ist Heimat« (Koch 2018). Über den Onlinedienst »Instagram« veröffentlicht Gerst Aufnahmen des Planeten Erde, die die Zerstörung der Umwelt dokumentieren. Er schließt dabei an einen all-
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gemein gültigen und damit inklusiven, positiv besetzten, aber auch verklärenden, Heimatbegriff an, der zum Schutz des Planeten auffordert. Nicht zuletzt nutzt auch die Bewegung »Extinction Rebellion«, deren Anhängerinnen sich insbesondere seit 2018 global für den Umweltschutz einsetzen, den Heimatbegriff. In dem 2019 erschienen Handbuch der Bewegung heißt es: »Wir handeln aus Liebe zu unserer einzigen Heimat – aus Liebe zum Planeten Erde!« (Kaufmann et al. 2019:12). Die Frage danach, ob es der »Gattung Mensch« gelänge, im Planet Erde die eigene Heimat finden, ist nicht neu. Sie hat laut Piepmeier ihren Ursprung in der Theologie und Geschichtsphilosophie (Piepmeier 1990:91). Bereits der Ethnologe Lévi-Strauss zweifelte an dieser Vorstellung. Er erklärte, dass das menschliche Gestalten der Erde mit deren Zerstörung einhergehe (Lévi-Strauss 1978:411). Mit Blick auf die oben ausgeführte Genese des Heimatbegriffs lassen sich Parallelen erkennen zur Heimatschutzbewegung der Industrialisierung, die ebenso Zivilisations- und Fortschrittskritik übte. So überwiegt auch hier ein positiv besetzter Heimatbegriff, jedoch wird dieser zum Teil mit endzeitlichen Bedrohungsszenarien in Verbindung gebracht. Konsumlust und Konsumkritik Bereits um die Jahrhundertwende, so Bausinger, tritt Heimat als »Satz von Fertigbauteilen« auf und ist Kulisse »hinter der sich ganz anderes abspielt« (vgl. Bausinger 1990:83). Der zweite hier ausgeführte Aspekt beschäftigt sich in Anlehnung an die obigen Ausführungen mit dem Bedürfnis, Heimat zu erleben, zu fühlen und sich individuell anzueignen. Heimat ist auch gegenwärtig ein vielfach vermarktetes Konsumobjekt der Kulturindustrie (Zudeick 2018:43). Vorstellungen von Authentizität, Ursprünglichkeit und Naturverbundenheit werden ökonomisch funktionalisiert und zu einem normierten gesellschaftlichen Angebot (Seifert 2016:55). In der Werbung preist das Label »heimisch« in Verbindung mit »regional« insbesondere Produkte aus der näheren Umgebung an (Köstlin 2010:29). So werden beispielsweise »heimische Äpfel« beworben; eine regionale Biermarke nennt sich »Heimatliebe«; ein verkaufsoffener Sonntag in einem niedersächsischen Oberzentrum stellt sich mit dem Slogan »Heimat shoppen« gegen den vermehrten Internethandel; ein deutscher Fernsehkoch veröffentlicht in seinem Kochbuch »Heimat« regionale Rezepte aus verschiedenen Regionen Deutschlands; das einmal im Jahr in München stattfindende Oktoberfest wird mittlerweile auch in zahlreichen weiteren Städten nachgeahmt und ist scheinbar Inbegriff eines deutschen Heimatbrauchs. Ein Telefonprovider plakatierte im Sommer 2019 großformatig in Berlin unter anderem mit: »Für wen bist du
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#haymat. Zeig’s uns mit dem Hashtag #haymat«. Das aus »Heimat« und dem türkischen »Hayat« (Leben) zusammengesetzte Wort richtet sich vorrangig an türkeistämmige Menschen. Unzählige weitere Beispiele ließen sich finden. Heimat transportiert nach wie vor die Sehnsucht nach Identität, Naturverbundenheit, intakten sozialen Beziehungen und »reinen« unverfälschten Konsumgütern. Zum einen werden darin Stillstand und ein Blick zurück propagiert. Darüber hinaus lässt sich mit der Inanspruchnahme des Heimatbegriffs in Werbung und Marketing die Forderung nach mehr Nachhaltigkeit bedienen, wodurch auch eine generelle Konsumkritik geübt werden kann. Piepmeier nennt die Hinwendung zu Kitsch und Trödel als ein weiteres Merkmal der Verortung von Heimat in der materiellen Kultur: In der gegenwärtigen Wegwerfgesellschaft würden alte Gebrauchsgegenstände mit einem Symbolwert ausgestattet, aufgewertet und wieder angeeignet. Darin zeige sich der Wunsch nach Heimat auch in einer materialistisch geprägten Welt (Piepmeier 1990:99). Die erneute Debatte des Heimatbegriffs fällt in eine Zeit, in der die Idee eines stetigen ökonomischen Wachstums zunehmend hinterfragt wird und alternative Wirtschaftsmodelle verstärkt Beachtung finden. Heimat setzt einem Gesellschaftsmodell, das auf Beständigkeit durch Beschleunigung baut, etwas entgegen (Rosa 2012:157). Zentrale Begrifflichkeiten einer gegenwärtigen Heimatdebatte sind Entschleunigung, Verortung im Lokalen und die Abwendung von Konsum und Massenindustrie. Zugleich wird damit das Bedürfnis der Konsumentinnen nach Authentizität, ethischer Vertretbarkeit und einem möglichst nachhaltigen Lebensstil gestillt. Politisches Projekt zwischen Tradition und Vision Heimat wurde insbesondere im Kontext von Globalisierung, Digitalisierung und Mobilität in den letzten zwei Jahrzehnten immer wieder diskutiert. Seit dem »langen Sommer der Migration« im Jahr 2015 und der vermehrten Ankunft geflüchteter Menschen in Deutschland und Europa sowie deren Verteilung auf die Kommunen ab 2016 und 2017, ist Heimat auch Bestandteil aktueller Diskurse um Mobilität, Migration, Nation und Zugehörigkeit (Hess et al. 2017). Seitdem ist auch eine vermehrte Politisierung von Heimat zu beobachten, die sich in kontroversen innerparteilichen Diskussionen in beinahe allen Parteien zeigt (Costadura, Ries 2016:18). Gerade durch ihre uneindeutige, scheinbar harmlose und unpolitische Färbung wird Heimat zu einem hochgradig politischen Begriff (Bausinger 1990:80). Spätestens zur Bundestagswahl im Herbst 2017 positionierten sich beinahe alle großen Parteien zum Heimatbegriff. Während die »Alternative
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für Deutschland« (AfD) die Bedrohung einer »deutschen Heimat« durch Migrantinnen und geflüchtete Personen schon früh propagierte, diskutieren in der politischen Arena mittlerweile nicht mehr ausschließlich nationalkonservative Gruppierungen den Heimatbegriff. Auch die SPD, Bündnis 90/Die Grünen und die Linke reagierten auf den Einwurf von rechts, positionierten sich im Rahmen der eigenen politischen Agenda und ringen gegenwärtig um die Deutungshoheit dieses veränderlichen Begriffs. Im Bundestagswahlprogramm 2017 der Grünen erscheint Heimat noch fast ausschließlich im Zusammenhang mit Fluchtmigration. Während Flüchtlinge gezwungen seien »ihrer Heimat den Rücken zu kehren«, sei es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, geflüchteten Menschen Perspektiven in der »neuen Heimat« zu eröffnen (vgl. Bündnis 90/Die Grünen 2017:106, 109f). Beim Länderrat in Berlin Anfang Oktober 2017 erklärte die Fraktionsvorsitzende der Grünen Göring-Eckardt sehr viel konkreter: »Wir lieben dieses Land, das ist unsere Heimat, und diese Heimat spaltet man nicht« (vgl. Deutschlandfunk 2017). Damit stieß sie insbesondere bei der Grünen-Jugend auf Kritik und löste eine parteiinterne Debatte über den Heimatbegriff aus. Fraktionsvorsitzender Özdemir erklärte im Februar des folgenden Jahres in einer leidenschaftlichen Rede vor dem Bundestag in Richtung der AfD-Fraktion, er lasse sich seine schwäbische Heimat nicht nehmen (Özdemir 2018). Auch der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) bezeichnete in seiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit 2017 Heimat als einen Ort, an dem das »Wir« eine Bedeutung erhält. Er verdeutlichte ebenfalls, man dürfe Heimat nicht »den Nationalisten« überlassen (vgl. Steinmeier 2017:5f). In eine gänzlich andere Richtung gingen die Äußerungen des damaligen Bundesinnenministers de Maizière (CDU) im April 2017. In einer Stellungnahme zu den Grundsätzen einer »deutschen Leitkultur« sprach er von »heimatliche[r] Verwurzelung« und der »Verbundenheit mit Orten, Gerüchen und Traditionen« (vgl. de Maizière 2017). Heimat ist hier der Ort, an dem man geboren wird und zu dem dementsprechend eine natürliche Verbindung bestehe. Zudem kann in seiner Rede eine Wiederentdeckung und Verklärung insbesondere ländlicher Räume in Deutschland ausgemacht werden. Dies offenbart sich auch mit der Umbenennung und inhaltlichen Erweiterung des Bundesministeriums des Innern (BMI) um die Arbeitsbereiche »Bau und Heimat« im März 2018. Der ländliche Raum wird zu einem Gegensatz zu den »rasante[n] Veränderungen in städtischen Lebensverhältnissen« stilisiert (vgl. Seehofer 2018). Schwerpunkte der Abteilung Heimat sind unter anderem die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse, die Förderung des gesellschaft-
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lichen Zusammenhalts und der Integration sowie die Raumentwicklung (BMI 2019). Auch ein Aufwertungsanliegen ländlicher, oftmals als rückständig klassifizierter Räume, ist darin zu sehen (Geisen 2017:35). Zudeick zufolge handelt es sich bei der Benennung des Ministeriums um einen Etikettenschwindel, da es in der ersten Linie um die Förderung des ländlichen Raumes gehe. So sei die Bezeichnung »Infrastrukturministerium« treffender (Zudeick 2018:34). Nicht zu vernachlässigen ist aber das in den Stellungnahmen des Innenministers enthaltene Verständnis von Heimat als einem Bündel von Traditionen, Werten und Grundsätzen, die einer wie auch immer definierten, scheinbar homogenen autochthonen Gemeinschaft zu eigen seien und an die sich ›die Anderen‹ anzupassen hätten (Costadura et al. 2019:25). Die Einrichtung der Abteilung Heimat wird als ein strategischer Schritt zur Befriedung konservativer Wählerschichten gesehen. Befürchtet wird dabei insbesondere von linker Seite eine weitere Verschärfung der Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik. Für das »Heimatministerium« auf Bundesebene stand die Einrichtung im Bundesland Bayern Pate, die bereits im Februar 2014 eingerichtet wurde. Letztere ist beispielsweise zuständig für die Steuerung von Stabilisierungshilfen notleidender Gemeinden oder auch für Preisverleihungen bei Mundartdialektwettbewerben (Bayerisches Staatsministerium der Finanzen und für Heimat 2019). Seine dezentrale Lage in Nürnberg kann als Aufwertungsversuch und Wertschätzung der Regionen im Bundesland gedeutet werden. Das Thema Heimat hat im Zuge dessen auch in den Wahlprogrammen der bayerischen Landesparteien eine gewichtige Rolle eingenommen (Köstlin 2010:33). Bezeichnend für aktuelle Bedeutungsgehalte ist die Verschränkung von Regionalförderung, Vermarktungsstrategien und Nachhaltigkeitsdiskurs. Wie weiter unten ausgeführt, sehen Kritikerinnen in der politischen Indienstnahme von Gefühlen und in der Formulierung populistischer (V)Erklärungen eine gefährliche Nivellierung von Heterogenität. Im nationalkonservativen Diskurs ist Heimat also Metapher für eine intakte politische und kulturelle Ordnung. Heimat wird zum Kampfbegriff in der politischen Arena. Nationalkonservative und rechte Gruppierungen nutzen den Heimatbegriff für die Radikalisierung und Polarisierung einer Debatte über nationale Zugehörigkeiten, globale Wandlungsprozesse und die Exklusion vermeintlich »Anderer«. Die Gefahren dieser Bestrebungen liegen vor allem im darin transportierten Essentialismus und der Ausklammerung gesellschaftlicher Komplexität. Als Reaktion hierauf lautet ein viel bemühtes Credo der politischen Parteien links der AfD, man solle den Heimatbegriff nicht »den Rechten« überlassen. Bei den gemäßigteren Parteien gewinnt der
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Heimatbegriff als Verheißung einer positiven und gestaltbaren Zukunft an Bedeutung: Heimat wird zu einem gesamtgesellschaftlichen Projekt, das beispielsweise im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD im Jahr 2018 »Heimat mit Zukunft« genannt wird (Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD 2018:116). Vielfach unreflektiert bleibt dabei, dass auch rechtsextreme Gruppierungen wie »Zukunft Heimat« den Heimatbegriff vereinnahmen und mit ihren menschenverachtenden Zukunftsprojekten aufladen. Die argumentative (Un-)Güligkeit von Heimat Abseits von rechter und rechtspopulistischer Instrumentalisierung kreist die Debatte wiederkehrend um die Frage, ob Heimat im öffentlichen Diskurs überhaupt argumentative Gültigkeit besitze. Schreiber, Autor des Buches »Zuhause: Die Suche nach dem Ort an dem wir leben wollen«, spricht sich gegen die Nutzung des Heimatbegriffs aus aufgrund seiner ideologischen und emotionalen Überfrachtung. Er plädiert dafür, diesen den Rechten zu überlassen (Schreiber 2017). Auch im linkspolitischen Spektrum wird vor der verharmlosenden Verwendung des Heimatbegriffs aufgrund der darin enthaltenen problematischen Bedeutungsgehalte gewarnt. Personen des öffentlichen Lebens, Autorinnen, Wissenschaftlerinnen und Journalistinnen sprechen sich gegen die Verharmlosung des Heimatbegriffs aus. So konnte der Aufruf »Solidarität statt Heimat« 2018 fast 17.000 Unterschriften sammeln. Die Unterzeichnerinnen sehen in der verstärkten Diskussion des Heimatbegriffs eine Normalisierung1 rechten Gedankenguts: »Die politischen Debatten über Migration und Flucht werden seit Monaten von rechts befeuert und dominiert – und kaum jemand lässt es sich nehmen, auch noch mit auf den rechten Zug aufzuspringen« (Solidarität statt Heimat 2018). Der Sammelband »Eure Heimat ist unser Albtraum« von Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah ist ein »Manifest gegen Heimat« und beinhaltet Beiträge von 14 Autorinnen zu Rassismus und Antisemitismus. Auch sie wenden sich gegen die Normalisierung von Heimat, die sie als völkisches und verklärtes Konzept bezeichnen. In die gleiche Richtung geht das Thema des 4. Herbstsalons des Gorki-Theaters in Berlin. Unter dem Motto »De-Heimatize it« wird die Verharmlosung des Heimatbegriffs problematisiert, der spätestens mit der Benennung des Bundesinnenministeriums zu einem politischen Begriff erhoben wurde (Gorki-Theater 2019). 1
Normalisierung meint hier, dass bestimmte Annahmen über Migrantinnen oder Migrationsverhältnisse zu selbstverständlichen und unhinterfragten Wissensbeständen werden.
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Zugleich plädieren zahlreiche Autorinnen für eine Beschäftigung mit Heimat und seine aktive Nutzung jenseits von ideologischen und rechtspopulistischen Inhalten. Zum einen wird dies begründet mit der verbreiteten und individuellen Gültigkeit des Begriffs jenseits »des rechten Rands« (Türcke 2006). Heimat wird als »subjektive Bedürfnislage« beschrieben, die daher auch nicht aus dem allgemeinen Sprachgebrauch entfernt werden könne (Seifert 2017). Zudem wird gerade aufgrund seiner vermehrten Aufladung mit ideologischen und rechtspolitischen Gedanken die Notwendigkeit unterstrichen, Heimat zu bestimmen und gegen rechts »zu verteidigen«. In seiner 2018 erschienenen Monographie »Heimat, Volk, Vaterland. Eine Kampfansage an Rechts« plädiert der Philosoph und Journalist Zudeick vehement für die Verwendung des Heimatbegriffs: »Es geht auch hier darum, ob wir uns von den Nazis vorschreiben lassen, wie und was wir sprechen, singen, denken« (vgl. Zudeick 2018:42). Der Geograph Antweiler erklärt in ähnlicher Weise, die Nichtverwendung des Wortes Heimat bedeute »das Einknicken vor politischen Gegnern«. Heimat sei ein universelles Phänomen, dessen Kern es zu erkunden gelte (vgl. Antweiler 2019:21).
2.10
Zeitenübergreifende Muster in der Thematisierung von Heimat – Zwischenfazit
Um sich nicht in den vielfältigen Facetten des Begriffs Heimat zu verstricken, ist ein Verständnis seiner historischen Genese unumgänglich. Bereits die nur kursorische Übersicht verdeutlicht, dass für das Verständnis von Heimat stets der gesellschaftliche und politische Kontext mitgedacht werden muss. Dabei können Heimat ganz unterschiedliche Bedeutungen zugewiesen werden. Der Begriff vereint räumliche, rechtliche, politische sowie emotionale Dimensionen, die in der historischen Betrachtung je nach Perspektive eine unterschiedliche Gewichtung erfahren (Joisten 2012:39f). Heutzutage zeigt sich insbesondere im Rahmen lokaler Verhandlungen ein breites Nebeneinander ganz unterschiedlicher, miteinander konkurrierender Aspekte. Insbesondere jüngere Thematisierungen von Heimat zeigen, dass bestimmte Bedeutungsfacetten erhalten bleiben und wiederkehren, wodurch es eine Vielfalt an Deutungsmöglichkeiten gibt. So ist mit Heimat in der Alltagssprache nach wie vor der eigene Geburtsort oder gegenwärtige Lebensort gemeint. Zugleich kann Heimat exklusiv gedeutet werden und auf die Zugehörigkeit bestimmter Personen oder konstruierter Gruppierungen
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verweisen. Auch wird mit Heimat ein schützenswerter Lebensraum assoziiert, mit Verweis auf dessen Bedrohung durch klimatische Veränderungen. In dieser Zusammenstellung unerwähnt, aber ebenso gültig, ist die theologische Auffassung von Heimat als Paradies oder verlassenes, beziehungsweise ersehntes Land (Genthe 2019). Wieso aber ist Heimat derart populär, immer wieder Gegenstand gesellschaftlicher emotionaler Aushandlungsprozesse und warum wird er auch politisch instrumentalisiert? Wissenschaftliche Auseinandersetzungen haben darauf in allen Zeiten versucht, Antworten zu formulieren. Das Interesse dieser Arbeit besteht ebenso darin, In- und Exklusionsprozesse sowie Zusammenhänge zwischen Migration, Fremdheit und Vertrautheit in der wiederkehrenden Diskussion von Heimat abzuleiten. Im Folgenden werden Erklärungsansätze ausgeführt, die als Triebkräfte wiederkehrender Diskussionen von Heimat beschrieben werden können und die aus der dargestellten historischen Entwicklung abgeleitet wurden. In der jeweiligen historischen Betrachtung überschneiden sich diese und sind miteinander verflochten. In diesem Sinne wird angesichts der Fülle an Bedeutungen und Deutungsrichtungen beabsichtigt, eine Komplexitätsreduktion vorzunehmen, um dem Phänomen Heimat auf der semantischen Ebene ein Stück näher zu kommen. Sehnsucht, Komplexitätsreduktion, diffuse Zukunftsorientierung Die politische und gesellschaftliche Bemühung des Heimatbegriffs enthält stets eine sehnsüchtige Hinwendung zu einer idealen, vertrauten sowie ursprünglichen Welt. Heimat ist Container für verschiedenartige Bedürfnisse »nach Vertrauen, verlässlichen gemeinschaftlichen Bindungen, Wiedererkennung des Inneren im Äußeren, Herkunftsgewissheit und Zukunftsvertrauen, Zugehörigkeit, Geborgenheit, sinnlicher Welterfahrung, lebensweltlicher Konkretheit, Selbstbestimmung« (vgl. Schmoll 2016:28f). Bausinger nennt Heimat in diesem Sinne ein Kürzel für Orientierungssicherheit im Sozialraum und erklärt sie zu einem Identitätsinstrument, welches sich in Opposition zu globalen diffusen Tendenzen stellt (Bausinger 2001:130). Gerade aufgrund seiner Uneindeutigkeit, so scheint es, spendet die Hinwendung zum Heimatbegriff Orientierung und lässt sich im politischen Diskurs instrumentalisieren (Hüppauf 2007:110). Damit hat Heimat auch eine kompensatorische Funktion und nimmt Veränderungsprozessen ihre Bedrohlichkeit. Heimat wird in diesem Sinne zu einem Nahraum stilisiert, in dem der Mensch scheinbar zu seinem wahren Wesen findet (Schmitt 2014:22).
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Heimat ist daher ohne gesellschaftliche Wandlungsprozesse nicht denkbar, formiert sich aber als ein Gegenbild zu diesen. Schmoll verdeutlicht, dass die Orientierung in Richtung Heimat oftmals verknüpft ist mit der Herausforderung, eine ungemütliche Welt in eine für Menschen bewohnbare, vertraute und überschaubare Umgebung zu verwandeln (Schmoll 2016:23, 33). Hüppauf argumentiert ähnlich, indem er Heimat als den Versuch der Neubestimmung eines »mentalen Raums« bezeichnet (Hüppauf 2007:133). In diesem Sinne gibt die individuelle wie kollektive Hinwendung zu Heimat also auch eine Antwort auf die Frage nach der eigenen Platzierung und Positionierung (Costadura Ries 2016:18). Dies ist sowohl territorial zu verstehen, meint aber auch soziale und vor allem kulturelle Beziehungen (Schmoll 2016:32). In Folge krisenhafter Erfahrungen, die die Lebenswelt fragmentiert erscheinen lassen, reduziert die Hinwendung zu Heimat die empfundene Komplexität (Köstlin 2010:36). Bausinger bezeichnet Heimat dahingehend als eine »Kategorie der Befriedung, der vorweggenommenen Versöhnung auftretender sozialer Gegensätze« (vgl. Bausinger 1990:80). Dabei muss, so unterstreicht Zudeick mit Bezug zur gegenwärtigen Heimatdebatte, gefühlte Unsicherheit nicht auch realen Lebensumständen entsprechen (Zudeick 2018:13). Wie bereits angedeutet, bezieht sich Heimat auch auf nicht realisierbare, nie da gewesene oder auch bereits untergegangene Gesellschaftsmodelle (Seifert 2010:13). Damit verbirgt sich im Begriff Heimat ein Gegensatz zwischen der Sehnsucht nach und Identifikation mit Bekanntem und Traditionellem, gleichzeitig offenbaren sich mit der Orientierung zu Heimat auch Anhalts- und Orientierungspunkte in der Zukunft, die allerdings diffus bleiben (Schmoll 2016:31). Aus diesem Grund eignet sich Heimat auch für die politische Indienstnahme: Sie vereint latente Sehnsüchte und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, ohne dabei sehr konkret werden zu müssen (Costadura et al. 2019:20f). Abgrenzung, Territorialität, Macht Wie oben ausgeführt, geht mit Heimat das Versprechen von Sicherheit und Geborgenheit einher. Diese konstituiert sich durch die Benennung eines außenliegenden Fremden (Schmoll 2016:23). Auch die Anthropologin Douglas hebt dieses auch dem Begriff home zugrundeliegende Verständnis dar: Zuallererst markiere home einen Unterschied zwischen Ein- und Ausschluss (Douglas 1991; Wentzel-Winter 2009:63). Das politische und gesellschaftliche Reden über Heimat ist immer wieder verknüpft mit der Bestimmung und Beanspruchung von Machtpositionen sowie der Konstituierung von Vertrautheit und Fremdheit, von Innen und Außen (Köst-
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lin 2010:34). Gegenbilder orientieren sich dabei nicht zwingend an nationalen Identitäten. Wie gezeigt werden konnte, errichtet Heimat vielfältige Fremdund Selbstbilder (Pfaff-Czarnecka 2012). Die Inanspruchnahme des diskursiven Angebots Heimat geht dabei meist von einem deutungshoheitlichen Standpunkt aus und nimmt bewusst Abgrenzungen gegen ein fremdes Außen vor (Binder 2010:192; Schmoll 2016:23; Sturm 2019:3). Die Rede von Heimat, so wird deutlich, war niemals harmlos (Binder 2010:192). David und Staeheli merken dazu an: »Debates over belonging to home are thus intrinsically debates over power and who controls it« (vgl. David, Staeheli 2011:526). Da der Heimatbegriff insbesondere mit dem Paradigma der Territorialität seine Bedeutung entfalten konnte, besteht eine enge Verbindung zu Besitz und Raum. In diesem Sinne berührt der Begriff Fragen nach der Gestaltung einer räumlich bestimmbaren Lebenswelt (Schmoll 2016:25, 31). Dominant ist hierbei die Vorstellung von natürlich gegebenen territorialen Ordnungen, die die Zugehörigkeit von Menschen und Gruppen bestimmen. So werden konkrete Orte mit Bedeutungen, Besitzansprüchen und Hierarchien ausgestattet, wie etwa der Geburtsort, scheinbar authentische Landschaften oder etwa die Nation. Heimat, so die These, wird in seiner Verhandlung bis heute als ein Vorrecht der Sesshaften konstituiert. Migration dagegen gilt als Katalysator unvorhersehbarer und unkalkulierbarer gesellschaftlicher Veränderungen, sie hinterfragt und provoziert das Paradigma der Sesshaftigkeit. Mobilität, Flexibilität und Innovation erscheinen als Bedrohung bestehender, scheinbar stabiler Gesellschaftsverhältnisse und befördern eine verstärkte Aushandlung des Begriffs. Der politische Umgang mit Migration verdeutlicht die Wirkmächtigkeit dieses Aspekts: Die Residenzpflicht oder auch die Wohnsitzauflage für geflüchtete Menschen in Deutschland legt verpflichtend den Wohnort während des Asylverfahrens fest, bis diese einer sozialversicherungspflichtigen beruflichen- oder Ausbildungstätigkeit nachgehen können. Ein Verstoß kann die Beendigung des Asylverfahrens oder einen Leistungsentzug zur Folge haben. Die Zuweisung zu einer bestimmten Kommune soll unter anderem die »Integration« fördern, während eine »unkontrollierte« Mobilität unterbunden werden soll. Der gesellschaftliche und politische Umgang mit Migration, stellt eine zentrale Triebfeder bei der Thematisierung von Heimat dar. Sie nimmt Bezug auf die Konstruktion von Innen und Außen, bemüht räumliche Erklärungsansätze und spricht von einem deutungshoheitlichen Standpunkt aus.
3. Von Außenwelten zu Innenwelten – Heimat als Analysebegriff in der Forschung zu Flucht und Migration
Die vorangegangenen Ausführungen veranschaulichen, dass Heimat in der historischen Auseinandersetzung als kulturgeschichtliches Produkt verstanden werden kann. Als Begriff entzieht sich Heimat einer konkreten Definition, sondern versammelt vielmehr verschiedenartige Bedeutungsgehalte in sich, die je nach gesellschaftlicher Bedürfnislage mobilisiert, aber auch instrumentalisiert werden. Kapitel 3. widmet sich nun dem zweiten Strang der analytischen Betrachtung, nämlich den Bedeutungen von Heimat in subjektzentrierter Perspektive sowie der Handhabung als analytischer Terminus für dieses Forschungsvorhaben. Die Auseinandersetzung mit Heimat als »Referenzwert individueller Orientierung« (vgl. Seifert 2016:55) (Kapitel 3.1.) lässt Parallelen erkennen zu den kulturgeschichtlichen Dimensionen im vorangegangenen Kapitel. Selbst wenn sich beide Betrachtungsebenen (einerseits bedeutungsgeschichtlich und anderseits als individuelles und subjektzentriertes Phänomen) nicht vollständig trennen lassen, so gelingt es doch auf diese Weise, das Denken und Operationalisieren von Heimat zusätzlich zu schematisieren. Ausgehend von der Systematisierung eines breiten interdisziplinären Literaturkorpus werden in Kapitel 3.1. zentrale theoretische Deutungsmuster von Heimat herausgearbeitet, wodurch die Aufspaltung des Heimatbegriffs in einen Begriffskanon gelingt, der ihn für die empirische Analyse handhabbar macht. Mit der Einführung des Konzepts der Migrationsregime in Kapitel 3.2. wird beabsichtigt, eine kritische Haltung im Forschungsprozess zu etablieren. In der empirischen Analyse wird es verstanden als eine notwendige »nicht-essentialistische Forschungs- und Analyseperspektive« (vgl. Nieswand 2018:94), da es eine für Flucht- und Migrationsfragen sensible Haltung im
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Forschungsprozess anbietet. Darüber hinaus wird der Fokus auf Dynamiken gelegt, die an individuellen Konstruktionen von Heimat beteiligt sind. Hierdurch gelingt es, Heimat für die Untersuchung emotionaler Verortungen produktiv zu machen.
3.1
Subjektive Deutungsmuster von Heimat
Wenn auch seit den 1980er Jahren zunächst nur spärlich und insbesondere durch die Theoretikerinnen Greverus und Bausinger vorangetrieben, so erfreut sich der Heimatbegriff, und insbesondere sein Verständnis als Phänomen emotionaler individueller wie kollektiver Verankerung, in der interdisziplinären Auseinandersetzung wachsender Beliebtheit (Gebhardt et al. 1995:4). Dabei nehmen auch die Differenzierung seiner Bedeutungsdimensionen und die Hervorhebung seines analytischen Potentials in der qualitativen Forschung einen immer größeren Raum ein. Die wissenschaftliche Debatte verläuft parallel beziehungsweise als Reaktion auf die gesellschaftliche und politische Aushandlung von Heimat. Während seine Aktualität und Brisanz bereits verdeutlicht werden konnten, so unterstützen die folgenden Darstellungen diese Feststellung noch: Heimat vermag es, in ausdifferenzierter und auch widersprüchlicher Weise emotionale und subjektive Verankerungen von Menschen zu beschreiben. Auch diese wissenschaftliche Arbeit ist Teil eines wissenschaftlichen Diskurses, der Heimat mehr und mehr als universelles, dynamisches und vieldeutiges Konzept begreift, das auch jenseits problematischer Bedeutungen an Relevanz gewinnt. Die folgenden Ausführungen präsentieren zentrale inhaltliche Facetten des Konzepts Heimat, wobei sowohl hermeneutische als auch konzeptionelle Auseinandersetzungen und Erkenntnisse aus empirischen Studien berücksichtigt werden. Dabei wird Heimat als »ein multidimensionaler Begriff« verstanden, »der interdisziplinär bearbeitet werden muss, um ihm gerecht werden zu können. Ihm gerecht zu werden, ist zweifellos notwendig« (vgl. Hoff, Gerling-Zedler 2019:68). Die dargestellten Aspekte lassen sich nicht immer trennscharf beschreiben, auch erheben sie, sowohl für sich allein genommen als auch in der Kombination, nicht den Anspruch, Heimat eine eindeutige und allgemeingültige Definition zuzuweisen. Vielmehr überlappen und ergänzen sich die beschriebenen Aspekte. Kapitel 3.1.6. bildet den Abschluss dieser Ausführungen. In Form eines Zwischenfazits werden problematische Bedeutungsgehalte reflektiert, die die Brisanz des Zusammenhangs
3 Von Außenwelten zu Innenwelten – Heimat als Analysebegriff
von Migration und Heimat hervorheben. Ziel dieser Zusammenschau ist es, das Potential von Heimat als wissenschaftlich nutzbaren analytischen Terminus freizulegen.
3.1.1
Kindsheimat, Satisfaktionsraum und sozialräumliche Einheit
Im klassischen Verständnis, in der alltagssprachlichen Verwendung, aber auch in zahlreichen wissenschaftlichen empirischen und theoretischen Auseinandersetzungen wird Heimat meist noch beschrieben als die Beziehung zwischen Mensch und Raum. Mit Raum wird dabei ein konkreter Ort assoziiert, wie das elterliche Haus, eine Landschaft oder auch ein Land. Ältere Ansätze betrachten die Bedeutung der physischen Verortung des Menschen für die Ausbildung und Beschreibung eines Heimatgefühls als unerlässlich (siehe oben). Andere Ansätze klammern die Bedeutung eines Ortes zum Teil vollständig aus und betonen die Wichtigkeit der Beziehungsebene zu Dingen, Personen, Verbindungen und auch Orten (Seifert 2012:204). Spätestens seit dem spatial turn in der Geographie gelten Räume nicht länger als Behälter, die mit bestimmten Inhalten gefüllt sind. Räume werden beschrieben als durch den Menschen sozial hergestellt, aber auch das Soziale und Gesellschaften werden über Räume geordnet. Diese Einsicht beeinflusste auch maßgeblich das Denken über die soziale Konstruktion von Heimat (Löw 2015; Koppetsch 2019:243). Die Auseinandersetzung mit Heimatkonzepten unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen konnte drei Ansätze herausarbeiten, die dem Raum als Bezugsgröße verschiedene Bedeutungen und Funktionen übertragen. Erstens wird mit Heimat ein konkreter Ort verbunden, an dem erste Sozialisationserfahrungen gemacht werden und zu dem das ganze Leben eine natürlich gewachsene Verbindung besteht. Zweitens wird Heimat als realräumlicher Satisfaktionsraum betrachtet. Dieser Ansatz wurde insbesondere durch die Anthropologin Greverus zu Beginn der 1970er Jahre ausgearbeitet und hat bis heute an Gültigkeit kaum eingebüßt (Greverus 1972; Seifert 2010:11). Die Betrachtung räumlicher Gegebenheiten allein scheint heute allerdings unbefriedigend, um das Konzept Heimat vollständig zu durchdringen. Drittens weisen Konzeptionalisierungsversuche darauf hin, dass Heimat alle Dimensionen der lebensweltlichen Raumgestaltung betrifft. Nicht mehr das Verständnis von Heimat als allein territoriale Kategorie wird vertreten, vielmehr entspinnt sich Heimat als Raum in sozialen Beziehungen und komplexen Lebenswirklichkeiten (Piepmeier 1990:101).
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Die Verbindung von Heimat und einem realen Ort verweist zumeist auf den Geburtsort oder den Ort, an dem die Kindheit erlebt wurde. In der Entwicklungspsychologie wird diesen räumlich und sozial durchdrungenen Orten der eigenen Biographie eine hohe Bedeutung beigemessen (Mitzscherlich 2019:185). Die Kindheit eines Menschen und der Ort, an dem diese erlebt wird, seien bestimmt durch erste, auch sinnliche, Erfahrungen, Orientierungen und extreme Abhängigkeiten. Aber auch erfahrene Geborgenheit durch Bezugspersonen sowie Phasen der frühkindlichen Entwicklung, die als Fundament für die Gestaltung des eigenen späteren Lebens bezeichnet werden, sind an Orten der Kindheit in diesem Heimatverständnis verortet (Joisten 2012:41). Diese erinnerten Erfahrungen werden weithin als erste Heimat beschrieben, zu der man sich das ganze Leben zurücksehnt. Oftmals wird dabei eine kulturelle Übereinstimmung zu dem früheren Ort und den verräumlichten Erinnerungen bis ins Erwachsenenalter attestiert (Türcke 2006:30; Scheer 2014:17). In der Rückschau auf die eigene Laufbahn werden diese meist räumlich klar verorteten sogenannten Herkunftsheimaten nostalgisch zu Ausgangspunkten der sozialen und oftmals auch räumlichen Mobilität konstituiert und zu Gegenbildern des gegenwärtigen, erwachsenen Lebensentwurfs (Mitzscherlich 2019:190). Türcke bezeichnet den Mutterleib als erste Heimat des Menschen. So sei Heimat immer das, was verloren wurde und dem man entwachsen ist. Heimat werde erst zu dieser, wenn sie nicht mehr da ist oder man nicht mehr zu ihr zurückkehren könne (Türcke 2006:26). Aufgrund der an sie geknüpften schmerzvollen Verlusterfahrungen ist sie zugleich sowohl konkreter als auch mystischer Ort. Klose konzeptionalisiert Heimat in ähnlicher Weise. Von mehreren »Heimatschichten« ausgehend erklärt er den eigenen menschlichen Leib zur ersten Heimat. Dieser bilde einen Eigenraum, von dem aus sich der Mensch auf die ihn umgebende Welt und sich selbst beziehen könne. Im eigenen Heim, der Wohnumgebung, sieht Klose die zweite Heimat. Jene Heimatverortungen ließen sich Schicht für Schicht fortführen mit Bezug zur Straße, zum Dorf und so weiter (Klose 2013:26). Die Historikerin Yildirim untersucht das Geschichtsbewusstsein und die Identität von Jugendlichen mit türkeibezogenem Hintergrund und integriert den Begriff Heimat in ihr Fragebogendesign, ohne dabei ein eindeutiges Begriffsverständnis festzulegen oder mit den Befragten auszulegen. Zwar leitet sie ihre Studie mit der Schilderung einer fiktiven Schulsituation ein, in der die Schülerin Elif von ihrer Lehrerin aufgefordert wird, ihre Heimat auf einer Karte zu zeigen. Elifs Antwort, Köln, akzeptiert die Lehrerin nicht, da Elifs
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Heimat doch die Türkei sein müsse. Yildirim problematisiert diese beinahe alltägliche Situation im Leben von Kindern mit Migrationsgeschichte: »Die Lehrerin weist Elif eine andere Heimat zu und spricht ihr somit die selbstverständliche Zugehörigkeit und Teilhabe zu Deutschland und damit als Deutsche ab« (vgl. Yildirim 2018:14). Trotzdem nutzt die Autorin weiterhin den Begriff Heimat in der quantitativen Erhebung ihrer Studie. Es scheint also bei der Frage nach Heimat nur um die Differenzierung zwischen der Türkei und Deutschland zu gehen. In der Auswertung gelten die Antworten als Indikatoren einer emotionalen Integration (Yildirim 2018:127). Dies ist problematisch, da die Schülerinnen sich auf einer nationalstaatlichen Ebene verorten müssen, wodurch allenfalls die Reproduktion machtvoller und problematischer Bedeutungsinhalte auf der semantischen Ebene und deren Verknüpfung mit dem Begriff der »Integration« reproduziert werden. Gemeinsam ist diesen Annahmen die Vorstellung der »natürlichen Verwurzelung«. Heimat hat einen realräumlichen Bezug und wird zusammengedacht mit Verwurzelung und Zugehörigkeit zu einem zeitlich und räumlich bestimmbaren homogenen Ort. Hieran knüpft auch die Vorstellung von Heimat als Kulturlandschaft, die ein regional spezifisches Brauchtum, Dialekte und »typische« Speisen einschließt. Verfestigt und reproduziert wurden und werden derartige Bilder unter anderem mit den Bildbotschaften des Heimatfilms. Aktuell haben oben beschriebene Entwürfe im Zusammenspiel mit Fremdheits- und Verlusterfahrungen wieder Konjunktur. Mit der Formulierung, jemand habe »seine Heimat verloren«, werden ein ganzes Bündel an nicht eindeutig beschreibbaren, kulturell homogenen Symboliken, Bildern, Erinnerungen und so weiter, einem konkreten Ort, in einer bestimmten Zeit, der Heimat, zugeordnet. Die Konzeptionalisierungen von home und Heimat sind in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung nicht deckungsgleich. Sie ähneln sich dahingehend, dass die Bedeutung eines konkreten Ortes in beiden Begrifflichkeiten in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung einbüßte (Ralph, Staeheli 2011:518). Heimat unterscheidet sich dabei allerdings von anderen Konzepten der emotionalen Ortsbezogenheit, da Orte der Kindheit nach wie vor eine dominante Rolle in gegenwärtigen Bestimmungen und auch wissenschaftlichen Auseinandersetzungen von Heimat spielen. Auch Treinen formuliert 1965 den Unterschied zwischen Heimat und Ortsgebundenheit, indem er verdeutlicht, dass eine positive Bindung zu einem Ort nicht unbedingt zusammenhänge mit den Erinnerungen aus der Kindheit und Jugend. Emotionale Ortsbezogenheit charakterisiere vielmehr die Zugehörigkeit zu einer örtlichen Be-
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zugskategorie, losgelöst von Herkunftsfamilie, Erinnerungen und so weiter (Pfister-Heckmann 1998:105; Treinen 1965). In dieser Verbindung von Heimat zu Raum, Dingwelt und scheinbar authentischer Kulturlandschaft drückt sich eine Suche nach Beständigkeit und Verlässlichkeit aus, die zugleich die Vorstellung von einer potentiellen Bedrohung derselben in sich trägt (Piepmeier 1990:99). Der zweite hier ausgeführte Ansatz, in dem der Raum eine zentrale Bezugskategorie in der Beschäftigung mit Heimat ist, nimmt den von der Anthropologin Greverus Anfang der 1970er Jahre entwickelten Ansatz der Territorialität zum Ausgangspunkt. Hierin wird Heimat als Satisfaktionsraum beschrieben. Aus heutiger Perspektive werden Greverus‘ Arbeiten als Beginn einer wissenschaftlichen Diskussion betrachtet, in der Heimat als akteurszentrierte Lebenswelt konstituiert wird (Costadura et al. 2019:15). Nicht ein überzeitlich determinierter, konkreter Ort wird zur Heimat bestimmt, wie dies im Bezug zur Kindheit und dem Ort der Geburt enthalten ist, auch die Gestaltungsmacht des Individuums ist nicht zentral in diesem Verständnis, da das Prinzip der Territorialität zur Grundvoraussetzung wird (Piltz 2007:71). Heimat entstehe, so Greverus, wo Bedürfnisbefriedigung möglich wird. Wie im Tierreich sei auch der Mensch auf Schutz und einen Aktionsraum angewiesen. Im Gegensatz zum Tier komme beim Menschen der Schaffung eines Identitätsraumes dabei eine besondere Bedeutung zu. Dieser entstehe in der Dreieinigkeit von Raum, Gemeinschaft und Tradition. Heimat sei der Raum, in dem man sich begegne und der geprägt sei vom Kennen, vom Gekannt werden und auch von der Anerkennung durch andere, wie beispielsweise im Verein, in der Gemeinde oder auch im Vaterland (Greverus 1979:161). Sich auf Erkenntnisse aus der Verhaltensforschung stützend, spricht Greverus von einem angeborenen territorial verankerten Verhaltensschema (Greverus 1972:23). In »Heimat Bergen-Enkheim« erklärt die Autorin weiter, ein Ort werde als heimatlich empfunden, wenn man sich an diesem orientieren könne. Er müsse Bedürfnisse befriedigen und die Möglichkeit bieten, sich auf die Suche nach sich selbst zu begeben (Greverus, Schilling 1982:8). Migration, von Menschen wie von Tieren, sei begründet in der Suche nach diesem Satisfaktionsraum. Einen Verlust der Heimat impliziere Migration allerdings nicht, solange die neuen Rahmenbedingungen es der Person ermöglichten, eine territoriale Befriedigung zu erlangen; wenn es hingegen Flucht notwendig mache, sich in einer neuen Umgebung einzufinden, dann könne man vom Gewinn einer neuen Heimat sprechen (Greverus 1979:104). Damit erklärt Greverus Heimat zu einem anthropologischen Grundbedürfnis. Die Territorialität
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des Menschen sieht sie dabei als Grundvoraussetzung von Heimatkonstruktionen, durch den Aufbau sozialer Beziehungen im Raum (Pfister-Heckmann 1998:110; Greverus 1972:22ff). Andere, auch zeitgenössische, Autorinnen aus unterschiedlichen Disziplinen bestimmen Heimat in ähnlicher Weise. Heimat gilt »als satisfaktionierende Lebenswelt (vgl. Neumeyer 1992:127), als »das Etikett für selbstverantwortlich organisierte, kleinteilige regional und lokal bezogene Lebenswelten« (vgl. Reuber 1993:4), als »dauerhaft wiederholte Begegnungen in sozialen Situationen an bestimmten Orten« (vgl. Antweiler 2019:15) oder auch als »Wohlfühlzone« (vgl. Koppetsch 2019:243f). Auch Rosa erklärt in »Heimat als anverwandelter Weltausschnitt«, dass »gewisse bauliche und räumliche Kontexte, bedingt durch kulturelle Dispositionen, möglicherweise resonanzförderlicher sind als andere« (vgl. Rosa 2019:161). Die Voraussetzung einer realräumlichen Umgebung ist diesen Konzeptionalisierungen von Heimat gemeinsam. Der Raum wird zur Grundlage für soziales Handeln, während Prozesse der Raumkonstitution kaum, beziehungsweise erst im zweiten Schritt, in Betracht gezogen werden. Sowohl in der wissenschaftlichen Beschäftigung als auch in der öffentlichen politischen und gesellschaftlichen Debatte ist dies ein nach wie vor dominantes Verständnis von Heimat: Während die Bezeichnung der Kindsheimat als allgemeingültige, erste und »echte« Heimat weitestgehend als veraltet gilt, werden zumeist alltägliche, räumlich gebundene Lebensräume auf verschiedenen Referenzebenen (Kiez, Stadt, Nation) als Heimat bezeichnet beziehungsweise diesen potentielle »Heimatqualitäten« zugewiesen. Der dritte Ansatz berücksichtigt den Paradigmenwechsel in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Heimatbegriff, der insbesondere dem spatial turn beziehungsweise den handlungstheoretischen Überlegungen geschuldet ist. Insbesondere in der Geographie durch die Arbeiten Benno Werlens initiiert zog sich dieser in der Folge durch nahezu alle Disziplinen: Der Raum gilt nun als produziert und wird auch nicht mehr allein als entscheidend für Konstruktionen von Heimat betrachtet (Werlen 2000; Kläger, Stierstorfer 2015:3; Rothfuß, Dörfler 2013:9, 13). So löst dieses Verständnis bereits zu Beginn der 1980er Jahre einen rückwärtsgewandten und auf Verlusterfahrungen fußenden Heimatbegriff ab (Gebhardt et al. 1995:3). In diesem »neuen Heimatbegriff« (vgl. Piepmeier 1990:96f) soll nichts Bestehendes bewahrt werden. Heimat wird nicht mehr allein als territoriale Kategorie verstanden, vielmehr entspinnt sich der Raum in den sozialen Beziehungen und Lebenswirklichkeiten. Heimaterleben und -konstruktionen werden handlungstheoretisch betrachtet, Räume werden konstituiert durch Be-
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lebung, Bearbeitung und aktive Sinngebung des Menschen (Löw 2015). In der interdisziplinären Auseinandersetzung wird Heimat dabei oftmals im Sinne einer sozialräumlichen Einheit beschrieben (Bausinger 1980:20). Diese konstituiert sich im Rahmen verräumlichter Sinngebungen, durch die Positionierung in einem Raum und in Interaktion mit diesem. Während Bausinger in seinem 1980 erschienenen Aufsatz »Heimat und Identität« darlegt, dass »Heimat […] zwar nicht strikt begrenzbar, aber doch lokalisierbar im Raum [ist]« (vgl. Bausinger 1980:9), so weist er dem Raum in seinen späteren Veröffentlichungen eine weniger absolute Rolle zu. Nun rückt er den Menschen ins Zentrum einer aktiv angeeigneten und selbst gestalteten Umwelt, die er Heimat nennt (Bausinger 1990; 2001). Rosa, der sich mit dem Heimatbegriff insbesondere im Zuge neuzeitlicher Beschleunigungsprozesse beschäftigt, schließt zwar die Bedeutung des Ortes für Heimat nicht aus, hebt aber die besondere Qualität dieser hervor, die er Resonanz nennt, also eine Beziehung zu Aspekten der eigenen Lebenswelt, die im Innersten berührt: »Die moderne Weltbeziehung kann als Verlust von Heimat im Sinne einer sicheren Weltverankerung, aber natürlich auch als Chance, den richtigen ›responsiven‹ Ort zu finden, erfahren werden« (vgl. Rosa 2017:37). In dieser Beschäftigung gewinnen auch Objekte vermehrt an Beachtung und werden als materialisierte und bedeutungstragende Kontinuitäten verstanden, die es erlauben, eine räumliche Dimension herzustellen. Beispielhaft betrifft dies Einrichtungsgegenstände, Dekorationen oder Talismane. Pfaff-Czarnecka weist auf die Bedeutung von Objekten im Heimatempfinden hin. Diese hafteten uns an und würden ein Teil von uns (Pfaff-Czarnecka 2012:4). In Caplans Konzeptionalisierung manifestiert sich Heimat in emotionaler und subjektiver Weise in sogenannten Gedächtnisorten, wie Gegenständen, Ritualen, Menschen, Räumen oder aber sinnlichen Reizen. Den theoretischen Ausführungen des Künstlers Spoerri folgend, entwickelt Caplan Heimat zu einem Konzept für Identitätsentwicklung in urbanen Räumen. Heimat bezeichnet sie unter anderem als Speicherort für subjektive persönliche Erinnerungen. Die urbane Oberfläche ist in der Arbeit Caplans ein verräumlichtes Gedächtnis, in dem individuelle und kollektive Erinnerungen kanalisiert werden, die insbesondere nach dem Grad ihrer Sentimentalität ihre Bedeutung entfalten (Caplan 2016:10f). In dieser Betrachtung ist der Raum also weniger ein Garant von Heimat oder aber Heimat in erster Linie in verräumlichten Handlungen zu begreifen, sondern Praktiken gelten als raumkonstituierend. Mit Blick auf die interdisziplinären Auseinandersetzungen der letzten Jahre ist es allerdings keine
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Besonderheit mehr, dass individuell erlebte Heimat auch ohne den geographischen Bezug denkbar ist. Egger erklärt, jeder müsse heute selber für sich herausfinden, was Heimat bedeute. Heimat könne sich zwar auf einen Ort beziehen, dies sei aber keine feststehende Kategorie (Egger 2017). Jedoch kann die Beschäftigung mit räumlichen Bezügen in individuellen Heimatkonzepten wertvolle Erkenntnisse zur Beschaffenheit von Heimat liefern. So gilt es, Heimat als verortet in multiplen Raumdimensionen und grenzüberschreitenden, globalen und transnationalen Zusammenhängen zu begreifen.
3.1.2
Heimat als Praxis und Strategie
Während der Begriff Heimat zu Beginn der 1990er Jahre weithin als Sammeletikett für den Umgang mit dem Thema raumbezogene Bindung galt, wird dies mehr und mehr hinterfragt beziehungsweise um zusätzliche Deutungsdimensionen erweitert (Gebhardt et al. 1995:4). Die Vorstellung von Heimat als starres, unveränderliches und lokal gebundenes Konzept gilt als überwunden. Die interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Heimat berücksichtigt insbesondere die Rolle von Handlungen und Interaktionen und rückt damit den Menschen und seine Handlungsmacht in den Fokus (Klose 2013:24; Seifert 2016:56; Klückmann 2013:109). Sowohl in der Besprechung des Konzepts home beziehungsweise Zuhause als auch in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Heimatbegriff gilt dieser Ansatz bereits seit mehreren Jahrzehnten als gängiges Konzept (Peißker-Meyer 2002:18; Piepmeier 1990:97, 106). Feeling at home, so stimmen vornehmlich Anthropologinnen und Phänomenologinnen überein, zeichne sich aus, durch »practising, doing and being embodied« (vgl. Wentzel Winther 2009:64). So bezeichnet Bausinger Heimat bereits 1990 als selbst geschaffene Welt und eine von Menschen gemachte Utopie (Bausinger 1990:88f). Auch Cremer und Klein nennen Heimat eine persönlich gestaltete, vertraute Lebenswelt (Cremer, Klein 1990:34). Piepmeier verweist in diesem Sinne darauf, dass Heimat nicht mehr an den Ort der Geburt gebunden sein muss. Vielmehr stehe der handelnde Mensch im Vordergrund, der entlang persönlicher Bedürfnislagen um die stetige Gestaltung von Heimat bemüht sei (Piepmeier 1990:97). Unter anderem Mitzscherlich systematisiert diese Auffassungen, indem sie drei zentrale Dimensionen eines Heimatgefühls identifiziert, denen zum Teil ein praxistheoretisches Verständnis zugrunde liegt: Sense of community meint erstens die Empfindung dazuzugehören, anerkannt und integriert zu sein. Zweitens ist es für das Erleben von Heimat unerlässlich, eigene
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Handlungs- und Gestaltungmöglichkeiten zu erkennen und zu nutzen. Dies nennt Mitzscherlich sense of control. Sense of coherence meint drittens das reflexive Bewusstsein über die Sinnhaftigkeit und Beeinflussbarkeit des eigenen Lebens trotz erlebter Brüche und Widersprüche (Mitzscherlich 2019:187f; Mitzscherlich 2008). Mitzscherlich betont in ihrer Konzeptionalisierung die Bedeutung eigener Handlungsautonomie und erklärt die Gestaltung zugleich zur Pflichtaufgabe in einer zunehmend globalisierten Welt: »Heimat allerdings fällt nicht mehr selbstverständlich an, sondern muss […] immer neu hergestellt werden« (vgl. Mitzscherlich 2008). Mitzscherlich, Binder und andere sprechen in diesem Sinne auch von Beheimatung statt Heimat. Ganz ähnlich dem Konzept der Identität ist Heimat nicht etwas, was man hat; und was sich auch nicht auf vorgefertigte Bilder und Vorstellungen zurückführen lässt. Heimat besteht vielmehr in ständiger handlungsbasierter Reproduktion und Reflexion und gilt damit als dynamisch, prozesshaft und als offene Struktur, die individuell hervorgebracht und immer neu ausgehandelt wird (Mitzscherlich 2019:188; Binder 2010; Seifert 2012:205; Zudeick 2018:54). Damit ist auch die Möglichkeit der Beheimatung gegeben, im Sinne der Aneignung einer vertrauten Lebenswelt (Mitzscherlich 2008). Heimat, so Seifert, werde in diesem Sinne auch jenseits von Grenzziehungen zwischen Fremd und Eigen möglich (Seifert 2010:19). Binder nennt Beheimatung einen Prozess, der im Wesentlichen mit sozialen Bindungen zusammenhänge. Insbesondere der Emotionalität des Beheimatetseins gelte es dabei in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung verstärkt Beachtung zu schenken. Würde man sich bei der Betrachtung von Heimat auf Wurzeln, Ortsbindungen oder Herkunft beschränken, würde man dabei die ganz unterschiedlichen Formen der Beheimatung, translokale Räume, Freundschaftsnetzwerke, politische Loyalitäten und so weiter aus dem Blick verlieren. In einer solchen Rekonzeptionalisierung des Heimatbegriffs sieht Binder den Vorteil, Essentialisierungen, also Festschreibungen des Anderen auf vermeintliche Eigenheit und Andersheit, unabhängig von Kontext und Interpretation sowie Sentimentalisierungen von Konzepten der Zugehörigkeit zu vermeiden. Die Betrachtung von Praxen der Beheimatung verdeutliche vielmehr die Heterogenität, Plurilokalität, Kontextgebundenheit sowie Prozesshaftigkeit von Beheimatung (Binder 2010:189f). Binder und Mitzscherlich gehen zudem hinaus über ein rein prozess- und handlungsorientiertes Verständnis. Binder fragt, wie sich Menschen unter den Bedingungen von Mobilität und Flexibilität eine Heimat schaffen und bezeichnet die verschiedenen Praktiken der Beheimatung als Strategien und
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Taktiken, um Vertrautes und Zugehörigkeiten beibehalten zu können (Binder 2008:12f; Binder 2010:189f). Heimat beziehungsweise Beheimatung ist in dieser Betrachtung also geplant und bewusst initiiert, wodurch auch rational gesteuerte Prozesse emotionaler Verankerung denkbar werden. Damit distanzieren sich die Autorinnen explizit von der Vorstellung, Heimat sei allein ein latentes innewohnendes Gefühl. In einer mehrjährigen Studie zur Identitätsentwicklung von Jugendlichen identifizierte Mitzscherlich individuell unterschiedliche Beheimatungsstrategien. Heimat sei für die Jugendlichen in erster Linie ein sozialer, strategisch angeeigneter Raum (Mitzscherlich 2008). Dieses Begriffsverständnis sei insbesondere angebracht in einer Zeit, in der Heimat nicht mehr als »sicherer Hafen« verstanden werden könne, sondern Menschen mit mobilen Lebensweisen für ihre Situationen ganz persönliche Lösungen finden (Mitzscherlich 2013:62). Als wesentliche Strategien der Beheimatung nennt Mitzscherlich auf die soziale Integration ausgerichtete kommunikative Strategien, wie der ritualisierte abendliche Anruf der Berufspendlerin bei ihrer Familie. Auch der soziale Anschluss an die Arbeitskolleginnen in einem neuen beruflichen Umfeld kann strategisch befördert werden. Das strategische, bewusste Erschließen einer neuen Umgebung, wie die Dekoration einer neu bezogenen Wohnung mit persönlichen Gegenständen oder das Erkunden des Wohnumfeldes zu Fuß oder mit dem Rad kann zur Beschleunigung von Beheimatung führen. Auch betont Mitzscherlich die Bedeutsamkeit der reflexiven Durchdringung der eigenen Position als Form der strategischen Beheimatung (Mitzscherlich 2013:64f). Wentzel Winther beschäftigt sich in einer ethnographischen Studie mit sogenannten homing tactics von hochmobilen Personen unterschiedlichen Alters. Ausgehend vom Konzept des feeling at home, das sie als Gefühl der Zugehörigkeit zu Gruppen und Orten versteht, untersuchte sie, in welcher Weise Prozesse des homing oneself in Zeiten von Unbeständigkeit gestaltet werden. Wenn auch Wentzel Winther nicht den Begriff Heimat verwendet, so beschreibt sie ähnlich wie Mitzscherlich sogenannte homing tactics, durch die Probandinnen Gefühle der Zugehörigkeit und Geborgenheit entwickeln (Wentzel Winther 2009:64ff). Diese Strategien seien nicht an einen konkreten Ort gebunden, sondern »a capability of being in the world« (vgl. Wentzel Winther 2009:66). Im Gegensatz zu Binder und Mitzscherlich betrachtet sie diese Taktiken aber nicht als Möglichkeit »to recreate home« (vgl. Wentzel Winther 2009:79). Lediglich würden Gefühle der Zugehörigkeit und Geborgenheit für eine bestimmte Dauer hervorgerufen werden können.
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Wenn Strategien der Beheimatung auch bewusst durchdacht und ausgeführt werden, so gibt Rosa zu bedenken, dass Resonanz nicht erzwungen werden kann (Rosa 2019:159f). Übertragen auf Heimat und Prozesse der Beheimatung meint dies, dass die tatsächliche Wirkung von strategischen Beheimatungsbemühungen nicht vorhersehbar ist und eine rationale strategische Überlegung beziehungsweise Handlung nicht zu Gefühlen von Geborgenheit, Sicherheit und Anerkennung – kurz: nicht zu Heimat und Beheimatung – führen. Es ist jedoch durchaus denkbar, dass bereits eine strategische Reproduktion bestimmter vertrauter Praktiken eine emotionale Verankerung in einem neuen Lebenszusammenhang ermöglicht.
3.1.3
Heimatempfinden in Sehnsucht und Utopie
In der Auseinandersetzung mit dem Heimatbegriff ist sein Verständnis als Sehnsucht und Utopie eng miteinander verwoben. Beide Dimensionen sind auch in gegenwärtigen, vornehmlich hermeneutischen Ausführungen geläufig. Aus einer geschichtsphilosophischen Perspektive erläutert Piepmeier mit Verweis auf Lévi-Strauss und Bloch, in welcher Weise beide scheinbar gegensätzlichen Ideen auf denselben Ausgangspunkt zurückzuführen seien, nämlich auf die Positionierung des Menschen im neuzeitlich-europäischen Fortschrittsprozess (Piepmeier 1990:93). Bloch und Lévi-Strauss gehen nicht von der Verwirklichung von Heimat aus. Lévi-Strauss sieht die Heimatlichkeit des Menschen, aufgrund des ihm innewohnenden Hangs zur Zerstörung der Welt, als unmöglich an. Den daraus erwachsenden Schmerz deutet Piepmeier als ausweglose und unerfüllbare Hoffnung (Piepmeier 1990:91f; Lévi-Strauss 1978:211f). Laut Bloch stehe die Erschaffung einer richtigen Welt, im Sinne einer Utopie, erst am Anfang. Im Mittelpunkt dieses Verständnisses steht der tätige Mensch, der, im Gegensatz zum Zerstörerischen bei Lévi-Strauss, die Gegebenheiten überwinden und umbilden kann. Heimat ist hier Utopie im Sinne einer in die Zukunft gerichteten Hoffnung (Piepmeier 1990:92f; Traub, Wieser 1977:207). Übersetzt auf eine subjektzentrierte Ebene, beinhaltet Heimat persönliche und auf die Gesellschaft bezogene Utopien sowie Verlusterfahrungen, die in die Vergangenheit reichen (Costadura et al. 2019:21). Der Philosoph Türcke folgt einem klassischen Verständnis von Sehnsucht und Heimat. Die Geburt des Menschen bezeichnet er als erste Verlusterfahrung, wodurch die Rückkehr zu Heimat zur Unmöglichkeit wird (Türcke 2006:30). Heimat werde nie erlebt und jeder Säugling komme heimatlos auf die Welt. Das stete Bemühen,
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der neuen ersten Umgebung anzuwachsen, und eine gleichzeitige tiefgreifende Verlusterfahrung seien charakteristisch für das Heimatempfinden des Menschen (Türcke 2017:25). Schmitt und andere führen diesen Gedanken weiter. Nach ihnen liegt in der Annäherung an Heimat als Sehnsuchtsbegriff auch die Antwort auf die Sinnfrage des Menschen begründet. »Wer Heimat hat, reflektiert sie nicht« (vgl. Klose 2013:40), erst in der Reflexion, im Bewusstsein ihres Verlusts, gewinne Heimat in ihrer ganz individuellen Ausgestaltung, an Bedeutung und Sinn (Schmitt 2014:39). So schlagen Autorinnen eine Brücke zum Konzept der Utopie und verweisen darauf, dass aus Sehnsuchtsgefühl nicht nur Begehren erwachse, sondern auch Entwürfe, nämlich Utopien (Schüle 2017:14). Der Geograph Antweiler versteht Sehnsucht als zentrales Element, verortet diese aber auf einer mentalen, alltagsweltlichen Ebene. Angelehnt an Rosa erklärt Antweiler, dass die Sehnsucht nach heimatlicher Geborgenheit entstünde, wenn Resonanzachsen fehlen oder verloren gehen (Antweiler 2019:15; Rosa 2016:26). Resonanzachsen beschreiben nach Rosa die Qualität der Verbindung zwischen dem Selbst und der Welt. Diese zum Vibrieren und Atmen zu bringen, beispielsweise durch persönliche Leidenschaften und Hobbies, könne zu einem guten Leben führen, oder besser gesagt, zu der Empfindung von Heimat. Gefühle der Entfremdung und Depressionen ließen Resonanzachsen verstummen, das Individuum fühle sich erstarrt und kalt (Rosa 2016:26). In einem Interview erklärt Rosa »[Heimat] ist definitiv ein Sehnsuchtsort«. Zugleich öffnet er aber diese Perspektive, indem er präzisiert, Heimat sei »die Hoffnung auf einen Weltausschnitt, auf einen Teil der Welt« (Deutschlandfunk 2016). Auch Schlink (2000) sieht Sehnsucht und Utopie in direkter Verbindung. Zwar bezeichnet er Heimweh als eigentliches Heimatgefühl, denn als Sehnsuchtsbegriff bündelt Heimat Erinnerungen an etwas Verlorenes und sehnsüchtig Vermisstes. Zugleich verbergen sich darin aber Hoffnungen und Träume, also in die Zukunft projizierte Sehnsüchte. Heimat, so Schlink, ist Utopie, da sie am intensivsten erlebt werde, wenn sie fehle (Schlink 2000:32f). Er folgert: »Heimat ist ein Ort nicht als der, der er ist, sondern als der, der er nicht ist« (vgl. Schlink 2000:33). Mit Verweis auf die Arbeiten der Philosophin Simone Weil argumentiert Schmitt in einer ähnlichen Weise. Heimat beschreibe einerseits die Sehnsucht zu einem Ort, an dem Einwilligung herrsche mit der Existenz im Universum, dies sei beispielsweise die eigene Kindheit. Heimat sei dabei zugleich ein ersehnter Ort, ganz gleich ob dieser real oder lediglich in der Vorstellung existiere, demnach sei Heimat Utopie (Schmitt 2006:94). Heimat ist in diesem Verständnis nicht nur eine Gegenwelt zu ersehnten Zuständen,
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Heimat und Migration
sondern etwas völlig Neues und Gestaltbares, das sogar ohne den Rückbezug zu bereits bekannten Mustern auskomme. So beziehe sich die Vorstellung von Heimat als Utopie auch auf vorgestellte positiv besetzte Orte, transzendente Welten oder Konzepte von einer besseren Welt (Mitzscherlich 2019:186). Piepmeier plädiert mit Verweis auf Bloch dafür, Heimat nicht rückwärtsgewandt, sondern »in der Perspektive der Hoffnung« (vgl. Piepmeier 1990:92) vor uns zu begreifen. Erlebte Zeit als Heimat habe zwar in der Erinnerung Bestand, sie gehe darin allerdings nicht auf. Sie sei nicht im nostalgischen Rückblick existent, sondern erlange erst Bedeutung im Handeln und in der Reflexion. Dabei sei Heimat, ohne die Verantwortung die Welt zu gestalten, nicht zu denken. Erst in der Gegenwart und Zukunft werde Heimat erlebbar (Piepmeier 1990:97, 103). Dadurch, so Mitzscherlich, werde die Fähigkeit zur Utopie zu einem wesentlichen Element der Beheimatung (Mitzscherlich 2013:62).
3.1.4
Heimat in der Dialektik von Fremde und Vertrautheit
Sowohl in der Beschäftigung mit der historischen Genese des Heimatbegriffs als auch bei der Betrachtung zeitenübergreifender Muster wird evident, dass die Dialektik von Fremde und Vertrautheit eine wesentliche semantische Facette ist, die auch auf immanente problematische Bedeutungen verweist. Diese Bedeutung ist bereits in der Etymologie des Heimatbegriffs angelegt und gewinnt mit seiner Emotionalisierung seit dem 19. Jahrhundert weiter an Bedeutung. Für die Instrumentalisierung von Heimat im politischen und gesellschaftlichen Diskurs ist die Unterscheidung von Fremde und Vertrautheit wesentliches Element und legitimiert Inklusions- und Exklusionsprozesse (Hoff, Gerling-Zedler 2019:68). In der Absicht, Eigenes und Vertrautes zu bewahren, sind allzu oft Abwehr und Abschottung damit einhergehende Dynamiken (Schmoll 2019:82). Im akteurszentrierten Verständnis wird Heimat zumeist mit Gefühlen von Vertrautheit, Geborgenheit, Wärme, Akzeptanz der eigenen Person und subjektiv empfundener Sicherheit verknüpft und verweist auf soziale Bindungen in Familie, Partnerschaft und im Freundeskreis. In diesem Sinne ist Heimat nicht allein in der Gegenwart verortet, sondern ebenso Bestandteil aktiver Erinnerungen. Sie ist zudem die Hoffnung auf Sicherheit, Stabilität und Zugehörigkeit in einer als fremd oder wenig »heimatlich« empfundenen Lebenswelt (Schmoll 2019:84). Schmidbauer (1996) erklärt Heimat sogar zur Notwendigkeit, um Fremdes verarbeiten zu können. Auch in Greverus‘ Kon-
3 Von Außenwelten zu Innenwelten – Heimat als Analysebegriff
zeptionalisierung von Heimat als Satisfaktionsraum ist die Fremde ein wesentliches Element. Diese zu Heimat zu machen, meine, dass dort territoriale Bedürfnisse nach Sicherheit, Identität und Stimulation befriedigt werden. Dies bedürfe gewohnheitsmäßigem Handeln, nach erlernten Mustern, in einem bekannten Erfahrungsraum (Greverus 1979:98). So ist ein wesentliches Element von erlebter Gemeinsamkeit auch ein kollektiv wahrgenommener Grenzhorizont. Dieser trenne zwischen denjenigen, die in emotionaler Verbindung zueinanderstehen, Vorstellungen teilten von einer natürlichen Ordnung und Normalität sowie Verhaltenserwartungen und ästhetisches Empfinden und solchen, die davon ausgeschlossen sind oder als außenstehend konstituiert werden (Pfaff-Czarnecka 2012:3). So steht Heimat immer in einer reflexiven Beziehung zum anderen Fremden. Deutlicher als andere Begrifflichkeiten, wie home oder belonging, wird Heimat immer wieder in Verbindung gebracht mit einer vermeintlich lokalisierten und kulturell homogenen Kindsheimat. So führen Theoretikerinnen diese dem Heimatbegriff innewohnende Facette zum Teil zurück auf die semantische Verknüpfung zu Zeiten und Orten der Kindheit. Der Kulturhistoriker Hüppauf erklärt, diese Phase des Menschen sei gekennzeichnet durch klare Ordnung und fehlende Fremdbestimmung. Heimat entstehe in der Entfernung und aus dem Gefühl des »Heimwehs« heraus und sei ohne die Verschränkung mit Fremde und Distanz nicht zu denken, seine gesamte Narration fuße auf einer Verlusterfahrung (Hüppauf 2007:115). Auch auf individueller Ebene ist Heimat ein Ordnungsprinzip, da sie die Vorstellung von in sich geschlossenen, homogenen Gemeinschaften oder Sphären transportiert und dabei auch Gegenbilder entwirft. Diese Facette ist allerdings nicht exklusives Merkmal von Heimat. Die Anthropologin Douglas verweist in ihren Ausführungen zur Bedeutung von home: »The home, most of all, marks a distincion between the included and the excluded« (Douglas 1991:289; Wentzel Winther 2009:63). Auch David und Staeheli weisen darauf hin. Belonging definiere sich nicht allein über Gefühle von Identifikation und Vertrautheit, sondern über Erfahrungen der Inklusion und Exklusion, die zusammenhängen mit sozialen Prozessen und daher nicht allein durch Individuen gesteuert werden (David, Staeheli 2011:523).
3.1.5
Heimat als Entwicklungsprozess und dauerhafte Suchbewegung
Prozesshaftigkeit und Zeitlichkeit sind zentral in subjektzentrierten Heimatverständnissen. Dabei werden im Folgenden Parallelen zu bereits ausgeführ-
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Heimat und Migration
ten Aspekten in vorangegangenen Teilkapiteln erkennbar. Zum Verständnis des hier ausgearbeiteten Aspekts werden diese nun zu Anfang wieder aufgegriffen. In entwicklungspsychologischer Perspektive wird Heimat als Identitätsentwicklungsprozess beschrieben und in den Erfahrungen der frühen Kindheit verortet. Eine besondere Rolle kommt dabei den ersten sozialen Bindungen des Menschen zu sowie den Orten der Kindheit. Mitzscherlich betrachtet Heimat als Sozialisationsphase und wesentlichen Entwicklungsschritt. »Eine sichere Bindung ist Voraussetzung für Exploration, Heimat die Voraussetzung für das Darüber-Hinausgehen« (vgl. Mitzscherlich 2008). Heimat ist damit ein Entwicklungsschritt und die Konsequenz gelungener sozialer Verbindungen. Im Kontext einer globalisierten Lebenswelt und einem damit einhergehenden Bedeutungsverlust der sogenannten Herkunftsheimat, werden laut Mitzscherlich Gefühle von Geborgenheit, Vertrautheit oder Sicherheit nicht weniger wichtig, sondern nehmen einen zentralen Stellenwert und eine kompensatorische Funktion ein für den Verlust der realräumlichen Kindsheimat (Mitzscherlich 2008). Seifert widerspricht diesem Grundverständnis zwar nicht, da er erklärt, Heimat gelinge, wenn die Qualität der sozialen Kontakte in der Phase der frühkindlichen Entwicklung stabil sei. Er präzisiert aber, es gebe einen sekundären Prozess der Beheimatung, der zufällig gestaltet und nicht notwendigerweise auf eine erlebte Kindsheimat zurückzuführen sei. Heimat und Prozesse der Beheimatung seien vielmehr als mehrstufig zu verstehen. Sie entfalten sich individuell und werden aktiv gewonnen (Seifert 2017; Seifert 2016:62f). Dabei betrachtet Seifert die Entwicklung von Heimat nicht als naturgemäßen Vorgang, sondern als ergebnisoffen und unabhängig von der persönlichen Ausgangssituation. Heimat stellt sich in seiner Perspektive nicht zwangsläufig ein (Seifert 2016:59). In ihrer Dissertationsschrift »Sehnsucht Heimat« untersucht PfisterHeckmann in empirischer und historischer Perspektive, was Heimat russlanddeutschen Spätaussiedlerinnen im Landkreis Cloppenburg bedeutet. In der Besprechung ihrer Ergebnisse weist sie darauf hin, dass sich Heimatempfinden über die Zeit verändert. So könne sich ein vorwiegend vergangenheitsbezogenes, zu einem dynamischen und auf die Gegenwart bezogenen Heimatempfinden wenden (Pfister-Heckmann 1998:294). Heimat äußert sich in dieser Perspektive als anthropologisches Grundbedürfnis, das sich je nach zeitlicher und räumlicher Referenz unterschiedlich artikuliert (Costadura, Ries 2016:20). Diese Vorstellung wird auch von Greverus vertreten. Sie lehnt einen sentimentalen und ideologisierten Heimatbegriff ab,
3 Von Außenwelten zu Innenwelten – Heimat als Analysebegriff
auch verbinde sich Heimat nicht in erster Linie mit dem Bedürfnis nach harmonischer Übereinstimmung in einer Lebenswelt (Greverus 1972; Costadura et al. 2019:15). Vielmehr sei das Bedürfnis nach Heimat, verbunden mit Gefühlen der Sicherheit und Geborgenheit, zurückzuführen auf die grundsätzliche menschliche Befürchtung, der Natur ausgeliefert zu sein (Costadura et al. 2019:18; Mitzscherlich 2019:187). Im Begriffsverständnis der Philosophin Joisten vereinen sich die Vorstellung von Heimat als anthropologische Konstante, Grundbedürfnis sowie ein von sowohl Dynamik als auch Kontinuität geprägtes Konzept. Joisten bezeichnet den Menschen als »heimatliches Wesen« (vgl. Joisten 2012:44). Seine Wesenszüge seien charakterisiert von einer »immanenten Tendenz zu einem Sich-Binden in räumlicher Hinsicht«, unterwegs auf einer »ihm innewohnenden Spur zur Geborgenheit« (vgl. Joisten 2012:45). Die Grundverfasstheit eines Menschen bezeichnet sie als »Heim-weg«, worin sich sowohl eine »weghafte« als auch »heimische« Seite ausdrückt – die ständige Aufgabe zu wohnen ohne dabei stehen zu bleiben. Diese auf Beheimatung ausgerichtete und von Joisten als spiralförmig beschriebene Bewegung äußere sich in fortwährenden kleinen Heimatsetzungen des Menschen und ende erst mit seinem Tod (Joisten 2012:46).
3.1.6
Reflexionen zu normalisierenden Annahmen im subjektzentrierten Heimatbegriff – Zwischenfazit
Die bisher ausgeführten subjektiven Deutungsmuster können als bedeutsame semantische Facetten von Heimat betrachtet werden. Dennoch wird nicht der Anspruch erhoben, Heimat eine eindeutige Definition zuzuweisen. Vielmehr konnten auch Widersprüche und Inkonsistenzen dargestellt werden. Die Forschungsarbeit verfolgt das Ziel, in einer empirischen Untersuchung zu ergründen, welche Bedeutung Heimat für geflüchtete Menschen hat und in welchem Spannungsverhältnis individuelle Heimatkonstruktionen, insbesondere unter den Anforderungen einer migrationsbezogenen Realität, ausgehandelt, bewahrt und angepasst werden. Hierzu ist es vonnöten, die herausgearbeiteten Dimensionen des Heimatbegriffs zunächst in Hinblick auf ideologische, kulturalisierende und hegemoniale Bedeutungsgehalte zu betrachten und zu diskutieren. Dabei wird beabsichtigt, das »identitäre, harmonistische, mit dem Herkunftsmilieu verknüpfte Heimat-Verständnis zu überwinden« (vgl. Rosa 2019:153) und Heimat jenseits einer »politischen Funktionalisierung« (vgl. Piepmeier 1990:107) zu begreifen. Während insbesondere
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Heimat und Migration
jüngere Arbeiten die Bedeutung von Heimat als individuelles und psychischemotionales Phänomen betonen, ist diese differenziertere Betrachtungsweise in der wissenschaftlichen Betrachtung noch nicht lange etabliert (Seifert 2017; Hüppauf 2007:110). Zudem werden dabei allzu oft problematische Bedeutungen reproduziert oder es wird gänzlich auf eine konzeptionelle Klärung des verwendeten Heimatkonzepts verzichtet. Aus der Perspektive von Migration und Flucht betrachtet ist evident, dass Heimat normative Annahmen über Sesshaftigkeit, Ortsbezogenheit sowie Konstruktionen von Eigenund Fremdheit transportiert und normalisiert. So sind spezifische, problematische Annahmen über Flucht und Migration zum Teil in den semantischen Dimensionen von Heimat enthalten. Sie wirken der Bedeutung von Heimat als Begriff in »einer offenen Gesellschaft« (vgl. Bausinger 1980) entgegen (Binder 2010:196). Gängige Konzeptionalisierungen wie die hier dargestellten sind daher in der empirischen Forschung nicht bedenkenlos »anwendbar«. In einem Zwischenfazit werden nun problematische Bedeutungsgehalte reflektiert und diskutiert, mit dem Ziel, sich einem breiten und offenen Heimatbegriff weiter zu nähern. Die Verbindung von Heimat mit dem Geburtsort ist gängig in der Alltagssprache und wird zum Teil in der wissenschaftlichen subjektzentrierten Forschung unkritisch angenommen. So konnte gezeigt werden, dass ein herkunftsbezogenes und lokalisiertes Verständnis nach wie vor dominant ist, wenn auch dieses insbesondere im letzten Jahrzehnt durch praxistheoretische Konzeptionalisierungen erweitert und zum Teil abgelöst wurde. Mit der Bezugnahme zum Ort der Geburt und der frühesten Sozialisation geht die Vorstellung einer natürlichen Verwurzelung einher, die zugleich emotionalisiert und exklusiv ist. Heimat verbindet sich mit konkreten, aber verklärten Bildern, die dem drohenden Verlust ausgesetzt sind oder bereits verloren sind und derer dabei sehnsüchtig gedacht wird. Heimat, so wird deutlich, meint Besitz und Beständigkeit, und ist mit biologistischen Erklärungsmustern ausgestattet. Sie erfährt zudem eine Überhöhung und Mystifizierung. Für die Nutzung von Heimat als Terminus in einer empirischen Studie, insbesondere mit geflüchteten Personen, gilt es, dieses dominante Verständnis zu überwinden, da es zugleich Vorstellungen von Entwurzelung und Zerrissenheit reproduziert (Binder 2010:194). Dabei geht es allerdings nicht darum, dem Ort der ersten Sozialisationserfahrungen die Bedeutung abzusprechen. Die Vorstellung, Heimatempfinden sei geprägt von der Erfahrung einer unter Umständen langjährigen Ortsansässigkeit wird zwar nicht ausgeschlossen, genügt aber allein nicht, um Heimat ganz zu erfassen (Binder
3 Von Außenwelten zu Innenwelten – Heimat als Analysebegriff
2008:12). Die Reduktion von Heimat auf einen konkreten Ort oder eine Verlusterfahrung unterminiert die Gestaltungs- und Handlungsmacht von Individuen und betont Zustände von Erstarrung, Verwurzelung, Exklusivität und Abgrenzung. Heimat wird heute zumeist nicht mehr (allein) an Zeiten und Orte der Kindheit geknüpft. Vielmehr gewinnen geographische Nahräume, wie die Stadt, der Kiez oder die Nachbarschaft, also Orte eines unmittelbaren und tagtäglichen Lebenszusammenhangs, an Bedeutung. Es ist allerdings fraglich, ob eine solche Veränderung des örtlichen Bezugsrahmens sich eher eignet für die Bestimmung eines subjektiven und emotionalen Heimatbegriffs. Das Festhalten an Ortsbezügen ist ein Missverständnis, das auf die dominanten Bedeutungsfacetten von Heimat zurückzuführen ist. Im Kern meint Heimat eine Aufrechterhaltung von Kontinuitäten im eigenen Lebenszusammenhang. Diese äußern sich allerdings nicht (mehr) allein räumlich. Die Verbindung von Heimat mit Sesshaftigkeit und Lokalität übersieht die Relevanz von mobilen Biographien, biographischen Brüchen, veränderlichen Dynamiken, Reflexionen und Visionen des eigenen Lebens, transnationalen Beziehungen, globalen Netzwerken und anderen nicht primär realräumlich gebundenen Ausprägungen emotionaler Verankerung. Zielführender ist es, den Raum nicht als Garant des Heimatempfindens zu konstituieren, sondern eher über die Beobachtung individueller, räumlicher Bezugnahmen zu erschließen. Eine solche Betrachtung kann einem unterkomplexen und starren Heimatbegriff etwas entgegensetzen, da vielfältige Raumdimensionen in Betracht gezogen würden. Ansätze aus der Geographie unterstützen eine Differenzierung von Orten, Räumen und räumlichen Bezügen. Eine weitere normative Annahme, die eng verknüpft ist mit der Vorstellung, Heimat ließe sich über die Bezugnahme zu einem konkreten Ort beschreiben, ist der Aspekt der Zeitlichkeit. Heimat wird vielfach als das Ergebnis eines Eingewöhnungs- oder Entwicklungsprozesses beschrieben, der seine Anfänge in der Kindheit hat. Sesshaftigkeit, das lange Verweilen an spezifischen, oftmals emotional aufgeladenen Orten sowie die Beständigkeit und Linearität gegebener Verhältnisse werden implizit zu einer Grundvoraussetzung für das Empfinden von Heimat erklärt. Da die Suche und das Bewahren von Kontinuität so zentral im Heimatverständnis sind und gleichzeitig als wünschenswert begriffen werden, wird Dauerhaftigkeit zu einer Norm. Allerdings gilt es auch hier den Blick zu schärfen für mobile Lebensentwürfe und biographische Zäsuren, die beispielsweise durch Flucht und Mi-
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Heimat und Migration
gration hervorgerufen werden können. Dies geht unter Umständen mit einem Neusortieren etablierter Heimatempfindungen einher. Vielversprechender scheinen Ansätze, die Abstand von der Vorstellung nehmen, Heimat könne man sich in einem linearen Prozess aneignen und innehaben. Beheimatung orientiert sich demnach entlang wechselnder Bedürfnislagen des Menschen und wird als nie endende Suchbewegung begriffen, im Sinne eines doing Heimat. Ein solches Verständnis ermöglicht eine breitere Vielfalt an Deutungsmöglichkeiten und berücksichtigt weniger schematische Lebensverläufe, ohne Heimat abzusprechen oder bestimmte Bedingungen daran zu knüpfen. Eine Vielzahl an Wissenschaftlerinnen betrachtet Heimat weder als angeboren noch als natürlich gegeben. Heimat ist vielmehr individuell und aktiv gewonnen und stetig angeeignet, entlang gegenwärtiger Bedürfnislagen des Menschen (Seifert 2017). Noch zu wenig Beachtung findet dabei allerdings die Beobachtung konkreter und individuell relevanter Kontextfaktoren, in denen Heimat konkret ausgehandelt wird. Dies mag daran liegen, dass der Begriff Heimat insbesondere in der öffentlichen Besprechung, nach wie vor Überhöhung erfährt und in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen in erster Linie positive, emotionale Gemütszustände beschreibt. Dabei gilt es, die Mühen der Beheimatung als stete Suchbewegung nach Kontinuität, als wesentliches Element eines subjektiven Aushandlungsprozesses in der empirischen Forschung zu berücksichtigen. Insbesondere in der Forschung zu Flucht und Migration würde dies ein fundierteres Verständnis für migrationsspezifische Problemlagen bieten. Dem Erkenntnisinteresse dieser Arbeit folgend, wird eine für Flucht- und Migrationsfragen sensible Forschungsperspektive entworfen. Dazu wird Heimat als Phänomen emotionaler Verankerung und als individuelles Kontinuum verstanden, für das Örtlichkeit und Zeitlichkeit keine Determinanten darstellen, wohl aber bedeutsam werden können. Heimat wird als prozesshaft verstanden und orientiert sich an den Deutungen gegenwärtiger Lebensumstände. Die aktuelle öffentliche Thematisierung des Heimatbegriffs setzt dahingehend einen Stein des Anstoßes für die Neupositionierung eines subjektiven Heimatbegriffs. Dabei scheint es wichtiger denn je, Heimat einer machtkritischen Beobachtung zu unterziehen und zudem sein Potential als individuelles Phänomen subjektiver und individueller Verortung fruchtbar zu machen.
3 Von Außenwelten zu Innenwelten – Heimat als Analysebegriff
3.2
Heimat als Analysebegriff – Kontextualisierungen mit dem Konzept der Migrationsregime
Ausgehend von den vorangegangenen Reflexionen wird es für die Bearbeitung der zentralen Forschungsfrage als notwendig erachtet, das Konzept der Migrationsregime für den empirischen Forschungsprozess heranzuziehen. Dieses befördert das Einnehmen einer kritischen Haltung im Forschungsprozess, indem sich die Forscherin von üblichen Betrachtungsweisen auf Migrationsphänomene entfernt und damit das Gebot der Reflexivität in den Forschungsprozess implementiert. Romantisierungen von Heimat, ihre Reduzierung auf kulturelle Stereotype sowie eine implizite Bindung zu konkreten Orten und Zeiten soll so vermieden werden. Vielmehr gilt es, die Veränderlichkeit und Dynamik von Heimatbedeutungen hervorzuheben und dadurch vielfältige Bedeutungsdimensionen zuzulassen. Zunächst wird der aktuell in der Migrationsforschung häufig, aber doch verschiedentlich besprochenen Ansatz der Migrationsregime in der Theorie der interdisziplinären Migrationsforschung diskutiert (Kapitel 3.2.1.). Daran anschließend wird seine Nutzbarkeit in der vorliegenden Forschungsarbeit dargestellt (Kapitel 3.2.2.). Dabei wird der Ansatz in einer bisher wissenschaftlich vernachlässigten akteurszentrierten Perspektive gedacht, da die Heimatdeutungen in den Selbstaussagen der geflüchteten Personen zum Ausgangspunkt der Erkenntnisgewinnung gemacht werden. Die damit vollzogene theoretische Herleitung ermöglicht es, die Aussagen der Geflüchteten als Verdichtung eines Migrationsregimes zu betrachten und damit in den Konstruktionen von Heimat auch Selbstpositionierungen, Strategien und Aushandlungen zu Maßnahmen der Migrationskontrolle, Exklusionsprozessen und weiteren Dynamiken zu verstehen. Diese Arbeit nimmt daher eine Erweiterung des Konzepts der Migrationsregime vor und macht es nutzbar für seine Anwendung in der empirischen akteurszentrierten Forschung.
3.2.1
Der Regime-Ansatz in der Forschung zu Flucht und Migration
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Migration ist im deutschsprachigen Raum noch recht jung. Sie begann mit der Immigration der sogenannten »Gastarbeiterinnen« seit den 1960er Jahren und hat sich insbesondere in den vergangenen drei Jahrzehnten theoretisch und methodisch weiterentwickelt (Reuter, Mecheril 2015:1). Aufgrund einer Vielzahl entstandener Ansätze aus ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, lässt
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Heimat und Migration
sich das heutige Feld der interdisziplinären Migrationsforschung höchstens unvollständig darstellen, weshalb hier lediglich eine Vorstellung aktueller Forschungsrichtungen vorgenommen wird. Insbesondere mit der vermehrten Ankunft geflüchteter Menschen in Deutschland und Europa in 2015 und 2016 sowie einer damit gestiegenen gesellschaftlichen und politischen Aufmerksamkeit für Flucht und Flüchtlinge, formierte sich die sogenannte Flüchtlingsforschung oder auch Fluchtforschung im deutschsprachigen Raum (Kleist 2017:1). Während diese Forschungsrichtung in Deutschland noch am Anfang steht und die darin begründete definitorische Trennung von Flucht und Migration nicht nur Zustimmung in der wissenschaftlichen Community findet, sind die refugee studies im anglophonen Raum bereits seit mehreren Jahrzehnten etabliert. So wurde das Refugee Studies Centre an der Universität Oxford bereits 1982 gegründet.1 Ein großer Teil aktueller Forschungsprojekte zum Thema Flucht und Migration im deutschsprachigen Raum ist meist kurzfristig angelegt und konzentriert sich in erster Linie auf Integrationsthemen, also die Produktion handlungs- und anwendungsorientierter Erkenntnisse und Empfehlungen. Eine unabhängige Grundlagenforschung wird dagegen erst wenig betrieben (Kasparek, Hess 2010:14; Kleist 2017:1). Zudem sind geflüchtete Personen selbst kaum oder gar nicht Teil des Erkenntnisgewinnungsprozesses und eine Forschung über diese, statt mit diesen, vorherrschend (Aden et al. 2019:3). Dies führt auch zu einer durch die Forschung vorangetriebenen Homogenisierung geflüchteter Menschen, die als passive und sprachlose Opfer in Erscheinung treten (Binder, Tošić 2003:470). Die seit einigen Jahren bereits rege Diskussion des Konzepts der Migrationsregime als theoretischer Ansatz oder auch spezifische Forschungsperspektive ist Ausdruck einer reflexiven Wende, die in der Forschung zu Flucht und Migration seit mindestens zwei Jahrzehnten stattfindet (Nieswand 2018:82, 100). Mit der reflexiven Wende werden zentrale Ansätze, Kategorien und Kategorisierungen in Frage gestellt, die die Forschung und Betrachtung des Phänomens Migration geprägt haben. Vielmehr werden die Forschenden und ihre Verantwortung bei der Produktion neuen Wissens über Migrationsphänomene sowie dessen Folgen für die Gestaltung von Politiken in den Vorder-
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Die Fluchtforschung und Flüchtlingsforschung beschäftigt sich mit den Charakteristika, Motiven und Auswirkungen von Fluchtmigration, also erzwungener Mobilität. Die Abgrenzung der Disziplin zur Migrationsforschung ist auch angelehnt an die im anglophonen Bereich bereits vor Jahrzehnten geführte Debatte (Fröhlich, Krause 2018).
3 Von Außenwelten zu Innenwelten – Heimat als Analysebegriff
grund gestellt (Nieswand 2018:82; Schwiertz 2011:64ff). Eine weitere aktuelle und zentrale Diskussion betrifft die Frage nach der Einbeziehung geflüchteter Menschen in die Forschung, die zu großen Teilen noch mehrheitlich über diese schreibt, statt mit ihnen forscht (Aden et al. 2019). Beispielhaft zu nennen in dieser Diskussion ist die Kritik an der Reduktion von Mobilität auf ein Verhältnis von Angebot und Nachfrage. Dies wird beispielsweise deutlich in der Vereinfachung von Migrationsbewegungen in dem nach wie vor beliebten ökonomischen Push-Pull-Modell von Lee (1972). Migrantinnen werden dabei als passive Opfer von gesellschaftlichen Veränderungsprozessen oder als rational abwägende Akteure von Kosten und Nutzen darstellt. Auch die Kategorisierung und Homogenisierung von Menschen und Menschengruppen als »Flüchtlinge«, »Wirtschaftsmigrantinnen« oder »Gastarbeiterinnen« steht im Zusammenhang mit spezifischen Diskursen und Praktiken der Migrationskontrolle und stärkt eine einseitige Perspektive auf Migration als Defizit oder aber als Chance, beispielsweise zur Bewältigung des demographischen Wandels (Schwiertz 2011:64). Diese Reproduktion von Begrifflichkeiten führt zur Normalisierung von Migrationsverhältnissen, weshalb es die Forschung mehr und mehr als Aufgabe begreift, politisch motivierte Begrifflichkeiten zu reflektieren oder sich ganz von diesen zu lösen (Pott, Schmiz 2018:7). Eine weitere zunehmend hinterfragte, aber doch weiterhin bemühte Instanz in der Betrachtung von Migrationsphänomenen ist der Nationalstaat (Oltmer 2018:2). Allzu oft greifen wissenschaftliche Ansätze zu kurz, wenn sie in der Logik eines methodologischen Nationalismus argumentieren und Migration als einen linearen Prozess beschreiben, der mit einer Entwurzelung in einem fremden nationalen Kontext beginnt und auf das wieder-Einpflanzen, also die Integration oder Assimilation, in einem neuen national beschriebenen Setting folgt (Höppner 2012:10; Schwiertz 2011:64). Während eine kritische Reflexion solcher Vorannahmen zu der Diskussion um transnationale und globale Räume führte (siehe Glick Schiller, Salazar 2013; Glick Schiller et al. 1992), so gewinnen auch lokale Einflussfaktoren in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Migrationsphänomenen an Bedeutung (Oltmer 2018:2; Pott, Schmiz 2018:4). Waren konkrete Raumbezüge in der Migrationsforschung zwar Bestandteil der Forschung, so blieb die Bedeutung des Raumes lange weitestgehend unhinterfragt. Zunehmend berücksichtigen Forschungsarbeiten seine Relevanz, wenn dies auch nicht vergleichbar ist mit der seit den 1990er Jahren in den Sozial- und Kulturwissenschaften vollzogenen raumkritischen Wende (Pott 2018:108).
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Heimat und Migration
Insbesondere signifikante Migrationsbewegungen, wie im Jahr 2015 und 2016, lenken den Blick von Gesellschaft, Politik und Forschung auf Kommunen und Nachbarschaften. Das Konzept der Migrationsregime erfreut sich daher in der Forschung zu Flucht und Migration wachsender Beliebtheit, da es die Möglichkeit bietet, lokale Kontexte zu verräumlichen und aufgrund seiner »reflexiven Metaebene« (vgl. Nieswand 2018:101) die Relevanz für das darüber liegende nicht aus dem Auge zu verlieren (Oltmer 2018:2). Das Konzept der urbanen Regime nimmt eine räumliche Bestimmung des untersuchten Feldes vor und findet auch in der Forschung zu Flucht und Migration Anwendung. In der internationalen Forschungslandschaft wird es bereits seit den 1990er Jahren breit und in unterschiedlichen Skalierungen angewendet (Mossberger, Stoker 2001:810). Im Zuge eines vermehrten Interesses für lokale Ausprägungen von Migrationsverhältnissen, wird in den Arbeiten von Pott, Hinger, Tsianos und anderen das Konzept der urbanen Regime mit Migration in Verbindung gebracht (Hinger et al. 2016). Der mit der Analyseperspektive der Migrationsregime hergestellte Zusammenhang von Stadt und Migration berücksichtigt dabei die Tatsache, dass der städtische Raum nicht als gegeben, behälterhaft und territorial verankert wahrzunehmen ist. Nach Pott und Tsianos sind urbane Migrationsregime »integrierte, sich historisch wandelnde Handlungs- und Gestaltungsarenen mit spezifischen Konstellationen individueller, kollektiver und institutioneller Akteure, deren Interessen, Techniken und Praktiken als Kräfte der Formung von Migration und bzw. von städtischen Migrationsverhältnissen wirken« (vgl. Pott, Tsianos 2014:121). Das Konzept der urbanen Migrationsregime vermag daher insbesondere die Genese, Dynamiken und beteiligten Akteure städtischer Migrationsverhältnisse zu analysieren. Eine solche Betrachtung von Migrationsphänomenen ermöglicht es zwar nicht, wie Hinger et al. feststellen, die oben beschriebenen verkürzenden Betrachtungsweisen von Migrationsphänomenen hinter sich zu lassen (Hinger et al. 2016:443). Es handelt sich aber um eine Lesart, die zur Reflexion und Neustrukturierung bisheriger Beobachtungsroutinen führen kann: Migration wird nicht mehr als natürliche Erscheinung betrachtet, sondern vielmehr als auf vielfältige Weise hervorgebracht (Nieswand 2018:100). Das alleinige Steuerungspotential von Migration durch den Staat wird in Frage gestellt und rein funktionalistische Betrachtungen von Migration abgelehnt. Statt Migration als gegeben anzunehmen, zu beschreiben und damit einer Reproduktion von Kategorisierungen zu verfallen, begreift die Perspektive der Migrationsregime Migrationsverhältnisse als ko-produziert und fragt, auf welche Weise Migration hergestellt wird
3 Von Außenwelten zu Innenwelten – Heimat als Analysebegriff
(Hess 2012:429f; Schwiertz 2011:11, 61, 75; Karakayali, Tsianos 2007:14f; Mecheril 2018:314; Hinger et al. 2016:443). Im Forschungsfeld der Internationalen Beziehungen ist die Regimeanalyse seit den 1970er Jahren wissenschaftlich fundiert und maßgeblich entwickelt worden durch die Theoretiker Krasner und Hasenclever. Beispielhafte Untersuchungsgegenstände im Feld der Internationalen Beziehungen sind das Welthandels- oder das Weltwährungsregime. Von Interesse in dieser Forschungsrichtung ist die Untersuchung von Dynamiken und potentiellen Konflikten, die in der Kooperation zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren entstehen und nicht von diesen allein gelöst werden können (Hinger et al. 2016:443). Definiert werden Regime in dieser Betrachtung als Prinzipien, Normen, Regeln und Prozeduren, die für spezifische Politikfelder auf Dauer die Kooperationen zwischen den beteiligten Staaten regeln. Aus dieser Perspektive werden Staaten als machtvolle Akteure konzeptualisiert (Hasenclever et al. 1997:9). In die Migrationsforschung fand der Regimebegriff Eingang über politikwissenschaftliche Untersuchungen zu Governance und Migrationsmanagement. Migrationsforscherinnen übten Kritik an hier proklamierten Vorstellungen von der Steuerbarkeit und Kontrolle von Migration sowie der Darstellung der Migrantinnen als Objekte der Verwaltung (Karakayali, Tsianos 2007:13; Pott, Tsianos 2014:118). Vor diesem Hintergrund ist in der Migrationsforschung eine zunehmende Beschäftigung mit Netzwerken, Institutionen und ihren jeweiligen Verflechtungen zu beobachten, Migrantinnen rücken mehr und mehr als Akteurinnen in den Fokus der Forschung (Nieswand 2018:93). Gegenwärtig findet der Regimebegriff im interdisziplinären Feld der Migrationsforschung auf unterschiedliche Weise Anwendung. Pott et al. umreißen drei größere Forschungsstränge. Ein erster klassisch strukturierter Forschungsstrang greift die Vorarbeiten aus den Internationalen Beziehungen auf, entwickelt diese weiter und betrachtet Migrationsregime aus einer Makroperspektive (Pott et al. 2014). Eine zweite neuere Strömung erweitert diese Herangehensweise im Feld der angewandten Politik. So wird beispielsweise die Schaffung eines Internationalen Migrationsregimes gefordert, das, basierend auf entsprechenden Rahmenvereinbarungen, die national und international sehr unterschiedlichen Strategien bei der Steuerung von Migrationsbewegungen institutionell vereinheitlicht. Ein zentraler Akteur in diesem internationalen Migrationsregime ist die International Organization for Migration (IOM) (BpB 2019). Die dritte und jüngste Forschungsrichtung nimmt eine
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Heimat und Migration
kritische Haltung gegenüber geltenden Wahrnehmungen von Migrationsverhältnissen ein und betrachtet Zusammenhänge in erster Linie auf der Mikroebene, wie beispielsweise die Verhandlung von Grenzen (Pott et al. 2014). Diese kritische Migrationsregimeanalyse thematisiert die Projekte und Strategien der Migration und Migrantinnen im Verhältnis zur Kontrolle von Mobilität. Sie sieht, entgegen klassischer Systemtheorien, den Einbezug einer Vielzahl an Akteuren sowie vielgestaltiger Machstrukturen vor, ohne jedoch existierende Machtgefälle sich begegnender Akteure auszuklammern. In diesem Sinne plädiert das Konzept der »Autonomie der Migration« für ein Verständnis von Migration als eine eigene soziale Kraft, welches die gesellschaftlichen und subjektiven Aspekte der Mobilität gegen das Primat ihrer Kontrolle betont (Tsianos 2016:20; Hess, Tsianos 2010). Die Hervorhebung der Handlungsmacht und Subjektivität von Migrantinnen sind hierbei hauptsächliches Anliegen. Die damit geschaffene Beobachtungsperspektive und methodologische Rahmung der kritischen Migrations- und Grenzregimeanalyse formuliert dabei den Anspruch, ethnographisch und empirisch das »subjektive Gesicht« der Migration und des staatlichen Handelns gleichermaßen zu erfassen. In Anlehnung an Sciortino verstehen ihre Vertreterinnen unter Regimen »ein Ensemble von gesellschaftlichen Praktiken und Strukturen – Diskurse, Subjekte, staatliche Praktiken – deren Anordnung nicht von vorneherein gegeben ist, sondern das genau darin besteht, Antworten auf die durch die dynamischen Elemente und Prozesse aufgeworfenen Fragen und Probleme, zu generieren.« (Karakayali, Tsianos 2007:14). Zusammenfassend geht die Perspektive der Migrationsregime also davon aus, dass Handeln von Migrantinnen und die Herausbildung von Migrationsphänomenen »unter Bedingungen verschiedener Kontroll-, Steuerungs-, Kategorisierungs- und Regulierungsunternehmungen hervorgebracht [wird], an deren Herausbildung und partieller Durchsetzung verschiedenste Akteure beteiligt sind« (IMIS 2019). Migrationsregime sind die hierbei zu beobachtenden Wechselwirkungen und Ausprägungen, die direkt an der Schaffung von Migrationsverhältnissen – beispielsweise in einem beobachteten ausgewählten Feld – beteiligt sind. Mit dieser Beobachtungsbrille, denn zu unterstreichen gilt, dass die Migrationsregimeanalyse lediglich beobachten kann, erscheinen Migration und Migrationsverhältnisse, erzwungene Migration eingeschlossen, als Ergebnis eines Zusammenspiels von unterschiedlichen staatlichen und nicht staatlichen Akteuren, rechtlichen Institutionen wie Gesetze, Diskursen, sozialen Praktiken, und so weiter (Pott 2018:107; Pott et al. 2018:8). Insbesondere jüngere Ansätze verdeutlichen, dass Kategorien
3 Von Außenwelten zu Innenwelten – Heimat als Analysebegriff
wie »Flüchtling« oder »Asyl« soziale, gesellschaftliche und politische Konstruktionen sind, die den Status natürlich gegebener und unhinterfragter Phänomene angenommen haben (Hinger et al. 2016:445). Mit der Beobachtungsperspektive der Migrationsregime erscheinen geflüchtete Personen nun vielmehr als Gestalterinnen ihrer Lebenssituationen, als Strateginnen und aktiv beteiligt an der Aushandlung und Gestaltung von Migrationsverhältnissen (Nieswand 2018:97). Der Fokus dieser Forschungsperspektive liegt daher insbesondere auch auf den Aushandlungen, Widersprüchen und Brüchen, insbesondere der Subjekte der Migration, und hat den Anspruch, die vielfältigen Wirkungsweisen miteinander verwobener Machtverhältnisse, innerhalb derer sich Migrantinnen bewegen, in den Blick zu nehmen (Hess 2012:429f; Karakayali, Tsianos 2007:14f). Die zentralen Fragen und Unterschiede der heute existierenden wissenschaftlichen Auffassungen und Nutzungen des Konzepts der Migrationsregime liegen dabei auf der Hand: Sie fragen, ob die beobachteten »Fallkonstellationen« selbst Teil des Regimes sind und daher als Akteure mitgedacht werden oder sich einem Regime gegenüber positionieren (Nieswand 2018:94; Pott 2018:110). Auch ist nicht eindeutig, ob ein Migrationsregime als eigenständiger Akteur agiert oder lediglich die beobachteten Elemente. Wird es als Feld betrachtet, welche Grenzen hat ein Migrationsregime, welche Akteure, Räume und Dynamiken sind einzubeziehen und welchen Stellenwert erhalten diese im Zuge der wissenschaftlichen Untersuchungen? In welcher Weise lassen sich die Funktionsweisen eines oder mehrerer Regime beschreiben? Wie kann also die Beschaffenheit eines Migrationsregimes bestimmt werden? Damit einher gehen auch methodologische Fragestellungen: Welche Quellen sind einzubeziehen und welche Untersuchungsmethoden sinnvoll? Nicht selten äußern sich Wissenschaftlerinnen in ihren Forschungsarbeiten widersprüchlich oder mehrdeutig bezüglich der Bedeutung von Regimen. Auch ist eine zufriedenstellende theoretische und methodologische Auseinandersetzung zwischen den unterschiedlichen Disziplinen noch nicht hinreichend geschehen (Pott et al. 2014). In den folgenden Unterkapiteln wird die Nutzbarmachung des Regimeansatzes für die eigene Forschung ausgeführt.
3.2.2
Nutzbarmachung des Regime-Ansatzes in der eigenen Forschung
Es konnte auf die breite und flexible Anwendung des Regimebegriffs verwiesen werden, der Forscherinnen die Entwicklung explorativer Forschungsan-
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Heimat und Migration
sätze ermöglicht. Insbesondere angelehnt an die Überlegungen von Nieswand und Pott, unterstützt das Konzept der Migrationsregime den Prozess der Erkenntnisgewinnung in diesem Forschungsvorhaben in zwei Dimensionen der Beobachtung (Nieswand 2018; Pott 2018). Erstens nähert sich die Analyse nicht über ein durch die Forscherin bestimmtes Regime, sondern die biographischen Erzählungen und Feldnotizen zu den einzelnen Personen bilden das beobachtete »Feld« (vgl. Nieswand 2018:93). Es handelt sich dabei um eine für die wissenschaftliche Analyse strukturierte Art der Beobachtung. Zweitens ergibt sich aus dieser Betrachtungsweise eine spezifische Forschungs- und Analyseperspektive auf einer »reflexiven Metaebene« (vgl. Nieswand 2018:101). In den für diese Arbeit erhobenen biographischen Erzählungen liegt der Fokus der Analyse auf den wirkenden Dynamiken, insbesondere auf der Beobachtung des Verhältnisses von Macht, Kontrolle und Fremdbestimmung zu Autonomie und Strategien der Selbstorganisation. Diese sind in der hier vorgenommenen Konzeptionalisierung maßgeblich beteiligt an individuellen Konstruktionen von Heimat (Nieswand 2018:94). Widmen sich die Ausführungen also zunächst der Herleitung dessen was beobachtet wird, so konkretisiert sich im Anschluss daran, wie beobachtet wird. Das Konzept der Migrationsregime stellt sich in dieser Arbeit als eine »nicht-essentialistische Forschungs- und Analyseperspektive« (vgl. Nieswand 2018:94) dar, die erst mit der Beschäftigung mit konkreten Fallkonstellationen produktiv wird und darüber hinaus Kontextualisierungen individueller wie subjektiver Heimatdeutungen vornimmt. Im Gegensatz zum Ansatz der urbanen Migrationsregime erheben die gewonnenen Erkenntnisse also nicht den Anspruch, Aussagen zu städtischen Migrationsphänomenen zu treffen. Selbst wenn die befragten Personen in der gleichen Stadt lebten und ein ähnliches Asylverfahren durchliefen, so wird eine Generalisierung ihrer Lebensverhältnisse, beispielsweise vor einer stadträumlichen Folie, nicht als sinnvoll oder erkenntnisbringend beurteilt. So werden (städtische) Migrationsverhältnisse individuell unterschiedlich wahrgenommen und ausgehandelt. Es ist das Ziel dieses Vorgehens in Erfahrung zu bringen, wie geflüchtete Menschen in vielfältiger Weise Heimat, verstanden als Teil einer migrationsgesellschaftlichen Realität und eingebettet in spezifische Prozesse der Migrationspolitik und Kontrolle, gestalten (Mecheril 2018:315). Trotzdem muss Abstand genommen werden von der Annahme, dass eine gänzlich vorurteilsfreie Beobachtung von individuellen Heimatkonstruktionen nun möglich sei – die Idee einer unbeteiligten und »objektiven« Forsche-
3 Von Außenwelten zu Innenwelten – Heimat als Analysebegriff
rin entspricht nicht der Realität, da jeder Beobachtung Annahmen zugrunde liegen, die nicht gänzlich ausgeblendet oder reflektiert werden können. Der im Folgenden entwickelte Beobachtungszuschnitt kann, wie Nieswand ausführt, als »sinngebende[s] Verfahren« bezeichnet werden, ohne welches sich grundsätzlich keine Gegenstände der Beobachtung ergeben würden (vgl. Nieswand 2018:83). Das Migrationsregime als Beobachterinnenkonstrukt – Biographische Narrationen als beobachtete Felder In der hier vorgenommenen Migrationsregimeanalyse werden die biographisch-narrativen Erzählungen der Einzelpersonen sowie weitere personenbezogene Informationen aus den Feldnotizen als sich aufspannende individuelle und subjektiv wirksame Regime (oder auch »Felder«) der Migration betrachtet, in denen sich die interviewten Akteurinnen individuell verorten, positionieren und Aushandlungen ihrer Lebenslagen, Vergangenheit und Zukunft vornehmen. Ihre biographischen Narrationen werden als Kristallisationen eines subjektiv wahrgenommenen Migrationsregimes begriffen, in dem sie selbst Aushandlungen austragen, Widersprüche verhandeln und sich positionieren. Um die Kontextualisierung des Individuums mit dem Konzept der Migrationsregime in angemessener Weise zu beschreiben, wird eine »von oben« kommende Perspektive, also die scheinbar objektiv beziehungsweise deduktiv zu bestimmenden Zusammensetzung eines bestimmten Regimes aus Akteuren, Diskursen, Institutionen und Vernetzungen nicht als sinnvoll beurteilt. Zwar vermag dies die Hervorbringung von Migration und Migrationsphänomenen in bestimmten institutionellen, rechtlichen und diskursiven Dimensionen beschreiben, wie dies in der Grenzregimeforschung oder mit der urbanen Regimeanalyse praktiziert wird. Wie aber lässt sich die Vernachlässigung bestimmter Faktoren und Akteure rechtfertigen, wer bestimmt dann also doch die Grenzen des Regimes und damit über Bedeutungen und Wirkmächtigkeiten? Um die konkreten, kontextabhängigen Bedingungen zu berücksichtigen, in welche subjektive Heimatbedeutungen eingebettet sind und stetig neu reproduziert werden, gilt es, das Regime von den befragten Personen aus zu denken. Die damit entwickelte Konzeptionalisierung der Migrationsregimeperspektive betrachtet, wie Individuen in ihren biographischen Erzählungen Aspekte von Kontrolle und Fremdpositionierung ins Verhältnis zu Autonomie, Selbstverwirklichung und strategischen Praktiken setzen. Karakayali und Tsianos weisen darauf hin, dass Migrantinnen angetreten sind, um ihre Situationen zu verbessern und dass jedes Migrationsprojekt anders aus-
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Heimat und Migration
gestaltet ist sowie jede Person Teil ganz verschiedener Umstände ist – auch wenn sie nach außen als »Flüchtlinge« in Erscheinung treten beziehungsweise als diese konstituiert werden (Karakayali, Tsianos 2007:16). Da Bedeutungen von Heimat als eingebettet in konkrete gegenwärtige Kontexte begriffen werden, verfolgt die Regimeanalyse das Ziel, die Wirkungsweise dieses Kontextes zu verstehen. Das Beobachterinnenkonstrukt nimmt daher insbesondere die von den interviewten Personen als relevant dargestellten Dynamiken der gegenwärtigen Lebenssituationen (zum Zeitpunkt des Interviews) in den Blick. Wie in der theoretischen Auseinandersetzung mit der biographischen Methode ausgeführt, bestimmen gegenwärtigen Faktoren die Selektion der Narrationen zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunftsvisionen (Kapitel 4.). Damit löst sich ebenfalls die Frage danach, was das Regime ist, wo seine Grenzen und Anfänge sind und was eigentlich beobachtet wird. Die Relationen und Grenzen eines zu untersuchenden Regimes bestimmen sich nach Nieswand gemäß der Praxis innerhalb eines »Feldes« (Nieswand 2018:93). Für die Nutzbarmachung des Regimeansatzes in der eigenen Forschung lässt sich dies adaptieren: Wenn die biographischen Erzählungen der geflüchteten Personen zum Ausgangspunkt genommen werden, um die subjektiv wahrgenommenen Wirkungsweisen des Regimes sowie individuelle Positionierungen dazu in den Blick zu nehmen, so wird offensichtlich, dass sich das Migrationsregime für jedes Individuum ganz unterschiedlich ausgestaltet und also je nach Fallkonstellation neu in den Blick genommen werden muss. Seine Grenzen, Dimensionen und Beschaffenheiten werden bestimmt durch die Narrationen und umfangreichen Feldnotizen zu jeder Person. Mit diesem Beobachterinnenkonstrukt bleibt daher, im Gegensatz zu üblichen Konzeptionalisierungen des Regimeansatzes, die subjektive und akteurszentrierte Ebene erhalten. Sie wird ergänzt durch die aus der Regimetheorie herausgearbeitete spezifische Forschungs- und Analyseperspektive, die im Folgenden ausgeführt wird. Das Migrationsregime als Forschungs- und Analyseperspektive – Heimat als Ergebnis aktiver Aushandlungsprozesse Zwar sind die individuellen Erzählungen die Grundlage der vorgenommenen Betrachtungen, als Forschungs- und Analyseperspektive löst sich das Migrationsregime aber gleichzeitig von einer Akteurinnenzentrierung und nimmt die Positionierungen von Migrantinnen im Verhältnis zu Kontrolle von Mobilität, Diskriminierung sowie Fremdpositionierungen und anderer Dynamiken in den Blick. Damit rücken beteiligte Ak-
3 Von Außenwelten zu Innenwelten – Heimat als Analysebegriff
teure, Institutionen, Diskurse und weitere Faktoren in der Analyse in den Fokus (Scheer 2014:16; Pott et al. 2014). Heimatkonstruktionen werden nicht allein als Elemente individueller Lebenslagen verstanden, sondern sie entstehen und formieren sich im Zusammenspiel mit verschiedenen externen Faktoren, die einerseits Teil der eigenen Handlungen in Lebens- und Alltagswelt sind, aber auch auf Erinnerungen oder Imaginationen basieren. Wenn Regime als »Ensemble[s] von gesellschaftlichen Praktiken und Strukturen« verstanden werden, »deren Anordnung nicht von vorneherein gegeben ist, sondern genau darin besteht, Antworten auf die durch die dynamischen Elemente und Prozesse aufgeworfenen Fragen und Probleme, zu generieren« (vgl. Karakayali, Tsianos 2007:14), können Heimatkonstruktionen als eben diese Antworten betrachtet werden und als zutiefst eingebettet in die sie umgebenen Strukturen, Fragen und Probleme. Das unterstreicht damit die dynamische Natur dieses subjektiven Gefühls. Die mit einer solchen subjektorientierten Mikroperspektive in Zusammenhang stehende Gefahr einer Überhöhung, Viktimisierung, Romantisierung oder Kulturalisierung der einzelnen Migrationsbiographien soll mit Hilfe der Regimeperspektive reflektiert werden (Karakayali, Tsianos, 2007:15). Mit der Errichtung dieser »reflexiven Metaebene« (vgl. Nieswand 2018:101) erscheinen geflüchtete Personen als aktive Gestalterinnen, die zu den Umständen ihres Lebens, eine aktive und strategische Haltung einnehmen. Hierdurch wird auch eine differenzierte und für Migrationsfragen sensible und kritische Einbettung der Heimatinterpretationen möglich.
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4. Forschungsdesign und methodologische Reflexionen
Das Forschungsdesign ist ein Plan für die Sammlung und Analyse von Anhaltspunkten, die es der Forscherin erlauben, eine Antwort zu geben auf die von ihr gestellten Fragen (Gschwend, Schimmelfennig 2007:13). Seine Konzeption erfolgt entlang der zentralen und absichtlich offen formulierten Forschungsfragen dieser wissenschaftlichen Arbeit: Welche Bedeutung und Beschaffenheit hat Heimat für geflüchtete Menschen und in welchen Spannungsfeldern sind Konstruktionen von Heimat verortet, ausgehandelt und werden immer wieder neu produziert. Welches Potential birgt dabei die Nutzung des Konzepts Heimat in der empirischen geographischen Migrationsforschung? Das Forschungsdesign wurde erstellt auf Basis der Beobachtungen und Annahmen einer mehrmonatigen explorativen Phase sowie theoretischer und hermeneutischer Reflexionen zum Heimatbegriff. Der semantische Facettenreichtum des Heimatbegriffs konnte in den vorangegangenen Kapiteln verdeutlicht werden. Besonders hervorzuheben ist dabei die Erkenntnis, dass Heimat sich nicht anhand eines starren und abfragbaren Kategoriensystems begreifen lässt. Heimat, betrachtet als subjektives, dynamisches und hochindividuelles Gefühl, verschließt sich der bewussten Wahrnehmung und ist nicht auf eine einheitliche Definition zu verkürzen. In »Heimat in der Großstadt« reflektiert Reuber sein methodisches Vorgehen zur Erhebung von Raumbezug und Ortsbindung am Beispiel der Stadt Köln, indem er erklärt, dass das »Herauswickeln« von »Einstellungen und Meinungen aus den Köpfen der Betroffenen, eine entscheidende Bedeutung [gewinnt]« (vgl. Reuber 1993:20). Das Kapitel arbeitet die methodologischen und methodischen Rahmensetzungen zur Bearbeitung und Beantwortung der Forschungsfragen heraus. Zunächst werden die dem Forschungsprozess zugrunde gelegten Prinzipi-
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Heimat und Migration
en und Haltungen der qualitativen Sozialforschung vorgestellt, wobei auch die Reflexion der eigenen Forscherinnenrolle im Verhältnis zum Forschungsfeld unter der Berücksichtigung von Ungleichheitsverhältnissen und Machtverteilung in den Fokus genommen wird (Kapitel 4.1.). Hiernach erfolgen die Einbettung und Kontextualisierung der empirischen Arbeit in die Begriffe und Betrachtungen der Reallaborforschung (Kapitel 4.2.). In Kapitel 4.3. werden die Bedeutung von Feldforschung und teilnehmender Beobachtung im empirischen Forschungsvorhaben erläutert. Kapitel 4.4. und 4.5. widmen sich der ausführlichen Darstellung des Erhebungs- und Auswertungsschemas, wobei zunächst die Methode des biographisch-narrativen Interviews dargestellt wird und danach das schrittweise Vorgehen der Datenauswertung mit der Methode der biographischen Fallrekonstruktion. Angepasst an das Forschungsvorhaben wird anschließend die Auswertung des Materials entlang zentraler Heimatsemantiken und unter Hinzuziehen der Beobachtungsperspektive der Migrationsregime vorgestellt.
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Prinzipien und Haltungen in einem reflexiven Forschungsprozess
Auch wenn sich innerhalb der qualitativen Sozialforschung ganz unterschiedliche Herangehensweisen herausgebildet haben, so wurden durch mehrere Theoretikerinnen in variierender Ausführlichkeit gemeinsame übergeordnete Prinzipien formuliert, die der Praxis einer qualitativen Sozialforschung zugrunde gelegt werden. Insbesondere Christa Hoffmann-Riem formulierte 1980 mehrere, noch heute gültige Grundsätze (Hoffmann-Riem 1980; Rosenthal 2014:39f; Flick et al. 2001:20). Prinzipien geben dem wissenschaftlichen Erkenntnisprozess eine Richtung und werden im Verlauf der Forschung immer wieder herangezogen, reflektiert und geprüft. In der qualitativen Sozialforschung werden insbesondere zwei Prinzipien genannt, die auch in dem hier durchgeführten Forschungsprozess einen herausgehobenen Stellenwert einnehmen: das Prinzip der Offenheit und das Prinzip der Kommunikation. Ihre Umsetzung und Einhaltung im Verlauf der Datenerhebung und der Datenanalyse wird im Folgenden ausgeführt. Das Prinzip der Offenheit ist die am häufigsten formulierte Regel für die Durchführung qualitativer Forschungen und bezieht sich auf alle Phasen des Forschungsprozesses. Es fordert die nur grobe Formulierung der eigenen Forschungsfrage und das Zurückstellen der eigenen Vorab-Hypothesen
4 Forschungsdesign und methodologische Reflexionen
zum Forschungsthema. Auch eine theoretische Vorstrukturierung des Forschungsgegenstandes ist zu vermeiden, wenn auch die eigene »theoretische Brille« bei der Erkundung des Forschungsfeldes nicht vollends abgelegt werden kann und sollte. Dies betrifft auch das methodische Vorgehen, das sich nach dem Prinzip der Offenheit erst im Laufe des Forschungsprozesses entwickeln sollte (Kruse 2014:362; Rosenthal 2005:15). Dem eigenen Forschungsprozess wurde eine breite Forschungsfrage vorangestellt, die sich dann im Verlauf der Forschung noch mehrere Male leicht veränderte. Zudem wurde der Erhebungsphase durch Interviews eine mehrmonatige explorative Phase im Feld vorangestellt, in der die Forschungsfrage und das methodische Vorgehen spezifiziert wurden, jedoch bis zur Durchführung offenblieben. Parallel hierzu wurden gängige Heimatsemantiken aus der interdisziplinären Literatur zum Heimatbegriff herausgearbeitet und nach der erfolgten Fallrekonstruktion der Datenauswertung entlang der Fragestellungen zugrunde gelegt. Zwar wurde durch dieses Vorgehen eine Vorstrukturierung der biographischen Analyse vorgenommen, jedoch ist die konkrete Auswahl der Themen und Sequenzen auf die individuellen Bedeutungszuweisungen der Interviewten zurückzuführen. Das Prinzip der Kommunikation hebt hervor, dass Forschung ein vielschichtiger und vor allem interaktiver Kommunikationsprozess ist, der einer stetigen und intensiven Reflexion bedarf. Datengewinnung wird als eine kommunikative Leistung betrachtet, da Forscherinnen mit den Subjekten der Forschung in Kommunikationssituationen eintreten, die nach den Regeln der Alltagskommunikation strukturiert sind (Hoffmann-Riem 1980:347; Rosenthal 2014:43). Für das durchgeführte Forschungsvorhaben gilt dies in besonderem Maße: Aufgrund der Einbettung des Dissertationsprojekts in den konzeptionellen Rahmen eines Reallaborforschungsprojekts (Kapitel 4.2.) besteht der Kontakt zu den interviewten Personen, die sich in der Initiative Living & Giving engagieren, zum Zeitpunkt der Interviews bereits seit etwa zwei Jahren. Er ist seitdem von regelmäßigem, professionellem und auch persönlichem Kontakt geprägt. Das Interview als abgeschlossener und analysebereiter Text ist daher als bloßer Ausschnitt einer komplexen lebendigen Interaktion zu begreifen. Zudem ist anzunehmen, dass die Interviewten Wissen aus vorherigen Gesprächen voraussetzen, daran anknüpfen oder anderes auslassen. Aufgrund gemeinsamer Projekte und regelmäßiger Gespräche muss hervorgehoben werden, dass eine besondere Vertrauensbasis zwischen Interviewten und Interviewenden besteht, die sich auch in der unmittelbaren Bereitschaft zum Gespräch beziehungsweise zur Biography-Photography-Session
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Heimat und Migration
zeigte. Die Gestaltung einer für alle Seiten angenehmen Erhebungssituation erforderte von den Beteiligten oft ein Umdenken der entwickelten und eingespielten Rollen, denn auch das offene Format des biographisch-narrativen Interviews folgt zumindest in Teilen bestimmten Regeln. Das Verständnis der Erhebungssituation als Moment der Interaktion und Kommunikation verlangte daher das Anfertigen umfangreicher Feldnotizen vor und nach den Erhebungssituationen. Im Prozess der Erkenntnisgewinnung wurden diese berücksichtigt und fanden auch in die Darstellung der Analyse Eingang. Der Einfluss der Forscherin auf den Forschungs- und Erkenntnisprozess wird oft nicht konsequent in die methodologischen Reflexionen einbezogen (Gutiérrez Rodriguez 1999:50f). Neben den vorstellten Prinzipien beabsichtigt die Arbeit daher auch eine kritische Reflexion der eigenen Forscherinnenposition, sowohl im Hinblick auf bestehende ungleiche Machtverhältnisse zwischen der Forscherin und den befragten Personen als auch in Bezug auf die Rolle und Verantwortung der Forscherin bei der Analyse, Interpretation und Verschriftlichung wissenschaftlicher Daten. Dabei ist zu vermeiden, mit einem derartigen Anspruch einer »narzisstischen Reflexivität« (vgl. Schweder et al. 2013:203) anheim zu fallen, also der Aufwertung der eigenen Reflexivität im Kontrast zu der nicht-reflektierten Forschungshaltung anderer Forscherinnen. Zugleich gilt es über die Formulierung eines reinen Lippenbekenntnisses hinaus zu gehen. So wurden konkrete Vorgehensweisen etabliert, die die Reflexion von Ungleichverhältnissen und verborgenen Machtstrukturen ermöglichen (Hoppe 2017:109): Dazu erfolgt erstens die kritische Betrachtung der Nutzung des Heimatbegriffs als Element einer empirischen und subjektzentrierten Forschung. Zweitens werden die Vorteile der Biographieforschung ausgeführt, die es vermag die befragten geflüchteten Personen ins Zentrum der Forschung zu stellen. Schließlich dient das Hinzuziehen der Analyseperspektive der Migrationsregime als reflexives Element im Erkenntnisprozess, da sie migrationsspezifische kontext- und gegenwartsbezogene Faktoren in die Auswertung einbezieht. Die empirische Forschungsarbeit stellt erstens einen Begriff ins Zentrum, der gesellschaftlich, politisch und individuell stark besetzt ist und sich in ständiger Aushandlung befindet: Während Heimat in Bezug auf Sesshaftigkeit, Zugehörigkeit und Fremdheit, hegemoniale und normalisierende Annahmen transportiert, erscheinen Migration und die gesellschaftliche Erfahrung von »neuen Anwesenheiten« (vgl. Dausien, Mecheril 2006:155) als Störung, Abweichung und Provokation. Die Verwendung von Heimat als Analysebegriff in einer akteurszentrierten Forschung riskiert, diese Vorstellungen
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zu reproduzieren. Heimat, so der hier geltend gemachte Einwand, würde den Befragten übergestülpt mit dem Ziel der »Normalisierung« ihrer Gefühlswelten. Diesem Konflikt wurde begegnet, indem im Rahmen der historischen und konzeptionellen Auseinandersetzung mit dem Heimatbegriff auch seine problematischen Bedeutungsfacetten herausgearbeitet und dargestellt wurden (Kapitel 2.10., Kapitel 3.1.6.). Die Feinanalyse operiert zudem mit einem Heimatkonzept, das sich in mehrere semantische Facetten aufspaltet und dessen Formulierung sich auf die umfangreiche Sichtung der interdisziplinären wissenschaftlichen Literatur zum Heimatbegriff stützt. Der tatsächlichen Nutzung des Heimatbegriffs wird also eine eingehende und kritische Auseinandersetzung mit diesem vorangestellt, während ein Fächer seiner vielschichtigen Bedeutungen der Analyse zugrunde gelegt wird. Zugleich wurden die geflüchteten Personen zum Abschluss nach ihren persönlichen Bedeutungen von Heimat gefragt, wodurch das Interview in einem offenen Gespräch endete. Die Antworten der Befragten sind zum Teil in die Analysen zu der Bedeutung von Heimat eingeflossen, nicht ohne die jeweilige Verwendung des Begriffs eingehend zu reflektieren und zu kontextualisieren. Zweitens eröffnen die Methoden und theoretischen Annahmen der Biographieforschung den Subjekten einen breiten Raum, wodurch diese einen zentralen Stellenwert bei der Produktion neuen Wissens einnehmen (Gutiérrez Rodriguez 1999:35). So folgt die biographische Methode nur losen Regeln und zielt auf die Stimulation einer möglichst freien biographischen Erzählung, auch wenn die Interviewten bestimmten Erzählzwängen folgen (Kapitel 4.4.; Hoppe 2017:110ff). Die Befragten im eigenen Forschungsprojekt stimmten zum Teil dem Interview zu, weil sie darin die Möglichkeit sahen, ihr Wissen und ihre Standpunkte sichtbar zu machen, sich also Gehör zu verschaffen. So erklärt Kama »don’t judge the book by the cover« (Kama Z14) und spielt damit auf Vorurteile und Nichtwissen gegenüber geflüchteten Menschen und ihren Lebenssituationen an. Gemäß dem in diesem Kapitel ausgeführten Prinzip der Kommunikation werden Besonderheiten in der Interaktion zwischen befragter und fragender Person in Kapitel 5. offengelegt, analysiert und in den Erkenntnisprozess einbezogen. So stellt die Biographieforschung ein wichtiges Element in der Verwirklichung einer machtsensiblen und selbstreflexiven Forschung dar (Hoppe 2017:101). Als dritte Instanz zur Reflexion von Ungleichverhältnissen und Machtstrukturen wird das Konzept der Migrationsregime herangezogen. Neben der Rekonstruktion biographischer Verläufe ermöglicht die biographische Methode die Herausarbeitung gegenwärtiger Subjektkonstitutionen, was sie für
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das Verständnis von Heimat so wertvoll macht. Die Untersuchung von Heimatkonstruktionen in den Erzählungen birgt aber die Gefahr, Essentialisierungen anheim zu fallen, Bedeutungen von Heimat also auf vermeintlich feste kulturelle Eigenheiten zurück zu führen. Auch wenn Wissenschaftlerinnen hervorheben, die biographische Methode ermögliche die Analyse von Zuschreibungen und deren Auswirkungen auf biographische Konstruktionen aus der Gegenwartsperspektive, so dient das Konzept der Migrationsregime in diesem Forschungsvorhaben als weiteres reflexives Element (Gutiérrez Rodriguez 1999:35; Hoppe 2017:114). Es schärft den eigenen Blick für die Rolle und den Einfluss von Ungleichheitsverhältnissen, in die individuelle Konstruktionen von Heimat eingebettet sind.
4.2
Das Reallabor als Forschungsmodus und Zugang zum Feld
Das Forschungsvorhaben entwickelte sich in der von Januar 2016 bis März 2019 durchgeführten Reallaborforschung »Asylsuchende in der RheinNeckar-Region«, im Teilprojekt »Dezentrales Wohnen von Flüchtlingen und Asylsuchenden«. Als Teil der zweiten Förderlinie des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg gehörte das Reallabor »Asylsuchende« zur Gruppe der 14 sogenannten »BaWü-Labs«, die 2012 auf Initiative der Expertinnengruppe »Wissenschaft für Nachhaltigkeit« der baden-württembergischen Landesregierung eingerichtet wurden (Gerhard et al. 2017:5). Die Projekte verfolgten das Ziel, möglichst »verschiedene Felder einer zukünftigen Stadtentwicklung ab[zudecken]« und damit »das Leben zum wissenschaftlichen Experimentierfeld« (vgl. MWK 2019) zu machen. Aufgrund der Bedeutsamkeit dieses Formats für die eigenen Untersuchungen und seines noch unterschätzten Potentials für zukünftige Forschungsarbeiten, nicht nur im Feld Flucht und Migration, werden Anliegen und Herangehensweisen der Reallaborforschung im Folgenden ausgeführt. Reallabore zeichnen sich aus durch eine themengeleitete und (zunächst meist befristete) transdisziplinäre Kooperation zwischen Akteuren aus Wissenschaft und Praxis, die darauf abzielt, eine transformative und partizipative Stadtentwicklung zu betreiben. Stadtentwicklung bezieht sich dabei nicht allein auf die Gesamtstadt, auch auf der Haushalts-, Quartiers-, oder Kreisebene sind Reallabore angesiedelt (Schneidewind 2014:3f). Darüber hinaus ist auch die Umsetzung eines Reallaborformats im suburbanen oder länd-
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lichen Raum denkbar (West, Kück 2019:260). Die Forschungspartner entwickeln gemeinsam und auf Augenhöhe Fragestellungen, bearbeiten diese im Rahmen innovativer und experimenteller Verfahren und beabsichtigen tatsächliche Veränderungsprozesse in Gang zu setzen sowie entstehende Projekte oder entwickelte Verfahren möglichst zu verstetigen (MWK 2019). Übergeordnetes Ziel von Reallaboren ist es, Antworten zu finden auf die Frage, wie ein nachhaltiger gesellschaftlicher Wandel gestaltet werden kann. Nachhaltigkeit bezieht sich dabei nicht allein auf eine ökologische Betrachtungsweise oder den Einsatz klassischer politischer Steuerungsmaßnahmen auf technischer Ebene. Von Bedeutung sind vielmehr der Einbezug und die Vernetzung ganz unterschiedlicher Akteure und das Ausprobieren von experimentellen Methoden, entlang zentraler gesellschaftlicher Problemstellungen. Zwar ist die Arbeitsweise im Reallabor ergebnisorientiert gestaltet, aber kein abgeschlossener Forschungsprozess vorgesehen (Wagner 2017:79). Reallabore gehen daher hinaus über die Ansätze »klassischer« Forschung und sind bezüglich ihrer Akteure, Methoden und Strukturen von einer hohen Komplexität und Heterogenität geprägt (Marquardt, Gerhard 2019:237). Hierin liegt aber auch ihre Stärke: Reallabore beziehen eine Vielzahl an unterschiedlichen Akteuren ein, lassen viel Spielraum bezüglich der organisatorischen, methodischen und inhaltlichen Herangehensweisen und streben an, echte Veränderungen herbeizuführen. Diese »Forschung in Echtzeit« (vgl. Gerhard, zitiert nach Zech 2018) macht das Format auch angesichts gegenwärtiger gesellschaftlicher und globaler Herausforderungen wie Klimawandel, Digitalisierung und Migrationsbewegungen so attraktiv. Die beiden Förderlinien der »BaWü-Labs« starteten 2015 und 2016. Für die Dauer von mindestens drei Jahren beschäftigten sich Wissenschaftlerinnen und Praxisakteure mit lokalen Veränderungspotentialen und deren Wirkungen und bedienten dabei ganz unterschiedliche Themenfelder. So entwickelte beispielsweise das Reallabor »Urban Office – Nachhaltige Stadtentwicklung in der Wissensgesellschaft« Formate und Lösungen für die Gestaltung einer nachhaltigen Stadtentwicklung; das Reallabor »Energielabor Tübingen« legte den Schwerpunkt der Arbeit auf den Ausbau regenerativer Energien (MWK 2010). Schwerpunkt des Reallabors »Asylsuchende« war es, Kooperationen zu implementieren zwischen Wissenschaftlerinnen der beteiligten Forschungseinrichtungen, zivilgesellschaftlichen Akteuren, geflüchteten Menschen, Vertreterinnen der Kommunalverwaltungen, Wohlfahrtsorganisationen und Bildungseinrichtungen in Heidelberg, Sinsheim und Wiesloch. Das Ziel war,
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Transformationsprozesse anzustoßen, die die soziale und gesellschaftliche Teilhabe geflüchteter Menschen fördern.1 Die Annahme lautete, dass in diesem Prozess insbesondere den Faktoren Sprach- und Mathematikerwerb, berufliche Bildung und Arbeitsmarktintegration, dezentrales Wohnen sowie bürgerschaftliches Engagement eine zentrale Rolle zukommt. Die beteiligten wissenschaftlichen Institutionen sowie zahlreiche Praxispartner bearbeiteten die vier Themenbereiche im Rahmen von Teilprojekten. Dabei waren auch die methodischen Ansätze in diesem Verbundprojekt unterschiedlich ausgestaltet.2 Das am Geographischen Institut der Universität Heidelberg angesiedelte Teilprojekt »Dezentrales Wohnen« wurde maßgeblich umgesetzt von Dr. 1
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Die Analysen und Handlungsempfehlungen des Reallabors »Asylsuchende« wurden in mehreren Publikationen zusammengeführt. Zentrale, Teilprojekt-übergreifende Ergebnisse wurden als ZEW policy brief (2019) sowie in einem zusammenfassenden Projektbericht veröffentlicht (Reallabor Asylsuchende in der Rhein-Neckar-Region 20162019). Geschäftsführung des Reallabors »Asylsuchende in der Rhein-Neckar-Region« von 2016 bis 2017: Monika Gonser; seit September 2017 bis März 2019: Mareike Bahn (beide Pädagogische Hochschule Heidelberg). Themenschwerpunkte und Mitarbeiterinnen in den Teilprojekten: Teilprojekt 1: Berufliche Bildung: Diagnose und Förderung sprachlicher und mathematischer Kompetenzen von berufsschulpflichtigen jugendlichen Asylsuchenden. Wissenschaftliches Team der pädagogischen Hochschule Heidelberg: Oksana Kovtun-Hensel, Birgit Werner, Rebecca Höhr, Anne Berkemeier (Westfälischen Wilhelms-Universität Münster). Teilprojekt 2: Wege in den Arbeitsmarkt. Wissenschaftliches Team der Pädagogischen Hochschule und des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung Mannheim: Petra Deger, Corinna Uebel, Martin Lange, Friedhelm Pfeiffer, Katrin Sommerfeld. Teilprojekt 3: Stadtgeographische, stadtgesellschaftliche-demographische, migrationssoziologische Dimensionen dezentraler Unterbringung. Wissenschaftliches Team der Pädagogischen Hochschule, der Hochschule Darmstadt und des Geographischen Instituts der Universität Heidelberg: Havva Engin, Christina West, Svenja Kück. Querschnittsprojekt: Bürgerschaftliches Engagement und Trisektorale Kooperationen. Wissenschaftliches Team des Centrums für Soziale Investitionen und Innovationen der Universität Heidelberg: Adalbert Evers, Georg Mildenberger, Verena Schmid, Steffen Sigmund. Zentrale Praxispartner in den Projekten: Schulen, IHK, Stabstelle Integration (alle Rhein-Neckar-Kreis); Volkshochschule, Living & Giving e.V., Amt für Soziales, Amt für Schule und Bildung, Asylarbeitskreis, Diakonie, Flüchtlingspartner Ziegelhausen (alle Stadt Heidelberg); Amt für Soziales, Sinsheim; Anpfiff ins Leben, Walldorf und andere (detaillierte Informationen zur Struktur, den inhaltlichen Schwerpunkten sowie Ergebnissen des Reallabors »Asylsuchende in der Rhein-Neckar-Region« auf der Homepage www.reallabor-asyl.de/reallabor-asyl/reallabor-asyl.html).
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Christina West, Prof. Dr. Havva Engin (Pädagogische Hochschule Heidelberg) und der Autorin. Der Forschungsfokus richtete sich auf die Erkundung von Chancen und Hürden bei der Umsetzung von dezentralen Unterbringungsformen für geflüchteten Menschen in der kommunalen Anschlussunterbringung. Darüber hinaus wurde untersucht, wie sich Formen und Bedingungen der Flüchtlingsunterbringung auf die Wahrnehmung und Nutzung des Stadtraums der Bewohnerinnen auswirken.3 Neben der Erhebung von leitfadengestützten Interviews mit zentralen städtischen Akteuren im Feld der Flüchtlingsintegration und anderen, eher »klassischen«, methodischen Herangehensweisen, konnten insbesondere zwei größere transdisziplinäre Projekte mit Praxispartnern realisiert werden. So wurde in einem fast einjährigen Planungsprozess mit der Integrationsbeauftragten und dem Flüchtlingsbeauftragten der Stadt Sinsheim sowie in Kooperation mit dem Querschnittsprojekt des Reallabors »Asylsuchende« ein Veranstaltungszyklus entwickelt. Hierbei wurden die Themen Integration, Werte und Stadtentwicklung niedrigschwellig und in verschiedenen Veranstaltungsformaten mit Interessierten der Zivilbevölkerung diskutiert. Die daraus gewonnen Erkenntnisse zur transdisziplinären Zusammenarbeit in der Reallaborforschung wurden im Nachgang einer kritischen Prüfung unterzogen und publiziert (siehe Kück, Schmid 2019). Zweitens wurden insbesondere mit dem Praxispartner Living & Giving und dem Künstler Kavith Ashkaperaj4 im Teilprojekt mehrere eigenständige Projekte entwickelt. So entstand das offene Workshopformat UrbanUtopiaLAB und die Ausstellung Learning from Journeys, zudem wurden Veranstaltungen durchgeführt, die die übergeordnete Frage adressierten »Wie wollen wir in Zukunft zusammen leben?« (Erläuterungen zu beiden genannten Projekten siehe Exkurs beziehungsweise weiter unten in diesem Kapitel). Wenn sich diese Forschungsarbeit auch nicht im Kontext der Begriffe, Methoden und Zielsetzungen der Reallaborforschung verortet, so schaffte der »Arbeitsmodus Reallabor« doch einen einzigartigen methodischen sowie konzeptionellen Zugang zum Forschungsfeld und zu den befragten Personen. So ermöglichte das experimentelle und offene Forschungsformat das Betreiben
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Zu den Teilprojekt-spezifischen Erkenntnissen siehe beispielsweise Schmid, Kück 2017; Deger et al. 2017; West, Kück 2019; Kück, Schmid 2019. Der Name Kavith Ashkaperaj ist ein Pseudonym. Da er ebenfalls Interviewpartner in diesem Forschungsprojekt war, wurde sein Name zum Schutz der personenbezogenen Daten geändert.
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der intensiven Feldarbeit für diese Studie. Das Reallabor ist also nicht als Parallelstruktur zum eigenen, eher »klassischen« wissenschaftlichen Vorgehen zu verstehen. Vielmehr wurden die Ansätze aus der Biographieforschung und Ethnographie mit denen der Reallaborforschung kombiniert und daraus ein produktiver, geeigneter Forschungsmodus entwickelt. Insbesondere vor dem Hintergrund des formulierten Forschungsvorhabens ermöglichte dieses Vorgehen ein tiefes Involviert-sein im Forschungsfeld über einen längeren Zeitraum, die Beteiligung der Interviewpartnerinnen an Teilen des Forschungsprozesses und nicht zuletzt die Initiierung weiterer Projekte, in denen geflüchtete und nicht geflüchtete Menschen »auf Augenhöhe« zusammenarbeiten. Der Zugang zum Forschungsfeld wurde zum einen maßgeblich bestimmt durch die eigenen regelmäßigen Besuche des Projekts Come Together in Heidelberg und zum anderen durch die konkreten Kooperationen im Reallabor mit dem Praxispartner Living & Giving5 , beispielsweise im Rahmen des UrbanUtopiaLABs. Beide Zugänge waren bestimmend für die Ansprache und Auswahl der Interviewpartnerinnen für das biographisch-narrative Interview sowie das ethnographische Vorgehen und werden nun ausgeführt: Erstens gilt das Treffen Come Together, das ich seit Herbst 2016 bis Ende 2018 regelmäßig besuchte als zentral für den Zugang zum Feld. An dem abendlichen Kochen in einer universitären Einrichtung nahmen sowohl geflüchtete als auch nicht geflüchtete Menschen teil. Come Together und die Initiative Living & Giving wurden 2015 von in erster Linie männlichen Geflüchteten aus Gambia sowie bereits in Heidelberg lebenden Personen gegründet. Neben der Zubereitung von Essen wurden auch Aktionen, wie öffentliche Lesungen, gemeinsames Musizieren oder Vorträge durchgeführt. Etwa acht bis 30 Personen waren üblicherweise wöchentlich zwischen 2016 und 2018 bei den Treffen anwesend. Aufgrund von finanziellen und organisatorischen Umstrukturierungen von Come Together und Living & Giving und durch Veränderungen persönlicher Wohn- und Lebenssituationen, änderten sich Ablauf, Zusammensetzung und Dynamik der Treffen immer wieder. In der Projektphase des Reallabors »Asylsuchende« war Come Together ein regelmäßiges, wenn
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Bei den Bezeichnungen Living & Giving und Come Together handelt es sich um Pseudonyme. Fast alle für diese Studie interviewten Personen engagierten sich in dem Verein oder bei den regelmäßigen Kochabenden. Zum Schutz ihrer personenbezogenen Daten sowie der in den Interviews genannten Namen und Informationen wurden diese Bezeichnungen geändert.
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auch nicht planmäßiges Treffen mit dem Praxispartner Living & Giving und diente auch zur Ankündigung von Veranstaltungen. Zugleich entwickelten sich hier zwischen der Forscherin und späteren Interviewpartnern vertrauensvolle und freundschaftliche Beziehungen. Das ab Mai 2017 durch den Praxispartner Living & Giving, den Künstler Kavith Ashkaperaj und das wissenschaftliche Team des Reallabors entwickelte Projekt UrbanUtopiaLAB wurde zweitens für den methodischen Zugang in dieser Studie bedeutsam. Das offene Workshopformat wurde für die Entwicklung von experimentellen Methoden und (urbanen) Interventionen konzipiert, die sich mit den Themen Stadt und Migration sowie seiner Relevanz und Handhabung im Raum Heidelberg und darüber hinaus befassten. Das UrbanUtopiaLAB wird als »Möglichkeitsraum« verstanden, in dem in mehreren Phasen Utopien und konkrete Wünsche zum zukünftigen Zusammenleben in der Stadt als praktisch umsetzbare Vorhaben und politische Handlungsempfehlungen formuliert werden. Die Kombination von wissenschaftlich-akademischem Wissen und nicht-wissenschaftlichem Wissen der Praxis wurde in diesem Prozess zentral. Zwischen Mai 2017 und März 2019 wurden UrbanUtopiaLABs in regelmäßigen Abständen als zunächst geschlossene und später öffentliche Veranstaltungen durchgeführt (West, Kück 2019:263ff). Die Teilnehmerinnen waren geflüchtete und nicht geflüchtete Personen unterschiedlichen Alters und zumeist, allerdings nicht ausschließlich, in der Initiative Living & Giving und deren Projekt Come Together engagiert. Auch die Interviewpartner Mahmoud, Bah und Attila nahmen regelmäßig oder punktuell an den Workshops des UrbanUtopiaLABs teil, während Kavith Teil der Steuergruppe des Projekts war. Aus dieser Zusammenarbeit im UrbanUtopiaLAB ergab sich die Erhebung der biographisch-narrativen Daten, die in dieser Arbeit ausgewertet wurden: Im Rahmen mehrerer Workshops im UrbanUtopiaLAB wurde die Idee entwickelt eine Ausstellung zu konzipieren, die die Lebensgeschichten geflüchteter Menschen präsentiert und über verschiedene Begrifflichkeiten sowie visuelle Gestaltungselemente miteinander verknüpft (Hintergrund, Umsetzung und Ausgestaltung der Ausstellung Learning from Journeys siehe Exkurs). Die Konzeption der Ausstellung durch den Künstler Kavith Ashkaperaj und die Autorin entwickelte sich parallel zu den Treffen des UrbanUtopiaLABs. Das Zusammentragen der Lebensgeschichten wurde im Rahmen der sogenannten Biography-Photography-Session realisiert, ein durch den Künstler und die Forscherin entwickeltes Erhebungsinstrument, dessen Besonderheit in der Kombination vorwiegend klassischer Methoden der qualitativen Datenerhebung
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einerseits sowie künstlerischer Formen der Darstellung und Visualisierung andererseits bestand. Kern der Methode waren das mehrstündige biographisch-narrative Interview sowie die künstlerisch-fotographische Abbildung befragter geflüchteter Personen. Weitere Elemente waren ein Spaziergang in der unmittelbaren Wohnumgebung der Befragten, ähnlich dem Format des Walking Interviews.6 Zudem erhielten die Befragten während des Interviews Materialien wie Stadt-, Regional- und Weltkarten, auf denen sie sich und zurückgelegte Routen verorten konnten sowie leeres Papier und Stifte, die keinem vorbestimmten Zweck dienten. Falls vorhanden, wurden außerdem persönliche Artefakte der befragten Personen in das fortlaufend dokumentierte Gespräch einbezogen. Aufgrund der Intensität und Intimität einer BiographyPhotography-Session war ein vorab etabliertes Vertrauensverhältnis zwischen den drei Beteiligten unabdingbar. Daher verwehrte sich dieses Format der klaren Planbarkeit von vorn herein, sondern folgte dem Rhythmus der konkreten Interaktionssituation. Die Auswahl an Methoden und Zugängen beabsichtigte die Erfassung eines möglichst vielschichtigen Gesamtbilds der jeweiligen Person, um auch eine mehrdimensionale künstlerische Darstellung im Rahmen einer Ausstellung verwirklichen zu können. Zugleich sollten die erhobenen Daten (Bilder, Skizzen, Objekte, Interviewdaten, Feldnotizen) im Rahmen des Dissertationsprojekts ausgewertet werden und der Untersuchung von Heimatkonstruktionen geflüchteter Menschen zusätzliche Tiefe verschaffen. Aufgrund unvorhergesehener organisatorischer Veränderungen konnte die Biography-Photography-Session allerdings lediglich mit Mahmoud, Lavin und Bah durchgeführt werden. Bei den dann folgenden fünf Erhebungen handelt es sich ausschließlich um ausführliche biographisch-narrative Interviews, die die Autorin allein führte. So wurden, um eine Vergleichbarkeit zu gewährleisten, auch bei den ersten drei durchgeführten BiographyPhotography-Sessions lediglich die Interviews für diese Forschung berücksichtigt. Exkurs: Learning from Journeys – ein transdisziplinäres Ausstellungsprojekt im Reallabor »Asylsuchende in der Rhein-Neckar-Region« Die mobile Ausstellung Learning from Journeys entstand im Rahmen der transdisziplinären Zusammenarbeit des Visual Artist Kavith Ashkaperaj und der Autorin Svenja Kück, zu der Zeit 6
Walking Interviews, auch Go-along oder walking ethnography genannt untersuchen alltägliche Raumproduktionen aus einer praxistheoretischen Perspektive (siehe zum Beispiel Kühl 2016).
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wissenschaftliche Mitarbeiterin am Geographischen Institut der Universität Heidelberg. Beide konzipierten, kuratierten und präsentierten Learning from Journeys im Frühjahr 2019 an drei Standorten in Heidelberg. Die Ausstellung zeigt Selbstrepräsentationen aus den autobiographischen Erzählungen von drei geflüchteten Personen, die im Zeitraum der Ausstellung in Heidelberg lebten. Anhand von direkten Zitaten erhalten Betrachterinnen Einblicke in Selbstentwürfe //ME//, in Erfahrungen während der zurückliegenden (Flucht-)Migration //JOURNEY//, in individuelle Zugehörigkeiten und emotionale Verortungen //HEIMAT// sowie in persönliche und gesellschaftliche Utopien //UTOPIA//. Während jede der dargestellten Personen, ihre Erzählungen und ein ausgewähltes Objekt für sich stehen und auch im Raum separiert sind, lassen unterschiedlich farbige Verbindungslinien zwischen den Biographien und den hervorgehobenen Themen weitere Les- und Denkarten zu: Die weiße Linie führt die Betrachterinnen vom Eingang der Ausstellung zu den Selbstentwürfen der drei Personen. Auf der blauen Linie folgt man den verschiedenen Visionen und Utopien. Die rote Linie verbindet Vorstellungen, Orte, Zeiten oder Personen der drei Biographen, die Geborgenheit, Sicherheit und Wohlbefinden vermitteln. Auf der schwarzen Linie erfahren Besucherinnen Näheres zu den individuellen Erfahrungen während der Flucht und Migration. Die vier Linien enden bei kurzen schriftlichen Erläuterungen zu den vier Begriffen. Pro Person beabsichtigen vier großformatige Schwarz-Weiß-Aufnahmen mit einer fotographisch erzeugten Nähe zwischen Portrait und Betrachterin, übliche Sichtweisen auf Flucht und geflüchtete Menschen zu brechen. Abbildung 1: Ausstellungsraum Learning from Journeys in den Breidenbach Studios Heidelberg. Eigene Aufnahme.
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Begleitet wurde die Ausstellung einmalig von einem Workshop, in dem Besucherinnen gemeinsam die Darstellungen in Bezug zu eigenen Erfahrungswelten reflektieren.
4.3
Feldforschung und teilnehmende Beobachtung
Die Grundlagenliteratur zum methodischen Vorgehen der ethnographischen Feldforschung formuliert eine Reihe methodischer Empfehlungen, die zu ihrem Gelingen beitragen sollen (Wolff 2001:334f). Tatsächlich ist es aber weder durchführbar noch ratsam, einer klar umrissenen Anleitung zu folgen (Mattissek et al. 2013:142). Die Praxis der Forschung hängt im konkreten Fall von vielen Faktoren ab, wie der Persönlichkeit der Forscherin, den Eigenschaften des Feldes oder den sich entwickelnden Interaktionen und Veränderungen. Bachmann beschreibt dahingehend die faktische Durchführung einer Feldforschung als situatives »Durchwursteln« (vgl. Bachmann 2009:250ff). Der Weg ins Feld ist daher eine nie abgeschlossene Arbeitsaufgabe, sie wird gemeinsam mit den Forschungssubjekten abgewickelt und befindet sich in einem ständigen Prozess der Veränderung (Mattissek et al. 2013:148f). Gewichtiger Teil der Feldforschung ist die sogenannte teilnehmende Beobachtung. Diese meint neben der Anwesenheit der Forscherin im Feld auch, je nach Erkenntnisinteresse, die Beteiligung am täglichen Leben von Einzelpersonen oder beispielsweise das Mitwirken in bestimmten Planungsprozessen. Teilnahme meint, die eigene emotionale Distanz für eine bestimmte Zeit abzulegen und dabei leibliche und psychische Erfahrungen zuzulassen (Rosenthal 2014:105). Das eigene methodische Vorgehen bedient sich zwar den Techniken ethnographischer Feldforschung, allerdings kann von einem Forschungsfeld nicht oder nur bedingt gesprochen werden. So trifft die in der Methodenliteratur oftmals beschriebene Entwicklung von Gefühlen der Fremdheit oder ein empfundener radikaler Bruch beim Eintritt ins Feld auf die eigene methodische Herangehensweise weniger zu (Wolff 2001:334f). Vielmehr verlangt der »Forschungsmodus Reallabor« das Involviert-sein der Forscherin, das als gewichtiger Teil der Feldforschung gilt, von Beginn an und über einen längeren Zeitraum hinweg. Im konkreten Vollzug der eigenen Reallaborforschung verschwimmen die Grenzen zwischen den erklärten Sphären der »Wissen-
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schaft« und »Praxis«. Von einem konkret definierbaren Feld kann also kaum die Rede sein. Ganz im Gegenteil sieht die Forschungspraxis im Reallabor die Veränderung beziehungsweise Transformation eines bestimmten, auch alltagsweltlichen, Ausschnitts, durch aktives Zusammenwirken »beider Seiten«, sogar vor. In dem idealtypischen Setting einer Reallaborforschung werden Praxisakteure von der Formulierung der Forschungsfrage bis zur Auswahl geeigneter Methoden in den gesamten Prozess einbezogen, wodurch Wissenschaftlerinnen im Kontext von Reallaborforschung eine neue Dimension der Verantwortung zukommt (Schneidewind, Singer-Brodowski 2015:14f; 18). Für die Bearbeitung der Forschungsfrage wird der »Feldzugang« über die Prinzipien der Reallaborforschung zwar als wertvoll und fruchtbar angesehen, zugleich war das Einnehmen einer Distanz zum Forschungsgegenstand geboten, um eine wissenschaftliche Reflexion gewährleisten zu können. Das regelmäßige Niederschreiben und Interpretieren von Feldnotizen wurde in diesem Prozess zu einer wichtigen Praxis, es ermöglichte eine innere Distanzierung zum Forschungsgegenstand und das Einnehmen einer Beobachterinnenrolle. So entwickelten sich im Verlauf der Forschung methodische Vorgehensweisen, die zu bewährten Routinen der Feldforschung wurden, ein eigenes »Verzetteln« weitestgehend eindämmten und im Forschungsprozess unterstützend wirkten (Bachmann 2009:250, 257): Die Feldnotizen während der explorativen Phase dokumentierten erlebte Ereignisse sehr detailliert. Mehr und mehr konzentrierte ich meine ausformulierten Notizen dann auf Gespräche, Interaktionen, beobachtete Situationen sowie erlebte Stimmungen und Interpretationen mit Einzelpersonen, die später zum Teil zur Gruppe der Interviewten gehörten.7 Die Notizen entstanden dabei in erster Linie im Rahmen der regelmäßigen Treffen bei Come Together und den UrbanUtopiaLABs, aber auch im Rahmen privater freundschaftlicher Einzelkontakte wurden zum Teil Feldnotizen angefertigt. Ausführlich notiert wurden zusätzlich Eindrücke der teilnehmenden Beobachtung während der Erhebung des biographisch-narrativen Interviews sowie aus dem schriftlichen wie mündlichen Kommunikations- und Interaktionsverlauf zuvor oder danach. Die Vorbereitung auf Interviews mit Personen, zu denen im Vorhinein kein regelmäßiger Kontakt bestand (Yochanan, Yasmina und Attila), geschah mit Gedächtnisprotokollen von zurückliegenden Treffen oder mit Informationen aus dem vorherigen schriftlichen Austausch. Bachmann 7
Zu den Leitlinien der Protokollierung von teilnehmender Beobachtung siehe Rosenthal 2014:113.
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bezeichnet eine solche Entwicklung der eigenen Feldforschung als Nische, die die Forscherin in ihrem Feld entdeckt und die als Basis der eigenen Arbeit dient. Von einer solchen Nische aus wird die Forscherin mit Informationen versorgt und verschafft sich einen Zugang zu tieferen und komplexeren Themen (Bachmann 2009:255ff). Bedeutsamste Funktion der regelmäßigen schriftlichen Reflexionen war das Hinterfragen und Neubesprechen eigener Relevanzkriterien im Themenfeld Heimat. Zudem entstand zu den befragten Personen ein komplexes Bild aus verschiedenen, auch alltagsbezogenen Beobachtungen, auf die ich im Interview Bezug nehmen konnte (Rosenthal 2014:104). Individuelle und subjektive Bedeutungen von Heimat sowie deren Einbettung in ein migrationsspezifisches Spannungsfeld konnten durch die Praxis der teilnehmenden Beobachtung und das Hinzuziehen der Feldnotizen von Beginn an differenzierter, tiefgehender und zielgerichteter herausgearbeitet werden. Dabei muss einschränkend hinzugefügt werden, dass die Feldnotizen in ihrer Ausführlichkeit und Tiefe von Person zu Person variierten.
4.4
Das biographisch-narrative Interview
Die klassische Form des narrativen Interviews geht zurück auf Fritz Schütze, in die 1970er Jahre. Es zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass die Struktur des Interviews von der erzählenden Person bestimmt wird und die interviewende Person dabei nur wenig lenkt (Schütze 1983:285f). Dies ermöglicht Auskunft zu erhalten über schwer abzufragende individuelle, subjektive Bedeutungsstrukturen (Mayring 2002:72ff). Gutiérrez Rodriguez betont, die Daten biographisch-narrativer Interviews böten Zugang zu »gesellschaftlichen Konstruktions- und Konstitutionsprozessen«, in denen Wechselwirkungen zwischen Individuum und Gesellschaft beobachtet werden könnten (vgl. Gutiérrez Rodriguez 1999:35; Dinkelaker 2013:24f). In Anlehnung an Knapp (1997:499) unterstreicht sie weiter, die Narrationen der Befragten seien gegenwärtige Perspektiven auf das eigene Gewordensein und ermöglichten daher die Analyse des individuellen und subjektiv wahrgenommenen Gefüges, in dem sich die Person selbst verortet (Gutiérrez Rodriguez 1999:35). Die gegenwärtige Lebenssituation bestimmt also die jeweils spezifisch erinnerte Vergangenheit. Zurückliegende Ereignisse werden mit der Erinnerung immer in andere Sinnzusammenhänge als zuvor eingebettet. Rosenthal verdeutlicht in der Erläuterung ihrer biographietheoretischen Annahmen, dass soziale und
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psychische Phänomene nur mit der Rekonstruktion ihrer Genese verstanden werden können. Die Einbettung in den Gesamtzusammenhang des eigenen gegenwärtigen Lebens mache das Gesagte erst versteh- und erklärbar und liefere zudem Interpretationsmöglichkeiten für Zukunftsperspektiven (Rosenthal 2014:177ff). Die biographische Methode ermöglicht daher nicht allein die Betrachtung einer Selbstdefinition, sondern auch die Analyse von Zuschreibungen und deren Auswirkungen auf Handlungen und biographische Konstruktionen aus einer Gegenwartsperspektive. Die erzählte Biographie gilt damit als individuelles und soziales Produkt (Rosenthal 2014:185). Für die eigene Forschung, die danach fragt, in welchem Spannungsfeld individuelle Gefühle von Heimat eingebettet sind und ausgehandelt werden, wird der Zugang über das biographisch-narrative Interview daher als sinnvoll betrachtet. Die Phasen des biographisch-narrativen Interviews Die folgenden Ausführungen orientieren sich größtenteils an den methodischen Überlegungen von Gabriele Rosenthal. Das biographisch-narrative Interview gliedert sich in drei Phasen: Es beginnt mit einer Erzählaufforderung, die die Haupterzählung einleitet, es folgt eine erzählimmanente Nachfragephase durch die interviewende Person und schließt mit der Thematisierung bisher nicht genannter Aspekte, je nach Forschungsinteresse. Die Dauer der jeweiligen Phasen kann im Vorhinein nicht bestimmt werden. Üblicherweise nimmt die Haupterzählung der ersten Phase im Verhältnis die längste Zeit in Anspruch; dies gestaltete sich aber im Rahmen der eigenen Erhebungen höchst unterschiedlich. Die folgende offene Erzählaufforderung leitet das Interview ein. Aus Gründen der vereinfachten Lesbarkeit wird hier die zweite Person Singular als Form der direkten Ansprache verwendet. »Ich möchte dich bitten, mir deine Lebensgeschichte zu erzählen. All die Erlebnisse, die dir einfallen. Du kannst dir dazu so viel Zeit nehmen, wie du möchtest. Ich werde dich erst einmal nicht unterbrechen, sondern mir nur einige Notizen machen und später darauf zurückkommen.« Die an diese Frage anschließende Haupterzählung wird von den Interviewerinnen nicht unterbrochen, sondern höchstens durch parasprachliche Äußerungen wie körpersprachlich ausgedrückte motivierende Aufforderungen oder Blickkontakt unterstützt (Rosenthal 2002:142). Die offene Erzählaufforderung evoziert, dass die Erzählungen unterschiedlichen Zwängen unterliegen. Schütze unterscheidet dabei zwischen dem Gestaltschließungszwang, dem Kondensierungszwang und dem Detaillierungszwang.
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Der Gestaltschließungszwang beabsichtigt einen Gesamtzusammenhang darzustellen. Zugunsten der Vollständigkeit berichten die Interviewten daher zum Teil sehr ausführlich aus ihren Biographien. Trotzdem führt der Kondensierungszwang dazu, dass die Befragten Verkürzungen des Inhalts vornehmen. Diese verweisen auf die Relevanz bestimmter Themen und Erzählungen aus der Gegenwartsperspektive. Der Detaillierungszwang führt zur Ausschmückung der Erzählung, um der Zuhörerin beispielsweise kausale Zusammenhänge zu verdeutlichen (Schütze 1976:224f; Rosenthal, Loch 2002:4; Karakayali 2010:77f). Dabei ist jede Erzählung einzigartig und wird erst in dem konkreten Moment der Befragung generiert. Die greifenden Mechanismen ermöglichen der Forscherin Einblicke in schwierige, schmerzhafte oder besonders angenehme Bereiche der jeweiligen Biographien. Die Biographinnen selbst markieren dadurch die »sicheren«, aber auch »unsicheren Orte« in ihren eigenen Lebensgeschichten (Rosenthal 2002:20). Im Rahmen der eigenen Analyse ermöglicht dies, Rückschlüsse zu ziehen in Bezug auf Bedeutungen, Beschaffenheiten und Schwierigkeiten von Heimatkonstruktionen. Die Forscherin notiert während der Haupterzählung besonders in den Vordergrund gestellte Themen, Lebensphasen oder Ereignisse, sie werden als Einladung zu Vertiefungsfragen verstanden. In der zweiten Phase des Gesprächs stellt die Forscherin nun Nachfragen in Bezug auf in der Haupterzählung genannte relevante Aspekte. Auch hier werden Meinungs- oder Begründungsfragen zurückgestellt. Während aus der Haupterzählung hervorgeht, welche Erzählstränge den Biographinnen Schwierigkeiten bereiten und welche besser funktionieren, kann die Forscherin dem Erinnerungsvermögen der Biographinnen mit erzählimmanenten Nachfragen auf die Sprünge helfen. Die »sicheren Phasen« in der Erzählung können hier noch einmal ausführlicher nachgefragt werden, wenn dies erwünscht ist. Dies ist ebenso sinnvoll, um eine möglicherweise schwierige oder traumatische Situation »abzurunden«. Es wird allgemein davon abgeraten, so Rosenthal, eine Erzählung bei der Schilderung einer schwierigen Lebensphase zu beenden (Rosenthal 2002:20, 8f). In der eigenen Forschung war die erzählimmanente Nachfragephase zwar nicht gesprächsartig strukturiert, jedoch weniger »streng« als in der Struktur eines Frage-AntwortSchemas. Nach Rosenthal wird die dritte Phase des Gesprächs von der Forscherin strukturiert und ermöglicht explizit die Prüfung eigener wissenschaftlicher Relevanzkriterien, sofern diese im Gespräch bisher nicht Erwähnung fanden (Rosenthal 2002:13). Im Rahmen der eigenen Erhebungen waren folgende
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Themen zumeist Teil der dritten Phase im Interview, wobei insbesondere die letzten beiden Fragen darauf abzielten, in einen gesprächsartigen Austausch zu kommen und das Interview ausklingen zu lassen. • • •
Fragen nach persönlichen Wünschen und Utopien Meinung zur Flüchtlings- und Asylpolitik in Deutschland und Europa Was bedeutet dir Heimat?
Tatsächlich verläuft ein Interview nicht nach einem straffen und benennbaren Schema. Denn nicht immer ist es den Befragten möglich, die erforderliche Zeit aufzuwenden oder sich auf die Maßgabe »all die Erlebnisse, die dir einfallen« einzulassen. Geduld, Sensibilität, Offenheit und Flexibilität, auch in Bezug auf den Gesamtablauf der Befragungssituation, sind daher wichtige Voraussetzungen für die Durchführung eines biographisch-narrativen Interviews. Vorbereitung und konzeptionelle Rahmung der Datenerhebung Die Auswahl der Gesprächspartnerinnen ergab sich im Laufe der mehrmonatigen explorativen Phase.8 Der Kontakt zum Praxispartner Living & Giving sowie die direkte und regelmäßige Zusammenarbeit, unter anderem im UrbanUtopiaLAB, ermöglichte ein frühes Kennenlernen und Vertrauenfassen zu den interviewten Personen. Gleichzeitig veränderte sich die Zusammensetzung der im regelmäßigen Format Come Together engagierten Personen immer wieder und auch in der seit Mai 2017 im Reallabor initiierten Projektgruppe UrbanUtopiaLAB waren nur wenige Personen dauerhaft involviert. Aufgrund eines ReallaborProjektaccounts bei dem sozialen Netzwerk Facebook war es möglich, auch Personen zu kontaktieren, die die verschiedenen Formate schon eine Zeit lang nicht mehr besucht hatten. Auf diese Weise wurden drei Personen des Samples kontaktiert (Attila, Kama, Yochanan) und vier Personen wurden persönlich angesprochen (Mahmoud, Bah, Lavin, Kavith). Zu Yasmina wurde der Kontakt über einen Elternverein in Heidelberg geknüpft. Das Interview mit ihr war zugleich das erste persönliche Treffen. In der Ansprache wurden die Interviewpartnerinnen gefragt, ob sie bereit wären, ihre Lebensgeschichten zu erzählen, mit der Erläuterung, dass dies dem Zweck einer wissenschaftlichen Arbeit über Lebens- und Gefühlswelten geflüchteter Menschen diene. 8
Eine Liste der Interviewpartnerinnen mit Informationen zu den Erhebungssituationen befindet sich im Anhang.
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Die Pseudonymisierung ihrer Daten wurde im ersten Gespräch bereits zugesichert. Während zwar alle angesprochenen Personen einem Interview zustimmten, so konnte doch nicht in jedem Fall direkt ein Treffen ausgemacht werden. Dies wurde insbesondere dann schwierig, wenn kein Kontakt über soziale Medien bestand oder man Telefonnummern nicht ausgetauscht hatte. So wurden 15 Personen angesprochen und insgesamt neun Personen interviewt, wobei ein Interview nicht berücksichtigt wurde, aufgrund eines ungeeigneten methodischen Zugangs. Auswahlkriterium für die Durchführung des biographisch-narrativen Interviews war zudem ausreichende Sprachkenntnisse in Deutsch oder Englisch, damit auch ohne das Hinzuziehen von Dolmetscherinnen ein flüssiges Gespräch ermöglicht werden konnte. Der Einsatz von Übersetzerinnen wurde als ungeeignet befunden, da die Präsenz dieser die Dynamik der Interviews auf unterschiedliche Weise negativ beeinflussen könnte: Die Befragten könnten befürchten, die Antworten würden sich auf ihr Asylverfahren auswirken, außerdem wäre die eigene Steuerung des Gesprächs und das spontane Nachfragen, wie in einem »natürlichen« Gespräch, mit der Anwesenheit von Dolmetscherinnen eingeschränkt. Vielfach wird argumentiert, diese Bedenken könnten beiseitegeschafft werden, wenn Freundinnen, Bekannte oder Vertraute das Dolmetschen übernähmen (Rischke, Freudenberg 2017:160). Das Unterbrechen des Gesprächs durch eine weitere, nicht allen Anwesenden gleichermaßen bekannte Person wurde jedoch als künstliche, für den Fluss des Gesprächs unerwünschte Störung beurteilt. Die erwünschte Datengrundlage wurde zu Beginn der Erhebungsphase nur vage formuliert. War die Erhebung zunächst im Rahmen der BiographyPhotography-Session geplant, wurde aufgrund der erwarteten Datenmenge eine Grundgesamtheit von fünf bis zehn Interviews angestrebt. Aufgrund interner personeller Veränderungen im transdisziplinären Team wurde diese ausführliche Form der Datenerhebung eingestellt. Allein die Durchführung von ausführlichen biographisch-narrativen Interviews sowie die Anfertigung von Feldnotizen wurden durch die Autorin fortgesetzt. Während der vertrauensvolle Kontakt zu den Interviewpartnerinnen aufgrund der Zusammenarbeit im Reallabor gelang, so limitierte dieser Zugang allerdings auch das zu erhebende Sample. Im Verlauf der Forschung wurden das abendliche Kochen bei Come Together, die Treffen des UrbanUtopiaLABs und persönliche Kontakte zu verlässlichen Schwerpunkten der eigenen Kontaktaufnahme und Feldforschung. Da Living & Giving auf die Initiative geflüchteter männlicher Personen aus Gambia zurückgeht und auch bei den
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regelmäßigen Treffen in Come Together kaum oder keine geflüchteten Frauen anwesend waren, sind in erster Linie männliche Personen Teil des Samples. Über eine Netzwerkpartnerin im Reallabor wurde beabsichtigt, den Kontakt zu Frauen herzustellen. Jedoch erklärte sich lediglich Yasmina bereit, ein lebensgeschichtliches Interview zu führen. Der Ort für die Durchführung des Interviews beziehungsweise der Biography-Photography-Session wurde meist von der befragten Person gewählt. Es wurde aber angestrebt, dass die Hauptnarration in den persönlichen Räumen oder in der Wohngegend der jeweiligen Person stattfindet. Zum einen sollte sich hierdurch der Organisationsaufwand für die befragte Person verringern, außerdem wurde davon ausgegangen, dass sich eine vertraute Umgebung positiv und entspannend auf die Gesprächssituation auswirkt. Tatsächlich wurden vier Interviews in den Wohnräumen der Befragten durchgeführt, eines davon in der unmittelbaren Wohnumgebung (Mahmoud, Bah, Kama, Lavin). Die anderen Gespräche fanden in Cafés (Kavith, Attila) und in den eigenen sowie den Büroräumen eines Elternvereins (Yasmina, Yochanan) statt. Wechsel zwischen mehreren Orten waren insbesondere im Rahmen der Biography-Photography-Session üblich, so beinhalteten die Interviews mit Attila, Yasmina und Yochanan keine Ortswechsel während des Interviews. Aufgrund der langen gemeinsamen Verweildauer und einer nach zwei bis vier Stunden erfahrungsgemäß eintretenden Erschöpfung wurde zu jedem Interview etwas zu Essen und zu Trinken mitgebracht oder der Besuch eines Cafés oder Imbiss in der näheren Umgebung vorgesehen. Vor Beginn jedes Interviews und der Inbetriebnahme des Aufnahmegeräts wurden die Befragten mittels eines Informationsblattes und mündlich über das Forschungsvorhaben aufgeklärt sowie die geltenden Bestimmungen der Datenschutzgrundverordnung zum Schutz ihrer personenbezogenen Daten besprochen.9 Interviewte und Interviewende unterschrieben die rechtlich geprüfte Einverständniserklärung und sicherten zu, mit dem Vorgehen einverstanden zu sein. Insgesamt wurden acht biographisch-narrative Interviews mit sieben männlichen Personen und einer weiblichen Person durchgeführt. Transkription der Interviewdaten Angewandt wurde das Schema einer erweiterten inhaltlich-semantischen Transkription, angelehnt an Dresing und Pehl
9
Das Informationsblatt zum Datenschutz sowie die zu unterschreibende Einverständniserklärung befinden sich im Anhang.
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Heimat und Migration
(2018).10 Alle acht biographisch-narrativen Interviews wurden vollständig und folgendermaßen nach dem Wortlaut aufgeschrieben11 : Der Redewechsel zwischen interviewenden und interviewter Person wird folgendermaßen kenntlich gemacht: I1 beziehungsweise I2 steht für die Interviewerinnen und IP für die interviewten Personen. Zusätzlich werden parasprachliche Elemente wie Räuspern, Lachen oder tiefes Ausatmen in runden Klammern angezeigt: (beide lachen). Gesprächspausen sind je nach ihrer Länge mit einem oder mehreren Punkten in runden Klammern markiert: (…). Mit einem Spiegelstrich sind Verschleifungen oder Wortabbrüche kenntlich gemacht, ebenso wie Stottern oder Zögern: »It is like- its-its- it is tradition«. Besonders betonte Worte oder auch die Betonung einzelner Silben werden in Versalien hervorgehoben: »She was VERY close to my mother«. Unverständliche Wörter und Sätze sind entweder mit dem vermuteten Wortlaut von zwei Fragezeichen eingerahmt oder mit der geschätzten Anzahl der Wörter und einer dementsprechenden Anzahl an x’en in eckigen Klammern verdeutlicht: »ich sehe ?den Beginn? des Krieges« beziehungswiese »am Montag bin ich nach [x] gefahren«. Fallen sich die Interviewpartnerin und die Forscherin deutlich ins Wort, so ist dies zu Beginn des neuen Sprecherinnenteils mit einer eckigen Klammer angezeigt: [gleichzeitig]. Zwischenfragen oder Einwürfe sind mit zwei aufeinanderfolgenden diagonalen Linien eingerahmt. Je nachdem, ob es sich um die interviewende oder die interviewte Person handelt, werden die Sprecherinnen mit Hilfe von normaler beziehungsweise kursiver Schrift unterschieden: »That is a little bit manlish //I1: A uniform?// No, not uniform«12 . Aktivitäten außerhalb der Gesprächssituation, wie eine Unterbrechung durch das Klingeln eines Handys oder gemeinsames Essen, sind, falls dies bedeutsam für das Verständnis des Interviewkontexts ist, ebenfalls transkribiert: [Essenspause]. Nach der Transkription wurden die personenbezogenen Daten aus den Interviews getilgt und größtenteils durch Pseudonyme in eckigen
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11 12
Die Transkription der Interviewdaten erfolgte durch die Autorin, studentische Hilfskräfte im Reallabor »Asylsuchende« und zudem durch externe Dienstleister, dank der finanziellen Mittel der Kurt-Hiehle-Stiftung des Geographischen Instituts der Universität Heidelberg. Der Schutz der personenbezogenen Daten durch die Zuweisung von Pseudonymen sowie die Beachtung des Datenschutzes obliegen der Autorin. Eine Übersicht der Transkriptionsregeln befindet sich im Anhang. Im Interviewtranskript ist dies aufgrund der einfacheren Lesbarkeit genau anders herum: Die Narration der interviewten Person ist in gerader (normaler) Schrift, während Fragen oder Einwürfe der Interviewenden kursiv gehalten sind.
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Klammern ersetzt. Zugunsten einer besseren Lesbarkeit in dieser Arbeit erscheinen Pseudonyme in den Zitaten allerdings ohne Klammern. Die Liste mit den Pseudonymen ist von den Interviewtranskripten getrennt gesichert und nur der Autorin bekannt und zugänglich. Für die Darstellung der Analyse in Kapitel 5. wurden Sequenzen zum Teil gekürzt. Dies ist mit eckigen Klammern und drei Punkten gekennzeichnet: […]. Unverständliche Wortlaute, Satzabbrüche oder Verschleifungen können darauf zurückgeführt werden, dass keine der interviewten Personen in ihrer Muttersprache interviewt wurde. Wortabbrüche, Pausen oder parasprachliche Äußerungen können außerdem Kennzeichen emotionaler, schwieriger oder auch der Person gleichgültige Erzählabschnitte im Interview sein. Diese äußern sich dann im schnellen, aufgeregten, emotionalen oder leisen Sprechen der Befragten. Zum Teil wurden die für die Darstellung der Analyseergebnisse in Kapitel 5. herangezogenen Interviewausschnitte sprachlich geglättet, um eine unnötige Konzentration auf vermeintliche sprachliche Mängel der Befragten zu vermeiden. Das Beherrschen der deutschen Sprache gilt im Integrationsdiskurs als Gratmesser der erfolgreichen Eingliederung. Grobe Fehler würden die Vorstellung einer gesellschaftlich schwachen und untergeordneten Positionierung der Befragten manifestieren, während die Tatsache, dass die Forscherin nicht in der Lage ist, die Sprachen der Befragten zu sprechen, aus dem Blick geraten würde. Die Glättung der Sprache beabsichtigt diesem Konflikt zu begegnen (Karakayali 2010:101; Lutz 2007:56ff).
4.5
Biographische Fallrekonstruktion und Typenbildung
Die Auswertung der biographisch-narrativen Interviewdaten ist angelehnt an die Methoden der biographischen Fallrekonstruktion nach Gabriele Rosenthal, die sich ihrerseits an den Methoden der Textanalyse nach Fritz Schütze, der strukturalen Hermeneutik nach Ulrich Oevermann und an der thematischen Feldanalyse von Fischer orientiert (Rosenthal 2014:186; Schütze 1983; Oevermann et al. 1979). Sie wurde allerdings zugunsten des Erkenntnisinteresses dieser Arbeit angepasst, die sich weniger für biographische Verläufe interessiert, sondern in die Erzählung eingebettete gegenwärtige biographische Konstruktionen ins Zentrum der Untersuchung stellt. Die Analyse arbeitet bedeutsame Themen und Sequenzen in einem mehrschrittigen Verfahren heraus und beobachtet diese im Hinblick auf Heimatkonstruktionen entlang der aus der Theorie abgeleiteten semantischen Facetten von Heimat. Die Be-
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obachtungsperspektive der Migrationsregime hebt hervor, in welches migrationsspezifische »Feld« Heimatkonstruktionen eingebettet sind und von dort aus verhandelt, verteidigt, angepasst, entwickelt werden. Die anschließende Typenbildung nimmt eine fallübergreifende Synthese vor, indem ähnliche Gruppierungen von Heimatsemantiken in den acht Interviews zu drei zentralen Typen zusammengefasst werden. Die folgende Abbildung schematisiert den Ablauf der hier realisierten Interviewanalyse.
Abbildung 2: Biographische Fallrekonstruktion und Typenbildung in schematischer Übersicht. Eigene Darstellung
Die ausführliche Analyse der Interviews wird weiter unten ausgeführt, sie orientiert sich, wie in der Abbildung dargestellt, an dem folgenden Schema: Erstens werden die biographischen Daten aus dem Interviewtranskript herausgearbeitet, zweitens folgt die Bestimmung bedeutsamer thematischer Felder und Themen, drittens werden die biographischen Daten in einen Kontrast zur Text- und thematischen Analyse gesetzt und daraufhin Sequenzen für die Feinanalyse ausgewählt. Das Verfahren wird »rekonstruktiv« genannt, da sich die Bedeutung der selektierten Textabschnitte aus dem Gesamtzusammen-
4 Forschungsdesign und methodologische Reflexionen
hang des Interviews ergibt (Rosenthal 2014:186). Viertens wird die Feinanalyse ausgewählter Sequenzen entlang des Begriffskanons Heimat durchgeführt und es folgt deren Betrachtung mit dem Konzept der Migrationsregime. Anders als im Verfahren der biographischen Fallrekonstruktion nach Rosenthal, wird hier nach der Analyse der biographischen Daten sowie der Herausarbeitung bedeutsamer Sequenzen und thematischer Felder die Feinanalyse noch zurückgestellt. Rosenthal interessiert sich für die Selbstrepräsentationen in der Gegenwart sowie die biographischen Bedeutungen des Vergangenen, sodass die Feinanalyse mit der Kontrastierung der erlebten und erzählten Lebensgeschichte zusammenfällt. Die hier vorgenommene Analyse legt den Fokus auf subjektive und individuelle Bedeutungen und insbesondere Aushandlungen von Heimat, weshalb der Feinanalyse von ausgewählten Sequenzen und Themen die herausgearbeiteten semantischen Facetten von Heimat zugrunde gelegt werden (Rosenthal 2014:186f). Die biographischen Daten der Erzählerinnen werden zunächst in chronologischer Darstellung zusammengetragen, sowohl aus dem Transkript des Interviews als auch aus den Feldnotizen zur Person (Tabelle 1). Gemeint sind Ereignisdaten, wie der Tag der Einschulung, die Anzahl der Geschwister oder einschneidende Erlebnisse. Gesellschaftspolitische oder historische Daten können zum besseren Verständnis aus weiteren Quellen ergänzend hinzugezogen werden. Sie geben Aufschluss über besondere Lebensumstände und eine möglicherweise damit in Verbindung stehende Entwicklung der Person. Um sich von den Deutungen und Interpretationen der Biographinnen zu lösen, entwickelt die Forscherin weitere Lesarten zu dem Fortgang und den Bedeutungen der durch die Biographinnen plausibel dargestellten Ereignisse (Rosenthal 2014:190). Forschungspraktisch erfolgte dieser Analyseschritt mit Hilfe einer tabellarischen Übersicht, die im Folgenden beispielhaft anhand des Interviews mit Mahmoud angeführt wird: Die biographischen Daten jeder Person werden in der ersten Spalte aufgeführt. Spalte 2 listet ergänzende Informationen und Erklärungen aus dem Transkript und gegebenenfalls aus den Feldnotizen. Die dritte Spalte beinhaltet Hinweise auf bedeutsame Sequenzen und thematische Felder. Sie bietet zudem Raum für eigene Reflexionen zu verschiedenen Lesarten der biographischen Daten.
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Heimat und Migration
Tabelle 1: Ausschnitt aus der tabellarischen Übersicht Mahmouds biographischer Daten Datum/ Jahr/ Zeit
Ereignis
Hinweis auf thematisches Feld, Sequenz, Notizen
1915
Vater der Mutter kommt als Flüchtling von Armenien nach Syrien
Eingangssequenz scheint bedeutsam. Thema Flucht steht am Anfang, Großvater musste fliehen
ca. 1954
Geburt des Vaters
Wiedergabe von Jahreszahlen der Eltern und Großeltern, sehr schematisch
ca. 1955
Geburt der Mutter
ca. 1973
Geburt des Halbbruders (väterlicherseits)
13.10.1993
Geburt Mahmoud in Deir ezZor, achtes von 12 Kindern
Betonen der Geschwisterzahl und Familiengröße
Im zweiten Analyseschritt erfolgt die Text- und thematische Feldanalyse. Absicht dieses Analyseschritts ist in Erfahrung zu bringen, welche Teile der Erzählung, welchen Stellenwert und welche Funktion für die befragten Personen im Gesamtverlauf ihrer Biographien einnehmen. Es wird weniger nach der Bedeutung eines Ereignisses zu einem damaligen Zeitpunkt gefragt, sondern nach dessen Stellung in der gegenwärtigen biographischen Selbstrepräsentation (Rosenthal 2014:196). Dieser Analyseschritt gibt also Aufschluss über die spezifische Gestaltung der Lebensgeschichten, Sinnsetzungsakte und deren Funktionen innerhalb der Interviews, was wiederum Rückschlüsse zu den Bedeutungen im gegenwärtigen Lebenszusammenhang der befragten Personen zulässt. Sequenzen sind gekennzeichnet durch Sprecherinnenwechsel, Unterbrechungen, durch von den Biographinnen bewusst erzeugte Brüche und Themenwechsel oder durch nicht-sprachliche Äußerungen (Kleeman et al. 2013:65; Rosenthal 2014:198f). Forschungspraktisch wurde das digital vorliegende Interviewtranskript bei diesem Analyseschritt farblich markiert, in Sequenzen eingeteilt und die Benennung thematischer Felder und wichtiger Themen am Rand des Transkripts vorgenommen (Abbildung 3). Im nächsten Schritt erfolgt die Kontrastierung von erzählter und erlebter Geschichte, also die Gegenüberstellung der zunächst getrennt voneinander herausgearbeiteten biographischen »objektiven« Daten aus der tabellarischen
4 Forschungsdesign und methodologische Reflexionen
Übersicht zu spezifischen Bedeutungszuweisungen, Sinnsetzungsakten und Verknüpfungen durch die Biographinnen. Die Kontrastierung beider Ebenen entscheidet über die Auswahl der feinanalytisch zu interpretierenden Themen und Sequenzen. Es werden Vermutungen darüber angestellt, welche Unterschiede sich zwischen der Vergangenheitsperspektive und der Gegenwartsperspektive zeigen, ob beispielweise bestimmte Details der eigenen Biographie zu einem früheren Zeitpunkt im Leben einen anderen Stellenwert eingenommen haben, als gegenwärtig (Rosenthal 2014:207).
Abbildung 3: Ausschnitt aus Lavins Interviewtranskript: Sequenzen (Absatz), biographische Daten (rot) und bedeutsame Textstellen (grün) werden kenntlich gemacht. Notizen, Fragen und weitere Auffälligkeiten werden am Rand notiert.
Dem Prinzip der Offenheit folgend wird die eigene Forschungsfrage bis zu dem nun folgenden Analyseschritt zurückgestellt: Nach der Auswahl der zu interpretierenden Sequenzen erfolgte deren Feinanalyse entlang der aus der Theorie zum Heimatbegriff herausgearbeiteten semantischen Facetten (Kapitel 3.). Hierbei wurde nicht das Ziel verfolgt, die subjektiven Konzeptionalisierungen in den Interviews »wiederzufinden«. Vielmehr orientierte sich die Analyse am Einzelfall und strebte eine Erweiterung beziehungsweise Neuentwicklung der formulierten Semantiken an. Die Beobachtungsperspektive der Migrationsregime als »nicht-essentialistische Forschungs- und Analyseperspektive« (vgl. Nieswand 2018:94) liegt quer zum schrittweisen Vorgehen der Fallrekonstruktion und Feinanalyse entlang der Heimatsemantiken. Als migrations- und fluchtspezifische Schärfung individueller Heimatbefunde beobachtet sie zum einen die jeweiligen »Felder«, in denen sich Personen verorten, zudem berücksichtigt sie die kontext- und gegenwartsbezogenen Faktoren, die an der Ausbildung unter-
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Heimat und Migration
schiedlicher Heimatdimensionen beteiligt sind. Konstruktionen von Heimat werden als Phänomene verstanden, die in einem komplexen Zusammenspiel unterschiedlich wahrgenommener wirkmächtiger Dynamiken generiert werden (Nieswand 2018:100). Da die wissenschaftliche Literatur für das hier entwickelte Regimeverständnis bislang keinerlei Vorschläge hinsichtlich des methodischen Vorgehens macht, erfolgt seine Nutzbarmachung mit der in Kapitel 3.2. entwickelten Forschungs- und Analyseperspektive. Die erste Bestimmung des individuellen »migrationsspezifischen Feldes« von Akteuren, Diskursen und Institutionen erfolgt noch vor der Feinanalyse. Es wird gefragt: Welche machtvollen Dynamiken sind in den lebensgeschichtlichen Erzählungen wirksam? Wie äußern sich darin Autonomie und Handlungsmacht im Verhältnis zu Kontrolle und Fremdbestimmung? In der Feinanalyse wird die Wirkungsweise dieser Machtverhältnisse auf Konstruktionen von Heimat untersucht und insbesondere individuelle Umgangsstrategien identifiziert. Der letzte Analyseschritt nimmt eine Typenbildung vor, wodurch eine weitere Verdichtung der Forschungsergebnisse erreicht wird. Hierfür wurden die Befunde miteinander verglichen, kontrastiert und in zentralen Typen gruppiert. Die Typenbildung wird dabei als Strategie der Verallgemeinerung betrachtet, wenn auch die empirische Basis recht klein ist (Kuckartz 2006:4047).
5. Heimat im Kontext von Migration und Flucht – Analyseergebnisse und Typenbildung
Die folgenden Ausführungen präsentieren Teile der analytischen Etappen sowie die Ergebnisse der empirischen Analyse: Das Konzept Heimat bündelt Semantiken und wird als subjektive und emotionale Konstruktion verstanden. Seine individuellen Dimensionen werden hier unter den Bedingungen einer migrationsspezifischen Realität beobachtet. Die Ausführungen in Kapitel 5. widmen sich nun der Darstellung der Analyseergebnisse in drei Schritten: Kapitel 5.1. geht von den Lebensgeschichten der interviewten Personen aus. Dazu erfolgt eine knappe Darstellung der Interviewsituation, die verkürzte Wiedergabe der erzählten Lebensgeschichte, hiernach die Herausstellung wichtiger thematischer Felder und zuletzt die Betrachtung der jeweiligen Positionierung im beobachteten Feld aus der Beobachtungsperspektive der Migrationsregime. Kapitel 5.2. bildet den Hauptteil der Analyse und stellt die Ergebnisse der feinanalytischen Interpretationen bedeutsamer Sequenzen und Themen entlang der in Kapitel 3. herausgearbeiteten Bedeutungsfacetten ausführlich dar. Kapitel 5.3. nimmt eine Gruppierung der individuellen Muster vor, die die Ergebnisse der Analyse verdichtet, und formuliert drei zentrale Typen.1
5.1
Biographische Informationen und Selbstrepräsentationen
Das Kapitel widmet sich der umfassenden Darstellung der biographischen Selbstrepräsentationen in vier Schritten. Zunächst erfolgt eine kurze Kontextbeschreibung des jeweiligen Interviews auf Grundlage der Feldnotizen 1
Die vollständig transkribierten und bearbeiteten Interviews befinden sich bei der Autorin.
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Heimat und Migration
sowie die Nennung der durch die interviewte Person angewandten Techniken der Gesprächsorganisation (Interviewsituation). Die verkürzte und chronologische Nacherzählung der jeweiligen Biographie schließt sich im zweiten Schritt an, wobei offensichtlich wird, dass jede interviewte Person diese in ganz unterschiedlicher Ausführlichkeit und Präzision vornimmt. Da die befragten Personen einer zeitlich und inhaltlich aufwendigen Angelegenheit gegenüberstehen, lassen individuelle Erzählformen auf wichtige Themen und Aspekte für das Verständnis der Gesamterzählung schließen. Dies gilt in besonderem Maße für die Eingangssequenzen der Interviews. Momente, die in der Interviewsituation auffällig sind, da sie beispielsweise einen emotionalen Hochpunkt markieren, werden hier ebenfalls an der entsprechenden Stelle benannt. Falls es notwendig für das Verständnis der Entwicklungsgänge einer Biographie ist, werden weitere Informationen wie historische und politische Ereignisse den Nacherzählungen beigefügt und die Ergänzungen entsprechend markiert (Biographische Daten und Erzählform). Drittens werden die wichtigsten Themenstränge genannt, die sich durch das Interview ziehen, sowie Themen, die von den Befragten besonders ausgeführt werden (Thematische Feldanalyse). Viertens erfolgt mit der Perspektive der Migrationsregime die Darstellung der jeweiligen migrationsspezifischen »Felder«, in welche die befragten Personen eingebettet sind und von wo aus sie auch Heimatkonstruktionen verhandeln (Beobachtungsperspektive der Migrationsregime). Angelehnt an Rosenthal bildet das Vorgehen die Schritte der biographischen Fallrekonstruktion bis zur Feinanalyse ab und ist wichtige Grundlage für das Verständnis der Analyseergebnisse in Kapitel 5.2. und 5.3.
5.1.1
Mahmoud – »Wie ein Garten mit bunten Blumen«
Interviewsituation Der freundschaftliche Kontakt zu Mahmoud besteht zum Zeitpunkt des Interviews, im Mai 2018, seit über einem Jahr. Wir treffen uns in seiner Wohnung. Als Kavith und ich etwas verspätet ankommen kocht Mahmoud bereits Kaffee in einer Mokkakanne, ich richte daraufhin das mitgebrachte Gebäck auf einem Teller an. Während der Haupterzählung befinden wir uns in seinem geräumigen Wohnzimmer, das ebenfalls als Schlafund Arbeitszimmer dient. Wir unterbrechen das Gespräch für Zigarettenpausen und treten dazu vor seine ebenerdige Wohnung, in einen Garageninnenhof. Später machen wir im Rahmen der Biography-Photography-Session in der Küche einige Fotos und führen gegen Mittag das Gespräch in einem Imbiss fort. Mahmoud ist bemüht, die Etappen seines Lebens detailliert und
5 Heimat im Kontext von Migration und Flucht – Analyseergebnisse und Typenbildung
ausführlich wiederzugeben. Er bedankt sich später für das Gespräch und sagt am nächsten Tag zu Bekannten beim Treffen von Come Together, dies sei bisher der beste Tag in Deutschland gewesen und, dass sein Kopf nun leer sei. Biographische Daten und Erzählform Im Jahr 1915 flüchtet Mahmouds Großvater mütterlicherseits, wahrscheinlich im Zuge des Völkermords an den Armeniern, von Armenien nach Syrien. Seine Mutter wird 1955 geboren, sein arabisch-sumerischer Vater ein Jahr zuvor (Mahmoud Z14ff). Im Oktober 1993 wird Mahmoud als achtes von zwölf Kindern geboren. Seine Familie betreibt Landwirtschaft und Viehzucht in der Nähe der syrischen Stadt Deir ez-Zor. Da sein Vater und sein Onkel im gleichen Dorf zunächst eine Grundschule und später eine Hauptschule errichten, verbringt Mahmoud die Schulzeit bis zum Eintritt ins Gymnasium in dem Dorf bei Deir ez-Zor (Mahmoud Z46ff). Mit dem Anstieg des Ölpreises seit 2008 verliert die Familie die Lebensgrundlage in der Landwirtschaft und zieht nach Damaskus, wo Mahmoud ab 2009 das Gymnasium besucht (Mahmoud Z77; Z6ff). Gleichzeitig zieht einer der Brüder in den Libanon, um dort Arbeit zu finden. Ein anderer Bruder verlässt Syrien für einen kurzzeitigen Job in den USA (Mahmoud Z128). Mahmoud verkauft in dieser Zeit Zuckerwatte in den Straßen Damaskus‘, um seine Familie zu unterstützen und Geld für den Besuch der Schule zu verdienen (Mahmoud Z112f). Als Mahmoud im März 2010 mit der Vorbereitung für das Abitur beginnen will, beendet er diese Arbeit. Sein Vater verweigert ihm die finanzielle Unterstützung für den Nachhilfeunterricht, sodass er nach einem Streit mit diesem Syrien verlässt, um im Libanon das nötige Geld für die Abiturvorbereitung zu verdienen (Mahmoud Z148ff). Er arbeitet fast ein Jahr in einem Restaurant mit seinem dort lebenden Bruder und meldet sich im Februar 2011 für das Abitur in Syrien an (Mahmoud Z201). Da in den größeren Städten Syriens der Krieg beginnt, wohnt er in dieser Zeit wieder im Dorf bei Deir ez-Zor. Er unterstützt einen seiner Brüder bei der Landwirtschaft und lernt für sein Abitur (Mahmoud Z213). Die Schule in Deir ez-Zor wird während einer Abiturprüfung bombardiert. Auch eine wenig später stattfindende Prüfung ist eine »Katastrophenprüfung« (Mahmoud Z272ff). Nach diesem Misserfolg schließt er sich für einen Monat seinem Cousin an und kämpft in der Freien Syrischen Armee (Mahmoud Z307). Seine Mutter bittet ihn, keine Waffen mehr zu tragen, woraufhin er vorerst für vier Monate in den Libanon zurückkehrt (Mahmoud Z312ff).
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Da er aufgrund der unzureichenden Ergebnisse seines Abiturs nicht studieren kann, beginnt Mahmoud im Dezember 2012 eine Ausbildung zum medizinisch-technischen Assistenten im syrischen al-Hasaka. Auf einer Busfahrt gerät er in eine folgenschwere Ausweiskontrolle. Zwar kann er rechtzeitig sein Handy, auf dem er unter anderem Bilder und Gedichte gegen die Regierung Assads gespeichert hat, verstecken. Trotzdem wird er verhaftet, da von seinem Bruder vermutet wird, der Regierung offen feindlich gegenüber zu stehen. Eine Woche lang bleibt Mahmoud im Februar 2013 im Gefängnis. Er erhält keine Nahrung, wird geschlagen und weiß nicht, wo er sich befindet (Mahmoud Z353ff). Die Erzählung dieser Zeit in Haft und die darauffolgende Befreiung durch Unbekannte, wobei er bis zum Moment der Freilassung seine Ermordung befürchtet, markieren einen Schlüsselmoment in seiner Erzählung und gleichzeitig einen Tiefpunkt im Interview. Als er nach Deir ez-Zor zurückkehrt, rät ihm die Mutter, seine Ausbildung abzubrechen. Sie möchte, dass er heiratet und im Dorf bleibt. Er bleibt zunächst, aber entscheidet sich dann wieder in den Libanon zu gehen. Die Familie ist traurig über seinen Abschied, der, wie sich hier bereits ankündigt, endgültig ist (Mahmoud Z428ff). Ab April 2013 arbeitet Mahmoud wieder in dem libanesischen Restaurant. Er möchte Medizin studieren, seine Noten reichen aber nicht aus und ein kostenpflichtiges Studium kann er nicht bezahlen. Auf den Rat eines Bruders studiert er Politikwissenschaften, um nach dem Sturz der Regierung Assads als Politiker in Syrien arbeiten zu können (Mahmoud Z446). Als er sich im zweiten Jahr seines Studiums für eine von libanesischen Männern bedrängte, vermutlich christliche, Kommilitonin einsetzt, beginnt ein mehrteiliger Konflikt, der ihn schließlich dazu veranlasst, auch den Libanon zu verlassen. Nach einem Streit, vermutlich mit Mitgliedern der Hisbollah, wird er verdächtigt, Mitglied des Islamischen Staats (IS) zu sein. Das Verhör dauert 15 Stunden (Mahmoud Z479ff). Mahmoud geht ab diesem Zeitpunkt nicht mehr zur Universität (Mahmoud Z531). Auch mit seinen Arbeitsbedingungen im Restaurant ist er unzufrieden, sodass er kündigt (Mahmoud Z552). Mahmoud stellt es wie eine plötzliche Eingebung dar, dass er 2015 beschließt zu einem anderen Bruder in die Türkei zu fahren, mit dem Ziel von hier aus weiter nach Europa zu reisen. Seiner Familie erzählt er von diesem Vorhaben nichts. Beim fünften Versuch gelingt Mahmoud die Überfahrt im Boot von Izmir auf eine griechische Insel (Mahmoud Z572ff).
5 Heimat im Kontext von Migration und Flucht – Analyseergebnisse und Typenbildung
Die Details seiner Reise von Izmir über das Mittelmeer nach Griechenland, über Serbien und Kroatien bis nach Deutschland gibt er detailliert wieder. Er berichtet von den Tricks, die ihm eine konfliktfreie Weiterreise ermöglichen. Er ist zudem hilfsbereit gegenüber anderen Personen, die ebenfalls auf dem Weg durch Europa sind (Mahmoud Z579-Z700). Im November 2015 erreicht Mahmoud das erste Flüchtlingslager in Deutschland und ist enttäuscht über die schlechten Bedingungen. Er verlässt den Ort und fährt auf Rat eines Bekannten nach Leipzig, in der Hoffnung das Asylverfahren dort schneller bewältigen zu können. Als er erfährt, dass dieser bereits seit Monaten auf eine Antwort wartet, reist Mahmoud auf Rat eines ehemaligen syrischen Kollegen zu einer Erstaufnahmeeinrichtung bei Pforzheim (Mahmoud Z740ff). Nach zwei Wochen wird er von hier in eine Unterkunft nahe Heidelberg transferiert, wo er drei Monate bleiben wird. Im Januar 2016 ist der Termin seiner Anhörung und eine Woche danach erhält er die Anerkennung als Flüchtling. Diesen Moment schildert er mit Spannung und detailliert. Die etwa dreistündige Haupterzählung endet mit der Erzählung, dass er bald darauf seine offiziellen Papiere erhält und damit eine Wohnung suchen kann (Mahmoud Z802ff). Die Wohnungssuche gelingt unter anderem mit Unterstützung eines Sicherheitsangestellten in der Unterkunft, der ihm Wohnungsanzeigen aus der Zeitung mitbringt. Mahmoud findet eine Wohnung in einem beliebten Stadtteil in Heidelberg. Im Mai 2016 beginnt sein erster Sprachkurs. Aufgrund eines kurzen Familienbesuchs in den Niederlanden kann er diesen erst acht Monate später fortsetzen. Im Januar 2018 besteht er die Prüfung des Sprachniveaus B12 und beginnt im März darauf mit dem Sprachniveau B2, die Prüfung besteht er allerdings zwei Mal nicht. Zum Zeitpunkt des Interviews wohnt Mahmoud seit etwa einem Jahr in einer Mietwohnung in einer Stadt im Rhein-Neckar-Kreis nahe Heidelberg. Er pflegt ein gutes Verhältnis zu seinem Vermieter. Zudem bewirbt er sich um Ausbildungen, unter anderem zum medizinisch-technischen Assistenten.
2
Die Bezeichnung des Sprachniveaus orientiert sich an dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (GER) für Sprachen und gliedert sich in drei Niveaustufen. Niveaustufe A attestiert eine elementare Sprachverwendung, B eine selbstständige Sprachverwendung und C eine kompetente Sprachverwendung. Jede dieser drei Stufen ist zudem in zwei Levels aufgeteilt, wodurch sich insgesamt sechs Sprachniveaus ergeben (GER 2019).
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Thematische Feldanalyse Es wurden insbesondere fünf thematische Felder identifiziert, die Mahmoud im Interview immer wieder aufgreift. Erstens beschreibt er seinen engen Bezug zur Natur und zur Landwirtschaft: Als Kleinkind lebt er im Einklang mit der Natur und den Tieren, auch spielt die familiäre Land- und Viehwirtschaft immer wieder eine Rolle. Die heute stark zerstörte Stadt Deir ez-Zor vergleicht er mit der (Landschaft um die) Stadt Heidelberg und das friedvolle Zusammenleben verschiedener Nationen in Heidelberg mit einem Garten voller bunter Blumen. Einen großen Raum nehmen zweitens die Erläuterungen zur politischen Situation in Syrien ein, im Zuge des Bürgerkriegs. Insbesondere betont Mahmoud die Ungerechtigkeit, die beispielsweise den dort lebenden Kindern widerfährt. Drittens begründet er viele Lebensentscheidungen mit dem Anliegen, seine schulische und berufliche Ausbildung voranzutreiben. Als dies im Libanon und in Syrien nicht mehr möglich ist, entscheidet er sich, über die Türkei nach Europa zu fliehen. Auch Mahmouds Familie, insbesondere seine Mutter, ist in seiner Erzählung Ort der Aushandlung und des Rückhalts. Zuletzt stellt Mahmoud heraus, dass sein Charakter und seine Entscheidungen von Personen in seinem Umfeld, wie seiner Familie, als verrückt und unangepasst wahrgenommen werden. Er erklärt außerdem an mehreren Stellen, es sei ein Fehler gewesen, wenn er den Ratschlägen anderer Menschen folgte. Beobachtungsperspektive der Migrationsregime Es kann vermutet werden, dass Mahmoud seine eigene Situation als Flüchtling in die Tradition einer Familienerzählung stellt. So erklärt er in der Eingangssequenz seiner Erzählung, dass sein Vater 1915 nach Syrien flüchtete, während er selbst Deutschland etwa 100 Jahre später, ebenfalls als Flüchtling, erreicht. Die Thematisierung von Schwierigkeiten aufgrund des Flüchtlingsstatus nimmt im Rahmen des Interviews keinen großen Raum ein, so spricht er beispielsweise kaum von erlebten Diskriminierungen oder Unstimmigkeiten mit Behörden. Als Rassismus beschreibt er vielmehr seine Erfahrungen in Syrien und im Libanon. Zudem drückt er im Interview eine Haltung der Toleranz gegenüber Heterogenität in der Stadt aus. Dies führt er auch als Grund an, weshalb er gerne in Heidelberg lebt. Zugleich ist er der Meinung, dass andersdenkende, rassistische Menschen die Stadt verlassen sollten (Mahmoud Z1113). Sein Lebensentwurf in Deutschland wird dabei zu einem Gegenentwurf seiner in Syrien und im Libanon gemachten negativen Erfahrungen. So vergleicht er Heidelberg mit einem Garten verschiedenfarbig blühender Blumen, der viel schöner sei, als wenn dort nur eine Art wüchse. Zudem bringt er die Berge und die Brücken,
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die das Stadtpanorama Heidelbergs prägen, mit der heute zerstörten Stadt Deir ez-Zor in Beziehung, da sich die Städte optisch ähnelten (Mahmoud Z1153ff, Z265f). Zum Zeitpunkt des Interviews sieht er sein eigenes Leben in einem Schwebezustand, der es ihm nicht erlaubt, konkrete Pläne für die Zukunft zu formulieren. So erklärt er, er müsse zunächst einen Ausbildungsplatz finden und seine Deutschkenntnisse verbessern, vorher könne er nicht planen (Mahmoud Z1070). Deutlich wird hierin aber auch, dass sich Mahmoud in seinem neuen Lebenskontext vollständig verortet hat und nächste Schritte bereits ins Auge fasst.
5.1.2
Bah – »It is not easy at all«
Interviewsituation Zu Bah besteht zum Zeitpunkt der Biography-PhotographySession seit etwa zwei Jahren ein freundliches, aber zurückhaltendes Verhältnis. Seine Zustimmung zu der Durchführung einer Biography-PhotographySession gab er sofort. Kavith, Bah und ich treffen uns zu diesem Zweck zu dritt im Sommer 2018 in seiner Wohngemeinschaft in Heidelberg. Das renovierte Wohnhaus im Kern eines abgelegenen Stadtteils in Heidelberg ist ein Altbau mit niedrigen Decken und beherbergt fünf weitere Menschen mit Fluchterfahrung. Während des Interviews und der anschließenden Photo-Session sind diese in ihren Zimmern oder nicht zu Hause. Wir beginnen das Gespräch am Esstisch im ersten Stock, neben der Küche. Bah spricht sehr leise und zum Teil zögerlich. Die Haupterzählung ist mit einer Dauer von etwa vier Minuten vergleichsweise kurz und überspringt einige Episoden, die sich später als gefährlich oder wichtig für das Verständnis seiner Lebensgeschichte herausstellen. Erst auf Nachfrage erzählt Bah manche Passagen aus seinem Leben genauer und kommt beispielsweise auf seine Gefangenschaft in Libyen und Italien zu sprechen. Das gesamte Interview ist von vielen Sprecherinnenwechseln geprägt und es gibt immer wieder längere Gesprächspausen. Nach den ersten beiden Phasen des biographisch-narrativen Interviews gehen wir hinunter in das gemeinsame Wohnzimmer, wo wir den Anfang einer in Gambia spielenden, beliebten und bekannten Serie sehen. In Bahs Zimmer dominiert die Farbe Rot: Die Deckenlampe ist mit rotem Transparentpapier beklebt, in der Ecke des Zimmers steht ein roter Tisch, auf einem Regal befindet sich eine Sammlung überwiegend roter Schirmmützen. Auch seine Schuhe und seine Jacke sind rot. Im Gespräch wird klar, dass dies die Farbe des Fußballvereins Manchester United ist. Für seine Affinität zum Verein war er auch in Gambia bekannt und trug den Spitznamen »Mister Redred«.
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Biographische Daten und Erzählform Bah beschreibt seine Kindheit in Gambia als nicht außergewöhnlich. Ebenso wie andere Familien ist auch seine Familie in der Landwirtschaft tätig (Bah Z20f). Das Schulgeld erhält er von den Frauen seines Vaters, während sein Vater ihn finanziell nicht unterstützt (Bah 77f). Sein Vater führt ein Restaurant, in dem Bah oft nach der Schule aushilft (Bah Z285). Gegen die Einwände seiner Mutter verlässt Bah nach etwa sieben Jahren die Schule und wird bei einer chinesischen Firma in der Glasverarbeitung tätig. Als ältester Sohn sieht er sich aufgrund der Lebenssituation seiner Familie möglicherweise verpflichtet, Geld zu verdienen (Bah Z23ff). Nachdem Bah fünf Jahre für das Unternehmen gearbeitet hat, möchte er sich selbstständig machen, sein Vorgesetzter jedoch lässt ihn nicht gehen (Bah Z131). Die Situation in Gambia erscheint für Bah aussichtslos, sodass er mit mehreren Freunden Gambia verlässt, um in einem anderen Land mehr Geld zu verdienen und beruflich Fuß zu fassen (Bah Z134). Zunächst arbeiten sie drei Monate lang im Senegal, danach reisen sie weiter über Mali, Burkina Faso und Niger. Nach Libyen gelangen er und ein Teil der Gruppe schließlich durch die Sahara auf einem Pick-Up. Eine Reise, die er als sehr gefährlich beschreibt (Bah Z117, Z163). In Libyen arbeitet er etwa drei Jahre lang in der Glasbranche mit dem Ziel, Geld, für die Überfahrt von Libyen nach Italien zu verdienen. Ob er und seine Freunde dieses Ziel bereits seit ihrer Abreise aus Gambia verfolgen, bleibt unklar. In der Nachfragephase erzählt Bah außerdem, dass er in Libyen etwa eineinhalb Jahre im Gefängnis lebt. Er kommt gegen Geld frei, es bleibt aber unklar, von wem er das Geld erhält. Bah lebt daraufhin einige Zeit bei der Familie eines arabischen Soldaten, die möglicherweise an seiner Entlassung aus dem Gefängnis beteiligt ist. Sie versorgen die Wunden, die ihm vermutlich in einer Auseinandersetzung zwischen Bewaffneten zugefügt wurden und raten ihm ab, nach Europa zu reisen (Bah Z97, Z222). Die Art des Verhältnisses zwischen Bah und der Familie wird im Interview nicht klar. In einer Nacht verlässt Bah aber das Haus der Familie. Da keine Möglichkeit besteht, wieder nach Gambia zu reisen, sieht er den einzigen Ausweg in der Überquerung des Mittelmeers nach Italien. Er und weitere Passagiere werden gezwungen in das bereits überfüllte Boot zu steigen, er betont, dass sich auch schwangere Frauen an Bord befinden (Bah Z237). Nach drei Tagen auf dem Mittelmeer erreicht das Boot im Juli 2013 Lampedusa. Bah lebt etwa eineinhalb Jahre in einem großen Flüchtlingscamp auf Sizilien. Die Lebensbedingungen im Camp sowie die Aussichten für die Zukunft sind sehr schlecht. In dieser Zeit wird er außerdem entführt und be-
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findet sich auch in Italien etwa ein Jahr in Gefangenschaft. Die Bedingungen und Gründe seiner Haft führt Bah allerdings nicht aus (Bah Z31, Z168, Z214). Mit der Unterstützung eines Onkels, der in Deutschland lebt, fliegt Bah im Winter 2014 von Sizilien nach Deutschland, zu dem kleinen Flughafen Frankfurt Hahn. Sein Onkel arbeitet als Übersetzer in Karlsruhe und erklärt ihm das Asylverfahren. Nachdem er im Dezember 2014 zunächst in einem Flüchtlingslager in Mannheim lebt, zieht er kurz darauf in eine Gemeinschaftsunterkunft in Heidelberg. Da er seine Tür nicht verschlossen hält, werden in einer der ersten Nächte sein Handy und sein Geld gestohlen (Bah Z252, Z778). Zum Zeitpunkt des Interviews lebt Bah in einer Wohngemeinschaft mit anderen geflüchteten Personen in einem abgelegenen Stadtteil in Heidelberg. Die Wohnung fand er mit Hilfe einer Sozialarbeiterin. Zudem absolviert er seit etwa einem Jahr eine Ausbildung zum Koch in einem französischen Restaurant (Bah Z576). Thematische Feldanalyse Die Schilderung der Reise und die erlebten Schwierigkeiten nehmen den größten Teil in Bahs Erzählung ein. Trotzdem erwähnt er die Umstände der eineinhalb Jahre andauernde Gefangenschaft in Libyen, die Gefahr, die von den libyschen Rebellinnen ausgeht oder auch die dreitägige Überfahrt nach Italien nur am Rande beziehungsweise überspielt brenzlige Situationen (Bah Z29, Z190, Z201). Zweitens äußert sich Bah mehrfach über seine Situation und die seiner Bekannten aus Gambia in Deutschland. Er erlebt die Einschränkungen und Ungleichbehandlung seiner Bekannten als belastend, auch für sein eigenes Leben. Ein weiteres bedeutsames Thema ist das Zubereiten von Essen. Bereits als Kind hilft Bah seinem Vater in dessen Restaurant und unterstützt seine Stiefmutter im Garten beim Gemüseanbau. Zudem erklärt er die für Männer und Frauen unterschiedlichen Ernährungsvorschriften im Ramadan (Bah Z526, Z535). Im Interview nennt er zudem typische Gerichte und beschreibt eingehend eines, das nur von Frauen zubereitet werden kann. Das Kochen spielt zum Teil auch heute eine wichtige Rolle, wenn auch dies im Interview nur auf Nachfrage erzählt wird. Die Organisation des regelmäßigen abendlichen Kochens beim Projekt Come Together in Heidelberg in 2016, bei dem ich Bah kennenlernte, geht unter anderem zurück auf seine Initiative. Hier kocht Bah insbesondere in 2016 und 2017 regelmäßig Gerichte aus Gambia. Beobachtungsperspektive der Migrationsregime Bah erlebt gegenwärtig, wie er selbst sagt, keine Schwierigkeiten in Deutschland. Er absolviert zum Zeit-
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punkt des Interviews eine Ausbildung zum Koch und wohnt seit einiger Zeit außerhalb der kommunalen Unterbringungsstrukturen für Flüchtlinge. Er selbst empfindet allerdings keine absolute Stabilität in seinen jetzigen Lebensverhältnissen (Bah Z59). So ist die Erzählung von seiner Reise von Misstrauen und Vorsicht geprägt, beispielsweise aus Vorsicht vor Rebellinnengruppen in Libyen oder Entführungen (Bah Z210). Auch seine gegenwärtige Situation empfindet Bah nicht als sicher, sondern schwierig und unübersichtlich. Die Formulierung »it is not easy (at all)« taucht 14 Mal im Interview auf und stützt diese Vermutung zu seinem gegenwärtigen Befinden. Er äußert auch Misstrauen und Wut angesichts des gesellschaftlichen und medialen Diskurses über Flüchtlinge in Deutschland: während Bah aus den Medien erfuhr, dass in Deutschland viele Zehntausend Arbeitskräfte fehlen, drückt er sein Unverständnis darüber aus, dass Flüchtlingen aus Westafrika mit Ablehnung begegnet wird. Er erklärt, dass man lediglich so tue, als ob man Flüchtlingen helfen wolle, tatsächlich gebe es aber kein echtes Mitgefühl (Bah Z716ff). Als Bah später über seine Idee spricht, ein Restaurant zu eröffnen, betont er, dies sei nur möglich mit der Unterstützung »guter«, also vertrauenswürdiger, Leute. Bah reflektiert, dass eine politisch und gesellschaftlich geäußerte und gesteuerte Unterscheidung zwischen Flüchtlingen aus Asien und Flüchtlingen aus Afrika herrsche (Bah Z718). Möglicherweise aus dieser erlebten Ablehnung heraus solidarisiert sich Bah mit anderen geflüchteten Menschen aus Gambia. Er berichtet über die schlechten Lebensbedingungen einiger Freunde, die noch in kommunalen Flüchtlingsunterkünften leben und kein Leben in Freiheit führen können, weil sie von Abschiebung bedroht sind oder in andere Schwierigkeiten sind (Bah Z64). Bah ist bemüht sich anzupassen. So erklärt er, es sei wichtig dem Gesetz zu folgen sowie die Sprache und die, vermutlich »deutsche«, Kultur kennenzulernen (Bah Z275). Sollte er ein Restaurant eröffnen, so würde er dort zuallererst deutsche Gerichte anbieten (Bah Z426). Bah merkt an, er würde lieber in einem zentraleren Stadtteil Heidelbergs leben, an seinem jetzigen Wohnort kenne er niemanden und es sei sehr mühsam, die lange Strecke zu seinem Ausbildungsplatz mit dem Rad zurückzulegen (Bah Z455). Das Zimmer in seiner Wohngemeinschaft aber gibt seine Zuneigung zum Fußballclub Manchester United wieder, aufgrund der vielen roten Gegenstände. Die Farbe Rot fungiert in Deutschland wie in Gambia als sein typisches Markenzeichen.
5 Heimat im Kontext von Migration und Flucht – Analyseergebnisse und Typenbildung
5.1.3
Lavin – »Für mich wünsche ich nichts«
Interviewsituation Das Treffen mit Lavin findet im Juli 2018 nach einem Vortreffen in der Mensa der Universität Heidelberg statt. Wie allen Interviewpartnerinnen erläutere ich ihm den Hintergrund des Dissertations- und Ausstellungsprojekts und wir unterhalten uns über persönliche Themen. Zwar kennen wir uns von den regelmäßigen Treffen bei Come Together, doch erst seit ein paar Monaten. Nach diesem Vorgespräch bedankt er sich per SMS für die Erinnerungen an seine Mutter, die unser Gespräch in ihm wachrief. Beim Interview, das Teil einer Biography-Photography-Session ist, befinden wir uns mit Proviant ausgestattet auf Decken auf der Wiese vor seinem Wohnheim. Lavin scheint sich gedanklich auf das Gespräch vorbereitet zu haben und wirkt aufgeregt. Er bittet darum, ihn mit Fragen zu unterstützen, falls er nicht weiterweiß. Lavin gibt sich Mühe, detailliert und bedacht zu erzählen und zeigt zwischendurch Fotos, die ihn unter anderem in einem Boot mit vielen Menschen in Rettungswesten zeigen. Nach seiner Haupterzählung schaut er auf die Anzeige des Aufnahmegeräts und ist zufrieden mit sich, so lange gesprochen zu haben. Später essen wir in der nicht weit entfernten Mensa und führen das Gespräch fort. Biographische Daten und Erzählform Lavin lebt als Kurde in einer kleinen Stadt in Syrien (Lavin Z11). Als er zehn Jahre alt ist, entscheidet der Vater, dass die Familie in die Nähe der Hauptstadt Damaskus zieht, da hier, wie er sagt, die Atmosphäre offener und diverser ist und für sie als Kurdinnen weniger gefährlich (Lavin Z14). Als Lavin in der achten Klasse ist, verschlimmert sich die politische Situation in Damaskus jedoch. Dabei betont er auch, dass der Verlauf der neunten Klasse besonders wichtig ist, da hier über den Übergang auf das Gymnasium entschieden wird. In dieser Zeit wird seine Mutter eines Tages beinahe von einem durch das Fenster im Haus einschlagenden Geschoss getroffen. Dieses Erlebnis bezeichnet Lavin als Wendepunkt in seinem Leben (Lavin Z31). Aus Vorsicht vor nächtlichen Angriffen schläft die Familie im Korridor, in der Mitte des Hauses. Später wird sein Vater ohne ersichtlichen Grund festgenommen und bleibt zwei Tage in Gefangenschaft. Lavin besucht in dieser Zeit die Schule nicht. Angesichts der sich zuspitzenden Situation mit dem Beginn des Bürgerkrieges zieht die Familie ein weiteres Mal um, dieses Mal direkt in die Stadt Damaskus. Lavin ist zu diesem Zeitpunkt in der zehnten Klasse (Lavin Z35f). Für die Dauer der Sommerferien, Lavin ist ungefähr 15 Jahre alt, woh-
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nen die Mutter und die Kinder in Lavins Geburtsstadt. Hier haben sie keine Ausweiskontrollen oder Repressionen zu befürchten (Lavin Z65). Als die Schule wieder anfängt kehrt die Familie zurück nach Damaskus. Zwar hat sich die politische Situation entspannt, allerdings gibt es wenig Lebensmittel und keinen Strom. Als Lavin eines Tages mehrere Stunden anstehen muss, um Brot für die Familie zu besorgen, befiehlt ein Soldat, Lavin solle ihm seinen Laib geben. Da es, wie Lavin erklärt, Soldatinnen zu jeder Zeit erlaubt ist, Brot zu erhalten, empfindet er dies als Schikane und weigert sich. Lavin wird daraufhin zum Polizeipräsidium gebracht. Man sperrt ihn ein, verhört ihn und ihm werden Essen und Trinken verweigert. Er wird verdächtigt, bewaffnet an Demonstrationen teilgenommen zu haben (Lavin Z77). Nachdem seine Familie von der Polizei benachrichtigt wird, trifft kurze Zeit später sein Vater ein, der ihn nach längeren Gesprächen und etwa einem Tag in Gefangenschaft nach Hause bringen darf (Lavin Z113). Die Situation in Gefangenschaft beschreibt Lavin als einen großen Einschnitt in sein Leben, auch im Interview ist dies ein emotionaler Tiefpunkt und markiert eine Wende. Er erklärt seinen Eltern, dass er die Schule nicht mehr besuchen will und auch der Ort der Bäckerei ruft bei ihm traumatische Erinnerungen wach. Dennoch schickt ihn sein Vater weiterhin zum Unterricht (Lavin Z114ff). Im Januar 2014, in der Erzählung erscheint dies sehr abrupt, entscheidet er sich, ins Ausland zu gehen und bei seinem Bruder und seinem Onkel in der Türkei zu leben. Er ist zu diesem Zeitpunkt etwa 16 Jahre alt und hat die Absicht, dort sein Abitur zu absolvieren. Nachdem er zunächst allein durch den Libanon reist, erreicht er Istanbul von dort mit dem Flugzeug (Lavin Z125ff). In der Türkei lernt er zunächst Türkisch und arbeitet nebenbei. Sein Bruder, bei dem er zu dieser Zeit lebt, verlässt die Türkei ein halbes Jahr nach Lavins Ankunft und reist nach Deutschland. Im September 2014 beginnt Lavin das Schuljahr in der Türkei. Am Abend lernt er, während er tagsüber die Schule besucht. Im darauffolgenden Sommer 2015 besteht er das Abitur (Lavin Z141ff, Z161). Kurz nach dem Abschluss erfährt er aber, dass er laut einer Gesetzesänderung als Syrer nur an wenigen, an der Grenze zu Syrien gelegenen Universitäten in der Türkei studieren darf. So begibt er sich eine Woche später gemeinsam mit einem Freund auf die Reise nach Europa über das Mittelmeer. Er betont, dass er während der Überfahrt keine Angst verspürt, auch nicht als der Motor des Bootes ausfällt. In seiner Schilderung wirkt diese Szene übernatürlich. Lavin befindet sich an der Schwelle zwischen Leben und Tod, scheint sich selbst aber wie außenstehend und nicht als Teil der tat-
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sächlichen Situation empfunden zu haben. Das Boot wird schließlich von der griechischen Küstenwache geborgen (Lavin Z174). Die sich nun anschließende Reise von Griechenland nach Deutschland erzählt er sehr detailliert, allerdings überwiegend deskriptiv. Mit einer Gruppe syrischer Flüchtlinge reist er bis Serbien, dann trennt sich die Gruppe. Insbesondere an der serbischen Grenze ist die Situation sehr gefährlich und er berichtet von Erschießungen durch Grenzpolizistinnen (Lavin Z210). Kurz vor der Grenze zu Österreich wird das Auto, in dem sie mitgenommen werden, von der ungarischen Polizei kontrolliert. Er wird gezwungen, seine Fingerabdrücke in der Polizeistation abzugeben und muss einen Tag ohne Nahrung und Wasser in einer Gefängniszelle ausharren (Lavin Z242ff). Als er freigelassen wird, reist er weiter nach Deutschland und schließlich nach Berlin, wo ein dort lebender Cousin seines Vaters ihm rät, zu bleiben. Lavin aber entscheidet sich, das Asylverfahren in Bremen zu durchlaufen, da ein Musiker, den er mag, dort einmal ein Konzert gegeben hatte (Lavin Z276). In Bremen wird er als alleinreisend und minderjährig eingestuft, weshalb er eine enge Betreuung durch das Jugendamt erfährt und sofort Sprachkurse besuchen kann. Er erhält seinen Flüchtlingsstatus im Januar 2018, kurz nachdem er den Status eines Minderjährigen verliert und seine Eltern laut Gesetz nicht mehr nachholen kann (Lavin Z297). Als sein Bruder nach Heidelberg zu einer Gastfamilie zieht, verlässt auch Lavin Bremen und zieht zu seinem Bruder. Er lebt ebenfalls fortan bei der Gastfamilie und teilt das Zimmer mit seinem Bruder. Den Kontakt mit der Gastfamilie beschreibt Lavin als herzlich und familiär (Lavin Z542ff). Lavin möchte in Heidelberg studieren, hat aber zunächst große Probleme, seinen in der Türkei erworbenen Abschluss anerkennen zu lassen. Zur gleichen Zeit absolviert er ein dreimonatiges Praktikum bei einem internationalen IT-Unternehmen. Sein Vorgesetzter unterstützt ihn bei der Anerkennung seines Abiturs, wodurch er schließlich mit der Auflage, einige Vorkurse zu besuchen, zum Informatikstudium in Heidelberg zugelassen wird (Lavin Z346ff). Zum Zeitpunkt des Interviews lebt Lavin mit seinem Bruder in einer Wohnung des Studierendenwerks der Universität Heidelberg. Er studiert und arbeitet in den Semesterferien zum Teil in dem IT-Unternehmen, zudem hat er einen großen, auch internationalen Freundeskreis. Selbst wenn er seinen Alltag als nicht besonders beschreibt, betont er, er habe alles erreicht, was man erreichen könne (Lavin Z596ff, Z654f).
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Thematische Feldanalyse In der biographischen Erzählung Lavins können insbesondere zwei thematische Felder hervorgehoben werden, die sich zum Teil überschneiden. Die Erzählung seiner Lebensgeschichte leitet Lavin ein, indem er sich als Angehöriger einer Minderheit definiert. Die Lebensbedingungen werden aufgrund des Bürgerkrieges immer schwieriger und die unmittelbaren Bedrohungen immer offensichtlicher. Die Familie muss oft den Wohnort wechseln und gerät mehrmals in brenzlige Situationen. Er schildert diese immer enger werdende Situation anhand mehrerer, eher unzusammenhängender Episoden. Seine Flucht in die Türkei und später nach Deutschland wird in der Logik seiner Erzählung zu einer unausweichlichen Entscheidung und Wendung in seinem Leben. Während Lavin sich vor seiner Migration in die Türkei als Teil der familiären Einheit beschreibt, betont er seine empfundene Selbstständigkeit und Unabhängigkeit in der Türkei und später auch in Deutschland. Insbesondere nehmen in seiner Erzählung das Thema Kind-sein und damit verbundene Privilegien einen besonderen Stellenwert ein. Aber auch die mit dem Verlassen Syriens verbundenen Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens, die mit Gefühlen der Eigenverantwortlichkeit und Freiheit einhergehen, prägen als Themenstränge insbesondere den zweiten Teil seiner biographischen Erzählung. Beobachtungsperspektive der Migrationsregime Mit dem Hinzuziehen der Migrationsregimeanalyse kann bestimmt werden, dass Lavin seine aktuelle Situation zum einen wie das Ende einer Erfolgsgeschichte schildert, sich dadurch aber auch bewusst von der Kategorisierung als Flüchtling distanziert. Dass er auf seinem Bildungsweg möglichst wenig Zeit verlieren möchte, ist immer wieder Teil seiner Erzählungen. So vergleicht er sich an anderer Stelle mit den Studierenden seines Jahrgangs in Damaskus. Gegenwärtig studiert Lavin, hat einen internationalen Freundeskreis und lernte schon früh Deutsche kennen, wie seine Gastfamilie und deren Freundeskreis. Von einer Kategorisierung als Flüchtling distanziert er sich und betont, die Situation von Flüchtlingen in Deutschland nicht beurteilen zu können, er habe lediglich von schlechten Unterbringungssituationen gehört. Er selbst könne aufgrund der intensiven Betreuung durch das Jugendamt bei seiner Ankunft in Deutschland nicht von negativen Erfahrungen berichten (Lavin Z281f, Z681ff). Als Kavith und ich einige Monate nach dem Interview Teile der Biography-Photography-Session für die Konzeption der Ausstellung Learning from Journeys aufbereiten, bittet La-
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vin darum, auf den Bildern nicht erkennbar zu sein. So positioniert er sich aktiv außerhalb einer für Flüchtlinge »typischen« Erfahrungswelt.
5.1.4
Yasmina – »I think that I lose that strong woman«
Interviewsituation Yasmina lerne ich als einzige Befragte erst am Tag des Interviews persönlich kennen, ein vorheriger Austausch zur Planung des Treffens fand per E-Mail statt. Der Kontakt entstand durch die Vermittlung eines Elternvereins. Ich verabrede mich mit ihr in den Büroräumen des Vereins und hole sie in der Einfahrt zum Innenhof des Gebäudes ab. Sie lächelt freundlich, aber bleibt distanziert. Der Büroraum ist kahl und etwa 10qm groß. In der Ecke steht ein Flipchart und an einer Wand hängt ein abstraktes Bild. Ich stellte bereits vor ihrem Eintreffen Wasser bereit und platzierte auf dem ovalen Tisch einen kleinen Blumenstrauß. Während wir zu Beginn des Interviews auf Deutsch reden, wechseln wir auf ihren Wunsch bald ins Englische. Biographische Daten und Erzählform Yasmina wird in den 1970ern als jüngstes von sechs Kindern im Iran geboren (Yasmina Z11). Als sie zehn Jahre alt ist, reist sie das erste Mal nach Deutschland, um ihren Bruder zu besuchen. Dieser war nach Deutschland gekommen, da er Arbeit gefunden hatte. Er hat dort seine heutige Frau kennengelernt. Zum Zeitpunkt des Interviews lebt er bereits seit 40 Jahren in Deutschland und ist verheiratet (Yasmina Z285). Nach dem Abitur studiert Yasmina Englisch und beginnt im Alter von etwa 20 Jahren als Lehrerin zu arbeiten. Als einige Jahre später die Arbeit mit Computern immer populärer wird, belegt Yasmina einen Kurs für das Betriebssystem MS-DOS. Sie ist von der Technik begeistert und beschließt Buchhaltung zu studieren. Yasmina arbeitet in den folgenden 14 Jahren als Finanzmanagerin in mehreren IT-Unternehmen im Iran. In ihrem letzten Job arbeitet sie aufgrund ihrer Englischkenntnisse zudem mit internationalen Akteuren zusammen und besucht regelmäßig IT-Messen, unter anderem in Deutschland. Zudem ist sie in diesem Job hochmobil: Sie arbeitet an zwei Tagen in der Woche in Dubai (Yasmina Z328ff). Etwa 2000 wird ihre Tochter geboren. Im Detail beginnt Yasmina ihre Lebensgeschichte wieder ab 2012 zu erzählen, als sie vom Islam zum Christentum konvertierte (Yasmina Z71). Aufgrund ihrer Konversion wird sie dreimal von der Polizei in Gefangenschaft verhört und bleibt zuletzt drei Tage im Gefängnis. Beim dritten Mal werden ihre Wohnräume in ihrer Abwesenheit durchsucht. Ihre Tochter, die zu diesem Zeitpunkt allein in der Wohnung ist, erleidet vermutlich bei der Durch-
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suchung eine Traumatisierung, da sie bald darauf schwer chronisch erkrankt (Yasmina Z88). Als Konvertitin im Iran muss Yasmina schwere Strafen fürchten. Ein befreundeter Anwalt rät Yasmina und ihrem Ehemann daher, den Iran so schnell wie möglich zu verlassen. Das Ehepaar folgt dem Rat. Da es aber der Familie nicht möglich ist, zusammen zu gehen, bleibt Yasminas Ehemann vorerst zurück und soll später nachkommen. Die Reise der Mutter und der Tochter dient offiziell der Genesung der Tochter (Yasmina Z278). 2013 kommen beide nach Deutschland und beantragen Asyl. Ihre Tochter fühlt sich von Beginn an unwohl in Deutschland. In der Schule wird sie ausgegrenzt und muss einige Male aufgrund ihrer Krankheit für längere Zeit ins Krankenhaus. Die Ungewissheit über die Krankheit der Tochter nimmt einen großen Raum in Yasminas Erzählung ein. Nach einer Auseinandersetzung zwischen ihr und anderen Eltern beim ersten Elternabend im Sommer 2014 beschließt sie, ihre Tochter vorerst von der Schule zu nehmen (Yasmina Z203ff). Später wird ihre Tochter noch einmal die Schule wechseln, bevor sie eine passende Schule findet. Da sich der Gesundheitszustand ihrer Tochter nicht verbessert, setzt sich der Arzt der Tochter entgegen der Vorschriften des Sozialamts dafür ein, dass beide in seiner leerstehenden Wohnung wohnen dürfen. Hier leben sie etwa eineinhalb Jahre (Yasmina Z511). Yasmina ist in der ersten Zeit in Deutschland auf der Suche nach einer passenden Kirchengemeinde für sich und probiert mehrere freikirchlich organisierte Gruppierungen aus. Die Gemeinde, die sie zum Zeitpunkt des Interviews regelmäßig besucht, schätzt sie insbesondere deswegen, weil man sie nicht nach ihrem persönlichen Hintergrund fragt. Zudem knüpft sie dort gute Bekanntschaften mit überwiegend deutschen, älteren, Akademikerinnen (Yasmina Z470ff). Im Herbst 2014 hat sie das sehr belastende, etwa vier Stunden andauernde Interview, beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. 50 Tage später sind sie und ihre Tochter als Flüchtlinge anerkannt. Die schwierige Situation bei der Anhörung veranlasst sie, ein Buch über die ersten fünf Jahres ihres Lebens in Deutschland zu schreiben (Yasmina Z493ff). 2016 arbeitet Yasmina auf einer auf ein Jahr befristeten Stelle im Bereich Software und Finanzen bei einem internationalen IT-Unternehmen (Yasmina Z31ff). Im Sommer desselben Jahres will sie einen Antrag auf Familienzusammenführung stellen, um ihren Mann nachzuholen. Es stellt sich heraus, dass die Antragsfrist für diesen verstrichen ist und ein neuer Antrag voraussichtlich erst wieder Anfang 2019 gestellt werden kann. Auch die deutsche
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Botschaft im Iran lehnt mehrere Gesuche ihres Mannes nach Deutschland zu reisen ab. Yasmina versetzt dies in eine tiefe Krise (Yasmina Z52ff). Nach dem Ende ihres Arbeitsvertrags im Frühling 2017 belegt Yasmina mehrere Kurse in Landeskunde und Deutsch. Die Kurse bereiten ihr Freude, da sie etwas lernt und beschäftigt ist. Ihre Arbeitslosigkeit sowie die Ungewissheit, wann sie ihren Mann wiedersehen wird, entmutigen sie zunehmend. So fällt ihr insbesondere seit Frühjahr 2018 das Deutschlernen schwer. Auch das Schreiben, ein Ausgleich, den sie immer gern gepflegt hat, gelingt ihr in dieser Krise kaum (Yasmina Z810ff). Thematische Feldanalyse Bereits in der Eingangssequenz des Interviews deuten sich die zentralen, im Verlauf von Yasminas Erzählung immer wieder relevant werdenden Themen an. Bereits bevor sie mit der ausführlichen Erzählung ihres Lebens beginnt, gibt sie zunächst eine kurze Zusammenfassung und nennt die Aspekte ihrer schwierigen Situation: die folgenschwere Entscheidung nach Deutschland zu gehen, die Abwesenheit ihres Mannes, dem es nicht erlaubt wird, nach Deutschland zu reisen sowie die schwierigen Lebensbedingungen, unter denen sie als geflüchtete Frau in Deutschland lebt. Auch deutet sich hier eventuell ein Schuldgefühl an, das sie gegenüber ihrer Familie empfindet. Im Verlauf ihrer biographischen Erzählung kehrt sie immer wieder zu diesen und anderen aktuellen Themen zurück, wie ihre andauernde Arbeitslosigkeit und die Krankheit ihrer Tochter. Zudem beschreibt sie ihre heutige Lebenssituation und auch ihre eigene Person komplementär zu der im Iran: War sie zuvor eine starke, selbstbewusste und lebhafte Frau, so ist sie heute meist zuhause, ihr fällt es schwer ihrem Hobby dem Schreiben nachzugehen und sie empfindet kaum eigene Handlungsmacht. Beobachtungsperspektive der Migrationsregime Die Nennung wichtiger Themen und Themenstränge gibt Aufschluss über Yasminas empfundene gegenwärtige Einbettung und ihre Sprecherinnenposition in einem subjektiven Migrationsregime. Ihre biographischen Ausführungen führen Yasmina immer wieder zu der Schilderung ihrer aussichtslosen Situation, wobei sich ihr Gefühl der Ohnmacht wiederkehrend offenbart. Selbstbestimmung gewinnt Yasmina zurück durch das Schreiben an einem Buch sowie für ein Magazin im Iran. Das Buch soll berichten über die ersten Jahre, die sie als geflüchtete Frau in Deutschland durchlebte. Sie möchte anderen Personen, die beabsichtigen zu fliehen oder zu emigrieren vor Augen führen, welche Schwierigkeiten dies mit sich bringt. Für sie selbst könnte das Buch ein
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Medium sein, ihre Entscheidung, den Iran zu verlassen, zu reflektieren und Außenstehenden zu erklären. Ihr selbst gäbe dies die Möglichkeit, in Zukunft Deutungshoheit und damit auch Kontrolle über ihre eigene Situation zurück zu erlangen. Im Schreiben könnte Yasmina die Möglichkeit sehen, einen distanzierten, klärenden Blick auf ihre heutige, möglicherweise vertrackt empfundene Lage werfen zu können. Darüber hinaus ist der regelmäßige Besuch einer Glaubensgemeinschaft nahe Heidelberg eine Konstante in ihrem alltäglichen Leben. In der Gemeinschaft setzt sie sich mit Fragen des Glaubens kritisch auseinander, wobei sie ihre Entscheidung, als Konvertitin nach Deutschland gekommen zu sein, aus einer religiösen Perspektive diskutiert und Gott offen hinterfragt. Yasmina sieht zudem den Vorteil, hier nicht über ihr Privatleben sprechen zu müssen. Ihre als äußert schwierig empfundene Lebenslage aufgrund ihrer Arbeitslosigkeit, der Abwesenheit ihres Mannes und des Stigmas, Flüchtling zu sein, stehen nicht im Vordergrund. Im religiösen Gespräch schafft Yasmina sich einen Raum, in dem sie losgelöst von äußeren Zuschreibungen und Zwängen den Sinn ihrer jetzigen Situation und das Wesen ihres Glaubens zu ergründen versucht. So sagt sie selbst, dass sie nach einem Weg für sich sucht (Yasmina Z385). Yasminas Bemühungen mit ihrer gegenwärtigen Situation einen Umgang zu finden deuten an, dass Yasmina sich auch in einer persönlichen Krise bezüglich ihres Selbstbildes befindet. In einer langen Sequenz beschreibt Yasmina den Verlauf eines Elternabends in der Schule ihrer Tochter ein paar Monate nach ihrer Ankunft in Deutschland. Yasmina berichtet ausführlich von offenen Beschimpfungen, in denen sie unter anderem als Ausländerinnen bezeichnet werden, die kein Recht haben, in Deutschland zu leben. Yasmina übernimmt in ihrer Erzählung dann aber das Wort in der Diskussion. Sie erklärt den anwesenden Eltern unter anderem, dass sie viele Jahre im Iran in einer hohen Position gearbeitet habe. Den Ärger der Eltern führt sie auch darauf zurück, dass diese neidisch auf die Leistungen ihrer Tochter seien (Yasmina Z176ff). Zum Zeitpunkt des Interviews ist dieses Selbstbild einer arbeitenden, aktiven und leidenschaftlichen Frau aber gefährdet, so erklärt sie »I think that I lose that strong woman« (Yasmina Z684). In ihrer Erzählung überwiegt oftmals eine Haltung der Hoffnungslosigkeit und Passivität angesichts der eigenen Lebenssituation. Gegenüber ihrer Tochter allerdings, so stellt sie selbst im Interview dar, nimmt sie die Rolle einer Optimistin ein und versucht diese zu ermutigen (Yasmina Z295).
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5.1.5
Kama – »It’s a mental slave trade«
Interviewsituation Ich kenne Kama von den Treffen bei dem abendlichen Kochen des Projekts C ome Together. Mir war seine politische, emotionale und kämpferische Haltung in Bezug auf seine Lebenssituation in Deutschland aufgefallen. Kama emigrierte aus Gambia und lebt zum Zeitpunkt des Interviews seit etwa vier Jahren in Deutschland mit dem Status einer Duldung. Einem Treffen für ein Gespräch über seine Lebenssituation stimmt er gleich zu. Wir treffen uns im Oktober 2018, er nennt mir die Adresse eines Wohnhauses nahe der Flüchtlingsunterkunft, in der er gemeldet ist. Ich treffe Kama kurz vor unserer Verabredung zufällig bei einem Bäcker in der Nähe, da ich beabsichtige, etwas zu essen für das Treffen, zu besorgen – ebenso wie er. Wir begrüßen uns freundlich und gehen zu der Wohnung, die er, wie ich später erfahre, als Untermieter in Abwesenheit einer meist verreisten Mieterin bewohnt. Wir gehen zunächst in die schmale Küche, er macht einen Assam-Tee und wir essen. Nach einem ersten kurzen Gespräch gehen wir in das geräumige und helle Wohnzimmer. Während ich meine Notizen bereitlege, sucht er in einem Ordner nach bestimmten Unterlagen. Diese platziert er neben sich auf dem breiten Sofa und schaut zu Beginn kurz hinein. Er betont am Anfang des Interviews, dass er das Anliegen meiner Arbeit wichtig findet. Er drückt seine Wertschätzung dafür aus, dass ich ihn direkt frage, statt über ihn zu schreiben: »don’t judge the book by the cover« (Kama Z14). Wir legen zwischendurch eine Pause ein, in der er auf dem Balkon raucht. Für die Auswertung gestaltet sich das Interview als schwierig, da Kama seine Erzählung nur wenig strukturiert und mit leiser belegter Stimme spricht. Biographische Daten und Erzählform Kama wird Anfang der 1990er Jahre in der Nähe einer größeren Stadt in Gambia geboren. Seine Eltern sind religiös und sehr arm. Alle Kinder des Familiensitzes (compound) besuchen die Koranschule (Kama Z45). Er selbst möchte Englisch lernen, dies ist allerdings nicht angesehen, da Englisch die Sprache der ehemaligen Kolonisatorinnen ist. Im alltäglichen Familienleben erfährt Kama gegenüber den anderen Kindern deswegen eine Ungleichbehandlung, zudem kann er die Schule nicht selbst finanzieren (Kama Z40ff). Während seiner Kindheit oder Jugend stirbt sein Vater (Kama Z31f). Aufgrund der chancenlosen Lebensbedingungen im Familiensitz lebt Kama fortan bei seinem Onkel in der Hauptstadt Gambias Banjul (Kama Z49f).
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Sein Onkel engagiert sich politisch gegen den damaligen Präsidenten und Diktatoren Yahya Jammeh und wird eines Tages, nachdem gegen Kama und seinen Onkel Todesdrohungen eingegangen sind, entführt. Bis zum Zeitpunkt des Interviews ist nicht klar, was mit seinem Onkel geschah (Kama Z60). Verwickelt in die politischen Geschehnisse muss Kama ebenfalls das Land verlassen und entscheidet sich für eine Weile zu bekannten Familien nach Sierra Leone zu reisen, auch mit dem Ziel seine Ausbildung voran zu treiben (Kama Z63ff). Er hat jedoch nicht viel Geld und auch die genaue Adresse der Familien kennt er nicht (Kama Z68). Als er Guinea-Bissau erreicht, arbeitet er, bis er die Weiterreise finanzieren kann. Er bleibt etwa ein halbes bis ganzes Jahr dort (Kama Z73). Wieder aufgrund fehlender finanzieller Ressourcen hängt er sich nach seiner Ankunft in Guinea an ein Auto und erreicht so Sierra Leone (Kama Z77). Sein dort lebender Onkel arbeitet im Diamantengeschäft und ist in der Gegend sehr bekannt. Etwa eineinhalb Jahre arbeitet er mit der Familie im Diamantenhandel (Kama Z58f). Danach zieht er nach Liberia, um in dem Geschäft weiterer Familienangehöriger zu arbeiten. Er ist kurz davor, ein eigenes Geschäft zu eröffnen, als ihm ein Freund erklärt, dass ihn dies nicht weiterbringen wird. Sie sollten vielmehr nach Libyen reisen und es dort versuchen (Kama Z250ff), woraufhin Kama und sein Freund dorthin weiterreisen (Kama Z94f). Sie passieren Niger und Ghana und verbringen dort immer wieder einige Wochen und Monate. Als er in der Stadt Agadez in Niger ankommt, ist er überrascht, so viele Menschen aus Gambia dort anzutreffen, die alle nach Libyen reisen wollen. Einige Zeit verdient er hier Geld, indem er die Fahrten mit den Pick-Ups von Agadez durch die Sahara nach Libyen organisiert (Kama Z98ff). Als Kama sich selbst an Bord eines Pick-Ups auf den Weg durch die Sahara nach Libyen macht, hat der Wagen in der Wüste eine Panne. Sie verharren drei bis vier Tage dort, bis sie in einem anderen Wagen den Weg nach Libyen fortsetzen können (Kama Z128ff). An der Grenze zu Libyen werden sie von Rebellinnen kontrolliert, ausgeraubt und nachts in die Stadt Sabha gebracht, im Süden Libyens. Hier werden sie mit etwa 300 weiteren Menschen gefangen gehalten. Um frei zu kommen, müssen sie ihre Familien bitten, Geld auf ein Konto in Ghana zu überweisen. Als Gefangene erhalten sie nur wenig Nahrung und Wasser und werden immer wieder geschlagen, auch im Beisein ihrer Familien am Telefon (Kama Z145f, Z153ff).
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Nach zwei bis drei Wochen zahlt Kamas Familie das geforderte Geld und er kommt frei (Kama Z202). Die im Gefängnis zurückgebliebenen Personen, mit denen er bis dahin zusammen unterwegs gewesen ist, können nicht ausreichend Englisch, um mit den Entführerinnen zu sprechen. Auch fürchten sie, stärker misshandelt zu werden, wenn Kama das Gefängnis verlässt. In Absprache mit den Kidnapperinnen darf Kama das Gefängnis regelmäßig verlassen und wiederkommen. Heimlich schmuggelt er auf diese Weise Nahrung in das Gebäude und beschreibt den noch inhaftierten Personen die Umgebung in der Stadt Sabha, damit sich diese, falls eine Flucht gelingt, orientieren können (Kama Z229, Z235). Als einige das Gefängnis bereits verlassen konnten und Kama krank wird, verlässt er ebenfalls endgültig den Ort. Zudem fordert ihn seine Familie auf, Libyen zu verlassen und zurückzukehren. Sie schicken ihm Geld für die Rückreise, wovon er allerdings die Behandlung einiger Bekannter im Krankenhaus bezahlt, die durch Gewehrfeuer im Zuge des anhaltenden Bürgerkriegs in Libyen stark verletzt wurden (Kama Z263ff). Danach arbeitet Kama eine Zeit lang in einem Telefoncenter in Sabha. Er arrangiert es, dass seine Bekannten ihre Anrufe nicht bezahlen müssen. Als sein Vorgesetzter dies bemerkt, flieht Kama und arbeitet fortan in der Organisation des Personentransports von Sabha zur Hauptstadt Tripolis. Insbesondere Menschen aus Gambia ermöglicht er für geringes Geld die Weiterreise (Kama Z298ff). Als die Situation aufgrund des Bürgerkrieges zu gefährlich wird, verlässt er ebenfalls Sabha und reist nach Tripolis (Kama Z329). In Tripolis beobachtet er zunächst, wie die Überfahrt über das Mittelmeer von den Araberinnen organisiert wird. Als er davon erfährt, dass etwa 300 Personen, darunter viele aus Gambia, in einem Bus an der Küste Libyens seit mehreren Tagen auf ihre Überfahrt warten, allerdings weder ein Kapitän noch ein Kompass zur Verfügung stehen, behaupten er und ein Freund, das Boot navigieren zu können (Kama Z377ff). Kama trägt eine Maske und spricht Englisch zu den Passagieren des Bootes, damit diese ihn nicht als Gambier erkennen. Als Panik auf dem Schiff ausbricht, schlägt und fesselt er die jeweiligen Passagiere, um sie unter Kontrolle zu bringen (Kama Z441f, Z448ff). Am nächsten Morgen erreichen sie Italien (Kama Z473). Die Bedingungen der Unterbringung und Versorgung in Italien sind sehr schlecht, zudem hat Kama dort nicht die Möglichkeit, die Schule zu besuchen (Kama Z480). Er entscheidet sich, weiter nach Deutschland zu reisen und überquert mit mehreren Personen aus Gambia die Grenze im November
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2014. Kama übernimmt wieder die Rolle des Übersetzers, da er Englisch und weitere afrikanische Sprachen spricht (Kama Z530ff). In der Flüchtlingsunterbringung in Karlsruhe beobachtet er, dass Afrikanerinnen auf ihre Registrierung länger warten müssen als andere Asylsuchende. Durch einen Trick entgeht er den Sicherheitskräften und kann sich als Asylsuchender anmelden (Kama Z574ff). In der Aufnahmeeinrichtung in Mannheim setzt er sich für eine nigerianische Frau ein, deren Kind krank ist, jedoch keine ausreichende Unterstützung erhält. Er wird daraufhin in eine Unterkunft in Heidelberg verlegt, in der fast ausschließlich Männer aus Gambia leben (Kama Z1709). Da Kama zu alt ist, kann er die reguläre Schule in Deutschland nicht mehr besuchen (Kama Z640). Dreimal in der Woche organisiert ein Asylarbeitskreis aber einen Sprachkurs in seiner Unterkunft, wodurch er Deutsch lernt und auch mit Deutschen in Kontakt kommt. 2015 entstehen die von in erster Linie Gambiern und Deutschen organisierte Initiative Living & Giving und das Projekt Come Together mit dem Ziel, dass sich geflüchtete und nicht geflüchtete Menschen kennenlernen und weiterbilden (Kama Z636). Heute fühlt sich Kama bei den Treffen von Come Together nicht mehr wohl, da zuletzt mehrmals Diebstähle bekannt wurden und auch geflüchtete Personen unter Verdacht gerieten (Kama Z2049). Seitdem Kama in Heidelberg lebt, absolvierte er insgesamt sechs Praktika. Da keinem Praktikum eine Anstellung oder ein Ausbildungsplatz folgte und auch, weil er dies in ähnlicher Weise bei Bekannten beobachtete, sieht Kama das Absolvieren von Praktika und anderen Weiterbildungsmaßnahmen als eine Ausbeutung billiger Arbeitskräfte an (Kama Z685). Bis zum Zeitpunkt des Interviews erhielt Kama keine endgültige Entscheidung über sein Asylgesuch, denn seine Akte wurde mit der einer gleichnamigen Person verwechselt (Kama Z1777). Sollte man ihn allerdings aus dem Land weisen wollen, so wüsste er nicht, wohin er gehen soll, denn in keinem europäischen Land würde man ihm Asyl gewähren (Kama Z1816ff). Zum Zeitpunkt des Interviews arbeitet Kama als Landschaftsgärtner, wobei sein Anstellungsverhältnis im Interview nicht klar wird. Er macht während der Arbeit immer wieder Diskriminierungserfahrungen, weshalb er sich, wie er selber sagt, nicht immer in der Lage fühlt, dort zu arbeiten (Kama Z2448). Sollte es seine rechtliche Situation zulassen, so beabsichtigt Kama, ein Import-Export Geschäft im Diamantenhandel mit mehreren Onkels in Westafrika zu eröffnen, dies hatte er bereits vor seiner Reise nach Europa
5 Heimat im Kontext von Migration und Flucht – Analyseergebnisse und Typenbildung
geplant. Die realistischen Chancen für die Umsetzung seines Vorhabens sieht er allerdings zum Zeitpunkt des Interviews nicht (Kama Z1194f). Thematische Feldanalyse Bei der Erzählung seines Lebens, insbesondere auf den Etappen seiner Migration und Flucht und auch in der daran anschließenden langen Schilderung verschiedener Problemlagen seines gegenwärtigen Lebens, hebt Kama immer wieder seinen Einsatz und seine Opferbereitschaft für Menschen aus Gambia und Westafrika hervor. Kama versteht sich als Teil einer seit Jahrhunderten unterprivilegierten und diskriminierten Minderheit, was sich unter anderem in folgenden Beispielen zeigt: Kama finanziert die medizinische Behandlung einiger Bekannter in Libyen mit dem Geld seiner Familie, das er eigentlich für seine eigene Rückreise nutzen soll (Kama Z277, Z289); er gewährt Bekannten Vergünstigungen für Telefonanrufe in andere afrikanische Länder; er vereinfacht für diese die Reise von Südlibyen nach Tripolis (Kama Z321ff); er unterstützt eine nigerianische Frau und ihr Kind in einem Flüchtlingslager in Deutschland, als diese aufgrund ihres Herkunftslandes wenig Unterstützung durch die Sozialarbeiterinnen erhalten (Kama Z608ff); er berichtet ausführlich über die Problemlagen seiner in Heidelberg lebenden Bekannten aus Gambia und nimmt dabei Anteil an ihren erlebten Zwangslagen und Schwierigkeiten. Die dahinterstehende Grundhaltung der Solidarität mit Personen aus Gambia beziehungsweise Westafrika steht in Verbindung mit einem zweiten sehr zentralen Thema in den biographischen Schilderungen Kamas, das insbesondere nach der Haupterzählung ausgeführt wird. Kama erlebt seine eigene gegenwärtige Situation und die seiner Bekannten und Freundinnen in Deutschland als Ausdruck einer jahrhundertelangen Erfahrung der Ausbeutung, Unterdrückung und (mentalen) Versklavung (Kama Z726). Ganz gleich wohin Afrikanerinnen gehen oder schon gegangen sind, so Kama, überall erlebten sie Leid, Diskriminierung und erhielten keine Unterstützung (Kama Z814ff). Dieses global wirkende System lasse eine allgemein geforderte Integration nicht zu (Kama Z2129ff). Kama vergleicht dabei die Verwaltung und Behandlung von geflüchteten Personen in Deutschland und Europa mit den Foltermethoden und Gewalthandlungen gegenüber Afrikanerinnen in Libyen. In Deutschland erlebten Afrikanerinnen zwar keine physische Gewalt, doch seien Entwürdigung, Rassismus und Leid fein säuberlich organisiert und ließen kein Entrinnen zu (Kama Z539ff, Z645f, Z2168). Kamas umfangreichen Erläuterungen führen ihn immer wieder zurück zu ei-
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nem Gefühl der Aussichtslosigkeit aufgrund der historisch begründeten und bis heute fortdauernden Situation der Ausbeutung und Unterdrückung. Beobachtungsperspektive der Migrationsregime Die obige Darstellung der wichtigsten Themen gibt Aufschluss über das Spannungsverhältnis von erlebtem Rassismus in einer postkolonialen Gegenwart und andererseits Versuchen und Formen des eigenmächtigen und selbstbestimmten Umgangs in dieser Situation. Die Perspektive der Migrationsregime rückt diese Positionierungen und Aushandlungen in den Fokus der Betrachtungen. Kama drückt an vielen Stellen im Interview seine Ohnmacht und Erschöpfung angesichts der bestehenden postkolonialen Verhältnisse aus, die er nicht oder kaum beeinflussen kann. Ausführlich berichtet er, dass sich bereits mehrere Tausend Gambier in baden-württembergischen Gefängnissen befänden, oft nur wegen geringer Geldstrafen. In den Gefängnissen müssten sie für einen niedrigen Stundenlohn schwere Arbeit leisten. Manche seiner Bekannten seien völlig verändert aus der Haft zurückgekehrt, beispielsweise mit eingeschränkter Beweglichkeit der Gliedmaßen (Kama Z663ff, Z721f, Z750). Spezielle berufliche Vorbereitungskurse und Praktika für Flüchtlinge bezeichnet Kama als mentale Versklavung. Der Stundenlohn sei sehr gering und eine anschließende Anstellung erfolge nur selten (Kama Z684ff). Das wenige Geld reiche nicht aus, um sich in angemessener Weise zu kleiden und sich unbefangen im öffentlichen Raum aufzuhalten. Dies führe umso mehr dazu, dass Flüchtlinge nicht respektiert würden und Diskriminierung erfahren (Kama Z691ff). Trotzdem positioniert sich Kama in Abgrenzung zu Freundinnen und Bekannten, die sich in ähnlichen Lagen befinden. So beschreibt er sich stellenweise als eine Art Leitfigur, da er anderen Personen in Notsituationen beisteht und ihnen auf der Reise den Weg weist. Auch besucht er regelmäßig seine Bekannten aus Gambia in der Flüchtlingsunterkunft um sie zu trösten und ihnen zuzuhören (Kama Z1059). Darüber hinaus hat sich Kama, wenn auch unter äußerst prekären Umständen, ein Leben eingerichtet, mit dem er Abstand gewinnt zu den beschriebenen determinierenden, historisch gewachsenen Strukturen: Er wohnt zeitweise in einer Wohnung zur Untermiete außerhalb der kommunalen Unterbringung, auch wenn dies möglicherweise rechtlich nicht erlaubt ist, und arbeitet als Landschaftsgärtner. In seiner Vision, mit seinen Onkels einen Diamantenhandel zu errichten, schließt er weiße3 Personen explizit aus. 3
Der Ausdruck weiß (white) ist übernommen aus dem Interview mit Kama, wird aber ebenso genannt von Kavith und Yochanan. Weiß beziehungsweise white ist kursiv ge-
5 Heimat im Kontext von Migration und Flucht – Analyseergebnisse und Typenbildung
Mit der Schilderung globaler postkolonialer Strukturen, die auch in der Aufnahme und Verwaltung von Flüchtlingen in Deutschland wirksam werden, durchschaut und demaskiert er diese Dynamiken. Es wird deutlich, dass sich Kama, obwohl er wenig Gestaltungsspielraum in seinem gegenwärtigen Leben hat, nicht allein als hilfloses Opfer der gegebenen Verhältnisse sieht und positioniert.
5.1.6
Attila – »Das werde ich nie vergessen«
Interviewsituation Attila und ich kennen uns von den regelmäßigen Treffen bei Come Together, allerdings wohnt er nicht in Heidelberg, weshalb wir uns 2016 und 2017 dort nur wenige Male begegneten. Einmal nahm Attila außerdem Teil an einem Treffen des Reallaborprojekts, wo die Teilnehmerinnen aufgefordert wurden, persönliche Visionen zu formulieren. Attila trug seine Idee vor, über soziale Netzwerke einen Übersetzungsdienst vom Arabischen ins Deutsche anzubieten. Im Herbst 2018 kontaktiere ich Attila und wir verabreden uns per SMS zu einem Treffen. Er erklärt sich sofort bereit, mit mir zu sprechen. Ein Treffen in der kleinen Gemeinde, in der er lebt, lehnt er ab, da er es dort im Vergleich zu Heidelberg langweilig findet. Wir treffen uns im November 2018 gegen Mittag. Seine Nachrichten und auch die Begegnung mit ihm auf dem Bismarckplatz in Heidelberg sind von Anfang an sehr locker, persönlich und auf Augenhöhe. Attila organisiert das Gespräch, spickt es hier und da mit humorvollen Anekdoten, sodass es sich bald anfühlt wie ein Gespräch mit einem guten Freund. Wir setzen uns in den kaum besuchten Raucherraum eines Cafés in der Innenstadt und verbringen dort mehrere Stunden. Biographische Daten und Erzählform Attila wird Mitte der 1990er Jahre in der syrischen Stadt ar-Rakka geboren, sein Bruder ein Jahr später (Attila Z13). Seine Kindheit bezeichnet er als nicht außergewöhnlich. Seine Eltern halten ihn und seinen Bruder zum Lernen an, er ist ein ruhiges Kind und hat in der Schule gute Noten. So schließt er die neunte Klasse mit einem der besten Zeugnisse der Stadt ab (Attila Z19). Sein Bruder bereitet im Gegensatz zu ihm Probleme. So erklärt Attila, er habe von seinem Bruder das Rauchen gelernt. Auch wenn Attila in der Nachfragephase des Interviews sagt, dass er sich an schrieben, da es sich um eine politische Beschreibung handelt und nicht um die Bezeichnung einer Farbe (Ogette 2019:14).
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vieles aus seiner Kindheit nicht erinnern könne, zeichnet er zu Beginn das Bild eines intakten Familienlebens (Attila Z899ff, Z1059). Als Attila in der zehnten Klasse ist lernt er eine Mitschülerin kennen, mit der er später eine Liebesbeziehung eingehen wird. Er beschreibt das Kennenlernen der beiden und die spätere Trennung wie einen tiefen Einschnitt in sein bis dahin verlaufenes Leben. Während sich das Mädchen zunächst nicht zu erkennen gibt und beide über einen Messengerdienst kommunizieren, werden sie in der zehnten Klasse für etwa ein Jahr ein Paar. Im Juli 2012 beendet sie die Beziehung, ohne einen Grund zu nennen. Die Zeit nach der Trennung beschreibt er als eine sehr schlimme Zeit (Attila Z27ff). Im Anschluss an diese Episode erzählt er, dass sich seine Noten verschlechtern, sodass er die Abiturprüfung wiederholen muss. Ab 2013 befindet sich außerdem die Freie Syrische Armee in seiner Stadt ar-Rakka und die Familie zieht in ein Dorf in das Haus seines Onkels (Attila Z52f). Bald danach baut seine Familie ein eigenes Haus, was alle Beteiligten große Anstrengungen kostet (Attila Z55ff). 2014 zieht Attila für sein Studium für etwa vier Monate nach al-Hassaka. Mit drei Freunden mietet er dort eine Wohnung. Über diese Zeit spricht er sehr enthusiastisch, er scheint sich sehr gerne daran zu erinnern. Zudem lernt er auch hier eine Frau kennen, mit der sich möglicherweise eine Beziehung anbahnt. Sie wird ihm, wie er sagt, immer im Gedächtnis bleiben. Da die Frau aber bald danach einen ihr nicht bekannten Mann heiraten soll, muss sie nach ar-Rakka zurückkehren und Attila sieht auch sie nie wieder (Attila Z82). Wie zuvor schließt Attila an die Erzählung der Trennung nun die Schilderung von beginnenden Kampfhandlungen. An den Kämpfen in der Stadt al-Hassaka sind unter anderem Kurdengruppierungen und der IS beteiligt. Attila muss das Studium abbrechen und kehrt zurück in das Dorf nahe arRakka. Da es hier für ihn nichts zu tun gibt, verbringt er Anfang 2015 einige Monate in Deir ez-Zor. Als aber der IS beginnt, die Stadt zu umlagern, kann er sich nachts nicht mehr draußen aufhalten und wird von Mitgliedern der Freien Syrischen Armee verdächtigt, zum IS zu gehören (Attila 130ff). Attila kehrt zurück nach ar-Rakka und beschließt, als Taxifahrer zu arbeiten. Zu diesem Zeitpunkt ist er 21 Jahre alt. Während seine Eltern weiterhin auf dem Land wohnen, kümmert er sich um seinen Vater, der ihn in dieser Zeit regelmäßig besucht. Attila kocht für ihn, gibt ihm Geld und kauft für ihn ein (Attila Z176, Z961).
5 Heimat im Kontext von Migration und Flucht – Analyseergebnisse und Typenbildung
Die politische Situation ist im Folgenden auch in ar-Rakka nicht mehr erträglich. Er berichtet von Kämpfen in der Stadt, an der die USA, Kurdinnen und der IS beteiligt sind. Im Zuge eines Kampfes um einen Militärort bei arRakka sieht er tote Körper und abgetrennte Köpfe. Zudem muss er zu einem Verhör in einer Dienststelle des IS, da er des Rauchens bezichtigt wird. Dieses Erlebnis sowie ein weiteres Zusammentreffen mit Soldatinnen des IS lösen eine bis heute fortdauernde Angst vor Polizistinnen aus (Attila Z207ff). Als ihn sein Vater im August 2015 in ar-Rakka besucht, fragt dieser ihn, ob er nach Deutschland ausreisen möchte. Attila denkt darüber nach und entscheidet sich aufgrund der vergangenen Erlebnisse, dem Vorschlag seines Vaters zu folgen (Attila Z199ff, Z238f). Seine Großmutter verkauft daraufhin Gold, um die Ausreise ihres Enkels zu finanzieren, und er verlässt mit weiteren Personen im September 2015 die Stadt (Attila Z250ff). Der erste Versuch, die Grenze zur Türkei zu überqueren, scheitert. Das nächste Mal gelingt es und mit zwei Personen aus Aleppo reist er weiter nach Izmir. Es erwartet sie dort der Cousin eines Freundes, der die Fahrten über das Mittelmeer organisiert. Um keine Zeit zu verlieren, entscheidet sich Attila, am selben Abend die Fahrt über das Mittelmeer anzutreten. Nach einem Zwischenhalt in einem verlassenen Hotel und einer weiteren längeren Fahrt zum Strand besteigt er mit etwa 40 weiteren Personen ein Schlauchboot. Nach der dreistündigen Überfahrt erreicht das Boot die griechische Insel Samos (Attila Z325ff). Von hier fährt er weiter nach Athen und dann nach Mazedonien. Mit dem Bus reist er nach Serbien, wobei er sich an den Busfahrer Micki erinnert, für den er Sympathie empfindet. Als der Bus plötzlich von Unbekannten angehalten wird und sie vermuten, gekidnappt oder bestohlen zu werden, bereiten sie sich darauf vor, den Busfahrer Micki im Notfall zu überwältigen und zu fliehen. Der Vorfall eskaliert allerdings nicht. Von Serbien reist Attila weiter über Kroatien und Ungarn nach Österreich. Anfang Oktober 2015 erreicht er eine Erstaufnahmeeinrichtung in Mannheim und sagt dazu, dass er das erste Mal wieder gut schlafen kann (Attila Z387ff, Z514). Hier endet auch seine Haupterzählung. In der Unterkunft in Mannheim beginnt er unter anderem, bei Krankenhausaufenthalten für andere Personen vom Arabischen ins Englische zu übersetzen. Etwa einen Monat später, im Dezember 2015, wird er in eine kleine Gemeinde im Rhein-Neckar-Kreis transferiert, wo er etwa ein Jahr bleiben wird (Attila Z525ff, Z543). In der Unterkunft lernt er Deutsch. Seinen Deutschlehrer Detlef bezeichnet er als ersten Lehrer für das Leben in Deutschland. Zum Zeitpunkt des
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Interviews ist Detlef sein Arbeitskollege. Attila übersetzt auch in dieser Unterkunft vom Arabischen ins Englische. Bald darauf macht er ein Praktikum bei einem IT-Unternehmen und absolviert einen weiteren Sprachkurs (Attila Z573ff). In dieser Zeit erhält er außerdem für kleinere Übersetzungsarbeiten, unter anderem für die Polizei, ein wenig Geld (Attila Z628ff). Nachdem Attila seine Anerkennung als Flüchtling erhalten hat, wird ihm bei einem Start-Up in Mannheim ein Minijob angeboten (Attila Z696f). Es folgen weitere Sprachkurse, unter anderem an Instituten der Universität Heidelberg, bis er im Sommer 2018 die Prüfung für das Sprachniveau C1 besteht (Attila Z710ff). Zum Zeitpunkt unseres Interviews arbeitet Attila weiterhin bei dem Mannheimer Start-Up, mit dem er sich stark identifiziert (Attila Z1243). Zudem ist er eine wichtige Ansprechperson für andere geflüchtete Personen aus Syrien und hilft ihnen unter anderem bei Behördengängen. Er ärgert sich dabei über Personen, die sich aus seiner Sicht zu wenig bemühen, ihre Situation aus eigener Kraft zu verbessern (Attila Z1295ff). Im Herbst 2018 leidet Attila unter Depressionen, wobei er den Grund hierfür nicht explizit nennt. Zum Zeitpunkt des Interviews erklärt er, diese weitestgehend überwunden zu haben. Seine Eltern erhalten von ihm regelmäßig finanzielle Unterstützung. Zudem investiert er einen Teil seines Gehalts in Computerspiele und kauft sich einen Computer. Um seinen Aufenthalt in Deutschland langfristig sicherstellen zu können, sieht es Attila als zwingend erforderlich an, zu studieren und sein Englisch zu verbessern (Attila Z1359, Z1055). Thematische Feldanalyse Es werden drei Themen und Themenstränge ausgeführt, die Attilas biographische Erzählungen maßgeblich prägen. Ein bedeutsames und auch unerwartetes Thema, das Attila zweimal ausführlich beschreibt, ist die Rolle von Liebesbeziehungen. In beiden Fällen wird die Beziehung oder deren Anbahnung durch externe Begebenheiten, die er selbst nicht einsehen oder kontrollieren kann, unterbrochen (Attila Z28ff, Z82ff). Welche Bedeutung diese für ihn einnehmen, zeigt sich beispielsweise darin, dass er im Anschluss an die Schilderung jeder zerbrochenen Beziehung von Kampfhandlungen berichtet, die sein Leben ebenfalls signifikant beeinflussten. Die hier an zwei Stellen im Interview vorgenommene Kontrastierung von persönlichen emotionalen Erlebnissen und von außen in ähnlichem Maße auf ihn einwirkendenden gewaltvollen Bedrohungen durch den Bürgerkrieg lässt beide Erfahrungen noch intensiver erscheinen. Attila rückt
5 Heimat im Kontext von Migration und Flucht – Analyseergebnisse und Typenbildung
damit die Brutalität des herannahenden Krieges in den Vordergrund, dessen Betrachtung jedoch im Gegensatz zu seinen emotionalen Enttäuschungen recht nüchtern bleibt. In beiden Fällen ist er selbst jedoch machtlos und kann die Geschehnisse nicht beeinflussen. Im Zuge der Verschärfung von Militär- und Polizeigewalt hat Attila in arRakka, Deir ez-Zor und al-Hassaka negative und auch traumatische Begegnungen mit Polizistinnen und Soldatinnen oder mit Personen, die sich als diese ausgeben (Attila Z140f, Z217ff, Z219ff, Z260f). Bei der Wiedergabe seiner biographischen Erzählung wurden einige dieser Situationen bereits ausgeführt. Gleichzeitig erzählt Attila explizit von sehr positiven Erfahrungen mit Polizistinnen auf seiner Reise durch Europa und seitdem er in Deutschland lebt. So arbeitete er als Übersetzer mit Polizeibeamtinnen zusammen, beschreibt diese meist als sehr nett und betont, dass man ihm als Übersetzer vertraute. Auch als in einer Flüchtlingsunterkunft eine Schlägerei beginnt, die später auch medial ein Echo hervorruft, verständigt er die Polizei und weist den Weg zu der Auseinandersetzung (Attila Z585f, Z676f). In einer anderen Episode seiner Erzählung findet Attila nachts einen Ausweis auf einem Zigarettenautomaten und wartet etwa eine Stunde auf einen Einsatzwagen, der den Ausweis abholen soll (Attila Z1129ff). Attila ist bemüht, zu Polizistinnen in Deutschland einen guten Kontakt zu haben. Zugleich sagt er immer wieder, dass ihn bis heute und insbesondere nachts eine große Furcht vor den Soldatinnen des IS verfolgt (Attila Z234f). Drittens nehmen das Vergessen und das Erinnern in Attilas Erzählungen eine besondere Funktion ein. Die Bemerkung, etwas Bestimmtes nie wieder zu vergessen, oder sich an etwas anderes nicht mehr erinnern zu können, fügt er an vielen Stellen in seine Erzählung ein, um Momenten, Gefühlen oder Menschen eine herausgehobene Bedeutung in seiner Biographie, und damit auch für sein gegenwärtiges Ich, zu verleihen: Die Stimme eines Unterstützers an der türkischen Grenze werde er nie vergessen (Attila Z210); ebenso wenig die Gewalthandlungen in der Stadt ar-Rakka (Attila ZZ1518); oder auch den Tag der Trennung von seiner ersten Freundin (Attila Z39). Das Erinnern bestimmter Episoden wirkt einerseits wie ein durch ihn beabsichtigtes Konservieren kleiner Mosaikteile seines Lebens. Zum anderen erinnert er auch Episoden, weil er sie nicht vergessen kann, wie traumatische Erlebnisse. Das Vergessen scheint dabei die Funktion zu haben, sich auf seine jetzige Lebenssituation einzulassen, auch da eine Rückkehr zu den Eltern oder zu seinen Freundinnen aus der Kindheit nicht möglich ist. So sagt er, es sei ja nicht
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schlecht seine Eltern zu vergessen (Attila Z1581f). In Deutschland, so erklärt er an anderer Stelle, fühle er sich wie neugeboren (Attila Z1061). Beobachtungsperspektive der Migrationsregime Die folgenden Ausführungen beleuchten im Sinne der Migrationsregimeanalyse, wie sich Attila in einem migrationsspezifischen Spannungsfeld von migrationsbedingter Kontextualisierung positioniert und welche Handlungsmöglichkeiten er für sich identifiziert. Attilas Ausführungen lassen erkennen, dass er unter einem großen Anpassungsdruck steht. In Deutschland zu leben, bezeichnet er als goldene Chance (Attila Z1337f). Er konzentriert seine Bemühungen darauf, sozial, beruflich und in Bezug auf seinen Aufenthaltsstatus Fuß zu fassen. Eine wichtige Stütze sind hierbei sein Job und seine Kolleginnen in dem Mannheimer Start-Up. So erklärt er bereits vor unserem Interview auf dem Weg zu einem Café, dass viele seiner Bekannten neidisch auf diesen Job seien. Die Bemerkung eines Kollegen, er sei aufgrund seiner Disziplin und da er Bier trinke typisch Deutsch, vermitteln ihm Gewissheit und sozialen Rückhalt. Gleichzeitig wiegt für ihn die Tatsache, dass er als anerkannter Flüchtling in Deutschland lediglich einen dreijährigen Aufenthalt hat, schwer. So erklärt er im Interview, dass er, um in Deutschland langfristig bleiben zu können, bald ein Studium beginnen müsse. Einen Studienabschluss bezeichnet Attila als »roots«, was verdeutlicht, dass er damit auch einen existenziellen Wert verbindet (Attila Z1451). Zudem forderte ihn das Jobcenter kurz vor unserem Interview auf, seinen Job bei dem Start-Up zu kündigen, da sein monatliches Einkommen zu niedrig sei. Im Gespräch mit seinen Vorgesetzten konnte er dies vorerst aber abwenden. Neben dem rechtlichen Status als Flüchtling und den hiermit in Verbindung stehenden wahrgenommenen Schwierigkeiten spricht er im Interview aber auch von den gesellschaftlichen Positionierungen, die er als geflüchtete Person erlebt. Zudem ärgert er sich, weil Fehlverhalten oder offensichtliches Nichtbemühen einzelner geflüchteter Personen auf alle Geflüchteten, so auch auf ihn, zurückfallen könnte. Attila hingegen ist bemüht keine Fehler zu machen, dies sagt er etwa vier Mal im Interview. Die Einrichtung und Kontinuität seines Lebens in Deutschland sind für ihn ein großer Kraftakt. Dass er Teile seiner Kindheit bereits vergessen hat und auch davon spricht, seine Eltern vergessen zu wollen, verdeutlicht, dass er bemüht ist, sich ein neues Leben und neue Erinnerungen zu schaffen.
5 Heimat im Kontext von Migration und Flucht – Analyseergebnisse und Typenbildung
5.1.7
Kavith – »I still enjoy my decision«
Interviewsituation Kavith und ich treffen uns im September 2018 auf seinen Vorschlag in dem Café einer öffentlichen Bibliothek, in Heidelberg. Aus gemeinsamer Arbeit im Reallabor kennen wir uns und haben zuvor gemeinsam drei biographische Interviews mit geflüchteten Menschen geführt. Kavith ist daher auf die kommenden Stunden vorbereitet. Wir sitzen draußen auf der Terrasse, um ungestört zu sein. Auch als es anfängt zu nieseln, bleiben wir dort sitzen bis zum Ende seiner Haupterzählung. Danach kauft sich Kavith in einem Kiosk Tabak und wir führen das Gespräch in einem nahegelegenen, bei Studentinnen beliebtem, Café fort. Er selbst verbringt dort auch gerne Zeit. Im Café bittet er mich, das Aufnahmegerät zu verdecken, sodass nicht sichtbar ist, dass wir ein Interview führen. Die Stimmung ist entspannt und konzentriert. Biographische Daten und Erzählform Kavith beginnt seine Erzählung mit der Geschichte der Familie väterlicherseits in einer Stadt in Sri Lanka. Auf den Tod von Kaviths Großvater folgte ein langsamer, aber stetiger Ruin der Familie, den diese zu verbergen bemüht war. Seine Tante hingegen bestückte das Haus und den Garten mit allerlei Blumen und Pflanzen und gestaltete dadurch ein bis heute in Kaviths Erinnerung sehr lebendiges Bild des Hauses seiner Großeltern (Kavith Z52ff). Das Elternhaus seiner Mutter befindet sich in direkter Sichtachse zu dem seines Vaters (Kavith Z46). Die Beziehung der beiden wird von den Eltern nicht gebilligt (Kavith Z76f). Kavith beschreibt seine Eltern als ein junges, liebevolles Paar (Kavith Z41). Als seine Mutter mit ihm schwanger wird, heiraten sie, wobei auch diese Hochzeit nicht dem üblichen Brauch entspricht (Kavith Z84ff). In den 1980er Jahren wird Kavith geboren. In seiner Erzählung hebt Kavith besonders seinen Namen hervor, der zum einen in Verbindung steht mit dem seiner Großeltern und zum anderen mit der ihm zugehörigen Kaste, die er allerdings selbst nicht zuordnen kann (Kavith Z26ff). Seine Schwester wird drei Jahre später geboren (Kavith Z130). Kaviths Vater arbeitet in dieser Zeit als sogenannter »Geschäftsmann« und geht verschiedenen und oft wechselnden beruflichen Beschäftigungen nach (Kavith Z97ff). 1988 gibt es einen bewaffneten Jugendaufstand in Sri Lanka, an den sich Kavith aus einer kindlichen Perspektive aufgrund der toten Körper auf seinem Schulweg erinnert (Kavith Z134ff). Ab 1990 besucht Kavith eine Montessori Schule (Kavith Z144ff). Aus der Zeit der frühen Kindheit erinnert sich Kavith
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insbesondere an ein Abendessen im Kreis der Familie: Seine Eltern sind fröhlich und die Atmosphäre festlich. Sein Vater hatte ein Hühnchen mitgebracht, was bedeutete, dass er am Tag einen beruflichen Erfolg erlangt hatte. Seine Mutter bereitete das Tier am Abend für die ganze Familie zu (Kavith Z154ff). Die Hervorhebung dieser Szene scheint in Kaviths Erzählung sinnbildlich für das Ende eines bestimmten Lebensabschnitts zu stehen. Dann wechselt die Familie sehr oft den Wohnsitz. Als sie in das leerstehende Haus der Großeltern ziehen, wird seine Mutter sehr krank. Wenig später, Anfang 1992 stirbt sie (Kavith Z198ff). Im folgenden Jahr gehen sein Vater und die Schwester seiner verstorbenen Mutter eine Beziehung ein (Kavith Z218). Kurz danach bekommen die beiden ein gemeinsames Kind (Kavith Z270). Nach einer weiteren Phase, in der sie noch mehrmals den Wohnort wechseln, zieht die Familie in die Stadt Negombo, wo der Vater einen Job in dem Hotel eines Verwandten antritt (Kavith Z236). Insbesondere die verschiedenen Lebens- und Glaubensausrichtungen in der Stadt beeindrucken Kavith (Kavith Z242). Zwischen 1994 und 2001 verkauft Kavith Zeitungen an Läden (Kavith Z361), auch sein Vater bringt jede Woche eine Zeitung mit nach Hause, die sie gemeinsam an den Sonntagen lesen. Hierdurch erfährt Kavith von aktuellen bedeutsamen politischen und gesellschaftlichen Ereignissen in der Welt. Dies beeinflusst sein Leben, wie er sagt, sehr stark (Kavith Z350, Z363ff). Als Teenager hat Kavith gute Noten, ist Klassensprecher und beliebt bei Lehrerinnen und Schülerinnen, auch wenn er von Auseinandersetzungen mit Lehrerinnen spricht (Kavith Z326ff, Z285). Der familiären Kontrolle widersetzt er sich in dieser Zeit, indem er beispielsweise eine ungewöhnliche Frisur trägt oder während der Schulzeit heimlich eine goldene Armbanduhr anzieht (Kavith Z433ff). In dieser Zeigt hegt er bereits den Wunsch, Künstler zu werden (Kavith Z276). Kurz vor dem Examen, im Alter von etwa 16 Jahren, ertrinkt eine seiner Freundinnen im Meer, als sie in einer großen Gruppe am Strand das baldige Ende der Schulzeit feiern. Fast alle Anwesenden entfliehen der Szene, Kavith selbst geht zur Polizei, um den Vorfall zu melden. Das Dorf kommt zusammen, Gerüchte verbreiten sich, die ihm eine Mitschuld am Tod des Freundes unterstellen. Deswegen verlässt Kavith auf Anraten der Polizei den Ort, um eine Eskalation zu verhindern (Kavith Z444, Z467). Dieses Ereignis ist ein Einschnitt in seinem Leben und markiert auch das Ende eines Abschnitts in der Erzählung seiner Biographie. Er bricht den Kon-
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takt zu einigen Freundinnen ab und beginnt sich aufgrund eines Computerkurses, den sein Vater für ihn organisiert, für Graphic Design zu interessieren (Kavith Z501ff). In dieser Zeit führt er, wie er sagt, seine erste ernste Liebesbeziehung (Kavith Z531ff). Direkt nach dem Examen der High School, er ist 19 Jahre alt, hat Kavith über Kontakte seines Vaters die Möglichkeit, in einer Werbefirma mitzuarbeiten, allerdings zunächst unbezahlt. Er arbeitet sich sehr schnell ein, arbeitet am Wochenende und nachts und nach einem Jahr steigt er zum Studio Manager auf (Kavith Z617). Von dem Gehalt mietet er sich seine erste eigene Wohnung und pierct seine Ohren, was er als kulturellen Widerstand gegen seine Eltern versteht (Kavith Z640). Da er parallel zu dieser Tätigkeit studiert, arbeitet er fortan nachts und besucht tagsüber die Universität (Kavith Z629). Hier engagiert er sich unter anderem in linkspolitischen Studierendengruppen (Kavith 697ff). Als er 2005 einen Job als Designer in einer Werbeagentur annimmt, steigt er bald zum Senior Art Director auf (Kavith Z672ff). Er verdient in dieser Zeit sehr viel Geld und lebt verschwenderisch. Als er bemerkt, dass dieser Lebensstil seiner linkspolitischen Haltung widerspricht, erlebt er eine Krise und auch seine damalige Beziehung endet (Kavith Z713ff). Er beschließt, seinen Job aufzugeben und im Norden des Landes als Fotojournalist zu arbeiten (Kavith Z720ff). Zwischen 2007 und 2009 dokumentiert Kavith im Norden Sri Lankas die Auswirkungen des Bürgerkriegs. 2009 verlässt er das Kriegsgebiet aufgrund der gefährlichen Lage. Die vergangenen gewaltvollen Ereignisse wirken in ihm nach, da er beispielsweise von Schlafschwierigkeiten spricht. Als die Regierung Sri Lankas den Sieg erklärt, fühlt er sich deprimiert und engagiert sich nicht mehr offen politisch, sondern schreibt einen politischen Blog (Kavith Z775ff). 2010 wird Kavith nach Berlin eingeladen, um über die politische Situation in Sri Lanka, auch vor europäischen Vertreterinnen, zu berichten. Aus diesem Treffen entsteht die Idee eine Webseite zu führen, die kontroverse politische Ereignisse in Sri Lanka dokumentiert. Kavith geht zurück in den Norden des Landes und setzt seine Arbeit fort, die nun aufgrund der in Deutschland geschlossenen Verbindungen bezahlt wird (Kavith Z845). Nachdem er und weitere Kolleginnen 2010 über einen Hungerstreik politischer Gefangener berichten und dies auch in englischsprachigen Medien in Europa erscheint, wird er Anfang Oktober 2011 von mehreren Männern des Paramilitärs in seiner Wohnung in Sri Lanka mit einer Waffe bedroht (Kavith Z923ff). Er taucht einige Zeit bei verschiedenen Personen unter. Nach zwei
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Wochen normalisiert er sein Verhalten und entgeht im gleichen Monat nur knapp einer Entführung (Kavith Z1036ff). Auf den Rat einiger Freundinnen beschließt er, das Land zu verlassen. Mit der Unterstützung eines befreundeten Anwalts gelingt ihm die Ausreise nach Malaysia für ein dreimonatiges Praktikum (Kavith Z1070ff). In Malaysia führt er seine politische Arbeit fort und veröffentlicht diese unter anderem in seinem Blog. Aufgrund eines weiteren Artikels, in dem er brisante Informationen über die Regierung Sri Lankas veröffentlicht, raten ihm Bekannte aus Deutschland und der Schweiz, Malaysia zu verlassen, da seine Sicherheit dort nicht mehr gewährleistet sei (Kavith 1151ff). Kavith verlässt Malaysia am nächsten Tag und reist nach Kathmandu, wo er andere im Exil lebende Journalistinnen trifft. Er wird innerhalb kurzer Zeit als Flüchtling anerkannt und bleibt insgesamt eineinhalb Jahre dort. In einer Gruppe von sechs Personen kaufen sie ein Haus, haben guten Kontakt zu den Nachbarinnen und Maoistinnen und Kavith engagiert sich in der Kunstszene Kathmandus (Kavith Z1200ff, 1217ff, 1229ff). Zudem lernt er einige europäische Touristinnen aus Deutschland und Spanien kennen und freundet sich gut mit ihnen an. Im Februar 2014 verlassen diese Kathmandu, was auch in ihm den Wunsch weckt, nicht länger zu bleiben (Kavith Z1263). Nach visumsbedingten Umwegen über Malaysia und einer mehrmonatigen Reise durch Kambodscha arbeitet er für ein Media House in Kambodscha. Aufgrund der Brisanz einiger Artikel wird sein Kollege bei einem Anschlag fast tödlich verletzt (Kavith Z1392ff). Über Nacht wird daraufhin auch seine Media ID ungültig und damit ist sein Aufenthalt beendet. Er soll nach Thailand deportiert werden, damit die dortige Sri-Lankische Botschaft seinen Fall übernehmen kann. Eine Nichtregierungsorganisation nimmt daraufhin Kontakt zu verschiedenen Botschaften auf. Die deutsche Botschaft akzeptiert, ihn aufzunehmen und 2014 reist Kavith nach Deutschland ein (Kavith Z1404ff, Z1420ff). Da Kavith seine Bekannten aus der Zeit in Kathmandu in Berlin nicht antrifft, beantragt er Asyl in Karlsruhe (Kavith Z1461ff). Er selbst sagt, er wollte aufgrund der dortigen Ausländerinnenfeindlichkeit verhindern, im Osten Deutschlands das Asylverfahren zu durchlaufen. Im selben Monat wird er in eine Unterkunft bei Freiburg transferiert, wo er in einer Flüchtlingsunterkunft mit insgesamt etwa 150 Personen lebt. Er erinnert sich positiv an diese Zeit. Gleichzeitig macht er auch vielfältige diskriminierende Erfahrungen durch die stetige Positionierung und Andersbehandlung als Flüchtling. Er nimmt den Kontakt zu einigen Personen, die er in Kathmandu
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kennengelernt hat, wieder auf (Kavith Z1657ff). Zudem engagiert er sich vermehrt in der linkspolitischen Szene in Berlin und Freiburg und veranstaltet dort Foto- und Kunstausstellungen (Kavith Z1680). Als Kavith nach Heidelberg zieht, ist er ebenfalls in der dortigen politischen und kreativen Szene aktiv. Später heiratet er Ellen, die er während seines Aufenthalts in Kathmandu kennengelernt hatte und die in Heidelberg lebt. 2018 findet sein Interview für das Asylverfahren statt, wohin ihn ein guter Freund begleitet (Kavith Z1571ff). Zum Zeitpunkt des Interviews plant Kavith mit seiner Frau eine Reise nach Nepal und Indien, in dem Zuge möchte er auch seinen Vater treffen und ein künstlerisches Fotoprojekt vorbereiten. Kavith macht im Interview sehr deutlich, dass er die Entscheidung getroffen hat, in Deutschland zu leben, zudem planen er und seine Frau den Umzug nach Berlin (Kavith Z1788). Thematische Feldanalyse Kavith organisiert die Erzählung seines Lebens in Phasen, die insbesondere zu Beginn des Interviews eindeutig voneinander abgrenzbar sind. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass sich Kavith auf das Gespräch vorbereitete. Jede Phase zeichnet sich dadurch aus, dass Kavith Geschehnisse, Erfahrungen und Aktivitäten darstellt, die heute für ihn typisch sind. Den Abschluss jeder Phase bilden einschneidende Momente, oftmals Lebenskrisen, die einen Wandel hervorrufen. Der Großteil seiner Erzählung erhält so eine klare und logische Struktur. Sie lässt zudem Rückschlüsse darauf zu, welche Aspekte Kavith als relevant und prägend für sein heutiges Leben empfindet und mir in diesem Rahmen mitteilen will. Die jeweiligen Themen tauchen dabei auch phasenübergreifend immer wieder auf: So nehmen Kunst, Ästhetik und sinnliche Erfahrungen bereits ab der ersten Sequenz eine wichtige Bedeutung ein. Sie sind Bestandteil seiner frühen Kindheitserinnerungen und eingebettet in die familiären und kulturellen Traditionen (Kavith 52ff). Heute äußert sich diese Prägung beispielsweise in seiner Vorliebe für das Zubereiten von Essen sowie in der Kunst und Fotographie. Auch die Erwähnung politischer Ereignisse ist Bestandteil seiner Kindheitserzählungen, jedoch zunächst aus einer kindlichen Perspektive. Im Verlauf der Erzählung werden die Schilderungen politischer Geschehnisse, seine sich stückweise entwickelnde linkspolitische Positionierung und schließlich auch sein eigenes politisches Handeln immer wichtiger. Auslöser hierfür ist die Kritik eines Studienfreundes in einer linkspolitischen Studierendengruppe, der Kavith für sein übermäßiges Konsumverhalten kritisiert (Kavith Z713). Mit Beginn seiner Arbeit als Foto-
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journalist, für die er seine gut bezahlte Anstellung als Senior Art Director aufgibt, gewinnen die Beschreibung politischer Machtverhältnisse sowie die Themen Diskriminierung und Rassismus an Bedeutung. Insbesondere letztere bezieht er zunächst auf die Lage der Tamilen in Sri Lanka, später erklärt er in Deutschland nun selbst Angehöriger einer Minderheit zu sein. Neben seinen verschiedenen politischen Aktivitäten als Fotojournalist, die ihn zunehmend in Gefahr bringen, nehmen seine vielen Ortswechsel in verschiedenen Ländern ab seiner Flucht aus Sri Lanka einen großen Raum ein. Er reist nach Malaysia, um einer drohenden Entführung zu entgehen. Da dann eine erneute Deportation droht, lebt er eineinhalb Jahre im Exil in Nepal, nach einem kurzen Aufenthalt in Malaysia lebt und arbeitet er für eine Zeit in Kambodscha und erhält dann die Gelegenheit, nach Deutschland als Flüchtling zu immigrieren. In dieser Form der Erzählung offenbart sich Kaviths Selbstverständnis, Sammler und Träger unterschiedlicher Erfahrungen zu sein, die ihn zu dem machen, der er heute ist. Dies ist auch leiblich repräsentiert: Er trägt Narben, Piercings, Tattoos und probiert immer wieder andere Frisuren. Zum Zeitpunkt des Interviews trägt Kavith seit einiger Zeit eine kreisrunde Brille, die ihm einerseits einen intellektuellen, aber im Zusammenspiel mit seiner äußeren Erscheinung auch mehrdeutigen und nicht klar zuordenbaren Ausdruck verleiht. Beobachtungsperspektive der Migrationsregime Kern von Kaviths politischem und künstlerischem Wirken, so offenbart sich in seiner Erzählung, ist das Offenlegen von und das Aufbegehren gegen politische und gesellschaftliche Machtverhältnisse und Missstände. In Deutschland adressieren seine Aktivitäten dabei nicht allein den deutschsprachigen Raum, sondern auch globale Problemlagen. Bei seiner Ankunft in Deutschland macht Kavith aber eine initiale Erfahrung, die er in mehreren Szenen erzählt, sie prägen die Art seines politischen Handelns und Wirkens möglicherweise seit seiner Ankunft in Deutschland: Kavith beantragt Asyl in Karlsruhe und stellt fest, dass eine afrikanische Person in der Schlange zur Registrierung im Gegensatz zu ihm ohne Grund unfreundlich behandelt wird (Kavith Z1469). Er realisiert zudem, dass man für seinen Fluchtgrund beziehungsweise seine Person kein Interesse zeigt. Stattdessen nimmt man ihm bei seiner Anmeldung den Pass ab und fordert ihn auf, Deutsch zu sprechen, wodurch er sich ausgeliefert und bedeutungslos fühlt (Kavith Z1501, Z1515ff). In anderen Beschreibungen von seiner ersten Zeit in der Flüchtlingsunterkunft betont er zudem ein Gefühl
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der Abgeschiedenheit und Exklusion. Ebenfalls am ersten Tag wird Kavith von Tamilen abgewiesen, als er mit diesen den Schlafraum teilen will. Man hält ihn möglicherweise für einen singhalesischen Spion (Kavith Z1506). Diese und andere sehr detailliert geschilderten ersten Erfahrungen in Deutschland sind für Kavith eine große Enttäuschung und konkreter Antrieb für die Fortsetzung seiner künstlerischen und politischen Aktivitäten. Eigene rechtlich bindende Strukturen und Restriktionen scheinen für Kavith zum Zeitpunkt des Interviews eine untergeordnete Rolle zu spielen, vielmehr positioniert er sich aktiv gegen Diskriminierung, Rassismus und postkoloniale Strukturen. So engagiert er sich im Flüchtlingsprotest in Freiburg, Heidelberg und Berlin, er dokumentiert seine Lebensumstände in der Unterkunft fotographisch und künstlerisch, er erstellt politisches Material im linkspolitischen Milieu, zudem konzipiert er mehrere Ausstellungen, die sich unter anderem mit den oben genannten Themen auseinandersetzen. Darüber wendet Kavith Strategien an, um sich, auch auf spöttische Weise, klaren Kategorisierungen und Fremdbestimmungen zu entziehen. Im Interview setzt sich Kavith zudem kritisch mit der Lebensweise in westlichen Demokratien und im globalen Süden auseinander. Er erklärt, dass er trotz aller Kritik die Vorteile seiner gegenwärtigen Lebenssituation und die Möglichkeiten der Selbstverwirklichung schätzt.
5.1.8
Yochanan – »Me being me, I continue«
Interviewsituation Yochanan und ich kennen uns nur flüchtig, aber wir sind beide im Kreis von Come Together und Living & Giving in Heidelberg engagiert. Zuletzt hatte ich einen Vortrag Yochanans bei Come Together angehört, zudem unterstützte er Ende 2016 eine Veranstaltung des Reallaborprojekts. Ich kontaktiere Yochanan im Herbst 2018 über ein soziales Netzwerk und er erklärt sich gleich bereit, ein Interview zu führen. Die Terminfindung gestaltet sich zunächst schwierig, da Yochanan nicht in Heidelberg lebt und aufgrund seiner Ausbildung und diverser anderer Termine im Rahmen seines politischen Engagements sehr beschäftigt ist. Wir verabreden uns im November 2018 in Heidelberg, da Yochanan am folgenden Tag einen Termin in Frankfurt hat. Es ist ein Freitagabend und da ich befürchte, keinen ruhigen Ort in der Stadt zu finden, hole ich ihn vom Bahnhof ab und wir fahren mit der Straßenbahn zu meinem Büro. Yochanan kommt direkt von der Arbeit, er macht zum Zeitpunkt des Gesprächs eine Ausbildung zum Erzieher in einer kleinen Gemeinde in Baden-Württemberg. Auf dem Weg vom Bahnhof zu meinem Büro
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spricht er sehr eindrücklich von den gegenwärtigen und vergangenen politischen Geschehnissen in Gambia. Dabei hebt er seinen Einfluss auf die Politik in Gambia über die sozialen Medien hervor. Vor unserem Treffen hatte er mir Informationen zu einer Konferenz geschickt, die sich mit den politischen und menschenrechtlichen Bedingungen in Gambia befasste, er war dort als Redner aufgetreten. Im Interview spricht er stellenweise gefühlsbetont, er hebt die Stimme und gestikuliert. Biographische Daten und Erzählform Die Familie Yochanans lebt in Gambia von der Landwirtschaft und ist tief religiös. Yochanan wird 1988 geboren und durchläuft die Schule bis zum College. Sein Vater ist dagegen, dass er die Schule besucht, sondern fordert, dass er ebenfalls in der Landwirtschaft arbeitet und die Familie unterstützt (Yochanan Z19, Z822). Yochanan erklärt, dass er deshalb schon ab dem Alter von elf Jahren beginnt, sich selbst zu fördern. So besucht er die Schule und verdient gleichzeitig das nötige Schulgeld (Yochanan Z825ff). Nach der Schule studiert Yochanan Afrikanische Geschichte und arbeitet von 2009 bis 2014 als Lehrer. Während seiner Ausbildung arbeitet er in unterschiedlichen Teilen des Landes und lernt so alle Regionen Gambias kennen. Als ausgebildeter Lehrer ist er schließlich an einer der größten Schulen Gambias angestellt und unterrichtet am Tag etwa 150 Schülerinnen (Yochanan Z40ff). 2013 lernt Yochanan mehrere europäische Touristinnen kennen und gerät in Kontakt mit einer Nichtregierungsorganisation (NGO) (Yochanan Z89). Diese schätzen seine Arbeit und Vertrauenswürdigkeit, wie er sagt, und ab 2013 arbeitet er mit ihnen zusammen. Die NGO überweist Yochanan monatlich etwa 300€, von diesem Geld unterstützt er insgesamt 125 Kinder an seiner Schule, indem er sie mit Lernmitteln versorgt (Yochanan Z106ff). 2014 erweitert sich das Projekt, es werden in insgesamt sieben Dörfern Trinkwassersysteme installiert. Auch Yochanan ist daran beteiligt und wird nun für seine Arbeit mit etwa 150€ im Monat entlohnt. Nebenbei arbeitet er weiterhin als Lehrer (Yochanan Z135). Da er durch seine Arbeit viele Missstände im politischen System beobachtet, beginnt er sich in einer Oppositionspartei gegen den damals regierenden Diktator in Gambia zu engagieren (Yochanan Z163ff). Wegen politischer Aktivitäten wird er im Alltag offen von der Polizei attackiert und sabotiert (Yochanan 168ff).
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Anfang Dezember 2014 lehrt er seine Schülerinnen die Themen Demokratie und Redefreiheit und klärt über die Problemlagen unter dem Diktator auf. Er öffnet ihnen damit, wie er sagt, die Augen (Yochanan Z188ff). Ein Schüler berichtet seinem Vater, eine politische Führungspersönlichkeit, nach der Schule begeistert vom Unterricht. Daraufhin wird Yochanan am nächsten Tag verhaftet. Nach drei Wochen schwerer Folter und Gefangenschaft erhält er einen Gerichtstermin für Anfang Januar und wird in der Zwischenzeit freigelassen. Er nutzt die Chance und verlässt direkt nach seiner Freilassung das Land (Yochanan Z273ff). Zunächst reist er in den Senegal, da er sich dort aber nicht in Sicherheit fühlen kann, reist er auf den Rat eines Freundes über Mali weiter nach Burkina Faso. Da er die Lage dort aber ebenfalls nicht für stabil hält, führt er die Reise nach Libyen fort. Hier will er Geld verdienen, um danach in Ghana oder Südafrika Fuß zu fassen (Yochanan Z293ff, Z308f). In Libyen sieht er sich schlechten und entwürdigenden Lebensbedingungen gegenüber, zugleich wird ihm bald klar, dass er das Land nicht ohne Weiteres durch die Sahara wieder verlassen kann (Yochanan Z313, Z898ff). Im ersten Monat lernt Yochanan einen Araber kennen, dem er hilft, sein Haus zu streichen (Yochanan 337ff). Für eine andere Arbeit im Supermarkt wird er mehrere Monate lang nicht vergütet. Als er dies einfordert, erklärt ihm sein Arbeitgeber, dass er ein Sklave sei und keinen Lohn erhalte. Als Yochanan daraufhin nicht mehr bei der Arbeit erscheint, bezichtigt ihn der Arbeitgeber des Diebstahls, worauf er ins Gefängnis kommt (Yochanan Z318ff). Erst der Araber aus seiner Anfangszeit in Libyen setzt sich für seine Freilassung ein, als er durch Zufall von Yochanans Verhaftung erfährt. Er rät Yochanan zu versuchen, Libyen über das Mittelmeer zu verlassen. Er würde sonst entweder in Libyen, in der Wüste oder aber auf dem Mittelmeer früher oder später sterben (Yochanan Z360ff). Yochanan entscheidet sich für den Weg über das Mittelmeer, die Fahrt bezahlt der Araber (Yochanan Z369ff). Auf See wird sein Boot von einem Rettungsschiff in Sicherheit gebracht und er erreicht Europa Ende Dezember 2015 (Yochanan 387f). Von einem großen Flüchtlingscamp in Italien wird er wenig später in ein Dorf bei Mailand transferiert und wird insgesamt acht Monate dort bleiben. Als die Bürgermeisterin des Dorfes für die Neuankömmlinge eine Rede hält und erklärt, dass viele den Geflüchteten skeptisch gegenüberstehen, sagt Yochanan, dass sie als Flüchtlinge einen Unterschied machen werden (Yochanan Z410). Wenig später spricht er mit der Bürgermeisterin persönlich und schlägt vor, dass die Flüchtlinge in der Unterkunft die städtische Müllabfuhr bei ihrer Arbeit
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unterstützen könnten, um so mit den Bewohnerinnen des Dorfes in einen guten Kontakt zu treten. Das Projekt läuft etwa drei Monate (Yochanan Z474). Ebenfalls in Absprache mit der Bürgermeisterin initiiert Yochanan ein Gartenprojekt, bei dem geflüchtete Menschen, die in ihren Herkunftsländern in der Landwirtschaft tätig waren, und pensionierte Gärtnerinnen zusammenarbeiten sollen. Auch dieses Projekt ist ein Erfolg und existiert, wie er sagt, bis heute (Yochanan Z484ff). Ein weiteres Projekt wird durch die Bürgermeisterin initiiert: Unter professioneller Anleitung studieren geflüchtete Personen aus der Unterkunft eine italienische Oper ein (Yochanan Z559ff). Im Rahmen dieses Projekts knüpft Yochanan Kontakt zu mehreren Italienerinnen und hält Vorträge an Schulen über die Geschichte Afrikas (Yochanan Z562ff). Trotzdem beschließt er, Italien nach acht Monaten zu verlassen und nach Deutschland zu reisen, wo er mehr Perspektiven für sich sieht. Die Entscheidung für Deutschland fällt aus taktischen Erwägungen (Yochanan Z950). So sieht Yochanan dort die geeigneten Voraussetzungen, sich zu integrieren und seine Aktivitäten als Menschenrechtsaktivist fortzusetzen (Yochanan Z928ff). Über die Schweiz gelangt er in Deutschland zunächst nach Karlsruhe und später nach Heidelberg. In Heidelberg lernt er die Initiative Living & Giving kennen und deren Projekt Come Together, welches er bald danach in neuer Weise ausrichten möchte. Zudem organisiert er mit anderen Personen aus Heidelberg Sprachkurse für geflüchtete Menschen (Yochanan Z619, Z673ff). Im Winter 2016 wird er in eine Flüchtlingsunterkunft in einem Dorf im Schwarzwald transferiert. Nach kurzer Zeit lernt er dort den Mitarbeiter einer Wohlfahrtsorganisation kennen und gemeinsam erstellen sie unter anderem Lebensläufe für alle Geflüchteten in der Unterkunft. Er erhält im Zuge dessen auch ein eigenes Büro, was er im Interview laut und ausdrucksvoll äußert (Yochanan Z718, Z724ff). Durch sein Engagement auch außerhalb der Unterkunft lernt er Mitglieder der Partei Bündnis 90/Die Grünen kennen und diskutiert mit ihnen beispielsweise neue Formen eines humanitären Asylsystems (Yochanan Z745ff). Er wird danach in eine Stadt bei Stuttgart transferiert, wo er wieder Projekte anstößt, ohne im Interview näher darauf einzugehen. Der Bürgermeister setzt sich dafür ein, dass er eine Ausbildung zum Erzieher machen kann, die er im September 2017 beginnt. Etwa ein Jahr später, im Sommer 2018, findet die Anhörung zu seinem Asylverfahren statt, auf dessen Ergebnis er zum Zeitpunkt unseres Interviews noch wartet (Yochanan Z798). Während er durch die anderen Auszubildenden in seiner Klasse sowohl Rassismus- als auch Sexismuserfahrungen macht, ist er bei Eltern und Kin-
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dern, wie er sagt, sehr beliebt und auch vom Bürgermeister selbst erhält er Unterstützung (Yochanan Z1479ff, Z1520ff, Z1560). Neben seiner Ausbildung ist er auch politisch aktiv: Als Redner und Organisator von politischen Veranstaltungen diskutiert er vornehmlich Themen der afrikanischen beziehungsweise gambischen Diaspora und bezeichnet sich selbst als Menschenrechtsaktivist (Yochanan Z1344, Z1359). Andere geflüchtete Personen verschiedener Nationalitäten berät er in Fragen ihrer rechtlichen Aufenthaltssituationen und auch deutschen Personen in binationalen Liebesbeziehungen gibt er Ratschläge (Yochanan Z957, Z1070ff). Thematische Feldanalyse Die biographische Erzählung Yochanans wirkt überwiegend wie eine Aneinanderreihung in sich geschlossener Episoden. Verbindendes Element so gut wir aller Erzählabschnitte ist Yochanans Selbstdarstellung als aktiver, gestaltender und erfolgreicher Akteur seines eigenen Lebens. Er ist dabei immer bemüht seine eigene Situation, insbesondere aber die Lebenslagen und Probleme anderer Menschen, zu verbessern. Seine Erzählung weist dabei kaum beschreibende beziehungsweise überbrückende Abschnitte auf, sondern stets Darstellungen seiner Aktivitäten. So beginnt er die Geschichte seines Lebens nicht mit der Schilderung armer Verhältnisse, in denen er als Kind einer Bauernfamilie in Gambia aufwuchs, sondern stellt sich in der Funktion seines Berufs vor, als Lehrer (Yochanan Z13). Als ich ihn später im Interview zu seiner Kindheit befrage, erzählt er nicht von den Lebensbedingungen aus einer kindlichen Perspektive, vielmehr erklärt Yochanan, dass er bereits ab dem Alter von elf Jahren mental sowie finanziell selbstständig war (Yochanan Z835ff). Diese Haltung und Selbstdarstellung zieht sich als Leitthema durch seine gesamte biographische Erzählung. Die Formel »me being me«, als dessen beispielhafter Ausdruck, taucht im Interview immerhin zehn Mal auf (ausgenommen meiner direkten Frage nach der Bedeutung dieser Worte) (zum Beispiel Yochanan Z404, Z1227, Z1404). Wörtlich erklärt Yochanan seine Handlung mit den Worten »me being me« im Interview zum ersten Mal, als er seine Aktivitäten in der Flüchtlingsunterkunft in dem Dorf bei Mailand schildert. »Me being me« bedeutet, dass Yochanan immer genau das tut, was ihm gefällt und was ihn seinen Zielen und Idealen näherbringt. Er beabsichtigt, Menschen weiter zu entwickeln und ihre Denkweisen zu verändern (Yochanan Z943f). Darüber hinaus fungiert er an vielen Stellen seiner Lebensgeschichte als Sprachrohr für geflüchtete Menschen sowie als Vermittler zwischen diesen und Politikerinnen und anderen Entscheidungsträgerinnen.
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Beobachtungsperspektive der Migrationsregime Aus der Perspektive der Migrationsregime wird deutlich, dass Yochanan rechtlichen Rahmenbedingungen und darin erlebten Restriktionen, die aktiven und autonomen Entscheidungen im Bereich Wohnen und Arbeiten entgegen stehen, mit Elan und Eigeninitiative begegnet. In seiner Erzählung werden die verschiedenen Orte, denen er als Asylsuchender im Laufe des Asylverfahrens zugewiesen wird, zu Bühnen seines Handelns und Wirkens. In seinen vielfältigen, bereits dargestellten Tätigkeiten macht er sich im Handlungsmodus »me being me« unabhängig von auferlegten Beschränkungen, wie die immer neuen Transfers in andere Gemeinden oder Diskriminierungserfahrungen. Er begründet sein Tun mit seiner Absicht, seine persönlichen Ziele und Bedürfnisse zu verwirklichen. Zum Zeitpunkt des Interviews arbeitet Yochanan als Auszubildender, wodurch auch sein Aufenthaltsstatus vorerst gesichert ist. Im Alltag macht Yochanan diverse Rassismuserfahrungen, auf die er erst zu einem späteren Zeitpunkt und auf Nachfrage zu sprechen kommt. In seiner Ausbildungsklasse wird er aufgrund seiner Hautfarbe diskriminiert, ist zudem mit 30 Jahren einer der ältesten Auszubildenden und einer der wenigen Männer (Yochanan Z1479ff). Im Alltag erlebt er ebenfalls rassistische Beschimpfungen. Yochanan räsoniert im Interview, dass ein situatives Wehren und Aufbegehren gegen Diskriminierung und Rassismus aber eher negative Folgen für ihn hätte, als für die Verursacherinnen. Er ist hingegen bemüht, derartige Erfahrungen nicht persönlich zu nehmen, sondern mit Blick auf seine persönlichen Ziele daran zu wachsen. Er erklärt weiter, es gebe überall gute und böse Menschen, sogar in Gambia (Yochanan Z997ff). Yochanan erklärt, dass es in jedem Land Gesetze gebe, die nicht immer fair sind. Man müsse aber lernen und Taktiken anwenden, um mit diesen auszukommen. In Italien, so Yochanan, gebe es weniger strenge Gesetze und Regularien für Flüchtlinge als in Deutschland. In Deutschland hingegen finde man aber sehr viel schneller Anschluss und könne auf einen fairen Rechtsprozess vertrauen (Yochanan Z961ff). Die Entscheidung, in Deutschland zu leben, hat Yochanan bewusst getroffen. Sie ist Teil seiner Strategie in der er, ungeachtet der diversen Schwierigkeiten, die Möglichkeit sieht, seine Ziele umzusetzen. Yochanan verdeutlicht hierin seinen produktiven, autonomen und strategischen Umgang mit einer rechtlich in weiten Teilen fremdbestimmten Lebenslage.
5 Heimat im Kontext von Migration und Flucht – Analyseergebnisse und Typenbildung
5.2
Semantische Facetten von Heimat und ihre Aushandlungen im Kontext von Migration und Flucht
Ausgehend von den in Kapitel 3. aus der Theorie abgeleiteten semantischen Facetten, die Heimat als subjektives und individuelles Gefühl verstehen, erfolgt nun die Darstellung der Ergebnisse aus der Feinanalyse der Interviews. Jedes Unterkapitel führt zunächst die Ergebnisse der Analyse zusammen. Danach folgt die Feinanalyse ausgewählter Sequenzen aus den jeweiligen Interviews und im Anschluss daran die fallübergreifende Zusammenfassung der Erkenntnisse. Die mit der Analyseperspektive der Migrationsregime gezogenen Schlüsse fließen in die Deutung der Heimatsemantiken ein.
5.2.1
Heimat als sozialräumliche Einheit im direkten Lebenszusammenhang
Als sozialräumliche Einheit im gegenwärtigen unmittelbaren Lebenszusammenhang beschreiben die Interviewten Heimat als Ort, der Verlässlichkeit und Sicherheit bietet, der geprägt ist von vertrauensvollen und unterstützenden Interaktionen mit Menschen, politischen und kreativen Milieus. Heimat ergibt sich auch in der Dialektik eines gewesenen, unzureichenden Lebenszusammenhangs und einem gegenwärtigen Zustand, der als ganzheitlich, zufriedenstellend und gestaltbar wahrgenommen wird. Das umgekehrte Verständnis käme der Vorstellung von Heimat als Sehnsuchtsbegriff nahe. Heimat gewinnt insbesondere an Bedeutung, da sie Ergebnis autonomer Entscheidungen ist und auch gegenwärtig auf sie Einfluss genommen werden kann. Dargestellt und feinanalytisch interpretiert werden Sequenzen aus drei Interviews, die Heimat als sozialräumliche Einheit in der aktuellen Lebenssituation begreifen. Besondere Beachtung findet dabei die Frage danach, welche Rolle individuelle und subjektive Aushandlungen mit Macht- und Kontrollinstanzen in diesen Ausgestaltungen von Heimat4 spielen. Lavins jetzige Lebenssituation lässt laut seiner eigenen Aussage (fast) nichts zu wünschen übrig. Er begründet dies, indem er erklärt, er habe eine Wohnung, einen Job, ein Fahrrad und er studiere. Damit zählt er Notwendigkeiten auf, die im Leben eines Studierenden in Heidelberg ausreichend 4
Der Begriff Heimat wird in Kapitel 5. in Anführungsstrichen gesetzt, wenn die Nennung nicht im Sinne des hier entwickelten Analysekonzepts erfolgt, sondern beispielsweise während des Interviews als Begriff genannt wird.
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sind. Grundlegende Bedürfnisse, die ihm auch elementare Sicherheiten verschaffen, sind also befriedigt. Für mich selbst würde ich gar nichts wünschen, weil ich glaube, ich habe fast das Beste, was ich je haben könnte. Und naja, also ich habe eine Wohnung, einen Job und mein Studium. Was kann ich mir wünschen, ein Auto brauche ich ja nicht, ich habe auch mein Fahrrad. Was ich mir wünschen könnte- viel Geld brauche ich auch gar nicht, was ich gerade habe, reicht mir. Was ich mir wünschen könnte, vielleicht dass ich irgendwie meine Familie nachholen kann nach Deutschland beziehungsweise zu einem sicheren Platz, dass sie halt nicht mehr in Damaskus bleiben. Vor allem, ich habe ja zwei Geschwister, zwei Brüder die jünger als ich sind. Ja und die werden langsam auch größer und es wird für sie auch gefährlicher. Die machen mir Sorgen. (Lavin Z640-Z645) Mit dem ersten Satz, dass er für sich selbst nichts wünsche, macht Lavin zu Beginn seiner Antwort deutlich, dass er seine Wünsche und Bedürfnisse in Relation setzt zu denen seiner Brüder. Während sich seine erste Aussage also auf sein gegenwärtiges eigenes Leben in Heidelberg bezieht, betrachtet er dieses nicht unabhängig von der Lebenssituation seiner Familie, die nach wie vor in Damaskus lebt und kein gefahrloses Leben führen kann. Für Lavin verwirklicht sich Heimat als sozialräumliche Einheit, da er sein Leben gegenwärtig als sicher und verlässlich einstuft. Eine ähnliche Schlussfolgerung kann in Kapitel 5.2.6. gezogen werden: Lavins Kindsheimat erfährt Bedeutung, aufgrund der dort erlebten Sicherheit, Identifikationsmöglichkeiten und der gelebten Autonomie in einer politisch instabilen Situation, allerdings ist diese räumlich und zeitlich begrenzt. Als anerkannter syrischer Flüchtling und Student muss Lavin keine Ausweisung oder Ähnliches fürchten, Sicherheit und Freiheit bleiben ihm auch langfristig erhalten. Lavins Heimatgefühl schließt aber auch das Befinden und die Zukunftschancen seiner Familie ein, insbesondere seiner heranwachsenden Brüder. Sicherheit und Zukunftschancen sind für diese nicht gewiss. Die folgende Sequenz ist Teil der letzten Interviewphase mit Lavin und daher gesprächsartig strukturiert. Lavin legt dar, welche Wichtigkeit für ihn das Beherrschen der deutschen Sprache hat und wie dies in Zusammenhang mit der Wahrnehmung Heidelbergs als Ort steht. Auf Nachfrage geht Lavin außerdem auf konkrete Orte ein, an die er besondere Erinnerungen hat. Er weitet diese Ausführungen auf die Gesamtstadt aus, indem er anspricht, welche Stadtteile in ihm Erinnerungen wecken oder bedeutsam sind. Er »kartiert« dabei die Stadt und unterscheidet zwischen Orten, an denen er bereits
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selbst etwas erlebt hat und solchen, in denen er sich lediglich aufhält, um beispielsweise Freundinnen zu besuchen. Lavin: […] ich habe gesagt, dass es viele Plätze gibt, die mich an Erinnerungen erinnern. Und diese Plätze würden einfach nur Sehenswürdigkeiten sein, falls ich die Sprache nicht beherrsche. Zum Beispiel die Altstadt, die Grabengasse zum Beispiel. Das wäre einfach nur eine schöne Gasse. So ist das anders. Wenn ich die Sprache halt nicht gut beherrschen könnte. Und die Geschäfte dort kenne ich ziemlich gut und ich rede mit denen und so. (.) Ich finde, ohne die Sprache zu beherrschen, kann man halt einfach schwierig sagen, was hier so die Heimat ist. I1: Was sind denn so Punkte in der Stadt oder Orte, an die du spezielle Erinnerungen hast? Lavin: Hans-Thoma-Platz […]. In Handschuhsheim. (.) Der ganze Berg bis zur Thingstätte. Philosophenweg auch, die Grabengasse. I1: Was ist in der Grabengasse passiert? Lavin: (lacht leicht). Nichts Besonderes. Wir haben dort einmal geschlafen. I1: In der Gasse? Okay. Lavin: Also nachts. (.) Die Statue. Es gibt gegenüber vom DKFZ, auf der Berliner Straße, so eine kleine- so eine ziemlich große Statue. Kennst du die? I1: Ich glaube nicht. Lavin: Da zum Beispiel. […]. (.) Auf jeden Fall mein altes Zuhause so, wo ich bei der Gastfamilie gewohnt habe, die Altstadt insgesamt, weil ich sehr oft dort bin. […] Ein bisschen südlich bin ich nicht so oft. Also Weststadt, Südstadt und so weiter. Rohrbach. Ich kenne mich dort gut aus, aber es ist eben nur, dass ich Freunde besuchen gehe oder so etwas. (Lavin Z809-Z836)
Lavin stellt die Sprache Deutsch im obigen Ausschnitt als Medium dar, durch das er Zugang zu bedeutungsvollen Erinnerungen und Erfahrungen mit Freundinnen erhält. Diese sind auch im Stadtraum verortet. Ohne das Verstehen der Sprache Deutsch wären Orte wie der Philosophenweg nur Sehenswürdigkeiten. Hierin spielt er vermutlich auf die vielen ausländischen Touristinnen in der Stadt an, die zwar die aufgezählten Orte besuchen, diese aber doch anders wahrnehmen als er. Dabei lassen sich Analogien ausmachen zu der Beschreibung seiner Kindsheimat (Kapitel 5.2.5.), denn auch hier hebt Lavin die Bedeutung der Sprache Kurdisch für die Gemeinschaft der Kurdinnen als Symbol der Identifikation und der Selbstbestimmung hervor. Im Dorf seiner Kindheit konnte er Kurdisch bedenkenlos sprechen, zudem fungierte die Sprache auch als verbindendes Element zwischen den dort le-
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benden Menschen. Diese Einsicht überträgt er nun auf sein jetziges Erleben der Stadt Heidelberg: Die Beurteilung von Heidelberg als »Heimat« sei nur möglich, wenn man die Sprache Deutsch sprechen und verstehen könne. Deutsch ist Kommunikationsmittel, beispielsweise mit seinen Freundinnen und seiner ehemaligen Gastfamilie, und ist verbunden mit der Erinnerung an gemeinsame Erlebnisse. Auch wenn im universitären Kontext Heidelbergs Englisch ebenso als eine gemeinsame Sprache gelten dürfte, hebt er Deutsch hervor, da es »die Sprache dieses Landes« ist (Lavin Z808). Da Lavin an dieser Stelle das Wort »Heimat« nutzt, muss in Betracht gezogen werden, dass seine Aussage Elemente des einschlägigen Integrationsdiskurses beinhaltet. Wie das Sprechen über »Heimat«, so verweist Integration darauf, dass eine wichtige Bedingung für »gelungene Integration« das Erlernen der Sprache Deutsch ist. Die durchgeführte Analyse kann daher nicht sauber trennen zwischen dem mit vielfältigen Bedeutungen aufgeladenen Begriff »Heimat« und seiner Auslegung und Nutzung als subjektiver, individueller und emotionaler Orientierungspunkt für Individuen. Neben der Bedeutung der Sprache Deutsch, die für ihn dennoch ein sinnstiftendes Medium ist, nennt Lavin mehrere Orte, mit denen er besondere Erinnerungen verbindet, wie den Hans-Thoma-Platz, die Grabengasse oder die Statue vor dem Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg. Darüber hinaus nennt er auch typische und bekannte Symbole Heidelbergs, nämlich die Altstadt, den Philosophenweg und die Thingstätte. Ein Erlebnis mit Freundinnen in der Grabengasse scheint dabei besondere Erinnerungen bei ihm zu wecken. Indem er einschränkend Stadtteile nennt, die er weniger nutzt und wo er allenfalls Freundinnen besucht, führt er auch emotionale Abstufungen ein und hebt die Bedeutung gemeinsamer Erlebnisse für die Bewertung eines Ortes hervor. Die genannten Orte können dabei als Teil einer empfundenen sozialräumlichen Einheit interpretiert werden. Daraus lässt sich ableiten, dass Heimat für Lavin Teil seiner alltäglichen studentischen Lebenswelt ist, also unmittelbar erfahrbar ist und in gemeinsamen Geschichten und Anekdoten in der Erinnerung besteht. Wie oben bereits angedeutet, stehen die hier interpretierten Ausführungen in Zusammenhang mit Lavins Antwort auf die Frage, was für ihn »Heimat« bedeutet. Da erste Assoziationen mit dem Begriff »Heimat« normalerweise einen konkreten Ort verbinden, kann in dieser Interpretation nicht ausgeklammert werden, dass seine Antworten von im Diskurs geläufigen Assoziationen zu »Heimat« geprägt sind. Heimat, so also die Annahme, erscheint hier als konkreter Orte, weil Lavin hinter der Interviewfrage (die den Begriff
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»Heimat« verwendet), die Frage nach einem konkreten Ort versteht. Dieser Annahme kann zumindest zum Teil entgegnet werden, dass Lavin auch bei der Frage nach seinen persönlichen Wünschen und in Bezug auf den Ort seiner Kindheit einen räumlichen Bezugsrahmen erzeugt (Lavin Z640ff). Darüber hinaus verknüpft er die genannten Orte mit Erinnerungen und misst ihnen hohe Bedeutung bei. Um ein tieferes Verständnis über Lavins Heimatempfinden zu erlangen, das auch seine Positionierung und Aushandlungen im Sinne der Migrationsregimeanalyse in den Fokus nimmt, kann eine Feinanalyse der folgenden Sequenz aufschlussreich sein. In der letzten Phase des Interviews frage ich Lavin, was er über die Asyl- und Flüchtlingspolitik in Deutschland und Europa denkt, beziehungsweise ob er in der letzten Zeit Nachrichten hierzu verfolgte. Lavin erklärt, dass er erstens keine Nachrichten schaue, die Gewalt der EUGrenzpolizistinnen aber aufgrund eigener Erfahrungen verurteile. Zweitens habe er als Minderjähriger die erste Zeit in Deutschland unter anderen Umständen verbracht als die meisten geflüchteten Menschen. Er führt diverse Unterschiede aus zwischen seiner Unterbringungs- und Betreuungssituation im Gegensatz zu der anderer geflüchteter Menschen. Abschließend fasst er zusammen, dass er über ihre Situation nichts sagen könne, aber bereits gehört habe, dass diese unter schlechten Bedingungen lebten. Also erstens, ich schaue keine Nachrichten (.) über die Asylpolitik. (.) Wie ich kurz vorher erzählt habe, es ist ja- ich fand es sehr schlimm, dass die Polizei von der EU die Leute töten. Oder, dass sie sie schlimm behandeln. Sowohl in Ungarn als auch in Griechenland. Die Polizei in Bulgarien ist auch dasselbe. (.) Ich finde es gut, wenn es zwar Kontrolle gibt, dass sie kontrollieren, wer da alles reinkommt. Aber ich finde es wäre besser, wenn es mal irgendwie einfacher wäre. Für mich war es ganz anders, weil ich minderjährig war, deswegen habe ich nicht so erlebt, was die Geflüchteten hier normalerweise erleben. Das heißt, ich war nicht in einem Camp und ich musste halt nicht so lange warten, bis ich mal mein Interview habe mit dem Gericht oder sowas. Ich hatte vom ersten Tag einen Betreuer, sogar zwei, und ich hatte direkt mein einzelnes Zimmer, oder war zu zweit in einem Zimmer mit einem Jungen. Und es war ganz, ganz- sehr, sehr schön für mich und viele Leute (.) träumten davon, dass sie irgendwie das haben, was ich hatte. Deswegen, so viel kann ich leider nicht sagen über die Geflüchteten da- also ich habe oft gehört, wie es ihnen geht, dass sie schlechtes Essen haben, dass es ihnen nicht so gut geht, dass keiner sich um sie kümmert und so. Und das ist auch wahr, aber (.) so richtig, wie es ihnen geht, da habe ich nicht so richtig Ahnung, ja. (Lavin Z681-Z691)
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Deutlich wird in Lavins Ausführungen die distanzierte Haltung zur Gruppe der Geflüchteten, er spricht von ihnen in der dritten Person und lehnt damit einen Vergleich seiner Situation mit der Situation anderer geflüchteter Personen ab. Während er zwar Negatives über die Behandlung von Flüchtlingen in Deutschland gehört habe, erklärt er, viele träumten davon unter ähnlichen Bedingungen wie er zu Anfang in Deutschland zu leben. Er bezieht sich dabei auf die erste Zeit in Bremen, da er aufgrund seiner Minderjährigkeit vom Jugendamt eine sehr gute Betreuung erhielt. Lavin kontrastiert also seine eigene Situation mit der Situation anderer geflüchteter Personen und adressiert dabei eine unbestimmte Mehrheit. Er hebt sein Unwissen zu der Situation geflüchteter Menschen in Deutschland hervor. Das ihm in dieser Interviewfrage implizit zugeschriebene »Expertentum« in Bezug auf die Situation geflüchteter Menschen in Deutschland und die Asylpolitik weist er damit zurück. Zwar, so legen die Interpretationen in Kapitel 5.2.6. zur Bedeutung der Kindsheimat nahe, identifiziert sich Lavin auch zum Zeitpunkt des Interviews mit der Gruppe der politisch verfolgten kurdischen Minderheit, in diesem Abschnitt verdeutlicht sich aber ebenso die Ablehnung, als Flüchtling mit besonderen Erfahrungen und spezifischem Wissen identifiziert und adressiert zu werden. Vielmehr hebt er die ersten Monate seines Lebens als Flüchtling in Deutschland als Einzelerfahrung hervor. Damit verurteilt er geltende Zustände nicht direkt oder spricht sich für die allgemeine Verbesserung dieser aus, sondern seine Betrachtung bleibt nüchtern und distanziert. Mit Blick auf die vorangegangenen Interpretationen kann geschlossen werden, dass Lavin sich eher als Student versteht und sich möglicherweise freimachen will von Generalisierungen und Positionierungen, die in der Frage impliziert waren. In den biographischen Ausführungen Lavins verdeutlicht sich Heimat als eine sozialräumliche Einheit im gegenwärtigen Lebenskontext, die Analogien aufweist zu der in Kapitel 5.2.6. beschriebenen Kindsheimat. Lavin empfindet seinen gegenwärtigen Lebenszusammenhang als verlässlich und sicher. Belastet ist dies aber, da seine Familie in Syrien nicht in Sicherheit leben kann. Dies legt nahe, dass empfundene Heimat nicht allein abhängig ist von eigenen Lebenssituationen, sondern auch familiäre beziehungsweise soziale Bindungen berücksichtigt. Neben dem Gefühl der Zufriedenheit in seinen gegenwärtigen Lebensumständen als Student in Heidelberg betrachtet er die deutsche Sprache als sinnstiftendes Medium in Bezug auf Orte und Erlebnisse mit Freundinnen in der Stadt. »Heimat« beziehungsweise Heimat steht wortwörtlich in einem unmittelbaren Zusammenhang zur deutschen Sprache
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und verleiht ihr damit eine territoriale Rahmung. Trotzdem belegt Lavin Orte im Stadtraum mit verschiedenen Bedeutungen aufgrund dort gemachter Erfahrungen. Heimat im Sinne einer sozialräumlichen Einheit manifestiert sich für Lavin daher in alltäglichen Erlebnissen und existiert weiter in Erinnerungen und Anekdoten. Während sich Lavin als Student versteht, lehnt er die Zuschreibung Flüchtling mit spezifischem Wissen und Erfahrungen zu sein ab. So kann im Ausblick auf Kapitel 5.2.3., das sich mit Strategien der Beheimatung befasst, gezeigt werden, dass Lavin seine jetzige Situation als einen persönlich vollbrachten Veränderungsprozess begreift. Auch Mahmoud formuliert in seinen Ausführungen das Bild einer sozialräumlichen Einheit im gegenwärtigen Lebenskontext. Anders als bei Lavin bilden empfundene Ungerechtigkeiten, Diskriminierungserfahrungen und sein Eigensinn gegen die Ratschläge seiner Familie oder andere Personen kontinuierliche Elemente seiner biographischen Erzählung, wodurch sich die Qualität und Beschaffenheit einer heute empfundenen Heimat als sozialräumliche Einheit anschaulich herausschält. Erst in seinem aktuellen Lebenszusammenhang, so die Annahme, empfindet er sich zumindest annähernd von den beschriebenen Problemen entlastet. Um dies zu veranschaulichen, werden nun ausgewählte Sequenzen aus der Haupterzählung Mahmouds feinanalytisch interpretiert. Diese zeigen insbesondere familiäre Uneinigkeiten, Unzufriedenheit und Wut über die politischen Gegebenheiten und zeigen seine moralische und religiöse Haltung zu thematisierten Problemlagen. Anschließend folgt die Interpretation einer formulierten sozialräumlichen Einheit, die hier als Heimat verstanden wird. Als die Familie Mahmouds aufgrund der wirtschaftlichen Veränderungen die Land- und Viehwirtschaft nicht mehr betreiben kann, zieht sie in die Stadt Damaskus. Mahmoud muss aufgrund der Vorbereitungen zum Abitur seinen Nebenjob aufgeben und fragt seinen Vater nach finanzieller Unterstützung für Nachhilfeunterricht. Sein Vater verweigert ihm diese, woraufhin seine Eltern sich lautstark streiten. Die zuvor noch hervorgehobene Stärke der Familie wird hier jäh überwältigt von den nun in den Vordergrund tretenden familiären Streitigkeiten. Nahm Mahmouds Vater im Gegensatz zu seiner Mutter vorher keine große Rolle in seinen Erzählungen ein, zeigt sich hier ein gestörtes Verhältnis zwischen beiden. Die Beschreibung der Auseinandersetzung nimmt dabei einen großen Raum in der Erzählung ein. Mahmoud lehnt daraufhin die finanzielle Unterstützung ab, er verurteilt die Haltung seines Vaters, da der im Gegensatz zur Mutter nicht arbeite. Daraufhin kommt es beinahe zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung zwischen ihm und
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dem Vater, die von der Mutter geschlichtet wird. Mahmoud handelt aufgrund dieser empfundenen Ungerechtigkeit und Aussichtslosigkeit radikal: Er beschließt, die Familie zu verlassen und für eine Zeit im Libanon zu arbeiten. Wir haben 12 Geschwister, und wir haben nur zwei, die weiterlernen. Das sind mein großer Bruder, der ist Arzt in Amerika, und ich. […] Und ich habe meine Mutter und meinen Vater laut sprechen hören und ein bisschen streiten, und ich gehe nach unten und frage: »Was ist passiert? Ich brauche das Geld nicht, ich brauche es nicht. Ich kann versuchen noch ein, zwei Stunden mehr zu lernen, dann brauche ich keinen Privatlehrer, aber ihr müsst nicht immer streiten. Ich bin jetzt 19 Jahre alt.« […] Und mein Vater sagte: »Sei leise und geh raus. Du bist mein Kind, du bist nicht mein Vater. Du bist mein Kind. Du musst auf MICH hören, nicht mir sagen.« Ich sage: »Ja, ich bin dein Kind und ich muss auf DICH hören. Aber ich sehe auch, dass das falsch ist. Das ist unmöglich.« Danach hat mein Vater auch sehr laut gesprochen, als ich das zu ihm gesagt habe: »Das ist wirklich verrückt von dir, seit 20 Jahren gibt es immer immer Probleme, immer Gestreite, jeden Tag immer nur Probleme, ich bindas ist- ich bin jetzt 19 Jahre alt und ich- seit 10 Jahren sitzt du immer zu Hause und arbeitest nicht. Und meine Mutter, sie ist eine Frau, arbeitet immer!« Danach wollte mein Vater mich schlagen (lacht leicht), aber meine Mutter ist aufgestanden und dazwischen gegangen. […] Am nächsten Tag war meine Mutter arbeiten, ich bin nach Hause, habe meine Tasche gepackt, meine Geschwister- meine kleine Schwester und die Frau meines Bruders kommen zu mir: »Was hast du gemacht? Wohin möchtest du gehen?« Ich sage: »Ich kann nicht hierbleiben und ich brauche wirklich Geld und ich denke, ich kann dieses Jahr mein Abitur lassen und in den Libanon fahren und dort arbeiten. (Mahmoud Z146-Z165) Als seine Mutter am folgenden Tag nicht zu Hause ist, erklärt er seine Situation den Geschwistern, die darüber in seiner Darstellung perplex und fragend reagieren. In dieser Sequenz manifestiert sich ein Muster, das mehrmals in Mahmouds Erzählung vorkommt und hier weiter ausgeführt wird: Er empfindet eine Situation als ungerecht und untragbar und handelt, insbesondere in der Wahrnehmung anderer, leidenschaftlich, aber auch mit drastischen Konsequenzen. So wie auch in der oben dargestellten Sequenz wird dieser Akt des Öfteren davon begleitet, dass er seine Tasche nimmt und den jeweiligen Ort verlässt. Das Greifen der Tasche veranschaulicht die Endgültigkeit seiner Entscheidung. Auch die folgende Sequenz steht charakteristisch für weitere Szenen, in denen Mahmoud gegen den Rat von Familienmitgliedern eigenen Entscheidungen folgt. Mahmoud beobachtet an der Universität im Libanon, wie Män-
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ner eine, vermutlich christliche, Frau beschimpfen. Als er der Frau beispringt, hat sein Verhalten in den kommenden Wochen folgenschwere Konsequenzen für sein eigenes Leben: Er wird von der Polizei und der Hisbollah verhört, man verdächtigt ihn, Mitglied des IS zu sein, und eine Zeit lang wird sein Ausweis einbehalten. Mahmoud bezeichnet dieses Verhalten ihm gegenüber, einem Syrer, an anderer Stelle als Rassismus (Mahmoud Z511f). Zuletzt besucht er nicht mehr die Universität. Im Folgenden rechtfertigt er sein Handeln vor seinem in den USA lebenden Bruder. Ich habe das meinem Bruder erzählt und er sagte mir: »Mahmoud, du musst diesem Mädchen nicht helfen.« Ich sage meinem Bruder: »Ich kann nicht. Ich weiß zu 100 %, wenn dir das passiert wäre, hättest du das genauso gemacht. Ich werde das nicht-« Das ist eine normale Freundin, aber das ist unmöglich. Ich sehe eine Frau und zwei oder drei Jungen beleidigen diese Frau und ich kann helfen und helfe nicht. Das ist unmöglich. Wenn ich das mache, dann bin ich nicht ich, dann bin ich ein Tier. Er sagt: »Mahmoud, ich weiß, aber jetzt hast du auch große Probleme in deiner Universität. Du bist nicht Guevara und auch nicht Gandhi. Du bist Mahmoud und ein Mensch. Du kannst nicht allen helfen.« »Wenn ich kann, muss ich etwas machen. […] Das ist eine islamische Regel. Es ist eine Regel und es ist eine gute Regel.« »Mahmoud, ich kann nicht mehr mit dir weiter diskutieren, mach, was du willst.« (Mahmoud Z478-Z487) Mahmoud stellt heraus, dass sein Engagement von seinem Bruder als unverhältnismäßig angesehen wird, aufgrund der gefahrvollen Konsequenzen für ihn selbst. Mahmoud aber begründet sein Vorgehen mit der Notwendigkeit, religiös und moralisch richtig zu handeln. Täte er dies nicht, wäre er nicht er selbst. Auch sein Bruder, so Mahmoud, hätte in dieser Situation der Frau geholfen. Wie auch an einer anderen Stelle im Interview begründet er in diesem Verhalten den Unterschied zwischen Mensch und Tier, sein Bruder aber verweist darauf, dass er lediglich ein normaler Mensch sei, der nicht allen helfen könne, das Opfer sei also zu groß. Am Ende dieser Sequenz will sein Bruder nicht mehr weiterdiskutieren, da Mahmoud seine Ratschläge nicht annimmt und sich auf eine islamische Regel bezieht. Mahmoud präsentiert sich hier zum einen als eigensinnig, zum anderen auch als Person, die moralische und religiöse Prinzipien über mögliche gefährliche Folgen stellt. Der Widerspruch zu den Empfehlungen seiner Familie ist dabei ein sich wiederholendes Muster in den biographischen Ausführungen Mahmouds. So lehnt er es ab, gegen das Bitten seiner Mutter im Dorf bei Deir ez-Zor zu bleiben, dort zu heiraten und eine Familie zu gründen (Mahmoud Z405f). Ebenso bereut er es,
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auf den Rat seines in den USA lebenden Bruders das Studium der Politikwissenschaften begonnen zu haben (Mahmoud Z447f) und auch die Fahrt über das Mittelmeer nach Europa erzählt er lediglich seinem in der Türkei lebenden Bruder, da sein im Libanon lebender Bruder ihm davon abrät (Mahmoud Z566ff). Mahmoud verdeutlicht also, dass er immer wieder einen eigenen Weg einschlägt, selbst wenn dieser nicht auf Zustimmung stößt. Aus gegenwärtiger Perspektive scheint Mahmoud seine Entscheidungen trotz nachfolgender, auch gefährlicher Konsequenzen nicht zu bereuen. Seine Eigenwilligkeit, Unangepasstheit und Konsequenz werden in der biographischen Erzählung vielmehr zu seinem besonderen Charakterzug. Die folgende Sequenz steht nur kurz nach dem oben untersuchten Interviewausschnitt. Sie ist als Teil einer Kette von Entscheidungen und Handlungen zu betrachten, die schließlich auch Mahmouds Migrationsentscheidung über das Mittelmeer nach Deutschland zu fliehen begründen. Nachdem er die Universität nicht mehr besucht, aber weiterhin in dem libanesischen Restaurant arbeitet, verlangt sein Vorgesetzter, er solle die Aufgaben seines Supervisors übernehmen, jedoch für den gleichen Lohn. Als Mahmoud dies ablehnt und erklärt, er sei kein Tier, widerspricht ihm sein Chef. Mahmoud übergibt dem Vorgesetzten daraufhin demonstrativ seine Arbeitskleidung und verlässt das Restaurant. Als ihn später eine andere Vorgesetzte bittet, die Nachtschicht doch zu übernehmen, willigt er ein. Danach allerdings wird er nicht mehr dort arbeiten, sondern einige Zeit verschiedene kurzfristige Jobs annehmen. An einem Tag, ich glaube, es war Samstag, gab es mehr Arbeit. Und dieser Manager kommt und fragt: »Mahmoud, warum sind diese Sachen nicht gemacht?« Und ich sage: »Ja, das ist nicht meine Aufgabe. Ich habe das schon dreimal gemacht, aber wo ist dieser Mitarbeiter?« »Mahmoud, du bist jetzt Supervisor.« »Ja, ich bin jetzt Supervisor, aber mit 600 Dollar. Und dieser Typ ist ein normaler Mitarbeiter mit 1700 Dollar!« Und der Supervisor muss ja alle Arbeiten kontrollieren. Aber das ist unmöglich. Er sagt: »Mahmoud, du musst das machen.« »Ich bin kein Tier.« »Doch.« Da habe ich ihm gesagt »Hier sind meine Kleider«, und habe aufgehört zu arbeiten und bin direkt nach Hause gefahren. Und danach habe ich direkt einen Anruf von diesem einen Chef, sie ist eine Frau: »Mahmoud, bitte, dieses Restaurant ist eine Katastrophe. Komm bitte heute nur zurück. Und nachts komme ich und spreche mit dir.« Und ich sage: »Okay, weil du eine sehr nette Chefin bist.« (Mahmoud Z546Z553)
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Mahmoud empfindet große Ungerechtigkeit ihm gegenüber, die er an anderer Stelle als Rassismus bezeichnet, da er im Libanon als Ausländer schlecht behandelt wird (Mahmoud Z186f). Dieser Behandlung als »Tier« widersetzt er sich und kündigt. Indem Mahmoud ausführt, dass seine Chefin ihn bittet, noch einmal im Restaurant zu arbeiten, deutet er an, dass er als gute und zuverlässige Arbeitskraft wahrgenommen wird. Trotzdem wehrt er sich kompromisslos gegen empfundene Ungerechtigkeit, Herabsetzung und Diskriminierung. Die hier ausgewählten Episoden verdeutlichen, dass Mahmoud Momenten der Unterwerfung und Bevormundung mit Gegenrede und kompromisslosen, aber in seinem Empfinden moralisch und religiös nicht verwerflichen Entscheidungen entgegenstellt. Er sieht sich also nicht als Opfer bestehender Verhältnisse, sondern ergreift auch entgegen üblicher Vorstellungen oder in gefährlichen Situationen, ausgehend von eigenen Grundsätzen, die Initiative. Mahmoud ist dabei um die ständige Verbesserung seiner Lebensverhältnisse bemüht. Die vorangegangenen Überlegungen dienen auch als Interpretationsfolie für das Verständnis von Heimat als sozialräumliche Einheit in Mahmouds biographischen Ausführungen. Eine Deutung, die auch in Kapitel 5.2.6. zur Semantik der Kindsheimat angerissen wird. Im letzten Teil des Interviews fragt Kavith Mahmoud, was für ihn »Heimat« ausmache. Mahmoud sagt, Heidelberg sei zu 70 % »Heimat«. Er benennt Ähnlichkeiten zwischen dem Stadtund Landschaftsbild Heidelbergs und Deir ez-Zors. Darüber hinaus erklärt er, dass in Heidelberg viele Menschen unterschiedlicher Nationalitäten leben, es jedoch keinen Rassismus gebe. Heimat- es ist wie meine ehemalige Stadt im Heimatland. Das ist der erste Grund. Der zweite Grund diese Natur und die Berge. Der dritte Grund sind die Menschen in Heidelberg. Die sind wirklich sehr nett. Ich war in München oder auch in anderen Städten- kein Rassismus. Es gibt viele Ausländer, viele Ausländer, das gefällt mir sehr. Weil für mich- wenn es einen Garten gibt, der nur rote Blumen hat, dann ist das nicht so schön. Wenn er drei oder vier oder fünf Farben hat, das ist wunderbar. Und das ist hier in Heidelberg. […] Und auch sozial ist Heidelberg sehr sehr gut, sehr sehr gut für mich. Ich habe schon Frankfurt besucht, es gefällt mir aber nicht mehr. Berlin gefällt mir nicht. Nicht nicht nicht. […] Es ist eine schmutzige Stadt. Ich bin dort eine Woche geblieben und habe nicht eine Straße gesehen, die so sauber wie diese hier ist. (Mahmoud Z1153-Z1166)
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Während Mahmoud als Araber in Syrien der Mehrheitsbevölkerung angehörte, im Libanon aber aufgrund seiner Staats- und Religionszugehörigkeit Anfeindungen erlebte, macht er klar, dass er sich auch in Heidelberg zu der Gruppe der Ausländerinnen zählt. Hier aber vergleicht er das Zusammenleben mit einem friedlichen Zusammenstehen von Blumen im Garten. Mit Bezug zu obigen Ausführungen kann geschlossen werden, dass Mahmoud sich akzeptiert fühlt oder – weiter gefasst – Selbstwirksamkeit und Teilhabe in seinem derzeitigen Lebenszusammenhang erlebt. Sein derzeitiges Leben erscheint wie das Ergebnis vieler eigener Entscheidungen. Heidelberg ist dabei für ihn eine Projektionsfläche, die eine Antwort bietet auf die beschriebenen Problemlagen in Syrien und im Libanon seit Beginn des Krieges und die erlebte Ungleichbehandlung. Wie in den obigen Ausführungen zu Lavin gilt aber zu bedenken, dass Mahmoud hier auf die Frage nach »Heimat« antwortet und daraufhin Heidelberg als Ort beschreibt. Auch hier kann die Analyse nicht trennen zwischen »Heimat«, überwiegend verstanden als Ort und seiner Bedeutung als facettenreiches Gefühl, dem in dieser Analyse nachgegangen wird. Aus den Ausführungen Kaviths kann geschlossen werden, in welcher Weise sich Heimat als sozialräumliche Einheit in seiner gegenwärtigen Lebenssituation manifestiert. Es lassen sich dabei Parallelen und Ergänzungen bestimmen zu den in Kapitel 5.2.3. ausgearbeiteten Strategien der Beheimatung. Beide Ausprägungen der Heimat und Beheimatung stehen in engem Zusammenhang und Austausch miteinander. Leitend für die folgenden Überlegungen ist die Betrachtung der nachstehenden Sequenz: Kavith wiederholt hier mehrmals, dass alles, was er in Deutschland erlebt, auf seiner eigenen Entscheidung fußt. In der erneuten Wiederholung »my own decision« verleiht er dem Nachdruck. Ausschlaggebend für diese Entscheidung ist, wie hier deutlich wird, dass Kavith nun nicht mehr ins Exil gehen muss. Er betrachtet sich nicht (länger) als fremdgesteuert oder Spielball externer Dynamiken oder höherer politischer Instanzen. I mean everything I am experiencing now in Germany is my own decision. My own decision. I mean if I do advertising I don’t have any problem too. I will have my life there and I don’t need to exile or something. What I am experiencing is something I stand or, I still enjoy my decision, it is nothing I regret. (.) And this is also the reason I refused for a long time to work in a Café or kitchen, or somewhere because this is also like- (.) I didn’t come here- maybe it is a little egoistic thinking, I didn’t come here to work in the kitchen because if I- my main thing is not to earn money, I could
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also do that in Sri Lanka. I had a quite good job, well paid job. It wasn’t my main thing, it was something else. So why I should do now then? (Kavith Z2100-Z2109) Die Formulierung »I still enjoy my decision« ist nicht direkt ins Deutsche zu übersetzen, verdeutlicht aber, dass er zu seiner Lebenssituation in Deutschland und allen Konsequenzen steht, weil alles Teil seiner autonomen Entscheidung ist. Seine Formulierung beschreibt dabei ein grundsätzliches Gefühl der Zufriedenheit mit seinem gegenwärtigen Leben. Kavith traf die Entscheidung, nach Deutschland ins Exil zu gehen, nicht aus finanziellen oder wirtschaftlichen Gründen. Sein Leben in Deutschland bietet ihm Möglichkeiten und Freiheiten, die er an Orten wie Sri Lanka oder Nepal nicht erleben kann. So ist er deswegen auch nicht bereit, einer Arbeit nachzugehen, allein um Geld zu verdienen. Es wird klar, dass Kavith den Wert seiner Migrationsentscheidung darin sieht, selbstbestimmt leben zu können. In den nächsten Abschnitten führt Kavith weitere Dimensionen dieser empfundenen und erlebten Freiheit aus. Dabei bezieht er Aspekte seines vergangenen Lebens in die Reflexionen mit ein. When I am talking this critic to the western society, I always have a- consciously doing it because I can’t really say I hate west or something. I also enjoy the western(.) CERTAIN degrees of democracy you know. I mean of course I know (.) if I am legally- okay let us say you as a German person, born here, grew up here, you have German pass, if you talk about your political opinion here nobody comes and put you a gun in your mouth. For that. But it could happen in Asian democracy you know, this is the difference. But still it doesn’t mean it doesn’t happen, it is something- because of that it is not extremely good or something, I don’t want to be blind or something. (Kavith Z1440-Z1448) Als Fotojournalist in Sri Lanka veröffentlicht Kavith 2011 mit weiteren Mitarbeiterinnen einen Bericht über die gewaltsamen Auseinandersetzungen in einem Gefängnis, der auch in englischsprachigen Medien erscheint. Kurze Zeit danach wird Kavith in seiner Wohnung von Paramilitärs mit einer Waffe bedroht und taucht daraufhin für eine Zeit unter. Er erklärt, dass eine solche Situation zwar vorstellbar sei in der Demokratie eines asiatischen Landes, nicht aber in einer westlichen Gesellschaft beziehungsweise in Deutschland. Um einen passenden Vergleich anzustellen und die Wirkung der Situation hervorzuheben, überträgt er seine eigene damalige Situation auf mich, indem er erklärt, dies sei in Deutschland nicht möglich. Wenn Kavith auch erklärt, er genieße die westliche Demokratie bis zu einem gewissen Grad, so
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sei er doch nicht blind. Insbesondere diese letzte Aussage bildet eine Grundlage für seine heutigen Tätigkeiten als Künstler und politischer Aktivist. Mit seinen Fotographien will Kavith unter anderem ungewöhnliche Sichtweisen erzeugen und auf unter- oder wenig repräsentierte Themen sowie Missstände aufmerksam machen. Die meisten seiner Arbeiten folgen dabei einem linkspolitischen5 Anspruch. In Deutschland kann er seine Kunst präsentieren, ohne Repressionen zu befürchten. Die nächste hier angeführte Sequenz bekräftigt und vertieft die Bedeutung seiner bereits oben mehrfach genannten Entscheidung, nach Deutschland gekommen zu sein. Während Kavith als Fotojournalist auch die Geschehnisse des Bürgerkriegs in Sri Lanka dokumentierte, besonders die Unabhängigkeitsbestrebungen der Tamilen, erlebt er sich als Exilant in Deutschland nun selbst als Teil einer Minderheit. Er sagt, er könne die Situation der Tamilen nachvollziehen, denn auch er mache in Deutschland regelmäßig Diskriminierungserfahrungen. Trotz dieses gegensätzlichen Erlebens, einerseits autonome Entscheidungen zu treffen und andererseits dem Bewusstsein, fortlaufend Diskriminierung ausgesetzt zu sein, wirkt die Entscheidung, in Deutschland zu leben, wie die Grundkonstante seines Lebens, die alle anderen Bedingungen in den Schatten stellt. Während Kavith in der Sequenz zuvor diese Lebensentscheidung zurückführt auf in Deutschland erlebte politische Freiheiten, beinhalten die folgenden Ausführungen eher eine emotionale Dimension. Um dies zu unterstreichen, unterbricht er die Ausführungen zu eigenen Diskriminierungserfahrungen in der folgenden Sequenz mit einem betonten »but« und benennt dann die Beziehung zu seiner späteren Frau als maßgebliche Entscheidungsgrundlage, in Deutschland sein Zuhause und seine Basis aufzubauen. Um dies zu bekräftigen, führt er an, dass er eine derart klare Entscheidung in Nepal nicht treffen konnte, auch aufgrund der dort empfundenen Unsicherheit bezüglich seines Aufenthaltes. I see the point now experiencing, the Tamil people in Sri Lanka to be- I was always in an imaginary world about »how could be the minorities feeling?« It was imaginary, you know, but now I am here minority. I am here discriminated and who is very often discriminated, you know. It is a little bit painful how it is happening here. BUT I think when I have a- when I started the relationship with Ellen and how our relation grow up, in my life I have a very clear decision: I am going to make my home 5
Kavith verortet sich und seine politischen Aktivitäten in der linkspolitischen Szene. »Links« sein beziehungsweise Teil der linken Szene zu sein meint, Kapitalismuskritik zu üben sowie postkoloniale Gesellschaftsverhältnisse und Rassismus anzuprangern.
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here. It doesn’t matter, if they want to send me or not or whatever I am going to do, I smile. Always my base will be here. That is-that is-that’s a decision, I think is a very clear decision I made. I didn’t have this kind of clear decision like (.) when I was in Nepal. I was always like »I don’t know how long I will stay there and I don’t know how to get out there« (.). But here it is very clear. (Kavith Z1777-Z1792) Das Gefühl der Verlässlichkeit in seiner Beziehung verleiht ihm eine grundsätzliche Selbstsicherheit. Mit der Formulierung »I smile« drückt er aus, dass möglicherweise auftretende aufenthaltsrechtliche Schwierigkeiten ihn nicht erschüttern. Darüber hinaus spielen für Kavith Gespräche und ähnliche Zielsetzungen zwischen ihm und seinen Freundinnen eine entscheidende Rolle für die Wahrung und Gestaltung einer emotional stabilen sozialräumlichen Einheit. In der folgenden Sequenz ahmt Kavith einen in gewisser Weise typischen diskriminierenden Gesprächsanfang nach, der sich aus der Perspektive der Mehrheitsbevölkerung an geflüchtete beziehungsweise ausländische Personen wendet. Diesen kontrastiert er mit der Gesprächskultur zwischen ihm und seinen Freundinnen. I don’t have friends here who come and say [albern]: »Hey Kavith, what is this one in your language?« I don’t have these friends you know? My friends talk serious topics. We just share the same- HOW to fight, HOW to struggle and how to win this struggle, this kind of serious struggle, you know? They didn’t treat me like I am completely new for the [x], it encourages me a lot. Not to treat me like I am a child or I don’t know anything, you know? I see it is very often happening here. (.) Treating very (.) very down, very like [gutmütig] »oh, okay how do you drink tea?« and if you want to know these things, just- we are living in the digital age, go to Google and check, what is »mug« in Arabic or what is »mug« in another language. (Kavith Z2147-Z2156) Indem Kavith die Stimme verstellt, verdeutlicht er eine vermeintliche Naivität und Unverfänglichkeit, die Fragen nach dem Wort in einer bestimmten Sprache zugrunde liegt. Zudem drückt er dabei seine Abneigung gegen derartige Gesprächsanfänge aus. Tatsächlich handelt es sich nicht um harmlose Interessensbekundungen. Wie Kavith hier sehr deutlich macht, heben Fragen nach der Bedeutung eines Wortes in der eigenen Sprache oder aber nach der Art und Weise, wie jemand Tee trinkt, darauf ab, sogenannte kulturelle, aber auch nationale Unterschiede und Identitäten zu konstruieren und zu festigen. Der naive Ton seiner Stimme weckt hier zudem die Assoziation,
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die fragende Person würde mit einem Kind sprechen. Kavith prangert dabei die Homogenisierung und Positionierung geflüchteter beziehungsweise ausländischer oder als solche wahrgenommenen Menschen als eingeschränkt und kindlich an. Indem Kavith erklärt, man solle das gesuchte Wort einfach bei Google eingeben, stellt er die Absurdität und Nebensächlichkeit der Frage nach der Bedeutung eines Wortes heraus. Er entgegnet vielmehr, dass seine Freundinnen ernste Themen besprächen und die gleichen Ziele verfolgten. Da er hier von »struggle« und »fight« spricht, kann vermutet werden, dass Kavith insbesondere die Diskussion politischer Themen meint. Die Gespräche mit seinen Freundinnen ermutigen Kavith. Nicht nur, weil sie gemeinsamen politischen Zielen folgen und auf Augenhöhe agieren, sondern auch, weil er hier keine Herabsetzung erfährt. Dieses »treating down«, wie er es nennt, also die Ansprache und Behandlung insbesondere geflüchteter Personen von oben herab, hat Kavith in Deutschland oft beobachtet. Das soziale Umfeld seiner Freundinnen wirkt dagegen sicher, vertrauensvoll und bestärkend. Zuletzt wird anhand einer Sequenz illustriert, dass es Kavith wichtig ist zu betonen, dass auch in Deutschland neu Erlerntes heute wichtiger Teil seines Lebens ist. Hierin verdeutlicht sich eine für ihn typische Erzählweise. Wie in der Darstellung seiner biographischen Selbstrepräsentation in Kapitel 5.1.7. bereits ausgeführt wird, organisiert Kavith die Erzählung seiner Biographie in Phasen. Jede Phase zeichnet sich durch das Erlernen bestimmter Fertigkeiten oder das Erlangen bestimmter Erkenntnisse aus, die sein gegenwärtiges Ich ausmachen. Im Folgenden hebt Kavith hervor, dass er sich, seit er in Deutschland lebt, für die Musikrichtungen Techno und Hip-Hop interessiert. Diese sind heute wichtiger Teil seines Lebens. Er zählt einige, wie er sagt linke, Clubs in Berlin auf, die er bereits oft besuchte. Also I got to know new things, too. For example when I come here I don’t know about the techno music for example. I don’t know German Hip-Hop, but these are now a big part of my life actually. And I also enjoy it, you know? And I am also enjoying the techno scene. And even some people here they have never been in the Berghain Club, I already have been there many times, at least five times, you know. And I have been in nearly most of the left clubs in Berlin to listen music, Sisyphus, Mensch Meier, Berghain, (.) this (.) Yam, this legendary (.) reggae club in Berlin close to Ostbahnhof. (Kavith Z1761-Z1769) So wie auch an anderen Stellen im Interview, verortet sich Kavith in der kreativen Szene der Stadt Berlin. Mit der Nennung mehrerer Musikclubs markiert er zudem seine politische Ausrichtung und seinen Musikgeschmack. Da er
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hervorhebt, welche Clubs er bereits mehrfach besuchte, ist ihm die Nennung seiner politischen und musikalischen Verortung wichtig. Es wurden verschiedene Sequenzen angeführt und feinanalytisch interpretiert, die darstellen, dass sich in Kaviths Selbstrepräsentation Heimat als sozialräumliche Einheit im gegenwärtigen Lebenszusammenhang zeigt. Besonders hervorzuheben sind die oben herausgearbeiteten politischen und emotionalen Dimensionen seiner Entscheidung, in Deutschland zu leben. Deutlich wird aber auch, dass das Erleben von und die stetige Auseinandersetzung mit Diskriminierungserfahrungen sowie die gesellschaftliche Positionierung als Flüchtling einen breiten Raum einnehmen in seinen Reflexionen. Seine Frau, sein soziales Umfeld und das Vertrauen in die Fortentwicklung eigener Kenntnisse und Fähigkeiten, die unter anderem anhand seiner Selbstverortung in Berlin gezeigt werden konnten, verleihen ihm Stabilität. In Kapitel 5.2.3. wird überdies herausgearbeitet, dass Strategien der Beheimatung wesentlicher Bestandteil sind in Kaviths Heimatkonstruktionen. Auch diese werden sinnhaft in einem aktuellen Lebenszusammenhang und betonen Prozesshaftigkeit, Dynamik sowie die bewusste Konstruktion eines Heimatgefühls. Beide Formen bedingen sich aber gegenseitig. Die vorangegangenen Ausführungen konnten eindrücklich darstellen, wie Heimat als sozialräumliche Einheit gestaltet ist und im individuellen Lebenszusammenhang ausgehandelt wird. Heimat steht in Zusammenhang mit empfundener, auch ganz elementarer Sicherheit und Verlässlichkeit in einem sozialen lebensweltlichen Kontext. Sie steht für intakte Beziehungen und gestalterische Interaktionen mit anderen Menschen. Orte des gegenwärtigen Lebens erhalten Bedeutung durch konkrete Erlebnisse, die in Anekdoten weiter bestehen und reproduziert werden. Heimat ergibt sich dabei auch aus der Erfahrung, sich für eine Lebensart bewusst entschieden zu haben und geht daher einher mit einem aktiven Reflexionsprozess. Für Lavin stehen die Entscheidung zur Migration und die Einrichtung seines gegenwärtigen Lebenszusammenhangs für einen persönlichen Reifeprozess von einem Kind zu einem Erwachsenen, wie in Kapitel 5.2.3. ausführlich dargestellt wird. Lavin äußert sich entschieden gegen eine Kategorisierung als Flüchtling, vielmehr verortet er sich im studentischen Milieu Heidelbergs. Seine Orientierung in der Stadt ist geprägt von Erinnerungen an bestimmte Erlebnisse an bestimmten Orten. Das Beherrschen der Sprache Deutsch ist für ihn ein Zugang zum Erleben der Stadt als »Heimat«, auch mit seinen Freundinnen. Dabei lassen sich Parallelen ausmachen zu der in Kapitel 5.2.6.
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beschriebenen Kindsheimat. Trotz dieser Situation, die ihm keine Wünsche offenlässt, denkt er an die Situation seiner Brüder, die noch immer in Gefahr sind. Für Mahmoud äußert sich Heimat als sozialräumliche Einheit in seiner gegenwärtigen Lebenslage aufgrund diskriminierender und als unrecht empfundener Lebensbedingungen in Syrien und im Libanon. So ist sein gegenwärtiges Leben Ergebnis vieler selbstbestimmter, radikaler und durch sein soziales Umfeld nicht immer akzeptierter Entscheidungen. Mahmouds Handeln, so stellt er es selbst dar, wird dabei oft als unangepasst und eigenwillig wahrgenommen. Unter Berücksichtigung der Erkenntnisse aus Kapitel 5.2.6. kann ähnlich wie bei Lavin bestimmt werden, dass Mahmoud Elemente dieser kindlichen Heimat auf seinen gegenwärtigen Lebenszusammenhang projiziert. Mit diesem Rückgriff auf bekannte Ressourcen schafft er sich Möglichkeiten der Beheimatung in seinem gegenwärtigen Lebenskontext. Für Kavith zeichnet sich Heimat als sozialräumliche Einheit aus, da er aus dem Bewusstsein, selbstbestimmt in Deutschland zu sein, Freiheit, Autonomie und Selbstbewusstsein zieht. Durch seine Freundinnen und seine Frau erfährt Kavith zusätzlich Sicherheit, Vertrauen und Selbstvergewisserung. Gemeinsame, auch politisch orientierte Gespräche, fungieren hierbei wie ein Schutzraum gegen Herabsetzung und Diskriminierung. Zudem eignet sich Kavith, was an der Erweiterung seiner musikalischen Vorlieben deutlich wird, stetig weitere kreative Freiräume an. Gemeinsam ist den hier dargestellten Personen die Ausweitung, Wahrung und Verteidigung ihrer Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Zudem wehren sie sich gegen an sie heran getragene Zuschreibungen als Flüchtlinge, Ausländer beziehungsweise gegen generelle Einflüsse, die destabilisierend wirken und ihre Selbstbestimmung untergraben. Die räumliche Orientierung wirkt hierbei als stabilisierende emotionale Verankerung.
5.2.2
Alltägliche Praktiken der Beheimatung in Krisensituationen
In einer als krisenhaft oder aussichtslos empfundenen Lebenslage treten Praktiken der Beheimatung als Handlungs- und Reflexionsspielräume in Erscheinung. Während Heimat als sozialräumliche Einheit einen als ganzheitlich empfundenen Lebenskontext adressiert und Strategien der Beheimatung unter anderem mit rationalen Entscheidungs- und Planungsprozessen sowie einem gewissen Maß an persönlicher Stabilität einhergehen, sind Praktiken der Beheimatung Element unmittelbarer Alltagsgestaltung und damit selbstverständlicher Teil eines Lebens-, Denk- und Handlungsraums.
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Sie sind Ansätze zur Bewältigung von Krisensituationen und unsicheren beziehungsweise nicht abschätzbaren Lebenslagen. In der hier vorgenommenen Analyse zeigte sich das besonders in den Interviews mit Yasmina und Bah. In der Beschäftigung mit Bahs Biographie wird zunächst die Bedeutung der Essenszubereitung und Ernährung als Praktik der Beheimatung herausgearbeitet. Bah lernte ich Ende 2016 bei den regelmäßigen Treffen von Come Together kennen. Als einer der Hauptinitiatorinnen des gemeinsamen abendlichen Kochens war Bah meist etwas früher da und sowohl Teil des Kochteams, das sich oft spontan zusammenfand, als auch mit dem Reinigen der Küche nach dem Kochen beschäftigt. Jaye, ebenfalls aus Gambia und Initiator von Come Together, und Bah leben zu dieser Zeit gemeinsam in einer vorläufigen Gemeinschaftsunterkunft. 2018 besucht Bah aufgrund eines Wohnortwechsels und des Beginns seiner Ausbildung als Koch nicht mehr mit derselben Regelmäßigkeit Come Together. Kavith fragt im Folgenden nach der Entstehung von Come Together. I2: How have you come to Come Together? Bah: With Jaye, I thinkI2: With Jaye? And he also was in Thomas Barracks? Bah: Yes, I was living with Jaye together so- Jaye and Tronje and- I don’t know his name- […] I2: Bariş and Jaye discussed already to come here? Bah: [xx] Yes »if you guys are, I want to cook together« and so- I thought it would be a good idea, yeah. (Bah Z505-Z511)
Die Initiierung von Come Together und Bahs anhaltendes Engagement könnten als Fortsetzung von Bahs familiärer und traditioneller Verbindung zu der Zubereitung von Essen gedeutet werden. An mehreren Stellen seiner biographischen Erzählung findet dieser Aspekt Erwähnung. So berichtet Bah, dass sein Vater Besitzer eines Restaurants ist und er, bevor er seine Arbeit in der Glasindustrie begann, dort aushalf (Bah Z285f). Zudem unterstützte Bah eine der Frauen seines Vaters bei der Kultivierung eines Gemüsegartens (Bah Z294). Beide Aspekte beschreibt er im Interview jedoch nicht ausführlich. Auffällig ist auch die Verschränkung von (religiösen) Ritualen und der Nahrungszubereitung, denn hierbei kommen Männern und Frauen unterschiedliche Aufgaben und Rollen zu: Als Kavith Bah fragt, ob er ihm vertraute Gerichte in Deutschland nachkochen würde, beschreibt dieser ein Rezept, für das ein
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bestimmter Fisch benötigt werde, dessen Bezeichnung er aber auf Deutsch nicht kenne. Zudem könnten nur Frauen dieses Gericht kochen. Die folgende kurze Sequenz schließt an eine ausführliche Beschreibung des genannten Gerichts an. I2: And what is it called? Bah: Ebbeh I1: And you are making this sometimes also here? (.) You try to (lacht)? Bah: I think we made it only once. Only women can cook this thing //I1: Women?// Yes [x] (lacht) so many stuff. So one Gambian woman who went here she helped us to cook this and we make a party. (Bah Z449-Z453)
Das Kochen ist hier in ein Ritual eingebunden und unterliegt bestimmten Regeln, die auf der Unterscheidung von Mann und Frau und daran gebundenen Aufgabenzuweisungen basieren. Auf die Frage, ob er im Ramadan mit seinen Schwestern Kontakt halte, erklärt Bah, dass Ramadan für Frauen leichter sei, als für Männer, da Frauen Regeln nicht konsequent einhalten müssen, beziehungsweise können. Like the women (.) are doing Ramadan, but not every day I think. For every woman I think. Sometimes the women see the period and they are not allowed to do //I2: Ah yes, when the menstruation-// Yes, Ramadan is not difficult for them [xx]. Boys and men, yeah. It is very difficult for us. For the women it is a little bit- (.) (Bah Z526-Z528) Aus diesen hier nur fragmentarisch zusammengetragenen Elementen aus dem Interview mit Bah sowie persönlicher Kenntnisse kann geschlossen werden, dass die Zubereitung von Essen und spezielle Regeln der Ernährung zum Zeitpunkt seiner biographischen Ausführungen bedeutsam sind. Er verortet sie im familiären Kontext während seiner Jugend in Gambia und in religiösen Traditionen. Zudem ist das Kochen im Format Come Together verbunden mit sozialem Austausch und Kavith, Bah und ich lernten uns bei den regelmäßigen Treffen kennen, weshalb das gemeinsame Kochen ein verbindendes Element zwischen uns darstellt und daher möglicherweise in diesem Interview durch ihn in den Vordergrund gerückt wird. Trotzdem kann die Relevanz des Kochens und des Essens für Bah, insbesondere als bedeutungstragende- und erzeugende Praktik, hier nicht übersehen werden. Zugleich verdeutlicht sich mit der Beschreibung seines »personal dream« (Kapitel 5.2.5.) die subjektive, aber wohl auch realistische Einbettung seiner
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selbst in die impliziten und diffusen migrationspolitischen und gesellschaftlichen Anforderungen an ihn als Flüchtling. Dies nimmt dabei unmittelbaren Einfluss auf sein Kochen und seine Zukunftsvisionen. I1: Do you have any plans for the future? Bah: My idea- I think, if you want to stay here you are supposed to go to school, learn how to work. And the culture and (.) obey the law I think is very important. (Bah Z274-Z276)
Während die Frage darauf abzielte, Bah nach seinen persönlichen Zukunftsplänen zu fragen, benennt er klassische Integrationsleistungen, die er als Voraussetzung sieht, wenn man in Deutschland bleiben will. Er verknüpft daher den Gedanken an seine Zukunft mit von außen auferlegten und nicht klar bestimmbaren Forderungen, die er als Grundlage und Rahmen für sein zukünftiges Bleiben und Leben in Deutschland wahrnimmt: zur Schule gehen, arbeiten lernen (beide Aspekte beziehen sich wahrscheinlich auf die Ausbildung), die Kultur kennenlernen und sich an das Gesetz halten. Der Ursprung dieser Vorgaben wird dabei nicht klar. Zum einen handelt es sich um aufenthaltsrechtliche Bestimmungen, da das Absolvieren einer Ausbildung ihm als Person aus einem Land mit niedriger Anerkennungsquote, den Aufenthalt in Deutschland für einige Zeit sicherstellen kann. Die Aussage, dass er, um in Deutschland bleiben zu können die deutsche Kultur kennenlernen muss, verweist auf klassische Integrationsforderungen, die auch mit der steigenden Zahl an Asylsuchenden in Deutschland wieder an Konjunktur im gesellschaftlichen Diskurs gewannen. Denn was er unter dem Erlernen der Kultur versteht, führt er nicht weiter aus, ebenso wenig wie die Maßgabe, das Gesetz zu befolgen. Vielmehr drückt sich in dieser Aussage das Bemühen aus, sich anzupassen, um das eigene Ziel, in Deutschland zu bleiben, erreichen zu können. In der darauffolgenden Frage nach seinen persönlichen Träumen eine Zeit später im Gespräch antwortet Bah, dass er nach dem Abschluss seiner Ausbildung ein Restaurant eröffnen wolle. Anknüpfend an die obigen Überlegungen veranschaulicht die folgende Sequenz, dass diese Anpassungsbemühungen auch im Hinblick auf die Verwirklichung seiner Utopie wirksam werden. Bereits einige Zeit nachdem Bah die Idee formulierte, eines Tages ein eigenes Restaurant in Heidelberg zu eröffnen, fragt Kavith auf welche Speisen er sich spezialisieren wird. Bah antwortet darauf recht klar, er werde zuallererst deutsches Essen machen.
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I2: And you said you want to start a restaurant in Heidelberg? //Yes.// On what kind of food you want to specify? Bah: The first thing, I make German food and then the African food also I make this- //I2: German food means, for example?// German people? German food? Just like (…) I don’t know what- (lacht) how the food is (…) German food- like (.) Nudelauflauf and Putenrollbraten and German people they eat vegetables so often I think. They don’t eat much meat and fish, I think (.). I2: And African food? Bah: African food? Yes, I can cook Domoda, like Benachin, like fish pie (.) [x]. I don’t know if you know this- (lacht). I can make sweetballs also. (Bah Z427-Z434)
Auf Kaviths Nachfrage, was er mit »deutschem« Essen meine, überlegt Bah eine Zeit lang, bis er zwei »deutsche« Gerichte nennt. Auch hierin werden seine Bemühungen offenkundig, bestimmte Erwartungen einer »deutschen« Gesellschaft zu erfüllen. Mit Verweis auf die obigen Ausführungen kann (die Zubereitung von) Essen als eine Praktik interpretiert werden, die für Bah Bedeutungen und Ordnungen transportiert und erzeugt. Darüber hinaus nutzt Bah diese Fähigkeit, um seinen Aufenthalt in Deutschland sicherzustellen. Als Auszubildender erlaubt ihm das Aufenthaltsrecht den Aufenthalt in Deutschland für die Zeit seiner Ausbildung zum Koch sowie für zwei weitere Jahre. Dennoch konnte ebenfalls gezeigt werden, dass seine Entscheidungen und Zukunftspläne von dem Druck der Erfüllung diffuser Anforderungen durch Gesellschaft und Politik geprägt sind. Das Interview mit Bah ist Teil einer Biography-Photography-Session, wodurch unter anderem auch die Beschreibung seiner Wohnverhältnisse in die Überlegungen einfließt. Charakteristisch für Bah ist die Farbe Rot, was bereits in Kapitel 5.1.2. beschrieben wurde. Bah trägt oft rote Schuhe und eine rote Kappe sowie eine rote Jacke. Während seine Vorliebe für die Farbe Rot immer selbstverständlicher Teil meines Bildes von Bah war, erfahren wir beim Interview in seiner Wohngemeinschaft die Bedeutung der Farbe Rot. Als wir nach dem Interview einen Blick in sein Zimmer werfen zeigt sich, dass er einen kleinen rotlackierten Tisch besitzt (ein Geschenk der Vermieterin, da Rot seine Lieblingsfarbe ist), seine Deckenlampe mit rotem Transparentpapier beklebt ist und er zudem über eine Sammlung von mehreren, mehrheitlich roten Kappen mit breitem Schirm verfügt.
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I2: What kind of football do you like? Bah: English League (lacht), that’s why I wear the red shirt. //I1: Ah! That’s why the red color is always here-// Yes, Manchester United, in Gambia people say »Red Devil«, so they are always wearing red- //I2: So your favorite color is red?// Yes, my favorite color is red. I2: That’s why you are wearing red shoes and red cap. (Bah und I1 lachen) Bah: That’s why I wear them. Even in Gambia, in front of my door, I printed the batch of Manchester United in red. Even my cup I drink the tea, is red. So my friends [xx] they called me »Red Red« in Gambia. If you said »Bah« nobody would answer. But if you said »Red Red«, I said »Ah. [x]«I2: Ah, that’s your nickname in Gambia? Bah: Yes, even my father said sometimes »Mister Red Red« (lacht). […] Yes, in Gambia everybody called me »Mister Red Red« oder »Red Devil« like that in Gambia. (Bah Z639-Z648)
Auf die Frage welchen Fußball er mag, nennt Bah die English League und seinen Lieblingsverein Manchester United. Als Bah begründet, dass er deswegen ein rotes T-Shirt trägt, lachen wir, da Kavith und mir nun einleuchtet, dass die Farbe Rot einen speziellen Hintergrund hat. Er erläutert, dass die Spieler von Manchester United die Farbe Rot tragen, weshalb auch seine Lieblingsfarbe Rot ist. Er führt aus, dass er selbst in Gambia auf seine Tür das Zeichen von Manchester United malte und aus einem roten Becher trank. So nannte man ihn auch nicht bei seinem ersten Namen »Bah«, wie dies in Heidelberg die meisten tun, sondern »Mister Red Red« oder »Red Devil«. Die Farbe Rot als Identifikation mit den Farben und dem Verein Manchester United, ist somit ein kontinuierliches Merkmal, das er bis heute auch in Deutschland, nach außen trägt. Die Tatsache, dass er sowohl in Gambia als auch in Deutschland seine Wohnräume beziehungsweise Gegenstände des Alltags in Rot dekoriert, legen die Vermutung nahe, dass er trotz empfundener Einschränkungen, Restriktionen und Unsicherheiten auch in seinem jetzigen Leben in Heidelberg dadurch Beständigkeit gewinnt, indem er seine gängigen Selbstpräsentationen beibehält. Jenseits seiner Positionierung als Flüchtling beziehungsweise die dadurch an ihn herangetragenen Anforderungen, gewinnt Bah möglicherweise ein gewisses Maß an Macht und Kontrolle über die eigene Situation zurück. Beheimatung gelingt Bah mutmaßlich mit der Fortführung und Wiederaufnahme vertrauter Tätigkeiten und Praktiken der Selbstrepräsentation.
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Während er selbst seinen Aufenthaltsstatus und seine Zukunftsplanungen nicht sicher vorhersehen kann, sich sogar in ständiger Unsicherheit wähnt weil auch Integrationsanforderungen undurchsichtig erscheinen, nehmen Praktiken wie Kochen, beziehungsweise Essen und das nach außen Tragen identitätsstiftender Merkmale hierzu Gegenpositionen ein, die eine Kontinuität wesentlicher Charakterzüge und Interessen auch unabhängig von obigen Problemlagen ermöglichen. Yasmina befindet sich zum Zeitpunkt des Interviews in einer Lebenslage, in der sie nur wenig Spielraum sieht, ihre gegenwärtig empfundenen Problemlagen eigenmächtig zu überwinden. So stellen unter anderem der Umstand, dass sie bisher keine langfristige Arbeit gefunden hat und dass ihr Mann nicht nach Deutschland kommen kann, ihr Selbstbild als erfolgreiche, selbstbewusste und hochmobile Frau in Frage. Yasmina fühlt sich nicht imstande, an ihrer gegenwärtigen und ganz konkreten Lebenssituation selbst etwas zu ändern, vielmehr sieht sie sich in Abhängigkeit bestehender Verhältnisse. Yasmina findet aber für sich Trost, Selbstvergewisserung und Rückhalt in Utopien (Kapitel 5.2.5.) und Sehnsüchten (Kapitel 5.2.4.), die nicht Teil ihres derzeitigen Lebenszusammenhangs sind. Nach der Haupterzählung antwortet Yasmina auf die Frage, was ihr zum gegenwärtigen Zeitpunkt helfe, zunächst, dass der Glaube an Gott sie unterstütze. Später nennt sie außerdem das Schreiben. Obwohl ihre Konversion zum Christentum der Grund für ihre Ausreise aus dem Iran war, kommt Yasmina hier das erste Mal auf die Bedeutung des Glaubens zu sprechen und nach erneuter Nachfrage auch auf die Kirchengemeinde, die sie regelmäßig besucht. Im Gespräch mit Gott, aber auch mit dem Pastor und den Gemeindemitgliedern hinterfragt sie ihre Entscheidung zum Christentum übergetreten zu sein, da sie die Unterstützung von Gott nicht wahrnehmen kann. Sie verdeutlicht, dass sie mit dieser Haltung, die Macht eines Gottes grundsätzlich zu hinterfragen und dessen Unterstützung einzufordern, bei den anderen Gläubigen Aufsehen erregt, diese ihre Haltung sogar als gefährlich einstufen. Auch der Pastor scheint diese Einstellung »interesting«, also unüblich zu finden. At the moment, the only thing that helps me is God. I can say. Because of course we are human beings. I can say- even at the church here I said that I can say thathonestly sometimes I said: »Why did I do it? If it was a RIGHT way, why doesn’t God help me? Maybe it’s not the right way. But why shouldn’t I do it? Why should I do it?« And in the church my friends said (flüsternd): »Oh you shouldn’t say that, it is dangerous.« I said: »Why? We are human, we are not God!« We should think about
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these things, I think. And the pastor asked me: »Can you explain a little?« I said: »Yes, sometimes when I talk to God, I ask him: You are kind to me, you show me the way! You say that I am your fellow, you are my king. Where are you?« And he said: »It’s interesting, I never had such a thing.« Because all the people who are in the church, they said that we believe in God. I said: »I believe in God!« I was not a person who don’t believe in God. I was Muslim. When I was a Muslim I regularly was in the mosque, I prayed all the time. But I was looking for a better life, I was looking for a better way. But now when I take a look, I said: »It’s not better!« […]. I cannot say, I’m a really Christian, NO! I’m looking for a way! That’s why always when I talk to God, I ask: When you say I am your father and you are my children, please help! Where are you now? You know I did it for YOU! Then you should show. It is something thatbut honestly, he helps me a lot. He helps me a lot, and when I’m disappointed and talk to him and feel, maybe it’s something inside. (Yasmina Z366-Z389) In dem hier nur angedeuteten Gespräch zwischen ihr und dem Pastor erklärt Yasmina ihren Glauben und Zugang zu Gott. Sie bezeichnet sich als religiösen Menschen, da sie auch als Muslima regelmäßig betete und die Moschee besuchte. Die Suche nach einem anderen, besseren Weg für sich veranlasste sie zur Konversion zum Christentum. Ihre Religiosität sowie die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft geben ihr die Möglichkeit die Ursache ihrer heutigen vielfältigen Problemlagen zu hinterfragen und zu reflektieren. Entgegen ihrer Vorstellungen vor der Konversion beziehungsweise vor der Migration empfindet sie ihr Leben nicht als besser. Möglicherweise lässt sie diese Erkenntnis auch an ihrem Glauben zweifeln. Am Ende der oben angeführten Sequenz bekräftigt sie allerdings, wie zu Beginn der Frage, dass sie in dem Glauben an Gott Unterstützung findet. Auf meine Bitte über ihre Gemeinde zu erzählen beschreibt Yasmina, dass sie seit ihrer Ankunft in Deutschland mehrere Gemeinden besuchte und sich schließlich für eine Glaubensgemeinschaft in Bergland, nahe Heidelberg, entschied. Als Begründung für die lange Suche nach der passenden Gemeinde führt sie aus, dass man sie oft nach ihrem Privatleben gefragt habe oder aber ihr riet, sie solle ihren Mann im Iran vergessen und neu anfangen. Die folgende Sequenz ist der letzte Teil eines längeren Abschnitts, in dem sie schildert, wie sie die jetzige Gemeinde fand und welche Vorteile sie sehe, gegenüber zuvor besuchten Glaubensgruppen. But Bergland, I can say the atmosphere is completely different. Most of them are (.) high skilled. I can say it is NOT very important in one side but on the other side it will be. Because when you study more, you will learn more and the lifestyles will
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change. I think- […] And if it changes, you will change. That’s why. I think that even the people who are old, 82, they are very nice friends to me. I have five- they are five [x]. All of them are over 80. 82, 86, 80, 81- it’s nice! I really love to talk to them. They are so nice. They (.) talk to me, they never ask about my private life. And I don’t like it, it’s- They told me »when you don’t like to answer any question, you can directly say that.« We never learn it in Iran. […] But here I learn, when I don’t like to talk about this situation, I say »I don’t want to talk about it. Please don’t continue.« I learn it here. I think it’s nice, when you are out of pressure. Why should you? (Yasmina Z473-Z483) Von besonderer Wichtigkeit ist für sie, dass die meisten Mitglieder hochqualifiziert sind. Sie erklärt, dass es für sie einen Unterschied mache, mit Akademikerinnen zusammen zu sein, da man einen ähnlichen Lebensstil pflege. Dies gelte auch unabhängig vom Alter, denn Yasmina erwähnt eine Gruppe von älteren Menschen, mit denen sie gerne Zeit verbringt und sich unterhält. Insbesondere fragen diese nicht nach ihrem Privatleben und akzeptieren, wenn sie eine direkte Frage hierzu zurückweist. Sie fühlt sich respektiert, da persönliche Grenzen geachtet und eingehalten werden, was sie im Iran in dieser Weise nicht erlebte, sondern erst in Deutschland lernte, wie sie sagt. Es lässt sich aus diesen Ausführungen ableiten, dass Yasmina in der Glaubensgemeinschaft nicht allein Gelegenheit zur religiösen Reflexion, zum Austausch und zum Verarbeiten ihres Lebenswandels, des Glaubens und ihrer heutigen Situation findet. Ebenso schätzt sie das soziale Umfeld, da sie hier in der Rolle der Hochqualifizierten agieren kann und aktuelle Problemlagen, wie ihre Arbeitslosigkeit und auch finanzielle Engpässe, nicht bestimmend sind. Sie wird nicht allein in der Rolle der geflüchteten Frau wahrgenommen und angesprochen, sondern behält gewissermaßen in diesem Kontext selbst Kontrolle und Würde. Daher wird diesem Aspekt eine entscheidende Bedeutung beigemessen, als Form und Praktik der aktiven Beheimatung. Bah und Yasmina empfinden beide ein hohes Maß an Unsicherheit in Bezug auf eigene Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten, jetzt sowie auch in Zukunft, allerdings aufgrund unterschiedlicher Rahmenbedingungen. Beide finden Trost und Hoffnung in Utopien (Kapitel 5.2.5.), die nicht in Relation zu ihrem tatsächlichen Asylstatus, beziehungsweise ihrer wahrgenommenen Lebenssituation stehen. In den hier feinanalytisch interpretierten Sequenzen konnte darüber hinaus herausgearbeitet werden, dass beide trotz empfundener Einschränkungen Handlungs- und Reflexionsspielräume im Alltag ausmachen und nutzen. Bah setzt dazu ihm bekannte und vertrau-
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te Muster, Traditionen und Praktiken fort, die er bereits in seinen biographischen Erzählungen in Gambia verortet. Diese transportieren und erzeugen Bedeutungen und Ordnungen. Yasmina, die aufgrund ihrer Konversion zum Christentum nach Deutschland migrierte, aber feststellt, dass dies nicht zur Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse beiträgt, setzt sich nun kritisch mit ihrem Glauben auseinander. Sie fragt in ihren Gebeten und im religiösen Gespräch ganz offen nach dem Sinn ihrer Entscheidung. Sie findet dabei auch Erfüllung und Heimat in der Glaubensgemeinschaft, wo sie mit anderen einen ähnlichen Lebensstil teilt und ihre gegenwärtige Lebenssituation im religiösen Gespräch reflektieren kann. Die beschriebenen Praktiken werden dabei als alltägliche Praktiken der Beheimatung gedeutet, da sie Teil des Alltags sind, allerdings im Gegensatz zu den in Kapitel 5.2.3. beschriebenen Strategien, die auf Beheimatung abzielen, kein konkretes Ziel anvisieren. Sie sind Versuche und Wege Handlungsspielräume zu nutzen, Kontinuität zu wahren sowie Kontrolle zu behalten über das eigene Selbst- und Fremdbild.
5.2.3
Strategien der Beheimatung und Beheimatung als Strategie
Strategien der Beheimatung manifestieren sich in konkreten Handlungen in der Lebens- und Alltagswelt. Ihre Ausbildung und Mobilisierung basiert auf langfristigen Überlegungen und verfolgt das Ziel der Beheimatung. Ausgehend von den Befunden der empirischen Analyse können zwei Formen unterschieden werden. Zum einen wird Beheimatung als Strategie verstanden und meint die fortdauernde Bemühung, etwas Vertrautes aufrecht zu erhalten, ein Konzept, das in ähnlicher Weise auch in der wissenschaftlichen Literatur beschrieben wird. Zweitens beschreiben Strategien mit dem Ziel der Beheimatung im Alltag etablierte, aber auch als übergeordnete Strategie formulierte, Bemühungen, sich eine bestimmte Lebenswelt anzueignen. Ausgewählt und feinanalytisch interpretiert werden Themen und Sequenzen aus den Interviews mit Lavin, Kavith, Attila und Yochanan. Lavin gelingt Beheimatung mit einer bewussten und strategischen Persönlichkeitsentwicklung vom Kind zum Erwachsenen, was nachfolgend noch genauer erläutert wird. Für Lavin bedeutet seine Migration in die Türkei und später die Weiterreise nach Deutschland die bewusste, aber doch schmerzliche Aufgabe früherer kindlicher Lebensverhältnisse. In seinen Reflexionen wird deutlich, dass er mit seiner Entscheidung zur Migration in die Türkei und später nach Deutschland, die Gewohnheiten, Eigenschaften und das Selbstverständnis, ein Kind oder Jugendlicher zu sein, bewusst ablegt. In der
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folgenden Sequenz erklärt Lavin seinen frühen Wunsch Syrien zu verlassen und führt dies auf mehrere Gründe zurück: So lebt sein älterer Bruder, mit dem er auch später in Heidelberg leben wird, bereits in der Türkei. Zudem plagen ihn Erinnerungen an eine traumatische Begegnung mit einem Soldaten, als er 15 Jahre alt war. Drittens hörte er bereits von anderen im Ausland lebenden Bekannten, dass sie ein Leben in Freiheit führen. Mein Bruder war im Ausland. //I1: Der war schon vorher gegangen.// Ja. Er war vier Monate vor mir. Als ich wiedermal in Damaskus war, hatte ich wiedermal das Gefühl, dass ich Angst habe und dass ich irgendwie durch die Erinnerung nicht mehr hier leben kann. Beziehungsweise wenn ich immer hier lebe, dass ich nichts mehr schaffen kann. Das habe ich mit meiner Mutter besprochen, meine Mutter meinte, ich muss dann halt das durchhalten, es geht ja nicht anders. Ich wollte gerne, dass ich mal dieses Land verlasse, weil ich so viel von Menschen gehört habe, die im Ausland waren beziehungsweise die Bekannte haben, die im Ausland leben. Was für Freiheit sie haben und was für ein Leben sie haben. Und ich wollte auch gerne so ein Leben, weil ich einfach nicht mehr wollte, dass ich unter Angst, unter diesem Druck leide. Ich weiß, dass das irgendwie doof war beziehungsweise es hat komisch geklungen, dass ich mit 15 ins Ausland wollte. Meine Mutter hat das nicht akzeptiert, mein Papa auch. Aber ich habe die überzeugen können. (Lavin Z406-Z416) In der Vorstellung ins Ausland zu gehen manifestiert sich für Lavin die Chance auf ein Leben in Freiheit. Zudem drängen ihn traumatische Erinnerungen das Land zu verlassen. Seine Eltern stehen zunächst nicht hinter der Entscheidung, akzeptieren aber am Ende seinen Wunsch, worauf er gehen kann. Die Konsequenzen seiner Entscheidung in die Türkei zu seinem Onkel und zu seinem Bruder zu gehen, legt er in seinen Schilderungen nüchtern dar. Er verdeutlicht hier, dass ihm die möglichen Schwierigkeiten bewusst sind, so spricht er beispielsweise kein Türkisch, muss seinen Lebensunterhalt selbst verdienen und kann nicht mehr mit Freundinnen spielen. Zugleich erklärt Lavin, dass er bereits vor seiner Migration in die Türkei überzeugt ist, diese Schwierigkeiten meistern zu können. Ich wusste es vorher, als ich in Syrien war, was mich erwartet. Ich wusste, dass es schwierig wird und dass ich die Sprache nicht beherrsche und dass alles zu schwierig wird. Aber für mich war es irgendwie egal, ich schaffe es. Ich hatte diesen Gedanken in meinem Kopf. Und als ich dann in Istanbul war, war ich nicht enttäuscht, sondern es war einfach alles wie ich es mir vorstelle. Dass ich hart arbeite, dass ich Schwierigkeiten mit der Kommunikation mit den anderen Leuten habe. Dass ich keine Zeit
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mehr habe zum Spielen oder zum Rausgehen oder, dass ich keine Freunde mehr habe und, dass ich kein Fußball mehr spiele. Und dass ich keine Hobbys mehr haben kann, sondern dass ich nur arbeite und das war es. Das war für mich ganz in Ordnung. Und weil das für mich in Ordnung war und weil ich das Gefühl hatte, dass ich gerade was schaffe, hatte ich dieses Gefühl, dass ich glücklich bin. (Lavin Z424-Z431) Es ist daher nicht allein eine räumliche Mobilität, die ihm bevorsteht: Wie hier deutlich wird, bereitet sich Lavin bereits vor der Migration darauf vor, die Verhaltensweisen eines Kindes abzulegen, wie mit Freundinnen draußen zu spielen und Hobbies nachzugehen. Er bekräftigt am Ende der obigen Sequenz, dass er es nicht als Einschränkung empfand, nur arbeiten zu müssen, vielmehr machte ihn das glücklich, da er ein konkretes Ziel vor Augen hatte. Lavins Vorgehen wird in dieser Interpretation daher als bewusste Strategie gedeutet. In der Gewissheit seinen Plan in die Tat umsetzen zu können, ist er bereit, sein bisheriges vertrautes Dasein als Kind hinter sich zu verlassen und sich in einer drastischen Wende neu zu orientieren. Auch wenn Lavin heute ein Leben in Freiheit führt, studieren kann und einen internationalen Freundeskreis hat, so war der Erfolg seines Vorhabens doch nicht gewiss und der Prozess möglicherweise schmerzhaft und wenig »heimatlich«. Lavins strategisches Verhalten setzt sich nach dem Absolvieren des Abiturs in der Türkei fort. Er möchte studieren, als Syrer ist er aufgrund einer Gesetzesänderung allerdings auf einige wenige, an der Grenze zu Syrien gelegene Universitäten in der Türkei beschränkt (Lavin Z156ff). Nur kurz bevor er das Abitur ablegt; migriert zudem sein Bruder von der Türkei nach Deutschland. Während Lavin die Entscheidung Syrien zu verlassen im Interview recht ausführlich schildert, so gilt dies nicht für das Vorhaben die Türkei Richtung Europa zu verlassen: eine Woche nach seiner Abschlussprüfung fährt er in einem Boot nach Italien. Die folgenden beiden Sequenzen beinhalten das in Lavins Interview mehrmals auftauchende und zuvor bereits ausgeführte Motiv des Erwachsen-seins und Kind-seins. Die Sequenzen stehen in chronologischer Reihenfolge und können in der gemeinsamen Betrachtung Aufschluss geben über die hier analysierten Strategien der Beheimatung. Von Interesse ist dabei die jeweilige Beschreibung beider »Zustände« sowie der Wechsel zwischen diesen. Der nächste Abschnitt beschreibt Lavins Ankunft in Bremen. Lavin hatte sich entschieden, entgegen der Empfehlungen eines in Berlin lebenden Onkels, den Asylprozess in Bremen zu durchlaufen. In besonderer Erinnerung ist ihm die Begegnung mit der Bremer Polizei bei seiner
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Ankunft: Man umarmt ihn, gibt ihm Essen und Trinken, bietet ihm einen Schlafplatz an, ist freundlich zu ihm und fährt ihn zu einem Jugendamt. Er wird als minderjähriger, allein reisender Flüchtling registriert und genießt eine besondere Fürsorge. Da waren so zwei Polizisten, ich habe die angesprochen und ich habe gesagt auf Englisch, dass ich Syrer bin und ich da bin, neu. […] Er hat mich angelacht und sogar gefragt, ob ich eine Umarmung brauche. Dann sagte ich »Ja.« Er war voll nett. Und dann war ich drin, ich habe ein sehr leckeres Essen gekriegt, es war Reis mit Fisch. Ich glaube bis jetzt war das das Allerleckerste, das ich gekriegt habe. Und dann, als er gesehen hat, dass ich minderjährig war- […], ich war 17. Er hat sich um mich gekümmert, er hat mir Essen gegeben, Wasser und gefragt ob ich müde bin und schlafen will. […] Und dann hat er mich zu dem Jugendamt gefahren oder wo auch immer. Ja, dort fing einfach mein Leben in Deutschland an. (Lavin Z279-Z281) In der Schilderung dieser Aufnahme verdeutlicht Lavin ein empfundenes Wohlbefinden. War er in den Jahren zuvor in Gänze auf sich allein gestellt und durchlebte in der Türkei und auf seiner Reise nach Deutschland zahlreiche (in gewissem Maße) erwartete Entbehrungen, so zählt er an dieser Stelle auf, was man ihm anbietet. Dabei nennt er nicht einen Schul- oder Studienplatz, sondern eine Umarmung, das leckerste Essen, das er je bekommen hat und einen Ort zum Schlafen. Aufgrund der verzögerten Bearbeitung seines Antrags auf Familiennachzug kann er diesen Anspruch nicht geltend machen. Lavin entscheidet sich nach etwa eineinhalb Jahren zu seinem in Heidelberg lebenden Bruder zu ziehen und kann bei derselben Gastfamilie leben. Am Ende der folgenden Sequenz kontrastiert Lavin das Leben bei der Gastfamilie mit seiner Situation in Bremen als unbegleiteter Flüchtling. Dass Lavin hier das Kind-sein auf seine Zeit in Bremen und das Erwachsen-sein auf die neue Lebenssituation in Heidelberg bezieht, liegt nahe. Die Betreuung ist ein Beispiel für die Behandlung als Kind. Mein Bruder ist auch nach Heidelberg gezogen. […]. Dann bin ich hierhin umgezogen, dann war ich bei einer Gastfamilie in Heidelberg. Ich habe bei denen gewohnt, einen Deutschkurs besucht, da hatte ich ganz andere- da hatte ich ganz andere Sachen erlebt. Also ganz anders als ich früher hatte. Früher war ich wie ein Kind, beziehungsweise wurde so behandelt. Und jetzt bin ich einfach ein Erwachsener und keine Schule mehr, sondern einfach ein Deutschkurs und kein Betreuer mehr. Das war für mich okay, das war halt einfach okay. (Lavin Z313-Z318)
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Lavin erklärt, dass er früher als Kind behandelt wurde, nun aber ist er ein Erwachsener. Er hat keine betreuende Person mehr und er belegt eigenständig einen Deutschkurs. Ähnlich wie oben legt Lavin bewusst die Rahmenbedingungen und Privilegien ab, die er als Kind beziehungsweise als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling erhielt. In Bremen kennt Lavin kaum Deutsche oder andere Personen (Lavin Z515), während sein Bruder bereits in Heidelberg lebt. Die erneute Entscheidung seinem gewohnten Lebensumfeld zu »entwachsen«, trifft er in dem Wissen, nicht mehr wie ein Kind zu sein oder wie eines behandelt zu werden, jedoch in der Vorstellung mit seinem Bruder zusammen leben zu können und sich dadurch zu beheimaten. Die Strategie besteht bei Lavin im bewussten und reflektierten Übergang vom Kind zum Erwachsenen, der sich in seiner Biographie zweimal vollzieht. Zunächst in der Migrationsentscheidung, von Syrien in die Türkei zu ziehen und dann von Bremen nach Heidelberg. Dies zeigt eine mit dem Ziel der Beheimatung unternommene Anstrengung, die sich vollzieht in dem bewussten Ablegen bestimmter Privilegien und der mitunter mühevollen Aneignung eines neuen Lebenszusammenhangs. Lavin beabsichtigt, seine Lebenssituation zu verbessern, auch um studieren zu können und in Freiheit zu leben, wie er zu Beginn formuliert. So wird gefolgert, dass ein Leben in Sicherheit mit einer konkreten Zukunftsperspektive bedeutsam ist in Lavins Heimatgefühl. Zu bedenken bleibt, dass Levin dies nach seiner erfolgreichen Flucht reflektiert, während sich die anderen hier geschilderten Strategien auf den gegenwärtigen Lebenskontext beziehen. Lavin spricht also von einem Standpunkt aus, wo er sich des Erfolgs seiner strategischen Bemühungen schon bewusst ist. In Kaviths biographischer Erzählung lassen sich verschiedene Strategien identifizieren, die zum Teil in der hier vorgenommenen Analyse als Strategien der Beheimatung betrachtet werden können. Ausgewählt und feinanalytisch interpretiert werden erstens Sequenzen, in denen Kavith seine Verbindungen zur linkspolitischen Szene sowie seine Fähigkeiten als Grafikdesigner und Künstler, bewusst einsetzt, um in Heidelberg und Berlin sozial, politisch aber auch professionell Fuß zu fassen. Zweitens erweist sich sein Rucksack als bedeutsames Artefakt seit seinen Tätigkeiten als Fotojournalist in verschiedenen Ländern Südasiens. Auch in der Gegenwart misst Kavith diesem einen hohen persönlichen und ideellen Stellenwert bei, weshalb dieser hier als Teil einer Beheimatungsstrategie Beachtung findet. Drittens reagiert Kavith auf Kategorisierungen in Form von positiver und negativer Diskriminierung mit Täuschung und Spott. Geschickt spielt er mit Zuschreibungen, entzieht sich diesen und gewinnt dadurch Handlungsmacht zurück.
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Im folgenden Abschnitt erläutert Kavith, wie ihm der Eingang in die verschiedenen politischen Gruppen und Tätigkeitsfelder in Berlin und Heidelberg gelingt. Aufgrund seiner Fähigkeiten als Grafikdesigner übernimmt er bald nach seiner Ankunft in Deutschland bei Konferenzen oder anderen Veranstaltungen die Aufgabe Flyer oder anderes politisches Material zu gestalten, auch, da er hierfür keine beziehungsweise kaum Sprachkenntnisse benötigt. In Berlin knüpft Kavith über Freundinnen Kontakte und bewegt sich bald eigenständig in der linkspolitischen Szene. Am Ende der folgenden Sequenz erklärt er, er besuche seit etwa drei Jahren ein im kreativen, linkspolitischen Spektrum verortetes Festival. Da er sich jedes Jahr bereit erkläre, dort einen künstlerischen Beitrag zu leisten, habe er nie für ein Ticket bezahlen müssen. And for example when I get to Heidelberg it was very easy for me to access because I know how to do graphics, because it is easy- I can offer »yeah, I will do the flyers.« Then the communication is- I don’t need any language you know? […] and then at the same time parallel I also enter the scene in Berlin a little bit. Because Anne used to live in Berlin and they have a really amazing ?functional? house, a lot of people, a lot of musician, a lot of activists. (.) I used to go every three months to Berlin when I was in Freiburg, even when Anne moved out from Berlin I was still continuing[…] Since 2015, yeah 2016 I am going to the festival in this German sub culturalEuropean sub cultural festival you know, techno and- I never pay any single ticket. It is my contact you know. […] Because this thing doing art- because I have always to tell something, »okay I will do this thing there« you know. (Kavith Z1739-1751) Die Verbindung zur linken Szene, die kritische Haltung gegenüber staatlichem Handeln und gesellschaftlichen Schieflagen sowie das Anprangern von Diskriminierung und Rassismus spielen für Kaviths Selbstverständnis eine bedeutende Rolle. Insbesondere seitdem er sich an der Universität in einer linken Studierendenvereinigung engagierte und später seinen Beruf als Grafikdesigner aufgab, um als Fotojournalist den Bürgerkrieg in Sri Lanka zu dokumentieren. Schließlich war er gezwungen, aufgrund seiner Aktivitäten ins Exil nach Nepal beziehungsweise nach Deutschland zu gehen. Die obige Sequenz ist daher auch ein Beispiel, wie es Kavith gelingt, an diese Kontinuitäten anzuknüpfen. Die Entwicklung seines künstlerischen Interesses verortet Kavith bereits in seiner Schulzeit; zum ersten Mal konkret eingebunden in die Kunstszene ist er in Nepal. Auch in Deutschland kann er seine künstlerischen Fähigkeiten anbringen, so gestaltet Kavith, als er in einer Flüchtlingsunterkunft bei Freiburg lebt, erste Kunstausstellungen. Diese aus der obigen
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Sequenz abgeleitete Erkenntnis bestätigt sich auch in Kaviths folgender Aussage. This is actually I would say like- (.) to make more comfortable here, all the struggle and so and so. There are two things very (.) very strongly. First I am doing art and second I was involved in the left politics before I came here. So it gives me the chance, very easily, I don’t need to learn about a lot of things politically. […] this whole mood of- anticapital mood is the same everywhere in the world you know. (Kavith Z1669Z1675) Kunst und sein linkspolitisches Engagement bieten Kavith die Möglichkeit, an vorhandene Strukturen und politische Leitbilder in Deutschland und Europa anzuknüpfen. Ihm gelingt es, den Streit für seine politischen Ideale weiter zu führen und mit künstlerischen Mitteln darzustellen. Er bedient sich dabei unter anderem gängiger und international gültiger Ideen und Leitsätzen zum Antikapitalismus. Darüber hinaus erklärt Kavith, er fühle sich angesichts verschiedener Problemlagen aufgehoben, »comfortable«, in beiden Aktivitäten. Was Kavith mit der Andeutung »all the struggle« meint, wird auch vor oder nach der Sequenz nicht deutlich, möglicherweise verweist diese Formulierung auf aufenthaltsrechtliche Fragen. Neben dieser professionellen und politischen Anbindung verdeutlicht sich insbesondere in der zuerst angeführten Sequenz, dass Kavith hierdurch Kontakt zu Gleichgesinnten findet. Kaviths Rucksack gewinnt an Bedeutung als er sich dazu entscheidet, als Fotojournalist im Norden Sri Lankas zu arbeiten. Sein politischer Aktivismus zwingt ihn, in den folgenden Monaten und Jahren mobil zu sein und grundsätzliche Dinge, wie auch sein »Büro«, bei sich zu tragen. War die Tasche ein unentbehrliches Objekt eines vorherigen Lebenszusammenhangs, so spielt sie auch in Deutschland eine wichtige Rolle, jedoch hat sich ihre Funktion, ebenso wie der politische und gesellschaftliche Kontext, geändert. In der folgenden Sequenz beschreibt Kavith seine Lebensweise als Journalist in Sri Lanka. Er schläft und arbeitet mit seiner Kollegin in Kirchen und Hütten, was er benötigt trägt er in seinem Rucksack bei sich: Computer, Kamera, Bücher, Kleidung, Hygieneartikel und eine Wasserflasche. Dies sei genug, um als Journalist zu arbeiten. We went there staying in some churches, small huts and were sleeping there- and with the computer- if I have a computer always people said I have my studio in my bag. I always have a camera and a few books, clothes, tooth paste, tooth brush, un-
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derwear, t-shirt and one towel. This kind of bag I have always- and one water bottle. This is like- this is enough for me to do journalism you know? (Kavith Z892-Z896) Vermittelt Kavith in dieser Beschreibung in erster Linie die Funktionalität seiner Tasche, so erwähnt er sie doch noch mehrmals in seiner biographischen Erzählung. Er rettet sich beispielsweise unter Einsatz der Tasche als Schlagwaffe vor einer drohenden Entführung (Kavith Z1044). An anderer Stelle berichtet er von dem bis heute nicht überwundenen Verlust einer Festplatte, die er damals nicht in seiner Tasche bei sich trug (Kavith Z1349). In der folgenden Sequenz kommt Kavith erneut auf die Tasche zu sprechen, betont dabei aber deren Bedeutung in seinem derzeitigen Lebenszusammenhang. Er erklärt, die Tasche entfalte nicht allein ihre Bedeutung aufgrund des darin befindlichen Inhalts. Vielmehr vermittle ihm die Kamera, die er darin trägt, ein hohes Maß an Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit, beispielsweise wenn er als Person of Color Demonstrationen fotographisch dokumentiere. The bag I am carrying always. It is not about what is the bag, whole my studio still in the- with the computer and all the stuff. Computer bag, camera bag, these are actually not- for example when I am with the camera in the demo, I am fully fully fully confident and fully fully (.) secure. Because I know nobody would touch me. Police won’t. Sometimes I am the only Person of Color holding the camera in the whole demos. But they are not really touching me because they are not sure how my status is. (Kavith Z2186-Z2193) Mit der fotographischen Dokumentation, beispielsweise politischer Demonstrationen, ändert sich Kaviths Außenwahrnehmung und damit auch das Verhalten von Polizistinnen ihm gegenüber. Für diese ist nicht eindeutig ersichtlich, in welcher Rolle Kavith auf der Demonstration ist, als Journalist oder Demonstrant. Zudem könnte Kavith eventuelles Fehlverhalten der Polizei direkt dokumentieren. Die Kamera vermittelt ihm daher ein Gefühl der Sicherheit, sie sichert aber auch andere Demonstrantinnen. Die Bezeichnung Person of Color 6 verwendet Kavith an dieser Stelle das einzige Mal in Interview. Er weist 6
Der Begriff People of Color beziehungsweise Person of Color ist eine Selbstbezeichnung von und für Menschen mit Diskriminierungserfahrungen. Stammt der Begriff ursprünglich aus der Kolonialzeit, so eignete sich die Black Power-Bewegung in den USA diesen in den 1960er Jahren an. People of Color entwickelte sich zu einer anti-rassistischen Selbstbezeichnung und einem politischen Kampfbegriff. Heute ist der Begriff Ausdruck einer Bewegung, die gesamtgesellschaftliche und internationale Entwicklungen unter dem Leitspruch »All Power to the People« anstößt. People of Color fordern
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darauf hin, dass er im Alltag sowie institutionell Rassismus ausgesetzt ist, da seine Hautfarbe nicht als weiß gelesen wird. Mit dem Tragen der Kamera, was er an anderer Stelle als »very white job« bezeichnet (Kavith Z2120f), kann er dem in Teilen und zeitweise entgehen. Auch wenn Kavith in der obigen Sequenz primär die Bedeutung seiner Kamera hervorhebt und nicht der Tasche, so beginnen doch seine Ausführungen mit dem Verweis auf diese. Die Tasche wird zum wichtigen Objekt seit seiner Tätigkeit als Fotojournalist in Sri Lanka. Aus der gegenwärtigen Perspektive kann allerdings geschlossen werden, dass sich ihre Funktion gewandelt hat: Während Kavith in der Szene zuvor den Inhalt der Tasche aufzählt und diesen als ausreichende Ausstattung eines Journalisten bezeichnet, so benennt er in der obigen Sequenz lediglich die darin befindliche Kamera und beschreibt sein Gefühl der Selbstsicherheit, das mit ihrer Nutzung einhergeht. Die Tasche mit der Kamera wird daher in dieser Analyse als Strategie der Beheimatung bezeichnet. Kavith misst ihr ganz bewusst einen gewissen Stellenwert bei. Sie vermittelt ihm ein Gefühl von Heimat, das sich in Autonomie, Selbstbewusstsein und Sicherheit ausdrückt, insbesondere im Kontext von Rassismuserfahrungen. Die dritte hier ausgeführte Strategie der Beheimatung steht in engem Zusammenhang mit Kaviths Erfahrungen sowohl als Person of Color als auch als Fotograph bei einer politischen Demonstration. Als Flüchtling und Person of Color macht Kavith vielfältige Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen, die auch in Kapitel 5.2.2. ausgeführt wurden. Kavith erlebt diese als dominante, von einer Mehrheitsbevölkerung ausgehende Festschreibungen auf bestimmte, auch biologische, Merkmale. In der folgenden Sequenz reflektiert Kavith selbst erlebten positiven Rassismus sowie dahinterstehende Vorannahmen während seiner ersten Zeit in Deutschland. I mean then there also is a positive racism you know. Through for example from Helperkreis. They were saying »ah, he is a good refugee« you know? And like- they try to divide people from me and some- I saw sometimes »he is an educated guy« you know? Like this way. And (.) also for example- some time- (.) I read the German philosophy in the early time of my studies because I studied philosophy and politics. And a big part of our studies is Hegel, Kant, Derrida, and also Heidegger some part- ontology part. […] we had one discussion with one person and then I was saying about unter anderem politische Partizipation an gesellschaftlichen Entscheidungen, eine soziale Gleichstellung sowie Räume und Ressourcen für die öffentliche Vermittlung der eigenen Geschichte (Ha 2009).
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like Albert Speer, this Nazi-architecture, she was saying like »How YOU know these things?« Because they think, they don’t know about anything in Sri Lanka, which means I don’t know anything about Germany. And they always say »We Germans, we Germans like to do this and that.« It is like »I accept you, I like you but we are different« you know? (Kavith Z1658- Z1671) Kavith wird von den Mitarbeiterinnen eines Asylarbeitskreises besser behandelt als andere Geflüchtete in der Unterkunft. Man sagt, er sei ein »guter Flüchtling«, da er gebildet sei. Als Kavith jedoch in einer Diskussion sein Wissen zu unterschiedlichen Philosophinnen sowie dem Architekten Albert Speer einbringt, wird er von einer der Sozialarbeiterinnen gefragt, woher er das wisse. Kavith betont bei der Wiedergabe ihrer Aussage das Wort »you« um deutlich zu machen, dass man ihm als Flüchtling aus Sri Lanka dieses Wissen nicht zugetraut hatte. Er erklärt dies als ein generelles Muster in der Kommunikation: Man etabliere Unterschiede zwischen Menschen auf der Grundlage ihrer Nationalität, wobei hier in erster Linie Bedeutung hat, was »Deutschsein« ausmache. Dass Kavith hier sein Wissen über deutsche Philosophie und Architektur einbringt, irritiert diese festen Annahmen, setzt sie allerdings nicht außer Kraft. Vielmehr wird sein Wissen wohlwollend registriert und Kavith als »educated guy« im Verhältnis zu anderen geflüchteten Personen positioniert. Hierdurch bleibt Kaviths Annahme, dass Flüchtlinge als per se weniger gebildet beziehungsweise minderbemittelt gelten, bestehen. Kavith widersetzt sich diesen Kategorisierungen auf unterschiedliche, auch amüsierte Art und Weise. Dies gelingt ihm mit seinem politischen Engagement und auch durch die Kunst. In der folgenden Äußerung erzählt Kavith aber ebenso, wie er die generelle Annahme, Flüchtlingen etwas beibringen zu müssen, ins Lächerliche zieht. So passt Kavith seine Sprache an, um dominante diskriminierende Vorannahmen hinters Licht zu führen. I know I- even I play these language games you know? Using a little bit higher, upper language, vocabulary of the academics. […] They don’t know who you are, they keep playing a very safe game. This is what I am playing a lot, not with friends but strange people, like who are close to me and ask- like talking- and also in general in European- about the global south, especially also including the refugees they think »they don’t know anything« it is a general public opinion. They try to teach every single thing. This is the point I see these intercultural things really. Because intercultural means »who have the power, they will lead the discourse«. (Kavith 21992189)
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Kavith erklärt, er nutze in Gesprächen Bildungssprache, wobei er diese Verhaltungsweise, wörtlich übersetzt, als Sprachspiele bezeichnet. Hierdurch würden generelle Vorannahmen über Menschen aus dem globalen Süden, insbesondere über geflüchtete Personen, nicht greifen und man könne auch ihn nicht eindeutig zuordnen. Er spezifiziert, dass er so nicht mit Freundinnen umgehe, wohl aber mit anderen Personen, mit denen er direkten Umgang pflegt. Am Ende der Sequenz geht er zudem kurz auf den Begriff der Interkulturalität ein: Kavith, so wird hier deutlich, versteht diese nicht als einen gleichberechtigten Austausch zwischen vermeintlich unterschiedlichen »Kulturen«. Unter dem Deckmantel der Gleichberechtigung handle es sich eher um klar verteilte Machtstrukturen zu Ungunsten von Flüchtlingen beziehungsweise Personen des Globalen Südens. Kaviths subtiles wie offensives Aufbegehren gegen rassistische Denkstrukturen sowie direkte Zuschreibungen wird hier ebenfalls als Strategie der Beheimatung bezeichnet. Sie ermöglicht es ihm Fremdbestimmungen, Vorbestimmungen, insbesondere auch Zuschreibungen als Flüchtling zu entgehen. Er beabsichtigt darin, Kontrolle über Fremdpositionierungen in konkreten Interaktionen zu bewahren. Zugleich lässt sich diese Haltung auch als Zurückgewinnung von Macht begreifen: Indem er rassistische Denk- und Verhaltensmuster seines Gegenübers ad absurdum führt (beispielsweise mit den Sprachspielen), gewinnt er die Oberhand in der Interaktion zurück. Der Aspekt der Beheimatung erklärt sich hierin in folgender Weise. Kavith gelingt es mit den Mitteln der Irritation und Täuschung Autonomie und Persönlichkeit zu bewahren. Hierin verdeutlichen sich Zugehörigkeiten und politische Loyalitäten. Sein Verhalten ist dabei eine direkte Reaktion nicht nur auf individuelle, sondern auf global wirkende Machtstrukturen. In Attilas biographischen Erzählungen lässt sich der starke Wunsch herauslesen, die eigenen und vermutlich auch familiären Erwartungen an ein Leben in Deutschland zu erfüllen, Anerkennung für seine Arbeit zu erhalten und Vertrauensbeziehungen auf Augenhöhe zu seinen Arbeitskolleginnen zu pflegen. Seine Bemühungen sind dabei ganz auf die Bewältigung seiner gegenwärtigen Lebenssituation gerichtet. Sie werden aber immer wieder gehemmt von traumatischen Erinnerungen, einer längeren depressiven Phase und einem Gelingensdruck. Zentrale Motive in seinen Schilderungen sind das Vergessen, das Erinnern sowie die Vorstellung von der eigenen Wiedergeburt in Deutschland. In immer wieder genannten Formulierungen, etwas nie zu vergessen oder sich an etwas anderes nicht mehr erinnern zu können, wird eine größer werdende, auch existenzielle innere Entfernung von verschiedens-
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ten Erinnerungen vor seinem Leben in Deutschland deutlich. Seine Beheimatungsstrategien beziehen sich auf das Vergessen dieser früheren Momente, den Drang in Deutschland keine Fehler zu machen und einen langfristigen Aufenthalt zu erhalten. Demgegenüber steht aber auch das unbedingte Festhalten an bestimmten Erinnerungen und wiederum das Unvermögen andere Geschehnisse nicht vergessen zu können. Die folgende Sequenz steht nach der ersten Frage der gesprächsimmanenten Nachfragephase. Ich bitte Attila seine Kindheit noch etwas genauer zu beschreiben. Die Sequenz verdeutlicht, dass Attila den Kerngedanken fleißig und strebsam zu sein, um eine positive Zukunftsperspektive zu haben, als einen Auftrag seiner Eltern betrachtet, den er bereits in der Kindheit verortet. Ich war besonders ruhig. Also mein Bruder ist jetzt 23, ich bin erst 24. Ja, der macht dauernd Probleme zuhause. Aber ich war immer ruhig. Der hat angefangen mit Rauchen, bevor ich damit angefangen habe. Also der hat mir gezeigt, wie man es macht. Und davon habe ich gelernt. Ja, die Atmosphäre zuhause war-war cool. Also meine Eltern haben immer gesagt, dass ich gut lernen muss, damit ich eine gute Zukunft kriege. Wir konnten damals das nicht verstehen, weil wir Kinder waren. Aber jetzt kann man das schon verstehen. Dass die Eltern die Kinder nicht ärgern oder stören wollen, sondern die wollten, dass es ihren Kindern die beste- Ja. Das habe ich als Kind nicht verstanden. (Attila Z899-Z907) Attila hebt einen Unterschied zwischen ihm und seinem kleinen Bruder hervor: Während dieser den Eltern Schwierigkeiten bereitet, ist er selbst ein ruhiges Kind. Dass ihre Eltern beide zum Lernen animieren, kann er aus heutiger Perspektive verstehen. Er verdeutlicht in dieser Aussage auch, dass er heute den Stellenwert einer aussichtsreichen Zukunft verstehen kann, so entschied er selbst, Syrien zu verlassen und in Deutschland zu leben. Er lernt innerhalb von drei Jahren die Sprache und findet eine Arbeitsstelle. Da Attila die Erzählung seiner Kindheit mit einer Aussage zu seinem gegenwärtigen Leben verknüpft, kann angenommen werden, dass der Rat seiner Eltern auch eine bedeutende Rolle für die Gestaltung seines jetzigen Lebens spielt. In der folgenden Sequenz verdeutlicht sich ein zentrales und im Verlauf des Interviews wiederkehrendes Thema: Das Motiv des Vergessens und der Wiedergeburt. Während Attila sich, wie oben ausgeführt, zwar daran erinnert, dass seine Eltern ihn stets zum Lernen anhielten, erklärt er im Folgenden, er habe einen großen Teil seiner Kindheit bereits vergessen. So erinnere sich zwar ein Freund von ihm an viele Details aus seinem Leben, er allerdings nicht, vielmehr fühle er sich wie wiedergeboren in Deutschland.
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Kindheit. Ich habe vieles vergessen, weißt du? Also von meiner Kindheit, keine Ahnung. Ich habe das Gefühl, dass ich hier wiedergeboren bin. Seitdem ich hergekommen bin. Ich habe vieles vergessen. Viele Sachen, die ich in al-Hassaka oder Deir ezZor gemacht habe, habe ich vergessen. Mein Freund, der in der Türkei wohnt, der erinnert sich an diese Zeit und an die Sachen, die ich gemacht habe. Aber ich nicht. Wie, warum? Keine Ahnung. Weil ich ein neues Leben hier habe. Weil ich einen neuen//I1: Alles neu sortiert. Ja.// Ja. Ich denke mal, mein Kopf und mein Gehirn haben gesagt »diese Erinnerung braucht man nicht. Du brauchst ein bisschen Platz für die deutsche Sprache.« […] Ja, aber die deutsche Sprache hat den ganzen Platz bekommen. (Attila Z1059-Z1070) Sowohl in dem Vergessen der Kindheitserinnerungen als auch in der Tatsache, dass sein Freund in der Türkei sich noch an Ereignisse seines Lebens erinnern kann, veranschaulicht sich eine Distanz zwischen ihm und dem vorherigen Leben in Syrien. Wenn er auch in den Erinnerungen anderer bestimmte Erfahrungen in al-Hassaka oder Deir ez-Zor machte, so nimmt er sich selbst nicht darin wahr. Er erklärt dies zum einen mit dem Gefühl wiedergeboren zu sein in Deutschland. Auch wenn dies keine realistische Begründung ist, so macht Attila doch klar, dass es ihm schwerfällt, beide Lebensrealitäten miteinander in Einklang zu bringen. Vielmehr handelt es sich um zwei nicht miteinander vereinbare Welten. Zu anderen erklärt er das Vergessen mit dem Erlernen der deutschen Sprache. Sein Gehirn stellt Attila dabei als eine rational auftretende, unabhängige und zu ihm sprechende Instanz dar. Es hat selbst entschieden, dass Attila seine Kapazitäten für die deutsche Sprache benötigt. In dieser Erzählung stellt Attila sich selbst als machtlos dar, während sein Gehirn scheinbar die Kontrolle übernommen hat. Darin verbirgt sich allerdings ein Widerspruch, da er zuvor noch den Wert des Lernens für die Verbesserung der eigenen Zukunftschancen hervorhob. Die folgende Sequenz verdeutlicht beispielhaft Attilas Bemühen, aber auch seinen bisherigen Erfolg in seiner gegenwärtigen Lebenswelt Fuß zu fassen. Sein Ziel ist es, seinen Aufenthalt in Deutschland zu verlängern und eines Tages die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen zu können. Er erklärt, die wichtigste Eigenschaft sei dabei Disziplin, womit er Gehorsam und Selbstregulierung meint. Sein früherer Deutschlehrer und gegenwärtiger Kollege Detlef attestierte ihm bereits ein »typisch Deutscher« zu sein, also bereits über gewisse, scheinbar »deutsche« Wesensmerkmale zu verfügen. Was ich hier in Deutschland gelernt habe […] Disziplin ist Nummer eins. Also mein erster Lehrer war- der sagt »Du bist ein typisch Deutscher. Du machst die Sachen
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immer perfekt, hundertprozentig.« Du willst keine Fehler machen. Du willst- (.) Du willst einfach keine Fehler machen. Und drei Jahre in Deutschland und keine Straftat, nichts. Auch nicht Schwarzfahren. Und das ist ja was Gutes. Das hilft dir bei der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis. Und das hilft ja auch, wenn man die deutsche Staatsangehörigkeit beantragt. (Attila Z1083-Z1089) Attilas Bemühungen zielen auf die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis und darüber hinaus auf den Erhalt der deutschen Staatsbürgerschaft. Neben dem Bedürfnis als »Deutscher« anerkannt zu werden, beziehungsweise mit der Aneignung »typisch deutscher« Wesensmerkmale, haben seine Anstrengungen existenzielle Motive: Er ist um einen sicheren Rechtsstatus in Deutschland bemüht. Im Herbst 2018 leidet Attila unter einer Depression, die dazu führt, dass er über mehrere Wochen große Mengen Alkohol trinkt. Während Attila den Grund für die Depression nicht mehr weiß, die Erinnerung an diesen vermeiden oder aber im Interview nicht nennen will, nutzt er die Erzählung von dieser Phase als Aufhänger, um über die vergangene Zeit zu reflektieren. Bestimmte Erinnerungen lähmen und entmutigen ihn. Aber mit der Besinnung auf das, was er sich bisher in Deutschland aufgebaut hat und noch vorhat zu erreichen, gewinnt er anscheinend seine Willensstärke zurück. Zwischen September und Mitte Oktober sozusagen. Ende Oktober. Ich hatte eine richtige Depression. Also niemand weiß das. Also es gibt zwar einen Grund dafür, ich habe den Grund einfach jetzt vergessen. Also, dass dieser Grund aus-aus meinem Leben geht. Was habe ich dann jeden Abend gemacht? (.) Wein getrunken, wenn ich besoffen bin- und danach schlafen. Das war ein Monat lang. Ich habe jetzt genau sieben Flaschen. Rotwein. Aber ja, das war so- Danach habe ich mir gedacht, ja und? Was denn? Soll das noch so bleiben? Ich würde meine Zukunft verlieren, meine Arbeit verlieren, und (.) alles verlieren. Und dann habe ich aufgehört. Ja, letzte Zeit war schwer. Aber man muss wieder aufstehen. Und nicht immer auf dem Boden bleiben. Ja, [zuversichtlich] und das- (.) Das ist eine goldene Chance sozusagen. Wer hat sich vorgestellt, dass man nach Deutschland kommt? (Attila Z1328-Z1337) Zugleich offenbart sich dieser Balanceakt zwischen seinen Erinnerungen und dem Ergreifen der »goldenen Chance« als große emotionale Anstrengung und Belastung. Wie auch bereits weiter oben herausgearbeitet werden konnte, empfindet Attila Erinnerungen an sein vorheriges Leben und die Anforderungen, die das gegenwärtige Leben an ihn stellt, als nur schwer miteinander zu vereinbaren. Bestimmte Erinnerungen scheinen Attila immer wieder zu
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verstören. Das Vergessen wird dabei zur strategischen und rational gesteuerten Bemühung, den Anforderungen gerecht zu werden. Es entpuppt sich zugleich als ein schmerzhafter Prozess, dessen Gelingen nicht garantiert ist. Diese Erkenntnis drückt sich in besonderem Maße in der folgenden, hier zuletzt angeführten Sequenz aus. Attila geht erneut darauf ein, dass die verschiedenen Aspekte seines Lebens in Deutschland dazu führen, dass er gemeinsame Erlebnisse mit seinen Eltern vergisst, da man keine Zeit habe, daran zu denken. Er konstatiert am Ende der Sequenz, dass es nicht schlecht sei, seine Eltern zu vergessen. Also wenn man dann ein besonderes Lied hört oder wenn man denkt, wie wir zusammen geredet haben. Was wir zusammen gemacht haben. Was meine Mutter erzählt hat. Ja. Und wenn man einfach hier- also in Deutschland ist die Beschäftigung groß. Also mit der Arbeit, mit dem Lernen, Freunde, Zukunft, Jobcenter, Ding, Ausländerbehörde. Dann hat man keine Chance daran zu denken. Und das ist ja gut. Das ist ja nicht schlecht, dass man sagt, ja okay, ich habe meine Eltern vergessen. (Attila Z1575-Z1581) Die Erinnerungen an seine Eltern lösen Schmerz aus und scheinen seine Bemühungen in Deutschland Fuß zu fassen zu blockieren. Die Bewältigung seines gegenwärtigen Lebens scheint durch sie gestört. Da er nicht davon ausgeht, sie je wieder zu sehen (ausgeführt in Kapitel 5.2.4.), ist er bemüht, emotionale und schöne Momente mit diesen zu vergessen. Zugleich scheinen diese aber sehr präsent zu sein. Es wird zusammengefasst, dass Attilas Beheimatungsstrategien rationale Praktiken sind, hinter denen das Versprechen steht, in Deutschland langfristig bleiben zu können. Seine Strategien zielen darauf ab, seinen vergangenen Lebenszusammenhang zu vergessen, wie Gedanken an seine Eltern oder seine Kindheit, und sich den Bedingungen seines gegenwärtigen Lebens anzupassen. Dies äußert sich auch in seiner Empfindung in Deutschland wiedergeboren zu sein. Zielen Attilas Bemühungen zwar auf Beheimatung ab, so ist doch nicht gewiss, ob ihm dieser Balanceakt, also auch die strikte Trennung zwischen diesen widerstreitenden Positionen, vollständig gelingen wird. »Me being Me« fungiert in der Lebensgeschichte Yochanans als ein grundsätzlicher Lebens- und Handlungsmodus, der in dieser Analyse als Strategie der Beheimatung betrachtet wird. »Me being Me« ermöglicht es ihm, verschiedene, fremdbestimmte Situationen und Momente seines Lebens mit dem immer gleichen Lebensmotto zu reflektieren und Handlungen daraus abzuleiten. Die Wurzeln dieser Grundeinstellung verortet Yochanan bereits
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in den frühen Erfahrungen seiner Kindheit und Schulzeit. Auf die Frage nach seiner Kindheit in der Nachfragephase des Interviews zeichnet Yochanan das Bild eines Kindes, das sich gegen die Widerstände des Vaters bereits im Alter von elf Jahren um sich und die eigene Schulbildung kümmert. Aus erlebter Fremdbestimmung entwickelt er Zielsetzungen und Handlungen. My-my father is a farmer and then a very poor family, we only rely on farming, that is why I told you at the beginning my father preferred me to go to farm than school. My father don’t take education as anything. To my father- he just thinks when you are educated you become a Christian. Like a lot of drinking alcohol and not performing my (.) obligations as Muslim. […] So but when I was growing up, I LIKE people going to school. So, I force myself to be involved in school. With the help of my teacher. So, I definitely forced myself, not my father. […] I force myself to FINISH school. In- I already told you about my school system, how it functions, I was in- I struggle- We don’t have visual things that a normal student should have. Sometimes and look for money to help myself, how- you know, I start supporting mySELF when I was eleven years old. I start paying my on things when I was eleven years old. I think that made me who I am. Yeah, I go to the bush, I work for people, they pay me. Instead of eating it I give it to my parents. (Yochanan Z822-Z838) Yochanan schildert die ökonomischen Familienverhältnisse, die allein auf der Landwirtschaft beruhen. Sein Vater möchte nicht, dass Yochanan die Schule besucht, denn er sieht darin eine Gefahr für dessen Erziehung im islamischen Glauben. Vielmehr besteht sein Vater auf die Befolgung islamischer Regeln. Yochanan müht sich und zwingt sich zur Schule zu gehen. Er betont mehrmals seine eigene Unabhängigkeit und seine autonomen Entscheidungen. Er erklärt, dass er sich mit der Unterstützung eines Lehrers bereits als Kind für die Schule entscheidet. Es gelingt ihm ab dem Alter von elf Jahren selbstständig für sich zu sorgen und zugleich seinen Eltern einen Teil seines verdienten Geldes abzugeben. Yochanan stellt sich in dieser Erzählung als unabhängige und zielstrebige Person dar, zugleich unterstützt er aber auch seine Eltern und handelt uneigennützig. Er fasst zusammen, dass ihn diese Erfahrungen zu dem machen, der er heute ist. Die Entwicklung dieses, immer wieder in der Formel »me being me« genannten, typischen Charakterzugs verortet Yochanan in seiner Kindheit. Zwar taucht hier die Formulierung »me being me« noch nicht auf, aber er erklärt in ähnlicher Weise »that made me who I am«. Die folgenden drei Sequenzen illustrieren, welche Rolle »me being me« in der Erzählung seiner Lebensgeschichte einnimmt. Die genaue Betrachtung seiner Selbstdarstellung verdeutlicht dabei auch, wie und vor allem mit wel-
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cher Strategie Yochanan gegenwärtigen Herausforderungen begegnet und in welcher Weise dies als Heimat bezeichnet werden kann. In der chronologischen Erzählung seines Lebens nennt Yochanan »me being me« zum ersten Mal, als er nach der Reise durch viele Länder Afrikas, einem gefahrvollen Aufenthalt in Libyen und der Reise über das Mittelmeer in Mailand ankommt. Die Bürgermeisterin des Dorfes, in dem er untergebracht ist, tritt vor die im Flüchtlingscamp lebenden Menschen und heißt sie willkommen. Sie erklärt auch, dass viele Italienerinnen eine Abneigung gegen Flüchtlinge haben. Yochanan spricht die Bürgermeisterin während ihrer Rede direkt an und dankt ihr für die Aufnahme im Dorf. So upon my arrival in Milano, they put us in a part in Milano called Castella, it is a small village in Milano, it is around Milano. So (.) ME being ME you know when we arrived, the mayor of the village arrived, the Bürgermeister of Castella, welcomed us, gives us a speech, immediately she kept quiet I talked, I also talked. I said- I put my hand on »Thank you very much«, I thank her »I thank you very much«, I told her »You are just a wonderful person, letting us in your city alone is a big thing to me and I hope my colleagues too. And (.) WE will be refugees in difference. (Yochanan Z403-Z410) Wie hier deutlich wird, versteht sich Yochanan als Sprachrohr für die in der Flüchtlingsunterbringung lebenden Menschen. Ohne diese zu kennen oder mit ihnen gesprochen zu haben, ergreift er das Wort und spricht für diese. Er hofft, dass auch die anderen ihre Aufnahmebereitschaft schätzen, und verspricht, dass sie als Flüchtlinge einen Unterschied machen werden. »Me being me« taucht hier im Interview zum ersten Mal auf. Es beschreibt eine Reihe von Charaktereigenschaften, die typisch für ihn sind. In diesem Fall meint es die direkte Ansprache der Bürgermeisterin auf Augenhöhe, die Bereitschaft, im Sinne der Allgemeinheit zu handeln sowie als Vermittler zwischen anderen Geflüchteten und der Bevölkerung beziehungsweise politischen Entscheidungsträgerinnen aufzutreten. Im Verlauf seiner Erzählung wird Yochanan in dem Dorf bei Mailand mehrere Projekte initiieren, die das Ziel verfolgen, Vorurteile abzubauen sowie die Bevölkerung und die Geflüchteten in Kontakt zu bringen. Yochanans Motivation ist daher auch politischer Natur. Der folgende kurze Abschnitt beschreibt Yochanans Entscheidung, Mailand und damit auch Italien nach acht Monaten Aufenthalt zu verlassen und nach Deutschland weiter zu reisen. Er möchte seine eigenen Ziele verfolgen und nicht andere zufriedenzustellen, so seine Begründung.
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Then after all those things and (.) me being me, I just want to get into the world. I just want to get into the world and try to do what I like doing you know and (.) just try to continue with my aims, my objectives (.), so I decided to leave Italy. You know when I was seeing the city people, the mayor, they all just don’t like it. I just want to follow my dreams you know. Not to satisfy only them. (Yochanan Z579-Z584) In dieser Sequenz offenbart sich eine weitere Funktion des »me being me«: Während »me being me« als Handlungsmodus einerseits nach außen gewendet ist, wie auf die Unterstützung von Menschen und die Initiierung von Projekten, so macht Yochanan hier und auch in anderen Teilen im Interview deutlich, dass es ihm nicht allein darum geht »to satisfy only them«. In Italien scheint sein selbstbestimmtes Handeln und Wirken an eine Grenze gestoßen zu sein, während er in Deutschland bessere Rahmenbedingungen für sein politisches Handeln sieht (Yochanan Z929). In Deutschland lebt Yochanan in verschiedenen Flüchtlingsunterkünften im Rhein-Neckar-Kreis. Er kommentiert die zahlreichen Ortswechsel mit »refugees, you know they keep moving us« (Yochanan Z769), worin sich die Fremdbestimmung offenbart, der sie als Flüchtlinge im Verlauf des Asylverfahrens ausgesetzt sind. Trotzdem verdeutlicht Yochanan in seiner Erzählung immer wieder, dass er auf eine fremdbestimmte Lebenssituation mit Eigeninitiative und konkretem Handeln reagiert. Beispielhaft wird im Folgenden eine Sequenz angeführt, in der Yochanan seine Ankunft in einem Dorf im Schwarzwald beschreibt. Sein gewohntes Handeln im Modus »me being me« führt er fort, sodass die Flüchtlingsunterkunft zu einem kleinen Paradies für seine Bewohnerinnen wird. I think that was in December, 14th of December they transferred me to Petersen in Schwarzwald. Black Forest. I arrive in the Black Forest, me being me I continue. I cannot stop, I never stop. That camp was very nice. I met- We made that camp a little paradise for refugees, really. (Yochanan Z699-Z702) Was in diesem Abschnitt nur angedeutet wird, erzählt er im Verlauf des Interviews ausführlich: Gemeinsam mit dem Mitarbeiter einer Wohlfahrtsorganisation etabliert er in der Unterkunft viele Neuerungen, so erstellen sie Lebensläufen für alle dort lebenden Flüchtlinge und vermitteln Praktikumsplätze in Unternehmen in der Region. Zugleich erscheint »me being me« wie ein determiniertes Verhaltensmuster, da er erklärt, dass er nie aufhören wird, in dieser bestimmten Weise zu handeln. Befindet sich Yochanan in einer scheinbar fremdbestimmten, weil nicht selbstgewählten Situation, so lässt er in der
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Erzählung keine Passivität aufkommen. Dabei hebt er sich auch gegenüber anderen geflüchteten Personen als außergewöhnlich hervor. In der Nachfragephase erklärt Yochanan, was das Motto »me being me« meint. Deutlicher als zuvor im Interview hebt er hervor, dass es ihm darum geht, konkrete Ziele zu verfolgen und nicht sprunghaft zu sein. Er betont, dass er sich nicht von den Anliegen oder Positionierungen anderer vereinnahmen lässt, sondern auf der Basis eigener Überzeugungen und Kapazitäten handelt. Er ist immer er selbst, dies ist seine Lebenseinstellung. »Me being me«, not like focusing on trying to do this today, tomorrow I am other places, no. I am always ME, you know. I try to do things that are ME. Not like »youyou want to do this or YOU want me to do this«, no. If I want to do it, I will do it. But not because I just want to meet you that is why I want to do it. If I don’t have the time, I tell you »I don’t have the time, I am sorry.« (lacht leicht). […] So it is »me being me«, not you putting me to be something you know. So that is my life, I adapt it and I think I am like that. […] I just want to be me, not use you or- you know. You un- this is ME, being me (lacht leicht). (Yochanan Z1196-Z1206) Wie auch an anderer Stelle in dieser Analyse deutlich wird, ist Yochanan als geflüchteter Mensch fortwährend einer Steuerung durch das Asylsystem (beispielsweise bezüglich des Wohnortes) sowie Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen ausgesetzt. »Me being me« wird in dieser Analyse daher als Strategie der Beheimatung bezeichnet. Im Modus »me being me« beschreibt er sich als handlungsfähig, selbstbestimmt, zielorientiert und auf die Bedürfnisse anderer Menschen achtend. Es gelingt ihm damit, rechtliche und gesellschaftliche Exklusions- und Regulierungsmechanismen, wie die Wohnsitzauflage, niedrige Bleibeaussichten und rassistische Erfahrungen, zu überwinden. »Me being me« ist Kontinuum, Determinante und Verlässlichkeit und damit vertrauter Modus seines Handelns und seiner Zukunftsgestaltung, die er in neuen Lebenszusammenhängen und an neuen Orten scheinbar mühelos anwendet. Es ist die Maxime nach der Yochanan Entscheidungen trifft, sie fungiert dabei als Konzentration und Rückbesinnung auf seine Ziele und Vorstellungen vom Leben auch vor dem Hintergrund politischer Überzeugungen. Beheimatungsstrategien sind konkrete, aus sich selbst heraus entwickelte Handlungen und Haltungen, die einerseits von subjektiven und emotionalen Bedürfnissen und Wünschen durchzogen sind, sich andererseits aber anpassen, an die jeweiligen Möglichkeiten, die sich eben durch die Einbettung ins Feld ergeben. Da sie langfristig angelegt sind, stellen sie eine zuverlässige
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Konstante in einem neuen, möglicherweise turbulenten und unüberschaubaren Lebenszusammenhang dar. Strategien der Beheimatung ermöglichen es, handlungsfähig und autonom zu agieren, sie vermitteln Gewissheit und Vertrauen in zukünftige Begebenheiten. Strategische Beheimatung setzt allerdings auch selbst ein gewisses Maß an Stabilität, Gewissheit oder zumindest Mut im gegenwärtigen Lebenskontext voraus. Hierdurch werden individuelle Spielräume erkannt und Strategien ausgebildet. Die vorangegangene Analyse konnte zwei Formen der Beheimatungsstrategien herausarbeiten: Erstens wurden Strategien erkennbar, die das Ziel einer Beheimatung verfolgen, auch wenn deren Gelingen nicht von vorn herein vorherzusehen ist. Strategien mit dem Ziel der Beheimatung gestalten sich in den analysierten Interviews als vollständige, beabsichtigte Umwälzungen oder Verschiebungen bestehender Lebensverhältnisse und der Art und Weise des jeweiligen Selbstverständnisses. Wie in der Analyse deutlich wurde, ist dies nicht allein auf den Moment beziehungsweise die Phase der Migration zurück zu führen. Beheimatung beinhaltet ein (schmerzhaftes) Lösen der persönlichen, allerdings nicht räumlich definierten, Verankerungen und ist dann ein wenig »heimatlicher«, rational gesteuerter Prozess mit ungewissem Ausgang. Strategien mit dem Ziel der Beheimatung konnten in den Interviews mit Lavin und Attila herausgearbeitet werden. Lavins strategischer Beheimatungsprozess beinhaltet ein bewusstes Ablegen kindlicher Privilegien und das Verlassen vertrauter Lebensverhältnisse, sowohl beim Verlassen Syriens als auch mit seinem Umzug von Bremen nach Heidelberg. Ob er hierdurch tatsächlich Erlösung von seinen traumatischen Erinnerungen findet, in Freiheit leben wird und später studieren kann, ist ihm zumindest vor seiner Ankunft in Deutschland nicht gewiss. Allerdings bezieht sich seine Erzählung auf die Vergangenheit. Die Ausarbeitungen in Kapitel 5.2.1. weisen darauf hin, dass sich Heimat für Lavin als sozialräumliche Einheit in einem unmittelbaren Lebenszusammenhang erschließt, weshalb er seine Strategie als erfolgreich werten dürfte. Attilas strategisches Bemühen ist zum einen auf seine unmittelbare Lebenswelt fokussiert, so ist ihm die Achtung von Gesetzen, sein Job und der baldige Beginn eines Studiums wichtig, um letztlich auch die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten zu können. Zum anderen ist er stolz darauf, wenn seine Kolleginnen attestieren, er sei »typisch deutsch«. Attila empfindet sein Leben in Deutschland als Wiedergeburt. So ist er auch bemüht, bestimmte schmerzende Erinnerungen zu vergessen und zugleich an anderen festzuhalten. Seine rational gesteuerte Strategie mit dem Ziel der Beheimatung wird zu einem belastenden Balanceakt zwischen Verges-
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sen, Erinnern und Wiedergeburt. Strategien mit dem Ziel der Beheimatung sind daher zum einen unmittelbar Teil eines Migrationsprozesses, sind aber nicht auf dessen Anfang beziehungsweise vermeintliches Ende beschränkt. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass sie als Reflexionen zu einem unbestimmten Zeitpunkt beginnen. So wäre die Annahme irrig, diese orientierten sich allein in dem Wechsel zwischen zwei räumlich definierten Lebenszusammenhängen. Zweitens wurden strategische Handlungen und Entscheidungen herausgearbeitet, die selbst das Gefühl von Heimat vermitteln. Es handelt sich hierbei um den strategischen Rückgriff auf bestehende Muster der Beheimatung. Sie ermöglichen das Aufrechterhalten von Vertrautem, Freundschaften, politischen Zugehörigkeiten, Idealen und sozialen Bindungen. Yochanan vermag es mit dem Handlungsmodus »me being me«, erlebter Fremdbestimmung, Rassismus und aufenthaltsrechtlichen Schwierigkeiten zu begegnen und diese in Teilen aktiv zu bewältigen. »Me being me« ist Determinante und Kontinuum seines Lebens, die darin implizierten Haltungen und Prinzipien unterstützen ihn beim Verfolgen seiner Ziele und gewinnen daher an Bedeutung für seine persönliche Beheimatung. Als Handlungsmodus ist »me being me« zudem auf keinen konkreten Kontext oder Bedingungen angewiesen, sondern »transportabel«. Kaviths Strategien der Beheimatung äußern sich in der Wiederanknüpfung an frühere Gewohnheiten, Tätigkeiten und politische Überzeugungen. Er macht sich bald nach seiner Ankunft in Deutschland mit der linkspolitischen Szene vertraut und wird auch künstlerisch tätig. Seine Fähigkeiten in der visuellen Gestaltung geben ihm die Möglichkeit, sich ohne ausgeprägte Deutschkenntnisse künstlerisch sowie politisch auszudrücken und zu engagieren. Daneben schreibt Kavith seiner Tasche einen emotionalen Wert zu, da sie schon in der Vergangenheit unentbehrliche Gegenstände enthielt. Gegenwärtig vermittelt ihm insbesondere seine darin befindliche Kamera Selbstbewusstsein und Sicherheit. Ihre schützende Funktion setzt Kavith in, für ihn als Person of Color, vulnerablen Kontexten ein. Auch mit anderen Methoden der Irritation und Täuschung, wie der Verwendung einer akademischen Sprache, beabsichtigt Kavith rassistische Denkstrukturen und Stigmatisierungen als geflüchtete Person ins Lächerliche zu ziehen und Autonomie und Macht zurück zu gewinnen.
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5.2.4
Sehnsucht – Erinnerung zwischen Verklärung und Schmerz
Das Verständnis von Heimat als Sehnsuchtsbegriff ist eine gängige Vorstellung, die eng mit dem Begriff der Utopie verwoben ist. Beide Facetten adressieren eine Vorstellung von Heimat, die Ergebnis emotionaler Aushandlungen in einer gegenwärtigen Lebenssituation ist. Bei der Utopie handelt es sich jedoch um Projektionen bestimmter Bilder, Visionen und Erinnerungen in eine unbestimmte und nicht erreichbare Zukunft, während Sehnsucht Bezüge in die Vergangenheit aufweist. Im Rahmen der vorgenommenen Analyse konnten beide semantischen Facetten aus den biographischen Interviews herausgearbeitet werden. Sehnsucht richtet sich in den ausgewählten Interviewsequenzen auf emotionale, imaginierte, statische Ausschnitte einer meist unwiederbringlich verlorenen Lebenswelt. Es ist die Bündelung schmerzhafter Erinnerungen, die an bestimmte Orte und Zeiten gebunden sind. Gleichzeitig bieten diese Orientierung und Sinn. Dabei lässt die Betrachtung von Sehnsucht auch Rückschlüsse auf Bedürfnisse, Sorgen und Ängste zu, deren Wurzeln in den gegenwärtigen Lebensverhältnissen liegen. Die Analyse von Heimat als Sehnsucht erfolgt anhand der Erzählungen von Attila und Yasmina. Mit der Analyseperspektive der Migrationsregime liegt auch hier ein Untersuchungsfokus auf dem Verhältnis von Fremdbestimmung zu Selbstwirksamkeit und Handlungsautonomie. Die folgenden beiden Sequenzen stammen aus dem Interview mit Attila und verdeutlichen eine schmerzhafte Sehnsucht, die er in Bezug auf seine Eltern und die Erinnerungen an diese verspürt. Sie stammen aus der zweiten Phase des Interviews und entstanden also durch erzählimmanentes Nachfragen. Die Verantwortung, die Attila für seinen Vater übernimmt, als er als Taxifahrer in ar-Rakka arbeitet, nimmt in seinen Erzählungen eine bedeutsame Rolle ein. Auf die Frage nach der Verantwortung für diesen beschreibt Attila, in welcher Weise er sich um seinen Vater kümmert. Dieser kommt regelmäßig vom Dorf zu ihm in die Stadt, wo Attila für ihn sorgt und ihn finanziell unterstützt. Sein Vater fragt ihn bei einem dieser Aufenthalte, ob er nach Deutschland gehen will, da zu dieser Zeit die Situation aufgrund des Bürgerkrieges in der Stadt ar-Rakka immer unsicherer wird. Attila sagt, dass er damals vermutlich die Gefahr in der Stadt unterschätzt hatte. Er schildert daraufhin die in dieser Zeit anhaltenden Kämpfe in ar-Rakka und betont insbesondere die Rolle der Kurdinnen und ihre Kooperation mit den USA im Kampf gegen den IS (Attila Z1523ff). Er beschreibt auch andeutungsweise Bilder von Leichenteilen, die er bis heute nicht vergessen kann. Nach dieser Darstellung kommt
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er im Interview zurück zu der Erzählung über seinen Vater und die Familie. Heimweh, so die Formulierung, die er wählt, die Erinnerung an seine Familie und bestimmte Momente, die sie gemeinsam verbrachten, vergleicht er mit einer Verletzung, die schmerzt, sobald man sie berührt. Ja und, na mein Vater (.). Ja, ich vermisse den. Aber weißt du? Heimweh ist wie (.) eine Verletzung. Wenn du die Verletzung anfasst, du fühlst die Schmerzen, aber dran nicht denkst, oder die Verletzung nicht anfasst, dann ist ja okay. […] Es wird immer weh tun. Immer. Aber es kommt darauf an wie hoch die Schmerzen sind. Also manchmal ja so stark. Wenn man ein besonderes Lied hört. Oder wenn man drüber redet und man sich- […] Ja, also wenn man dran denkt, dann wird man die Verletzung richtig fühlen. (Attila Z1562-Z1576) Mit diesem Vergleich nimmt Attila indirekt auch Bezug zu den kurz vorher beschriebenen Gewalthandlungen im Krieg in ar-Rakka. Er erklärt auch hier, er träume noch von den Bildern des Krieges, aber man werde die Bilder irgendwann vergessen (Attila Z1518). Da er mit der Metapher des Schmerzes, der Verletzung sowie den traumatischen Kriegserfahrungen die Gedanken an seine Eltern sowie die Gefahren des Krieges in einen direkten Zusammenhang bringt, ist zu vermuten, dass er sich um seine Eltern sorgt und Angst hat, dass ihnen etwas zustößt. Während er selbst also auf den Rat seines Vaters den Gefahren und konkreten physischen Verletzungen durch seine Flucht entgehen konnte, spricht er hier von emotionalen Verletzungen. Es sind Erinnerungen an seine Eltern, die sowohl von realer Angst um diese als auch von Sehnsucht an das frühere Zusammensein geprägt sind. In Kapitel 5.2.3. wird Attilas rationales Bemühen zu vergessen als Strategie mit dem Ziel der Beheimatung benannt, um sich in seinem neuen Lebenszusammenhang einzufinden. In der folgenden Sequenz wird deutlich, dass es nicht allein die Erinnerungen an seine Familie sind, die ihn schmerzen, oder die Angst, dass ihnen etwas zustößt, sondern auch das Gefühl der Ungewissheit, wann und ob er seine Familie wiedersehen wird. Wenn man einfach daran glaubt, es geht ihnen okay, geht es mir okay. Ich- lass uns einfach sagen, dass ich im Ausland arbeite. […] Wir werden uns irgendwann treffen. An sowas zu glauben, das ist sehr schwer. Also, weil ich- Also, die Kosten der Reise habe ich von meiner Oma bekommen. Und die ist fast vor einem Jahr gestorben. Also- das hat mir richtig, richtig weh getan. Weil ich immer daran geglaubt habe, sie wird in meinem Leben sein. Und wir werden uns treffen, wenn ich wieder nach Syrien gehe. Aber das habe ich ja nicht geschafft. Mein Opa ist auch gestorben, als ich
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in al-Hassaka war. Das war auch weit weg. Die große Angst ist, dass etwas meiner Familie passiert. (Attila Z1587-Z1576) Attila wirft hier die Idee auf, die politischen Verhältnisse auszublenden und so zu tun, als würde er sich im Ausland lediglich aufgrund der Arbeit aufhalten, sich also für einen begrenzten Zeitraum und einen konkreten Zweck fern seiner Familie befinden. Er wünscht sich daher, diese Lebenssituation als temporär und normal, daher auch als kontrollier- und insbesondere vorhersehbar betrachten zu können. Zudem hatte er gehofft, seine Oma, die ihm die Reise finanziell ermöglichte, eines Tages wieder zu sehen. Angesichts ihres Todes in seiner Abwesenheit wird ihm bewusst, dass sich auch die familiären Verhältnisse verändern und er nicht mehr Teil davon sein kann. Der Gedanke, seiner Familie möglicherweise nicht mehr begegnen zu können ist ein weiterer Grund für seine emotionale Verletzung. Sie wird vermutlich noch verstärkt durch die Übereinkunft zwischen ihm und den Eltern, sie finanziell zu unterstützen. Zugleich konzentrieren sich seine Bemühungen, wie unter anderem in Kapitel 5.2.3. (Strategien der Beheimatung und Beheimatung als Strategie) ausführt wurde, auf die Festigung seiner Lebensverhältnisse in Deutschland. Ausgehend von diesen Betrachtungen lässt sich vermuten, dass es ihm schwerfällt, beide Pole in Einklang zu bringen. Sehnsucht bedeutet für Attila also einerseits ein schmerzhaftes Festhalten an Erinnerungen an seine Familie. Dies ist darüber hinaus gepaart mit der Angst um ihre Sicherheit in ar-Rakka sowie der Aussicht, dass ein Wiedersehen nicht möglich ist. Da Attila erst auf Nachfrage diese emotional belastenden Gedanken ausführt, kann angenommen werden, dass sie in der Erzählung seiner Biographie einen Bruch darstellen. Neben dieser Hinwendung zu seiner Familie verdeutlichen die Interpretationen auch die daran geknüpfte Sehnsucht nach Normalität im eigenen Leben. Attila ist daher bemüht eine rechtliche, emotionale und soziale Stabilität in seinem aktuellen alltäglichen Lebenszusammenhang zu erreichen, dies verdeutlicht sich insbesondere in Kapitel 5.2.3. in Form von Strategien der Beheimatung. Im Interview mit Yasmina wird der Iran zur Deutungsfolie ihres aktuellen Lebenskontexts, zur Projektionsfläche für in der Gegenwart nicht erlebte Übereinstimmungen mit ihrem Selbstbild und zu einem Container tiefer Emotionen und Zugehörigkeitsbekundungen zu »ihrem Land«. Die letzte Frage des Interviews mit Yasmina lautet auf English, »what means ›Heimat‹ to you«. Während die Frage darauf abzielte, was für sie »Heimat« beinhaltet, so sagt sie, welchen Wert »Heimat« für sie hat: »›Heimat‹ is everything
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for me« (Yasmina Z739). Auf Nachfrage differenziert sie, dass »Heimat« eine Kombination aus Kultur, Wurzeln, Familie und Liebe ist. Alle Elemente sind für sie im Iran, »in my land«, verortet (Yasmina Z744). Diese Antwort formuliert sie enthusiastisch und sehr klar. Sie führt weiter aus, dass sie zu Anfang alles, was sie in Deutschland neu lernte, mit dem verglich, wie sie es im Iran gelernt hatte. Dieser Vergleich diente ihr als Orientierung, aber auch als »produktive Erinnerung« an »ihr Land«, wobei sie folglich alle neuen Eindrücke durch den Filter ihres vormals gewohnten Lebenskontexts betrachtet und beurteilt. Dabei benennt Yasmina positiv konnotierte, häusliche, sinnlich erfahrbare Alltagspraktiken, wie Kuchenbacken oder das Anschauen und Arrangieren von Blumen in einer Vase. Zudem konstruiert sie mit dem Vergleichen von Alltagspraktiken Unterschiede, die Aspekte ihres Lebenszusammenhanges in Deutschland im Gegensatz zu erinnerten Aspekten ihres Lebenszusammenhanges in »ihrem Land« in ihren jeweiligen Bedeutungen schärfen dürften. Bereits der erste Satz der dargestellten Sequenz und auch die folgenden Ausführungen verdeutlichen, dass »ihr Land«, nicht als spezifischer Ort gemeint ist, sondern vielmehr als Projektionsfläche, die ihre Sehnsüchte sammelt, reflektiert und Bedeutungen überhöht. »Heimat« is everything for me (lacht). Really! //I1: What is Heimat?// It’s a- I think a combination of culture, roots, family, love. For me everything is there. And even here, when I learned everything new, the first thing that comes to my mind is comparing with the things that I was learning in my land. Everything! Even small, small things. For example baking a cake or a new eating. Everything! Even when I take a look at a person, a lady, to put some flowers in- I take a look and I remember how did we learn? The way- even the way of taking a look at a flower here is different. I loved- I love my land. (Yasmina Z739-Z747) Zudem kreiert die gemeinsame Erinnerung an »ihr Land« ein starkes Band zwischen Mutter und Tochter. Der letzte Satz jeder gemeinsamen Aktivität ist der Ausdruck der Liebe zu »ihrem Land«. Da Yasmina im Interview von Konfliktsituationen mit ihrer Tochter berichtet und erklärt, dass diese zu Beginn in Deutschland sehr unglücklich war, wird das Erinnern zu einem gemeinsamen unverrückbaren Nenner zwischen beiden und zugleich zu einem Sinnspruch für alle möglichen Lebenssituationen. Den emotionalen Bezug zum »mother land« unterstreicht Yasmina noch, als sie in der Erzählung auf die Entscheidungssituation kommt, den Iran zu verlassen. Sie erklärt, dass sie ohne den Hinweis ihres Anwalts den Iran nie verlassen hätte. Mit der Begrifflichkeit »mother land«, die für sie gleichbedeutend mit »Heimat« ist, impli-
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ziert Yasmina eine natürliche Verwurzelung mit »ihrem Land« beziehungsweise die Widernatürlichkeit, dieses zu verlassen. The last sentence after every conversation, it doesn’t matter about what it is, we were watching a film, we are seeing something. At the end ?Mum? said: »I love my land!« That’s why I said that »Heimat« is everything for me. And for a person like me it is really difficult! That’s why at the beginning of our meeting I said that when the lawyer said: »You HAVE to do it!« I said: »Leaving a mother country, NEVER!« (Yasmina Z747-Z750) »Ihr Land« ist ein imaginierter und verklärter Sehnsuchtsort. Er ist eine Interpretationsfolie für ihr gegenwärtiges alltägliches Leben in Heidelberg, wobei ihre Einschätzungen und Beurteilungen in der Gegenüberstellung beider durch sie hergestellten Pole getroffen werden. Der Iran fungiert dabei als Projektionsfläche für Gefühle der Übereinstimmung mit sich selbst, der natürlichen Verbundenheit und dem Erleben von Sinnhaftigkeit. Diese Erkenntnis lässt auf ihren gegenwärtigen Lebenskontext schließen, in der sie derartige Gefühle nicht oder nur in geringem Maße erlebt. So beschreibt sich Yasmina selbst als »lover«, da sie neben politischen Texten auch gerne romantische Texte verfasst (Yasmina Z410). Aufgrund einer tiefen Niedergeschlagenheit angesichts der dritten Ablehnung des Einreiseantrags ihres Mannes und der Tatsache, dass sie keine Arbeitsstelle finden kann, fühlt sie sich gegenwärtig nicht imstande an ihrem Buch zu schreiben. Auch ihre große Leidenschaft für die Zusammenarbeit mit jungen Menschen, sei es in einer Firma oder als Lehrerin, kann sie aktuell nicht ausüben (Yasmina Z326). Sie hat also in ihrer jetzigen Lebenssituation nur in geringem Maße die Möglichkeit, Sinnstiftung in diesen lebendigen Bereichen ihres Lebens zu erfahren. Die Verklärung des Irans verdeutlicht, dass der Alltag von Yasmina und ihrer Tochter von den Gedanken an ihr Leben im Iran auch nach fünf Jahren noch geprägt ist. Wohl auch, weil der Versuch des Vaters nach Deutschland zu migrieren, Teil ihrer Bemühungen der letzten Jahre war. Mutter und Tochter dient der Iran als gemeinsam imaginierter Freiraum und allgemeine Übereinkunft, was angesichts ihrer mühevollen Lebenssituation einen hohen Wert haben dürfte. Das imaginierte Bild ist dabei stabil und unveränderlich und wird damit zu einem gemeinsamen Sehnsuchts- und Zufluchtsort. Hier finden beide einerseits Entlastung von alltäglichen Schwierigkeiten, andererseits aber auch von grundsätzlicheren Problemlagen, wie der Abwesenheit des Mannes und Vaters. Gleichzeitig findet sich in dieser Konstruktion keine Erwähnung der Umstände, die sie dazu veranlassten, den Iran zu verlassen,
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wie die politische Verfolgung von Konvertitinnen, die erlebten Repressionen und schließlich die vermutlich damit in Verbindung stehende plötzliche Erkrankung ihrer Tochter. Es kann daraus geschlossen werden, dass der Iran, trotz der sehnsüchtigen Projektionen, kein Ort ist, an den Yasmina eines Tages oder in naher Zukunft zurückzukehren gedenkt, auch wenn sie ganz zu Beginn des Interviews andeutet, den Lauf der Ereignisse, bis zur Entscheidung den Iran zu verlassen, zu bereuen: »wir mussten das machen. […] Wirklich, ich wusste das nicht. Es ist sehr schwer hier als Asylsuchender« (Yasmina Z19f). Im Gegensatz zur Utopie (Kapitel 5.2.5.), die Yasmina als ortlose, positiv konnotierte und sinnstiftende Zukunftsvision beschreibt, ist Sehnsucht hier rückwärtsgewandt, verklärt, schmerzhaft und realitätsfern. Sehnsucht meint darüber hinaus nicht die tatsächliche Sehnsucht in den Iran zurückzukehren, die Interpretationen konnten ein komplexeres Bild zeichnen: hier steht sie für die Sehnsucht nach Übereinstimmung mit einem früheren stabilen Selbstbild, dem Wunsch nach intakten Beziehungen, Zugehörigkeit und Anerkennung. Heimat als Sehnsucht bündelt schmerzhafte Erinnerungen an eine unwiederbringliche Zeit, an einem nicht mehr erlebbaren Ort. Als verklärte Form der Erinnerung kann sie, gemeinsam erlebt, Gemeinschaft und Sinn zwischen Individuen stiften und Trost spenden, aber auch von alltäglichen Schwierigkeiten entlasten. Bei Attila verdeutlicht sich Sehnsucht in Bezug auf seine Familie, er erinnert Momente des Zusammenseins und der Sicherheit. Yasmina spürt ebenfalls einen erheblichen Verlust und erlebt Befremdung in Deutschland. Die sehnsüchtige Erinnerung an den Iran berührt sie und bietet Orientierung in Bezug auf die jetzigen Lebensverhältnisse. Beide sind mit unumkehrbaren Situationen konfrontiert, eine Rückkehr ist nicht mehr möglich, was eine Verklärung vermisster Lebenswelten noch verstärken dürfte. Während sich für Yasmina daraus eine statische Vorstellung ihres vormaligen Lebenskontextes herausschält und damit zum positiven imaginierten Ort für sie und ihrer Tochter wird, hat Attila große Angst um seine Familie. Eigenes Leid und Sehnsucht mischen sich mit Angst und Sorge. Darüber hinaus konnte herausgearbeitet werden, dass sich in der scheinbar ausschließlich auf die Vergangenheit gerichteten Sehnsucht auch Wünsche manifestieren, die sich aus der gegenwärtigen Lebenssituation ableiten. Attila und Yasmina äußern in ihrer Sehnsucht den Wunsch nach Übereinstimmung mit dem Selbstbild, nach Sicherheit für sich und die nahen Angehörigen, nach intakten Beziehungen und Zugehörigkeit sowie Anerkennung. Verweist Sehnsucht
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also zunächst einmal auf verloren gegangene Lebenszusammenhänge, äußern sich darin auch Bedürfnisse, die auf gegenwärtige Lebensumstände referieren. Bezogen auf Attila und Yasmina kann gefolgert werden, dass sich beide, jeweils in Bezug auf ihre Lebensbereiche, als machtlos und handlungsunfähig empfinden. Einen selbstbestimmten Umgang mit diesem Zustand findet Attila in Strategien mit dem Ziel der Beheimatung (Kapitel 5.2.3.). Yasmina findet zum einen im Alltag einen Umgang mit dieser Situation und auch die Möglichkeit der Beheimatung, wie in Kapitel 5.2.2. ausgeführt wird, zudem formuliert sie eine in die Zukunft gerichtete Utopie (Kapitel 5.2.5.). Heimat als Sehnsuchtsgefühl konnte lediglich anhand von zwei biographischen Erzählungen dargestellt werden. Die Gründe hierfür mögen vielfältig sein. So sind mit Sehnsucht oftmals ein Zurückblicken und möglicherweise Bedauern vergangener Entscheidungen und gegenwärtiger Verhältnisse verknüpft, eine Empfindung, die nur schwer zu verkraften sein dürfte und in einer in sich geschlossenen Erzählung einen Bruch darstellen würde.
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Utopien als widerständige Sinnentwürfe
Heimat als Utopie nimmt Bezug auf Konzeptionen eines vermeintlich besseren Lebens oder Lebensentwurfs und wird dabei nicht selten zu einem nicht oder kaum realisierbaren Gegenbild momentaner Lebensverhältnisse, zu einem Ort, an den man nicht gelangen kann. Heimat äußert sich dabei nicht unbedingt als nostalgischer Rückblick, sondern vielmehr als eine in die Zukunft gewandte Vision. Sie ist damit nicht aktives Element einer unmittelbaren Lebenswelt, wie beispielsweise Strategien oder Alltagspraktiken der Beheimatung, sondern bietet als stabile aber wandelbare Vision Orientierung und wirkt sinnstiftend. Heimat als Utopie äußert sich in den Interviews mit Yasmina, Bah, Kama und Yochanan. Yasminas gegenwärtige Lebensumstände erlauben es ihr kaum, eine positive, realistische und vor allem handlungsleitende Version ihrer Gegenwart und Zukunft zu zeichnen. Aufgrund der Abwesenheit des Mannes, ihrer andauernden Arbeitslosigkeit und weiterer damit in Verbindung stehenden Schwierigkeiten hat Yasmina zum Zeitpunkt des Interviews kaum Hoffnung auf die Verbesserung ihrer Lebenssituation. Ihre empfundene Machtlosigkeit wird bereits ausführlich in vorangehenden Kapiteln dargestellt (beispielsweise in Kapitel 5.1.4. und 5.2.4.). Die Wiedervereinigung der Kernfamilie ist für sie zum Zeitpunkt des Interviews kaum noch realistisch, vielmehr wird sie zur Utopie.
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At the moment I think that (.) for me Utopia is to be again all together with my family, to be with my husband and at least our small family be together again, this is- Of course I miss my parents, my sisters and brothers, but (.) my OWN family is a thing that I always think. And especially from February this year that my husband got the third rejection, [x] reject from German embassy. I think it’s a dream! Maybe he couldn’t come again. I think he couldn’t come, never [flüsternd]. […] I said »Okay, everything is finished, it was the last hope«. And that’s why it takes time to find myself again. I think that I lose that strong woman, I lose- I don’t know, where is she now? I don’t know myself. It is something that is bothering me a lot and when I think that maybe I’ll never see my husband again, yes, it could be a dream. When I see him again, beside me and this family all together, yes (.) that’s- yes. (Yasmina Z678-Z687) Während sie zu Beginn der Sequenz die Formulierung Utopie aus der Frage aufgreift, so bezeichnet Yasmina im weiteren Verlauf das Wiedersehen mit ihrem Mann als Traum. Sein Antrag nach Deutschland einzureisen, wurde zum dritten Mal abgelehnt. Mit dem Verlust dieser »last hope« verliert sie ebenso ihr Selbstbild einer starken und beruflich erfolgreichen Frau. Dabei spricht sie zu sich selbst wie zu einem Gegenüber, das verloren scheint und nicht mehr zu ihr gehört. Sie fragt, wo diese starke Frau jetzt sei und sagt selbst, sie wisse nicht, wo diese nun sei. Diese figürliche Veranschaulichung unterstreicht ihre derzeitige Orientierungslosigkeit. Sich selbst wieder finden zu können schließt sie zwar nicht aus, jedoch brauche sie dafür Zeit. Der gescheiterte Einreiseantrag ihres Mannes, die Vorstellung also auch die Kernfamilie als zusammenstehende Einheit verloren zu haben, steht daher in einem engen Zusammenhang mit ihrer Selbstwahrnehmung und womöglich auch mit der Vorstellung ihres Lebens in Deutschland vor der Flucht. Der hier offenkundig werdende Zusammenhang zwischen ihrem Selbstbild und der formulierten Utopie wird im folgenden Abschnitt vertieft. Hier verdeutlicht Yasmina ihr Selbstbild als beruflich erfolgreiche, ausgelastete und hochmobile Frau, wofür sie auch Anerkennung von ihrem Mann erhielt. I’m a person that was always active in every- to manage everything. And a lot to do, you know, when you have to leave your country for two days every week. You have a husband, you have family, you have everything. And you have working the week [x]. Managing all the things at the same time is not easy but I loved my job and I love working. […] and always, I was pressure. And it was something that my husband every time asked me: »How could you be such a fresh- how?« (Yasmina Z321-Z325)
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Yasmina betont, dass sie zwar unter Druck stand und viel zu tun hatte, dennoch schätzte sie ihre Arbeit sehr. Gleichzeitig kann diese Beschreibung als Gegenbild betrachtet werden zu ihrem jetzigen Leben, da sie all dies verloren hat. So erklärt sie auch kurz zuvor »at the moment the most important thing is finding a job« (Yasmina Z309). Zu der Beschreibung ihrer Utopie gehört also unbedingt auch die Beschreibung dessen, was sie möglicherweise unwiederbringlich verloren hat: Orientierung, Selbstvergewisserung, Anerkennung und stabile Lebensverhältnisse. Heimat als Utopie erschließt sich für Yasmina in einem positiven, in die Zukunft gerichteten Gegenbild, der Vereinigung ihrer Familie. Möglicherweise koppelt sie an diese Vision auch Hoffnungen bezüglich der allgemeinen Verbesserung ihrer Lebenssituation. Auch diese Heimatfacette gewinnt dabei erst nach der Migration und der rechtlichen wie gesellschaftlichen Einordnung als Flüchtling, die sowohl für sie als auch ihren Mann mit unerwarteten Schwierigkeiten verbunden ist, an Gewicht. Während Yasmina in der oben angeführten Sequenz erklärte, sie brauche Zeit, um sich neu zu orientieren (Yasmina Z684), so kann ihre Idee, ein Buch über ihr Leben als geflüchtete Frau in Deutschland zu schreiben, als konkreter Antrieb einer persönlichen Reflexion betrachtet werden. Hierin möchte Yasmina Menschen, die vor einer ähnlichen Entscheidung wie sie selbst vor fünf Jahren stehen, über die Schwierigkeiten und Folgen der Migration aufklären und hiervon sogar abraten. That’s why I said- if I try to explain in detail a person maybe 20 years, ten years later, when she or he read this book will (.) see or will- I don’t know- understand how difficult it is. Maybe I stop those who have no idea. I stop them, they will see how difficult it is to live in another country. And they understand […] oh it’s not like going there, start a job and have everything. It is not easy then, I have to think a lot. […] I know it will take time but I’m sure when I have a job, I have NO pressure. Then I have time and will work faster. But at the moment one day, I’m just writing twitter, the other day just in Facebook, that’s it! I never work on this book. (Yasmina Z580-Z587) Obwohl Yasmina zum Zeitpunkt des Interviews nicht in der Lage ist, dieses Projekt weiter zu führen, könnte ihr damit ein langfristiger Weg aus dem Gefühl der Ohnmacht gelingen. Da sie selbst nur mit wenigen Personen über ihre derzeitige Situation spricht, könnte sie ebenfalls darin die Gelegenheit sehen, nahestehenden Menschen ihre Lage und Entscheidung aus einer Retrospektive zu erklären. Sie gewinnt dadurch die Möglichkeit, ihre Migrationsentscheidung sowie die Anfänge und Erfahrungen in Deutschland ge-
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danklich zu strukturieren und eventuell neu zu beurteilen. Diese Vermutung liegt nahe, da sie erklärt, wieder mit dem Schreiben zu beginnen, wenn sie Arbeit gefunden hat und nicht mehr unter Druck steht. Yasmina empfindet die Zusammenkunft ihrer Familie und das Wiedersehen ihres Mannes als Erfüllung eines Traums, an den sie aufgrund mehrerer Abweisungen des Einreiseantrags ihres Mannes durch die Behörden und ihrer persönlichen gegenwärtigen Situation kaum noch glaubt. Yasminas Utopie und ihr Selbstbild stehen daher in einem engen Zusammenhang miteinander. So wird deutlich, dass sie mit der Realisation der Utopie möglicherweise auch Verbesserungen in anderen Lebensbereichen verknüpft. Zum Zeitpunkt des Interviews aber ist sie bemüht, sich neu zu orientieren, ein Prozess, der, wie sie sagt, Zeit braucht. Bereits als Bah Gambia verlässt, so schildert er es aus heutiger Sicht, beginnt seine Reise mit der Vision in besseren Verhältnissen zu leben. Nachdem er gegen den Willen seiner Stiefmutter die Schule abbricht, um als ältester Sohn in der Glasproduktion eines chinesischen Unternehmens zu arbeiten, will er sich einige Jahre später selbstständig machen. Sein Vorgesetzter lässt dies allerdings nicht zu, sodass er und vier weitere Freunde beschließen, Gambia zu verlassen. Aufgrund der familiären Enge und der mangelnden beruflichen Optionen sieht Bah in Gambia nicht die Möglichkeit zur Verbesserung seiner Lebensumstände. I tell my friends later: »We are supposed to travel«. And we leave Gambia and »nothing is going be better when we are here«. (Bah Z134-Z135) Die nächste Sequenz ist Teil von Bahs Haupterzählung. Er erzählt recht knapp von seiner insgesamt fünf Jahre andauernden Reise, die in Gambia begann und in Deutschland endete. Sie durchqueren mehrere Länder und arbeiten schließlich drei Jahre in Libyen. Bah selbst ist auch hier in der Glasproduktion beschäftigt. Während sein Aufbruch aus Gambia bereits darin begründet liegt, eine eigenständige Arbeit zu finden, so spielt dies auch in der folgenden Erzählung eine wichtige Rolle. Bah geht nicht auf die Lebensverhältnisse in Libyen, Italien oder auf der Reise ein, er formuliert keine Begründungen oder Entscheidungsmomente. Seine etwa vier Minuten dauernde Haupterzählung schließt er mit der erneuten Bekräftigung in Italien keine Zukunft zu haben, weshalb er nach Deutschland kam. So that five years I travelled with some friends to come to Senegal. We were all there up to three months, like ?obviously? three months, we go to another country like
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Mali, Burkina, Niger, up to Libya then. We were in Libya up to three years I think. Then we worked there- I worked myself with glass, in Libya also. So we get some money and payed a seat and we crossed the sea. From Libya to Italy. Some people are- some people make- they cross ONE day or one night. So but we are three days in the [x]. //I1: Mhm?// Three days //I2: In the boat// Yeah. Some are very fast to takewe do it a little bit late and (.) a little bit confused (lacht leicht) and- Italian andyeah. And the [x] people reached [x] Italian people and a place called Lampedusa I think. (.) After there we went to Sicilia and I was there one and a half years. And I got an Italian document there but the difficult thing is; there is no work, no school. I don’t see any future for me and I come to Germany here. (Bah Z24-Z35) Das Motiv der Arbeitssuche und die Forderung nach langfristigen Zukunftsperspektiven offenbaren sich hier deutlich. Erst im späteren Verlauf des Interviews und auf Nachfrage wird sich herausstellen, dass Bah sowohl in Libyen als auch in Italien für jeweils eineinhalb Jahre in Gefangenschaft war, wie er sagt. Auch die dreitägige Überfahrt über das Mittelmeer, die im Normalfall etwa einen Tag andauert, erzählt er in harmloser Weise, ohne näher darauf einzugehen. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich um traumatische Erfahrungen handelt. Zudem wähnt er möglicherweise in der ersten Frage des Interviews nach seiner Lebensgeschichte die Frage danach, wieso er nach Deutschland kam. Auffällig im Interview mit Bah ist außerdem die deutliche Diskrepanz zwischen dem imaginierten Leben in Deutschland, das er vor seiner Abreise hatte, und der erlebten und im Interview reflektierten Realität. Im Kontakt mit Bekannten in Gambia scheint die Vorstellung, er führe gegenwärtig ein besseres Leben als zuvor, einen gewissen Stellenwert zu haben. So erwähnt Bah auf Nachfrage, dass er mit den Bildern, die er von sich in Deutschland verschickt, ein gutes Leben darstellen will. Darin verdeutlicht sich allerdings auch, dass es sich möglicherweise nur um einen äußeren Schein handelt. If I send my pictures »Ah you are looking good and you have a better life.« So you live also this kind of life. Everything will be good, it will be fine. (Bah Z403-Z404) Während Bah auf der Suche nach besseren Lebensumständen Gambia verließ und schließlich nach Deutschland kam, so demonstrieren die folgenden Sequenzen eine differenziertere Eigenwahrnehmung seiner gegenwärtigen Situation. Auf die Frage, was seit seiner Ankunft in Deutschland bis heute geschah, nennt er nicht, wie zuvor in der Erzählung verschiedene Etappen oder Ereignisse bis heute. Er antwortet vielmehr resümierend und beschreibt
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sein Empfinden aus der gegenwärtigen Lebenssituation heraus. Er sagt, er erlebte bisher keine Schwierigkeiten, dabei setzt er seine eigene Situation ins Verhältnis zu der seiner Bekannten, die zum Teil noch in kommunalen Unterbringungen leben oder abgeschoben wurden. Since I arrived in Germany (.) still I don´t face difficult things like the others. Maybe it will come but not now. I still don´t face difficult things or whatever or something like that. Still not- (.) But I have some friends they are facing very difficulties in Germany. So they cannot live. I see that. […] Because the German people don´t allow them to live here and they say: »Your hand is in Italy or you are not supposed to be here. You are supposed to go back« and- they are not free really. (Bah Z59-Z64) Wenn Bah auch aufgrund seines Herkunftslandes Gambia derzeit keinen langfristig gesicherten Aufenthalt in Deutschland hat, so absolviert er doch zum Zeitpunkt des Interviews seit etwa einem Jahr eine Ausbildung zum Koch und lebt außerhalb der kommunalen Unterbringungsstrukturen in Heidelberg. Trotzdem empfindet Bah, wie auch in Kapitel 5.2.2. deutlich wird, seine Lage nicht als sicher. So schließt er die Möglichkeit nicht aus, ebenso wie seine Bekannten in Heidelberg, dass in Zukunft Schwierigkeiten in Bezug auf seinen Aufenthalt auf ihn zukommen könnten. Über seine Bekannten aus Gambia sagt er, dass sie hier nicht leben können und nicht wirklich frei seien. Den Grund dafür sieht er unter anderem in der gesetzlichen Regelung, die Asylsuchende dazu verpflichtet, das Asylverfahren in Italien zu durchlaufen, sollten diese hier bei ihrer Einreise in die EU bereits registriert worden sein. Im Falle einer Ablehnung des Asylgesuchs wird man zur Ausreise aufgefordert und ist gegebenenfalls gezwungen unterzutauchen. Formulierungen wie »don’t allow«, »not supposed« und »are supposed« manifestieren den Druck, der durch diese rechtliche und gesellschaftliche Ablehnung auf seinen Bekannten lastet. Aber auch seine eigene aufenthaltsrechtliche Situation scheint ihm keine Sicherheit zu garantieren. Die Ausführungen in der folgenden Sequenz vertiefen, was Bah oben bereits äußert. Auf die Frage, was er über die Flüchtlingspolitik in Europa und Deutschland denke, erläutert Bah deutlich, dass er die Ablehnung von Flüchtlingen in Europa spürt und die Unterscheidung dieser nach ihren Herkunftsländern verurteilt. Insbesondere störe er sich an der Falschheit, da man zwar Flüchtlingen, insbesondere als Arbeitskräfte, positiv gegenüberstehe, nicht aber Westafrikanerinnen. In Europe politics are not nice. Some people are telling: »We don’t like refugees. We don’t want this.« So they have to go back home or whatever, some are [x], they are
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supposed to stay and- (.) I don’t know this. Still some people are telling »Leave the refugees and ?leave? the place and [x] whatever they need.« Some people only saying but- some people are only pretending, they don’t have a good heart for refugees. Especially I think also German people maybe they- last time I watched in the TV, the German people need refugees, almost ?30.000? people. They said they don’t need the Westafrican. They need like the Asian people [xx]. […] Yes. I feel sad, yeah right. We are all human beings so why other people [x] and we are not? (Bah Z713-Z723) Diese Sequenz endet mit einer offenen Frage Bahs: Wenn man Arbeitskräfte in Deutschland doch brauche, weshalb werden asiatische Menschen bevorzugt, aber Westafrikanerinnen abgewiesen, letztlich seien alle Menschen. Spricht er zuvor von Asiatinnen und Westafrikanerinnen, so erklärt er zuletzt: warum andere und nicht wir. Hierin verdeutlicht sich die durch ihn wahrgenommene grundsätzliche Unterscheidung zwischen Menschen aus Westafrika und allen anderen. Wenn auch Bah keine Ausreiseaufforderung zu befürchten hat, solange er eine Ausbildung macht, spürt er dennoch eine grundsätzliche Ablehnung, die ausschließlich darauf zurück zu führen ist, dass er aus einem westafrikanischen Land kommt. Werden das Zubereiten von Nahrung sowie seine Vorliebe für die Farbe Rot in Kapitel 5.2.2. bereits als bedeutsame Aspekte alltäglicher Beheimatungspraktiken gesehen, so formuliert Bah in den folgenden beiden Sequenzen eine Utopie, die diese Elemente ebenfalls einschließt. Bah erklärt, er wolle nach der Beendigung seiner Ausbildung ein eigenes Restaurant eröffnen. Auf Kaviths Nachfrage zu einem späteren Zeitpunkt im Interview geht Bah darauf ein, welche Schritte hierzu nötig seien. I want to do- finish my Ausbildung. And my dream- I want to open my own restaurant to be a professional cook. (Bah Z279-Z279) When I am finished with my Ausbildung maybe I- (.) Then I will do my exam. [xx] so maybe I can work some years to start the process, how to find or make a restaurant with- yeah I need to get more contact with more people. To ask the- to get GOOD contact with good people. To help me how to get this place and how to work- //I2: Do you have a name- a dreaming name for your restaurant?// Not yet (lacht). (.) I think if I decide it will be red (alle lachen). (Bah Z787-Z790) Bah erklärt, er würde zunächst einige Jahre als Koch arbeiten und dann mit dem Aufbau seines Restaurants beginnen, hierzu brauche er die Unterstützung anderer Leute. Er betont, dies müsse ein guter Kontakt mit guten Leuten
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sein. Die Betonung des Wortes »good« kann darauf verweisen, dass er sachkundige oder auch vertrauenswürdige Personen meine. Vor dem Hintergrund der oben ausgewerteten Sequenzen, in der er die Scheinheiligkeit deutscher Menschen anprangert, kann darauf geschlossen werden, dass Vertrauen zumindest eine wichtige Rolle spielt. Angelehnt an die Farbe des Vereins Manchester United sagt Bah spontan auf die Frage Kaviths nach dem Namen für sein Restaurant, es werde rot sein beziehungsweise heißen. Es konnte herausgearbeitet werden, dass Bah und weitere Freunde ihre Reise aus Gambia mit der Vorstellung von einem besseren Leben antraten. In Deutschland hält Bah das Bild einer gelebten Utopie gegenüber anderen Personen aufrecht, er verschickt Fotos von sich, die seinen Erfolg dokumentieren sollen. In seinem gegenwärtigen Lebenszusammenhang aber erkennt er, dass Westafrikanerinnen auch als Arbeitskräfte nicht gewünscht sind, vielmehr leben einiger seiner Gambischen Bekannten ein Leben in Unfreiheit, da sie ihre Ausweisung befürchten müssen. Bahs gegenwärtige Utopie hat sich angepasst an die Bedingungen seiner gegenwärtigen Lebensumstände und trägt gleichzeitig Elemente seines früheren Lebens in sich, wie in Kapitel 5.2.2. noch deutlicher wird. Er möchte ein eigenes Restaurant eröffnen, berücksichtigt aber, dass er dazu die Unterstützung aufrichtiger Personen benötigt. Damit entwirft Bah einen höheren und persönlichen Sinn, der einst in der gemeinsam entworfenen Utopie bestand und nun die Bedingungen und konkreten Möglichkeiten des derzeitigen Lebens berücksichtigt. Kama sieht seine eigene Situation in Deutschland in enger Verknüpfung und Tradition mit dem Unrecht, das Afrikanerinnen seit der Kolonialisierung bis heute widerfährt. Im Interview formuliert Kama eine globale gesellschaftliche Utopie, die in dem Aufbrechen ungleicher Lebensverhältnisse und in der Zurückgewinnung von Selbstbestimmung durch Afrikanerinnen besteht. In der folgenden Sequenz beschreibt Kama die historischen Wurzeln dieser Ungleichheit und Ausbedeutungsverhältnisse. Afrikanerinnen wurden als Sklavinnen insbesondere aus Gambia in die USA gebracht. Obwohl diese an der Entwicklung Amerikas unmittelbar beteiligt waren, bezeichne man sie noch heute als Afroamerikanerinnen, statt als Amerikanerinnen. So I mean- I think about how we can develop there so that the children who are coming in next future they also can stay. They cannot face what I’m facing. How long? 400 years ago the- this colonization- they go to Africa, they rule everything. The slave trade systems, the Gambia, the country where I’m from, is the most recommended slaves from Africa, Gambia, they take them to America you know. America
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was developing from Blacks. […] But even if I have children in America my greatgreat children they have children in America they will still call them that they are from Africa, they are not from there. But they focus that in a slave systems, slave trade time, America was developed- or many countries in the west they developed by- through the- they both do development with the African people. They go to Africa. They take our great-great grandparents there. They bring them, they develop it. (Kama Z1052-Z1069) Mit der Kontextualisierung seiner eigenen Situation sowie der seiner Bekannten aus Gambia und Westafrika in der Kolonialgeschichte verdeutlicht er, dass auch seine eigene individuelle Lage Produkt eines globalen bis heute reproduzierten ungerechten Systems ist. Er nennt im Interview mehrere Beispiele, die dies verdeutlichen: So sind einige seiner Freunde aufgrund geringer Geldstrafen im Gefängnis. In Gefangenschaft arbeiten sie für einen sehr geringen Lohn, wodurch auch hier ökonomischer Nutzen aus ihnen geschlagen wird (Kama Z1594). Ebenso verhält es sich mit Qualifizierungsprogrammen und Praktika für Flüchtlinge, die diesen eine feste Arbeit oder einen Ausbildungsplatz in Aussicht stellten, allerdings selten garantierten. Er beschreibt dies als moderne Sklaverei (Kama Z733ff). Zudem spricht er von sich selbst, wie in der folgenden Sequenz deutlich wird, als bildungsfern. Dies betrachtet er ebenfalls als eine Folge jahrhundertelanger Ausbeutung. Who can do that for my people? I HAVE to do that. But (.) I don’t have a chance in Africa. I came here I don’t have a chance also. And they are blaming us. (.) I’m not educated but I can do this business where I’m in, so I want to do, I can do so many things. But papers, this is how they organize so many people’s things. Go to this office, go to this office, and go to this office. (Kama Z1346-Z1350) Trotz dieser historischen Determinierung sieht er sich verpflichtet, etwas für die Entwicklung Afrikas beziehungsweise für »seine Leute« zu tun. Dieses Anliegen taucht als generelles Thema im Verlauf seiner Biographie auf: Bereits weiter oben konnte gezeigt werden, dass sich Kama in vielen Momenten seines Lebens, insbesondere in lebensbedrohlichen und als ungerecht empfundenen Situationen, wie in Libyen, auf dem Weg durch Europa und in Deutschland, als unterstützend, verlässlich und loyal gegenüber »seinen Leuten« verhält. Er identifiziert sich mit der Gruppe der Afrikanerinnen, die in seiner Perspektive bis heute unfrei sind, und sieht darin die Bestimmung und die Pflicht zu handeln.
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Zugleich fühlt sich Kama machtlos, da er sowohl in Westafrika und nun auch in Deutschland keine Chance erhält, diese Verhältnisse zu verändern. In seiner Rechtfertigung, dass er vieles tun könnte, verdeutlicht sich zum einen seine Verzweiflung, zum anderen aber auch die Unsinnigkeit und Ungerechtigkeit bürokratischer Hürden, an denen seine Fähigkeiten und Ideen scheitern. Eine Geschäftsidee, die er bereits vor seiner Ankunft in Europa hatte, ist der Aufbau eines Diamantenhandels mit Sierra Leone (Kama Z1245). Er erklärt, dass Diamanten in Afrika zu einem sehr niedrigen Preis gekauft würden, dann aber von Käuferinnen für einen viel höheren Preis weiterverkauft. Die Diamantenhändlerinnen vor Ort, wie die Familien in Sierra Leone, bei denen er arbeitete, profitierten nicht von diesem Geschäft. Auch wenn Kama derzeit keine Möglichkeit sieht, seinen Plan in die Tat umzusetzen, formuliert er in der folgenden Sequenz ein Szenario, in dem letztendlich afrikanische Länder landwirtschaftliche Eigenständigkeit und somit finanzielle Unabhängigkeit erreichen. Er sei zwar nicht gebildet, er verfüge aber über Kontakte und habe eine tatkräftige Familie. I mean for me you know I’m lacking of education, I’m lacking of sponsor but my plan is import and export (.) business. Yeah people they go and tell me own goods. They buy diamonds, cheap price and then come and sell it here for big money. If I have a chance but this will be hard for me to get. Because this is the big- is the argument the plan before I came here. (.) So, it will be hard for me to have documents because they control it, Africa is not in control. […] They have money and then their family, everyone is enjoying it. So, when they buy from my uncle, we are suffering there. If I have a chance, I have connections. I will go there, I pick it from there, I come and sell it here. If I sell it here, I buy tractors or equipment for the agricultural people. I know- some strong people of my stepfathers and my brother, how strong they are. If they have equipment, they will feed the compound and they will feed all the village. We don’t need no food to export or no rice to export in our countries. (Kama Z1194Z1207) Im Diamantenhandel sieht Kama die Chance, bestehende Verhältnisse aufzubrechen. Er würde mit dem Gewinn Maschinen kaufen, die Verwandte für die Landwirtschaft nutzen können. Der Ertrag dieser Arbeit würde das ganze Dorf mit Nahrung versorgen, wodurch die Unabhängigkeit von Importen möglich wäre. Er führt diesen Gedanken schließlich weiter bis zur Unabhängigkeit aller Länder, zum Beispiel von Reisimporten.
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Seine Utopie besteht in der Verwirklichung globaler gerechter Lebensverhältnisse. Für Kama realisiert sich diese Utopie mit der Auflösung auf Ausbeutung und Rassismus basierender, lang andauernder Machtverhältnisse zwischen dem Westen und Afrika. Es fordert die Wiedererlangung von Handlungs- und Entscheidungsmacht für Afrikanerinnen, damit diese in der Lage sind, ihre Entwicklung ohne die Einwirkung westlicher Staaten voran zu treiben. Die nach ihm kommenden Generationen könnten im Land bleiben und müssten nicht dasselbe wir er durchleben. Während er die Verwirklichung des Diamantenhandels als einen ersten Schritt auf dem Weg zur Verwirklichung seiner gesellschaftlichen Utopie sieht, so bleibt diese Hoffnung doch zunächst unerfüllt. Kama fehlt der nötige rechtliche Status und er sieht keine Chance, diesen bald zu erhalten. Utopie wird für Kama zur Heimat, weil sie ihm eine Richtung für sein Handeln vorgibt und den Grund für seine Reise nach Deutschland rechtfertigt. Seinem Leben gibt diese, wenn auch unerreichbare Idee einen latenten Sinn. In ähnlicher Weise wie Kama findet auch Yochanan Orientierung in einer gesellschaftlichen Utopie, die als Heimat bezeichnet werden kann. Sie bestimmt sein Selbstverständnis als Menschenrechtsaktivist und leitet sein Handeln im Umgang mit anderen Menschen. Yochanan verortet die Entstehung seines politischen Handelns und der dahinterstehenden gesellschaftlichen Idealvorstellungen in der Zeit, als er in Gambia für eine Nichtregierungsorganisation arbeitete. In seiner Haupterzählung berichtet er von einem Treffen mit den Führern der Oppositionspartei des damaligen Diktators Yahya Jammeh, ein Moment, der ihn zu dem machte, was er heute ist. So, you know I came to know this political- this opposition leaders, I came to know them, I talked to them, they respect me as a young man, trying to- adjust their hard working you know. We became friends and shared a lot of ideas. I know these are the true citizens, these are the true sons of our land you know. They gave me a lot of inspirations you know, wisdoms. That just made me who I am today. That made me very strong you know, emotionally. I don’t give a shit with this leadership what or ever. All what I want is Human Rights to be existing, to be respected, that is all. (Yochanan Z178-Z185) Die Begegnung mit den Politikern hat ihn stark beeindruckt und noch heute beschreibt er diese als initialen Moment für sein Wirken. So unterhält er noch heute Verbindungen mit der politischen Elite beziehungsweise in das politische System Gambias. Er selbst positioniert sich dabei hierarchisch weit unter den Männern und stellt sich als unerfahren und demütig in dieser Begegnung
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dar. Er nennt die Männer die wahren Söhne Gambias und ohne auf konkrete Inhalte einzugehen betont er, durch sie an emotionaler Stärke gewonnen zu haben, die ihn bis heute trägt. In Bezug auf seine eigene Person ist es ihm zugleich wichtig zu betonen, dass es ihm nicht um Führung gehe. Er stellt sich als uneigennützig dar, idealistisch und fernab politischer Machtkämpfe in Gambia. Daraus leitet er eine universelle, idealistische Weltsicht und Forderung ab, nämlich die Achtung der Menschenrechte. Den Ausgangspunkt seines heutigen Aktivismus lokalisiert er zwar in Gambia, Gültigkeit erlangt sein Grundverständnis heute aber auf globaler Ebene und kann damit auf den derzeitigen Kontext seines Lebens, in dem er sich nach wie vor auch politisch in Gambia einbringt, übertragen werden. Erst in der zweiten Phase des Interviews geht Yochanan auf diskriminierende und verletzende Momente ein, die er unter anderem in seiner Ausbildungsklasse erlebt. Während sein Ideal, die Achtung der Menschenrechte, von der Gleichheit aller Menschen ausgeht, führen Diskriminierung und Rassismus eine Unterscheidung und Ungleichbehandlung in seinem Alltag ein. But sometimes it is scheiße, really. When it comes to these asylum things. When it comes to pointing finger on me like a refugee (.). I am Migrant (.) you know? You understand. We are Menschen-Menschen, nur Mensch. Human being is human being. But we come to that- we just- (.) the same people, different colors. We talk the same voice, the same thing you know. The same sense, the same (.) ideas sometimes. Our problem is only this black and white. (Yochanan Z1455-Z1461) Als Geflüchteter und Schwarze Person macht er im Alltag Diskriminierungsund Rassismuserfahrungen, die er an anderer Stelle im Interview weiter ausführt (Yochanan Z1479ff). Zudem deutet er in diesem Zitat den seelischen Druck an, den das Asylverfahren bei ihm auslöst. Dies verletzt ihn und nimmt ihm selbst Kraft und Mut, was im Transkript an den kurzen Gesprächspausen deutlich wird. Er kommt danach wieder eindrücklich auf seine Überzeugung zu sprechen, die er auf Deutsch und auf Englisch wiederholt: Menschen sind nur Menschen und sie sind überall gleich. Das einzige Problem bestehe in der Unterscheidung von Schwarz und Weiß. Eine Erfahrung, die er sowohl als Flüchtling als auch als Gambier macht. Die folgende Sequenz verdeutlicht und unterstreicht Yochanans Anliegen als Menschenrechtsaktivist. Er beschreibt darin zudem, wie er seine Überzeugungen konkret umsetzt.
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And when I say I am fighting for Africans, I am lying. I am even helping Arabs. You know their asylum is far better than mine. (.) So it is like- to ME (.) every Human Being has a right, got a potential or got something or at least benefit to do something from. So. But sometimes we all don’t know how to do this (.). Sometimes you get discouraged with your own self, you get discouraged with your own things. Or get some difficulties with it. But someone just come and give you a LITTLE tip and you see the whole world or a way, a big way. And I believe that- Me- I have- God give me something. When you tell me your problem, when you tell me something about your-your- what OR ever you tell me, even if I don’t know it, but like talking, interacting with you, sharing ideas, based on the things that you know better than me. Sharing ideas with you. Those ideas always helped. Two brains are ever better than one. So, it is not like I am fighting for refugees alone. I call myself a so called Human Rights Activist you know. I-I am (.) in the world for the whole h-humanity. Not only Africa. (Yochanan Z1314-Z1330) Yochanan formuliert diese Antwort auf die Frage, wofür er kämpft. Er möchte sich nicht als afrikanischer Menschenrechtsaktivist verstanden wissen, der sich also lediglich für die Anliegen afrikanischer Menschen engagiert. Kontrastierend sagt er, dass er sogar Araberinnen hilft, womit er unterstreichen möchte, dass es ihm nicht um die Stellung oder den Status der Menschen gehe. Vielmehr agiert er vor dem Hintergrund einer generellen und global gültigen Agenda, die jeden, unabhängig von politischen und gesellschaftlichen Einordnungen oder Hierarchisierungen als gleichwertig und gleichwichtig ansieht. Er sieht sich dabei auch als eine Art Coach oder Motivator, da er Menschen ermutigt, Chancen zu ergreifen, wenn sie entmutigt sind. Diese Tätigkeit kann er losgelöst von einem Asylstatus ausüben, sie macht ihn nahezu unabhängig von gesetzlichen Regulierungen und monetären Zwängen. Seine Fähigkeiten, andere zu unterstützen und politisch erfolgreich zu handeln, bezeichnet er als gottgegeben. Yochanan formuliert damit eine Utopie, die sein Handeln als Menschenrechtsaktivist bestimmt, aber die gleichzeitig nicht erfüllbar ist, wie er selbst im Alltag erfährt. Es ist die grundsätzliche Idee von der Gleichbehandlung aller Menschen auf der Grundlage der Menschenrechte, eines global gültigen Rechtssystems. Kategorisierungen aufgrund äußerlicher Merkmale, des Asylstatus oder der Stellung in der Gesellschaft sucht er zu überwinden. Er formuliert darin ein positives und allgemein gültiges Bild des Umgangs und der Achtung der Menschen untereinander. Dies bringt ihm Stabilität, emotionale Stärke und Sinnhaftigkeit für sein Tun. Zudem vermag sie »beide Welten«,
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Gambia und Deutschland, zu verbinden und damit auch sein vielfältiges Tun in Einklang zu bringen und mit Sinn auszustatten. Während in den vorangegangenen Ausführungen herausgearbeitet werden konnte, worin Yochanans Utopie besteht und welche Funktion sie erfüllt, so sei hier kurz auf die in Kapitel 5.2.3. herausgearbeiteten Strategien der Beheimatung eingegangen. Die sehr häufige Formulierung »me being me« ist der Handlungsmodus seines Lebens und für Yochanan eine Praxis der strategischen Selbstermächtigung, insbesondere wenn wenig Spielraum für eigenmächtiges Handeln bleibt. »Me being me« ist ein Instrument der Zukunftsgestaltung und gewinnt damit einen konkreten Bezug zu seiner Utopie. Heimat als Utopie ist die Vision einer anderen »Welt« auf gesellschaftlicher sowie individueller Ebene, die sich aus den Verhältnissen der individuellsubjektiv empfundenen Gegenwart formt. In der Gegenwart dient die Utopie sowohl der Orientierung, da sie einen höheren Sinn entwirft, als auch der Besänftigung und Überbrückung einer schwer auszuhaltenden gegenwärtigen Lebenslage. Utopien gewinnen die »Qualität Heimat«, da sie auch in widrigen Umständen ein Ort zum Ausruhen, der Selbstvergewisserung und des Weiterdenkens sind. Als Orientierungspunkte vermögen sie die Idee der eigenen Handlungsfähigkeit zu bewahren und damit auch die Kontrolle über die eigene Situation. Während Yochanan, wie in Kapitel 5.2.3. gezeigt, den Handlungsmodus »me being me« entwickelt, sehen Kama und Yasmina zum Zeitpunkt des Interviews laut der hier vorgenommenen Analyse kaum Wege, Heimat in ihrer unmittelbaren Lebenswelt zu begründen. Jedoch vermögen es beide, ebenso wie Yochanan, Heimat als Utopie zu konzipieren, die ihre vermeintlich schwierigen und unlösbar erscheinenden, auch instabilen Situationen, beispielsweise aufgrund rechtlicher Regulierungen, in der Gegenwart mit Sinn füllen. Es wurde zudem eine Verbundenheit festgestellt zwischen der individuellen emotionalen Verortung, dem Heimatempfinden, und den Kontroll- und Machtkonstellationen, in die Yasmina, Kama und Yochanan eingebettet sind. Ihre Heimatkonstruktionen sind Reaktionen auf und Orientierungspunkte in einer subjektiv empfundenen, aber auch strukturell bedingten Lage. Zugleich finden alle drei Möglichkeiten des selbstbestimmten Umgangs mit ihren Situationen. Im Gegensatz zum Gefühl der Sehnsucht regt die Utopie zum Weiterdenken an und bietet damit eine, wenn auch nicht oder nur schwer zu verwirklichende Vorstellung von der eigenen Zukunft an.
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5.2.6
Kindsheimat als Schablone und Gegenbild
Der Ort der Kindheit als erinnerte Kindsheimat ist ein gängiges und viel bemühtes Bild, wenn es um Assoziationen zu Heimat geht. In den analysierten Interviews wurde dem Ort der Kindheit beziehungsweise Jugend nur von Mahmoud und Lavin besondere Bedeutung beigemessen. Seine Relevanz bei der Bewältigung gegenwärtiger Lebensverhältnisse kann nach einer differenzierten Betrachtung der Narrative zwar nicht oder nur in Teilen abgeleitet werden, allerdings liefert sie wertvolle Erkenntnisse für das Verständnis der gegenwärtigen sozialräumlichen Verortungen der hier untersuchten Biographien. Der Ort, in dem Lavin geboren wurde, einen Teil seiner Kindheit verbrachte und in dem sein Vater lange Zeit lebte, ebenso wie seine Großeltern, taucht in seiner Lebensgeschichte immer wieder auf. Lavin weist diesem Ort im Interview eine besondere Funktion und Bedeutung zu, sowohl für seinen damaligen Lebenszusammenhang als auch für sein heutiges Leben. Lavin möchte die Erzählung seines Lebens zunächst ab seinem 15. Lebensjahr beginnen, als vermutlich das Leben in der syrischen Stadt aufgrund des beginnenden Krieges schwieriger wird. Er beginnt dann aber doch mit seiner Geburt, wobei er seinen Status als Angehöriger einer politischen Minderheit im mehrheitlich arabisch geprägten Syrien hervorhebt. Später wird er erläutern, dass er mit 15 Jahren das bisher schlimmste Erlebnis seines Lebens hatte, welches ebenfalls auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass er zur Minderheit der Kurdinnen gehört. Dass er und seine Familie wenig Akzeptanz in Syrien erfahren, wiederholt Lavin im darauffolgenden Satz und deutet dabei bereits den Grund für seine spätere Flucht ein. Ich überlege gerade, von wann ich anfangen soll. Weil es tatsächlich eigentlich mit 15 angefangen hat. Aber vielleicht muss man auch was früher. Ja genau. Ich bin in einer sehr kleinen Stadt geboren, aufgewachsen bis ich zehn Jahre alt war. In dieser Stadt fühlte ich mich nicht so ganz wohl, weil ich aus einer Minderheit stamme, die nicht so ganz gern akzeptiert war. Ich bin ja Kurde und ich wohnte in einem arabischen Land, das Arabische Republik heißt. (Lavin Z10-Z13) Mit der eigenen Einordnung als Angehöriger einer Minderheit und den damit in Verbindung stehenden spezifischen Lebensbedingungen steckt Lavin den Rahmen für die nachfolgende Geschichte seines Lebens. Möglicherweise verdeutlicht er bereits hier, dass sämtliche Lebensentscheidungen und ereignisse auf seine politisch-religiöse Zugehörigkeit zur kurdischen Minder-
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heit zurückzuführen sind. Im Verlauf des Gesprächs wird deutlich, dass der Ort seiner Kindheit mit seiner politischen Stellung im Land eng verwoben ist. Aufgrund der wiederholten Erwähnung des Ortes seiner Kindheit beschreibt Lavin diesen detaillierter in der Nachfragephase des Interviews. Lavins Antwortsequenz wird mithilfe der folgenden beiden Interviewausschnitte interpretiert. Seine Erzählung thematisiert insbesondere das Leben am Ort seiner Kindheit und Jugend zu dem Zeitpunkt, als er dort die Sommerferien nach einer traumatischen Erfahrung in Damaskus verbringt. Er geht auf die Relation zwischen Araberinnen und Kurdinnen ein, wodurch er das Dorf seiner Kindheit wieder in einen politischen und gesellschaftlichen Kontext einbettet. Lavin erklärt, die Bewohnerinnen des Dorfes seien mehrheitlich Kurdinnen, während die Araberinnen in der Minderheit sind. Wie in der Eingangssequenz werden beide Gruppierungen als einander feindlich gegenüberstehend dargestellt, wobei es immer darum geht, wer über wen Macht ausübt. In der folgenden Beschreibung des Lebens im Dorf gestaltet sich das Machtverhältnis entgegen der üblichen Verhältnisse im Land. Für Lavin ist der emotionale Wert dieses Ortes daher ganz maßgeblich abhängig von den politischen und gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen. Die meisten, die dort wohnen, also die meisten Einwohner, sind Kurden. Es gibt auch Araber, sie sind aber zu wenig, aber die meisten, die Polizisten und so, sie waren Araber. Aber die hatten immer nichts gemacht, die hatten immer Angst, weil die zu wenig waren. Die Kurden selber hatten auch- manche hatten Waffen und so. Und die hatten auch manchmal so Kontrollen gemacht und das hat die Polizei immer gesehen, aber nichts dagegen gemacht. (Lavin Z356-Z359) Aus gegenwärtiger Perspektive ist der Ort seiner Kindheit bedeutsam, da aufgrund des Gleichgewichts an Araberinnen und Kurdinnen einerseits keine Gefahr für Angehörige der kurdischen Minderheit bestand, zum anderen weil sie als Kurdinnen selbst die Möglichkeit hatten Macht auszuüben. Sein hier erlebtes Gefühl der Sicherheit steht im Gegensatz zu dem Gefühl der Unsicherheit, das begründet ist in einem traumatischen Erlebnis in der Stadt Damaskus, das in diesem Kapitel später kurz ausgeführt wird. Die Kopplung der Beschreibung des Dorfes mit der Einbettung in die damalige politische Situation ist möglicherweise deswegen von Bedeutung, da deren spätere Veränderung auch die Bedeutungsveränderungen des Ortes begründen. Im zweiten Teil seiner Antwort beschreibt Lavin die empfundenen Freiheiten in dem Dorf während seines Aufenthaltes in den Sommerferien. In der Haupterzählung hatte Lavin zuvor seine Erfahrungen in der Türkei in
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einer ähnlichen Weise beschrieben: Er ist zwar allein und auf sich gestellt, aber nicht länger in Gefahr (siehe Kapitel 5.2.3. zu Strategien der Beheimatung und Beheimatung als Strategie). Im Gegensatz zur erlebten und genossenen Selbstbestimmung in der Türkei erscheint die Zeit in dem Dorf seiner Kindheit aber bedeutsam aufgrund der dortigen Geborgenheit in der Gruppe der kurdischen Minderheit: Hier kann er vorübergehend seine Muttersprache sprechen, mit den Freundinnen aus der Kindheit spielen und alles vergessen, was ihm widerfahren ist. Für mich war es ganz schön wieder mal, dass ich auf meiner Muttersprache spreche, so Kurdisch quasi, das war verboten. Das war auch verboten in der Schule oder auf der Straße da zu sprechen, allerdings nachdem der Krieg angefangen hat, gab es nicht mehr so viel Kontrolle wie früher. Das war für mich schön, dass ich mal meine Muttersprache sprechen kann, dass ich die höre, dass ich ein paar Freunde von meiner Kindheit treffe, dass wir zusammenspielen. Dass ich dadurch alles vergessen konnte, was mir passiert ist. (Lavin Z359-Z363) Lavin hebt mehrfach die Bedeutung seiner Muttersprache hervor, die er mit der Veränderung der politischen Verhältnisse im Dorf seiner Kindheit wieder ungestraft hören und sprechen kann. Die Sprache schafft eine Rückbindung zur kurdischen Gemeinschaft, die allerdings nur temporär möglich scheint, da er und seine Familie hier nicht dauerhaft bleiben können. Er verortet in diesem Dorf dabei eine von Unbeschwertheit, Sicherheit und stabilen ursprünglichen Bindungen geprägte Vergangenheit, wodurch er letztlich vergessen kann, was ihm zuvor passiert ist. Bei dieser Andeutung bezieht er sich vermutlich auf die Begegnung mit einem Soldaten in Damaskus und eine daran anschließende Inhaftierung, die in Kapitel 5.1.3. weiter ausgeführt wird und hier für das Verständnis kurz angeführt werden soll: Nachdem sich Lavin weigert, Brot, für das er sich mehrere Stunden angestellt hatte, einem Soldaten zu übergeben, wird er inhaftiert und macht hier nicht näher bestimmbare traumatische Erfahrungen. Der Besuch des Dorfes in den Ferien, wo er seine Freundinnen von früher trifft, hat für ihn aus der heutigen Perspektive eine aufbauende und heilsame Wirkung. In der folgenden Sequenz aus der Haupterzählung beschreibt er seine Gefühle kurz nach der Entlassung aus der Inhaftierung. Ich ging nach Hause mit sehr schlechtem Gefühl, weil es mir nicht ganz gut ging und ich hatte irgendwie verschiedene Gedanken und die ich nicht so darstellen kann. Am Tag danach hat mich meine Mutter aufgeweckt und mich gefragt, ob ich zur
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Schule will. Da habe ich gesagt »nein, ich will nicht mehr zur Schule« und »ich will die Schule verlassen.« Und mein Papa hat mich trotzdem zur Schule gefahren. Und sagte, dass es nicht geht und dass ich irgendwie das alles übergehen soll und mein Leben weiterleben soll. Aber jedes Mal, wenn ich mal auf der Straße war, wo das alles passierte und gegenüber der Bäckerei gefahren bin, hatte ich so viele Gefühle, die ich nicht verstehe bis jetzt. Und als das erste Halbjahr zu Ende ging hatten wir Ferien für zwei Wochen. In diesen Ferien bin ich nach [x] gefahren, wo ich herkomme und geboren bin. Und dort ging es mir viel besser, weil ich dort meine Freunde von meiner Kindheit getroffen habe und ich mich dort viel sicherer fühlte. (Lavin Z109Z117) Seine Gefühle nach der Entlassung aus dem Gefängnis zerrütten ihn innerlich und bis heute kann er die Gedanken nicht einordnen. Dieser Bezug zur Gegenwart in der chronologischen Erzählung seiner Lebensgeschichte stellt dabei eine Unregelmäßigkeit in seinem Erzählen dar, die deutlich macht, dass er auch heute noch mit den damals erlebten Erfahrungen gedanklich beschäftigt ist, wenn er sie auch damals wie heute weder erklären noch einordnen kann. Die Bedeutung des Gefängnisaufenthalts für die Wendung in seinem Leben deutet sich bereits in den nächsten Zeilen an, da er seiner Mutter sagt, dass er nicht mehr in die Schule gehen will. Für das bisherige, aber auch allgemeine Verständnis seiner Biographie ist dies befremdend, da Bildung für ihn einen hohen Stellenwert einnimmt. Lavin scheint sich in einer emotionalen und existenziellen Sackgasse zu befinden hinsichtlich seines weiteren Lebens dort. Auf Anraten seines Vaters besucht er die Schule aber weiterhin und verbringt dann, wie bereits ausgeführt, die folgenden Ferien in dem Dorf seiner Kindheit. Er idealisiert diesen Aufenthalt als eine Rückkehr zu seinen Ursprüngen und betont in der folgenden Sequenz auch hier wieder die heilsame Wirkung auf ihn, die er auch mit dem Wiedersehen seiner Freundinnen aus der Kindheit in Verbindung bringt. In der folgenden Sequenz spricht Lavin mehrere Aspekte an, die die Bedeutsamkeit des Ortes seiner Kindheit beziehungsweise der dortigen Lebenswirklichkeit für ihn und seine Familie unterstreichen. Mein Opa und meine Oma wohnten ja auch dort, von meiner väterlichen Seite. Und es war auch so schön, bei denen zu sein und wieder mal zusammen zu sein und zusammen zu essen und so. Es war ganz schön, dass wir- dass ich wusste, wenn ich jetzt mal mitten in der Nacht rausgehe, dass ich überhaupt keine Angst haben soll. Auch wenn ich mal auf die Straße gehe und sage, dass ich den Assad hasse, unseren
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Präsident, macht auch nichts. Ich hatte die meiste Zeit damit verbracht, einfach dass ich- weil ich war genug zu Hause in Damaskus. Dort ist es so, dass es viele- Es gibt ja Wald und es gibt Leute, die pflanzen- […] Die sind alle die Freunde meines Papas gewesen. Und ich durfte eigentlich dort mithelfen. Und ich habe dort mitgeholfen und ja, weil diese Stadt sehr klein- Kennt fast jeder meinen Papa und die kennen sich ja alle, weil fast die Hälfte hat mein Papa gebaut, weil er Bauingenieur ist. Und deswegen hatte mein Papa viele Kontakte, ich durfte auch mal- es gab jemanden, der ein Computerladen, der Computerreparatur anbot. Und da durfte ich auch dorthin und ich habe dort auch mitgeholfen. Dann gab es auch mal einen Laden zur Reparatur von Handys und Telefonen. Und dort durfte ich auch mithelfen. Ja, ich hatte das Gefühl, dass es ganz normal ist und ein gutes Leben ist. (Lavin Z365-Z380) Lavin erinnert sich sehr positiv an die gemeinsamen Essen mit seinen Großeltern. Zudem markiert er auch hier den Unterschied zwischen dem Leben in der Stadt Damaskus und dem Leben in dem Ort seiner Kindheit, der eher ländlich geprägt ist. Während er sich in Damaskus meist drinnen aufhält, so geht er in der kleinen Stadt auch nachts draußen umher und kann sich öffentlich gegen den Präsidenten äußern. Er lässt einfließen, dass es Wald gibt und er Bekannte seines Vaters bei der Landwirtschaft unterstützt. Er erwähnt die Bedeutung und die Verbindungen seines Vaters im Dorf, der als Bauingenieur einen großen Teil der Häuser errichtet hat und daher viele Menschen kennt. So erwähnt Lavin auch, dass er eine Zeit in einem Computerladen mitgearbeitet hat, was aus gegenwärtiger Perspektive bereits ein Grundstein für sein späteres Studium in Heidelberg gewesen sein könnte. Lavin empfindet sich als natürlicher Teil des Dorfes. Es kann zusammengeführt werden, dass seine Erlebnisse in der Stadt Damaskus einerseits und andererseits die Identifizierung mit der Gemeinschaft der Kurdinnen im Dorf seiner Kindheit als Gegensätze konstruiert werden. Angelehnt an die Ausführungen zu Heimat als sozialräumliche Einheit (Kapitel 5.2.1.) kann letztere verstanden werden als ein solcher, abgeschlossener Lebenskontext, der Sicherheit, Verlässlichkeit, gestalterische Interaktionen und auch Sinnstiftung bietet. Zugleich markiert Lavin aber auch immer wieder die Endlichkeit dieser Episode. So spricht er in der Vergangenheit und sagt zweimal, dass es schön war. Am Ende seiner Ausführungen fasst er das Gesagte wertend zusammen, indem er konstatiert, dass er das Gefühl hatte, dort ein gutes und normales Leben zu haben. Er führt seine Erzählung fort indem er erklärt, dass er am Ende der Ferien wieder in die Stadt Damaskus zurückkehren musste, um weiter die Schule zu besuchen (Lavin Z382).
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Wie herausgearbeitet werden konnte, besteht der emotionale Wert dieses Ortes für Lavin im dortigen unbeschwerten, stabilen und alltäglichen Lebenszusammenhang. Dieser setzt sich zusammen aus dem Zusammensein in der Familie, dem Bewusstsein einer familiären Verankerung, der empfundenen Sicherheit und Selbstbestimmtheit draußen, tagsüber wie nachts, dem Wahrnehmen der Natur, der Unterstützung in den dörflichen Einrichtungen wie dem Computerladen und der Landwirtschaft, den sozialen Bindungen und dem Gebrauch seiner Muttersprache. All dies ist begründet in der erlebten annähernden Freiheit als Angehöriger der kurdischen Gemeinschaft. Die beschriebenen Lebensverhältnisse erscheinen gleichbleibend und unbeeinflusst vom beginnenden Bürgerkrieg in der Stadt, wobei er in seinen Ausführungen bewusst ein Gegenbild zum städtischen Leben in Damaskus entwirft. Der Aufenthalt im Dorf seiner Kindheit ist jedoch zeitlich begrenzt und die dort empfundene Sicherheit nicht gewährleistet. Die folgende hier zuletzt angeführte Sequenz verdeutlicht in beinahe radikaler Weise die Endlichkeit dieser kindlichen Heimat. Später im Interview, nach der gesprächsimmanenten Nachfragephase, frage ich Lavin, was für ihn »Heimat« bedeutet. Wir sitzen zu diesem Zeitpunkt bereits beim Essen und führen vielmehr ein Gespräch als ein Interview. Während Lavin zunächst Heidelberg als seine »Heimat« bezeichnet, nennt er sich kurz danach »heimatlos« (Lavin Z743f, Z787), was insbesondere nach seinen Ausführungen zur Verbundenheit mit Deutschland und Heidelberg zunächst irritierend wirkt. Lavin vergleicht sich dabei mit seinen befreundeten Kommilitoninnen, die, als sie gemeinsam im Urlaub waren, Heidelberg vermisst hatten. Er hingegen habe fast nichts vermisst (Lavin Z791). Er kommt daraufhin auf seine Kindsheimat das Dorf zu sprechen und bewertet es heute als nahezu bedeutungslos für ihn. Das Haus hat sein Vater an eine andere Person verkauft, seine Großeltern sind bereits gestorben, aber im Dorf nicht begraben und auch seine Freundinnen wohnen heute woanders. Zuvor als bedeutsam beschriebene Aspekte des Ortes haben heute keine faktische Relevanz mehr für ihn. Aber mein Vater hat unser Haus verkauft. Jetzt gehört es jemand anderem. Deswegen wird es für mich nicht so viel bedeuten. Also dieses Haus an sich. Dort wohnten eigentlich mein Opa und meine Oma und mein Onkel. Jetzt sind die alle weg. Mein Opa und Oma sind gestorben. Sie sind auch nicht in der Türkei gestorben. Das heißt, ihr Grab ist auch nicht dort. Das heißt- und ich glaube, ich habe keine Freunde mehr dort. Weil die irgendwie alle weg sind. Das heißt, es gibt nichts, was mich damit
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verbindet. Außer, dass ich die Sprache spreche. Aber- Obwohl eigentlich die Sprache eigentlich auch eine Rolle spielt. (Lavin Z797-Z801) Das Dorf seiner Kindheit spielt aber in seiner Erinnerung weiterhin eine wichtige Rolle, wie auch seine Zugehörigkeit zur Gruppe der Kurdinnen. Zu seinem heutigen Leben allerdings hat dieser Ort keine beziehungsweise nur in Teilen eine Verbindung. Um dies zu verdeutlichen, zählt er einige Elemente auf, die er vorher noch als bedeutsam beschrieben hatte, wie die familiären Beziehungen und die Freundinnen. Was er früher mit dem Dorf verband, existiert heute dort nicht mehr. Eine Ambivalenz und Unentschlossenheit dieses Standpunkts drückt sich aber in Bezug auf die Sprache Kurdisch aus, deren Wichtigkeit er bereits ganz zu Anfang hervorgehoben hatte: Er korrigiert sich und erklärt, dass die Sprache möglicherweise doch eine Rolle spiele, wenn es darum geht, die Verbundenheit zu dem Dorf seiner Kindheit einzustufen. Kurdisch ist für ihn möglicherweise das einzige, wenn auch ein elementares verbindendes Element zu dem Ort seiner Kindheit, wodurch sich seine Identifikation mit und Zugehörigkeit zur Gruppe der Kurdinnen ausdrückt. War das Dorf seiner Kindheit vorher Bestandteil seiner Erzählung des Rückzugs, der Geborgenheit und der Selbstbestimmtheit, so besteht zum Zeitpunkt des Interviews kein emotionaler Wert mehr. Erst in Verbindung mit den einst dort lebenden Menschen sowie als Schutz- und Identifikationsraum für ihn und andere Mitglieder der kurdischen Minderheit erfüllte das Dorf eine wichtige Funktion. Die Bedeutung des Dorfes als Identifikationsraum mit der kurdischen Minderheit besitzt aber immer noch Gültigkeit. Mit der Betrachtung seiner Beheimatungsstrategien (Kapitel 5.2.3.) zeigt sich ein bewusst vollzogener Bedeutungswandel, also die Loslösung von der Rolle des Kindes und den Orten der Kindheit hin zu Eigenständigkeit und Selbstverantwortung und der Verortung in neuen sozialen und räumlichen sinnstiftenden Lebenszusammenhängen, wie in diesem Fall in Heidelberg. Zu bedenken ist aber, dass die im Interview gestellte Frage nach »Heimat« implizieren könnte, es sei allein ein Ort gemeint, da dies nach wie vor eine dominante Bedeutungsfacette von Heimat ist. Für die Interpretation des Aspekts der Kindsheimat wurde Lavins Antwort auf die Frage nach »Heimat« trotzdem hinzugezogen, da hierdurch der bereits zuvor angedeutete Aspekt der zeitlichen Begrenzung seiner Kindsheimat geschärft werden konnte. Das Gespräch mit Mahmoud ist das längste im gesamten Sample, so kann die Beschreibung des Ortes seiner Kindheit sowie die wiederholte Rückkehr
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zu diesem in verschiedenen Etappen seines Lebens als Bemühung gedeutet werden, seine Erzählung so vollständig wie möglich zu gestalten. Mahmoud ist es wichtig, seine Lebensgeschichte detailliert und richtig darzustellen, so nennt er zu den Etappen seines Lebens oftmals auch Daten, kann Entfernungen wiedergeben und weitere konkrete Informationen nennen. Ebenso wie Lavins ist auch Mahmouds Biographie von mehreren Ortswechseln zwischen verschiedenen Städten Syriens sowie zwischen Syrien und dem Libanon geprägt. Die Ortswechsel sind den beginnenden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verschiebungen geschuldet, die bald in den Bürgerkrieg münden. Diese Veränderungen führen zum Zusammenbruch der familiären Landwirtschaft, zur Arbeitslosigkeit des Vaters und der teilweisen Zerstreuung der Familie, zum Beginn und Abbruch seiner Ausbildung und zu weiteren Veränderungen in seinem Leben. Dennoch wird das Dorf seiner Kindheit bei Deir ez-Zor immer wieder zum Gegenstand seiner erinnerten Ausführungen und nimmt in den Etappen seines Lebens eine bestimmte, sich mit den Jahren wandelnde Funktion ein. Mahmoud gestaltet den Einstieg in seine Haupterzählung zunächst mit der Nennung seiner Geschwister und weiterer Angehöriger und kommt danach auf das Dorf zu sprechen, in dem er seine Kindheit und die frühen Jahre seiner Jugend verbrachte. Er beschreibt ein einfaches Leben als Kleinkind, im Einklang mit der Natur und den Tieren. Er hebt auf bewegende Weise hervor, dass das Leben in dieser Zeit wunderbar war und schließt, in ähnlicher Weise wie Lavin, seine Ausführungen mit der Feststellung, dass es ein einfaches und schönes Leben war. Ja, ich bin dort geboren, und dann mit (.) sieben Geschwistern auch gelebt. Aber in dieser Zeit, oder- //I1: in der damaligen Zeit// ja, in der damaligen Zeit war das Leben WUNDERBAR. Es war 1900- 1993, aber mit fünf Jahren, oder vier Jahren, war das in 1998. Da war ich fünf Jahre, sechs Jahre, und das war ein wunderbares Leben. Ich war ein Kind, und da war nur Natur, und ein einfaches Leben. Und ich bin aufgewachsen mit den Tieren. Das war ein schönes Leben. (Mahmoud Z31-Z34) Bereits der erste Satz klingt wie eine Vergegenwärtigung und dabei Bekräftigung seiner Aussage. Mahmoud liefert eine statische und idealisierte Zustandsbeschreibung seines kindlichen Lebenszusammenhangs. Als Kind ist er eingebettet in eine familiäre Einheit und lebt in einer natürlichen Umgebung zwischen Natur und Tieren, wodurch er das Bild seiner natürlichen Verwurzelung mit dem Ort konstruiert. Mahmouds Betonung eines einfachen und schönen Lebens verdeutlicht, dass alle Bedürfnisse befriedigt sind und keine
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Unruhen oder Veränderungen dieses Bild stören. Auch die Feststellung »Ich war ein Kind« unterstreicht diesen Eindruck, wobei hier vermutet werden kann, dass sich die Endlichkeit dieses Zustands hier bereits ankündigt. Da Mahmoud seine Erinnerungen mit einer konkreten Jahreszahl und seinem damaligen Alter belegt – kurz vor seinem Eintritt in die Schule – scheint er sich an bestimmte Situationen in dieser Zeit lebendig zu erinnern. Der Ort der Kindheit besteht in der Erinnerung Mahmouds als sozialräumliche Einheit. Das hier gezeichnete Bild verdeutlicht darüber hinaus eine konservierte Abgeschlossenheit dieser Verhältnisse. Mahmoud und die erwähnten Geschwister sind in dieser Szene nicht selbst aktiv, es gibt keine Beschreibung von besonderen Vorkommnissen oder Aktivitäten, sodass hier schon anklingt, was er im Folgenden ausführt, nämlich die Begrenztheit dieses Abschnitts. Während Mahmoud in den Jahren seiner Kindheit und frühen Jugend aufgrund des Engagements seines Vaters und seines Onkels in dem Dorf seiner Kindheit in die Schule gehen kann, muss er mit dem Eintritt ins Gymnasium die Schule in der nächsten Stadt Deir ez-Zor besuchen. Zur gleichen Zeit vollzieht sich ein politisch initiierter Strukturwandel, der erhebliche Auswirkungen auf die familiäre und dörfliche Landwirtschaft hat. In dieser Zeit war diese Stadt- und Syrien hat- […] Ja, in dieser Stadt wurde das ganze Wirtschaftssystem in Syrien gewechselt. Und das System war in Syrien (.) so für 40 Jahre, und es war gut, und Syrien war sehr stark mit dieser Wirtschaft. Aber in 2008 hat Al-Assad dieses System gewechselt und Syrien geschwächt, mit System und Staat. (Mahmoud Z60-Z63) Mahmoud verknüpft hier zum ersten Mal die Politik Assads mit den Lebensverhältnissen seiner Kindheit, wie im Zitat weiter unten noch deutlicher wird. Die politisch initiierten wirtschaftlichen Veränderungen schwächen die traditionelle Stärke Syriens, wie er sagt. In der Folge beschreibt er, wie diese Veränderungen die Landwirtschaft der eigenen Familie beeinträchtigen. Mahmoud beschreibt dazu in dramatischer Weise eine Aneinanderreihung verschiedener Ereignisse: Eine drastische Anhebung des Ölpreises führte dazu, dass die Tiere und Pflanzen nicht mehr bewässert werden können und schon ein Jahr später verenden. Viele Menschen verlassen daraufhin das Dorf. Auch seine eigene Familie zieht nach Damaskus in eine beengte Wohnung. Weil das ist- wir kaufen Öl, weil wir pflanzen Weizen und betreiben auch Mais und Pflanzenbau. (.) Und diese Pflanzen brauchen Wasser. Und ich habe dir schon erzählt, wir müssen dieses Wasser von der Erde holen und diese Sache braucht immer
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große Maschinen und diese Maschinen brauchen Öl. […] Und dann hat dieses Wirtschaftssystem gewechselt, dass das Öl von 7 Lira hochgeht auf 30. Das war unmöglich. Weil alle Pflanzen, alle Bäume in unserem Dorf hatten kein Wasser mehr, wir konnten nicht weiter bepflanzen. Tiere brauchen immer Wasser, brauchen Essen. Und nur ein Jahr danach war alles kaputt. Das ganze Dorf war kaputt. Keine Bepflanzung, die Menschen hatten kein Essen, keine Tiere, Tiere alle tot, die Pflanzen auch. Und viele Leute hatten ihre Häuser geschlossen und fuhren in andere Städte in Syrien. Und meine Mutter sagte, wir müssen in eine andere Stadt fahren und eine Arbeit suchen. Weil mein Vater hatte auch keinen Beruf, nur Pflanzen und Anbau. Und es gab kein Wasser, es war unmöglich ohne Wasser zu bepflanzen oder Tiere zu halten. Das war sehr schwierig und wir mussten nach Damaskus, die Hauptstadt, fahren. Das war 2009. Und ich habe die Schule in Damaskus gewechselt. Und wir haben auch in Damaskus gewohnt, in einem kleinen Haus. Das waren drei Zimmer und eine Küche. Und wir haben dort gewohnt. Mein Bruder hat einen Beruf gesucht. Einer meiner Brüder ist in den Libanon gefahren, nochmal, um da zu arbeiten. (Mahmoud Z65-Z80) Im Vergleich zu der zuvor statisch beschriebenen Lebenswelt als Kind, ist diese Erzählung von Dynamik geprägt. Mit den Worten »tot« und »kaputt« beschreibt Mahmoud den Zusammenbruch der Lebensgrundlage der Bewohnerinnen des Dorfes. Der Abschnitt endet und die Lebensverhältnisse sind nicht mehr wie zuvor. Seine vorherige Perspektive eines Kindes auf das Dorf, in dem er aufwuchs, hat keinen Bestand mehr. Vielmehr beschreibt und beurteilt Mahmoud die Situation nun aus der Sicht eines erwachsenen Ichs. So erhalten Natur und Tiere, die zuvor Kulisse einer verklärten Kindsheimat waren, hier eine existenzsichernde Funktion: Die Familie und die anderen Bewohnerinnen des Dorfes sind auf die Erträge der Land- und Viehwirtschaft angewiesen. Die vorher herausgearbeitete natürliche Verwurzelung und Zugehörigkeit Mahmouds wird aufgrund der wirtschaftlichen Problemlagen, die er auf die Politik des Diktators Al-Assad zurückführt, zerrüttet oder sogar ganz zerstört. Die Familie zieht nach Damaskus und sucht neue Wege der Existenzsicherung. In der folgenden Sequenz beschreibt er den Neuanfang der Familie in der Stadt Damaskus, die einerseits alles hinter sich gelassen hat und nun auf engem Raum zusammenlebt, andererseits aber trotzdem wieder ein schönes Leben beginnt. Dies begründet er mit der Stärke und dem Zusammenhalt seiner gesamten Familie, auch wenn zu diesem Zeitpunkt mindestens zwei seiner Brüder nicht mehr in Syrien leben, sondern, um ihren Lebens-
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unterhalt zu sichern, unter anderem im Libanon und in der Türkei leben. Mahmoud verkauft nach der Schule Zuckerwatte in den Straßen Damaskus‘ und kann dadurch, wie er in einer langen Sequenz schildert, zum Unterhalt der Familie beitragen. Wir haben unser Haus verlassen in unserer Stadt, unsere Tiere, unsere Pflanzen verlassen. Das war SEHR schwierig. Aber wir haben direkt in Damaskus wieder ein schönes Leben angefangen. […] Weil wir waren wirklich eine starke Familie. Weil das ist wirklich- wir waren eine starke Familie. Weil zusammen, das sind 12 Geschwister und mein Vater und meine Mutter zusammen, immer arbeiten, alle zusammen in einem Haus gewohnt, das ist- wir sind EINhundert Prozent- wir sind immer stark. Das sind 14 Personen zusammen, die leben, das ist immer stark. (Mahmoud Z116Z121) In dieser Schilderung bekräftigt Mahmoud den Zusammenhalt seiner Familie trotz der erlittenen Verluste. Der Neuanfang in Damaskus macht ebenso klar, dass es kein Zurück zu den alten Verhältnissen gibt, auch wenn ein Teil der Familie die Landwirtschaft in dem Dorf bei Deir ez-Zor im Kleinen weiter betreibt. Während die Bedeutung des Dorfes als Kindsheimat im weiteren Verlauf seiner Erzählung keine Relevanz mehr haben wird, hält sich Mahmoud später noch zweimal dort auf. So zieht Mahmoud zurück in das Dorf bei Deir ez-Zor, als der Krieg in den Städten Syriens beginnt. Er unterstützt seinen Bruder bei der Landwirtschaft und bereitet sich auf das Abitur vor. Ja, dieser Krieg war erst einmal- hat angefangen in Darʿā, das ist in Nordsyrien, die zweite Stadt ist Homs, und die dritte Stadt war Deir ez-Zor. Und das war in der Mitte meines Abiturs. Das war schlecht. Und ich habe mein Abitur angefangen, ich musste jeden Tag drei Stunden fahren, 50 km. Und ich habe meinem Bruder geholfen- er hat eine neue Maschine für Wasser, aber klein, mit Strom, nicht mit Öl. Aber diese Maschine gibt wenig Wasser. Und er kann nicht viel bepflanzen. […] Und mein Bruder hat diesen Boden mit Weizen- wir essen Weizen, wir nehmen ihn für Tiere, für uns, für Brot, das alles. Und ich helfe meinem Bruder auf dem Feld und ich lerne bis zu meinem Abitur. (Mahmoud Z234-Z242) Um den Auswirkungen des Krieges in der Stadt während seines Abiturs zu entgehen, hält sich Mahmoud in dem Dorf bei Deir ez-Zor auf. Einer seiner Brüder bewirtschaftet dort einen kleinen Teil der familiären Flächen und baut Weizen an. Mahmoud hilft ihm dabei, bis die Prüfungen anfangen. Anknüpfend an die vorherigen Ausführungen beschreibt er die Einbußen, da die
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Wasserförderung nun mit Strom betrieben werden muss. Zugleich betont er die Bedeutung des Weizens nicht allein als Nahrungsmittel für Menschen, sondern außerdem für die Tiere, wodurch, er wieder eine Verknüpfung herstellt zu der Einheit von Mensch und Natur. Der Ort seiner Kindheit hat hier allerdings ausschließlich eine existenzielle Bedeutung. Zudem betont er, dass sein Aufenthalt der Vorbereitung auf das Abitur dient. Sein Aufenthalt ist also begrenzt und so strebt Mahmoud vermutlich keine berufliche Zukunft in der Landwirtschaft an, wodurch er sich auch von den familiären Projekten distanziert. Der nächste und letzte erwähnte Aufenthalt Mahmouds in dem Dorf bei Deir ez-Zor ist nach seiner Entführung. Er war bei einer Kontrolle von Soldaten festgenommen und eingesperrt worden, da man ihn verdächtigte, ein Mitglied der Opposition zu sein. Mahmoud wird einige Zeit später von Unbekannten befreit und in einer ihm unbekannten Gegend ausgesetzt. Da Mahmoud bis zum Schluss seine Ermordung befürchtet, markiert das Erzählen seiner plötzlichen Freilassung im Interview einen emotionalen Tiefpunkt. Er kehrt danach zum Dorf bei Deir ez-Zor zurück, wo sich auch seine Familie aufhält. Seine Mutter rät ihm, die Ausbildung abzubrechen, im Dorf zu bleiben und zu heiraten. Mahmoud aber sagt seiner Mutter, dass er weiterlernen möchte, woraufhin diese ihn bittet, eine Woche lang darüber nachzudenken (Mahmoud Z404f). Und ich bin drei Monate bei meiner Familie geblieben und ich bin jeden Tag von sechs Uhr bis 20 Uhr inmitten dieser Pflanzen und goss diese Pflanzen. Ich bin drei Monate geblieben, und dann brauchten die Pflanzen kein Wasser mehr. Danach habe ich zu meiner Mutter gesagt »Ich muss in den Libanon.« (Mahmoud Z408-Z410) Mahmoud setzt seine Ausbildung in al-Hassaka nicht fort. Er bleibt drei Monate bei seiner Familie und kümmert sich um die Bewässerung des Getreides. Nach drei Monaten ist diese Arbeit nicht mehr notwendig, möglicherweise weil sich die jahreszeitlichen Wetterverhältnisse verändert haben, dies bleibt offen. Er erklärt seiner Mutter, dass er in den Libanon gehen wird. In dieser Erzählung wirkt sein Aufenthalt im Dorf wie eine Bedenkzeit, welchen Lebensweg er einschlagen will. Die Pflanzen stehen dabei symbolisch für die Wurzeln und den Besitz seiner Familie, während die gemeinsame landwirtschaftliche Arbeit eine Bestätigung und Reproduktion dessen darstellt. Es ist ihm wichtig, darzustellen, dass er bleibt, bis seine Arbeit nicht mehr benötigt wird, erst dann verlässt er das Dorf. Möglicherweise wartet er auch darauf, dass seine Mutter schließlich ihr Einverständnis gibt, damit er gehen kann.
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Bemerkenswert ist hier wieder die Verbundenheit zwischen dem Dorf seiner Kindheit, der Natur und ihrer Bewirtschaftung und der Familie. Wie bereits in den vorherigen Sequenzen deutlich wurde, hat der dortige Lebenszusammenhang für sein heutiges Ich keine emotionale Relevanz mehr, er sieht dort keinen Weg für sich und wird nach dieser Entscheidung auch nicht mehr dahin zurückkehren. Im dritten und letzten Teil des Interviews mit Mahmoud ist eine semantische Verbindung erkennbar zwischen den vorherigen Beschreibungen seiner Kindheit und seiner heutigen Positionierung zu Heidelberg als »Heimat«. Die zuvor herausgearbeiteten Analyseergebnisse zur Bedeutung seiner Kindsheimat werden dabei bestätigt, darüber hinaus beschreibt er seine heutige Verbindung zu Heidelberg mit den semantischen Facetten und Worten der damaligen Kindsheimat. Während die Interviewsequenz hier lediglich paraphrasiert wird, befindet sich das direkte Zitat in Kapitel 5.2.1., das sich mit Heimat als sozialräumlicher Einheit im direkten Lebenszusammenhang befasst (Mahmoud Z1153-Z1166). Mahmoud, Kavith und ich befinden uns nach etwa fünf Stunden Interviewzeit in einem Imbiss nahe seiner Wohnung. Das Interview gleicht nun einem Gespräch. Kavith fragt auf Englisch, ob Mahmoud Heidelberg als sein neues Zuhause, »as your new home«, betrachtet. Eine Frage, die die Antwort der interviewten Person beeinflussen könnte und im qualitativen Interview daher üblicherweise nicht gestellt werden sollte. Mahmoud antwortet, dies sei zu 70 % der Fall. Kavith fragt daraufhin auf Englisch, was »Heimat« für ihn ausmache »what kind of things make Heimat?« und ich übersetze diese Frage ins Deutsche. Mahmoud beantwortet die Frage mit einem Vergleich zwischen Deir ez-Zor, der Stadt in der Nähe des Dorfes seiner Kindheit, und Heidelberg, ebenfalls die nächstgelegene größere Stadt zu seinem Wohnort zum Zeitpunkt des Interviews. Systematisch zählt er drei Gründe auf, weshalb Heidelberg zu 70 % seine Heimat ist. Ohne dies näher zu erläutern sagt er erstens, Heidelberg sei wie Deir ez-Zor. Möglicherweise bezieht er sich hier wie in früheren Gesprächen unter anderem auf eine bedeutende Fußgängerbrücke in Deir ez-Zor, die aber im Zuge des Bürgerkrieges zerstört wurde. Auch im typischen Stadtbild Heidelbergs ist die »Alte Brücke« ein markantes Symbol. Zweitens hebt er ab auf Ähnlichkeiten zwischen beiden Städten in Hinsicht auf das Landschaftsbild, womit er die Natur und die Berge meint. Zuletzt nennt er als Grund, dass die Menschen nett seien und es viele Ausländerinnen gebe. Er bemüht eine Naturmetapher und vergleicht Menschen unterschiedlicher Nationalitäten in einer Stadt mit einem Garten vieler ver-
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schiedenfarbig blühender Blumen. Die bildhafte Darstellung beschreibt zum einen die ideale Stadt als lebendigen, natürlich gewachsenen und abgeschlossenen, geschützten Bereich. Zum anderen erscheinen mit dem Vergleich der Blumen die darin lebenden Menschen als verwurzelt und miteinander im Einklang lebend. Wie in der Beschreibung seines kindlichen Lebenszusammenhanges in dem Dorf bei Deir ez-Zor benennt er diesen Zustand als wunderbar. Die Naturmetapher in Bezug auf die Stadt Heidelberg kann dabei interpretiert werden als direkte Anlehnung an das zu Beginn beschriebene Leben als Kleinkind im Dorf, auch hier nehmen die Natur und die Menschen und seine Familie, einen zentralen Stellenwert ein. Im Gegensatz zur Kindsheimat aber, die gekennzeichnet ist von Stillstand, Geborgenheit zwischen Mensch, Tier und Natur, Sorglosigkeit und Passivität, findet er nun »Heimat« beziehungsweise »home« in seiner neuen Umgebung. Diese Projektion der Kindsheimat auf den jetzigen Lebenszusammenhang erlaubt ihm eine erneute »natürliche Verwurzelung« in der Stadt Heidelberg. Trotz der schrittweisen Ablösung von seiner Kindsheimat hat Mahmoud sich damit selbst mit Hilfe seiner kindlichen Erinnerungen die Möglichkeit der Beheimatung geschaffen. Besteht für Mahmoud einerseits durchaus noch die unveränderte und verklärte Erinnerung an das Dorf seiner Kindheit, so nimmt er im Laufe der Erzählung die Perspektive seines heutigen erwachsenen Ichs ein. Die Tiere und Pflanzen erhalten eine Funktion und werden zur Existenzgrundlage der Familie. Später kehrt Mahmoud zweimal ins Dorf zurück. Das Dorf erhält einen funktionalen Wert, es wird zu einem Ort des Übergangs während den politischen Unruhen und zum Ort der Reflexion über die nächsten Schritte. Während Mahmoud in dem Dorf bei Deir ez-Zor keine Zukunft sieht, so weist er aber der Stadt Heidelberg Attribute zu, die er an der Stadt Deir-ez-Zor nahe seinem Kindheitsdorf schätzte. Die Idee einer Kindsheimat konnte zwei Mal in den biographischen Narrationen der hier analysierten Interviews herausgearbeitet werden. Die Kindsheimat wird idealisiert und ist verknüpft mit der Idee natürlicher Verwurzelung. Sie bezieht sich auf die Anfänge des eigenen Lebens mit der Familie, vermittelt Zugehörigkeit, Geborgenheit, Sicherheit und Stabilität. Jedoch waren die Narrationen zur Kindsheimat von Mahmoud und Lavin immer auch eingebunden in die Erzählung der stückweisen Veränderung und Endlichkeit dieser Kindsheimat, wodurch der Ort und die dortigen Gegebenheiten in den Erzählungen zwar statisch erscheinen, jedoch gleichzeitig eine Endlichkeit aufweisen. Die Erinnerungen an die Kindheit und damit in Verbindung stehende Orte, Personen, Gefühle und Ereignisse sind von
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der Gegenwart der Interviewten bestimmt. Sowohl Lavin als auch Mahmoud beschreiben eine positiv erinnerte, emotionale Verbundenheit zum Ort ihrer Kindheit, wobei beide im Laufe ihrer biographischen Schilderungen die Perspektive ihres gegenwärtigen erwachsenen Ichs auf den Ort der Kindheit einnehmen. Aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Situation im Land sowie eigener Bildungsaspirationen bietet der Ort der Kindheit keine Lösung oder Zukunftsperspektive für beide. Der Bedeutungswandel ist Teil ihrer biographischen Erzählungen und gestaltet sich als ein stückweiser Prozess der Entfernung und Entfremdung. Mahmoud überträgt wesentliche Bedeutungszuweisungen der Stadt Deir ez-Zor sowie der umgebenden Landschaft auf die Stadt Heidelberg, wodurch er die Erinnerung umdeutet und damit lebendig und fruchtbar macht für seinen aktuellen Lebenszusammenhang. Darüber hinaus begründet er sein Wohlbefinden mit dem Gefühl, als Ausländer akzeptiert zu sein, eine Erfahrung, die er beispielsweise im Libanon nicht macht. Mahmoud findet dadurch einen Weg, sich diesen neuen »Heimatraum« anzueignen. Während dieser seine erinnerte Kindsheimat kurz vor seiner Einschulung beschreibt, ist Lavin in der Schilderung seiner Kindsheimat bereits ein Jugendlicher, der aufgrund zunehmender Unsicherheiten in Damaskus nicht mehr dauerhaft leben konnten. In dem Ort seiner Kindheit erlebt Lavin individuelle und kollektive Selbstbestimmung als Kurde und kann ein normales Leben führen. Von Beginn an aber begründet er seinen dortigen Aufenthalt mit den herrschenden politischen Verhältnissen. Auch Lavin misst dem Ort zum Zeitpunkt des Interviews keine Bedeutung mehr bei. Zum einen, weil dort die ihm vertrauten Menschen und familiären Verbindungen nicht mehr existieren, zum anderen erfährt er die in dem Ort erlebten Freiheiten sowie weitere Möglichkeiten der Identifikation in seiner gegenwärtigen Lebenswirklichkeit. Lavin sieht sich als Student und lehnt die Bezeichnung als Flüchtling eigentlich ab (wie in Kapitel 5.2.1. dargestellt wird), so bekräftigt er immer wieder die Bedeutung von Bildungsabschlüssen. Einzig die Sprache Kurdisch erklärt er als verbindendes Element zu dem Ort in der Kindheit, womit er sich auf die kurdische Gemeinschaft bezieht und der Ort als solcher auch an Bedeutung verliert. In den hier ausgewerteten Interviews wird der erinnerten Kindsheimat beziehungsweise der frühen Jugend eine große Bedeutung beigemessen. In den Schilderungen ist diese ein konservierter, heiler sowie Geborgenheit und Sicherheit vermittelnder Ort. Zugleich verdeutlichen die Interviewten die Endlichkeit ihrer Lebensphasen in dem kindlichen oder jugendlichen Heimatdorf beziehungsweise der Stadt. Jedoch werden die Narration der
5 Heimat im Kontext von Migration und Flucht – Analyseergebnisse und Typenbildung
Kindsheimat sowie damit in Verbindung stehende Erinnerungen zum Ausgangspunkt für das Verständnis gegenwärtiger Heimatbedeutungen, die als sozialräumliche Einheit in Kapitel 5.2.1. ausgeführt wurden. Es wird also zusammengeführt, dass die Konstitution einer Kindsheimat keinesfalls im luftleeren Raum geschieht, sondern sowohl eng verknüpft ist mit konkreten politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen der früheren Zeit als auch mit Empfindungen der Gegenwart und Zukunftsvisionen. In beiden ausgewerteten Interviews diente die Erzählung einer intakten und idealisierten Kindheit nämlich auch der Kontrastierung mit daran anschließenden lebensverändernden Ereignissen. Dies wiederum wird zum Argument für das Verständnis von Heimat als sozialräumliche Einheit. Heimat, so konnte herausgearbeitet werden, ist nicht verloren oder zerstört, sondern vermag sich auf Grundlage individueller, subjektiv empfundener und gegenwärtiger Positionierungen in neuen Kollagen zusammenzusetzen, wodurch, wie in den empirischen Beispielen deutlich wurde, geflüchtete Personen als aktive Gestalterinnen ihrer Lebenswirklichkeiten gelten.
5.3
Zentrale Ergebnisse und Typenbildung
Nach der Fallrekonstruktion der acht biographisch-narrativen Interviews und der ausführlichen Analyse der darin enthaltenen Heimatsemantiken wurde nun auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse eine Typenbildung vorgenommen. Die Analyse zeigte, dass zumeist mehrere Heimatsemantiken in den biographischen Selbstrepräsentationen ausgemacht werden konnten. In der Betrachtung dieser individuellen Gruppierungen ergaben sich Muster, die zu drei zentralen Typen zusammengefasst wurden. Hierdurch gelang es schließlich auch, sich von einer personenbezogenen Ebene sowie der Betrachtung einzelner semantischer Heimatfacetten zu lösen und allgemeingültige Schlüsse zu ziehen, auch wenn die Datengrundlage keine prinzipiellen Aussagen zulässt. Vielmehr erlaubt die Typenbildung eine Verdichtung und Schärfung der gewonnenen Erkenntnisse. Die folgenden Ausführungen präzisieren also, wie sich Heimat für geflüchtete Menschen nach der Migration gestaltet.
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Heimat und Migration
5.3.1
Typ 1: Heimat ist transportabel
Der erste Typus beschreibt Heimat als transportables Phänomen. Heimat ist verankert in konkreten Handlungen und Visionen in der Gegenwart und Zukunft. Die Individuen greifen hierbei auf Ressourcen in Form von angeeigneten Fähigkeiten und Überzeugungen zurück, die zum Teil an transnationale und globale Strukturen anknüpfen. In der Lebensgestaltung sind dies Kontinuitäten, die in der Vergangenheit und Gegenwart verortet sind und in die Zukunft weisen, großenteils unabhängig von lokalen Gegebenheiten. Die Gruppierung ähnlicher Heimatsemantiken konnte in den biographischen Erzählungen von Kavith und Yochanan bestimmt werden: Beide formulieren Strategien der Beheimatung, während sich in Kaviths biographischer Erzählung zudem die Vorstellung von Heimat als sozialräumlicher Einheit findet und Yochanan eine gesellschaftliche Utopie skizziert, die seinem Handeln Orientierung und Sinn verleiht. Heimat verwirklicht sich für beide weitestgehend unabhängig von Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen, der Nationalität, einer vermeintlichen »kulturellen Prägung« oder dem Asylstatus. Bestehende Ressourcen werden mobilisiert und entwickeln eine Sinnhaftigkeit im gegenwärtigen Lebenszusammenhang: Yochanan verortet die Entstehung des Handlungsmodus »me being me«, der die in dieser Analyse als Strategie der Beheimatung interpretiert wird, in seiner Kindheit. Verschiedene Herausforderungen aufgrund seines Flüchtlingsstatus und erlebter Diskriminierungserfahrungen bewältigt er anscheinend auf diese Weise; auch die Entwicklung seiner gesellschaftlichen Utopie geschieht lange vor seiner Flucht aus Gambia. Kavith bewegt sich vor seiner Flucht und bald nach seiner Ankunft in Deutschland im linkspolitischen und kreativen Milieu, wodurch ihm auch die Fortführung seines politischen Journalismus und Aktivismus gelingt. Er knüpft vertrauensvolle und verlässliche Beziehungen, die er auch als Schutzraum gegen Diskriminierung und Rassismus beschreibt. Heimat äußert sich hier in empfundener Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und Zukunftsorientierung. Die Individuen erleben dies in konkreten, zukunftsorientierten und auch politisch motivierten Handlungen. Sie überwinden dabei teilweise negative Erfahrungen von erlebter Fremdbestimmung im Prozess des Asylverfahrens. Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen verbinden sie mit dem Selbstverständnis, Betroffene eines global wirkenden postkolonialen Unrechtssystems zu sein.
5 Heimat im Kontext von Migration und Flucht – Analyseergebnisse und Typenbildung
5.3.2
Typ 2: Heimat als Nische
Typ 2 bezeichnet Heimat als Nische. Die Individuen empfinden keine oder kaum Handlungsoptionen in Bezug auf die (zukünftige) Lebensgestaltung. Die eigene Situation wird überwiegend als fremdbestimmt wahrgenommen und von einem Gefühl der Ohnmacht begleitet. Trotzdem ist die Formulierung von und Orientierung an Utopien und kleinteiligen sinnstiftenden Handlungen im Alltag für Individuen, die diesem Typus entsprechen, anscheinend von besonderer Bedeutung. Heimat wird zur Nische und Keim einer neuen Hoffnung. Bah ist sich eines gesellschaftlich und politisch wirkenden Rassismus in Deutschland und Europa bewusst, der eine Unterscheidung von Zuwanderinnen nach der Herkunft und Hautfarbe vornimmt. Obwohl sich Bah aufgrund seines Ausbildungsvertrags mehrere Jahre in Deutschland aufhalten kann, fühlt er sich unsicher bezüglich seiner realistischen Zukunftschancen und drückt sein Misstrauen gegenüber der Asylpolitik in Deutschland aus. Im Rückgriff auf erlernte Fähigkeiten sowie vertraute Ordnungen und Routinen schafft sich Bah allerdings eine Nische, die konkreten Gestaltungsspielraum und die Formulierung einer Utopie ermöglicht. Kama sieht seine Situation als Ergebnis globaler, bis in die Gegenwart reichender postkolonialer Verhältnisse. Er schildert die Auswirkungen von Ausbeutung und Ungleichbehandlung in seinem eigenen Leben, im Leben seiner Westafrikanischen Bekannten und seiner Familie. Aufgrund eines Verwaltungsfehlers lebt er zudem seit mehreren Jahren mit einem unklaren Aufenthaltsstatus in Deutschland. Eine konkrete eigenmächtige Veränderung der Verhältnisse betrachtet er als aussichtslos. Jedoch beschreibt er eindrücklich Möglichkeiten und Wege, bestehende Verhältnisse zumindest in Teilen aufzubrechen. Sie sind die ersten Schritte zu der Realisierung einer globalen Utopie, in der Afrikanerinnen in Unabhängigkeit leben können. Yasmina formuliert eine große Sehnsucht nach dem Leben im Iran, die sie auch mit ihrer Tochter teilt. Dieser Rückbezug entlastet sie einerseits von alltäglichen Schwierigkeiten, jedoch äußert sich darin auch ihre Aussichtslosigkeit und Ohnmacht. Sie liegt begründet in anhaltender Arbeitslosigkeit und der Abwesenheit ihres Mannes. In dem regelmäßigen Besuch einer Kirchengemeinde findet Yasmina sozialen Rückhalt und Selbstvergewisserung im religiösen Gespräch. Durch ihr Vorhaben ein Buch zu schreiben, erlangt sie perspektivisch Kontrolle über ihr Selbstbild zurück. Die Wiedervereinigung der Kernfamilie ist für Yasmina im Laufe der
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Heimat und Migration
Jahre zu einer Utopie geworden, die, trotz Resignation, Orientierung bietet und einen Sinn in die Zukunft entwirft. Utopien vermögen empfundene Fremdbestimmung und Ohnmacht mit dem Heranziehen von positiven und in die Zukunft weisenden Gegenbildern zu brechen, auch wenn ihre Verwirklichung nicht absehbar ist. Praktiken der Beheimatung in einer unmittelbaren Lebenswelt sind zudem als Versuche und Wege zu betrachten, Sinnhaftigkeit und Kontinuität im Alltag zu etablieren, auch da es sich auch um die Fortführung oder Wiederaufnahme vertrauter Tätigkeiten handelt (Bah, Yasmina). Heimat wird als Nische bezeichnet, die Ressourcen im Umgang mit übermächtigen Problemlagen und Verzweiflung bereitstellt. Die Hinwendung zu vertrauten Tätigkeiten und Ordnungen ist nicht allein als Rekapitulation zu verstehen. Aufgrund ihrer sinnstiftenden und transformierenden Funktion stiften sie Heimat ebenso wie die Formulierung von Utopien.
5.3.3
Typ 3: Heimat als Mosaik
Drittens wird Heimat als Mosaik bezeichnet. Die Individuen dieses Typs wählen Erinnerungsfragmente selektiv aus, wie Aspekte aus der Kindheit und Jugend, und verwenden sie produktiv für die Gestaltung von Heimat. Heimat formiert sich dabei im Zusammen- aber auch Gegenspiel früherer und gegenwärtiger Lebenszusammenhänge. Mahmoud und Lavin nutzen zum Teil verklärte Erinnerungen an die Orte ihrer Kindheit und Jugend für die emotionale Einordnung ihres jetzigen Lebens. Beide reflektieren die Endlichkeit der kindlichen und jugendlichen Lebensbedingungen und übertragen wesentliche Qualitäten und erinnerte Bilder auf ihre Situationen in der Gegenwart. Attilas Erinnerungen an die Familie sind von Verklärung und Schmerz geprägt und er ist bemüht, sich mithilfe von Strategien mit dem Ziel der Beheimatung von diesen zu lösen. Alle Biographien beschreiben konkrete Ablösungsprozesse von diesen, in der Kindheit und Jugend verorteten, Erinnerungsfragmenten. Grundlage von Mahmouds gegenwärtigen Heimatkonstruktionen ist die Beschreibung vieler eigener und nicht immer von seinem (familiären) Umfeld akzeptierten Entscheidungen, die letztlich auch seine Flucht nach Deutschland begründen. In seinem jetzigen Lebenszusammenhang sieht er vorherige Ungerechtigkeiten und Mängel weitestgehend überwunden. Lavin schildert die eigene und bewusst angestoßene Komplettumwälzung seines Selbstverständnisses vom Kind zum Erwachsenen und damit die Loslösung von kindlichen Privilegien, wie Gefühlen der Geborgenheit
5 Heimat im Kontext von Migration und Flucht – Analyseergebnisse und Typenbildung
und Unbeschwertheit. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Heimat für ihn in Heidelberg verortet, da er hier zentrale Freiheiten aus vorherigen Lebensphasen ermöglicht sieht. Attila ist bemüht, schmerzhafte Erinnerungen an seine Familie zu vergessen, aber an ausgewählten Erinnerungen festzuhalten mit dem Ziel, in Deutschland ein neues Leben im Sinne einer »Wiedergeburt« zu beginnen. Von allen drei Biographien befindet sich Attila am intensivsten inmitten einer schmerzhaften und ambivalenten Loslösung. Das Mosaik Heimat besteht für ihn in Erinnerungsfragmenten, gegenwärtig erlebten Freiheiten sowie ersten vertrauensvollen freundschaftlichen Bindungen. Die drei geschilderten Abkopplungsprozesse verlaufen nur zum Teil parallel zur eigenen Flucht und Migration, sie beginnen bereits zuvor oder aber sind zum Teil in der Gegenwart nicht abgeschlossen. Heimat wird als Mosaik bezeichnet, da sich ein Gesamtbild ergibt aus bruchstückhaften, selektierten Erinnerungen der Kindheit, Erfahrungen während der Flucht und im Ankunftskontext in Deutschland. Heimat ist dabei Ergebnis von Reflexionsprozessen, persönlichen Entscheidungen und damit einhergehenden rational initiierten Ablösungsprozessen von einem vormaligen vertrauten und positiv erinnerten, aber zugleich zeitlich begrenzten Lebenszusammenhang. Aufgrund der räumlichen Bezüge in allen drei Interviews kann dabei auch von einer rational, mitunter strategisch initiierten Reterritorialisierung gesprochen werden.
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6. Heimat im Spannungsfeld von Einflussnahme und Autonomie – Fallübergreifende Erkenntnisse
Die Arbeit verfolgte das Ziel, Heimat als vielschichtiges Phänomen emotionaler Verortung zu denken, das sich für Menschen individuell, subjektiv und in stetiger Aushandlung gestaltet. Insbesondere vom und im Diskurs über Heimat ausgeschlossene Personen beziehungsweise als nicht zugehörig und fremd positionierte Menschen, nämlich geflüchtete Personen, standen dabei im Zentrum. Nicht was Heimat ist, schien hier die zentrale Fragestellung zu sein, sondern vielmehr, wie und in welchem Spannungsfeld Heimat fortwährend ausgehandelt wird. Die Auslotung der individuell beteiligten und subjektiv wahrgenommenen Dynamiken verdeutlicht die Veränderlichkeit dieses Phänomens. Erst die Betrachtung des Zusammenspiels dieser verschiedenen Dynamiken sowie der Mechanismen des Umgangs macht die Hintergründe und Bezüge eines subjektiven Heimatbegriffs greifbar. Ausgehend von den theoretischen, methodologischen und empirischen Rahmensetzungen und Erkenntnissen wird sich dieses Kapitel der Beantwortung der zentralen Forschungsfragen widmen. Mit der ausführlichen Analyse in Kapitel 5. gelang es, aus der Gruppierung ähnlicher Heimatsemantiken in den erzählten Biographien drei Typen zu definieren. Dadurch wurde es zum einen möglich, die Ergebnisse zu verdichten und zum anderen generelle Muster von Prozessen und Konstruktionen von Heimat angesichts migrations- und fluchtspezifischer Realitäten abzubilden. Dabei kombinieren die interviewten Personen die sechs Heimatsemantiken in ihren biographischen Selbstpräsentationen unterschiedlich und gewichten und reflektieren ihre Bedeutungen verschieden stark. Heimat, so wird konstatiert, besteht in Assemblagen unterschiedlicher, changierender Bedeutungen. Die Ausbildung von Typen ist durch mehrere Faktoren zu be-
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Heimat und Migration
gründen: Sie kann zurückgeführt werden auf ähnliche Lebenssituationen, auf den Status im Asylprozess oder auf spezifische Dynamiken, wie Rassismuserfahrungen. Dabei schälte die Analyse heraus, dass die jeweilige Anordnung von Heimatsemantiken sich nie allein auf starre, schmerzhafte und rückwärts gewandte Erinnerungsfragmente beschränkt, wie im Ausdruck von Sehnsucht oder in der Überhöhung der Kindsheimat. Beide genannten Semantiken werden stattdessen kombiniert mit Facetten, die Heimat in der gegenwärtigen Lebenswelt verorten. Die Biographien, die in Kapitel 5.3. dem Typ 2 und Typ 3 zugeordnet wurden1 , kombinierten Facetten von Heimat beispielsweise dergestalt, dass Erinnerungsfragmente im gegenwärtigen Lebenszusammenhang mit neuem Sinn ausgestattet wurden oder schmerzhaften Erinnerungen positive Lebensentwürfe entgegenstellt wurden. Auf Basis der empirischen Überlegungen kann also konstatiert werden, dass Heimat nicht auf Bilder einer vergangenen, unwiderruflichen, oftmals auch imaginierten Lebenswelt beschränkt bleibt, sondern seine Bedeutung darin entfaltet, Handlungsspielräume aufzuzeigen und Lösungen zu formulieren. Die Identifizierung von sogenannten Assemblagen belegt dabei die Anpassungsfähigkeit von Heimat an individuelle Lebensrealitäten und verdeutlicht zudem, dass Heimatkonstruktionen keine Frage der »kulturellen« Prägung oder Nationalität sind. Die nachstehenden Ausführungen widmen sich der Darstellung der fallübergreifenden Erkenntnisse. In Kapitel 6.1. führt eine tabellarische Übersicht verkürzt und schematisch die Ergebnisse aus der empirischen Analyse auf. Es werden die zentralen migrations- und fluchtspezifischen Dynamiken erläutert sowie die Mechanismen der Aushandlung in den beobachteten Spannungsfeldern. Kapitel 6.2. löst sich weitestgehend von konkreten empirischen Fallbeispielen und formuliert vier zentrale Aussagen zur Beschaffenheit akteurszentrierter Konzeptionalisierungen von Heimat. Dabei wird beabsichtigt, Ansatzpunkte zu formulieren, die über den Forschungskontext von Migration und Flucht hinaus Anwendung finden können.
1
In Typ 1 wurden rückwärtsgewandte Heimatsemantiken (siehe »Sehnsucht« Kapitel 5.2.4. und »Kindsheimat« Kapitel 5.2.6.) nicht relevant.
6 Heimat im Spannungsfeld von Einflussnahme und Autonomie
6.1
Zentrale Dynamiken und Mechanismen in der Aushandlung von Heimat in tabellarischer Darstellung
Die nachstehende Tabelle systematisiert und verdichtet die zentralen Ergebnisse der ausführlichen empirischen Analyse entlang der zentralen Fragestellungen. Neben der schematischen Zusammenführung wird das Ziel verfolgt, das Spannungsfeld zu umreißen, in dem Heimat erlebt, ausgehandelt und konstruiert wird. Die Herausforderung besteht nicht allein darin, Bedeutungen von Heimat herauszustellen, »but at the same time to interrogate the ways in which various power geometries influence such complex registers of home« (vgl. Ralph, Staeheli 2011:520). Die Tabelle gliedert sich in fünf Blöcke. Diese werden in der ersten Spalte jeweils durch vertikale Überschriften (Typologie, Semantiken, Dynamiken, Mechanismen, Bedeutungen) benannt und durch sichtbare Linien eingefasst. Im ersten Block werden die zentralen Typen von Heimat verkürzt wiedergegeben, wodurch sich drei Spalten ergeben, die die Inhalte der Tabelle ordnen. Gibt es bei den Typen Überschneidungen bezüglich der Dynamiken, Mechanismen oder Bedeutungen, so werden die Zellen miteinander verbunden. Der zweite Abschnitt wiederholt knapp die den Typen zugeordneten sechs Heimatphänomene, die in Kapitel 5.2. herausgearbeitet wurden. Der dritte Block benennt migrations- und fluchtspezifische Dynamiken, die in den drei Typen jeweils relevant werden. Es folgt die Darstellung zentraler Mechanismen im Umgang mit den beschriebenen Dynamiken, wodurch sich fünftens ergibt, was Heimat in diesem spezifischen Spannungsfeld je nach Typus ausmacht. Die Ausführungen in diesem Unterkapitel beabsichtigen nun, die jeweiligen Ergebnisfelder entlang der Tabelle auszuführen und hierdurch die Wechselwirkungen und Zusammenhänge von Spannungsfeldern aufzuzeigen, aus denen Heimatkonstruktionen hervorgehen. Mit dem Konzept der Migrationsregime gelang es, eine für Flucht- und Migrationsfragen sensible Forschungsperspektive für die biographische Analyse zu entwerfen, die den Fokus sowohl auf wirksame Dynamiken als auch auf individuelle Gestaltungsprozesse legt. Der in der Wissenschaft vielfältig genutzte Ansatz wurde an das Forschungsvorhaben entlang der formulierten Fragstellungen angepasst und ließ, anders als beim Vorgehen einer »klassischen« Migrationsregimeanalyse, nur bedingt die Identifizierung konkreter und institutionalisierter »Kontroll-, Steuerungs-, Kategorisierungs- und Regulierungsunternehmungen« zu (IMIS 2019). Ausgehend von den biographischen Erzählungen konnte vielmehr eine Bandbreite an migrations- und
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Heimat und Migration
Tabelle 2: Spannungsfelder in der Aushandlung von Heimat – Schematische Darstellung der Analyseergebnisse
6 Heimat im Spannungsfeld von Einflussnahme und Autonomie
fluchtspezifischen Dynamiken und Spannungen identifiziert werden, die we sentlich an Konstruktionen von Heimat beteiligt sind und weiter unten sowie in der Tabelle spezifiziert werden. Der Fokus der Analyse lag dabei insbesondere auf diesem Wechselverhältnis von Einflussnahmen und den Handlungen und Entscheidungen der Geflüchteten. So wurden zentrale Mechanismen herausgearbeitet, die den Umgang der Befragten mit den im Regime aufgeworfenen Prozessen und Problemen im Konstruieren von Heimat veranschaulichen. Heimat wird dabei als Produkt komplexer Aushandlungsprozesse betrachtet, dessen Gestaltung an die Individuen besondere Anforderungen stellt und auch zu einer emotional belastenden und existenziellen Arbeit werden kann. Die ausgeführten Dynamiken und Mechanismen gelten nicht für alle Interviewten gleichermaßen. Wirkungsweisen und Umgänge sind individuell unterschiedlich und konnten im Rahmen der Typologie im vorangegangenen Kapitel spezifiziert werden. Im Folgenden werden die wichtigsten Aspekte verkürzt ausgeführt. Der Flüchtlingsstatus wird in allen Typen als Stigma erlebt und geht zum Teil einher mit verschiedenen Diskriminierungserfahrungen, dem Gefühl gesellschaftlicher Exklusion sowie verminderter Teilhabemöglichkeiten. Insbesondere in Verbindung mit Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen scheint dieses Stigma unumkehrbar zu sein, da es nicht an den tatsächlichen Status gebunden ist. Typ 1 versteht die Positionierung als Flüchtling insbesondere im Sinne einer Entmündigung, Herabsetzung sowie Beeinträchtigung der eigenen übergeordneten politischen Tätigkeiten. Stigmatisierung, auch durch rechtliche Einschränkungen, wird im Verlauf des Asylprozesses erlebt, setzt sich aber auch fort, gekoppelt mit Rassismuserfahrungen. Für Typ 2 und Typ 3 geht mit der Stigmatisierung als Flüchtling das Bewusstsein einher, diffusen und daher schwer nachzukommenden »Integrationsanforderungen« zu unterliegen. Dieser spezifische, subjektiv empfundene Anpassungsdruck, unter anderem an »kulturelle« und rechtliche Gegebenheiten in Deutschland, steht in einem direkten Zusammenhang zur individuellen Konstruktion von Heimat. Die Betroffenen haben das Gefühl gesellschaftlicher Ausgrenzung. In Typ 3 zeigte sich sowohl eine Identifizierung mit der Flüchtlingskatego-
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Heimat und Migration
rie als auch eine strikte Ablehnung dieser beispielsweise mit Verweis auf die Überwindung derselben durch ein begonnenes Studium. Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen sind für alle Typen bedeutsame Einflussfaktoren bei der Gestaltung von Heimat. Während Typ 1 und Typ 2 deren Wirkmächtigkeit im gegenwärtigen Lebenszusammenhang verorten, haben Angehörige des Typs 3 ausschließlich in der Vergangenheit beziehungsweise vor und während der Flucht Diskriminierungserfahrungen gemacht. Sie beschreiben diese unter anderem als ausschlaggebend für die eigene Migration und sinnstiftend für die persönlichen Heimatkonstruktionen im gegenwärtigen Lebenszusammenhang. Typ 1 und Typ 2 führen Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen zum Teil auf die Kontinuität und Wirkmächtigkeit postkolonialer Verhältnisse in Politik und Gesellschaft zurück. Sie entwickeln allerdings verschiedene Umgangsstrategien: Während Typ 1 diese Tatsache zum Ausgangspunkt eigener politischer widerständischer Aktivitäten macht, ermittelt Typ 2 im unmittelbaren Lebensalltag oder in Utopien, Handlungs- und Reflexionsspielräume. In diesem Bewusstsein von global wirkenden Ungleichheitsverhältnissen zeichnen sich Typ 1 und Typ 2 zudem durch ein fehlendes Vertrauen beziehungsweise das Gefühl der Fremdbestimmung im Asylverfahren aus. Angehörige des Typs 2 empfinden sich dahingehend ohnmächtig, eine konkrete Zukunftsgestaltung zu entwickeln, während Typ 1 Selbstwirksamkeit in übergeordneten Zusammenhängen findet. Daneben wurden typenspezifische Dynamiken herausgearbeitet, die auf Gestaltungen und Konstruktionen von Heimat Einfluss nehmen. Für Typ 1, so wird hier deutlich, sind Erfahrungen von Autonomie, Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung zentral, weshalb sich die Empfindung von Entmündigung und Fremdpositionierung negativ auswirkt. In Typ 2 dominiert das Gefühl gesellschaftlicher Exklusion und fehlender Einflussmöglichkeiten. Dies wird verstärkt durch finanzielle Schwierigkeiten, durch bürokratische und rechtliche Hürden und zum Teil durch einen unsicheren aufenthaltsrechtlichen Status. Auch wenn Typ 3 Sinnhaftigkeit in erster Linie im gegenwärtigen, auch räumlich konkreten Lebenszusammenhang erlebt, so ist die emotionale Verbindung zur Familie und den Orten des familiären Lebens doch zentral für die Angehörigen dieses Typs. Dass diese in Gefahr sind, aber andererseits kaum Möglichkeiten der Einflussnahme bestehen, stellt für die Individuen eine große Herausforderung dar. Die Personen im erhobenen Sample hatten einen unterschiedlichen aufenthaltsrechtlichen Status und auch die Typen weisen keine eindeutige Ver-
6 Heimat im Spannungsfeld von Einflussnahme und Autonomie
bindung zu diesen auf. So konnte gezeigt werden, dass ein unsicherer rechtlicher Status, wie eine Duldung, nicht für alle Individuen ein emotionales Problem darstellt. Ebenso hatte ein »sicherer« Aufenthaltsstatus in Deutschland für die Dauer von drei Jahren nicht automatisch einen positiven Effekt auf das Befinden der Befragten. Von entscheidender Bedeutung scheinen vielmehr das Zusammenspiel der unterschiedlichen Dynamiken sowie die jeweiligen individuellen Ressourcen im Umgang mit diesen. Die Analyse offenbarte darüber hinaus weitere Aspekte, die zwar durch die machtkritische Perspektive der Migrationsregime nicht in den Fokus rückten, trotzdem aber das subjektive Erleben und Gestalten von Heimat wesentlich beeinflussen. Zentrale Einflussfaktoren in der individuellen Gestaltung von Heimat sind traumatische Erfahrungen durch Verluste und Kriegserlebnisse; familiäre Loyalitäten, da der Kontakt zu eigenen Familienangehörigen in der Regel weiterhin besteht; psychische Instabilität, die vor, während oder nach der Migration ausgelöst wurde; religiöse Zugehörigkeit und Praxis sowie deren Veränderungen. Der vierte Tabellenabschnitt gibt einen Überblick zu zentralen Mechanismen, die die Individuen in der Aushandlung von Heimat »anwenden«. Können bei der Betrachtung von migrations- und fluchtspezifischen Dynamiken einige Überschneidungen zwischen den drei Typen festgestellt werden, so werden hier verschiedene Aushandlungsformen deutlich. Im Umgang mit migrations- und fluchtspezifischen Dynamiken greifen Typ 1 und Typ 2 in unterschiedlicher Weise auf erlernte oder vertraute Ressourcen, Fähigkeiten und Ordnungen zurück: Zentral im Heimatgestalten des Typs 1 ist die Anknüpfung an transnationale Netzwerke und global agierende politische Gruppierungen und Leitideen. Angehörige dieses Typs machen sich auf diese Weise bewusst unabhängig von Rassismuserfahrungen und Stigmatisierungen, die oftmals in einem konkreten lokalen Kontext Wirksamkeit entfalten. Typ 2 nutzt insbesondere vertraute, angeeignete Fähigkeiten, Einstellungen und Ordnungen, um unter migrationsbedingten Schwierigkeiten Heimat zu gestalten. Angehörigen dieses Typs gelingt damit die Einrichtung geschützter Handlungsund Reflexionsspielräume. Auch Typ 3 überträgt konkrete Aspekte eines früheren Lebens auf die jetzige Lebenssituation. Allerdings handelt es sich hierbei um konkrete Bilder und bruchstückhafte Erinnerungen aus bestimmten Lebensphasen. Diese werden (zum Teil kontrastierend) auf gegenwärtige und zukünftige Heimatkonstruktionen projiziert und statten diese mit Sinn aus. Individuen nehmen auch eine Umwälzung ihres vormaligen Lebenszusammenhangs vor, möglicherweise deswegen, weil eine Rückkehr weder abseh-
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bar noch möglich ist und Zuversicht besteht bezüglich der Gestaltbarkeit des gegenwärtigen Kontexts. Mit der Kontrastierung von Aspekten der Kindsheimat und der gegenwärtigen Lebenssituation (im Sinne einer sozialräumlichen Einheit) ergibt sich ein neues Arrangement vertrauter Sinnmuster im Jetzt. Im Gegensatz zu Typ 1 für den das aktive und öffentliche Anklagen von Missständen eine wichtige Rolle spielt, bemühen sich Individuen des Typ 2 und Typ 3 um Zurückhaltung und Anpassung an vermeintliche und tatsächliche Anforderungen. Das Beibehalten von und der Rückgriff auf bestehende Ressourcen und konkrete Bilder ist in allen Typen also zentral. Aufgrund der beschriebenen Unterschiede zwischen Typ 1 und Typ 2 sowie Typ 3 wurden diese Aspekte in der Tabelle aber optisch getrennt. Die Orientierung an übergeordneten Zielen und Lebensmodellen ist insbesondere in Typ 1 und Typ 2 ein bedeutsames Muster, um mit erlebten Schwierigkeiten nach der Flucht umzugehen. Da diese in Form von Imaginationen und vorgestellten Lebensausschnitten zumeist nicht an konkrete Orte und Zeiten geknüpft sind, ermöglichen sie das Treffen autonomer Entscheidungen und geben dem eigenen Handeln eine Richtung. Zuletzt wird hervorgehoben, dass zwar Gemeinsamkeiten zwischen den Typen bezüglich ihres Umgangs mit migrations- und fluchtspezifischen Dynamiken festgestellt werden konnten; bemerkenswert sind aber auch die Unterschiede. Diese orientieren sich unter anderem an persönlichen Ressourcen, dem Einsatz bestimmter Fähigkeiten und Kenntnissen, Migrationserfahrungen, Zukunftsperspektiven sowie sozialen und politischen Netzwerken. Der fünfte Tabellenblock führt die bedeutsamsten Charakteristika von Heimat aus. Sie sind Befunde eines Analyseprozesses, in dem migrationsund fluchtspezifische Kontextfaktoren berücksichtigt und Individuen zudem als Gestalterinnen ihres Lebens betrachtet wurden. Die hier nur verkürzt dargestellten Aspekte sind also nicht als allgemeingültige Bestimmungsmerkmale von Heimat zu verstehen. Ihre spezifischen Ausprägungen und Sinnsetzungen sind nur im Kontext konkreter Spannungsfelder zu begreifen. Die Perspektive, die eigene Zukunft gestalten zu können, sei es im Rahmen konkreter Pläne oder unscharfer Visionen, scheint zentral zu sein in der Gestaltung und Empfindung von Heimat. Individuen gelingt es hierdurch, den gegenwärtigen Lebenszusammenhang mit Sinn auszustatten, selbst, wenn wenig Handlungsspielraum gesehen wird. Typenübergreifende Relevanz in Heimatkonstruktionen entfaltet auch das Bewusstsein um aufenthaltsrechtliche, emotionale und soziale Stabilität und Verlässlichkeit. Ein weiterer Aspekt, der direkt gekoppelt ist an den vorangegangenen, benennt vertrauensvolle
6 Heimat im Spannungsfeld von Einflussnahme und Autonomie
(familiäre) Beziehungen, die auch die Funktion von Schutzräumen einnehmen, als bedeutsam für Heimat. Daneben konnten Überschneidungen von jeweils zwei Typen ausgemacht werden: Wenn sich Typ 1 und Typ 3 zum Teil auch in unterschiedlichen räumlichen Settings bewegen und vernetzen, so ist für beide Typen eine (auch leiblich) empfundene Freiheit und Sicherheit von hoher Bedeutsamkeit, die ihnen eine Orientierung und Bewegung in bestimmten räumlichen Kontexten ermöglicht. Für beide Typen ist dies mit der Empfindung von Selbstbestimmung gekoppelt. Zentral für die Heimatkonstruktionen des Typs 2 ist die im Begriff der Zukunftsorientierung enthaltene Erwartung beruflicher Selbstverwirklichung. Darüber hinaus spielen Routinen, Vertrautheit und auch die Hinwendung zur Religion eine wichtige Rolle in diesen Heimatkonstruktionen. Eine wichtige Erkenntnis lautet, dass biographische Einschnitte, Verlusterfahrungen, Traumata, Orientierungslosigkeit und Instabilität (oftmals als »Heimatverlust« betitelt), die sich maßgeblich auf Konstruktionen von Heimat auswirken, nicht (allein) in einem vormaligen Lebenszusammenhang, beispielsweise vor der Migration, zu verorten sind. Es sind eher die Erfahrungen von Ungleichbehandlung, Rassismus, einem migrationsbedingten Statuswechsel oder aber die Verwehrung von Teilhabemöglichkeiten im gegenwärtigen Lebenszusammenhang, die einen negativen Effekt auf Beheimatungsbemühungen haben. Zugleich konnte die Skizzierung zentraler Mechanismen in der Aushandlung von Heimat verdeutlichen, dass die Ankunft an einem neuen Lebensort nach der Flucht nicht automatisch mit der Schaffung »neuer Heimaten« einhergeht. Alle drei identifizierten Typen greifen im Konstruieren von Heimat auf Ressourcen zurück, wie erlernte Fähigkeiten, Erinnerungen, Visionen, konkrete Pläne und persönliche oder politische Einstellungen. Konstruktionen von Heimat sind daher nicht gebunden an den konkreten Migrationsprozess, aber stark von diesem beeinflusst. Im Kontext von Migration und Flucht kann Heimat daher beschrieben werden als ein Neusortieren hinzugekommener Relevanzen und Verhältnisse im Leben. Heimat sucht sich in Zeiten von persönlichen Umbruchsituationen neue Wege in neuen Assemblagen, löst sich aber nicht von bewährten Ressourcen. Heimat ist sowohl verräumlicht als auch deterritorialisiert, sowohl imaginiert als auch rationalisiert, sowohl in die Zukunft projiziert als auch mit Fragmenten der Vergangenheit ausgestattet. Dabei wird Heimat immer ausgehandelt in einem gegenwärtigen Lebenszusammenhang. In ihrer individuellen Beschaffenheit bedeutet Heimat Orientierung, Selbstvergewisserung, Sinn und Sicherheit. In der Gegenüberstellung zentraler Dynamiken
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eines Migrationsregimes und der identifizierten Mechanismen im Umgang mit diesen, formiert sich ein Spannungsfeld, das darauf hinweist, dass Heimat stetig ausgehandelt wird und zu einem emotionalen Balanceakt werden kann. Heimat, so kann übergreifend formuliert werden, ist nicht allein Gefühl, es erwächst aus Entscheidungen, Handlungen, Reflexionen und Visionen, befindet sich in einem ständigen Fluss und baut ebenso auf Kontinuitäten.
6.2
Brüche und Kontinuitäten – Konturen eines akteurszentrierten Heimatkonzepts in der Gegenüberstellung von Theorie und Empirie
Im vorangegangenen Kapitel wurden die fallübergreifenden empirischen Erkenntnisse vorgestellt und eine Zusammenführung im Rahmen einer tabellarischen Übersicht vorgenommen. Die folgenden Ausführungen schlagen eine Brücke zwischen den historischen und konzeptionellen Begriffsbestimmungen aus Kapitel 2. und 3. und den in Kapitel 5. gewonnen empirischen Erkenntnissen, die insbesondere mit der Formulierung zentraler Heimattypen (Kapitel 5.3.) und der Skizzierung von Spannungsfeldern (Kapitel 6.1.) verdichtet werden konnten. Aus der Gegenüberstellung werden nun vier zentrale Aussagen zur Beschaffenheit eines akteurszentrierten Heimatkonzepts abgeleitet, die mit der für Flucht- und Migrationsfragen sensiblen Forschungsperspektive herausgearbeitet werden konnten. Der Titel des Kapitels verweist zum einen auf Brüche und Kontinuitäten im Verhältnis von Empirie und Theorie. Zum anderen konnte festgestellt werden, dass individuelle Heimatbedeutungen sowohl von Beständigkeit als auch von Zäsuren geprägt sind. In diesem Sinne beabsichtigen die Ausführungen, eine Rekonzeptionalisierung von Heimat vorzunehmen, allerdings ohne (weitere exkludierende, exklusive) Begriffsbestimmungen. Vielmehr sollen die folgenden vier zentralen Aussagen Konturen eines offenen, diversen, vulnerablen, voraussetzungslosen, eigenständigen und kontextgebundenen Heimatkonzepts zeichnen, das auch über Migration und Flucht hinaus Gültigkeit besitzt. Handlungsbasierte Beheimatung als Prozess fortwährender Aushandlung und Anpassung Heimat als Element aktiver Gestaltung ist ein gängiges Verständnis akteursbezogener Konzeptionalisierungen und konnte in Kapitel 3.1.2. ausführlich dargelegt werden: Heimat wird gesehen als etwas, das man macht und
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nicht, was man hat (Mitzscherlich 2019:188). So unterstreicht der Begriff »Beheimatung« die Handlungsebene des Konzepts sowie seine Veränderlichkeit als individuelles Phänomen. Die hier vorgenommene Analyse kann diese Annahme stützen. In den Kategorien »alltägliche Praktiken der Beheimatung in Krisensituation« (Kapitel 5.2.2.) sowie »Strategien der Beheimatung und Beheimatung als Strategie« (Kapitel 5.2.3.) werden wesentliche Charakteristika und Wirkungen einer handlungsbasierten Beheimatung ausgeführt. Diese finden sich auch in den drei Heimattypen. Typ 1 zeichnet sich durch Formen der strategischen handlungsbasierten Beheimatung aus, die ebenfalls einen Sinn in die Zukunft entwerfen. Das Bewusstsein um individuelle Stärken, Ressourcen und der Anschluss an größere auch politische Netzwerke ermöglicht die Bewältigung von migrationsspezifischen Herausforderungen, wie einem unsicheren Aufenthaltsstatus oder Rassismuserfahrungen. In Typ 2 gewinnen kleinteilige Praktiken im Alltag an Bedeutung, wie adaptierte Rituale und das Heranziehen gelernter Ordnungen. Die Funktion dieser Handlungen liegt in der Bewältigung und Reflexion eines weitgehend als fremdbestimmt wahrgenommenen Lebenszusammenhangs, zudem bilden beispielsweise Praktiken der Nahrungszubereitung oder religiöse Praktiken Kontinuitäten im Alltagsleben. In Typ 3 befördern strategische und rational initiierte Praktiken der Beheimatung eine bewusste Ablösung von einem vormaligen Kontext und daran geknüpfter Erinnerungen, Privilegien und Erschütterungen. So konnte die Analyse ein differenziertes Bild handlungsbasierter Beheimatung zeichnen. Zentral sind dabei die Wahrnehmung eigener Handlungsmacht sowie dafür geeigneter Spielräume. Dabei geht es sowohl um Möglichkeiten der Entfaltung als auch um erfahrene Wirkmächtigkeit der eigenen Handlungen. Wie insbesondere mit der Typologie systematisiert werden konnte, sind Praktiken der Beheimatung auf unterschiedlichen Wirkungsund Bezugsebenen angesiedelt, sie beziehen sich sowohl auf einen unmittelbaren Lebenszusammenhang, aber auch auf eine größere Reichweite, wie eine politische oder transnationale Ebene. Neben der Erfahrung von Wirkmächtigkeit (re-)produzieren Handlungen Ordnung und Sinn, stellen Kontinuität her und bewahren diese. Im Kontext von Migration und Flucht tragen sie zur Bewältigung von Migrationserfahrungen bei und unterstützen die Aneignung eines neuen Lebenszusammenhangs. Persönliche Fähigkeiten, gelernte Ordnungen, Erinnerungsfragmente und transnationale Beziehungen sowie Anschlussfähigkeit an globale Leitideen und Gruppierungen werden zu Kernelementen handlungsbasierter Beheimatung. Sie entfalten im Wechsel-
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spiel mit einem spezifischen Spannungsfeld Bedeutung, werden neu entfaltet, angepasst oder treten in den Hintergrund. Auf Basis der empirischen Überlegungen kann konstatiert werden, dass Heimat dynamisch und prozesshaft ist, aber auch auf bekannte Muster, Routinen und Netzwerke rekurriert. In diesem Sinne offenbart sich Heimat sowohl als beständig und gleichbleibend als auch als Prozess fortwährender Aushandlung und Anpassung. Auf einer subjektiven Ebene verbinden sich dabei Gefühle der Geborgenheit und Autonomie und äußern sich in konkreten Handlungen. Die Bedeutsamkeit handlungsbasierter Beheimatung liegt darin, sich nicht auf Bilder einer vergangenen, unwiderruflichen, oftmals auch imaginierten Lebenswelt zu beschränken, sondern Lösungen zu formulieren und Handlungsspielräume aufzuzeigen. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung kann die Betrachtung von verschiedenen Bezugsebenen des Handelns sowie lebensweltlicher Kontextfaktoren und wirkender Dynamiken Aufschluss geben über Prozesse der Beheimatung. Die reflexive Durchdringung der eigenen Position in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wirkt stärkend auf Prozesse der Beheimatung In der wissenschaftlichen empirischen Auseinandersetzung mit dem Heimatbegriff als individuelles und subjektives Phänomen werden vielfach handlungsbasierte Dimensionen, soziale Beziehungen und Ortsbezüge in den Vordergrund gerückt. Es wird nun die Bedeutsamkeit von Imaginationen und Reflexionen für subjektive emotionale Verortungen im Sinne von Heimat herausgehoben. Die Datenerhebung in dieser empirischen Studie erfolgte in erster Linie mit Hilfe des biographisch-narrativen Interviews, wodurch Reflexionen, Assoziationen und Narrative einen breiten Raum in der Datenanalyse einnahmen. Zusätzlich wurden der Interpretation der Daten Konzeptionalisierungen von Heimat zugrunde gelegt, die den Fokus der Analyse unter anderem auf Utopien, Sehnsuchtsorte und Kindsheimat lenkten. Diese Begrifflichkeiten gewinnen in erster Linie in hermeneutischen Auseinandersetzungen an Bedeutung und betonen zudem meist klassische Facetten von Heimat, wie die Verbindung von natürlicher Verwurzelung und emotionaler Verortung. Mit der Beobachtungsperspektive der Migrationsregime gelang es, solche Essentialisierungen zu umgehen. Die Analyse verdeutlichte, dass der Ausdruck von Sehnsucht auf Bedürfnislagen in der Gegenwart verweist (Kapitel 5.2.4.); dass Zukunftsvisionen des eigenen Lebens und gesellschaftlichen Utopien im Heimatempfinden eine bedeutsame Rolle einnehmen (Kapitel 5.2.5.); und, dass Projektionen bestimmter Erinnerungen an die Kindsheimat und Jugend
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in gegenwärtige Lebensverhältnissen (Kapitel 5.2.6.) eine entscheidende Bedeutung für Konstruktionen von Heimat einnehmen. Die sehnsüchtige Imagination von Erinnerungsfragmenten der Kindheit oder des früheren Lebens wurde als Bestandteil von Typ 2 und Typ 3 identifiziert. In der Auseinandersetzung mit empirischen Beispielen verdeutlichte sich, dass diese Rekapitulation von Sehnsuchtsorten zwar auf einen Mangel an empfundenen Handlungsspielraum im aktuellen Lebenszusammenhang verweist. Jedoch wird darin ebenfalls implizit auf Bedürfnisse in der Gegenwart verwiesen. Sehnsucht ist daher nicht allein als ein bewegungsloser Blick zurück zu begreifen, sie ist in gewissem Maße ebenfalls gegenwarts- und zukunftsorientiert. Zudem konnte in der Auswertung der empirischen Daten eine Kopplung festgestellt werden zwischen der Imagination von Sehnsuchtsorten und progressiven Lebensentwürfen, die sich in der Formulierung von Utopien und Strategien beziehungsweise Praktiken der Beheimatung äußerten. Die Formulierung von Utopien wurde in Typ 1 und Typ 2 ausgemacht. Diese beziehen sich sowohl auf Visionen gesellschaftlicher Verhältnisse als auch auf Idealbilder der persönlichen Lebenswelt. Utopien bestehen sowohl bereits vor der Migration und erfahren danach eine Anpassung an gegenwärtige Lebensverhältnisse; sie entstehen aber auch angesichts der Realitäten, denen sich Individuen in neuen Lebenszusammenhängen gegenübersehen. In jedem Fall sind sie Ergebnis von Reflexionsprozessen. Die Analyse konnte zeigen, dass Utopien sich meist auf Bereiche beziehen, in denen die eigene Einflussnahme (noch) nicht als realistisch eingeschätzt wird. Im Sinne von positiven, in die Zukunft gerichteten Lebensentwürfen bieten diese langfristig, sinnhaft und zielgerichtet Orientierung und können dem eigenen Handeln eine Richtung geben. In Typ 3 nimmt die Erinnerung an Zeiten und Orten der Kindheit und Jugend eine herausgehobene Stellung ein und wird in Kapitel 5.2.6. als Kindsheimat analysiert. Diese Rekapitulation von Erinnerungsfragmenten, so konnte in der Analyse herausgearbeitet werden, dient der Konstruktion gegenwärtiger Heimatbilder und unterstützt damit Prozesse der Beheimatung. Diese gelingt zum einen, indem gegenwärtige Lebensverhältnisse als Gegenbilder zu unzureichenden Lebensbedingungen in der Vergangenheit konstruiert werden. Zum anderen werden bestimmte Aspekte und konkrete Bilder der Kindsheimat auf den gegenwärtigen Lebenszusammenhang projiziert und mit neuem Sinn ausgestattet. In dieser reflexiven Durchdringung verschmelzen Fragmente der Vergangenheit mit emotionalen Betrachtungsweisen der Gegenwart und Zukunft.
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Zusammenfassend kann daher konstatiert werden, dass eine Rekapitulation von Sehnsuchtsorten, die Imagination zukünftiger Lebenswelten sowie in die Gegenwart projizierte und mit neuem Sinn ausgestattete Erinnerungsfragmente Rückhalt, Orientierung und Zuversicht bieten. Sowohl in neuen Lebenskontexten als auch in aussichtslos und fremdbestimmt erfahrenen Situationen sind sie handlungsleitend oder zumindest zukunftsweisend. Heimat entfaltet daher Bedeutung in Imaginationen und vorgestellten Lebensausschnitten, da diese die reflexive Durchdringung der eigenen Position in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ermöglichen und dadurch Orientierung, Sinnstiftung und Handlungsoptionen bieten. In der theoretischen und empirischen Auseinandersetzung mit Heimat gilt es, dies noch stärker zu beachten und in die empirische Forschung einzubeziehen. Der Raum als beobachtbare Ordnungskategorie emotionaler Verortungen Der Heimatbegriff hält ein Angebot an konkreten Raumbezügen bereit, die in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zunehmend hinterfragt und ausdifferenziert werden. Auch wenn bestimmte Ortsbezüge im Heimatverständnis nach wie vor dominant sind, so gelten Räume gegenwärtig überwiegend als sozial konstruiert, statt natürlich gegeben. Für diese Untersuchung ist von Bedeutung, welche Funktionen Räume und Raumkonstruktionen in der emotionalen Verankerung von geflüchteten Menschen einnehmen. Die Analyse konnte bereits klären, dass sich die Bedeutung von Heimat nicht auf Containerräume reduzieren lässt, wie im Falle der Kindsheimat. Die folgenden Ausführungen fassen die gezogenen Schlüsse zusammen, und beabsichtigen, die Funktionen von Raumbezügen im emotionalen Heimatverständnis zu präzisieren. Dies erfolgt aufgrund der engen Verknüpfung zwischen der Ausgestaltung räumlicher Bezugnahmen und spezifisch wirkenden Dynamiken und Mechanismen der Aushandlung entlang der identifizierten Typologie. In Typ 1 gestaltet sich Heimat als transportabel. In diesem Sinne sind Mehrfachverortungen in konkreten Orten und (politische) Netzwerken, die zum Teil nationalstaatliche Grenzen überschreiten, in diesen Heimatkonstruktionen charakteristisch. Dies ermöglicht es, sich von lokal wirksamen Machtstrukturen emotional weitgehend unabhängig zu machen. Wirkmächtigkeit ist vielmehr in darüber liegenden transnationalen Beziehungen und Verbindungen erfahrbar. Diese wurden bereits vor der Migration etabliert und stellen sind in der Konstruktion von Heimat wichtige Kontinuitäten. Nicht zu vernachlässigen sind hierbei auch soziale Beziehungen, die ermutigen und stärken. In ähnlicher Weise ist es auch für Typ 2 entscheidend,
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Handlungs- und Gestaltungsräume zu identifizieren und zu nutzen, auf die migrations- und fluchtspezifische Dynamiken nicht oder kaum einschränkend wirken. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Ausführungen sind Angehörige dieses Typs aber nicht in demselben Maße an (internationale) Netzwerke angebunden. Auf kleinräumigerer Ebene erwirken Angehörige des Typs 2 die Fortsetzung persönlicher Routinen entlang bekannter Muster und den Ausbau eigener Fähigkeiten. Dies manifestiert sich beispielsweise auch in der Gestaltung persönlicher Wohnräume. Typ 3 empfindet den gegenwärtigen (städtischen) Wohn- und Lebensort als Heimat im Sinne einer sozialräumlichen Einheit. Diese wird mit Bedeutung und Sinnhaftigkeit ausgestattet, indem charakteristische Merkmale vormaliger emotional bedeutsamer Orte, wie das Dorf der Kindheit, auf gegenwärtige Verhältnisse übertragen oder zu diesen kontrastiert werden. Wie ausführlich in Kapitel 5.2.1. und Kapitel 5.2.6. dargestellt wurde, handelt es sich hierbei um konkrete Landschafts- und Stadtbilder oder aber um die Gewissheit sozialer beziehungsweise familiärer Bindungen oder um spezifische Freiheiten, die Angehörigen einer Minderheit verwehrt waren und die im neuen Lebenszusammenhang fortgesetzt werden können. Diese Projektion räumlicher Merkmale erleichtert die Kontinuität bestimmter Emotionalitäten, da darin auch konkrete Erinnerungen bewahrt werden. Raumbezüge und ihre Funktionen in Heimatkonstruktionen sind divers, komplex und sowohl wandelbar als auch beständig. Dabei wirken spezifische Dynamiken essentiell auf die Wahrnehmung, Aushandlung und Gestaltung von verräumlichten Heimaten. In dieser Arbeit geschah die Betrachtung des Zusammenhangs von Raumbezügen und Heimatkonstruktionen vor dem Hintergrund von flucht- und migrationsspezifischen Dynamiken. Es ist davon auszugehen, dass mit dem Wandel von Dynamiken und persönlichen Erfahrungswelten auch Prozesse der Beheimatung veränderlich sind und räumlichen Bezugnahmen dabei immer neue Funktionen zukommen. Die gängige Bezeichnung von Heimat als Beziehung zwischen Mensch und Raum ist daher nicht stimmig. Je nach Fokus der Betrachtung bezeichnet Heimat spezifische Verhältnisse des Menschen im Raum beziehungsweise wirkt der Raum als Ordnungskategorie emotionaler Verortungen. Heimat als Assemblage statt linearer Entwicklungsprozess Sowohl in der gesellschaftlichen Diskussion als auch in Teilen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung werden Prozesse der Beheimatung oftmals als lineare Entwicklungsverläufe beschrieben. Im Zuge gegenwärtig diskutierter gesellschaftli-
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cher und globaler Veränderungsprozesse erscheint Heimat-haben daher nicht als voraussetzungslos. Im Zuge von Mobilität und Migration sowie angesichts gesellschaftlicher und globaler Veränderungen bestünde die Gefahr, Heimat könne abhandenkommen. Dabei gilt Heimat nach wie vor als Teil einer emotionalen und persönlichen Entwicklung und als wünschenswerter Zustand. In dieser Untersuchung konnte verdeutlicht werden, dass Heimatempfinden angesichts persönlicher Lebensbedingungen, Zukunftsperspektiven und wirkender Dynamiken veränderlich ist. Die Vorstellung von Heimat-haben und Heimatverlust kann allerdings zurückgewiesen werden. In Kapitel 5. wurde herausgearbeitet, dass Heimatempfinden als Assemblage zu verstehen ist und eben nicht als ganzheitliche Empfindung. Erst das Zusammenspiel unterschiedlicher Aspekte und Beschaffenheiten der emotionalen Verortung – in Aushandlung mit migrations- und fluchtspezifischen Dynamiken – konstituieren Heimat und bestimmen Prozesse der Beheimatung. Zwar handelt es sich bei der vorliegenden Untersuchung nicht um eine Verlaufsstudie, daher können keine Aussagen über die Veränderlichkeit subjektiver Heimatkonstruktionen getroffen werden. Trotzdem konnte Heimat als Phänomen emotionaler Verankerung entlang der gebildeten Kategorien in allen biographischen Erzählungen bestimmt werden. Typ 1 und Typ 2 ähneln sich dahingehend, dass persönlich angeeignete Ressourcen (Netzwerke, Fähigkeiten, Routinen) als etablierte, bedeutungstragende Kontinuitäten für die emotionale Verortung von Heimat im gegenwärtigen Lebenszusammenhang entscheidend sind. Entsprechend der gegebenen Möglichkeiten und wirksamen Dynamiken werden diese angepasst und auch weiterentwickelt. Auch die Auseinandersetzung mit persönlichen und gesellschaftlichen Utopien verdeutlichte, dass diese zum Teil bereits über einen längeren Zeitraum hinweg existierten und angesichts der jeweiligen Lebenssituationen neu ausgerichtet wurden. Alle identifizierten Utopien können jedoch in einen direkten Zusammenhang mit der eigenen Flucht und Migration gebracht werden, beziehungsweise der damit zusammenhängenden Positionierung im gegenwärtigen Leben. Heimatkonstruktionen von Typ 3 sind geprägt durch sich vollziehende oder bereits vollzogene Loslösungsprozesse. Angehörige dieses Typs erleben oder initiieren diese zum Teil weit vor der Migration, aber auch danach. In jedem Fall verlangen diese biographischen Brüche ein neues Arrangement emotionaler Verortungen. In dieser Untersuchung zeigte sich, dass Individuen emotional bedeutsame Fragmente, wie bestimmte geschätzte Erinnerungen, sinnhaft in ein konkretes räumliches Setting übertragen. Trotzdem ist differenzierend zu berücksichtigen, dass sowohl tragfähige
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als auch labile Heimatkonstruktionen identifiziert wurden. Insbesondere im Fall psychischer Instabilität kommen Utopien sowie der Rückgriff auf vertraute Handlungen und Routinen eine wichtige Rolle zu. Die Annahme, Heimat sei mit einem linearen Entwicklungsverlauf zu vergleichen, konnte durch die empirische Analyse eher verworfen werden. Konstruktionen von Heimat und Prozesse der Beheimatung, so die Annahme, bestehen vielmehr in Assemblagen, die in ständiger Aushandlung immer neu arrangiert werden. Biographische Zäsuren führen in der Regel zur Projektion von Sinnhaftigkeit in neue Lebenskontexte oder vorgestellte Welten. Ein offenes Heimatkonzept muss sich daher lösen von formulierten, auch zeitlichen, Bedingungen an das Erleben und Empfinden von Heimat.
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7. Forschungsperspektive Heimat: geographisch, transdisziplinär und machtkritisch
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Heimatbegriff erfreut sich seit Jahrzehnten in vielen Disziplinen großer Beliebtheit und erlebt immer neue Konjunkturen, wie zahlreiche Publikationen belegen. Dabei sind die Ansätze und Intentionen dieser Betrachtungen durchaus verschieden. So stehen Wissenschaftlerinnen der Auseinandersetzung mit Heimat aufgrund der changierenden Bedeutungsgehalte des Begriffs, seiner politischen Instrumentalisierung und einer allgemeinen inflationären Nutzung zum Teil skeptisch gegenüber. Insbesondere in der historischen Forschung wird Heimat daher vorrangig als reiner Quellenbegriff betrachtet. Daneben wird seit etwa den 1970er Jahren Heimat in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen als individuelles und subjektives Phänomen besprochen, das eine besondere Beziehung zwischen Mensch und Raum beschreibt. Eine eingehende und systematische Klärung seiner ideologischen Bedeutungsgehalte gerät hierbei allerdings meist aus dem Blick beziehungsweise geht mit ersterem Verständnis nicht einher. Die intensive sowie kritisch differenzierte, wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Heimat sollte angesichts aktueller gesellschaftlicher, auch mit dem Heimatbegriff transportierter Herausforderungen als Verantwortung begriffen werden. Diese Arbeit kann einen Beitrag zum aktuellen wissenschaftlichen Diskurs leisten, indem das Potential von Heimat als analytisches Konzept für die empirische qualitative Forschung hervorgehoben und dabei Aspekte seiner Begriffsgeschichte sowie problematischen Bedeutungsgehalte in die Überlegungen einbezogen wurden. Das letzte Kapitel rekapituliert in diesem Sinne das wissenschaftliche Vorgehen und stellt dabei die zentrale Rolle der geographischen Perspektive in den Vordergrund, die ein differenziertes Begriffsverständnis von Heimat auf theoretischer und konzeptioneller Ebene anstößt. Auf der methodischen Ebene bergen transdisziplinäre For-
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schungsansätze ein enormes und noch unterschätztes Potential für die Bearbeitung sozialer und gesellschaftlicher Fragestellungen, wie hier im Feld der Migrations- und Fluchtforschung. Sie vermögen es, Migration und Flucht in den Kontext einer Forschung zu sozialer und gesellschaftlicher Nachhaltigkeit zu rücken. Die Arbeit widmete sich der Erkundung, in welcher Weise geflüchtete Menschen nach der Flucht in Deutschland Heimat gestalten. Damit wurde eine Gruppe ins Zentrum gestellt, die üblicherweise an der Bestimmung von Heimat nicht oder nur in spezifischen Settings beteiligt ist. Hierbei war nicht die Frage zentral, ob man Heimat haben und verlieren kann beziehungsweise ob Beheimatung unter bestimmten Lebensbedingungen (noch) möglich ist. Auch die Frage nach dem wie viel, wie authentisch oder in welcher Intensität Heimat empfunden wird, erschien nicht als sinnvoller Anknüpfungspunkt für die eigene Vorgehensweise. Derartige Überlegungen laufen Gefahr, Vorstellungen über außen und innen, künstlich und authentisch, »wir« und »die« anzufachen; man würde sich im Denkschema einer »deutschen Wesensbeschreibung« (vgl. Bausinger 2001:133) verfangen. Zielführender erschien es vielmehr zu fragen, wie und unter welchen Bedingungen Heimat, verstanden als Assemblage subjektiver emotionaler Verortungen, stetig ausgehandelt wird. Die Berücksichtigung konkreter Kontextbedingungen sowie migrations- und fluchtspezifischer Herausforderungen war dabei entscheidend, um ein differenziertes Verständnis von Heimat zu entwickeln. Die Nutzbarmachung von Heimat erforderte zunächst eine eingehende Beschäftigung mit den zentralen enthaltenen Bedeutungsfacetten. In einer systematischen und mehrschrittigen Auseinandersetzung wurde das Ziel verfolgt, die vielfältigen Bedeutungen von Heimat offenzulegen und konzeptionell greifbar zu machen. Die fundierte kulturhistorische Betrachtung von Heimat beabsichtigte, die vielgestaltigen Bedeutungsfacetten darzustellen und damit die Lösung des Begriffs aus der historischen und diskursiven Einbettung vorzunehmen. Daneben wurden zeitenübergreifende Muster formuliert, die die immer neuen Diskussionen von Heimat in unterschiedlichen historischen und gesellschaftlichen Kontexten zu erklären versuchen. Es wurde verdeutlicht, dass für das Verständnis von Heimat stets der gesellschaftliche und politische Kontext mitgedacht werden sollte. Sehnsucht, Komplexitätsreduktion, diffuse Zukunftsorientierung sowie Abgrenzung, Territorialität und Macht wurden dabei als Triebkräfte wiederkehrender Diskussionen von Heimat herausgearbeitet (Kapitel 2.).
7 Forschungsperspektive Heimat: geographisch, transdisziplinär und machtkritisch
Für die Handhabung im Rahmen einer qualitativen empirischen Forschung wurde die Bestimmung der semantischen Facetten von Heimat vorgenommen. Die umfassende Sichtung und Systematisierung eines interdisziplinären Literaturkorpus ermöglichte das Auffächern von Heimat in mehrere Deutungsdimensionen. Aufgrund der Komplexität des Heimatbegriffs sowie seiner wechselnden und fluiden Bedeutungen kann diese Zusammenstellung aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben oder aber als Definition verstanden werden. Für die Bearbeitung der Forschungsfragen schien es darüber hinaus erforderlich, eine kritische und für Fluchtund Migrationsfragen sensible Haltung im Forschungsprozess zu entwickeln. Das Konzept der Migrationsregime wurde an das Vorhaben in dieser Arbeit angepasst und nutzbar gemacht als »nicht-essentialistische Forschungs- und Analyseperspektive« (vgl. Nieswand 2018:94), die die Kontextfaktoren beobachtet, welche an individuellen Konstruktionen von Heimat aktiv beteiligt sind. Der Blick der Analyse richtete sich dabei insbesondere auf selbstbestimmte Positionierungen, Strategien und Widerstände der interviewten geflüchteten Akteure. Auf diese Weise wurde es möglich, Heimat als Analysebegriff in dem empirischen qualitativen Forschungsvorhaben nutzbar zu machen (Kapitel 3.). Die Einbettung der eigenen Untersuchungen in den Kontext der Reallaborforschung ermöglichte einen von Beginn an intensiven und vertrauensvollen Kontakt zu den Interviewpartnerinnen. Die Erhebung qualitativer Daten geschah mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung und den Erhebungs- und Auswertungsmethoden der Biographieforschung. Hierdurch gelang es, das Individuum ins Zentrum der Forschung zu stellen. Die nur wenig vorstrukturierte Form der Datenerhebung eröffnete den interviewten Personen einen breiten Raum für die Erzählung ihrer Lebensgeschichten. Die Sensibilität der Erhebungssituationen und die Beschäftigung mit einem mitunter problematischen und mehrdeutigen Begriff erforderte eine umsichtige Vorgehensweise im gesamten Forschungsprozess. Die Formulierung konkreter Instanzen der Selbstreflexion unterstützte dahingehend die Erhebung und Auswertung der biographischen Interviewdaten und der personenbezogenen Feldnotizen. Für die Auswertung wurden die aus der Theorie herausgearbeiteten Heimatkonzepte der rekonstruktiven und sequenziellen Feinanalyse zugrunde gelegt. Die Perspektive der Migrationsregime rückte darüber hinaus die migrationsspezifischen Bedingungen individueller Aushandlungsprozesse in den Vordergrund (Kapitel 4.).
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Im Zuge der biographischen Fallrekonstruktion und der Feinanalyse jedes Interviews entlang der zentralen Dimensionen von Heimat entwickelten sich sechs pointierte Heimatphänomene heraus. Mit Ausnahme eines Interviews konnten in allen biographischen Erzählungen mindestens zwei der sechs Heimatphänomene durch die Analyse identifiziert werden. »Heimat als sozialräumliche Einheit«, »alltägliche Praktiken der Beheimatung« und »Strategien der Beheimatung« beschreiben ein handlungsorientiertes Verständnis: das Erleben, Gestalten und Bewahren von Heimat ist eingebettet in einen alltäglichen Lebens- und Handlungsraum. »Strategien mit dem Ziel der Beheimatung«, »Sehnsucht«, »Kindsheimat« und »Utopie« zeigen, dass Heimat nicht allein aktives Element der unmittelbaren Lebenswelt ist und auf Praktiken basiert. Vielmehr verweisen diese Aspekte auf die Bedeutsamkeit von Erinnerungsfragmenten und Imaginationen eines früheren Lebenszusammenhangs oder aber auf Zukunftsvisionen, deren Realisierung und Erfüllung nicht vorhersehbar sind, aber angestrebt werden.1 Die Analyse offenbarte zum einen, dass sich die sechs Heimatphänomene individuell in den Interviews gruppierten, zum anderen zeigten sich fallübergreifende Muster in diesen Arrangements. Dies ermöglichte die Identifikation von drei Typen: Typ 1 beschreibt Heimat als transportables Phänomen. Individuen setzen ihr Handeln, persönliche Überzeugungen und Ressourcen in einen übergeordneten Sinnzusammenhang und agieren in transnationalen und globalen Netzwerken und Strukturen. Daher ist für diesen Typus ein konkreter Ort im Heimatempfinden nicht allein essentiell, sondern Heimat verwirklicht sich im Erleben von Selbstbestimmung, Unabhängigkeit sowie in vertrauensvollen Beziehungen, die auch die Funktion von Schutzräumen haben. Typ 2 bezeichnet Heimat als Nische und Keim einer neuen Hoffnung. Während bezüglich der Handlungsoptionen zur Verbesserung der eigenen Lebenssituation das Gefühl der Ohnmacht überwiegt, realisiert sich Heimat im Entwurf von Utopien, die als starr empfundene, persönliche und gesellschaftliche Verhältnisse aufzubrechen vermögen. Alltagsbasierte Praktiken ermöglichen zudem Reflexion und Gestaltung im Kleinen und vermitteln den Eindruck von Kontrolle und Selbstverwirklichung in einer überwiegend als fremdbestimmt empfundenen Lebenssituation. Typ 3, Heimat als Mosaik,
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Es gilt zu beachten, dass die Analyse unterscheiden konnte zwischen Strategien mit dem Ziel der Beheimatung und Beheimatungsstrategien, weshalb hier sieben Kategorien aufgeführt werden.
7 Forschungsperspektive Heimat: geographisch, transdisziplinär und machtkritisch
zeichnet sich aus durch das Aufgreifen konkreter Erinnerungsfragmente beispielsweise aus der Kindsheimat. Diese werden mit neuem Sinn ausgestattet und – auch in Form abgewehrter Gegenbilder – auf räumliche und soziale Settings im gegenwärtigen Lebenszusammenhang projiziert. Reflektierte, eigenmächtige Ablösungsprozesse gehen der Entwicklung dieses Heimattypus voraus. Diese werden sowohl (weit) vor der Flucht als auch erst im neuen Lebenszusammenhang initiiert. Der konkrete (Stadt-)Raum spielt in diesem Typus eine wichtige Rolle, er wird zur Projektionsfläche emotionaler Verortungen (Kapitel 5.). Die Ausbildung von Typen wird in komplexen Spannungsfeldern verhandelt, die skizziert und schematisch in einer Tabelle abgebildet wurden. Dazu wurden flucht- und migrationsspezifische Dynamiken sowie Mechanismen im Umgang mit diesen identifiziert und gegenübergestellt. Heimat und Prozesse der Beheimatung gelten in dieser Betrachtung als in hohem Maße kontextabhängig, dynamisch und ausgehandelt. So sind Diskriminierung, Stigmatisierung, Unsicherheit und das Gefühl gesellschaftlicher Exklusion zentrale migrations- und fluchtspezifische Dynamiken, die an der Gestaltung und Aushandlung von Heimat unmittelbar beteiligt sind. Insbesondere in Umbruchphasen beziehungsweise in Lebenssituationen, die ein Umsortieren bestehender Verhältnisse verlangen, sucht sich Heimat neue Wege in neuen Assemblagen. In diesem Sinne kann Heimat nicht auf ein Gefühl reduziert werden, vielmehr ist sie Ergebnis von Entscheidungen, Handlungen, Reflexionen und Visionen, befindet sich in einem ständigen Fluss und baut ebenso auf Kontinuitäten. Heimat, so konnte die Analyse verdeutlichen, beschränkte sich bei keinem der identifizierten Typen auf die Imagination vergangener Bilder und Lebenszusammenhänge, sondern entfaltet Bedeutung in der Suche und dem Finden von Handlungsoptionen und Orientierungssicherheit. Aus den theoretischen und empirischen Erkenntnissen wurden vier Befunde abgeleitet, die die Konturen eines offenen akteurszentrierten Heimatkonzepts umreißen. Für zukünftige konzeptionelle und empirische Auseinandersetzungen, insbesondere im Forschungsfeld Migration und Flucht, können sie zentrale Anknüpfungspunkte darstellen, wenn auch zusätzliche Untersuchungen nötig sind, um das Bild weiter auszudifferenzieren. Der erste Aspekt betrifft die zentrale Stellung der Wahrnehmung von Handlungsspielräumen. Beheimatung zeichnet sich in hohem Maße durch sinnstiftende Handlungen aus, die auf unterschiedlichen Bezugsebenen Relevanz entfalten. Für Individuen sind diese sowohl Ausdruck von Geborgenheit und Stillstand als auch von Autonomie und Gestaltung. Zweitens bietet die re-
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flexive Durchdringung der eigenen Position beispielsweise in Imaginationen und Zukunftsvisionen Orientierung und Rückhalt und gibt eigenen Entscheidungen und Handlungen eine Richtung. Drittens sind Raumbezüge und ihre Funktionen für das Verstehen von Heimat zentral. Sie sind divers, komplex und wandelbar, jedoch auch stabil. Emotionale Verankerungen entfalten je nach Typus auf verschiedenen räumlichen Bezugsebenen Relevanz. Für Wissenschaftlerinnen wird der Raum zu einer beobachtbaren Ordnung, die Rückschlüsse zulässt über Beschaffenheiten und Aushandlungsprozesse von Heimat. Viertens wird hervorgehoben, dass Heimat nicht als linearer Entwicklungsprozess verstanden werden kann, sondern vielmehr als Assemblage verschiedener bedeutungstragender Elemente. Dabei werden Relevanzen stetig reorganisiert, bleiben stabil oder werden neu herangezogen. Biographische Zäsuren und Umbrüche gehen mit der Neuordnung oder Verlagerung geltender Ordnungen einher. Für Individuen ist dies oftmals mit einem emotionalen Balanceakt und widerstreitenden Positionen verbunden (Kapitel 6.). Die Entwicklung eines analytischen Rahmens ermöglichte die Operationalisierung von Heimat als Analysekategorie in der empirischen Forschung. Damit gelang es, eine nicht-funktionalistische und nicht-essentialisierende Perspektive auf Gefühlswelten, Lebenseinstellungen und Strategien von geflüchteten Menschen bei der Gestaltung ihres Lebens zu werfen. In diesem Sinne plädiert diese Arbeit für eine differenzierte und mehrdimensionale wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Heimat. Angesichts neuer Schärfen in der öffentlichen Diskussion gilt es, mit Heimat ins Gespräch zu kommen. Die im Sommer 2019 auf der Tagung »Heimat, Heimweh, Geschichte« aufgeworfene Frage, ob »die Wissenschaft den Heimatbegriff jenseits eines Quellenbegriffs als Analysekategorie brauche« (vgl. Fakler 2019 et al.), verkennt seine Bedeutung und sein Potential auf subjektiver und individueller Ebene. Die Suche nach Ersatzbegriffen wie »Lebenswelt« kann das grundsätzliche Problem daher nicht lösen. Eine innovative wissenschaftliche Beschäftigung mit Heimat ist nicht nur unumgänglich, sondern sollte sogar als Verantwortung begriffen und angenommen werden, auch um zu einer Entmystifizierung ideologischer Heimatkonzepte beizutragen (Mitzscherlich 2019:184). Abschließend werden zwei Forschungsrichtungen hervorgehoben, die für das Bearbeiten und Verstehen von Heimat in dieser Arbeit zentral waren und zukünftiger Forschung zu Heimat und Migration eine Richtung geben können. Auf die Frage danach, wie sich das Phänomen Heimat aus einer räumlichen Perspektive begreifen lässt, wurden bereits zentrale Annahmen for-
7 Forschungsperspektive Heimat: geographisch, transdisziplinär und machtkritisch
muliert. Für die weitere wissenschaftliche Beschäftigung mit Heimat kann die geographische Perspektive zu der Entwicklung eines differenzierten Verständnisses von Heimat beitragen. Nicht allein im politischen Diskurs, sondern auch in der Geographie besteht nach wie vor die Gefahr, in eine »territoriale Denkfalle« (vgl. Glasze, Pott 2014:59) zu tappen. So wird Stadtquartieren und Nachbarschaften sowohl in politischen Entscheidungsprozessen als auch durch die Wissenschaft eher die »Qualität Heimat« zugeschrieben als beispielsweise Städten als Ganzes (siehe zum Beispiel Antweiler 2019:17). Beheimatungsprozesse und Heimatkonstruktionen sind zwar eingebettet in ganz konkrete, auch räumliche Lebenszusammenhänge und werden auch von diesen mitgestaltet. Verstanden als psychologisches emotionales Phänomen ist Heimat allerdings nicht zuallererst oder ausschließlich an zeitliche, realräumliche und kulturelle Bedingungen geknüpft. Raumbezüge sind multipel, sowohl konkret ausgehandelt als auch imaginiert und nehmen bei der Gestaltung von Heimat spezifische Funktionen ein. Die Beobachtung von Prozessen der Beheimatung und Konstruktionen von Heimat in räumlicher Perspektive ließen in dieser Arbeit Rückschlüsse auf wirkende migrations- und fluchtspezifische Dynamiken sowie individuelle Mechanismen des Umgangs zu. Zudem erwies sich das Reallabor als fruchtbarer Forschungsmodus: Erstens gelang es im Rahmen des transdisziplinären Forschungsformats projektbasiert das Thema Heimat aufzugreifen und seine gesellschaftliche Relevanz mit vielfältigen experimentellen und kreativen Ansätzen sowie mit Akteuren der Zivilgesellschaft entlang wissenschaftlicher Standards zu ergründen und zu bearbeiten (siehe Exkurs). Zweitens gelang es auf der methodischen Ebene einen von Beginn an intensiven Zugang zu den befragten Personen im Forschungsprozess dieser Arbeit zu etablieren. Die Debatte um (Flucht-)Migration und Heimat stellt nach wie vor die Bestimmung von Herkunfts- und Ankunftsländern, also den Verlust der alten und das Aneignen der neuen Heimat, in den Vordergrund. Dabei wird die Perspektive der geflüchteten Akteure, die üblicherweise im Diskurs über Heimat ausgeschlossen sind, in Bezug auf ihre biographischen Erfahrungen, persönliche Zukunftsvisionen oder stetigen Aushandlungsprozesse nicht oder erst kaum berücksichtigt. Gerade in der Migrations- und Fluchtforschung wächst das Bewusstsein für die Bedeutsamkeit partizipativer Forschungsansätze, also die Beteiligung der vormals »Beforschten« am Forschungsprozess (Aden et al. 2019). Aktuell scheinen progressive Ansätze allerdings noch rar zu sein, die sich von funktionalistischen Betrachtungsweisen lösen und Migration stattdessen in den Kontext einer Forschung zu sozialer und gesamtgesellschaftlicher Nachhaltigkeit rücken.
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Reallabore können in einem Forschungssetting zu Migration und Flucht Pionierarbeit leisten und dabei nicht allein partizipative, sondern sogar transdisziplinäre und transformative Forschungsansätze in die Migrationsforschung hineintragen. Settings wie in Reallaborforschungen sind komplex, zeitaufwendig, ergebnisoffen und verlangen von den am Forschungsprozess beteiligten Personen und Instanzen das Umdenken eingespielter Rollen und Machtverhältnisse. Gerade in der Forschung zu Flucht und Migration ist dies auch mit forschungsethischen Fragestellungen und Weichenstellungen verbunden, angesichts drängender gesellschaftlicher Herausforderungen aber ein durchaus lohnenswerter Weg. In dieser Arbeit gelang es, zwei Themenkomplexe – Heimat und Migration – zusammenzudenken, die zunächst einmal gegensätzlich erscheinen. Die Intention war dabei nicht, individuellen Verständnissen von Heimat ihre Gültigkeit abzusprechen, diese in Frage zu stellen oder aber geflüchteten Personen mit dieser Analyse spezifische Facetten von Heimat zuzuweisen oder abzusprechen. Beabsichtigt wurde vielmehr die Auseinandersetzung mit einem offenen und dynamischen Heimatbegriff, die eine weitere und wenig in den Blick genommene Perspektive in den Fokus rückte, nämlich die sehr persönlichen Lebens- und Gefühlswelten, Perspektiven und Selbstpositionierungen geflüchteter Menschen in Aushandlung mit migrationsspezifischen Schwierigkeiten. Gerade im Kontext von Migration und Flucht mag dabei die Frage naheliegen, wie individuelle Beheimatungsprozesse nach der Migration unterstützt und ob aus den gewonnenen Erkenntnissen allgemeine Handlungsempfehlungen formuliert werden können. Zum einen sollte dies mit Verweis auf die herausgearbeiteten wirksamen Dynamiken, wie Rassismus und Stigmatisierung, als gesamtgesellschaftliche Aufgabe begriffen werden. Zum anderen gewinnen aber auch strukturelle Voraussetzungen wie die Gewährung grundlegender Rechte während und nach dem Asylverfahren entscheidend an Bedeutung und sind für Individuen oftmals mit neuen Handlungsspielräumen verbunden. Zentral ist aber, dass Heimat individuell, hochkomplex und biographisch geprägt ist und zudem ständigen Veränderungen unterliegt. Die hier präsentierten Erkenntnisse sind daher nicht als abschließende Erklärungen zu verstehen. Eine rein funktionale Auseinandersetzung kann nicht an erster Stelle stehen, sondern vielmehr das Wissen um die Emotionalität und Komplexität von Lebenswelten geflüchteter Menschen. Diese sind zwar nicht sichtbar, aber doch Teil unserer migrationsgesellschaftlichen Realität, die wissenschaftlich, gesellschaftlich und politisch Anerkennung erfahren sollte.
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Anhang
Liste der Interviewpartnerinnen und Informationen zu den Erhebungssituationen
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Heimat und Migration
Informationsblatt zum Umgang und dem Schutz der personenbezogenen Daten und die Einwilligungserklärung Die interviewten Personen erhielten das Informationsblatt und die Einwilligungserklärung zur Unterschrift, je nach sprachlichen Fähigkeiten oder Vorlieben, auf Deutsch oder auf Englisch. Die Unterschrift erfolgte durch die Interviewerin(nen) und die Interviewten, weshalb immer zwei beziehungsweise drei Einwilligungserklärungen von den Beteiligten unterschrieben wurden.
Anhang
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Transkriptionsregeln nach Dresing und Pehl 2018 I1: please continue IP: okay (.) (..) (…) Und dann- also ich Migrbecause-because (lacht) (lachend) (gleichzeitig) Kann ich //yes// fragen [x] [xx] [xxx] ?…? unvorSTELLbar »…« [zuversichtlich] […] [Nebengespräch] eins »zum Beispiel«, »et cetera«
Interviewerin (normal) (Darstellung in der Arbeit) Interviewpartnerin (kursiv) (Darstellung in der Arbeit) Pausen (kurz bzw. Stocken; grobe Schätzung der Sek.) Satzabbruch Wortabbruch Verschleifen von Wörtern, Stottern nichtsprachliche Äußerungen gleichzeitiges Sprechen bei Sprecherwechsel gleichzeitiges Sprechen unverständlich, x entspricht ca. einem Wort vermuteter Wortlaut starke Betonung Zitate Intonation des Gesagten, falls bedeutsam gekürzte Sequenzen für die Darstellung in Kapitel 5 Transkriptionspausen, Nebengespräche Zahlen bis zwölf werden ausgeschrieben Begriffe werden ausgeschrieben, wenn so ausgesprochen
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Ausstellungsraum Learning from Journeys. Eigene Aufnahme .......... 95 Abbildung 2: Biographische Fallrekonstruktion und Typenbildung in schematischer Übersicht. Eigene Darstellung ..... ............................................ 106 Abbildung 3: Ausschnitt aus Interviewtranskript: Sequenzen, biographische Daten und bedeutsame Textstellen .............. ............................. ....... 109
Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Ausschnitt aus der tabellarischen Übersicht Mahmouds biographischer Daten ......................................................................... 108 Tabelle 2: Spannungsfelder in der Aushandlung von Heimat – Schematische Darstellung der Analyseergebnisse ..................... ....................... 244
Geographie kollektiv orangotango+ (ed.)
This Is Not an Atlas A Global Collection of Counter-Cartographies 2018, 352 p., hardcover, col. ill. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4519-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-4519-8
Susann Schäfer, Jonathan Everts (Hg.)
Handbuch Praktiken und Raum Humangeographie nach dem Practice Turn 2019, 396 S., kart., 5 SW-Abbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4603-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4603-4
Ian Klinke
Bunkerrepublik Deutschland Geo- und Biopolitik in der Architektur des Atomkriegs 2019, 256 S., kart., 21 SW-Abbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4454-8 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4454-2 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4454-8
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Geographie Severin Halder
Gemeinsam die Hände dreckig machen Aktionsforschungen im aktivistischen Kontext urbaner Gärten und kollektiver Kartierungen 2018, 468 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4547-7
Christoph Baumann
Idyllische Ländlichkeit Eine Kulturgeographie der Landlust 2018, 268 S., kart., 12 SW-Abbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4333-6 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4333-0
Sören Groth
Von der automobilen zur multimodalen Gesellschaft? Multioptionalität als Voraussetzung für multimodales Verhalten 2019, 282 S., kart., 18 SW-Abbildungen, 6 Farbabbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4793-8 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4793-2
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